GA 353

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GELEITWORT

#G353-1968-SE009 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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GELEITWORT

zum Erscheinen von Veröffentlichungen

aus den Vorträgen Rudolf Steiners für die Arbeiter am Goetheanum vom August 1922 bis September 1924

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Man kann diese Vorträge auch Zwiegespräche nennen, denn ihr Inhalt wurde immer, auf Rudolf Steiners Aufforderung hin, von den Arbei­tern selbst bestimmt. Sie durften ihre Themen selber wählen; er regte sie zu Fragen und Mitteilungen an, munterte sie auf, sich zu äußern, ihre Einwendungen zu machen. Fern- und Naheliegendes wurde be­rührt. Ein besonderes Interesse zeigte sich für die therapeutische und hygienische Seite des Lebens; man sah daraus, wie stark diese Dinge zu den täglichen Sorgen des Arbeiters gehören. Aber auch alle Erscheinun­gen der Natur, des mineralischen, pflanzlichen und tierischen Daseins wurden berührt, und dieses führte wieder in den Kosmos hinaus, zum Ursprung der Dinge und Wesen. Zuletzt erbaten sich die Arbeiter eine Einführung in die Geisteswissenschaft und Erkenntnisgrundlagen für das Verständnis der Mysterien des Christentums.

Diese gemeinsame geistige Arbeit hatte sich herausgebildet aus eini­gen Kursen, die zunächst Dr. Roman Boos für die an solchen Fragen Interessierten, nach absolvierter Arbeit auf dem Bauplatz, gehalten hat; sie wurden später auch von andern Mitgliedern der Anthroposo­phischen Gesellschaft weitergeführt. Doch erging nun die Bitte von seiten der Arbeiter an Rudolf Steiner, ob er nicht selbst sich ihrer an­nehmen und ihren Wissensdurst stillen würde - und ob es möglich wäre, eine Stunde der üblichen Arbeitszeit dazu zu verwenden, in der sie noch frischer und aufnahmefähiger wären. Das geschah dann in der Morgenstunde nach der Arbeitspause. Auch einige Angestellte des Bau­büros hatten Zutritt und zwei bis drei aus dem engeren Mitarbeiter­kreise Dr. Steiners. Es wurden auch praktische Dinge besprochen, so zum Beispiel die Bienenzucht, für die sich Imker interessierten. Die Nachschrift jener Vorträge über Bienen wurde später, als Dr. Steiner nicht mehr unter uns weilte, vom Landwirtschaftlichen Versuchsring am Goetheanum als Broschüre für seine Mitglieder herausgebracht.

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Nun regte sich bei manchen andern immer mehr der Wunsch, diese Vorträge kennenzulernen. Sie waren aber für ein besonderes Publikum gedacht gewesen und in einer besonderen Situation ganz aus dem Steg-reif gesprochen, wie es die Umstände und die Stimmung der zuhören-den Arbeiter eingaben - durchaus nicht im Hinblick auf Veröffent­lichung und Druck. Aber gerade die Art, wie sie gesprochen wurden, hat einen Ton der Frische und Unmittelbarkeit, den man nicht ver­missen möchte. Man würde ihnen die besondere Atmosphäre nehmen, die auf dem Zusammenwirken dessen beruht, was in den Seelen der Fragenden und des Antwortenden lebte. Die Farbe, das Kolorit möchte man nicht durch pedantische Umstellung der Satzbildung wegwischen. Es wird deshalb der Versuch gewagt, sie möglichst wenig anzutasten. Wenn auch nicht alles darin den Gepflogenheiten literarischer Stilbil­dung entspricht, so hat es dafür das unmittelbare Leben.

Marie Steiner

ERSTER VORTRAG Dornach, 1. März 1924

#G353-1968-SE011 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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ERSTER VORTRAG

Dornach, 1. März 1924

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Guten Morgen, meine Herren! Hat sich für heute etwas aufgetan?

Herr Dollinger: Ich möchte wissen, wie das ist, wenn Menschen heim Friedhof wohnen, oder in der Nähe, oh das etwas ausmacht, da sie oft nicht so lebhaft sind und bleich aussehen? - Er führt ein Beispiel an, das dieses zu bewahrheiten scheint. -Ich möchte wissen, wie der Rhythmus in den Leibern ist - ob es nicht auch etwas Gutes bewirken könne?

Dr. Steiner: Nun, ich glaube ja, daß ich ziemlich gut über diese Frage Auskunft geben kann, weil ich von meinem achten bis zu meinem achtzehnten Jahre unmittelbar am Friedhof gewohnt habe, ich muß also wohl dazumal furchtbar bleich ausgesehen haben. Es hat so ein wenig gestimmt. Nach den verschiedenen Angaben, die Sie gemacht haben, müßte ja so etwas gerade auch bei mir gestimmt haben.

Nun, der Friedhof war der Friedhof eines kleinen Ortes - der Ort hatte vielleicht sechshundert Einwohner -, und es war also ein mäßig großer Friedhof. Aber immerhin war er unmittelbar an dem Hause und dem Bahnhof, wo wir wohnten. Und die Leute wohnten ziemlich nahe, wie es eben in solchen Orten üblich war. Da war die Kirche, rings-herum der Friedhof und dann kamen die Häuser: man konnte immer sehen, wie die Leute in ihrer Gesundheit beschaffen waren, die um den Friedhof herum wohnten. Nun, man kann sagen, daß schon beträcht­liche Unterschiede waren an den Einwohnern, und daß zum Beispiel der nicht sehr weit entfernt vom Friedhof wohnende Pfarrer nicht blaß und auch nicht schmächtig war, der war ziemlich korpulent und schaute auch ganz gut aus. Das ist so mein Befund von dazumal.

Aber die Ansicht, die man sich da bildet, ist doch diese, daß, wenn man sonst gesundheitliche Verhältnisse herstellt - und das geschah viel­fach an Orten, wo Friedhöfe um die Kirchen waren -, man nicht an­nehrnen kann, daß das so furchtbar schadet. In den Orten waren zu gleicher Zeit überall Nußbäume, Walnußbäume verbreitet. Diese Wal­nußbäume sind so, daß sie auch durch den Duft, den sie verbreiten, außerordentlich stärkend auf die Gesundheit wirken. Nun müssen Sie

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nur annehmen, daß in denjenigen Orten gesunde Instinkte waren, wo das ursprünglich allgemein Sitte war; die haben dazu geführt, weil der Kirchhof innerhalb des Ortes ist und die Leute ringsherum wohnen, Kastanien- oder Walnußbäume, namentlich auch Lindenbäume in die Nähe zu bringen. Lindenbäume und Walnußbäume, die wirken dann im Gegensatz zu dem, was der Friedhof an schädlichen Wirkungen bringt, wiederum ausgleichend.

Nun ist auch dieses noch zu beachten: Sehen Sie, wenn man genauer auf das eingeht, was eigentlich Herr Dollinger wissen will, nämlich die Wirkung auf die höheren Leiber, so muß man sich klar sein darüber, daß eigentlich von diesen Leibern, die ich angeführt habe, nur der phy­sische Leib und der Ätherleib belebend wirken, während der astralische Leib und das Ich nicht belebend, sondern im wesentlichen lähmend wirken; die wirken als Seele und Geist. Und schon aus manchem, was ich Ihnen gesagt habe, werden Sie sehen, daß physischer Leib und Ätherleib wie eine Pflanze sind; die wachsen, da bilden sich die Organe. Wenn wir nur diese hätten, physischen Leib und Ätherleib, würden wir fortwährend ohnmächtig sein. Wir würden sonst ein Schlafleben führen wie die Pflanzen, wenn nicht fortwährend in uns abgebaut würde; nur dadurch, daß immer wiederum in uns abgebaut wird, füh­ren wir kein Schlafleben wie die Pflanze. Der Astralleib und das Ich bauen ab, die zerstäuben wiederum. Es wird immer im Menschen auf-gebaut und abgebaut. Und der astralische Leib, der ist derjenige, der eigentlich am stärksten in unserem Menschenwesen abbaut. Und alle diese Auswurfprodukte, von denen ich gesprochen habe, die werden eigentlich durch Astralleib und Ich abgebaut. Der Ätherleib wirkt nur ein bißchen mit. Das habe ich Ihnen ja auseinandergesetzt.

Nun sehen Sie, die Friedhofatmosphäre, die da aufsteigt, die ist ver­wandt mit demjenigen, was im astralischen Leib im Menschen abbaut, und die unterstützt dann das Abbauen. Und der Mensch wird mehr abgebaut, wenn er in der Nähe vom Friedhof wohnt, als wenn er irgendwo draußen im Walde wohnt. Wenn er draußen im Walde wohnt, sind seine aufbauenden Kräfte stärker; wenn er beim Friedhof wohnt, sind seine abbauenden, seine zerstörenden Kräfte stärker. Aber wenn wir keine zerstörenden Kräfte hätten, dann würden wir ja, wie

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ich Ihnen schon gesagt habe, lebenslänglich dumm bleiben. Wir brau­chen eben diese zerstörenden Kräfte. Dann ist noch etwas zu beachten. Ich sagte Ihnen: Ich kann reden über die Sache, weil ich sie selbst er­fahren habe, und erfahren habe gerade im jugendlichen Alter, wo sich so viele Dinge heranbilden. - Ich habe immer einen Hang gehabt, ge­nau zu denken. Nun, diesen Hang, genau zu denken, den verdanke ich nach meiner Überzeugung dem Umstande, daß mich das Schicksal hat aufwachsen lassen in der Nähe eines Friedhofs. Also das ist wiederum das Gute, meine Herren. Das müssen Sie auch wiederum in Betracht ziehen.

Nicht wahr, das Schädliche am Friedhof sind die Leichname, die darinnen sind. Die Leichname setzen ja nur den Abbau fort. Wenn wir sterben, fällt das weg, daß wir immer wieder aufbauen und abbauen. Der Aufbau fällt nun fort. So daß also der astralische Leib aufgefor­dert wird in der Nähe des Friedhofes, eigentlich gut zu denken. Das ist auch wieder nicht zu leugnen.

Im heutigen sogenannten Burgenlande, wo ich aufgewachsen bin, waren überall die Dörfer so, daß die Friedhöfe in der Mitte waren. Das Burgenland ist ja dasjenige, um das so viel gestritten worden ist. Es sind einzelne größere Städte, Eisenburg und so weiter, aber die sind weit auseinander, so daß also die Dörfer weitverbreitet sind, und über­all lag der Friedhof in der Mitte. Und da ist es schon so, daß man sagen kann, die Leute dort hatten eine gewisse Bauernschlauheit. Und das ist auch wiederum nicht abzuleugnen, daß diese Bauernschlauheit eigent­lich gewachsen ist unter dem Einfluß der Friedhofsatmosphäre. Das Schädliche haben sie abgehalten dadurch, daß sie überall Walnuß-bäume und Lindenbäume gepflanzt haben.

Dann war die Gegend dort auch eine Weingegend. Die Atmosphäre derWeinrebe wirkt auch in einer gewissen Weise ausgleichend. Der Lin­denblütenduft, das wissen Sie ja, ist ein sehr starker Duft, der Walnuß-baum hat auch einen sehr starken Duft; das wirkt auf den astralischen Leib wieder mehr belebend. Und die Atmosphäre der Weinrebe wirkt wieder mehr belebend auf das Ich. So daß Sie da schon auch auf die höheren Leiber des Menschen eine gewisse Einwirkung haben, eine sehr starke Einwirkung.

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Nun darf man aber natürlich wiederum nicht in Abrede stellen, wie mit der wachsenden Kultur sich die Sachen ändern. In dem Augen­blicke natürlich, wo die Ortschaften größer werden, wo viele Häuser herumgebaut werden und dadurch, daß Häuser herumgebaut werden, die Wirksamkeit der Bäume beeinträchtigt wird, fängt der Friedhof an schädlich zu wirken, dann sind natürlich um den Friedhof herum diese Bleichgesichter. Das kann sich nicht mehr ausgleichen und die Folge davon ist, daß dann der Friedhof bewirkt, daß die Menschen unter der Friedhofsatmosphäre leiden. Das hat wiederum zu einem natürlichen Instinkt geführt: daß man dann, wenn die Dörfer zu Städ­ten angewachsen waren, den Friedhof draußen, außerhalb der Stadt gemacht hat.

Nun kommt natürlich noch etwas in Betracht. Das ist dann der Fall, wenn die Wirkung noch weiter geht, wenn sie auf den Ätherleib geht. Sehen Sie, alles das, was in der Atmosphäre aufsteigt als feiner Dunst, wirkt auf den astralischen Leib und auf das Ich. So daß älso ebenso der feine Leichengeruch, der ja immer um einen Friedho£herum ist, wie auch Walnußduft, Lindenblütenduft, Roßkastanienduft, der besonders belebend wirkt, eigentlich nur auf die höheren Leiber wirken können; an den Ätherleib kommen diese nicht so stark heran.

Nun ist es aber mit dem Ätherleib so, daß auf den Ätherleib beson­ders stark das Wasser in irgendeiner Gegend wirkt. Das Wasser wirkt ganz besonders stark. Und das Wasser ist in der Umgebung eines Fried-hofs doch sehr leicht durchsickert von demjenigen, was also eben aus den Leichen herauskommt. Das Wasser wird getrunken, mit dem Wasser wird gekocht. Und wenn also irgendwo in einem Dorf, wo der Fried­hof in der Nähe der Häuser ist, das Wasser beeinträchtigt wird, so helfen keine Bäume! Dann hilft die Natur sehr wenig. Und die Folge davon ist, daß dann allerdings die Leute sehr leicht schwindsüchtig werden, und daß sie dann darunter außerordentlich stark leiden.

Sehen Sie, das konnte ich auch sehr gut konstatieren. Es war da ein Ort - er war mehrere Stunden entfernt von dem Ort, wo ich wohnte -, ein kleiner Ort. Fast alles wohnte um den Friedhof herum. Die Leute waren sehr träge von Natur aus; sie konnten einfach nicht. Sie hatten schlaffgewordene Nerven, schlaffe Muskeln, alles an ihnen war schlaff;

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sie waren blaß. Und da kam mir doch der Gedanke: Woher kommt das? - Und sehen Sie, das ist sehr interessant: Bei uns in Neudörfl waren die Leute, die auch um den Friedhof herum wohnten, verhältnis-mäßig gesund! Nun, das ist eine große Frage für deri, der das Land wirklich betrachtet nach den Verhältnissen, die für die Menschen in Betracht kommen. Da hatte man ein Dorf, wo die Leute um den Kirch­hof herum wohnten, und wo sie nichts anderes taten, als Nußbäume pflanzen; die pflanzten sie schon auch, das war ein sehr gesunder In­stinkt - aber im übrigen taten sie nichts anderes, nahmen das Wasser zum Kochen sogar oft aus dem Dorfbächlein! Da war eine Reihe von Häusern (es wird gezeichnet), dazwischen das Dorfbächlein; da war der Kirchhof, da war die Kirche; da wohnten wir, da der Pfarrer, da war das Schulhaus; danii war hier eine Häuserreihe, zwischendurch ein Bächlein, und da waren überall Nußbäume. Die Leute nahmen sich das Wasser einfach aus dem Bächlein; in dem Bächlein waren natürlich die Überreste und die Bakterien, die Bazillen von dem, was aus dem Friedhof durchsickerte. Das war überall vorhanden. Die Leute, nament­lich jene, die dort wohnten, die zeichneten sich nicht durch eine beson­dere Reinlichkeit aus: da waren Häuser mit Strohdächern und überall der Misthaufen unmittelbar am Eingang, der Schweinestall auch da­neben - eine schöne Verbindung gab das von Schweinestall und Misthaufen-, wiederum der Abgang zum Dorfbächlein, so daß, wenn man hineinkam, man in einer bräunlichen Sauce watete. Nun, sehen Sie, es war schon nicht gerade, wie man heute sagt, hygienisch hergerichtet! Und dennoch waren die Leute gesund! Man konnte nicht anders sagen, als daß sie gesund waren.

Nun, erstens, wenn die Leute gesund sind, sind auch die Leichen im Anfang nicht so schlimm, als wenn die Leute im Orte verseucht sind. Aber das hat ja weniger Bedeutung. Die Frage war doch eine große:

Woher kam es, daß die Leute gesund waren, und die andern krank oder schlapp und unfähig zu leben? - Das erklärt sich aus dem Folgenden. In der Nähe dieses Ortes war ein anderer, ganz kleiner Ort, aber ein Kurort: da war ein Säuerlingquell, kohlensaures Wasser. Das ganze Dorf holte sein Trinkwasser von diesem Orte. Das kohlensaure Wasser wirkte wiederum ausgleichend gegenüber dem verseuchten Wasser vom

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Friedhof. Das hatten die andern, die weit ablagen von dieser Säuer­lingquelle, eben nicht. Also da konnte man direkt studieren, wie das kohlensaure Wasser, das, wie ich Ihnen einmal dargestellt habe, be­sonders stark auf das Ich und auf das Denken wirkt, wiederum zurück-wirkt auf das Ich und den Ätherleib, und im Ätherleib wiederum aus-gleicht das Zerstörende desjenigen, was vom Friedhof durchsickerte in das Dorfbächlein.

Natürlich, wenn in Städten der Friedhof noch dableibt, ist im Grunde genommen, wenigstens solange nicht Quellwasser von weitem hergeleitet wird, kaum eine Hilfe für die Umwandlung der Friedhofs-atmosphäre möglich. Wenn also eine Stadt so liegt, daß der Friedhof noch in der Mitte des Ortes bleibt und das Wasser noch als Brunnen-wasser bezogen wird, dann sind da natürlich die schlechtesten Bedin­gungen für die Gesundheit, weil dann der Ätherleib angegriffen wird; und der Ätherleib ist dasjenige, was vom astralischen Leib und vom Ich aus nicht weiter bezwungen werden kann.

Sehen Sie, die sanitären, die hygienischen Verhältnisse, die sind schon gerade von gewissen Gesichtspunkten aus außerordentlich inter­essant. Es darf aber dann natürlich wiederum nicht außer acht gelassen werden, daß auf solche Leute, die um den Friedhof herum wohnen, doch auch fortwährend, wenn sie noch gläubige Leute sind, wenn sie nicht schon Ungläubige geworden sind, immer wiederum erwärmend wirkt das immer fortdauernde Ansehen der Leichenzeremonie! Die wirkt doch auch wiederum ausgleichend. Die wirkt auf das Ich. Die wirkt schon stärkend. Man muß das doch auch vom Gesundheitsstand­punkt aus betrachten können. Das wirkt dann wiederum ausgleichend.

Das ist wohl so ungefähr das, was Sie haben wissen wollen? - Ist sonst noch jemandem etwas eingefallen?

Nun, meine Herren, dann will ich, von einer andern Seite aus be­trachtet, gerade diese Frage fortsetzen. Wir haben ja schon vieles be­trachtet; wollen wir heute einmal von dem Gesichtspunkt, von den Er­kenntnissen, die wir gewonnen haben, das Folgende uns anschauen.

Wenn Sie eine Landkarte betrachten, so können Sie für die Land­karte sich so interessieren, daß Sie sich sagen: Nun, da wohnt dieses Volk, dort wohnt jenes Volk. Wir interessieren uns für die verschiede­nen,

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nebeneinander wohnenden Völker. - Aber Sie können auch sagen:

Ich will mir die Landkarte einmal von dem Gesichtspunkte aus an­schauen, wie sich die Menschheit entwickelt hat. - Und da wird dann die Landkarte wirklich recht interessant.

Wollen wir ein Stückchen Landkarte betrachten.Äch will das nur ganz annähernd zeichnen. Da haben wir zum Beispiel, wenn wir nach Asien hinübergehen - ich habe es Ihnen einmal aufgezeichnet für die Menschenrassen -, Indien, Vorderindien; da haben wir Arabien; dann haben wir Kleinasien. Da geht dann Asien schon nach Europa herüber; wir kommen dann schon herüber nach Europa, also an die Inseln, die nach Europa herübersehen. Da wäre Griechenland. Dann kommen wir hier nach Nordafrika. Und da haben wir dann einen Fluß: das ist der Nil; da ist Ägypten - heute, wie Sie wissen, von den Engländern ganz beherrscht -; das war einmal ein freies Land. Nun sehen Sie, da woh­nen überall die Völkerschaften. In Indien wohnen die Inder, die sich heute ja ganz aufraffen. Sie waren lange Zeit von den Engländern be­herrscht, sind es natürlich auch heute noch, aber sie raffen sich heute auf, und derjenige, der etwas einsichtsvoll in England ist, hat eine heil­lose Angst davor, daß die Inder sich irgendwie einmal unabhängig machen könnten. Es gibt heute eine große indische Bewegung: der so­genannte Mahatma Gandhi hat in Indien eine solche Bewegung auf-gerüttelt und ist dann eingesperrt worden, ist aber heute wieder frei­gelassen worden aus Gesundheitsrücksichten. Ebenso wohnen hier in Arabien Leute, die mehr oder weniger von den Engländern beherrscht sind; das ist eine ziemlich unwegsame Gegend noch, Arabien. Sie wissen ja, daß unter den Kriegsursachen für den großen Weltkrieg hauptsäch­lich auch die war, daß man eine Bahn anlegen wollte durch die Türkei hindurch, hier herüber, und den Weg gesucht hat auf der einen Seite nach Indien, auf der andern Seite nach Arabien. Das wollte Deutsch­land machen, und dadurch hat Deutschland so vielfach den Neid und die Eifersucht der andern Völker hervorgerufen, weil es durch die Tür­kei hindurch die sogenannte Bagdadbahn bauen wollte, bis nach Asien hinein. - Und da war einstmals Syrien.

Sehen Sie, von den allerverschiedensten Gesichtspunkten aus ist es interessant, sich nun einmal zu fragen: Da lebten also seit uralten Zei­ten

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überall Völker; die waren ganz verschieden geartet in ihrem Leben. Man braucht nur ein paar Sachen zu nennen, dann wird man finden,wie verschieden diese Menschen in ihrem Leben waren. Sehen Sie, in Indien gab es zum Beispiel eine strenge Kasteneinteilung, eine Kasteneinteilung, gegen die alles dasjenige, was die europäischen Klassen sind, eigentlich nur ein Schattenbild ist. In Indien wurde man hineingeboren in eine Kaste. Die oberste Kaste waren die Brahmanen. Das waren diejenigen, die die Priesterdienste leisteten, die etwas lernen durften. Es gingen also die Kinder der Brahmanen eigentlich alle in den ältesten Zeiten in die Schule. Das waren diejenigen, die schreiben konnten; das war die oberste Kaste. Aus dieser Kaste wurden zwar die Priester genommen, nicht aber die Könige. Die Könige wurden schon aus der zweiten Kaste genommen, aus der Kriegerkaste. Aber niemals konnte jemand auf­steigen aus der Kriegerkaste in die Brahmanenkaste; das war streng geschieden. Die dritte Kaste waren die Ackerbauer, die Landleute; und die vierte Kaste waren diejenigen, die eigentlich als Handarbeiter galten. Nun waren strenge Trennungen zwischen diesen Kasten. Das war ganz so angesehen im alten Indien, wenn ein Mensch von einer Kaste in eine andere hineingekommen wäre, wie wenn ein Löwe hätte ein Lamm werden sollen! Man hat die Kasten so getrennt voneinander angesehen, wie man die einzelnen Gattungen der Tiere voneinander ge­trennt hat. Und deshalb nahmen auch die Leute gar keinen Anstoß daran. Es wäre ihnen so verrückt vorgekommen, wenn einer von der dritten Kaste hätte in die erste kommen sollen, wie wenn ein Löwe hätte ein Ochs etwa werden sollen. Also das ist ganz euphemisch ge­wesen, das war eine absolute Selbstverständlichkeit bei den Leuten. So war es also in Indien.

Gehen wir nun herüber nach Ägypten: da waren auch noch Kasten. Was ich Ihnen jetzt erzähle, meine Herren, das können Sie versetzen in die Zeit ungefähr dreitausend oder dreitausendfünfhundert Jahre, vielleicht auch noch viertausend Jahre vor der Entstehung des Chri­stentums. Wir müssen also zurückgehen um fünf bis sechs Jahrtausende, wenn wir in die Zeit, von der ich Ihnen jetzt erzähle, zurückblicken wollen. In Ägypten also, da waren auch Kasten, aber sie waren nicht so streng eingehalten; da konnte schon der eine oder andere von der

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einen in die andere Kaste hinüberkommen. Also so streng war es nicht eingehalten, aber es gab in Ägypten noch Kasten. Dagegen war es wie­derum in Ägypten so, daß die ganze Staatseinteilung ausging von der Priesterschaft. Die Priesterschaft ordnete alles an. Das war in Indien auch so, aber da war eben durch die Kasteneinteilung alles gegeben, während in Ägypten die Kasteneinteilung nicht so streng war. Aber man hielt daran fest, daß alles das, was Gesetz werden sollte, ausging von der Priesterschaft.

Und in entsprechender Weise waren auch die andern Völker, die in Syrien wohnten, in Kleinasien wohnten. Sie hatten ihre Eigentüm­lichkeiten, sie waren verschieden.

Nun möchte ich Ihnen heute, damit Sie sehen, was in der Mensch­heitsentwickelung die Geschichte, die wir gelernt haben, für eine Rolle spielt, gerade von diesen Völkerschaften noch etwas anderes erzählen. Nehmen wir vier von diesen Völkerschaften heraus: erstens die Inder, dann die Ägypter, dann diejenigen Völker, die da hier gesessen haben. Der Euphrat und Tigris münden da in diesen Meerbusen hinein, und da war ein Volk, welches später die Babylonier hieß. Diese wollen wir also als dritte betrachten.

Und dann wissen Sie ja, daß hier sich ein Volk hervortat, das später eine große Rolle in der Geschichte gespielt hat: das sind die Semiten, die Hebräer, die Juden. Sie zogen herüber nach Ägypten, zogen später wieder zurück und wohnten dann in Palästina - ein an Ausdehnung verhältnismäßig kleines Volk, aber ein Volk, das seine große Rolle in der Geschichte gespielt hat. Wir können also hintereinander betrachten:

Erstens die Inder, zweitens die Ägypter, drittens die Babylonier, vier­tens die Juden. Wollen wir heute einmal diese vier Völker betrachten.

Sehen Sie, das ist besonders charakteristisch an den Indern, daß sie eigentlich die Menschen, die da sind, so getrennt voneinander an­schauen wie die Tierklassen und sie in vier Kasten einteilen. Dazu kommt die eigentümliche Religion, die in den alten Zeiten die Inder gehabt haben. Die Inder haben nicht unterschieden zwischen Geist und Körper; in der Zeit, in der diese indische Bevölkerung in Indien zuerst sich ausgebildet hat, da unterschied man nicht zwischen Geist und Kör­per. Ein Baum wurde nicht etwa unterschieden wie bei vielen andern

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Völkern: da ist der physische Baum, und da lebt ein Geist drinnen -nichts, da war nichts unterschieden. Der Baum war zugleich ein Geist, nur ein etwas gröberer Geist als der Mensch und das Tier. Das Tier war auch für die Inder nicht unterschieden in Körper und Seele, sondern es war Seele und der Mensch auch. Es war nicht unterschieden der Körper und die Seele. Und wenn der älteste Inder nach der Seele fragte -und er wußte, daß man einatmet, die Luft einatmet -, da war ihm die Luft, die man einatmete, der Geist. Und dann wußte er: Die Luft ist da draußen; das ist der Geist, der die ganze Erde umgibt. Und wenn dieser Geist, der die ganze Erde umgibt, anfängt zu strömen, zu wehen, dann nannte er den Geist auf der ganzen Erde, der sich bewegt, der weht: Varuna. Aber das, was er in sich hatte, das war auch Varuna. Wenn es gestürmt hat draußen, war es Varuna; drinnen: auch Varuna. Heute hört man vielfach sagen, diese Inder hatten einen Naturdienst, weil sie Wind und Wetter verehrten und so weiter. Aber man kann ebensogut sagen, sie hatten einen Geistdienst, weil sie wiederum alles als Geist ansahen. Den Körperbegriff hatten die Inder gar nicht. Und weil das so war, war bei den Indern jeder Teil des Menschen zugleich ein Geist: Leber war Geist, Niere war Geist, alles war Geist. Sie unter­schieden nicht zwischen Körper und Geist. Das ist gerade das Geheim­nis der alten indischen Weisheit, daß gar nicht unterschieden wird zwi­schen Körper und Geist. Leber war Lebergeist, Magen war Magengeist.

Ja, sehen Sie, wenn wir heute den Magen anschauen, dann finden wir, daß etwas im Magen sein muß, wenn der Magen richtig verdauen soll; wir nennen den Stoff Pepsin. Wenn er fehlt, so wird nicht ordent­lich verdaut; dann müssen wir etwas Salzsäure hineintun. Der Inder hat den Namen noch nicht gewußt, aber er hat gewußt, daß da ein Geist ist; der Magen ist so aufgebaut: das ist der Magengeist. Und da­von ist dann die Bezeichnung der Heilmittel geblieben: «Magengeist.» »Freilich, heute kann man Tropfen nehmen für den Magen, nicht mehr «Magengeist», sondern nach dem Erfinder «Hoffmannsgeist» oder so irgendwie genannt; aber Sie werden noch immer finden, wo einfach geredet wird, daß der Geistbegriff noch in den Worten drinnensteckt.

Also die Inder sahen überall Geist. Und deshalb haben sie auch keinen Anstoß genommen an dem Kastengeist, weil sie das als etwas

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Geistiges angesehen haben, so wie sie die Gliederung der Tiere als etwas Geistiges angesehen haben.

Wenn man auf diese indischen Anschauungen eingeht, so ist es sehr interessant, daß die Inder eine ganz genaue Kenntnis hatten von allen menschlichen Organen. Sie sahen sie nur als Geist an. Der Mensch war aus lauter Geistern zusammengesetzt: Lungengeist, Magengeist, Nieren-geist und so weiter; sie sahen dabei nur auf den physischen Körper. Wenn wir also auf die Inder schauen, so können wir sagen: Die Inder, die waren durchdrungen von einer Anschauung, die auf den physischen Körper ging. Den physischen Körper sahen sie als Geist an.

1. Inder: Physischer Körper geistig

Das ist sehr interessant, denn jetzt haben wir also ein Volk entdeckt, das zunächst eine genaue Kenntnis vom physischen Leib, physischen Körper hat.

Jetzt gehen wir zu den Ägyptern hinüber. Bei den Ägyptern - sie hatten ja den Nil -, da war der Nil eigentlich, man könnte sagen, der Nährvater des Landes. Jedes Jahr, wenn der Juli kommt, steigt der Nil aus seinen Ufern heraus, und im Oktober geht er wiederum zurück. So daß der alte Ägypter eigentlich nichts anderes gewußt hat, als: Der Nil enthält das Wasser; das Wasser geht zurück während der kalten Jahreszeit; das Wasser kommt wieder heraus, überschwemmt das Land und wird zum Wohltäter des Menschen. Dann aber, wenn es im Okto­ber zurückgeht - die brauchen nicht zu düngen-, bleibt ein ganz frucht­barer Schlamm zurück. In diesen Schlamm wurden die Getreidearten und so weiter hineingesät; die gingen dann auf und wurden geerntet, bevor wieder der Nil überschwemmte. Und so bereitete ihnen der Nil eigentlich alljährlich das Ackerland. So daß die Ägypter tief durch­drungen waren von der Wohltätigkeit des Wassers. Sie haben sich viel­fach beschäftigt mit dem, was das Wasser in der Natur ist. Sehen Sie, wir bewundern heute an unserer Ingenieurkunst, daß sie kanalisieren kann und so weiter. Ja, die Ägypter haben Tausende von Jahren vor uns schon sehr gut kanalisieren können! Natürlich, wenn der Nil über die Ufer getreten ist und überall überschwemmt hat, so ist er unter Umständen auch dorthin gekommen, wo er nicht hätte sein sollen. Da

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haben die Ägypter schon in den ältesten Zeiten den Mörissee angelegt -einen ganzen See! Der ist nicht von der Natur aus dagewesen, sondern nur angelegt worden, damit er die Überschwemmung in die richtigen Geleise gebracht hat. Was Überflußwasser war, hat sich in diesem Mörissee gesammelt. Also natürlich haben die Ägypter die Natur künstlich beherrscht. Aber dadurch ist ihre Aufmerksamkeit außer­ordentlich auf das Wasser gelenkt worden.

Nun habe ich Ihnen schon bei der Beantwortung dessen, was Herr Dollinger gefragt hat, gesagt: Das Wasser hat ungeheuren Einfluß auf den Ätherleib des Menschen. Und bei dem Instinkt, den die Ägypter noch gehabt haben, haben sie die Lehre ausgebildet: Der Mensch be­steht nicht bloß aus einem physischen Körper, sondern er hat noch einen Ätherleib - Es ist interessant, sehen Sie: Da hinten in Indien waren älteste Völker; viele von diesen ältesten Völkern sind über Ara­bien herüber erst nach Ägypten eingewandert. In Ägypten war eine Art alte Kultur: alles von Indien her. Wie die Inder nach Ägypten ein­gewandert sind, haben sie die Wohltat des Wassers empfunden. Aber sie haben sich gesagt: Das wirkt nicht auf den physischen Leib, den wir in Indien kennengelernt haben, sondern das wirkt auf einen noch höheren Leib des Menschen. - Und so haben die Ägypter - die Inder auch - hauptsächlich, wie ich Ihnen gezeigt habe, durch das, was sie erlebt haben mit dem Wasser, eigentlich den Ätherleib entdeckt.

Dadurch, daß die Ägypter ihren Ätherleib entdeckt haben, dadurch haben sie ihre ganze Religion ausgebildet, denn die ist eine Religion des Ätherleibes. Wenn man das Allerwichtigste aus der ägyptischen Religion nimmt, so ist es die folgende Annahme. Diese Ägypter sagten, und das war etwas, was die Ägypter überall erzählten, wie in einer gewissen Zeit in Europa die Evangeliengeschichten erzählt worden sind:

Es gibt einen hohen Gott; Osiris nannten sie diesen hohen Gott. Dieser hohe Gott ist der Wohltäter der Menschen. Er ist eigentlich der Ur­heber alles desjenigen, was dem Menschen durch das Element des Was­sers kommt. Aber er hat einen Feind. Er wirkt zur Wohltat des Men­schen; aber er hat einen Feind. Und dieser Feind, der lebt im heißen Wind, der von der Wüste kommt. Da war ja die Wüste (auf die Zeich­nung deutend). So hatten sie zwei Gottheiten gehabt: den Osiris und

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den Typhon, den Osiris und seinen Feind, den Typhon. - Das alles, was sie da in der Natur gesehen haben, haben sie auch im Menschenleben drinnen gesehen. Aber sie haben es nicht wie die Inder dem physischen Leib, sondern dem Ätherleib zugeschrieben. - Dann erzählten sie die Sage weiter: Eines Tages erschlug der Typhon den Osiris und ver­schleppte ihn. Und die Gemahlin des Osiris, die Isis, holte den Leich­nam wiederum zurück, begrub die verschiedenen Glieder an verschie­denen Orten. Da hat man dann Baudenkmäler darüber errichtet. Und seither nun ist der Osiris Herrscher über die Toten. Einmal war er Herrscher über die Lebendigen, dann ist er Herrscher geworden über die Toten. Die Ägypter haben ja schon an den Tod gedacht.

Nun wissen Sie - ich habe es Ihnen schon gesagt -, ein paar Tage nach dem Tode geht der Ätherleib des Menschen fort; dann kommt der Mensch allmählich erst wieder zum Bewußtsein. Das drückt sich in der Sage so aus, daß der Osiris fortgeht und wiederum zurückgebracht wird von der Isis. Der Mensch bekommt sein Bewußtsein wiederum nach dem Tode.

So daß man sagen kann: Die Ägypter sind darauf gekommen, daß der Mensch einen Ätherleib hat. - Sehr interessant ist das! Die Inder, die haben noch den physischen Leib als Geistiges genommen. Die Ägyp­ter, die kamen auf den Ätherleib und nahmen den als Geist:

2. Ägypter: Ätherleib geistig Osiris Typhon

Isis

Und alles das, was die Ägypter geglaubt haben, alles das, wofür sie gearbeitet haben, war eigentlich für den Ätherleib Das beherrschte ganz ihr Anschauen.

Jedenfalls haben Sie schon einmal von den Ägyptern eines gesehen:

das sind die Mumien. Ich habe sie Ihnen neulich erwähnt; ich habe gesagt: Wenn die mittelalterlichen Mediziner von Mumien gesprochen haben, so ist es etwas Geistiges gewesen; das habe ich Ihnen erklärt. Aber der Mensch meint heute, wenn von Mumien gesprochen wird, nur diese ägyptischen Mumien. Die Leichname wurden einbalsamiert, fein einbalsamiert, wurden aufbewahrt. Ja, warum geschah denn das? Die Ägypter wußten nur vom Ätherleib und bewahrten den physischen Leib

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auf, damit, wenn der Mensch wieder einmal lebt, er seinen physischen Leib wieder findet. Hätten sie schon vom Astralleib und vom Ich ge­wußt, dann hätten sie nicht geglaubt, daß man den physischen Leib aufbewahren muß. Sie kannten erst den Ätherleib, und zwar sehr gei­stig. Hätten sie vom Astralleib und Ich gewußt, so hätten sie gesagt: Die bauen sich ja selber ihren physischen Leib auf. - Aber sie haben nur den feinen Ätherleib gekannt; da haben sie geglaubt, man muß den physischen Leib erhalten, damit der Mensch ihn wieder findet, wenn er wiederkommt. Also die Ägypter haben den Ätherleib entdeckt.

Jetzt kommen wir zu den dritten, zu den Babyloniern. Die haben etwas sehr groß und stark ausgebildet, nämlich das Denken gut aus­gebildet, so daß vieles von dem Denken der Babylonier heute noch er­halten ist; aber was sie ganz besonders stark ausgebildet haben, das war die Sternkunde. Sie haben ihre großen Sterntürme gebaut, von denen aus sie die Sterne beobachtet haben. Und da haben sie gesehen, daß der Mensch nicht nur abhängt von dem, was auf der Erde ist, sondern ab­hängt von dem, was in den Sternen ist. Sie haben die Einflüsse der Sterne auf den Menschen ganz besonders gesucht, und haben vor allen Dingen ihre Beobachtungen darüber angestellt, wie das Jahr sich ein­teilte. Das Jahr hat wiederum durch die Sterne einen großen Einfluß auf den Menschen. Die Babylonier gingen also zuerst mit ihrem Leben von der Erde weg und bildeten die Sternkunde, das Wissen von dem Einfluß der Sterne auf die Menschen, in ihrer besonderen Sternkunde aus. Und dadurch kamen sie auch darauf, daß sie alles nach sechzig und zwölf und so weiter einzuteilen haben.

3. Babylonier: Astralleib geistig

Wenn man nachgeht, was nun den babylonischen Sagen überall zu­grunde liegt, sind es die Sterne. Sie müssen sich nur nicht täuschen lassen von der heutigen Wissenschaft und ihren Büchern. Da ist ein Gelehrter, der sagt: Ursprünglich sind alle Religionen ausgegangen von einem Sternendienst. Deshalb müsse man den Sternendienst als den Ur­sprung aller Religionen ansehen. - Ein anderer kommt und sagt: Ach was, die Religionen sind alle ausgegangen von Naturverehrungen. Da sind der Wind und das Wetter verehrt worden. - Ein dritter sagt: Die

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Religionen sind alle ausgegangen von den Elementen, vom Wasser und seinen Wirkungen. - Ja, woher rührt das, daß dies die Leute sagen? Derjenige, der Ihnen sagt, die Religion rührt her von dem Sternen­dienst, der hat nichts anderes studiert als die babylonische Zeit. Nun glaubt er, so wie es bei den Babyloniern war, sei es überall gewesen. Derjenige, der Ihnen sagt, die Religion rühre her von den Elementen, hat nichts studiert als die Ägypter. Nun wiederum verägyptisiert er alles. - Und er sagt: Alle Religionen sind aus der Verehrung von Wind und Wetter entstanden. - Das rührt davon her, daß die Leute be­schränkt sind, daß sie nur einzelne Sachen studieren. Die Religionen gehen aus von dem verschiedensten.

Nun gibt es etwas noch, sagte ich Ihnen, ein kleines Volk da in Palästina: die Hebräer, die Juden. Sehen Sie, die lebten unter den andern Völkern, und die waren von gar nichts befriedigt bei den an­dern Völkern. Sie können es in der Bibel lesen, im Alten Testament, wie die Juden von gar nichts befriedigt sind, überall unbefriedigt sind, und wie sie auf eine ganz unsichtbare, geistige Wesenheit kommen. Der physische Leib ist natürlich ganz sichtbar. Der Ätherleib drückt sich aus in den Überschwemmungen, in den Wasserwirkungen des Nil; sie sind da. Der Astralleib der Babylonier, der ist zwar auf der Erde nicht mehr sichtbar, aber wenn man die Sterne studiert, findet man den Astralleib. Die Juden wollten alles das nicht mehr haben, sondern nur einen unsichtbaren Gott. Dieser unsichtbare Gott, was ist er? Er ist dasjenige, was auf das menschliche Ich wirkt. Also:

4. Juden: Ich geistig Jahve

Die Juden, die kamen auf das Ich als Geistiges und nannten es Jahve. Und jetzt haben Sie Geschichte! Sie können in Geschichtsbüchern

lesen, so viel Sie wollen: Sie werden nicht verstehen, wie die Völker des Altertums fortschreiten. Da wird Ihnen überall von allen mög­lichen Kriegen und Königen erzählt - das gibt ein kunterbuntes Chaos im menschlichen Schädel; da weiß man nicht, was das eigentlich ist. Dann wird höchstens noch erzählt von Religionen; aber man weiß nicht, woher die kommen. Wenn Sie aber jetzt wissen: Der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, und diese

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sind nacheinander von den Menschen erst entdeckt worden, und davon waren ihre Lebensanschauungen abhängig, dann kriegen Sie in dieser Hinsicht heraus: Die Inder entdecken den physischen Leib, die Ägyp­ter den Ätherleib, die Babylonier den Astralleib, die Juden das Ich. Nach und nach kommt es heraus, daß der Mensch diese verschiedenen Leiber hat. Das ist nicht gleich vom Himmel herabgefallen, sondern das entdecken die Menschen nach ihren Lebensverhältnissen.

1. Inder: Physischer Körper geistig

2. Ägypter: Ätherleib geistig OsirisTyphon

Isis

3. Babylonier: Astralleib geistig

4. Juden: Ich geistig Jahve

Die Inder, bei denen viele Völker durchgezogen sind, so daß sie rassisch verschieden sind, kommen auf den physischen Leib. Die Ägyp­ter, die sich viel mit dem Wasser zu befassen hatten, kommen auf den Äther und dadurch auf den Äthermenschen. Die Babylonier, die alles dasjenige, was sie für den Astralleib brauchten, von den andern Völ­kern übernahmen, bei denen kamen die Priester darauf, hohe Türme zu bauen: die kamen auf die Sternkunde. Und die Juden, die immer gewandert sind - Sie können das in den Geschichten von Abraham, Moses und so weiter verfolgen -, waren abgeneigt, in dem Oben und Unten etwas Sichtbares zu verehren: die kommen auf den unsichtbaren Jahve, der der Schöpfer und Auswirker des menschlichen Ich ist.

Da bekommen Sie Sinn in das Ganze hinein! Da werden Sie sehen, wie nach und nach der Mensch sich selber entdeckt. Dann geht das weiter. Wir wollen das auch noch betrachten. Am nächsten Mittwoch sehen wir uns dann wiederum.

ZWEITER VORTRAG Dornach, 5. März 1924

#G353-1968-SE027 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

#TI

ZWEITER VORTRAG

Dornach, 5. März 1924

#TX

Nun, meine Herren, ist für heute jemandem noch etwas eingefallen?

Fragesteller: Es wird nach dem Zweck der Fastnacht, des Faschings, gefragt, ob man darüber etwas von Dr. Steiner hören könne? Woher das Fastnachtsfest komme, was es bedeute?

Dr. Steiner: Also Sie meinen, was für einen Zweck die Fastnacht, der Fasching hat? Nun, sehen Sie, das Fastnachtsfest ist nicht gerade dadurch zu verstehen, daß man nach dem Zweck frägt, denn, min­destens nach der Art und Weise, wie man es heute feiert, werden Sie ja zugeben, daß schließlich die Menschheit mit den Jahren auch ohne Fasching auskommen könnte. Also man kann schon sagen, nach dem heutigeti Anschauen ist das Faschingsfest im Grunde zwecklos. Aber es hat auch nicht mehr seine ursprüngliche Bedeutung. Es ist mit sol­chen Dingen wie Faschingsfesten geradeso gegangen, wie es mit den Orden gegangen ist, mit den Gewändern und so weiter. Die haben früher ihren guten Sinn gehabt; nach und nach haben sie diesen Sinn verloren. Und, nicht wahr, es verschwinden nach und nach auch die andern Feste des Jahres; allmählich, wenn sie nicht mehr aufgefrischt werden in ihrem Sinn, verlieren sie ihre Bedeutung. Für das Faschings-fest ist noch nicht außerordentlich viel getan, um seine Bedeutung wie­der zu gewinnen. Denn eigentlich würde das Faschingsfest tief ein­greifen in das ganze soziale Leben, wenn es den ursprünglichen Sinn, den es zum Beispiel im alten Rom gehabt hat, wo es früher gefeiert worden ist, wieder bekommen hätte.

Gehen wir gerade ins alte Rom zurück, dann finden wir das Fol­gende. Die Leute waren damals auch, wenn man so sagen darf, so ein­geteilt, wie hier in der jetzigen Zeit: der eine war Staatsbeamter, der andere war Krieger, der dritte war Arbeiter und so weiter, und die Einteilung war mindestens im sozialen Sinne noch härter wie heute. Denn derjenige, der Sklave war, konnte ja sogar als Mensch gekauft werden! So daß man sagen kann: Es war der Unterschied der Men­schen im alten Rom noch ein sehr, sehr bedeutender. Aber das Bewußtsein,

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daß man diese oder jene Stellung hat, das sollte für einige Tage des Jahres wenigstens vergehen. Nicht wahr, heute redet man von der Demokratie und meint, zunächst allerdings mehr im theoretischen Sinne, daß alle Menschen gleich seien. Nun, das haben die Römer durchaus nicht irgendwie geglaubt, sondern bei denen war der, der in irgendeinem höheren Stand geboren worden war, erst ein rich­tiger Mensch. Sie wissen ja, daß bis in unsere Zeiten herein noch für gewisse Leute das Sprichwort gegolten hat: Der Mensch fängt erst beim Baron an. - Also diejenigen, die unter dem Baron sind, sind keine Menschen.

Im alten Rom war das natürlich außerordentlich stark. Wenn auch dazumal der Adel in der Weise noch nicht eingeführt war, wie er dann später erschien - denn das ist eine mittelalterliche Einrichtung aus der sogenannten Feudalzeit -, so war aber doch ein großer Unter­schied der Stände im alten Rom üblich. Nun aber, ein paar Tage im Jahr hindurch sollten die Menschen gleich sein, sollte Demokratie herr­schen. Das konnte man natürlich nicht so machen, daß die Menschen mit ihren gewöhnlichen Gesichtern kommen, sonst hätte man sie ja er­kannt; da mußten sie Masken tragen. Da waren sie dann etwas, was die Masken waren. Da gab es dann auch einen Menschen, der Faschings-könig war. Der konnte in diesen Tagen tun, was er wollte. Er konnte Befehle ausüben, während er sonst nur Befehle empfangen hat. Und das ganze Rom war in dieser Zeit ein paar Tage verrückt, von der Stelle gerückt; und die Menschen konnten sich auch ihren Vorgesetzten gegenüber anders benehmen, brauchten ihnen gegenüber nicht höflich zu sein - also für ein paar Tage, um die Menschen gleich zu machen! Und diese Einrichtung hat natürlich dazu geführt, daß die Leute nicht gerade geweint und getrauert haben; denn das hat sie gefreut, daß sie ein paar Tage so leben konnten. Aus dieser Freude heraus ist dann die Faschingslustbarkeit geworden: Die Leute haben nur tolle Streiche ge­macht, wenn sie frei geworden sind für ein paar Tage. Und so ist die ganze Fastnachtsvergnüglichkeit entstanden.

Die Folge davon war, daß, weil das den Leuten sehr gut gefallen hat, es sich auch erhalten hat. Aber die Dinge erhalten sich, ohne daß man den ursprünglichen Sinn mehr weiß. So bleibt nur der Fasching

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als die Zeit, in der man tolle Streiche macht - weil man da tolle Streiche machen durfte. Dann hat das Kirchentum gefunden, daß es notwendig ist, daß man just danach auch den Aschermittwoch folgen läßt, daß man sich als schuldiger Mensch fühlt, nicht alles darf, was man will und so weiter, und da das Christentum wenigstens in früherer Zeit auch den Brauch entwickelt hat, daß der Mensch entbehren kön­nen soll, so wurde die Fastenzeit eingerichtet. Und es war natürlich zweckmäßig, gerade die Fastenzeit anzureihen an die Faschingszeit, weil da die Leute am wenigsten entbehrt haben; alles das, was ihnen wohlgefallen hat, haben sie eben, so gut es ging, gemacht. Und nachher ist es viel schlimmer, die Sachen nicht zu essen, die man da vorher ge­gessen hat. Es war dann, als ob die Zeit nicht vorangegangen wäre. Und so haben sich diese Feste zusammengestellt.

Nur war die Sache in Rom so, daß der Fasching viel früher war, so um unsere heutige Weihnachtszeit, denn alles ist etwas hinausgerückt worden in eine spätere Jahreszeit. Dadurch haben wir eben diese heu­tige Faschingszeit erhalten. Das Datum der Fastnachtszeit richtet sich ja, wie ich glaube, in allen übrigen Ländern nach der Osterzeit, nur in Basel wird es um eine Woche später gefeiert, soviel mir bekannt ist. Aber das führt ja, wie ich höre, nur dazu, daß man es dann zweimal feiert!

Das wäre also zu dieser Frage zu sagen. Das kann man von vielen Sachen in der Menschheit sagen, daß sie ursprünglich schon einen Sinn hatten, aber diesen Sinn dann später verloren haben. Dann frägt man sich: Warum äenn das alles?

Nun, vielleicht hat jemand für heute noch etwas anderes zu fragen?

Fragesteller: Ich möchte Herrn Doktor fragen, ob er vielleicht fortfahren würde mit der Geschichte vom letzten Mal?

Fragesteller: Ich möchte fragen, ob so etwas möglich wäre, daß Menschen einen andern beleidigen oder ihm Schmerz zufügen können, also auf andere einwirken können? Frau A. hatte ein dreijähriges Kind, das sah immer Wesenheiten zur Türe und zu den Fenstern hereinkommen. Das Kind hatte oft unruhige Nächte, und be­sonders wenn die Frau die Leibwäsche gewaschen hatte - die Frau entlehnte Sachen im Haus -, so wurde das Kind immer unruhig. Zuletzt hat es dann nichts mehr ge­geben; dann ist die Frau später gestorben. Ich möchte Herrn Doktor fragen, ob so etwas möglich wäre?

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Dr. Steiner: Das sind natürlich Dinge, die in allerlei Gebiete hin-einschlagen, in denen ebenso stark mitspielen kann - weil die Leute leichtgläubig sind - der Aberglaube, aber auch die Tatsachen. Sie müs­sen sich nur klar darüber sein, daß in der Welt Zusammenhänge vor­handen sind, die physisch nicht ohne weiteres zu verfolgen sind. Ich will von ganz einfachen Zusammenhängen ausgehen, weil Sie es so vielleicht am besten verstehen können.

Nehmen Sie eine Weinernte. Sie ernten Wein; Sie pressen ihn aus, richten ihn zu, geben ihn in Fässer, kellern ihn ein. Nun, Sie werden bemerken, daß er in der Zeit, in der dann der nächste Wein herein­kommt - wenn die Zeit herankommt, wo der Wein wieder gärt -, un­ruhig wird. Er bleibt, ohne daß er noch einen physischen Zusammen­hang hat, in Verbindung. Das ist eine einfache Tatsache, die Ihnen zeigt, daß es in der Natur selbst solche Verbindungen gibt, die man nicht ohne weiteres mit dem Auge und so weiter verfolgen kann.

Nun gibt es aber heute schon, wie Sie wissen, eine Möglichkeit, die gewöhnliche Sichtbarkeit zu überbrücken. Sie brauchen nur daran zu denken, daß also selbst in der leblosen Natur heute Einrichtungen vor­handen sind, wo man das gewöhnliche Sichtbare - nicht das feiner Sichtbare, aber das gewöhnlich Sichtbare - überwindet; Sie brauchen nur an die Funktelegraphie zu denken! Worauf beruht denn die Funk­telegraphie? Sie beruht darauf, daß Sie irgendwo einen Elektrizi­tätserreger haben; an den schließt sich zunächst gar kein Draht an, sondern er steht für sich da. Irgendwo anders, ohne Verbindung da­mit, findet sich ein Apparat, in dem gewisse feine Scheibchen drinnen sind, die in Bewegung kommen können. Man nennt einen solchen Ap­parat einen Kohärer. Sie haben gar keine physische Verbindung zu­nächst, wie es scheint, sondern wenn Sie hier die Elektrizität erregen, so kommt es dazu, daß sich dort die Zeichen bewegen; und wenn Sie es da mit einem Apparat in Zusammenhang bringen, so können Sie dort die Depeschen aufnehmen, geradeso wie Sie mit den Drähten Elektrizität aufnehmen können. Gewiß, es beruht darauf, daß sich Elek­trizität ausbreitet, aber die kann man eben nicht sehen; sie breitet sich ohne eine gröbere physische Verbindung aus. Da haben Sie also selbst in der leblosen Natur eine Verbindung, die durchaus so ist, daß man

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sagen kann: es ist das Sichtbare wenigstens bis zu einem gewissen Grade überwunden.

Nun kann ja die Sache weitergehen. Nehmen Sie einmal gewisse Zwillingsgeschwister an. Zwillingsgeschwister stehen auch nicht mehr in einem physischen Zusammenhange, wenn sie ein späteres Alter er­reicht haben. Der eine ist vielleicht da, der andere dort. Dennoch kann man gerade bei Zwillingsgeschwistern wahrnehmen, wie der eine zu einer bestimmten Zeit zum Beispiel eine Krankheit kriegt; der andere, der weiter entfernt ist, auch! Oder der eine wird in einer bestimmten Zeit durch irgend etwas traurig; der andere auch. Alle solchen Dinge zeigen Ihnen, daß es schon Wirkungen in der Welt gibt, wo man nicht gleich von einer physischen Einwirkung sprechen kann.

Wenn man aber nun ans Tierreich herankommt, dann merkt man sehr bald, daß es zum Beispiel Wahrnehmungen gibt bei den Tieren, die der Mensch nicht hat. Nehmen Sie zum Beispiel an, in irgendeiner Gegend käme ein Erdbeben oder ein Vulkanausbruch, der sehr schäd­lich wird für die Menschen. Die Menschen bleiben ruhig sitzen; die Tiere sieht man manchmal schon tagelang vorher wegziehen, die Ge­gend verlassen! Auch aus dem können Sie sehen, daß für die Tiere eine Empfindung von etwas da sein kann, was man nicht physisch wahr­nimmt. Würde man es physisch wahrnehmen, so würde auch der Mensch in der Lage sein, die Sache wahrzunehmen.

Aus alledem sehen Sie, daß es eben Verbindungen gibt, die außer dem Physischen in der Welt möglich sind. Nun, wenn wir auf solche feinere Verbindungen eingehen, so kommen wir dazu, daß zuweilen Menschen etwas in sich spüren, was sie ganz gewiß nicht physisch haben wahrnehmen können. Ich will zum Beispiel sagen: Es gibt irgendwo einen Menschen - die Dinge sind ja in Hunderten und Tausenden von Fällen vorgekommen -, der zuckt plötzlich zusammen und sieht etwas vor sich wie ein Bild - es ist natürlich nur ein Traum -und er schreit und sagt: Mein Freund! - der Freund ist aber viel­leicht weit weg: der kann das in Europa erleben, der Freund ist viel­leicht in Amerika -, mein Freund! Dem ist jetzt etwas passiert! -Es stellt sich heraus: Der ist gestorben. Also solche Dinge sind durchaus vorhanden. Man kann da wiederum konstatieren, wie solche Wirkungen

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stattfinden können, ohne daß eine physische Verbindung da ist. Ja, man muß nun aber schon sagen: Für unsere Menschheit ist es

ganz gut, daß diese Dinge nicht allzu verbreitet sind; denn denken Sie nur, wenn Ihr Kopf geeignet wäre, all dasjenige wahrzunehmen, was der eine oder andere Mensch zum Beispiel Schlimmes über Sie denkt oder sagt, dann wäre das eine schlimme Geschichte! Nicht wahr, Sie wissen ja, wenn man einen Telegraphenapparat hat, dann muß erst die Einrichtung erfolgt sein, der Draht muß erst eingeschaltet sein, dann geschieht die Übertragung. Ebenso muß bei der drahtlosen Telegraphie das hier in Ordnung sein, darf nicht weggenommen sein (auf die Zeich­nung deutend), dann geschieht die Übertragung. Nun, im allgemeinen, beim voll gesunden Menschen ist es so, daß der Mensch eben nicht ein­geschaltet ist in all die Strömungen, die da gehen; er ist ausgeschaltet; aber in speziellen Fällen kann es allerdings geschehen, daß man einge­schaltet ist in irgend etwas.

Nehmen Sie also zum Beispiel an - auf Ihren Fall kann ich aus dem guten Grunde nicht gut eingehen, weil Sie wahrscheinlich nicht wissen, wie stark er beglaubigt ist; aber ich will auf ähnliches eingehen, dann werden Sie auch dieses sich erklären können. Ich möchte immer nur über Dinge reden, die absolut beglaubigt sind, weil man sonst sehr leicht in die bloße Rederei hineinkommt. Sie haben den Fall wahrscheinlich nicht selbst erlebt, sondern gelesen oder erzählen hören? Also nur auf das, was gut beglaubigt ist, will ich eingehen. Nehmen Sie an: Eine Frau A, die habe während der Schwangerschaft einen Streit gehabt mit der Frau B, die in der Nachbarschaft wohnt. Es kommt ja vor, nicht wahr, daß die Leute miteinander streiten. Nun hat vielleicht diese Frau B, die in der Nachbarschaft wohnt, ganz besonders stark diese Frau verwünscht, und die Frau A ist deswegen furchtbar erschrocken. Da­durch kann das Kind, das dann geboren wird, in eine gewisse Ab­hängigkeit von Frau B kommen, aber auch die Frau B in eine gewisse Abhängigkeit zum Kind, und es kann schon vorkommen, daß dadurch das Kind empfänglich wird für dasjenige, was sie ihm als Leibwäsche oder dergleichen gibt, wenn es die Frau B wäscht. Aber auf der andern Seite kann es auch wichtig sein für die Frau B, daß sie Leibwäsche be­kommt; sie braucht dann, weil sie doch ein bißchen Reue hat darüber,

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daß sie der Frau A das angetan hat, irgend etwas aus dem Hause, um sich fortwährend zu beruhigen; und in dem Augenblicke, wo ihr das dann entzogen wird, da sucht sie es auf alle mögliche Weise zu be­kommen. Es können Leute dadurch, daß sie so etwas bekommen wol­len, ohne daß sie von Natur aus Diebe sind, allerlei Sachen entwenden. Sie werden diebisch nur für diese Dinge; sie stehlen sonst nicht, aber suchen auf alle Weise Dinge zu bekommen. Und dann kann es aller­dings sogar vorkommen, daß sie, wenn ihnen das entzogen wird, weil schon einmal auch geistig-seelische Einflüsse auf die Gesundheit des Menschen vorhanden sind, dadurch an einer Art inneren Auszehrung, an einem Auszehrfieber siechen und dahinsterben, oder sagen wir, selbst an einem Herz- oder Nervenschlag dahinsterben. Es kann das durchaus sein.

Man kann also sagen: Solche Dinge kommen vor in der Welt, und diese Dinge sind auch erklärlich, weil eben, ohne daß eine physische Verbindung besteht, durchaus ein Einfluß von einem Menschen auf den andern unter gewissen Verhältnissen ausgeübt werden kann. Aber man muß dann immer auf die Veranlassung eingehen können. Es kann in diesem Fall, den Sie nannten, eine ganz andere Veranlassung gewesen sein. Aber wenn zum Beispiel während der Schwangerschaft ein Kra­keel zwischen diesen beiden Frauen gewesen wäre, so könnte das die Ursache sein, daß eine Einschaltung zwischen dieser Frau und dem Kinde später noch stattgefunden hat.

Nun wurde gewünscht, daß ich noch etwas weiter spreche über das­jenige, was ich neulich ausgeführt habe. Ich habe Ihnen gezeigt, wie im alten Indien in einer Zeit, die heute vielleicht vier- bis fünftausend Jahre zurückliegt, die Menschen unter ganz andern Verhältnissen leb­ten. Und gerade durch diese besondere indische Natur und durch die Art, wie die Völker beisammen waren, haben diese alten Inder die Ansicht ausgebildet von dem physischen Menschenleib.

Die Ägypter wiederum, die ihr Land ganz unter dem Einfluß des Nils gehabt haben, die sozusagen alles, was sie waren, dem Nil verdank­ten, die haben, weil dadurch der Mensch auch auf den Äther aufmerk­sam wird, die Anschauung von dem Ätherleib des Menschen ausgebildet.

Die in Assyrien Wohnenden und die Babylonier, die haben, weil

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bei ihnen durch die besonders reine Luft, durch die höhere Lage, die Sterne zu gewissen Jahreszeiten leicht beobachtbar waren, den Astral­leib als Anschauung ausgebildet.

Und die Juden, die eigentlich wandern mußten in ihrer früheren Zeit, die nirgends zunächst seßhaft waren, erst später seßhaft gewor­den sind, die mehr aus dem Inneren der Menschennatur heraus gedacht und empfunden haben, die haben ausgebildet die Anschauung von dem Ich des Menschen.

So hat sich nach und nach die Anschauung von dem physischen Leib, dem Ätherleib, dem Astralleib und dem Ich ausgebildet. Sehen Sie, das Wort Jahve ist nichts anderes als: Ich bin der Ich-bin. - Das ist die Wortbedeutung. Da wird eben, indem Jahve gilt als der oberste Gott, durch dieses Bekenntnis zum obersten Gott auf das menschliche Ich in klarer Weise hingedeutet.

Wenn wir diese Entwickelung der Geschichte verfolgen, dann fin­den wir, daß eigentlich alle diese Völker mehr das in ihren Gedanken, in ihren Gefühlen zum Ausdruck gebracht haben, was sie erlebt haben. Der Inder hat erlebt eine furchtbar reiche Natur - da ist alles in einem fortwährenden Blühen und Wachsen: eine reiche, üppige Natur. Er hat also eigentlich den Reichtum des Physischen besonders wahrgenom­men, und er hat demgemäß aus seiner Anschauung heraus die Ansicht vom physischen Leib besonders ausgebildet. Der Ägypter wiederum, der hat gesehen, daß ihm nur der Nil, den man sieht, hilft; der hat deshalb die Lehre vom Äther ausgebildet und so weiter. Aber alle diese Menschen haben eigentlich alles das ausgebildet, was sie erlebt haben.

Dem gegenüber stand nun ein anderes Volk. Wir können sagen (es wird eine Zeichnung entworfen): Hier das alte Indien, hier Arabien; hier also dann Ägypten, da fließt der Nil. Nun geht es hier herüber, und hier haben wir dann gegen Afrika her gerichtet ein Land, das sich dann an Europa anschließt. Hier würde wiederum Assyrien sein, wie ich Ihnen das letzte Mal gesagt habe, hier Ägypten, hier Indien; hier würde Palästina liegen, wo die Juden ansässig waren; und hier haben wir dann Griechenland. In diesem Griechenland sind Völker ansässig geworden, die aus den verschiedensten Gebieten von Asien und Europa eingewandert sind, und die also dort sich untereinander vermischt

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haben. Sie haben auch schon ursprüngliche Einwohner gefunden, als sie eingewandert sind, aber es hat sich dann auf dieser Halbinsel von Europa eben nach und nach das griechische Volk ausgebildet. Dieses griechische Volk, das war nun eigentlich das erste, welches, man möchte sagen, die Augen aufgemacht hat und auch etwas gesehen hat von der Welt, was nicht nur von innen erlebt war. Der Inder hat die Natur von innen erlebt; der Ägypter hat die Ätherwirkungen erlebt; die Assyrier haben den Astralleib an den Sternen erlebt; die Juden haben ihr Ich erlebt. Die Griechen, die haben eigentlich zunächst, wie ich schon sagte, die Augen nach außen gerichtet und die Welt angesehen. Die andern haben ja eigentlich die Welt nicht angesehen. So daß man sagen kann: Die Naturanschauung, die war weder bei den Indern und den Ägyptern noch bei den Babyloniern noch bei den Juden besonders entwickelt; sie haben nicht viel gewußt von der Natur, weil sie nicht die Augen aufgemacht und herausgeschaut haben. Bei den Griechen erst ist eine Naturanschauung entstanden, weil eben die Griechen die Augen aufgemacht und nach außen geschaut haben. Und so wird der Mensch in Griechenland eigentlich erst auf die äußere Welt aufmerk­sam.

Die Inder, sehen Sie, die haben ganz gut gewußt: Diese physische Welt hier, die ist ein Teil der ganzen Welt, und ich bin bei der Geburt herausgekommen aus dem Geistigen; ich gehe nach dem Tode wieder­um hinein. Die Ägypter haben zwar geglaubt, daß man die Mumien erhalten müsse, damit der Mensch wiederum zurückkommen könne; aber sie haben auch besonders auf das Geistige gesehen. Die Babylonier haben in dem Sternenhimmel, den sie beobachtet haben, im Astralen, den Willen der Geister gesehen. Also sie haben auch an Geister geglaubt. Und von den Juden wissen Sie ja, daß sie der Anschauung waren, daß Jehova, Jahve, sie wiederum zurückführt in jene alten Zeiten, in denen die Urväter gelebt haben. Also die haben im Grunde genommen auch auf dasjenige gesehen, was den Menschen mit der geistigen Welt ver­bindet.

Bei den Griechen ist das anders geworden. Die Griechen haben eigentlich als die ersten die äußere Welt liebgewonnen. Den früheren Völkern lag nicht viel an der äußeren Welt. Den Griechen lag sehr viel

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an der äußeren Welt; und es gibt einen griechischen Ausspruch, der besagt: Es ist besser, ein Bettler zu sein in der Oberwelt - also, er meint in Griechenland: auf der Erde -, als ein König im Reiche der Schatten, also der Abgestorbenen. Also die Griechen haben vor allen Dingen die Welt liebgewonnen und haben dadurch auch eine Naturanschauung gewonnen.

Die andern Völker haben zum Beispiel entwickelt eine Menschen-ansicht. Bei den Indern namentlich war schon in den ältesten Zeiten eine gewisse Menschenansicht. Aber die haben diese Menschenan­sicht nicht etwa dadurch gewonnen, daß sie etwa den toten Men­schen in den Seziersaal gebracht und zerschnitten haben! Wenn die Inder das hätten machen müssen, so hätten sie niemals ihre Menschen-ansicht gewonnen. Sondern sie haben gespürt in den einzelnen Teilen des Menschen - das war in der Zeit noch möglich -, wie sich die Leber, die Lunge verhält. Durch innere Erkenntnis haben sie das gewußt. Das ist dasjenige, was die Inder zu ihrer großen Weisheit geführt hat, daß sie durch inneres Empfinden und Fühlen gewußt haben, wie die Leber wirkt und so weiter. Heute weiß der Mensch nur, wie ihm ein Stück­chen Fleisch im Munde schmeckt. Der Inder hat gewußt, wie sich ein Stückchen Fleisch verhält in den Gedärmen, was die Leber, was die Galle tut, durch inneres Erleben, so wie der Mensch heute die Stück­chen Fleisch, die er ißt, im Munde spürt.

Die Ägypter haben die Geometrie ausgebildet, weil sie das brauch­ten. Sie mußten immer wieder feststellen, wo die Äcker liegen; der Nil hat ja jedes Jahr alles überschwemmt. Das ist auch etwas, was man aus dem Kopf heraus spinnt. Die Babylonier haben die Astrologie ausge­bildet, die Sternenerkenntnis - also auch wieder etwas, was nicht mit dem Irdischen zusammenhängt; sie haben kein starkes Interesse gehabt für das Irdische. Und daß die Juden kein starkes Interesse haben für das Irdische, zeigt sich darin, wie der Jude alles eher hat als ein eigent­liches Interesse für dasjenige, was in der Sinneswelt um ihn herum ist; er kann gut denken, aber er hat nicht ein eigentliches Interesse für das, was in der Sinneswelt um ihn herum ist.

Das Volk, das am meisten Interesse hat für das, was in der Sinnes-welt um einen herum ist, das sind die Griechen. Wenn man nachforscht,

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so ist es interessant, daß man darauf kommt, daß sie die ganze Welt anders gesehen haben. Wir heute, wir sehen den Himmel blau, nicht wahr. Die Griechen haben gar nicht einen solchen Eindruck von der blauen Farbe gehabt wie wir, sondern sie haben den Himmel viel dunk­ler, fast schwärzlich gesehen, und einen etwas grünlichen Anstrich; und ganz besonders stark haben sie das Rot wahrgenommen. Wir können uns gar nicht mehr vorstellen mit unserer matten Rotwahrnehmung, welchen starken Eindruck die rote Farbe auf die Griechen gemacht hat! Gerade weil sich bei der Menschheit nach und nach die Empfin­dung für das Blaue entwickelt hat, dadurch ist die Menschheit wieder­um zurückgekommen von dem sinnlichen Eindruck. Also die Griechen haben zuerst dasjenige besonders liebgewonnen, was außer ihnen vor­handen war. Und dadurch haben die Griechen ganz besonders das­jenige ausgebildet, was man heute eine Mythologie nennt. Die Grie­chen haben eine ganze Götterwelt verehrt: Zeus, Apollo, Pallas Athene, Ares, Aphrodite; überall haben sie Götter gesehen. Eine ganze Götter-welt haben sie verehrt, weil ihnen überall das, was sie liebten als äußere Natur, noch belebt und durchgeistigt vorkam. Nicht so tot, wie es bei uns ist, sondern noch belebt und durchgeistigt kam es ihnen vor. Also sie verehrten in der Natur selber, die sie liebgewonnen hatten, überall die Götter.

Dadurch aber ist während der Griechenzeit gerade für alle die­jenigen Menschen, die von der griechischen Zivilisation, von der grie­chischen Kultur abhängig geworden sind, vergessen worden, was eigent­lich die Inder, die ÄgYpter, die Babylonier vom Geistigen erlebt haben.

Nun werden Sie ja wissen, meine Herren, einen wie großen Ein­fluß auf die ganze Entwickelung der Menschen eigentlich Griechenland genommen hat. Das geht ja bis heute! Wer heute seinen Sohn ins Gym­nasium schicken kann, der läßt ihn heute noch die griechische Sprache lernen. Das war früher aber viel ausgebreiteter. Man war früher sozu­sagen ein Esel, wenn man nicht Griechisch konnte, oder nicht wenig­stens die griechischen Schriftsteller, Poeten lesen konnte. Griechenland hat einen ungeheuer starken Einfluß auf die Welt genommen, weil es sich zuerst interessiert hat für diese äußere Welt.

Nun, während in Griechenland sich dieses Interesse für die äußere

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Welt entwickelt, tritt in Asien drüben das Bedeutsame ein, daß von da aus sich das Mysterium von Golgatha entwickelt hat, das heißt, als Griechenland schon überwunden war, alles eigentlich schon römische Herrschaft war. Aber was bedeutet diese römische Herrschaft? Sie war ja ganz erfüllt von griechischem Geist. Die gebildeten Römer hatten auch alle Griechisch gelernt, und wer in Rom gebildet war, konnte eben Griechisch. Das Griechische hat überall den allergrößten Einfluß gewonnen. Während also das Griechische sich so ausbreitete, war in Asien drüben, in einer eigentlich wenig bekannten römischen Provinz -das war dazumal Palästina, die Juden waren überwunden, Palästina war römische Provinz geworden - ein Mensch aufgetreten, Jesus von Nazareth, der etwas ganz anderes sagte, als was bisher die Menschen jemals gesagt haben. Und Sie können sich vorstellen, weil er so etwas Besonderes sagte, wurde er auch von den andern nicht gleich begriffen. Daher ist er in der ersten Zeit nur von wenigen begriffen worden.

Was sagte denn eigentlich diese Persönlichkeit des Jesus, als er in Palästina auftrat? Nun, diese Persönlichkeit des Jesus sagte in der Art, wie er es dazumal ausdrücken konnte: Ja, man glaubt heute - das war das damalige «heute» - überall, daß der Mensch ein Erdenwesen ist. Das ist er aber nicht. Er ist ein Wesen, das aus der geistigen Welt stammt und das, wenn es stirbt, wiederum in die geistige Welt zurück­geht. - Heute, wo das Christentum fast zweitausend Jahre gewirkt hat, muß man sich wundern, daß so etwas damals gesagt worden ist. Aber damals war es eben nicht so. Die asiatischen und afrikanischen Vorstellungen vom Geiste waren in Griechenland wenig bekannt, wenig ausgebreitet. Da war man mehr der Welt zugewandt. Und daher war schon insbesondere auch gegen das verweltlichte Griechentum, wie es in Rom war, dasjenige, was der Jesus von Nazareth zunächst lehrte, etwas ungeheuer Bedeutendes.

Aber damit hätte er noch nichts anderes getan, als daß er dasjenige, was schon die früheren Völker, die Inder, die Ägypter und so weiter auch gesagt haben, wiederum hätte auferstehen lassen. Es wäre nur dasjenige wiederum auferstanden, was ich Ihnen eben erzählt habe; es wäre nur das wiedergekommen, was schon da war. Aber jener Jesus von Nazareth hat nicht nur dasjenige wiederum aufgewärmt, was

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schon da war, sondern er hat auch noch folgendes gesagt. Er hat gesagt:

Ja, wenn ich heute nur auf dasjenige hingehört hätte, was mir die Men­schen sagen können, so wäre ich gar nicht auf die Lehre vom Geist gekommen, denn die Menschen wissen gar nicht mehr in Wirklichkeit etwas vom Geiste. Das ist mir gekommen von außerhalb der Erde. -Und so ist er sich bewußt geworden, daß er nicht bloß der Jesus war, sondern daß in seiner Seele eine Wesenheit aufgegangen ist, die der Christus war. Der Jesus, der war für ihn derjenige, der auf der Erde aus dem Mutterleib geboren ist. Der Christus war derjenige, der in seine Seele hineingeströmt ist erst in späterer Zeit. Dadurch ist in seiner Seele die Wahrheit aufgegangen, daß die Menschen geistiger Natur sind.

Jetzt müssen wir uns einmal fragen: Wie sind denn die verschiede­nen alten Lehren in Indien, in Ägypten, in Babylonien und auch unter den Juden gepflegt worden? Wenn Sie sich heute in dem geistigen Leben umsehen, so finden Sie auf der einen Seite die Kirche, auf der andern Seite die Schulen. Höchstens streiten sich die Herrscher der Kirche mit den Beherrschern der Schulen, wie groß der Einfluß von dem einen auf das andere sein soll; aber abgesondert ist es voneinander. Das war bei diesen alten Völkern weder bei den Indern noch den Ägyp­tern noch den Babyloniern noch auch bei den Juden der Fall. Alles, was dazumal mit Religiösem verknüpft war, war zu gleicher Zeit mit den Schulen verknüpft; es war eines, der Kirchendienst und der Schul­dienst. Vieles davon hat sich natürlich noch in unsere Zeit herein ver­pflanzt; aber so ist es eben nicht, wie es in alten Zeiten war, daß der Priester zugleich der Lehrer war. Der Priester war der Lehrer sowohl in Indien wie in Ägypten, Babylonien und so weiter. Der Priester war der Lehrer. Und wo lehrte er? Nun, er lehrte dort, wo man auch den Gottesdienst verrichtete, wo man den Kultus hatte. Der Kultus war überhaupt mit dem Lehren ganz verbunden. Das waren die Mysterien­stätten. Man hatte nicht Kirche und Schule, sondern man hatte solche Orte, also solche Institute, die beides zugleich waren, und die wir heute Mysterien nennen. Aber es war da überall die Ansicht, daß man vor­sichtig sein muß mit alldem, was da gelehrt werden kann.

Sehen Sie, meine Herren, das war eben eine alte Anschauung: daß

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der Mensch erst reif sein soll dazu, wenn er ein bestimmtes Wissen be­kommt. Das ist heute ganz verlorengegangen. Und so hat man überall diejenigen, welche die höchste Würde hatten in den Mysterien, die «Väter» genannt. Es ist davon noch zurückgeblieben, zum Beispiel in der katholischen Kirche, daß man gewisse Priester die Patres nennt, die Väter. In den alten Zeiten, sowohl bei den Indern, den Ägyptern, den Babyloniern und so weiter, überall waren diejenigen, die eigentlich eingeweiht waren in das Wissen, die Erkenntnisse hatten, die «Väter» genannt worden. Und wenn diese Väter dann gelehrt hatten diejenigen, die aufgenommen worden sind, von denen sie geglaubt haben, daß sie sie reif machen können, dann hatten sie sie auch erst, so wie sie «Väter» genannt worden waren, die «Söhne» genannt. Und alle übrigen Men­schen, die nicht in die Mysterien hineinkamen, die nicht aufgenommen wurden, die nannte man die «Kinder» der Väter; oder man sagte auch zu ihnen: Söhne und Töchter. Nun, Sie können begreifen, daß sich da eine bestimmte Anschauung herausgebildet hat. Diese Anschauung be­stand darinnen, daß die Menschen, die dazumal viel gläubiger waren als sie heute sind, wirklich auch im geistigen Sinne diejenigen, die in den Mysterien waren, als ihre Väter empfunden haben; sie haben gern sie als ihre Väter angesehen, als ihre geistigen Väter. Und sie haben vor allen Dingen geglaubt: Diese geistigen Väter stehen mit den Göttern in einem engeren Verkehr als sie draußen; sie draußen müssen erst die Botschaft, die Kundschaft von den Vätern empfangen. Und so sind allmählich die Menschen stark abhängig geworden von den Vätern. Der Zustand, den heute die katholische Kirche, ich glaube von Herzen gern herstellen möchte, der ist in den alten Zeiten das Selbstverständ­liche gewesen. Es war überall so. Da hat sich auch kein Mensch dagegen aufgelehnt. Man hat eben gesagt: Wenn man richtig Mensch sein will, dann muß man entweder selber ein Vater sein, dann verkehrt man direkt mit den Göttern, oder man muß eben von den Vätern etwas von den Göttern erfahren. - Man ist also ein Mensch dadurch, daß einem diejenigen, die in den Schulen, in den Mysterien sind, etwas sagen. Da­durch entstand der Unterschied zwischen Gotteskindern und Menschen-kindern, Gottessöhnen und Menschensöhnen. Diejenigen, die in den Mysterien waren, nannte man die Gottessöhne, weil sie wiederum zu

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den Göttern aufschauten wie zu den Vätern. Aber diejenigen, die drau­ßen lebten, denen dann nur verkündet wurde, was in den Mysterien war, die nannte man die Menschenkinder oder Menschensöhne. Und so unterschied man die Menschen in Göttersöhne und in Menschen-söhne oder Menschenkinder. Heute kommt das dem Menschen sogar lächerlich vor, aber dazumal war das ganz natürlich. Heute unter­scheidet er zwar - wenn auch nicht gerade in der Schweiz, aber ich weiß nicht, ob da etwas Ähnliches auch trotzdem Platz greift; aber gleich in den Nachbarländern -, jetzt hat es etwas aufgehört, aber es ist noch nicht lange her, da unterschied man zwei Exzellenzen von gewöhnlichen Menschen, Barone von gewöhnlichen Menschen; das nahm man mehr als selbstverständlich hin. Aber in der alten Zeit war es eben ganz etwas Selbstverständliches, daß man unterschied zwischen Göttersöhnen, Götterkindern und Menschenkindern.

Derjenige, der sich dann Christus Jesus genannt hat, der so ge­nannt wurde, der sagte: Ein Gottessohn, ein Geisteskind wird man nicht durch einen andern Menschen, sondern jeder wird es durch Gott selber. Es kommt nur darauf an, daß man sich dessen bewußt wird. -Der alte Mensch sagte: Der Vater aus den Mysterien, der muß einem das zum Bewußtsein bringen. - Der Christus Jesus sagte: Man trägt schon den Keim des Göttlichen in sich, und man kann ihn, wenn man sich nur richtig anstrengt, selber aus sich herausholen.

Damit aber hat der Christus Jesus dasjenige gelehrt, was die Men­schen über die ganze Erde in der Seele gleich macht. Und der größte Unterschied, der durch den Christus Jesus überwunden worden ist, das ist der zwischen Göttersöhnen und Menschensöhnen.

Die Leute haben dies dann in aller möglichen Weise mißverstanden -die Alten, weil sie nicht wollten, daß das aufkommt, nicht mehr zu unterscheiden zwischen Göttersöhnen und Menschenkindern, die Spä­teren, weil sie überhaupt nicht mehr gewußt haben, was damit gemeint war. Geradeso wie die Späteren nicht mehr den Fasching gekannt haben, so haben sie auch nicht mehr gewußt, was man mit den Bezeich­nungen «Göttersöhne» und «Menschensöhne» gemeint hat. Daher ist in die Bibel, in das Neue Testament fortwährend hineingekommen, daß der Jesus Christus einmal der Gottessohn und einmal der Menschensohn

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genannt wird, während alle Stellen, die von dem Gottessohn und dem Menschensohn reden, eigentlich meinen, daß man beides in dem gleichen Sinne gebrauchen kann; deshalb wird abwechselnd davon ge­redet. Aber wenn man das nicht weiß, daß das dazu geführt hat, kann man eigentlich die Evangelien gar nicht verstehen. Und sie werden eigentlich heute in sehr schlechtem Sinne verstanden gerade von den­jenigen, die sich dazu bekennen.

Damit haben Sie gefühlsmäßig dargestellt, was eigentlich durch den Christus Jesus in die Welt gekommen ist. Und wenn ich zunächst heute auf die äußeren Dinge eingehe, so muß ich sagen: Sehen Sie, überall gab es auch sonstige große Unterschiede zwischen den Men­schen. Man braucht nur an das alte Indien zu denken. Da wurden unterschieden, wie die Tiere oder Tierklassen: die Brahmanen, die Priester, die Landleute, die Arbeitenden. Die Ägypter wiederum hatten ein ganzes Heer von Sklaven. Die Kasten waren nicht so streng von­einander abgegrenzt, aber sie waren doch auch in einem gewissen Sinne vorhanden. Ja, noch in Griechenland und Rom gab es den Unterschied zwischen Freigeborenen und Sklaven. Diese äußeren Unterschiede, die sind nur dadurch in der neueren Zeit weggewischt worden in der Ge­schichte, weil der gesunde Weg beschritten worden ist, zwischen Göt­terkindern und Menschenkindern nicht mehr zu unterscheiden. Also es war zum Beispiel auch auf das ganze soziale Leben der Menschheit ein ungeheurer Einfluß ausgeübt worden von dem, was durch den Christus Jesus in Palästina geschehen ist.

Aber nun kann man tatsächlich bei allem fragen: Ja, ist es denn so, daß aufgefunden werden kann, woher eigentlich das Geistige von außerhalb der Erde in den Menschen hereinkommt? - Sehen Sie, in dieser Beziehung ist es heute sogar sehr schwer zu reden, denn heute wird eigentlich alles nur materialistisch betrachtet. Zum Beispiel, sagen wir, die Sprache. Sie wissen ja, es werden verschiedene Sprachen in verschiedenen Gebieten, verschiedenen Ländern der Erde gesprochen; aber dennoch, die Sprachen haben alle eine geheime Ähnlichkeit. Es braucht ja die Ähnlichkeit nicht so auffällig zu sein, wie, sagen wir, in Deutschland und in England, in Deutschland und in Holland. Aber dennoch, es ist schon so, daß die Sprachen, trotzdem sie verschieden

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sind, eine gewisse Ähnlichkeit haben. Man kann finden, daß zum Bei­spiel die Sprache, die in Indien geredet wird, wenn man es auch nicht ohne weiteres versteht, wenn man darauf eingeht, so sind doch die ein­zelnen Wortbilder zum Beispiel der deutschen Sprache ähnlich.

Nun, was sagen da die Leute, die heute so etwas erklären wollen? Sie sagen: Nun, solch eine Sprache ist an einem Orte der Erde entstan­den - weil alles nur von der Erde herrühren soll -, dann sind die Völ­ker gewandert, haben die Sprache irgendwo anders hingetragen, da hat sie sich etwas verändert. Aber das stammt alles von einer Sprache ab.

Das ist der größte wissenschaftliche Aberglaube, der in der neueren Zeit herausgekommen ist. Denn sehen Sie, dieser wissenschaftliche Aberglaube, der ist gerade so, wie das Folgende wäre. Denken Sie sich, ein Mensch lebt in Indien, und er wird, wenn die Sonne scheint, warm. Nun, da bildet sich die Ansicht: Der Mensch kann warm werden. -Nun entdecken später die Menschen in Europa, daß sie auch im Som­mer warm werden. Sie werden auch warm. Jetzt nehmen sie nicht ihren Verstand zu Hilfe, sondern die Sinne. Sie sagen: Daß man warm wird, das kann man aus der Gegenwart nicht erklären; aber im alten Indien, da sind die Menschen warm geworden; die sind ausgewandert nach Europa und haben die Eigenschaft, warm zu werden, nach Europa verpflanzt. - Ja, meine Herren, wenn das einer sagt, so ist er natürlich verrückt. Aber die Sprachgelehrten sagen dasselbe! Die sagen nicht, wenn eine Sprache in Europa ähnlich ist einer Sprache in Indien, daß in Indien derselbe Einfluß von außerhalb der Erde gewirkt hat wie in Europa, sondern sie sagen: die Sprache ist hingewandert! Wenn in zwei Gegenden ein Mensch warm wird, so wird man nicht sagen, er hat die Eigenschaft, warm zu werden, durch Wanderung hierherge­bracht, sondern man blickt auf zu der gemeinsamen Sonne, und die wärmt sowohl den in Indien wie den in Europa. Wenn man zwei Sprachen findet, die einander ähnlich sind an entfernten Orten, so rührt das nicht davon her, daß die Sprache hinübergewandert ist, son­dern daß der gemeinsame Einfluß, geradeso wie der Einfluß der Sonne für die ganze Erde da ist, der gemeinsame Einfluß vom Außerirdischen auf die Völker der verschiedensten Erdgebiete wirkt. Aber weil die

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Menschen durchaus nicht zugeben wollen, daß ein außerirdischer Ein­fluß im Geistigen stattfindet, so sinnen sie allerlei Dinge aus, bei denen man nur nicht merkt, daß sie verrückt sind, weil sie so gelehrt sind. Wenn die Menschen sich nicht fürchteten davor, daß man sie für ver­rückt halten würde, so würden sie ja auch überall ableugnen, daß die Sonne wärmt, sondern sie würden sagen: In Urzeiten ist einmal die Eigenschaft entstanden, warm zu werden, und das hat sich verpflanzt über die ganze Erde. - Sie würden den Sonneneinfluß ableugnen, wenn es nicht verrückt wäre! - Das ist etwas, was man berücksichtigen muß, wenn man die Entstehung des Christentums verstehen will.

Für die weitere Beantwortung ist es heute schon zu spät; darüber können wir dann nächsten Samstag sprechen.

DRITTER VORTRAG Dornach, 8. März 1924

#G353-1968-SE045 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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DRITTER VORTRAG

Dornach, 8. März 1924

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Guten Morgen, meine Herren! Ich werde nun also heute fortfahren in den Betrachtungen, die wir angefangen haben. Nicht wahr, die Situation machen Sie sich ganz klar: Im Osten drüben ist Asien. Von Asien kam man im Altertum herüber nach Europa, nach Griechenland, direkt längs einer ganzen Reihe von Inseln, die, sagen wir also, so lagen (es wird gezeichnet). Hier endete Asien; hier ging es hinüber nach Afrika; da war der Nil, von dem ich Ihnen viel gesprochen habe. Hier ist also Griechenland, hier das Adriatische Meer, und hier ist Italien, hier dann die Insel Sizilien. Hier wären also eine Menge Inseln, Rho­dos, Zypern und so weiter, und auf diesen Inseln kam man von Asien herüber nach Griechenland. Hier wäre Griechenland, hier das Römi­sche Reich, das heutige Italien.

Nun müssen Sie sich einmal folgendes richtig ins Gedächtnis rufen, meine Herren. Sehen Sie, in Griechenland hat sich, man kann sagen, etwa vom Jahre 1000,1200 vor Christi Geburt an, alles das entwickelt, wovon ich Ihnen erzählt habe, daß dadurch die Menschen eben ge­lernt haben, die Welt anzuschauen. Aber schon, man kann sagen, vom 4., 3. Jahrhundert vor Christus an ging allmählich in Griechenland die Herrschaft verloren, und sie ging über nach Rom. Das war ja die Hauptstadt. - Die Sache war so gegangen, daß in den ältesten Zeiten immer mehr Griechen, solche die mehr oder weniger unzufrieden waren in Griechenland, ausgewandert sind und hier, sowohl in Sizi­lien wie in Unteritalien, sich angesiedelt haben. Dadurch hat sich durch ein halbes Jahrtausend, vier- bis fünfhundert Jahre, die griechische Kultur ganz herübergezogen, so daß Unteritalien und Sizilien damals genannt wurden: Großgriechenland. Man bezeichnete sogar die alte griechische Heimat bloß als Griechenland, und das andere bezeichnete man als Großgriechenland. Es haben sich nicht etwa bloß Unzufriedene dorthin gewandt, sondern es sind Leute hingegangen wie der große Philosoph Plato, der dort einen Musterstaat begründen wollte. Und es haben eigentlich die wichtigsten Leute, die die Kultur gemacht haben,

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in Unteritalien gelebt. Und man muß schon sagen: Es ist in Unter­italien, hier im Süden, ein feines, gebildetes Leben gewesen, während sich von oben aus die brutale, später als Römertum bezeichnete Herr­schaft verbreitet hat.

Sie wissen ja, daß die ursprüngliche Bevölkerung Roms auf eine sehr merkwürdige Art entstanden ist: Es wurde zusammengerufen von Häuptlingen, von denen der Name Romulus besonders bekannt ist, alles dasjenige, was an Halunken in der Umgegend war. Alle Halun­ken von der Umgebung wurden zusammengerufen in Rom, und mit denen wurde ursprünglich der erste römische Räuberstaat gebildet. Es ist dann ja auch die Räubergesinnung noch fortgesetzt worden unter den ersten römischen Königen. Aber sehr bald machte sich geltend, schon unter dem vierten und fünften König, die Ansiedelung und Ein­wanderung eines nördlichen Stammes, der Etrusker. Das waren wie­derum Menschen, man kann es schon sagen, die dann sich vermischten mit den Nachkömmlingen der Räuber, und es ist dadurch wiederum ein menschlicher Zug in das Römertum hineingekommen. Aber alles dasjenige, was Rom eigentlich später an Weltherrschaft begründet hat, was dann übergegangen ist bis in unsere Zeit in die Menschheit an Herrschaftsgelüsten, das stammt eigentlich - man darf sich darüber keinen Illusionen hingeben - aus dieser ursprünglichen Halunkenkolo-nie, die gegründet worden ist auf den sieben Hügeln von Rom. Es hat sich da alles mögliche drüber gegossen; die Sache ist natürlich furchtbar verfeinert worden, aber man begreift eben die Sache, wie das später gemacht worden ist, nicht, wenn man nicht weiß, daß da eine ursprüng­liche Räuberkolonie aus den Wäldern zusammengesammelt war. Dar­aus sind dann auch alle über Europa ausgeströmten Herrschaftsgelüste und dergleichen gekommen, die noch heute eine so große Rolle spielen. Es hat sich auch in Rom herausgebildet dasjenige, was dann immer mehr und mehr die Geschichte verflochten hat mit der weltlichen Herr­schaft. Und dadurch, nicht wahr, sind dann die Zeiten des Mittelalters entstanden und so weiter.

Nun sehen Sie, im Anfange unserer Zeitrechnung geschah das My­sterium von Golgatha. Nicht wahr, die römische Herrschaft wurde be­gründet, wie ich es Ihnen jetzt geschildert habe, im 8. vorchristlichen

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Jahrhundert. Damals also, sieben Jahrhunderte nach Begründung der römischen Herrschaft, war aber diese Herrschaft weit ausgebreitet, bildete ganze Gebiete bis hinüber nach Asien. Auch da, wo das Myste­rium von Golgatha stattfand, war die römische Herrschaft überall aus­gebreitet. Die in Palästina wohnenden Juden, unter denen Jesus von Nazareth auftrat, waren auch unter der römischen Herrschaft. Es wird gut sein, nach alldem, was wir über das Mysterium von Golgatha ge­sprochen haben, auch ein wenig Rücksicht zu nehmen auf dasjenige, was sich eigentlich auf der italienischen Halbinsel seit ältesten Zeiten abgespielt hat.

Es ist tatsächlich so, daß man sagen muß: Europa versteht eigentlich nur noch dasjenige, was bis ins Römertum zurückgeht. Unsere soge­nannten gebildeten Leute haben zwar immer Griechisch gelernt, aber vom Griechentum ist eigentlich in Europa sehr wenig verstanden wor­den. Sehen Sie, es ist nun sehr interessant, daß hundert Jahre, nachdem das Mysterium von Golgatha stattgefunden hatte, einer der allerbedeu­tendsten römischen Schriftsteller, nämlich Tacitus, einen einzigen Satz über den Christus Jesus in seinem umfangreichen Geschichtswerke schreibt! Dieser Tacitus hat in einer Art, wie man überhaupt später gar nicht mehr schreiben konnte, zum Beispiel die alten Germanen, die Vorfahren der Deutschen geschildert, hundert Jahre nach dem Myste­rium von Golgatha. In seinen Schriften findet sich über den Christus Jesus nur ein einziger Satz, der heißt: Der sogenannte Christus Jesus hat unter den Juden eine Sekte gegründet, und ist dann nach gericht­lichem Urteil hingerichtet worden. - Das nur hat der gebildete Römer Tacitus, hundert Jahre nachdem das Christentum begründet worden ist, gesagt! Sie können sich also denken: Die Schiffe sind fortwährend hin- und hergefahren, alles mögliche an Handelsbeziehungen, ja auch an Beziehungen geistiger Art hat sich entwickelt, und in Rom hat man hundert Jahre später nicht mehr Notiz genommen vom Christentum als diese Notiz, daß da eine Sekte begründet worden ist und der Be­gründer nach richtigem gerichtlichem Urteil hingerichtet worden ist!

Nun, dazu kommt allerdings, daß bei den Römern, trotzdem man das Römische Reich noch nicht einen Staat nennen kann - der richtige Begriff des Staates kommt eigentlich erst im 16. Jahrhundert in Europa

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auf -, aber schon, ich möchte sagen, die staatliche Gesinnung da ist. Eigentlich ist aus dem Römertum herausgewachsen dasjenige, was dann Staatsgesinnung geworden ist. Man kann also sagen: Tacitus war schon von solcher Staatsgesinnung durchdrungen, daß ihm als das Wichtigste an dem Christus Jesus erschienen ist, daß er nach richtigem gericht­lichem Urteil hingerichtet worden ist. Das ist das eine.

Dann aber müssen Sie bedenken: Das Christentum war anfangs durchaus nicht so, wie es sich später herausgebildet hat. Das Christen­tum hatte ursprünglich einen wirklich freien Zug. Und man kann schon sagen: Es waren die verschiedensten Ansichten da, die nur sich alle darinnen fanden, daß sie in dem Christus Jesus etwas Besonderes sahen; aber sie haben sonst die verschiedensten Ansichten gehabt.

Nun, meine Herren, Sie werden nur verstehen, was eigentlich mit dem Christus Jesus in die Welt gekommen ist, und warum es letzthin notwendig war, daß ich Sie hinwies darauf, wie die Erden-Umwelt einen Einfluß auf die Erde hat, selbst in der Sprache, Sie werden es nur verstehen, wenn ich jetzt versuche, Ihnen zu zeigen, wie eigentlich als Lehre, als Ansicht, als Weltansicht, als Lebensansicht das Christentum sich gebildet hat und wie der Christus Jesus in diese Bildung des Chri­stentums eingegriffen hat. Es ist doch etwas ganz Besonderes, zu sehen:

Da in Jerusalem, da wird das Christentum begründet; hundert Jahre darnach weiß der gebildetste Römer noch nicht mehr von ihm, als was ich Ihnen gesagt habe! Aber fortwährend wandern die Leute jetzt auch von Asien durch Afrika nach Italien hinüber. Und unter der Ober­fläche, möchte ich sagen, dessen, was man in Rom als Menschheit be­trachtet, reift sich diese christliche Sekte aus. Und als der Tacitus das, was ich Ihnen sagte, schrieb, da waren in Rom die Christen, die Chri­stianer, wie man sie nannte, schon längst da unter dem Volk, um das sich ein vornehmer Römer nicht kümmerte, ausgebreitet.

Aber was tat man denn mit den Christen? Ja, sehen Sie, die Nach­kommen Romulus' des Räubers, die waren mit der Zeit auch auf einem Standpunkt angekommen, wo sie «recht gebildet» geworden waren. Nämlich ihre Bildung bestand darinnen, daß sie unter anderem große Arenen bauten; da fanden Kämpfe mit wilden Tieren statt. Man hatte eine große Lust, diejenigen, die nicht im römischen Sinn zur Menschheit

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gerechnet wurden, den wilden Tieren vorzuwerfen und sich zu er­götzen daran, wie sie aufgefressen wurden, nachdem sie mit ihnen erst kämpfen mußten. Das war ein «feiner» Genuß zum Beispiel. Nun, die verachtete Sekte der Christen eignete sich da ganz besonders dazu, von den wilden Tieren aufgefressen zu werden, als man in Rom so dachte, wie ich es Ihnen angedeutet habe; sie eigneten sich ganz besonders dazu, mit Pech angestrichen zu werden, so daß man sie anzünden konnte und dann als Fackeln im Zirkus ansehen konnte. Aber die Christen fanden doch Möglichkeiten, trotzdem zu leben. Und das konnten sie dadurch erreichen, daß sie unbemerkt ihre Zeremonien und so weiter, das, was sie für das Richtige hielten zu verbreiten, unter der Erde, in den Kata­komben abhielten. Katakomben sind weite Räume unter der Erde. In diesen weiten Räumen unter der Erde gruben die Christen diejenigen Toten ein, die sie gern hatten. Da waren die Gräber, und auf den Grä-bern, da haben die Gottesdienste stattgefunden, da haben sie die gottes­dienstlichen Handlungen abgehalten. - Das war überhaupt Sitte in der Zeit, daß man über den Gräbern die gottesdienstlichen Handlungen hielt. Daher können Sie heute noch sehen, wenn Sie sich einen Altar in einer katholischen Kirche anschauen: das ist ja in Wirklichkeit eine Grabstätte (es wird gezeichnet), und dadrinnen sind zum Beispiel so­genannte Reliquien, die Gebeine von Heiligen und so weiter. In der ältesten Zeit war der Altar überhaupt ein Grabstein, und darauf hielt man die gottesdienstlichen Handlungen ab. Aber unter der Erde, in diesen Katakomben, konnten die Christen in den ersten Jahrhunderten verbergen, was sie zu tun hatten.

Und wenn man ein paar Jahrhunderte später wieder schaut, dann verändert sich das Bild ganz bedeutend. Da geschieht das Folgende. Sehen Sie, die Römer, die saßen in den ersten Jahrhunderten nach der Begründung des Christentums oben und ergötzten sich so, wie ich es Ihnen erzählt habe, und unten in den Katakomben saßen die Christen. Nach ein paar Jahrhunderten sind die Römer verschwunden gewesen, und die Christen traten die Weltherrschaft an. Ob sie es besser gemacht haben oder schlechter, das wollen wir bei einer andern Gelegenheit be­sprechen; aber sie traten die Weltherrschaft an. Und das ist dasjenige, was dem Christentum gerade zum größten Schaden gereicht hat, daß

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es verbunden wurde mit der Weltherrschaft; denn das religiöse Leben verträgt eben immer weniger in der Weltgeschichte die Verquickung mit der äußeren Staats- und Weltherrschaft.

Die Sache ist nun die folgende: Die Bildung des Christentums, die Teilnahme des Christus Jesus an der Bildung des Christentums kann man nur verstehen, wenn man weiß, wie das römische Leben, das über­haupt alles durchdrungen hat, in den alten Zeiten war. Ich habe Ihnen schon gesagt: da bestanden in den alten Zeiten die sogenannten Myste­rien. Nun, sehen Sie, die Mysterien, die waren - wenn ich ein modernes Wort gebrauchen würde, würde man sagen Anstalten -, die Mysterien waren diejenigen Anstalten, wo man alles, was überhaupt ein Mensch lernen konnte, lernte. Aber sie waren zugleich die Religionsanstalten und die Kunstanstalten. Alles geistige Leben ging von den Mysterien aus. Und das Lernen war in den ältesten Zeiten nicht so wie heute. Wie ist denn schließlich das Lernen heute? Das Lernen ist heute so, nicht wahr, daß man in dem Gymnasium oder in der Realschule eingedrillt wird; nachher macht man Universitätsjahre durch, und man ist da­durch kein anderer Mensch geworden. Aber in den Mysterien, da wurde man ein anderer Mensch. Da mußte man zu der ganzen Welt ein anderes Verhältnis gewinnen. In den Mysterien, da mußte man weise werden. Heute wird durch die Anstalten, die in der Welt sind, über­haupt kein Mensch mehr weise; er wird höchstens gelehrt. Aber zwei Dinge sind miteinander vereinbar, und zwei Dinge sind nicht mitein­ander vereinbar: Weisheit mit Dummheit ist nicht gut vereinbar, aber Gelehrtheit ist mit großer Dummheit sehr gut vereinbar. Also das ist es einmal: In den alten Mysterien wurden jaWeise gemacht;man wurde ein Mensch, der vom Geistigen durchdrungen war. Man wurde ein Mensch, der das Geistige ernst nehmen konnte. Und man mußte sieben Stufen durchmachen. Bis zu der höchsten Stufe kamen die wenigsten Leute. Diese sieben Stufen, die hatten Namen, die man erst verstehen muß, damit man weiß, was die Menschen, die auf diesen Stufen waren, zu tun hatten.

Wenn man dasjenige übersetzt, was der zu tun hatte, der in die Mysterien zuerst aufgenommen wurde, so kommt man auf den Aus­druck «Rabe». Also die erste Stufe waren die sogenannten Raben. Wer

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also aufgenommen wurde in die Mysterien, der wurde ein Rabe. Was hatte der Rabe zu tun? Nun, der Rabe, der hatte dies zu tun, daß er vor allen Dingen den Verkehr vermittelte zwischen der Außenwelt und den Mysterien. Zeitungen gab es ja damals noch nicht. Die ersten Zeitungen sind erst Jahrtausende später entstanden, als die Buch­druckerkunst gekommen war. Diejenigen, die in den Mysterien ihre Lehrberufe hatten, die mußten sich unterrichten durch vertrauensvolle Leute, die sie hinausschicken konnten und die die Welt beobachteten. Also man könnte auch sagen, die Raben waren einfach die Vertrauens­leute derjenigen, die in den Mysterien waren. Und das mußte man zu­erst lernen, wirklich ein Vertrauensmann zu sein. Heute werden viele Leute, insbesondere bei Parteien und so weiter als Vertrauensleute an­gestellt, aber man frägt sich, ob diese Vertrauensleute auch immer ver­trauenswürdig sind! Diejenigen, die hier - in den Mysterien - als Raben angestellt wurden, wurden nur dann, wenn sie ausgeprobt waren, als Vertrauensleute betrachtet. Sie mußten vor allen Dingen lernen, das­jenige, was sie sahen, recht ernst zu nehmen und es der Wahrheit ge­mäß in den Mysterien berichten. Also man mußte in jener Zeit auch erst lernen, was eigentlich die Wahrheit im Menschen bedeutet. Man kann gewiß sagen: Weniger verlogen als heute die Menschen sind, waren schon die Menschen im Altertum auch nicht. Aber heute trägt man die Verlogenheit überall hinein, dazumal aber mußte man erst lernen, ein wahrer Mensch zu sein. Und das mußte man sich aneignen, wenn man jahrelang Rabe war, ein Vertrauensmann der Mysterien.

Die zweite Stufe nun, die ist etwas, was dem heutigen Menschen ganz unsympathisch ist: die zweite Stufe ist diejenige der sogenannten «Okkulten». Okkult heißt: verborgen, geheim. Die wurden nicht mehr ausgeschickt, sondern die hatten jetzt durch eine gewisse Zeit hindurch etwas zu lernen, was der moderne Mensch nicht mehr lernt, nämlich Schweigen. Und das war eine Lehrstufe in diesen alten Mysterien, das Schweigen zu lernen. Ja, es wird Ihnen selber ganz grotesk vorkommen, ganz spaßig vorkommen, daß man da durch ein Jahr mindestens, auch länger, einfach schweigen mußte! Aber es ist wahr. Durch das Schwei­gen lernt man ungeheuer viel; furchtbar viel lernt man durch Schwei­gen. Heute ist das ja nicht mehr durchführbar. Denn denken Sie, wenn

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in unseren Schulen auferlegt würde - was wirklich ganz nützlich wäre zum Erreichen der Weisheit - den jungen Leuten zwischen dem acht-zehnten und zwanzigsten Jahre, ein Jahr zu schweigen, statt zum Mili­tär zu kommen, dann würden sie allerdings durch dieses Schweigen furchtbar weise werden! Doch man kann das heute nicht mehr durch­führen. Aber etwas anderes ist schon durchführbar. Gewiß, man kann den Leuten das nicht abgewöhnen, die wollen heute nicht schweigen, sondern schwätzen, und jeder Mensch weiß alles sehr gut, und wenn man einen Menschen heute trifft, so hat er vor allen Dingen dasjenige, was man einen Standpunkt nennt. Jeder hat einen Standpunkt. Natür-lich hat jeder einen Standpunkt; aber von jedem Standpunkt aus sieht auch die Welt anders aus, und das ist demjenigen, der das Leben kennt, nichts Neues, ganz selbstverständlich: Wenn Sie hier stehen, schaut die­ser Berg anders aus, als wenn Sie drüben stehen würden. So ist es auch im geistigen Leben. Jeder hat seinen Standpunkt, jeder kann etwas anderes sehen. Und wenn ein Dutzend Menschen beisammen sind, nun, heute haben sie dann dreizehn Meinungen! Das ist nicht notwendig. Aber daß sie zwölf Standpunkte haben, das braucht einen nicht zu verwundern; nur muß man das auch nicht für so wichtig nehmen. Aber es nimmt jeder seinen eigenen Standpunkt für sich meistens sehr wich­tig, furchtbar wichtig! Früher aber mußten die Leute in den Mysterien über dasjenige, was sie lernen sollten, einfach schweigen, nur Zuhörer durften sie sein. Man konnte sie im Okkulten nur «Zuhörer» nennen, weil sie zuhören mußten. Heute nennt man nämlich auch diejenigen, die an unsere Hochschulen kommen, «Hörer» - indem man das «Zu» weggelassen hat -, Hörer, nicht mehr Schüler. Aber sie sind oftmals nicht mehr Hörer, sondern Schwätzer. Und mancher betrachtet auch das Schwätzen mit den Kameraden viel wichtiger als das Zuhören in den Hörsälen. Manchmal ist auch das Zuhören nicht mehr dasjenige, was besonderen Ernst hervorbringt. - Nun, das war die zweite Stufe. Da konnten die Leute das Schweigen lernen. Und im Schweigen prägt sich besonders stark aus - wie Ursache und Wirkung hängt das zu-sammen -, daß das Innere des Menschen anfängt, zu ihm zu reden. Denken Sie sich, Sie haben ein Bassin mit Wasser; wenn Sie nun einen Schlauch anlegen und das Wasser ableiten, das im Bassin ist, dann

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rinnt eben das Wasser fort - wenn es keine Quelle ist, sondern nur ein Bassin -, und es ist nichts mehr drinnen. Und so ist es, wenn der Mensch fortwährend schwätzt: da rinnt alles mit den Worten nach außen, da bleibt nichts drinnen. Das haben die Alten eingesehen, und deshalb waren ihre Zuhörer zunächst zum Schweigen bestimmt. Also nachdem man sich angewöhnt hatte, die Wahrheit zu schätzen, lernte man das Schweigen; erst dann lernte man das Schweigen.

Und die dritte Stufe war diejenige, welche man nennen könnte, wenn man es übersetzen würde, die «Verteidiger». Jetzt durften die Leute zu reden anfangen. Jetzt durften sie die Wahrheit, die sie in den Mysterien gelernt hatten durch Schweigen, verteidigen. Namentlich war ihnen auferlegt die Verteidigung des Geistes. Die «Verteidigung» ist eben ein Wort, das schon gebraucht werden kann für diese dritte Stufe. Es mußten diejenigen, die dieser dritten Stufe angehörten, eben schon so viel wissen, daß das, was sie sagen konnten über das Geistige, Gewicht hatte, richtiges Gewicht hatte. Also man durfte nicht einfach in diesen Mysterien reden über den Geist, sondern man mußte es erst gelernt haben und erst richtiger Verteidiger geworden sein. Dann stieg man zu der vierten Stufe auf.

. Die vierte Stufe, man kann sie übersetzen mit «Löwe». So wird es gewöhnlich übersetzt: die «Löwen». Noch besser würde es sein, zu übersetzen mit dem Worte «Sphinx». Sphinx ist ein Wort, das ungefähr bedeutet, selber schon ein Geist geworden zu sein. Man geht natürlich noch mit menschlichem Leib herum, aber man benimmt sich unter den Menschen, wie sich Götter benehmen. Die Menschen im Altertum haben gar nicht den großen Unterschied gemacht zwischen Menschen und Göttern, sondern in den Mysterien wurde man eben nach und nach ein Gott. Das ist der ungeheuer viel freiere Standpunkt der Alten. Die Neueren, ja, die sehen die Götter überall über der Menschheit stehen. So war aber nicht die Ansicht der Alten. Heute sagt man ja, nicht wahr:

Gut, der Mensch stammt vom Affen ab. - Der berühmte Naturforscher Du Bois-Reymond hat sogar den Ausspruch getan, es habe einmal ein riesiger Sprung in der Naturentwickelung zwischen Menschenaffen und dem Menschen stattgefunden, ein riesiger Sprung sogar in der Vergrößerung des Gehirns. Das Gehirn wurde plötzlich größer als

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beim Menschenaffen. - Sehen Sie, es ist ein merkwürdiger Ausspruch von einem heutigen Gelehrten! Denn man müßte eigentlich anneh­men, daß, wenn er sagt, daß das Gehirn des heutigen Menschen viel größer ist als das vom Menschenaffen, er den Menschenaffen seziert hätte und wüßte, wie groß dessen Gehirn war. Aber wenn Sie wie­derum nachlesen, so werden Sie finden, daß diese Gelehrten sagen mußten: Der Menschenaffe ist noch gar nicht entdeckt in Wirklich­keit! - Also der berühmte Naturforscher Du Bois-Reymond, der sprach über dasjenige, was noch gar nicht entdeckt ist, was noch keiner gesehen hat: vom Menschenaffen, der noch ein viel kleineres Gehirn hat als der Mensch. Mit solcher «Gewissenhaftigkeit» bildet man heute Wissen­schaft aus. Und die Menschen denken gar nicht daran, daß der be­rühmte Naturforscher Du Bois-Reymond von etwas redet, von dem er nie etwas gesehen hat, sondern sie denken: Oh, das ist der berühmte Naturforscher, der weiß ja alles! - denn leichtgläubig ist heute die Menschheit viel mehr, als die Alten waren.

Nun also, die Alten hatten durchaus die Meinung, daß der Mensch sich entwickeln kann bis zum göttlichen Bewußtsein hin.

Derjenige, der auf der vierten Stufe war, der ein Sphinx war, der redete nun nicht mehr wie ein Verteidiger der dritten Stufe, sondern der redete in einer Sprache, in der er sich so ausdrückte, daß man ihn eigentlich schwer verstand; man mußte erst nachdenken, wie er zu ver­stehen ist. Von dieser Sprache, die da von den Sphinxen geredet worden ist, kann sich der heutige Mensch schwer eine Vorstellung machen, weil er gar nicht mehr richtig die Sache ansieht, wie sie da angesehen wor­den ist. Aber noch im Mittelälter, zum Beispiel noch im 17. Jahrhun­dert, also erst vor zweihundert Jahren zurück, da war noch etwas vor­handen als eine Überlieferung von jener Sprache. So zum Beispiel gab es dazumal, vor zwei Jahrhunderten, sogenannte Rosenkreuzerschulen. Da sprachen auch gewisse Eingeweihte in einer Sprache, die etwas ver­hüllt war, die man erst studieren mußte; namentlich sprachen sie in einer bildhaften Sprache. Und so finden Sie zum Beispiel noch vor zwei Jahrhunderten ein Bild, das Sie vielleicht interessieren wird, das über­all den Menschen etwas erklären sollte. Dieses Bild war (es wird ge­zeichnet): eine menschliche Gestalt mit einem Löwenhaupt, und hier

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daneben eine menschliche Gestalt mit einem Ochsenkopf. Man sagte unter denjenigen Leuten, die man unterrichten wollte, indem man die Beziehung zwischen diesen zwei Wesen ausdrücken wollte, «das Wesen mit dem Ochsenkopf, das Wesen mit dem Löwenkopf» - man meinte Mann und Weib. Aber man sprach nicht die zwei Worte Mann und Weib, sondern man sagte: das Wesen mit dem Ochsenkopf -, und meinte den Mann; und man sagte: das Wesen mit dem Löwenkopf -, und meinte die Frau, weil man in der Beziehung zwischen Ochs und Löwe etwas sah, was die Beziehung war zwischen Mann und Frau. Heute erscheint das dem Menschen als ganz paradox, spaßig; aber das hat sich als Überlieferung noch erhalten. Und die Sphinxe haben über­all Tiernamen gebraucht, um deutlicher und charakteristisch dasjenige zum Ausdruck zu bringen, was im Menschen lebt. Und in einer solchen Sprache, sehen Sie, womit man mehr aus dem Geistigen heraus redete, sprachen dann die Sphinxe. Die waren also schon so, daß sie mehr aus dem Geiste heraus redeten.

Dann aber kam die fünfte Stufe. In der fünften Stufe waren die­jenigen Menschen, die überhaupt die Verpflichtung hatten, nur noch aus dem Geiste heraus zu reden. Und man nannte sie, je nachdem sie dem oder jenem Volke angehörten, «Perser» oder «Inder» oder «Grie­che». In Griechenland waren das erst die wirklichen Griechen. Denn man sagte sich so: Ja, wenn einer einem Volke angehört, so hat er seine Privatinteressen, dann will er das oder jenes, dann will er etwas an­deres als einer, der einem andern Volk angehört! Erst wenn er so weit gekommen ist, daß er zu der fünften Stufe aufgestiegen ist, dann will er eigentlich nicht mehr etwas Besonderes, sondern er will dasjenige, was das ganze Volk will; das ist auch sein Interesse. Er ist so geworden wie der Geist des Volkes. Also, er ist ein Geist des Volkes geworden. Diese Geister des Volkes, die waren tatsächlich in den alten Mysterien, auch noch in Griechenland, sehr, sehr weise Leute. Sie haben nicht etwa gemeint: Wenn irgend etwas kommt, ich stelle mich hin und habe meinen Standpunkt, ich weiß alles -, sondern die haben sich, trotzdem sie schon zur fünften Stufe aufgestiegen waren, lange vorbereitet durch Übungen, um in irgendeiner Sache zum Urteil zu kommen. Sehen Sie, wenn heute einer ein Staatsmann ist, nun, dann wird vielleicht, nicht

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wahr, im Reichstag eine Interpellation eingebracht, und dann muß er antworten. Denken Sie einmal, wenn es so gemacht würde, wie es dazu­mal war! Wenn derjenige, der zu antworten hat, sagen würde: Ich muß erst acht Tage lang mich zurückziehen von der Welt, ganz zu mir kom­men, um ein Urteil darüber zu haben - nun, ich möchte wissen, was die Reichstagsparteien zu Herrn Stresemann sagen würden oder auch zu andern Körperschaften, wenn ein Interpellant zur Antwort kriegen würde: Um ein reifes Urteil zu haben über dasjenige, was Sie mich ge­fragt haben, muß ich mich erst acht Tage zurückziehen! - Aber das war dazumal so. Denn man glaubte dazumal an die geistige Welt,. und man wußte: wenn man im Trubel des Lebens drinnen ist, da spricht die geistige Welt nicht; die geistige Welt spricht nur, wenn man sich zu­rückziehen kann. - Allerdings, man bekommt dann die Fähigkeit, sich auch zurückziehen zu können, wenn man mitten im Trubel der Welt drinnensteht; aber das muß man erst lernen. Und wenn man es gelernt hatte, stieg man in den alten Zeiten auf zu der sechsten Stufe.

Die sechste Stufe, die war so, daß der Betreffende überhaupt nicht mehr einen irdischen Standpunkt hatte, auch nicht den des Volkes, sondern er sagte sich: Ich bin ein «Grieche», mein Bruder Eingeweihter drüben aüf der fünften Stufe in Assyrien ist ein «Assyrier», der weiter drüben wohnt, ist ein «Perser». Aber das ist ja alles ein einseitiger Standpunkt. Die Sonne kommt herüber über Persien nach Griechen­land; die scheint über uns alle. - Und so wollten diejenigen, die in der sechsten Stufe Eingeweihte waren, nicht mehr von dem lernen, was ein Volk sagt, sondern sie wollten von dem lernen, was die Sonne sagt. Sie wurden «Sonnenmenschen»; nicht mehr Erdenmenschen, sondern Sonnenmenschen. Sehen Sie, solche Sonnenmenschen, die suchten alles vom Standpunkte der Sonne aus zu erforschen. Was dazumal alles ge­macht worden ist, von dem machen sich die heutigen Menschen gar nicht mehr einen Begriff, weil die heutigen Menschen gar nicht irgend etwas kennen von den Geheimnissen der Welt.

Wenn man einen Einblick in solche Dinge haben will, so muß man vielleicht folgendes überlegen. Zu mir kam vor einiger Zeit ein Mann, der sagte: Da ist doch ein merkwürdiges Buch erschienen, in diesem Buch wird nachgewiesen, daß die Evangelien nach einem Zahlenschlüssel

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geschrieben sind. Nämlich wenn irgendein Wort im Evange­lium da ist, nehmen wir an den «Urbeginn» im Johannes-Evangelium: «Im Urbeginn war das Wort. Und das Wort war bei Gott, und ein Gott war das Wort », dann, wenn man das Wort abteilt, und man bekäme heraus, irgendeine Abteilung ist zweimal so lang als die andere, und jedes Wort hat einen Zahlenwert: an der Stelle stehe ein Wort, wo der Zahlenwert 50 ist, dann folgt 25, wiederum ein Wort, 50, wiede?­um ein Wort; 25. Und man kann ausrechnen, was für ein Wort an einer bestimmten Stelle stehen muß.

Nun ist es interessant, meine Herren, nachzusehen, wie solche Sachen stimmen. Nehmen wir zum Beispiel irgendein Wort, sagen wir - ich will es durch ein auch im Deutschen noch gebräuchliches Wort klar­machen -: nehmen wir das Wort Eva. Nehmen wir jetzt an, es hätte das E ebensolchen Wert wie eins, das v wie zwei, das a wie drei. Nehmen wir an, das wäre so. In alten Zeiten hatte jeder Buchstabe sei­nen Zahlenwert; er war nicht nur Buchstabe, sondern man wußte, wenn man zum Beispiel ein L hatte, so bedeutete das L diese oder jene Zahl. Sie können es ja bei den römischen Buchstaben noch verfolgen, wie die Zahlenwerte drinnen sind:

I = eins, V= fünf, X = zehn

i v x

es sind zugleich Buchstaben, aber die Buchstaben haben Zahlenwerte. Wir wollen nun einmal als Beispiel nehmen - es stimmt nicht mit

1, 2, 3 für Eva, aber als Beispiel, um es klarzumachen, können wir es so annehmen

1 2 3 =

E v a = die Mutter alles Lebendigen. Drehen wir es jetzt um:

3 2 1

A v e Da kriegen wir also dann das Wort Ave, das Ende des

Lebens bedeutend. Auseinandergehend, von rückwärts

aus:

1 2 3 3 2 1

E v a A v e

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So kann man, wenn man die Zahl verändert, überall finden, wie die Zahlen und die Buchstaben übereinstimmen.

Und so gibt es einen Zahlenschlüssel. Und man kann sagen: Jetzt wollen wir uns einmal die erste Zeile des Johannes-Evangeliums an­sehen. Da sind diese Zahlen. Schauen wir uns die zweite an: da sind die Zahlen nur umgestellt, und daß sie umgestellt sind, bedeutet etwas. -Sehen. Sie, über solche Sachen. sind die Leute heute sehr verwundert. Aber, meine Herren, ich habe einen Mann gekannt - er hat sich auf die «Sphinx» gestürzt: «Das Rätsel ist gelöst»; er hat auch den Goethe­schen «Faust» nach diesem Zahlenverhältnis behandelt, und es hat auch gestimmt. - Goethe hat gar nicht daran gedacht, nach irgendeinem Zahlengesetz seinen «Faust» zu dichten. Aber dennoch stimmt es, weil in jedem Dichten etwas zahlenmäßig drinnen ist. Aber wenn Sie sich bemühen, irgendeinem etwas zu sagen, und ich gebe mir Mühe, einen Zahlenschlüssel zu gebrauchen; so kann ich ihn auf Ihr Sprechen auch anwenden; das liegt schon in der Rede drinnen. In der Rede selber waltet schon drinnen ein Geistiges bei Ihrem Sprechen.

Und das, meine Herren, ist das Außerirdische: das gibt der Sonnen-einfluß. Daher haben diese Sonnenmenschen die Geheimnisse der Sonne erforscht. Die Pyramiden sind ja wahrlich nicht bloß deshalb gebaut worden, um Königsgräber zu sein, sondern die Pyramiden hatten ganz bestimmte Öffnungen, zu denen nur zu einer ganz bestimmten Zeit im Jahr der Sönnenstrahl hereinkommen konnte. Und der Sonnenstrahl hat auf der Erde eine Figur beschrieben. Diese Figur haben sich diese Leute betrachtet, haben sich inspirieren lassen von dieser Figur. Da­durch haben sie die Geheimnisse des Sonnenlebens erforscht. Also solch ein Mensch, der Sonnenmensch geworden ist, konnte sagen, er richte sich überhaupt. nicht mehr nach Irdischem, sondern er richte sich nach der Sonne.

Und dann, wenn er eine Zeitlang Sonnenmensch gewesen ist und den Menschen dasjenige gelehrt hatte, was Außerirdisches ist, dann wurde er emporgehoben zu der Würde des «Vaters». Das war die höchste Würde, zu der wenige kamen. Das waren diejenigen, die ganz reif geworden sind, denen man gehorchte, folgte. Man gehorchte ihnen, weil sie erstens schon an Jahren alt geworden sind - denn bis man diese

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sieben Stufen durchgemacht hatte,war man wirklich auch an Jahren alt geworden -, und man gehorchte ihnen, weil sie Lebensweisheit hatten.

Mysterien

1. Rabe

2. Okkulter: Zuhörer

3. Verteidiger - Verteidigung des Geistes

4. Sphinx

5. Griechen: Geist des Volkes

6. Sonnenmensch

7. Vater

Nun denken Sie. sich einmal, daß der Christus Jesus, der Jesus von Nazareth, doch in einer Zeit lebte, in der drüben in Asien überall noch etwas gewußt wurde von diesen Mysterien. Und gewußt wurde zum Beispiel, daß es Menschen gibt, die Sonnenweisheit verkündigten. Und das, was der Jesus von Nazareth wollte, war, daß nicht mehr bloß in den Mysterien, sondern außerhalb der Mysterien die Menschen aufge­klärt werden konnten, daß den Menschen klargemacht wurde: Das­jenige, was die Sonne an den Menschen tut, das ist auch im Menschen schon gelegen, liegt in jedem Menschen. Und das ist das Allerwichtigste an dem Christus Jesus, daß er die Sonnenwahrheit, das Sonnenwort, wie man es nannte, als etwas, was allen Menschen gemeinschaftlich ist, lehrte.

Nun müssen Sie nur den großen Unterschied betrachten zwischen dem Christus Jesus und den andern Sonnenmenschen. Wenn Sie das nicht auffassen, so werden Sie niemals zu einem Verständnis des Myste­riums von Golgatha kommen. Denn sehen Sie, die Sache ist doch so:

Was mußte man denn in alten Zeiten tun, um ein Sonnenmensch zu werden? Man mußte zuerst Rabe werden, dann Okkulter, Verteidiger, Sphinx, Volksseele - dann konnte man zum Sonnenmenschen auf­steigen. Einen andern Weg gab es nicht. Man mußte sich in die Myste­rien aufnehmen lassen. Was tat der Jesus von Nazareth? Er ließ sich taufen, nach der Sitte der damaligen Juden im Jordan; und bei dieser Gelegenheit, also nachdem er nicht erst in den Mysterien gewesen war, ging ihm auf dieselbe Weisheit, die sonst die Sonnenmenschen hatten.

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Was konnte er also sagen? Er konnte sagen: Mir ist von der Sonne selber diese Weisheit gekommen. - Er war also der erste, der in Beziehung zum Himmel getreten ist ohne die Mysterien. Was hat denn der, der in den Mysterien ein Sonnenmensch gewesen ist, gesagt, wenn er zu dem, der auf der siebenten Stufe gestanden ist, hin aufgeblickt hat? Da hat er gesagt: Siehe, das ist der Vater. - Der stand auf dem Altar in weißem Gewand, im Priesterornat. Das war der «Vater» unter denjenigen, die in den Mysterien die verschiedenen Stufen durchgemacht hatten. Der Christus Jesus hatte das nicht in den Mysterien. durchgemacht, sondern er hatte es empfangen von der Sonne selber. Daher sagte er: «Mein Vater ist nicht auf Erden» - er meinte, nicht in den Mysterien -, «son­dern mein Vater ist oben in der geistigen Welt.» Er wies also zuerst im eminentesten Sinne auf den Vater hin in der geistigen Welt. Der Chri­stus Jesus wollte also die Menschen, die früher noch von der Erde aus alles Geistige empfangen hatten, hinweisen auf die Quellen des Geisti­gen im Außerirdischen selber. Daher hat man immer mißverstanden, was der Christus Jesus eigentlich gemeint hat. Denn, sehen Sie, man sagte zum Beispiel, der Christus Jesus habe gelehrt, daß nun die Erde zugrunde gehen werde, wie es hieß, und ein geistiges tausendjähriges Reich kommen werde; sehr bald. Nun sagt man in den heutigen ge­scheiten Zeiten, die manchmal auch gegen die Alten wohlwollend sein wollen, auch gegen den Jesus wohlwollend sein wollen: Nun, das hat der Jesus damals von seiner Zeit übernommen.

Aber das ganze, was da die Leute reden, ist ein Unsinn; denn das tausendjährige Reich ist ja wirklich gekommen - nur hat es nicht so ausge schaut, wie es sich die Menschen in der Welt vorgestellt haben, sondern die Sache war so: In alten Zeiten hatte man durch die Art, wie ich es Ihnen geschildert habe, von der geistigen Welt Begriffe bekom­.men, auch Erlebnisse bekommen. Das war so Sitte in alten Zeiten, wo die Menschen anders waren. Das hörte auf in der Zeit, in der der Chri-stus Jesus lebte, und die Menschen mußten auf eine andere Weise zum Geiste kommen. Es mußte der Geist direkt gefunden werden. Das hat der Christus Jesus gemacht. Und wenn nicht der Christus Jesus das, was er gemacht, getan hätte, dann wäre die Menschheit ganz ver­kommen. Sinnlos wäre das Leben geworden. Das widerspricht nicht

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dem, daß in späterer Zeit gerade durch viele christliche Einrichtungen viel Sinnloses herausgekommen ist.; aber das war ursprünglich natür­lich nicht darin. Und. die Menschen wären verdummt. Die Mysterien wären ebenso zugrunde gegangen, wie sie da zugrunde gegangen sind; aber die Menschen hätten nichts gewußt v.on dem, was in den Mysterien gelehrt worden ist. Denn, nehmen Sie jetzt den alten Sonnenmenschen. Was sagte man. von dem Sonnenmenschen? Man wußte ja: Er weiß das, was vom Standpunkt der Sonne da ist; er ist für das Erdenleben ge­storben. - Man sprach von einem für das Erdenleben Gestorbenen, wenn man vom Sonnenmenschen sprach. Und deshalb wurde auch, bevor einer Sonnenmensch wurde, in den Mysterien immer eine Zeremonie vorgenommen, die Tod und Begräbnis nachmachte. Und der Christus Jesus hat Tod und Begräbnis äußerlich vor alle Welt hingestellt; und dasjenige, was mit dem Tode Christi .geschehen ist, das war vor allen Leuten der Welt nur eine Wiederholung dessen, was im.Kultus durch die Mysterien immer geschehen ist. Nur war es damals Mysterien-geheimnis; dann stand es auf Golgatha vor aller Welt da. Und sehen Sie, es war wirklich mit dem Sonnenmenschen so, daß er für die Erde abgestorben war. Dadurch war er aber auch zwischendrinnen, zwischen der untergehenden Welt des Todes und der Welt der Auferstehung, der Welt des Ewigen.

Manchmal erinnern Dinge an die alten Sachen, von denen man gar nicht mehr den Sinn merken kann. Denken Sie sich zum Beispiel, es wird in Rom eine Heiligsprechung vollzogen. Irgend jemand wird heilig gesprochen in Rom. Das ist eine große Zeremonie, wenn einer nach seinem vor Hunderten von Jahren stattgefundenen Tode heilig gesprochen. wird. Wie vollzieht sich denn diese Zeremonie? Diese Zere­monie vollzieht sich so, daß zuerst auftritt der Advocatus Dei, der gött-liche Verteidiger. Der hebt alle Eigenschaften hervor, die gut waren .an dem Betreffenden, der heilig gesprochen werden soll. Und dann tritt auf, .ja, der sogenannte Advocatus diaboli, der teuflische Ankläger; der hebt hervor alle die schlechten Eigenschaften, die der Heilige ge­habt hat. Und zwischen diesen zweien wird dann entschieden - ich will nicht sagen, daß immer gerecht entschieden wird, aber es wird ent­schieden. Die Zeremonie wird heute noch ausgeführt. Wenn irgend

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jemand, wie die lung frau von Orl6ans zum Beispiel, heilig gesprochen wird, dann treten auf der Advocatus Dei und der Advocatus diaboli. Zwischen demjenigen, der alles Gute und dem, der alles Böse anführt, steht der Heilige selber, geistig. Sie wissen, dasjenige, was immer als Bild von Golgatha ausgeführt wird, ist: der Christus Jesus am Kreuz in der Mitte, daneben die beiden sogenannten Schächer, Räuber nennt man sie. Aber das Merkwürdige ist, daß der Christus zu dem einen sagt:

«Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.» Der geht also nach oben, und der andere geht nach unten. Das sind Luzifer und Ahriman -Advocatus Dei und Advocatus diaboli.

Und so war es auch mit dem Sonnenmenschen. Er machte Bekannt­schaft mit Luzifer und Ahriman, mit demjenigen, was den Menschen hinaufziehen will in die geistige Welt, daß er ganz geistig wird - was für den Menschen auch nicht paßt -, und demjenigen, was den Men­schen hinunterbringen will zum Irdischen, was wiederum für den Men­schen nicht paßt, denn der Mensch gehört in die Zwischenstufe hinein.

Und so steht vor der ganzen Welt dasjenige da durch das Mysterium von Golgatha, was früher nur in den Mysterien drinnengestanden hat, und auch nur bildlich vollzogen wurde, denn man starb nicht wirklich. Aber der Sonnenmensch sagt: Mein Geist stirbt nicht; der geht zum Vater, weil der Vater jetzt nicht als der Urvater hier unten wirkt, son­dern in der geistigen Welt wirkt. - Diese Anschauung ist ganz aus den Mysterien heraus gekommen. Und will man den Vaterbegriff haben, muß man ihn in den alten Mysterien suchen. Nur dann versteht man richtig, wie eigentlich das Christentum gebildet worden ist.

Nun, sehen Sie, meine Herren, all dasjenige, was ich Ihnen da ge­schildert habe, war drüben in Asien ganz gebräuchlich. Das hat noch hineingespielt in die Begründung des Christentums. Von dem haben schon die Griechen dann außerordentlich wenig gewußt, weil sie die äußere Kultur aufgebaut haben. Und erst das von einer Kolonie der Halunken abstammende Romulusvolk, das hat schon gar nichts gewußt davon; das kannte nur äußere Weltherrschaft. Das kannte so gut nur äußere Weltherrschaft, daß die römischen Cäsaren, die Imperatoren, sich äußerlich ja auch als Eingeweihte benommen haben; aber es war das in einer Zeit, wo die Mysterien schon verfallen waren. So zum

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Beispiel gibt es einen römischen Cäsar der allerersten Kaiserzeit, Caligula ist sein Name. Nun, sehen Sie, ein deutscher Historiker hat in den neunziger Jahren einmal den deutschen Kaiser Wilhelm beschrei­ben wollen; aber das konnte man nicht, weil es nicht ging; man wäre eingesperrt worden, ehe man es niedergeschrieben hätte! Da hat denn der gute Mann ein Büchelchen geschrieben, das hieß: «Caligula.» Er beschrieb den römischen Caligula, aber jeder Zug paßte auf Wilhelm II.! Jeder Mensch, der etwas davon verstand, wußte: der Caligula, das ist unser Wilhelm II.; nur so konnte man es machen, daß es «Caligula» genannt wurde. Dieser römische Caligula war nun zu gleicher Zeit ein Eingeweihter, weil alles schon äußerlich geworden war. Natürlich konnte man, was die Raben zu tun hatten, wenn es nicht sehr ernst ge­nommen wurde, durch das begreifen, was die Fürsten auch taten. So war Caligula ein Sonnenmensch geworden, aber natürlich nur äußer­lich, so wie einer, nun, sagen wir, ein «General» ist, der mit funf oder sechs Jahren sich Soldatenkleider anzieht. So war nun der Caligula ein Eingeweihter geworden. Er hatte nur das Äußere ge­nommen. Aber er sollte ja sogar andere einweihen! Da ist ihm bei einer Zeremonie die Geschichte passiert, wo man den sinnbildlichen Schlag ausführt mit dem Schwert bei einem der Sphinxe, daß er den Betreffen­den wirklich erschlagen hat mit dem Schwert! Aber das hat natürlich bei dem Cäsar nichts gemacht. Bei den Römern war das so geworden, daß alles schon äußerlich war; die haben nichts mehr von alledem innerlich verstanden. Kein Wunder, daß sie das Christentum erst recht nicht verstehen konnten.

Und so ist denn das Christentum in Rom an die weltliche Herrschaft übergegangen. In Rom war es so, daß in den Zeiten, als das Christen­tum nach Rom kam, es den weltlichen Herrscher gab, der sich aber als Gott ansah - natürlich, man wurde ja Gott, wenn man Eingeweihter war -: Augustus. Augustus ist als Gott angesehen worden; seine Nach­folger auch. Aber außerdem gab es da den Pontifex maximus, den «großen Brückenbauer». Das war der geistige Herrscher. Aber er war nach und nach ein Schatten geworden in Rom, er hatte keine Bedeu­tung, und die einzige Bedeutung hatte der weltliche Herrscher. So ent­sprach es ja auch natürlich mehr einem Volke, das den Romulus zum

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Ahnen hatte, der alle Halunken aus der Umgebung zusammengesam­melt hatte. Und nun, sehen Sie, wurde gerade durch Rom das Christen­tum verweltlicht.

Und das ist dasjenige, was ich Ihnen zunächst heute zu sagen hatte über das Äußere des Christentums. Das Innere, wie jetzt wirklich der Einfluß. der Sonne auf den Jesus war, das werde ich Ihnen dann das nächste Mal, am nächsten Mittwoch, auseinandersetzen.

VIERTER VORTRAG Dornach, 12. März 1924

#G353-1968-SE065 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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VIERTER VORTRAG

Dornach, 12. März 1924

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Nun, meine Herren, wir wollen in der Betrachtung des Mysteriums von Golgatha fortfahren. Ich sagte Ihnen: die weitere Entwickelung muß nun davon ausgehen, daß dasjenige, was auf der Erde geschieht, nicht allein von der Erde abhängt, sondern von der ganzen Welt. Diese Ab­hängigkeit der Erdenereignisse von der ganzen Welt, das ist ja eine Vorstellung, die dem gegenwärtigen Menschen besonders schwer ein­geht. Aber man kann schon das einfachste menschliche Ereignis nicht begreifen, wenn man nicht weiß, daß vom Weltenraum aus fortwährend Einflüsse auf die Erde geschehen. Nun, das habe ich Ihnen für die ver­schiedensten Dinge schon dargestellt. Heute muß ich es Ihnen in dem Zusammenhang mit dem Mysterium von Golgatha darstellen.

Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß die Juden, die ich als das vierte der Völker im Entwickelungsgange angeführt habe, eigent­lich das vierte Wesensglied des Menschen, das Ich, entdeckt haben. Sie haben diesen vierten Bestandteil, als das göttliche Innere des Menschen aufgefaßt, Jahve genannt. Und sie haben auch diesen Jahve in eine ge­wisse Beziehung zum Weltenall und Sternenhimmel gebracht.

Nun wissen Sie ja, daß das Christentum seinen Ursprung in Palä­stina genommen hat. Jesus von Nazareth hat in Palästina gelebt, und die Umgebung des Jesus von Nazareth war eine jüdische. Die jüdische Religion herrschte dort in Palästina als Religion; die politische Herr­schaft war schon die römische, aber die Römer waren in bezug auf diese weit entfernten Länder nicht in der Lage, etwa auch die Religion dort abzuschaffen. Also es herrschte um Jesus von Nazareth herum die jüdische Religion.

Was war eigentlich die jüdische Religion? Sie werden es noch besser verstehen, wenn ich Ihnen noch einiges sage über dasjenige Volk, das ich vor den Juden genannt habe, das in Mesopotamien gelebt hat, also etwas weiter in Asien drinnen: die Babylonier, Assyrier. Diese Völker, die da weiter in Asien drüben lebten, allerdings Nachbarn der Juden waren, sie hatten eine ausgesprochene Sternenreligion. Nun sagen die

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Leute: Ja, die Menschen da in Assyrien, die haben die Sterne ange­betet. - Sie haben aber gar nicht die Sterne angebetet, sondern sie haben nur nach der instinktiven Weisheit der damaligen Zeit mehr noch ge­wußt von den Sternen, als die heutigen Menschen von den Sternen wissen. Es ist ja so, daß die heutigen Menschen meinen, alles von den Sternen zu wissen.

Nun werden Sie vielleicht in diesen Tagen gelesen haben, daß sogar dieses sichere Wissen von den Sternen droht, zugrunde zu gehen. Es ist in diesen Tagen bekanntgeworden, daß eine Entdeckung gemacht wor­den ist, wonach tatsächlich die Erde umgeben ist nicht von dem leeren Weltenraum, sondern wenn man hinaufkommt in eine Höhe von vier­hundert Kilometern, so ist die Erde umgeben von festen Stickstoff-kristallen! So daß man also annehmen muß, daß der alte Kristall-himmel, von dem im griechischen Altertum gesprochen worden ist, heute von der Wissenschaft nach und nach wiederum gerechtfertigt wird. Das will ich nur nebenbei erwähnen. Aber an solchen Dingen können die ganz gescheiten Leute der Gegenwart sehen, wie wenig eigentlich über die Sternenwelt bekannt ist.

Aber, meine Herren - es wird ja in der Astronomie auch angenom­men, daß der Mars bewohnt ist -, denken Sie sich einmal einen Mars-bewohner. Nun, wenn der herunterschaut, so sieht er auch nicht die Menschen auf der Erde; wenn der Marsbewohner nicht schon ganz vorgeschrittene Fernrohre hat, sieht er nicht die Menschen, sondern er sieht die Erde mit einem grünlichen Schein in den Weltenraum hinaus leuchten. Aber auf der Erde wimmelt es von Menschen, und diese Men­schen stehen in Verbindung mit geistigen Wesenheiten. Ebenso die an­dern Sterne. Und geradeso wie die physischen Kräfte der Sterne auf die Erde einen Einfluß haben, so haben natürlich auch die geistigen Kräfte der Sterne auf die Erde einen Einfluß, namentlich auf das Menschen-wesen. Das hat nämlich die alte Weisheit, die instinktive Weisheit der Morgenländer gut gewußt, daß die Sterne auch geistige Wesenheiten in sich haben, und diese geistigen Wesenheiten, die haben sie verehrt auf ihre Art, nicht die äußeren physischen Sterne. In diesem Sinne war die Religion dadrüben in Vorderasien eine Sternenreligion. Das heißt, die Menschen haben angenommen, der Saturn zum Beispiel hat geistige

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Wesenheiten, die haben einen gewissen Einfluß auf den Menschen. Der Jupiter hat geistige Wesenheiten und so weiter, und alle diese Wesen­heiten haben einen gewissen Einfluß auf das irdische Menschenleben.

Nun, die Juden haben sich um die andern Sterne wenig gekümmert; aber dasjenige, was sie aus den alten Religionen genommen haben, das war der Einfluß des Mondes. Und sie haben ihren Jahve, ihren Jehova in Zusammenhang gebracht mit dem Geistigen im Mond. Das ist also eigentlich die ursprüngliche jüdische Religion, daß der Jahve, der im menschlichen Ich lebt, abhängig ist vom Mond. Nun, meine Herren, das ist nicht eine bloße Sage, das ist auch nicht eine bloße religiöse aber­gläubische Vorstellung, sondern das ist etwas, was sich wissenschaftlich gut nachweisen läßt. Die Sache ist nämlich so, daß der Mensch tatsäch­lich in der Zeit, die auch wichtig ist für sein irdisches Dasein, in der Zeit während der Schwangerschaft der Mutter, also während er noch ein Menschenkeim, ein Embryo ist, ganz vom Monde abhängig ist. Diese Abhängigkeit des Menschen vom Monde während seiner Em­bryonalzeit, während seiner Keimeszeit, die hat man lange gewußt, und man hat darnach die Zeit der Schwangerschaft sogar berechnet auf zehn Mondmonate. Erst in der allerletzten Zeit ist es aufgekommen, die Mondenmonate auf Sonnenmonate zu rechnen, auf neun Monate. Aber in diesen zehn Mondmonaten, die man für die Zeit der Schwan­gerschaft mit Recht angenommen hat, da steckt noch drinnen, daß der Mensch in seiner Embryonalzeit, also als Menschenkeim, im Leibe der Mutter, abhängig ist vom Mond. Nun, inwieferne ist er abhängig vom Mond? Ich habe auch darauf schon aufmerksam gemacht.

Sehen Sie, die Sache ist so, daß dasjenige, was der erste befruchtete Eikeim ist, eigentlich zerstörte Erdenmaterie enthält, pulverisierte Erdenmaterie, und aus dem würde nie etwas, wenn nur Erdenkräfte auf ihn wirken würden - niemals! Aus diesem Menschenkeim wird lediglich dadurch etwas, daß vom Monde her der Einfluß auf die Erde stattfindet. Und man kann sagen: Der Mensch kommt ins Erdenleben durch die Kräfte des Mondes. - So daß also die Juden, die Jahve als eine Mondgottheit angesehen haben, eigentlich haben hinweisen wollen auf diese Abhängigkeit des Menschen von Mondenkräften, wenn er auf die Erde hereintritt.

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Nun gewiß, die Leute weiter in Asien drüben, Babylonier, Assyrier, die haben auch noch andere Einflüsse als nur Mondeneinflüsse ange­nommen. Sie haben zum Beispiel gesagt: Der Jupiter, der hat einen gewissen Einfluß darauf, ob der Mensch in seiner weiteren Entwicke­lungszeit gescheit wird oder dumm bleibt oder dergleichen. Aber auf solche nebensächlichen Einflüsse haben sich die Juden nicht einge­lassen. Sie haben nur den einen Gott verehrt, und das war eben eine Mondengottheit. Das wird ja gewöhnlich als ein großer religiöser Fort­schritt angesehen, daß die Juden von vielen Göttern zu einem Gotte fortgeschritten sind.

Diesen einen Gott, den die Juden verehrten, den Jahvegott, den hat auch Jesus von Nazareth angetroffen in der umliegenden jüdischen Religion. Und darinnen ist er gewissermaßen unterrichtet worden.

Nun, Sie können sich denken, wenn man nur den Mondengott ver­ehrt, von dem der Mensch abhängig ist in der Zeit, wo er im Mutterleib getragen wird, dann führt man eigentlich alles darauf zurück, daß der Mensch schon sein ganzes Wesen, wie er ist und so weiter, auf die Erde mitbringt. Und das drückt sich auch aus in der alten jüdischen Reli­gion, in der Jahvereligion. Wenn Sie irgendeinen alten Juden gefragt haben, der, sagen wir, krank geworden ist: Warum bist du krank ge­worden? - dann sagte er: Jahve hat es so gewollt. - Wenn ihm sein Haus angezündet worden ist und man fragte ihn: Warum ist dir dein Haus angezündet worden? - sagte er: Jahve hat es so gewollt - und so weiter. Er hat eben nur diesen einen Gott, durch den der Mensch in die Erdenwelt hereintritt, anerkannt, und alles führte er auf diesen Jahve zurück. Dadurch hat die jüdische Religion etwas von einer starren Religion. Der Mensch fühlte sich sozusagen sein ganzes Leben hindurch abhängig von dem, was er sich da mitgebracht hat auf die Erde.

Der Jesus von Nazareth lernte nun außer der jüdischen Religion andere Religionen kennen, und die sagten: Es findet nicht bloß ein Ein­fluß vom Monde auf den Menschen statt, sondern auch von den andern Sternen. Sehen Sie, die Sache wird ja in den Evangelien auch angedeu­tet, daß schon eine Beziehung war zwischen den Sternenreligionen des Ostens, Asiens, und den von Juden bewohnten Ländern, in denen Jesus von Nazareth geboren worden ist. Es wird gesagt, daß die Weisen aus

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dem Morgenlande einen Stern gesehen haben, der sie hingeführt hat zur Geburtsstätte von Jesus von Nazareth.

Nun ist natürlich die Sache so, wie sie heute in den Evangelien steht, ja ein Mißverständnis. Die Sache ist vielmehr so, daß die Weisen aus dem Morgenlande von ihrer Sternenwissenschaft herkamen und aus der Sternkonstellation, aus der Stellung der Sterne gesehen hatten: ein ganz wesentliches Ereignis tritt ein. Und so kommt schon die Sternen-weisheit des Ostens, die Sternenweisheit von Asien, bei der Geburt des Jesus von Nazareth in Berührung mit ihm selber. Diese Verbindung ist ja auch immer aufrechterhalten geblieben.

Und nun war das Hauptziel des Jesus von Nazareth, dem Menschen auch dann noch, wenn er schon auf der Erde herumgeht, eine innere Wesenheit erfühlen zu lassen. Der Jude sagte: Alles kommt von Jahve. -Aber der Jahve hat eben den entscheidenden Einfluß nur bis zur Ge­burt, und wenn der Mensch geboren ist, setzt er als ein auf der Erde herumgehender Mensch nicht einfach den Jahve-Impuls fort. Und Chri­stus Jesus brachte vor allen Dingen in die Welt, daß der Mensch wäh­rend seines Lebens nicht nur so eine abrollende Kugel ist und den Stoß, den Jahve im Mutterleibe gegeben hat, bloß fortsetzt, sondern daß der Mensch auch während seines Lebens noch einen inneren Willen hat, durch den er sein eigenesWesen, seine Persönlichkeit besser oder schlech­ter machen kann. Das war für die damalige Zeit eine ganz große Idee. Denn, sehen Sie, die Sternenweisheit, die war eigentlich ganz geheim-gehalten worden, und in Palästina selber wußte niemand etwas davon; in Rom erst recht nicht. Die Sternenweisheit war ganz geheimgehalten worden. Und es war eine sehr bedeutende Tat, als der Jesus von Naza­reth, zunächst auf die Sonne und nicht auf die andern Sterne hin­weisend, sagte: Nicht bloß vom Monde her kommt ein Einfluß auf den Menschen, sondern es kommt ein Einfluß auch von der Sonne.

Damit war damals außerordentlich viel getan. Aber man muß nur bedenken, daß man solche Dinge nicht bloß als Theorien betrachten kann, sondern man muß sie der Wirklichkeit nach betrachten. Was ge­schieht denn eigentlich, während der Mensch im Leibe der Mutter ist, durch den Einfluß des Mondes? Ja, da ist es das Seelische, das Geistig-Seelische, das vom Monde her in den physischen Menschen hineinkommt.

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Der Mensch kommt als Seele aus der Himmelswelt herunter vom Monde her. Und was bedeutete es denn, daß die Juden sagten:

Jahve hat Einfluß auf den Menschen während der Schwangerschaft der Mutter? - Das bedeutete, daß die Juden meinten: Alles, was im Menschen seelisch-geistig ist, das stammt vom Monde her; im Monde, da ist der Schöpfer der Menschenseele. - Wenn also die Menschen herumgehen auf der Erde, da sagt der Jude: Nun, das, was physisch am Menschen ist, was stofflich ist, das hat er von der Erde; dasjenige, was geistig-seelisch ist, das hat er durch den Mond aus der weiten Welt. - Da fährt also wirklich der Geist des Menschen durch den Mond in den Menschen hinein. Und damit ist eigentlich das gesagt: Begegne ich einem Menschen, so muß ich der Meinung sein: Deine Seele ist durch den Mond in dich hineingefahren, und was in dieser Seele drinnen lebt, das hast du auf dem Wege durch die Mondengötter erhalten.

Der Jesus von Nazareth lehrte: Ja, das ist richtig, der Mensch hat diese Seele; aber in seinem späteren Leben kann diese Seele noch ver­ändert werden. Der Mensch hat etwas von einem freien Willen. Die Seele des Menschen kann im späteren Leben verändert werden.

Wie kam der Jesus von Nazareth dazu, so etwas zu behaupten? Das ist die große Frage. Und wenn man diese Frage beantworten will, dann kommt man auf das Folgende.

Sie wissen ja, daß man den Juden unterscheidet von der andern ir­dischen Bevölkerung. Und dieser Unterschied rührt schon davon her, daß durch die Jahrhunderte hindurch die Juden in der Mondreligion erzogen worden sind und jeden andern Einfluß in ihrer Seele abgewie­sen haben. Sehen Sie, man muß da schon auf gewisse Eigentümlich­keiten des Judentums eingehen, wenn man diese Dinge verstehen will. Sie können überall nachforschen: die Juden haben eine große Begabung für Musik, dagegen eine sehr geringe Begabung für Bildhauerei, Malerei und dergleichen. Die Juden haben eine große Begabung für den Mate­rialismus, aber wenig Begabung für die Anerkennung der geistigenwelt, weil sie von der ganzen außerirdischen Welt einzig den Mond eigent­lich verehrt haben und das kaum mehr gewußt haben. Der jüdische Charakter und der griechische Charakter sind vollständige Gegensätze. Die Griechen waren vorzugsweise auf die Bildhauerei, Malerei aus, auf

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die Baukunst wenigstens bildhauerisch aus. Die Juden sind das musika­lische Volk, das Volk der Priester, das vorzugsweise das Innere ausbil­det, was aus der ursprünglichen Begabung vom Mutterleibe herrührt.

Nun, in der Zeit, als der Jesus von Nazareth lebte, war diese Eigen­schaft ganz außerordentlich stark ausgebildet. Nicht wahr, die Juden, die man heute in Europa kennenlernt, die haben ja schon unter den andern Völkern gelebt, und da haben sie sich manches angeeignet. Aber derjenige, der unterscheiden kann, kann immer noch die besondere Geistesart der Juden von der Geistesart der andern Menschen unter­scheiden. Nun, wie war das bei den Juden? Das war so: Sie haben ihr ganzes Gemüt, die ganze Seele auf den Mond hingelenkt. Dadurch hat sich bei ihnen alles das ausgebildet, was sich auf den Mond bezieht, aber gar nicht dasjenige, was sich auf die Sonne bezieht. Die Sonne ist voll­ständig vergessen gewesen. Und wäre der Jesus von Nazareth ein Jude geblieben, so hätte er auch nichts anderes lehren können als die Mon­denreligion. Aber er blieb nicht bloß Jude, sondern er bekam im Laufe seines Lebens einen andern Impuls: ein direkter geistiger Einfluß wurde ihm zuteil von der Sonne her.

Sehen Sie, dadurch ist er gewissermaßen zweimal geboren. Dieses Zweimal-Geborenwerden, das haben die früheren morgenländischen Religionen alle noch gehabt. Aber es ist das alles vergessen worden; heute ist es nur vorhanden als Nachricht. Da versteht man es nicht mehr. - So daß also der Jesus von Nazareth in einem bestimmten Mo­mente gefühlt hat: Jetzt bin ich gewissermaßen noch einmal geboren; geradeso wie ich im Mutterleib durch den Mond meine Seele bekom­men habe, habe ich jetzt eine Auffrischung meiner Seele bekommen von der Sonne her. - Und in Eingeweihtenkreisen nannte man von dem Momente an denjenigen, der Jesus von Nazareth war, den Christus Jesus. Und man sagte: Nun, der Jesus von Nazareth ist eben geradeso Mensch, Jude geworden durch die Mondenkräfte, wie die andern Juden; aber dadurch, daß er in einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens den Einfluß von der Sonne bekommen hat, ist er ein zweites Mal geboren als Christus.

Natürlich, der heutige Mensch, der solche Sachen nicht geistig neh­men kann, der kann sich bei all diesen Sachen überhaupt nichts denken.

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Er denkt sich schon nichts dabei, daß der Mensch vor der Geburt im Mutterleibe durch den Mond mit seiner Seele vereinigt wird, diese also von der Außenwelt bekommt. Und er denkt sich erst recht nichts dabei, daß der Jesus von Nazareth einen Sonneneinfluß bekommen hat, daß gewissermaßen eine zweite Persönlichkeit in ihn hineingezogen ist. Wie die erste Persönlichkeit in den Mutterleib hineinzieht, so zieht in den Jesus von Nazareth als zweite Persönlichkeit eben das Sonnenwesen hinein.

Sehen Sie, die römisch-katholische Religion, die hat in ihren Worten das, was ich Ihnen jetzt erzählt habe, vollständig vergessen. Aber gehen Sie einmal in eine Messe; da werden Sie, wenn es eine feierliche Messe ist, auf dem Altar stehen sehen und damit auch den Segen erteilen sehen das sogenannte Sanktissimum, die Monstranz (es wird gezeichnet); hier

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drinnen die Hostie, hier nun Strahlen. Ja, was ist denn das? Das ist die Sonne, und darinnen der Mond. Und die ganze Monstranz, das ganze Sanktissimum sagt durch seine Gestalt, daß das Christentum abstamme von einer Anschauung, die nicht, wie die Juden, bloß den Mond aner­kannt

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habe, sondern auch die Sonne. Und wie der Mensch bei seiner Geburt den Einfluß hat vom Monde, so der Christus von der Sonne her.

Nun kann man sagen: Da könnte ja jeder Mensch nun zweimal ge­boren werden und den Einfluß von der Sonne auch bekommen im Laufe seines Lebens. - Das ist aber nicht so; die Sache ist doch etwas anders. Die Sache ist nämlich so: Der Christus Jesus hat einen Einfluß bekom­men, der direkt auf das menschliche Ich ging. Worauf geht der Einfluß vom Monde her, der im Mutterleibe besteht? Nun, Sie wissen: Der Mensch besteht aus dem physischen Leib, Atherleib, Astralleib und Ich. Der Mondeneinfluß, der geht auf den astralischen Leib, und der astra­lische Leib, der im Menschen unbewußt ist, der wird vom Monde be­einflußt. Dagegen der Sonneneinfluß des Christus, der ging auf das Ich. Aber das Ich, das ist selbständig!

Wenn jemals der Sonneneinfluß auf den Menschen ebenso wäre wie der Mondeneinfluß, was würde da geschehen? Auf unsere Geburt haben wir als einzelner Mensch nicht gerade einen sehr starken Einfluß; wir werden halt in die Welt hereingeschickt durch unsere Geburt. Wenn nun der Sonneneinfluß genau so wäre wie der Mondeneinfluß, da wür­den wir, sagen wir, mit dem dreißigsten Lebensjahr diesen Sonnenein­fluß erfahren, und wir würden gar nichts dazu machen können, gerade­so wie wir zu unserer Geburt nichts machen können. Wir wären mit dreißig Jahren plötzlich ein anderer Mensch, würden sogar das ver­gessen, was wir früher getan haben. Denken Sie sich, wenn Sie als junge Leute bis zum neunundzwanzigsten Jahre alle herumgehen würden, und dann käme meinetwillen Ihr dreißigstes Jahr, und da würden Sie alle wiedergeboren. Nun begegnet Ihnen einer, der noch nicht das drei­ßigste Jahr erreicht hat, wenn Sie wiedergeboren worden sind, und sagt zu Ihnen: Guten Morgen, Erbsmehl! - Was? Ich weiß nichts von dem! Ich bin ja erst seit heute da! Was gehst du mich an? - So etwa würde es sein, wenn tatsächlich auf jeden Menschen der Sonneneinfluß, sagen wir, mit dem dreißigsten Jahre stattfinden würde. Ja, meine Herren, es wird Ihnen ganz unwahrscheinlich erscheinen, und dennoch ist es wahr. Es ist nur vergessen worden, weil fortwährend eine Geschichts­fälschung stattfindet; daher erfährt man nichts davon. Etwas ganz Ahnliches war nämlich in älteren Zeiten vorhanden, wenn auch nicht

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so drastisch stark, wie ich es Ihnen jetzt geschildert habe. Aber in ganz alten Zeiten, sagen wir, vor sieben- bis achttausend Jahren, da ist es wirklich so gewesen. Wenn wir hinsehen nach Indien zum Beispiel und die Menschen dort dreißig Jahre alt geworden sind, waren sie wie ganz neue Menschen, wußten nichts mehr von ihrem früheren Leben. Und dann nahm sich ihrer ihre Umgebung an und sagte ihnen: Jetzt mußt du zum «Amt» gehen - ich gebrauche moderne Ausdrücke -, und da wurde dem Betreffenden erst wiederum gesagt, wie er heißt, wer er ist. Das ist natürlich immer schwächer und schwächer geworden, diese Umwandlung, aber sie war doch eben vorhanden. Und noch bei den Ägyptern war es so, daß einfach die Menschen, wenn sie zum Beispiel fünfzig Jahre alt waren, sich nicht zurückerinnerten an ihre Kindheit, sondern sich nur zurückerinnerten bis zu ihrem dreißigsten Jahr; das andere erfuhren sie von ihrer Umgebung, wie wir heute erfahren von unserer Umgebung, was wir getrieben haben, als wir ein Baby waren oder zwei Jahre alt. - Daß sich die Menschheit auf der Erde so ver­ändert hat, das erzählt eben die Geschichte nicht, aber das ist dennoch so.

Nun war der Jesus von Nazareth durch besondere Ereignisse der letzte Mensch, der, während die andern alle schon keinen Sonnenein­fluß mehr erlangt haben, noch den Sonneneinfluß erlangt hat. Es steht auch dieses von dem Sonneneinfluß noch in den Evangelien, nur legen das die Menschen immer falsch aus. Sehen Sie, es wird in den Evange­lien erzählt, daß der Jesus sich im Jordan taufen ließ von Johannes. Dabei kam eine Taube herab. Diese Taube deutet eben den Sonnen-einfluß an. Und da kam dieses Sonnenwesen in den Jesus. - Und jetzt war Schluß; er war der letzte, der dieses Sonnenwesen in sich bekam. Die andern waren schon zu seiner Zeit durch ihre körperliche Beschaf­fenheit nicht mehr dazu reif. Er war der letzte.

Gehen wir zurück zu den Menschen im alten Orient; da konnte ein jeder sagen: Im Laufe des Lebens hat die Sonne einen Einfluß auf den Menschen; da kommt ein neues Wesen in den Menschen hinein. - In der Zeit, in der der Christus Jesus lebte, konnte man das im allgemeinen nicht mehr sagen, und die Priester wußten es nur aus der äußeren Wis­senschaft, nicht durch innere Anschauung.

Nun, was mußte denn jetzt an die Stelle der Verehrung der Sonne

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treten? In alten Zeiten haben die Leute die Sonne verehrt, vor der Judenzeit, weil sie gewußt haben: Von der Sonne kommt dieser große, mächtige Einfluß während des Lebens. - Jetzt konnten sie die Sonne nicht mehr verehren, weil sie ja keinen Einfluß mehr bekamen. Wer trat denn an die Stelle der Sonne? Der Christus Jesus selber! Und so wurde das Christentum so begründet, daß man vorher mit der Sternen-religion auch eine Sonnenreligion hatte und direkt auf die Sonne hin-deutete; als der Christus Jesus als der letzte diesen Sonneneinfluß er­langt hatte, konnte man nur auf den Christus hindeuten und konnte sagen: In dem steckt ja der Sonnengeist.

Und das ist nämlich der große Umschwung. Das ist die ungeheuer­lichste Revolution im Denken, daß der Christus Jesus dasjenige, was man früher auf der Sonne gesehen hat, auf die Erde heruntergeholt hat. Und in alten Zeiten oder in den ersten Zeiten des Christentums hat man deshalb den Christus immer die Sonne genannt. Sie finden noch in den Evangelien überall den Ausdruck: «die Sonne, der Christus», weil man eben gewußt hat, um was es sich handelt. Das ist später ganz und gar vergessen worden. Bei jeder feierlichen Messe kann man es in dem Sanktissimum, in der Monstranz sehen. Aber wenn irgendeiner das dann auch wirklich sagt, daß es so ist, was man ja sehen kann, dann ist er ein großer Ketzer, dann wird er verfolgt als ein Irrgläubiger. Denn man hat es in der christlichen Kirche immer als gefährlich betrachtet, die Wahrheiten über die Sterne, also auch über die Sonne zu verkün­digen.

Ja, meine Herren, warum ist denn das? Da muß man wiederum zurückgehen auf die alten Mysterien und sie vergleichen mit dem Chri­stentum. Sehen Sie, in den alten Mysterien wurden ja nicht alle Leute zugelassen. Ich habe Ihnen gesagt, wie die Grade waren; die Einge­weihten waren Rabe, Okkulter, Verteidiger, Sphinxe und so weiter. Die wußten, daß von den Sternen der Einfluß kommt; die wußten das. Und deshalb hat auch die eingeweihte Priesterschaft streng gewacht darüber, daß nicht alle Leute gescheit wurden, daß nur bei ihnen in den Mysterien die Gescheitheit vorhanden sei. Denn Wissen ist schon eine Macht, wenn es auch oftmals unterdrückt wird. Aber wenn die Priester-schaft noch mächtig ist, dann ist Wissen eine Macht.

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Diese Sternenweisheit war aber zugrunde gegangen. Und nun kam der Christus Jesus. Der brachte sie neuerdings auf, allerdings in der verwandelten Gestalt, daß er sagte: Man muß den Sonnengott auf die Erde herunterholen. - Er brachte die Sonnenreligion neuerdings auf. Und wenn das nun geschehen wäre, daß der Christus ganz durch­gedrungen wäre mit seiner Lehre, dann wäre die ganze alte Sternen-religion wiederum dagewesen als Sonnenwirkung! Das war auch in den ersten Zeiten des Christentums vielfach der Fall. Die alten Mysterien haben wieder aufgeblüht. Aber nun kam das, daß der Christus Jesus die ungeheure Revolution durchführte: Dasjenige, was früher einge­schlossen in den Mysterien war, hat er vor alle Welt hingestellt. Es wäre also für alle Menschen dagewesen. Nun, keine Bemühung konnte durchdringen, das, was ich Ihnen jetzt sage, unter die Menschen zu bringen.

Da war ein römischer Kaiser, Julianus, den man den Abtrünnigen, den Apostaten nennt, der wollte seine alte Sternenreligion wiederum einführen. Er ist auf einem Zuge nach Persien ermordet worden! Das­jenige, was in Rom geschehen ist, das kann man nur in der folgenden Weise erzählen.

In Rom geschah das, daß der Sternendienst, der eigentlich mit dem Christus Jesus wiederum gegeben war, verleumdet wurde als Aber­glaube, ja, nicht nur als Aberglaube, sondern als Teufelsglaube ver­leumdet wurde. Also gerade das, was zum wirklichen Erkennen, zur Erkenntnis des Geistigen in der Welt führt, das wurde verleumdet, das wurde gewissermaßen sogar abgeschafft. Dagegen sollte man nur an das äußere geschichtliche Ereignis mit dem Christus Jesus in Palästina glauben, so wie die Kirche es verkündet. Dadurch wurde die Kirche für alle diejenigen, die die Gläubigen wurden, die höchste Macht in dem, was man denken soll. Sehen Sie, das Christentum als solches ist eigent­lich nicht über Rom nach Europa gekommen, sondern ein verändertes Christentum, das nur dieses äußere Ereignis von Palästina genommen hat, nicht den ganzen Weltzusammenhang. Und wodurch ist das ge­kommen?

Nun, sehen Sie, eigentlich stammt Rom ab von einer Schar von Räu­bern, die sich zusammengesammelt haben. Und etwas von dieser Ge­sinnung

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ist lange da hineingeflossen. Und so hat Rom immer darnach gestrebt, mit der weltlichen Herrschaft zugleich die religiöse Herr­schaft an sich zu reißen. Das ist geradezu ein Zug von Rom, mit der weltlichen Herrschaft auch die geistige Herrschaft an sich zu ziehen. Und an die Stelle nicht des alten, noch heidnischen Hohepriesters, des Pontifex Maximus, von dem er nur den Namen angenommen hat, ist der Papst getreten. Der Papst ist eigentlich im Laufe des Mittelalters an die Stelle der römischen Cäsaren, der römischen Kaiser getreten, hat die Weltherrschaft angetreten zugleich mit der Herrschaft über die Gedanken. Nur einmal war es, im Anfange des 11. Jahrhunderts, als in Mitteleuropa ein sehr bedeutender deutscher Kaiser etwas ähnliches machen wollte wie damals Julian, den man den Apostata, den Ab­trunnigen nannte; das war Heinrich II. Es ist sehr interessant! Hein­rich II. wurde zunächst angesehen wie eine Art Heiliger, weil er die christliche Anschauung sehr gut vertrat. Von 1002 bis 1024 regierte er. Wie eine Art Heiliger regierte er. Er hat auch in der Geschichte den Beinamen: der Heilige. Ja, sehen Sie, wenn man heute noch bei katho­lischen Priestern das Brevierbuch, wo alle Heiligen drinnenstehen, sich anschaut, so steht auch dieser Heinrich II., der Heilige, drinnen. Aber dieser Heinrich II. war eben auch einer, der auf so etwas wie die alte Wahrheit hindeuten wollte. Er wollte retten für das Christentum die Anschauung, daß in dem Christus Jesus der Sonnengeist gelebt hat. Und da hat er angestrebt eine Ecclesia catholica non Romana, das heißt, eine katholische Kirche, die nicht römisch ist. Bedenken Sie die Jahreszahl:

anfangs des 11.Jahrhunderts! Erst später ist das Luthertum gekommen. Wäre das dazumal gelungen, was Heinrich II. angestrebt hat, eine katholische Kirche, die nicht römisch ist, so wäre das Christentum in seiner Weltbedeutung in Europa aufgetreten, und man hätte durch das religiöse Leben dazumal schon eine wirkliche Geisteswissenschaft be­kommen. Aber Rom hat dazumal gesiegt, das heißt das religiös­cäsaristische Rom. Es kam eben keine Ecclesia catholica non Romana, sondern es lebte die Ecclesia catholica Romana weiter. Ganz trennen wollte ja Kaiser Heinrich II. die katholische Kirche von der weltlichen Herrschaft.

Nun werden Sie ja alle zugeben müssen: Es wäre eine ungeheuer

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große Tat gewesen, denn all dasjenige, was dann nachgekommen ist an Verfolgungen von Ketzern, von Irrgläubigen, hätte dann nicht kom­men können. Denn alle diese Verfolgungen kommen nur von der Herr­schaft über die Gedanken. Aber in Wirklichkeit kann man ja die Ge­danken nicht beherrschen. Denken Sie nur einmal nach darüber! Kann man denn Ihre Gedanken in Wirklichkeit beherrschen? Nein, man kann sie nicht beherrschen! Man kann sie nur beherrschen, wenn man den Menschen beherrscht von der weltlichen Seite her, wenn man den Men­schen dazu zwingt, in bestimmte Schulen zu gehen, ihm da gewisse Dinge eintrichtert, wenn man ihn dazu bestimmt, in eine gewisse Klasse zu gehören. Mit der Klasse bekommt er dann seine Anschauung und so weiter. Die Gedanken lassen sich nicht beherrschen! Niemals hätte eine Kirche schädlich werden können, wenn ihr die weltliche Herrschaft nicht geholfen hätte, indem sie die Herrschaft über den Menschen als physisches Wesen ausübt. Denn die Kirche kann nur lehren, und der Mensch muß das, was sie lehrt, selber annehmen. Und das wollte Hein­rich II. herstellen. Nur eben, wie gesagt, siegte der alte Cäsar, der alte Kaiser in dem Papst damals. Und sie wissen ja: damals war die welt­liche Herrschaft sehr stark. Man mag das schlimm finden, aber jeden­falls war die weltliche Herrschaft in der Zeit, als Heinrich II. wirkte, sehr stark. Und würde es eben damals gelungen sein, eine katholische Kirche einzurichten, die nicht römisch ist, so wäre eben außerhalb der weltlichen Herrschaft die Lehre der Kirche dagewesen.

Sehen Sie, im Grunde genommen verfolgten ja die Kreuzzüge das­selbe. Von den Kreuzzügen wird immer gesagt, daß sie im Dienste von Rom unternommen worden seien. Die Kreuzzüge werden gewöhnlich so geschildert: Weil diese entsetzlichen Türken Jerusalem erobert hat­ten, da konnten die Pilger in Jerusalem nicht mehr in Ruhe ihre Gebete verrichten, wenn sie dahin wallfahrteten. Da setzte sich Rom ein, schickte den Peter von Amiens überall hin; der predigte in Europa den Kreuzzug. Das heißt, es sollten viele Leute zum Kreuzzug zusammen­strömen, sollten hinüberwandern nach Asien, nach Jerusalem. Nun kam ja allerdings auch durch die Predigten des Peter von Amiens ein großes Kreuzfahrerheer zustande, stand auch unter dem Kommando des Peter von Amiens und des Walther von Habenichts. Warum er von

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Habenichts geheißen hat, können Sie sich vielleicht denken. Nun, er war eben solch ein Habenichts wie wir alle. Wir könnten auch nicht aufbringen das ganze, was ein Kreuzzug nach Asien hinüber kostet. -Dieses ganze Kreuzzugheer ging aber schon auf dem Wege zugrunde. Es hat gar nichts erreicht.

Dagegen machten sich dann andere Leute auf unter der Führung des Gott fried von Bouillon. Die waren nicht im Dienst von Rom, sondern die wollten wiederum etwas Ähnliches wie Heinrich II. Die wollten die weltliche Herrschaft ausschalten. - Hier ist Italien (es wird gezeich­net), hier Griechenland, das Schwarze Meer, Asien, hier Palästina, hier Jerusalem: und da sollte das Kreuz ja hinübergehen, und das sollte der Hauptsitz der christlichen Religion werden. Rom sollte abgesägt wer­den von dem wirklichen ersten Kreuzzug an. Es waren die Kreuzzüge eigentlich gegen Rom geführt. Und wiederum wollte man die Ecclesia, die Kirche, unabhängig machen von der weltlichen Herrschaft.

Nun, alle diese Dinge sind ja nicht gelungen. In die späteren Kreuz­züge haben sich wiederum die romanischen Fürsten hineingemischt. Die Sache ist ja auch in der Kreuzzugsgeschichte zu lesen.

So ist es eigentlich dann gekommen, daß diese ganze Grundlage des Christentums, die die großartige Idee enthält, daß die Sonnenkraft her­untergeholt worden ist durch den Christus Jesus auf die Erde, und daß jeder Mensch, der das einsieht, dadurch frei werden kann - «Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen», aber es wurde nicht die Wahrheit erkannt -, diese ganze Sache, die ist im Grunde genommen durch die ganze menschliche Entwickelung hin­durch unbekannt geblieben, und erst heute muß man wieder durch Geisteswissenschaft das wirkliche Christentum entdecken. Es ist gar nicht wunderbar, daß diejenigen, die das heute bestehende Christentum vertreten, sich wenden gegen das Christentum, das nun wirklich an den Christus Jesus anknüpft und dasselbe lehrt, was der Christus Jesus ge­lehrt hat. Aber das geschieht in der Anthroposophie. Daher ist es auch nicht zu verwundern, daß bei denjenigen, die das Christentum heute nur kennen von dem, was da ist, eine große Abneigung gegen das Chri­stentum ist. Aber die Abneigung bezieht sich nicht auf das Christentum. Das Christentum hat ja in sozialer Beziehung einen ungeheuren Fortschritt

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gebracht, nämlich den, daß die Sklaverei nach und nach ver­schwunden ist. Gähe es kein Christentum, ja, dann wäre auch die ganze Wissenschaft von heute nicht da. Denn schauen Sie nach: Die meisten wirklichen großen Entdeckungen sind ja eigentlich von den Mönchen gemacht worden. Bloß die Luftpumpe ist vom braven Bürgermeister Guericke von Magdeburg; aber die meisten großen Entdeckungen sind von Mönchen gemacht worden. Und derjenige, der das Kopernikani­sche System gefunden hat, Kopernikus, das war ja ein Domherr, ein katholischer Domherr. Und die Schulen waren eigentlich alle abhängig von den Mönchen.

Aber da kommt eben etwas anderes dazu, meine Herren. Die Sache ist ja so, daß man die Klöster eigentlich nicht gern gesehen hat in der alten Kirche, weil die Mönche noch viel bewahrt hatten von der alten Wissenschaft. Und bei den Mönchen - die durften nur nicht den Mund aufmachen - findet man schon ein Wissen von der alten Sternenweis­heit. Das ist schon durchaus zu finden, wenn man es nur suchen will. Dinge, die ich Ihnen erzählt habe - ich habe Ihnen das letzte Mal auf­gezeichnet, wie man Weib und Mann noch im 17.Jahrhundert unter­schieden hat -, ja, die haben sich fortgepflanzt über das Mönchtum, nicht über das äußere weltliche Regiment, sondern über das Mönchtum, und im Grunde ist es erst im 17., 18.Jahrhundert gelungen, damit voll­ständig aufzuräumen. Das Mittelalter ist gar nicht so finster, wie man gewöhnlich glaubt. Nur dasjenige ist finster, was die Leute gewöhnlich sehen. Aber im Geheimen haben die Leute viel Weisheit gehabt; nur versteht man sie heute nicht. Ich habe Ihnen ja beim Ausdruck «Mumie» gezeigt, daß kein Mensch heute bedenkt, was Mumie ist. Ich habe es Ihnen erklärt.

Und so ist es schon, daß also die größte Idee des Christentums diese ist von dem Hinunterfahren der Sonnenkraft auf die Erde.

Sehen Sie, meine Herren, dadurch ist eigentlich erst das gekommen, was man Geschichte nennt. Denn im Morgenlande drüben hat man eine große Sternenweisheit gehabt, aber auf die Geschichte hat man nichts gegeben. Diejenigen, die im Morgenlande die Gelehrten, die Wissenden waren, die haben immer darauf hingewiesen: In den Himmelsweiten ist die Schöpfung. Aber was die Menschen auf der Erde gemacht haben,

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darum haben sie sich nicht viel gekümmert. Bei den Juden tritt etwas ein von Geschichte, aber das ist eine Geschichte, die ja auch mit der Sternenweisheit beginnt, denn die «sieben Schöpfungstage» sind Ster­nenweisheit. Und dann wird es chaotisch, dann geht es durcheinander. Eine richtige Geschichte, die die ganze Entwickelung auf der Erde ein­teilte in das Vorchristliche und das Nachchristliche, trat eben erst mit dem Christentum ein.

Das ist dasjenige, was ich Ihnen heute sägen konnte. Einige Ergän­zungen dazu will ich dann noch am nächsten Samstag geben.

FÜNFTER VORTRAG Dornach, 15. März 1924

#G353-1968-SE082 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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FÜNFTER VORTRAG

Dornach, 15. März 1924

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Meine Herren, wir wollen darin fortfahren, daß ich Ihnen noch einiges zeige, wie das Christentum sich in Europa eingelebt hat.

Sehen Sie, in der ersten Zeit nach der Begründung des Christentums breitete es sich ja zuerst im Süden aus, bis nach Rom herüber, und dann später, vom 3., 4., 5.Jahrhunderte an, kam die Ausbreitung nach Nor­den. Nun wollen wir uns Europa einmal anschauen in der Zeit, in der das Christentum sich ausgebreitet hat, also zur Zeit der Begründung des Christentums respektive etwas darnach. Ich möchte Ihnen die Frage beantworten: Wie hat Europa beziehungsweise unsere Zivilisation aus­gesehen in der Zeit, als sich das Christentum ausgebreitet hat?

Wenn wir uns dadrüben Asien vorstellen (es wird eine Zeichnung entworfen), so ist da Europa wie ein kleines Anhängsel von Asien, wie eine kleine Halbinsel. Sie werden ja wissen, Europa sieht so aus: Hier haben wir Skandinavien, hier die Ostsee; wir kommen dann nach Ruß­land herüber. Hier haben wir das heutige Dänemark. Hier kommen wir herüber an die Nordküste von Deutschland, hier kommen wir in das holländische, hier in das französische Gebiet. Hier kommen wir nach Spanien, kommen hier herüber nach Italien. Jetzt kommen wir an die Gebiete, die wir schon kennen: an das Adriatische Meer, kommen nach Griechenland herüber; dann ist da das Schwarze Meer. Hier kommen wir anstoßend nach Kleinasien, da hinüber kämen wir nach Afrika. Auf der andern Seite, hier, würden wir dann England mit Wales haben, und dann Irland, beiläufig nur angedeutet.

Nun werde ich also versuchen, Ihnen klarzumachen, wie Europa ausgeschaut hat in der Zeit, in der das Christentum, allmählich sich aus­breitend, nach Europa gekommen ist. Hier ist ja Europa von Asien ab­geschlossen durch den Ural. Wir haben dann hier den mächtigen Fluß, die Wolga, und wenn wir dazumal in diese Gegenden, die heute Süd-rußland, die Ukraine und so weiter bilden, gekommen wären, so hätten wir dort zu der Zeit, da das Christentum von Süden heraufstieß, ein Volk, das später ganz verschwunden ist von diesem Boden, weiter nach

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Westen gezogen ist und im Westen dann in andern Völkern unter­gegangen ist: die Ostgoten. Also in der Zeit, in der das Christentum beginnt sich auszubreiten, haben wir hier die Ostgoten. Sie werden gleich nachher sehen, wie diese Völkerschaften alle in einer gewissen Zeit ins Wandern gekommen sind. Aber in der Zeit, als das Christen­tum von Süden heraufstieß, waren diese Völkerschaften in Europa an diesem Platze seßhaft.

Sehen Sie, wenn Sie die Donau nehmen, dann haben Sie, weiter her­übergehend, hier das heutige Rumänien, das heutige Ungarn. In diesen Gegenden - dem heutigen Ungarn, dem heutigen Rumänien - saßen dazumäl die Westgoten. Gehen wir weiter herüber, hier nach dem heu­tigen westlichen Ungarn, so haben wir da die Vandalen. So hießen dazumal diese Völkerschaften. Und da, wo das heutige Mähren, Böh­men, Bayern ist, saßen die sogenannten Sueven, aus denen dann die Schwaben geworden sind. Gehen wir weiter herauf - hier entspringt die Elbe, und die Elbe fließt dann in die Nordsee: hier sind alles überall Goten. Hier aber - da ist dann der Rhein, den Sie gut kennen; da wäre also etwa das heutige Köln -, hier um den Rhein herum, da wohnen die sogenannten ripuarischen Franken. Weiter oben, wo der Rhein mündet, da wohnen die salischen Franken. Und hier bis zur Elbe hin, da wohnen die Sachsen. Die Sachsen haben ihren Namen bekommen von den Völ­kerschaften, die da südwärts waren. Sie haben ihren Namen bekommen, weil diesen Völkern südwärts aufgefallen ist, daß sie vorzugsweise oder fast ausschließlich sich von der Fleischkost genährt haben, und sie haben sie «Fleischfresser» genannt.

Hier weiter in diesen Gegenden waren ja die Römer ausgebreitet:

auch noch im heutigen Frankreich, im heutigen Spanien und so weiter, auch hier waren überall griechisch-römische Völker. Unter denen brei­tete sich zuerst das Christentum aus, und dann stieß es nach dem Nor­den. Man kann sagen, hier in diesen Gegenden kam das Christentum früher nach Norden als in den mehr westlichen Gegenden. So haben wir ja unter den Goten einen alten Bischof: Wulfila, das heißt «das Wölflein». Wulfila hat eine gotische Bibelübersetzung gemacht, schon sehr früh, im 4. Jahrhunderte. Diese Bibelübersetzung ist sehr interes­sant, weil sie sich sehr von den späteren Bibelübersetzungen unterschei­det.

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Sie ist in einem außerordentlich wertvollen Buche enthalten, das heute in der Bibliothek in Upsala, in Schweden, sich befindet; und es ist so, daß man daraus sehen kann, daß sich das Christentum hier im Osten schon früher ausgebreitet hat.

Wenn Sie dieses, was ich aufgezeichnet habe, verfolgen, so werden Sie finden: Da sitzen also die griechisch-römischen Völker; aber in die­sen Gegenden ist in urältesten Zeiten überall noch eine uralte Bevölke­rung, eine uralte Bevölkerung von Europa, die sehr interessant ist. Diese Bevölkerung von Europa, die ich Ihnen jetzt auf der Zeichnung mit roter Farbe anstreichen werde, die war zur Zeit, als das Christentum von Süden nach Norden heraufstieß, schon mehr nach den westlichen Gegenden zurückgedrängt. Denn alle diese Völkerschaften waren ur­sprünglich gar nicht in diesen Gegenden, sondern eben nur zu der Zeit, als das Christentum sich ausbreitete; sie waren alle mehr im Osten drüben. Alle diese Völkerschaften muß man sich wohnend an der Grenze zwischen Asien und Europa vorstellen. Und dasjenige, was heute die Slawen sind, die sind noch weiter in Asien drinnen.

Die Frage ist nun diese: Wenn wir nämlich in Zeiten vor der Ent­stehung des Christentums zurückgehen, so müßte ich Ihnen diese ganze Karte von Europa mit den roten Strichen anzeichnen; da war ganz Europa von einer alten keltischen Bevölkerung durchsetzt. Und all das­jenige, was später da in Europa ist, was ich Ihnen da aufgezeichnet, auf­geschrieben habe, das ist eigentlich erst später - die paar Jahrhunderte vor, die paar Jahrhunderte nach der Entstehung des Christentums -von Asien herübergekommen. Und da entsteht die Frage: Ja, warum wandern diese Völkerschaften da auf einmal herüber? Diese Völker­schaften sind in einer gewissen Zeit der Weltgeschichte in Bewegung gekommen; sie drängten herüber nach Europa. Das ist aus dem folgen­den Grunde gewesen: Wenn Sie sich das heutige Sibirien anschauen, so ist das eigentlich eine riesige öde Fläche, die sehr wenig bevölkert ist. Dieses Sibirien, das war vor noch nicht gar zu langer Zeit, nämlich nicht lange vor der Entstehung des Christentums, ein paar Jahrhunderte vorher, noch viel niedrigeres Land, und dieses niedrigere Land war ver­hältnismäßig warm. Und dann hat es sich gehoben. Es braucht sich ein Land nicht sehr stark zu heben, dann wird es doch, während es vorher

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warm war, kalt in den Ländern, und die Seen trocknen aus, und es wird öde. Das hat also die Natur hier selber bewirkt, daß die Menschen von Osten nach Westen herübergezogen sind.

Die keltische Bevölkerung in Europa, das war eine sehr interessante Bevölkerung. Auf die keltische Bevölkerung stießen ja die nach Westen wandernden Völker. Sie war eine verhältnismäßig friedliche Bevölke­rung. Die keltische Bevölkerung in Europa hat nämlich durchaus noch dasjenige gehabt, was man ein ursprüngliches Hellsehen nennen kann, ein richtiges ursprüngliches Hellsehen. Wenn diese Menschen sich an irgendein Handwerk gesetzt haben, dann haben sie gedacht: bei diesem Handwerke, da helfen ihnen die Geister. Und wenn einer fühlte, er kann geschickt Stiefel machen - Stiefel hatte man zwar noch nicht, aber solche Dinge, mit denen man die Füße bedeckte -, da sah er in seiner Geschicklichkeit drinnen Geisterhilfe. Und er konnte wirklich auch dasjenige wahrnehmen, was ihm da aus der geistigen Welt heraus half. Diese alten keltischen Menschen, die haben also ihr Leben noch durchaus so angesehen, daß sie mit der geistigen Welt in gewissem Sinne «auf du und du» waren. Und daher haben auch diese Völkerschaften sehr schöne Dinge hervorgebracht. Die keltische Bevölkerung ist auch in Italien in uralten Zeiten eingedrungen, hat viel Schönes hingebracht, wodurch sich abgeschliffen hat die rohe römische Lebensart, die durch das Räubervolk gekommen ist. Gerade durch das Eindringen von kel­tischer Bevölkerung ist die ursprüngliche römische Roheit etwas ge­mildert worden.

Also hier war überall in alten Zeiten keltische Bevölkerung in Eu­ropa. Im Süden war dann die römisch-griechische, romanisch-griechi­sche, lateinisch-griechische Bevölkerung. Und, wie gesagt, durch die Hebung von Sibirien, wodurch Sibirien öde geworden ist, bewegten sich diese Völkerschaften herüber. Und zur Zeit, als das Christentum von Süden nach Norden heraufstieß, schaute eben die Karte von Europa so aus (auf die Zeichnung deutend).

Es ist sehr merkwürdig, meine Herren: Gewisse Eigenschaften der Völker erhalten sich gut, andere Eigentümlichkeiten erhalten sich wenig. Man muß zum Beispiel folgendes bemerken: Unter den Völkerschaften, die da von Asien nach Europa herüberzogen, waren auch die Hunnen,

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die als ihren mächtigsten König Attila hatten. Aber Attila ist ein goti­scher Name! Denn Attila heißt Väterchen im Gotischen. Weil viele von den Völkerschaften, die ich Ihnen hier aufgeschrieben habe, auch den Hunnenkönig Attila anerkannten als ihren König, hat er einen goti­schen Namen bekommen. Aber diese Hunnen unterschieden sich ganz stark von den andern Völkerschaften. Und das kam dadurch, daß alle diese mehr wilderen Völker, die da herüberkamen, ursprünglich in Asien Bergvölker gewesen waren. Die etwas zahmeren Völker, die herüber-kamen, wie die Goten, das waren mehr Völker der Ebene. Und die wil­den Taten der Hunnen und auch später die wilden Taten der Magyaren, die rührten davon her, daß das ursprünglich in Asien Bergvölker ge­wesen waren.

Es ist ja so gekommen, daß die Römer immer mehr und mehr - also unabhängig vom Christentum - ihre Herrschaft nach Norden ausge­dehnt haben, und da stießen sie mit diesen Völkerschaften, die aus Asien herüberkamen, zusammen. Da entstanden viele Kriege zwischen den Römern und diesen Völkern, die hier im Norden waren. Ich habe Ihnen schon das letzte Mal den Namen erwähnt von einem sehr bedeu­tenden römischen Schriftsteller, Tacitus. Der hat viel über römische Geschichte geschrieben, aber er hat auch ein ganz großartiges, gewal­tiges Büchelchen geschrieben, das heißt «Germania». In dem hat er etwa hundert Jahre, nachdem das Christentum schon begründet war, die Völkerschaften, die da oben saßen, beschrieben, großartig beschrie­ben, so daß man in der Beschreibung von Tacitus diese Menschen wie lebendig vor sich hat. Aber ich habe Ihnen auch das andere gesagt: Der Tacitus schreibt als einer der gebildetsten Römer, aber er hat nicht mehr von dem Christentum zu sagen gewußt, als daß es begründet worden ist als eine Sekte in Asien drüben von einem gewissen Christus, der vom Gericht hingerichtet worden ist! Also der Tacitus hat in Rom in einer Zeit geschrieben, als die Christen noch geknechtet waren, als sie noch in ihren unterirdischen Katakomben lebten, eigentlich noch nicht ein­mal das richtig. Und da war also noch nichts vom Christentum unter diesen nördlichen Menschen.

Diese nördlichen Menschen haben aber damals auch eine Religion gehabt. Und das ist sehr interessant, was diese nördlichen Menschen

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für eine Religion gehabt haben. Erinnern Sie sich noch einmal, meine Herren, wie sich die religiösen Vorstellungen bei den südlichen und östlichen Völkern ausgebildet haben. Wir haben von den Indern ge­sprochen; die haben vorzugsweise auf den physischen Leib gesehen, also auf etwas vom Menschen. Die Ägypter haben auf den Atherleib ge­sehen - wiederum etwas vom Menschen. Die Babylonier und Assyrier haben auf den astralischen Leib gesehen - wiederum etwas vom Men­schen. Die Juden haben auf das Ich gesehen in ihrem Jahve - wiederum etwas vom Menschen. Nur von den Griechen - und das ist dann auf die Römer übergegangen - mußte ich Ihnen sagen: die haben vom Men­schen weniger gesehen, die haben ihren Blick mehr auf die Natur ge­wendet. Und die Griechen sind ja wirklich die großartigsten Natur-beobachter geworden.

Aber diese Menschen da hier im Norden, die haben überhaupt vom Menschen als solchem, vom innerlichen Menschen, nichts gesehen, weni­ger noch als die Griechen. Das ist interessant: Diese Menschen hier im Norden haben den inneren Menschen vollständig vergessen, und nicht einmal Erinnerungen hatten sie an dasjenige, was über den inneren Menschen hat gedacht werden können. Die Griechen und die Römer hatten wenigstens noch Erinnerungen; sie waren Nachbarn von den Völkerschaften überall in Vorderasien, von Agyptern, Babyloniern und so weiter; sie hatten Erinnerungen an dasjenige, was diese alten Völker­schaften gedacht hatten. Diese nordischen Völkerschaften, die blickten nur in die Umwelt, nur hinaus aus dem Menschen. Und sie sahen nicht die Natur, sondern außerhalb des Menschen die Naturgeister. Die alten Griechen sahen die Natur; diese Menschen hier im Norden sahen die Naturgeister. Daher sind gerade unter diesen Menschen die schönsten Erzählungen, Märchen, Sagen, Mythen entstanden, weil diese Menschen überall die Geister gesehen haben. Die Griechen sahen den hohen Berg, den Olymp; aber auf dem Olymp wohnten die Götter. Diese Menschen da im Norden, die sagten nicht: Auf einem Berg wohnen die Götter -, sondern die sahen gewissermaßen im Gipfel des Berges den Gott selber, weil ihnen der Gipfel des Berges nicht als Felsen erschien. Wenn auf dem Gipfel des Berges das Morgenrot erglänzte, den Berg übergoldete und so über die Berge hin die Morgensonne ging, da sahen diese Völkerschaften

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nicht den Berg, sondern dieses Webende von der Morgensonne über den Berg hinüber, das war ihnen das Göttliche. Das kam ihnen geisterhaft vor. Das war ihnen ganz natürlich, in dieser Weise das Geisterhafte über die Berge hingebreitet zu sehen.

Und die Griechen haben Tempel gebaut für die Götter. Im ganzen Asien drüben hat man Tempel gebaut für die Götter. Diese Menschen im Norden haben gesagt: Tempel, die bauen wir nicht. Was soll das heißen, Tempel bauen? Da drinnen ist es finster; aber über den Bergen, da ist es hell und licht. Und die Götter, das heißt, die Geister, die muß man so verehren, daß man auf den Berg hinaufgeht.

Nun haben sie nachgedacht darüber: Ja, wenn das Licht da über den Bergen glänzt - es kommt von der Sonne; aber die Sonne ist am wohl­tätigsten in der Mitte des Sommers, wenn die Johannizeit, so nennen wir sie heute, herankommt. Da sind sie dann auf die Berge hinaufge­stiegen, haben Feuer gemacht und feierten ihre Götter nicht im Tempel, sondern auf den hohen Bergen. Oder sie sagten: Ja, das Sonnenlicht und die Sonnenwärme, die setzen sich in die Erde hinein, und im Frühling kommt da wiederum aus der Erde heraus, was die Sonne bewirkt. Und deshalb muß man die Sonne verehren, auch wenn sie ihre Kraft aus der Erde herausschickt. Das haben sie besonders wohltätig in den Wäldern empfunden, wo viele Bäume herauswachsen, wie die Sonnenkraft aus der Erde zurückwirkt. Daher haben sie ihre Götter in Wäldern verehrt. Nicht in Tempeln, aber auf Bergen und in Wäldern.

Und, sehen Sie, alles haben sich diese Völkerschaften vergeistert ge­dacht. Die alten Kelten, die vertrieben worden sind von diesen Völker­schaften, die haben die Geister noch selber gesehen. Diese Völkerschaf­ten haben die Geister nicht mehr gesehen, aber in aller Natur haben sie, was als Licht erglänzte, was als Wärme da war, was in den Wolken als Luft wirkte, als göttlich angesehen. Und das war die alte germanische Religion, die alte Religion, die dann durch das Christentum vertrieben worden ist.

Das Christentum ist ja in diesen Gegenden auf zweierlei Art ge­kommen. Einmal ist es heraufgedrungen nach Südrußland hinein, auch in diese Gegenden, die heute Rumänien und Ungarn sind. Da hat eben dann der Wulfila die Bibel übersetzt. Da ist ein Christentum heraufgekommen,

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das viel echter war als das Christentum, das auf dem zwei­ten Weg, von Rom aus, sich dann überallhin ausgebreitet hat. Von Rom aus hat sich das Christentum mehr als Herrschaft ausgebreitet. Und man kann schon sagen: Wenn das Christentum, wie es hier herauf-gegangen ist im Osten durch Rußland, in der Zeit, als es noch keine slawische Bevölkerung da gab, wenn das Christentum sich da ausge­breitet hätte, so wäre es ganz anders geworden; es wäre mehr innerlich geworden, weil es viel mehr asiatischen Charakter gehabt hat. Ich habe Ihnen von der Monstranz und dem Sanktissimum geredet, das eigent­lich die Sonne darstellt und den Mond - aber das hat man vertuscht, das hat man nicht mehr gelten lassen. Und so hat sich ein wesenloser Kultus da ausgebreitet. Dieser wesenlose Kultus, der wurde dann hin­übergetragen durch einen Cäsaren nach Konstantinopel; die Stadt Kon­stantinopel wurde gegründet. Und in späterer Zeit breitete sich dann auch das veränderte Christentum über die andern Länder aus.

Das Christentum, das zum Beispiel in der Bibelübersetzung des Wulfila ist, das ist ja von Europa ganz verschwunden. Denn von hier aus breitet sich mehr das Kultus-Christentum, die Äußerlichkeiten, aus. Und im Osten breitete sich erst recht dasjenige aus, als die Slawen kamen, was mehr Kultus war, was eine sehr geringe Innerlichkeit hat.

Nun, das, was ich Ihnen über die religiösen Vorstellungen dieser Völker gesagt habe, das hat dann später eine gewisse Veränderung er­fahren. Immer geht es so zu unter den Menschen, daß sie ursprünglich wissen, worum es sich handelt; dann hört das auf, daß sie wissen, wor­um es sich handelt, und es bleibt nur noch eine Erinnerung. Es bleibt etwas Äußerliches. Und so haben sich denn aus den Göttern, die die Menschen gesehen haben, aus den Geistern überall in der Natur drei Hauptgottheiten gebildet: Der Wotan, der eigentlich schon noch so ähnlich vorgestellt worden ist wie Licht und Luft, das über alles hin­schwebt. Den Wotan hat man zum Beispiel verehrt, wenn es recht ge-stürmt hat; dann sagte man: Wotan ist im Winde, Wotan weht im Winde.

Das war nun eine Eigentümlichkeit bei diesen Völkerschaften, daß sie in ihrer Sprache dasjenige, was sie wahrnahmen in der Natur, her­ausbrachten. Nicht wahr, den Wotan verehrten sie als im Winde hinwehend.

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Spüren Sie, wenn ich sage: Wotan weht im Winde - die drei w! Es war diesen Leuten etwas Schauerliches, wenn der Sturm kam und sie dann dieses Stürmische nachahmten, indem sie sagten: Wotan weht im Winde! - So würden wir es heute sagen, aber es war ganz ähnlich in der alten Sprache noch.

Und wenn der Sommer kam und die Leute die Blitze sahen und den Donner hörten beim Gewitter, dann sahen sie auch darinnen Geistiges. Das ahmten sie in der Sprache nach, und den Geist, der im Donner rollt, den nannten sie den Donar: Donar dröhnt im Donner. - Daß das in der Sprache lag, das zeigt eben, daß diese Menschen mit der Außenwelt verbunden waren. Die Griechen waren noch gar nicht so stark mit der Außenwelt verbunden. Die Griechen, die hatten das mehr im Rhyth­mus gesucht als in der Bildung der Sprache. Bei diesen nordischen Völ­kerschaften lag es schon in der Sprache selber.

Und als zum Beispiel diese Völkerschaften nach Europa herüber-gingen und zuerst auf die Kelten stießen, so entstanden natürlich fort­während Kämpfe, Kriege. Bei diesen Kriegen und Kämpfen - das Kriegführen war ja dazumal etwas, was, als das Christentum sich aus­breitete, eigentlich immer da war - sahen sie im Sturm des Kampfes ebenso noch Geistiges; geradeso wie im wehenden Winde, im dröhnen­den Donner Geistiges gesehen wurde, so im Sturm des Kampfes. Es war ja so, daß die Leute Schilde hatten und mit diesen Schilden in geschlos­senen Reihen in Mengen vorstürmten, wenn sie kämpften. Als sie dann in den Kampf mit den Römern kamen und die Römer von Süden her vorstürmten, und diese Völker vom Norden herunterkamen, dann hör­ten die Römer vor allem ein furchtbares Geschrei: Aus tausend Kehlen schrien die in ihre Schilde hinein beim Vorstürmen. Und viel mehr als vor den germanischen Schwertern fürchteten sie sich vor dem, was da heranstürmte mit furchtbarem Geschrei. Und würde man so etwas Ähnliches, wie da die Völkerschaften in ihre Schilde hineinschrien und stürmten, würde man das heute nachahmen wollen, dann müßte man sagen, das klang so wie: Ziu zwingt Zwist! Ziu zwingt Zwist! - Ziu war der Kriegsgeist; von dem glaubten sie, daß er mit ihnen vorstürme. Wenn solch eine germanische Völkerschaft aus einem Stamme vor-stürmte, dann glaubte sie: Da ist unter ihnen ein geistiges Wesen, das

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zwingt Zwist. «Zwist» ist Krieg. Ziu zwingt Zwist! - und das stürmte nun in die Schilde hinein. Und die Römer hörten nun dumpf abgetönt dieses: Ziu zwingt Zwist! Ziu zwingt Zwist! - und das stürmte so hin über die Köpfe der Römer. Wie gesagt, vor dem hatten sie eine heillose Angst, mehr wie vor allen Bogen und Pfeilen und so weiter. Es war wirklich etwas, wo das Geistige drinnen in dem Mut, in der Kampfes-lust dieser Menschen lebte.

Sehen Sie, wenn diese Menschen, so wie sie damals waren, wieder aufstehen würden - sie stehen natürlich auf, da sich die Menschen wie­der verkörpern, aber da haben sie die Geschichte vergessen -, aber wenn sie so aufstehen würden, wie sie damals waren und sehen würden die jetzige Bevölkerung, ja, die würden der jetzigen Bevölkerung gleich Schlafmützen aufsetzen! Denn die würden sagen: Das paßt ja nicht für einen Menschen, wenn er so ist, daß er als eine Schlafmütze herumgeht! Der soll eine Schlafmütze aufsetzen und sich ins Bett legen. - Die haben ganz andere Lebensauffassungen gehabt, die waren beweglich.

Dann gab es natürlich auch Zeiten, in denen diese Völkerschaften nicht Krieg führen konnten. Aber, meine Herren, wenn sie nicht Krieg führten, da hatten sie Bärenfelle, auf die legten sie sich, und dann tran­ken sie - fürchterlich tranken sie. Das war die zweite Beschäftigung. Nun, dazumal hat man es als Tugend aufgefaßt; es war ja auch nicht ein ganz so gefährliches Getränk wie das heutige, es war ein verhältnis­mäßig harmloses Getränk, das aus allerlei Kräutern gebraut war. Das Bier ist später daraus geworden, aber sehr verändert natürlich. Aber das haben diese Völkerschaften in großen Mengen getrunken. Da haben sie sich erst als Mensch gefühlt, wenn dieser Met, dieses bierartige, süß­liche Getränk süß durch ihren ganzen Körper ging. Manchmal kommt man noch auf Leute, bei denen man sehen kann, wenn sie sich noch ein bißchen so als Nachkommen der alten Germanen fühlen, wie da in ihnen so etwas von dem lebt. So traf ich einmal in Weimar einen deut­schen Dichter, der trank fast so viel wie die alten Germanen! Er trank aber natürlich Bier. Die alten Germanen tranken dieses metartige Bier. Wir kamen ins Gespräch, und da sagte ich zu ihm: Ja, es ist doch ei­gentlich unmöglich, daß man so viel Durst haben kann! - Und da sagte er: Ja, Durst - wenn ich Durst habe, so trinke ich Wasser; gerade wenn

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ich keinen Durst habe, trinke ich Bier. Wenn ich Bier trinke, so trinke ich das nicht für den Durst, das trinke ich für die Lustigkeit! - Und so war es bei diesen Germanen auch: sie wurden lustig, sie wurden tat­kräftig, wenn die metartige süßliche Flüssigkeit da durch ihre Glieder rann, wenn sie auf ihren Bärenfellen lagen.

Die dritte Hauptbeschäftigung war dann die Jagd. Und der Acker­bau wurde eigentlich in der damaligen Zeit ziemlich nebensächlich betrieben, von den unterworfenen Völkern. Wenn eine solche Völker­schaft sich ausbreitete, da war es eben so: Es wurden andere unter­worfen; die mußten dann den Ackerbau verrichten. Das waren unfreie Menschen. Und wenn Krieg kam, dann mußten sie sich anschließen; da mußten die die Waffen tragen und so weiter. Es war natürlich in dieser Zeit ein großer Unterschied zwischen der freien Bevölkerung und der unfreien. Die freie Bevölkerung, die also Krieg führte, Jagd betrieb, auf den Bärenhäuten trinkend lag, die kam zur Ordnung der Angele­genheiten zusammen. Und wenn man da zusammenkam, da besprach man die Angelegenheiten richterlicher Natur oder Verwaltungsnatur und so weiter, alles, was notwendig war. Aufgeschrieben wurde nichts, denn schreiben konnte man dazumal nicht. Es wurde alles nur münd­lich verhandelt. Und Städte gab es ja nicht; die Leute wohnten zerstreut in Dörfern. Sie bildeten immer eine Art Gemeinschaft zu hundert und hundert Dörfern, also hundert Dörfer ungefähr zusammen. Die ge-hörten dann zusammen; die nannte man eine Hundertschaft. Und wiederum große Zusammenhänge von Hundertschaften waren dann ein Gau. Und die Hundertschaften hatten ihre Versammlungen, die Gaue hatten ihre Versammlungen. Für diejenigen Menschen, die da zusammenkommen durften, für die Freien, herrschte in dieser Bezie­hung eigentlich durchaus Demokratie. Und man nannte dasjenige, was da abgehalten wurde, nicht Reichsrat, nicht Reichstag, das sind Worte, die später aufgekommen sind, sondern man nannte das, weil man einen bestimmten Tag bestimmt hatte, wo man zusammenkam, und man alles, was man nicht bestimmt bezeichnete, ein Ding nannte - Sie können das heute noch hören, wenn Sie einen Engländer zum Beispiel hören und er von etwas spricht, wovon ihm nicht gleich der Name einfällt, immer hören: thing = Ding; das hört man heute noch -, man nannte

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das ein «Tageding». Das Wort «Ding» ist heute schon in Mißkredit gekommen. Ich bin einmal dadurch schief angekommen. Ich wurde einmal beauftragt, eine Resolution, die verfaßt worden war, in Worten aufzusetzen, und da habe ich «Ding» in diese Resolu4on hineinge­bracht; und das hat mir der Vorsitzende dazumal, der ein sehr be­rühmter Astronom war, furchtbar übelgenommen, weil das in unserer Zeit ein so furchtbares Wort ist; das darf man nicht gebrauchen, wo ernsthafte Leute zusammenkommen! Aber in alten Zeiten hat man das so genannt: Ding. Man hat nicht gesagt: Reichstag, sondern man hat gesagt: Man geht zum Tageding. - Und wenn einer geredet hat, so hat man gesagt, er vertagedinge die Sache. Und sehen Sie, aus dem Wort «vertagedingen» ist durch Umwandlung das Wort «verteidigen» ent­standen. So haben sich später Worte nachgebildet: verteidigen ist aus vertagedingen entstanden. Es ist heute nur noch beim Gericht das Wort «der Verteidiger» üblich. Hier in der Schweiz sagt man ja nicht Ver­teidiger, sondern Fürsprech, aber überall anderswo sagt man Ver­teidiger. Also so haben diese Menschen mit ihren Göttern und Geistern untereinander gelebt. Und diesen Menschen haben dann die südlichen Völker das Christentum gebracht.

Aber wiederum ist auch da im Westen das Christentum auf zwei­fache Weise entstanden. Es ist zum Teil direkt von Rom heraufgebracht worden; aber eine andere Linie gab es noch, in der sich das Christen­tum ausgebreitet hat, und das war diese: von Asien herüber, mehr über die ganz südlichen Gegenden hier, wo das lateinisch-römische Element keinen großen Einfluß gewonnen hat, über Spanien herüber nach Ir­land. Und in Irland war in den ersten christlichen Jahrhunderten eine sehr reine Art, das Christentum zu verbreiten. Und diese Art, in Irland das Christentum zu verbreiten, die hat sich auch nach Wales, hier her­über, ausgedehnt. Und von da aus sind nun auch christliche Missionare nach Europa hereingezogen. Die haben zum Teil das Christentum ge­bracht; zum Teil ist es von Rom heraufgekommen.

Sehen Sie, meine Herren, ich habe Ihnen gesagt, daß zum Beispiel in den Klöstern und auch noch an den ersten Universitäten viel vorhanden war von der alten Wissenschaft, so daß man mit dem Christentum die alte Wissenschaft verbunden hat. Das, was sich da erhalten hat von der

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alten Sternenweisheit, was in Europa später ganz verschwunden ist, L5t eigentlich alles von Irland gekommen. Von Rom aus hat sich im Grunde genommen bloß der Kultus verbreitet. Und erst später war es, als dann Mitteleuropa sich hingewendet hat zum Evangelium, daß das Evangelium eben zum Kultus hinzutrat. Sehen Sie, es ist wirklich in Europa allmählich das Christentum ganz und gar in die weltliche Herr­schaft übergegangen. Und die guten Elemente des Christentums, die vorhanden waren hier herauf, wo dann die gotische Bibelübersetzung des Wulfila entstanden ist, und diejenigen, die herübergekommen sind von Irland, die sind eigentlich später mehr oder weniger ganz ver­schwunden. Von Rom aus ist man nämlich eigentlich sehr schlau vor­gegangen. In diese Völkerschaften, die ich Ihnen hier aufgeschrieben habe und die ursprünglich durch die Natur selbst gedrängt waren, von Asien nach Europa herüberzuwandern - sie konnten dort nicht bleiben, weil das Land öde geworden ist -, ist aber eine gewisse Wanderlust ein­gezogen. Und es ist merkwürdig, was da alles vorgeht.

Hier ist zum Beispiel die Elbe. Da heroben an der Elbe wohnte eine Völkerschaft in der Zeit so gleich nach dem Auftreten des Christen­tums: das waren die Langobarden. Sie wohnten da im Nordosten von den Sachsen, an der Elbe. Bald darauf, zwei Jahrhunderte darnach, finden wir diese selben Langobarden da unten am Po, in Italien! Da sind dann also die Langobarden hier herübergewandert. Wir finden in der Zeit, als das Christentum noch nicht da war, aber schon entstanden war, die Goten, die Ostgoten hier am Schwarzen Meere. Bald darauf, einige Jahrhunderte darauf, finden wir sie hier, wo früher die Vandalen und Westgoten gesessen haben. Die Westgoten wanderten wieder weiter nach Westen. Wir finden die Westgoten nach einiger Zeit hier in Spa­nien. Die Vandalen finden wir hier an der Donau. Wenige Jahrhunderte darnach sind die Vandalen überhaupt nicht mehr in Europa, sondern da drüben in Afrika, Italien gegenüber. Diese Völkerschaften wander­ten jetzt. Und gerade als das Christentum sich ausbreitete, wanderten diese Völkerschaften; immer mehr nach Westen stießen sie. Die Slawen kamen da erst viel später nach.

Und was entstand denn da im Westen? Die Römer haben ja die Weltherrschaft gehabt, schon seitdem das Christentum entstanden war.

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Die Römer haben sich eigentlich außerordentlich schlau benommen. Die Römer waren in der Zeit, als diese Völkerschaften dann nach Westen hinüberkamen und gegen das Römertum vorstießen, eigentlich schon ziemlich ausgemergelte Kerle, schwach geworden, ziemlich gräß­liche Kerle, und sie konnten eigentlich nicht mehr viel anderes, als mit ihren Unterschenkeln zittern und beben, wenn von da oben dieses:

Ziu zwingt Zwist! - in diese Schilde rollte. Da zitterten sie wie Espen­laub. Aber im Kopf waren sie schlau, stolz, übermütig, hochmütig.

Nun, diese Völkerschaften waren notwendigerweise anders geartet. Es war natürlich ein großer Unterschied zwischen diesen Menschen da unten; die hatten ihre Länder, ihre Äcker, waren festsitzend. Sie hatten etwas hinter sich. Diese Völkerschaften da oben gaben nicht viel auf den Ort: sie wanderten. Und so kam es denn, daß die Römer vielfach diese Völkerschaften, die da nach Süden stürmten, aufnahmen. Sie gaben ihnen Länder, denn die Römer hatten überall Länder im Über­fluß. Sie konnten ihnen Länder geben. Und so kam es, daß diese Völ­kerschaften übergingen von Jagd und Krieg zu Landbau, zu Ackerbau. Aber indem ihnen die Römer Länder gaben - wie ging es denn dabei zu? Ja, diese germanischen Völkerschaften, die hatten nun die Länder; sie konnten die Äcker umgraben. Sie konnten das, aber die Verwaltung leisteten die Römer! Dadurch machten sich die Römer allmählich zum Herrscher. Und dieses Herrschen, das war am stärksten hier im Westen. In dem Gebiet, das später von Deutschen bevölkert wurde, da wehrten sich die Menschen lange. Aber solche Menschen wie die Goten, die zogen nach Italien hinein, kamen da mit den Menschen von dort zusammen, wurden aufgenommen, und die römisch-lateinische Bevölkerung war schlau. Was taten sie? Nun, sie sagten: Wenn wir das Schwert führen, da geht es nicht mehr recht. - Es waren eben ausgemergelte Kerle ge­worden. Was taten sie? Da haben sie aus den Menschen, die da hinein-kamen, Krieger gemacht! Wenn dann die Römer Krieg führen wollten, so haben sie ihn mit den Germanen geführt, so waren die das Kriegs-volk! Die haben ihre Äcker bekommen, mußten aber dafür Krieg füh­ren. Diejenigen, die oben waren als Germanen, die wurden von ihren eigenen früheren Brüdern bekriegt! Die Römer bekriegten sie unter der Führung der Germanen! Und so haben wir in der ersten Zeit, als das

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Christentum sich ausbreitete, Kriege, die eigentlich von der südlichen Bevölkerung, der römischen Bevölkerung geführt werden mit Hilfe der Germanen selber, die unter ihnen aufgegangen waren. Die römischen Heere bestanden höchstens in ihren Führern aus Römern. In der Masse der Soldaten bestanden sie eigentlich aus römisch gewordenen Germa­nen. Und nun handelte es sich darum, von Rom aus auch das religiöse Element in einer entsprechenden Weise einzuführen, so daß diese Men­schen darauf eingingen. In diesen ältesten Zeiten hing der Mensch viel mehr an seiner Religion als später. Und so kam zum Beispiel das Fol­gende. Diese Menschen, die ja überall in der Natur Licht und Luft als das Geistige sahen, haben es schwer empfunden, wenn der Schnee kam im Oktober, November, wenn der Schnee die Erde bedeckte und dann eigentlich alles Geistige verschwinden muß. Dagegen haben sie die Zeit, wo heute unser Weihnachten liegt, besonders verehrt. Da haben sie gefühlt: Jetzt kommt die Sonne wieder. Es war das Wintersonnwend­fest. Die Sonne wendete sich wiederum zu den Menschen. Und so war eine vergeistigte Natur durchaus noch das, was diese Völkerschaften annahmen.

Die Römer, die also das Christentum schon aufgenommen hatten im Herrschaftsprinzip, die haben den Germanen dieses Sonnwendfest durchaus gelassen. Aber sie haben gesagt: Da feiern wir nicht die Sonn­wende, sondern die Geburt Christi. - Und da konnten die Germanen zur selben Zeit, wo sie früher gewohnt waren, ihr Fest zu feiern, nur mit einer andern Bedeutung, das Fest weiter feiern.

Nun, die Germanen haben überall, man möchte sagen, unter jedem bedeutenden Baum irgendeinen Geist gesehen. Die Römer haben den Geist zu einem Heiligen gemacht! Und so haben sie alles, was in der alten heidnischen Religion enthalten war, im Grunde genommen um­getauft. Dadurch haben diese Menschen das weniger bemerkt, und in dieser Form ist eigentlich dann das Christentum verbreitet worden unter den germanischen Völkern. Solche Festlichkeiten wie die, wenn die Sonne wieder kommt, wie zum Beispiel das Fronleichnamsfest und so weiter, die sind gerade unter dem Gesichtspunkt begangen worden, daß eben die alten Deutschen geliebt haben, die Götter im Freien zu feiern, in Berg und Wald.

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So daß man also sagen kann: Von Rom aus wirkte in der neueren Zeit, also seit der Begründung des Christentums, vorzugsweise die Schlauheit. Und im Grunde genommen ist Europa mit der Schlauheit regiert worden durch viele Jahrhunderte - mit der römischen Schlau­heit. Es ist das so weit gegangen, daß die Römer die alte lateinische Sprache auch immer in den Schulen bewahrt haben, und die Volks­sprache wurde eigentlich nur unter dem Volk gesprochen. Als die Römer dann mit dem Christentum die Wissenschaft einführten, da wurde nicht in der Volkssprache gesprochen - das kam nämlich erst im 18.Jahrhundert -, sondern da wurde überall in der lateinischen Sprach& die Wissenschaft vorgetragen. So lange machte sich das Römer-tum auch in seiner ursprünglichen Gestalt bemerkbar.

Was geschah aber im Westen, durch Spanien, Frankreich bis hinein nach England? Sehen Sie, da blieb wirklich das Römertum lebendig. Daher entstand die Sprache, in der das Römertum fortlebt. Hier, in Mitteleuropa, siegte mehr das germanische Element. Da entstanden die germanischen Sprachen. Hier drüben siegte das romanische Element; daher entstanden die romanischen Sprachen. Aber dem Stamme nach sind ja alle diese Menschen, die da waren, eigentlich sowohl die, die nach Spanien, wie diejenigen, die nach Italien gewandert sind, Ger­manen. Ich habe Ihnen die ripuarischen Franken, die salischen Franken aufgeschrieben, die sind später da herübergezogen - sie waren alle ger­manische Völkerschaften, besiedelten Frankreich. Nur hat sich über diese Franken, die da in Frankreich eingezogen sind, wie eine Wolke die romanische Sprache verbreitet, aus der das Französische geworden ist oder das Spanische geworden ist. Da lebt das alte Lateinische in ver­änderter Form fort.

Nur weiter im Osten, vom Rhein an, da haben die Menschen als Volk sich gesagt: Nun, die Gelehrten dadrinnen in den Schulen, mit ihren Perücken, die mögen lateinisch reden, und diejenigen, die Pfarrer werden wollen, die können ihnen ja zuhören; aber das Volk, das hat die Sprache bewahrt, behalten. - Und dadurch entstand der Gegensatz, an dem Europa heute noch nagt, dieser Gegensatz zwischen Mitteleuropa und Westeuropa.

Vom Osten kamen die Slawen allmählich nach. Nicht wahr, ich

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mußte Ihnen ja sagen: Diese Völkerschaften kommen herüber nach dem Westen, wo sie zum Teil verschwinden, zum Teil auch eine andere Sprache annehmen und so weiter, dann kamen die Slawen nach, siedel­ten sich im Osten von Europa an, drangen an manchen Stellen ziemlich weit vor. Hier zum Beispiel vermischte sich das alte germanische Ele­ment mit dem slawischen Elemente; aus bestimmten Gründen, die ich Ihnen das nächste Mal anführen werde, bekamen die Slawen im Osten den Namen «Russen»; dagegen diejenigen, die nun da vorzogen in diese Gegenden, die verschwanden unter den Germanen. Es blieb eine Blut-mischung. Und da entstanden dann die Borussen, diejenigen, die der Vordertrupp der Russen sind. Aus Borussen wurde dann «Preußen»! Das ist ja nur das umgewandelte Wort. Da ist sehr viel slawisches Blut drinnen. Während die Slawen selber, wenn sie zurückbleiben, mehr passiv sind, mehr eine ruhige Bevölkerung sind, werden sie, wenn sie anderes Blut aufnehmen, kampflustig! Diese Kampflust, die im alten Germanentum war, die geht dann in sie über. Und so ist dasjenige, was in Preußen war, eine ziemlich kampflustige Bevölkerung geworden; auch das, was nach dem Westen hinübergezogen ist, auch die tschechi­sche Bevölkerung, ist eigentlich eine ziemlich kampflustige Bevölke­rung geworden.

Und so hat sich Europa, ich möchte sagen, selber umgerührt. Und in diesen Rührbrei ist das Christentum hineingekommen. Nun, da wol­len wir dann das nächste Mal weiterfahren.

SECHSTER VORTRAG Dornach, 19. März 1924

#G353-1968-SE099 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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SECHSTER VORTRAG

Dornach, 19. März 1924

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Die Frage, die gestellt worden war, meine Herren, ist ja eine recht aus­führliche, und wir müssen schon noch ein paarmal einiges davon be­sprechen.

Ich möchte nun heute doch noch Genaueres sagen über die spätere Ausbreitung des Christentums. Das Christentum, wenn es heute be­trachtet wird, zeigt sich ja in drei Gestalten. Diese drei Gestalten muß man ins Auge fassen, wenn man in der richtigen Weise von den heutigen Begriffen aus zurückgehen will auf dasjenige, was eigentlich durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist.

Betrachten wir die Sache zunächst in bezug auf Europa. Ich habe Ihnen schon neulich gesagt, wie das war: Wir haben dadrüben Asien, und Europa ist eigentlich so eine Art Halbinsel von Asien. Es sieht ja, wie Sie wissen, so aus (es wird eine Landkarte entworfen). Hier wäre Norwegen, hier geht es gegen Rußland hinüber, hier kommen wir her­über nach der deutschen Nordküste; hier haben wir dann Dänemark. Da kommen wir herüber nach Holland, Frankreich, und hier würde Spanien sein. Hier kommen wir nach Italien, Griechenland; hier würde das Schwarze Meer sein, und da geht es nach Asien hinüber. Unten ist dann Afrika.

Nun, sehen Sie, in unserer gegenwärtigen Zeit ist es schwer, über die Ausbreitung des Christentums zu sprechen, weil gegenwärtig auch be­sondere Verhältnisse in bezug auf diese Dinge herrschen. Aber wenn man sich das Christentum in diesen Gegenden Rußlands anschaut, da­mals, wie es war vor dem Weltkriege, dann kommt man darauf, sich zu sagen: Dieses östliche Christentum hat noch mehr von dem ursprüng­lichen religiösen Charakter von Asien, von dem ich Ihnen in seinen verschiedenen Gestalten bei den Ägyptern, bei den Indern, bei den Assyriern gesprochen habe. Vieles von dem, was an Kultushandlungen zum Beispiel, also an Opferhandlungen, üblich war, was man in Asien sehr gut verstanden hat, das ist eingeflossen in die Religion, die dann vom Christentum durchsetzt worden ist in diesen östlichen Gegenden.

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Wenn man die Religion in diesen östlichen Gegenden kennenlernt, dann hat man unmittelbar die Empfindung: Da kommt es eigentlich viel mehr auf den Kultus an als irgendwie auf die Lehre. Die Lehre will in menschlichen Worten zum Ausdruck bringen, was der geistigen Welt angehört, oder wenigstens was das menschliche Gefühl von der gei­stigen Welt erfassen kann. Die Lehre, die ist auch dasjenige, an das der Mensch immerfort heran will mit seiner Vernunft. Der Kultus dagegen ist etwas, was man hat, was viel konservativer bleibt. Und wo der Kul­tus besonders herrschend ist, da trägt auch die Religion einen konser­vativen Charakter. So daß man schon sagen muß: Die östliche Religion hier, die trägt einen konservativen Charakter, gibt viel mehr auf den Kultus als den eigentlichen inneren Anstoß der Religion, des religiösen Lebens im Menschen, als die mehr westlichen Religionen

Nun, die zweite Strömung des Christentums ist von Rom ausge­gangen und hat sich nach dem Norden ausgebreitet, ist dann stark von Irland aus beeinflußt worden, von wo die Missionare herübergekom­men sind. Dieses von Rom aus beeinflußte, südliche mitteleuropäische Christentum, hat zwar auch den Kultus bewahrt, aber schon viel mehr Wert auf die Lehre gelegt als das östliche Wesen. Daher wird der Kul­tus in seiner Bedeutung von dem römischen Katholizismus schon viel weniger gefühlt als die Predigt, die Lehre. Und es gab über den eigent­lichen Inhalt der Lehre innerhalb der römisch-katholischen Kirche viel mehr Streitigkeiten als in der östlichen Kirche.

Dieses Christentum hat aber noch einen andern Einfluß erlebt. Sehen Sie, das Christentum ist ja im Anfang unserer Zeitrechnung ent­standen. Etwa sechs Jahrhunderte darnach, fünf bis sechs Jahrhunderte darnach ist dann der Islam entstanden. Ich habe Ihnen neulich Arabien mit aufgezeichnet. Wenn ich Kleinasien da noch einmal aufzeichne, so kommen wir hier herunter zu Arabien, würden hier nach Indien hin­übergehen; da würde dann Afrika sein, hier Ägypten. Nun, hier in Arabien entstand durch Mohammed der Islam. Dieser Islam breitete sich damals in der zweiten Hälfte des ersten christlichen Jahrtausends sehr schnell aus. Und zwar breitete er sich von Asien herüber aus, zu­erst gegen Syrien herüber bis an das Schwarze Meer, dann durch Afrika herüber nach Italien, Spanien, bis hinauf in den europäischen Westen.

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Dieser Islam hat eine besondere Eigentümlichkeit: er vereinigt in seiner Religion das phantastische Element mit einem ungeheuer nüchternen verstandesmäßigen Element. Der Hauptgrundsatz der mohammeda­nischen Religion, die sich im 7., 8., 9. Jahrhunderte rasch ausgebreitet hat über den Süden und Westen Europas und in Asien drüben, ist der:

Es gibt einen einzigen Gott, der euch durch Mohammed verkündigt wird.

Man muß nun nur richtig einsehen, was das eigentlich in der Welt­geschichte bedeutet, daß Mohammed den Grundsatz verfocht: Es gibt nur einen Gott. Warum wurde denn das von Mohammed so stark be­tont? Mohammed hat schon das Christentum gekannt; und das Chri­stentum hat zwar nicht drei Götter, aber es hat drei göttliche Gestalten. Das spürt man nur heute nicht mehr. Man spürt heute nicht, daß das Christentum vom Ursprung an nicht drei Götter, aber drei göttliche Gestalten hat: Vater, Sohn und den sogenannten Heiligen Geist.

Was heißt das? Sehen Sie, «Person» heißt nämlich ursprünglich in der lateinischen Sprache gar nichts anderes als Gestalt, Maske, das­jenige, was sich nach außen offenbart. Und im ursprünglichen Chri­stentum hat man nicht von drei Göttern geredet, sondern von drei Ge­stalten, in denen sich der eine Gott offenbart. Und man hat auch noch empfunden, wie es mit diesen drei Gestalten steht.

Wollen wir einmal darauf sehen, wie es mit diesen drei Gestalten eigentlich steht. Nicht wahr, heute, wo neben der Religion eine ausge­sprochene Wissenschaft da ist, kann man das ja gar nicht mehr ver­stehen. Denn die Wissenschaft wird heute ganz unabhängig von der Religion getrieben, und man sieht eigentlich nicht hin nach dem religiö­sen Leben, wenn von dem wissenschaftlichen Leben die Rede ist. Das war in alten Zeiten nicht der Fall, auch nicht in den ersten Zeiten des Christentums; sondern da war es so, daß man mit der Religion zugleich alle Wissenschaft, die es gegeben hat, empfangen hat. Es waren auch keine besonderen Priester und besonderen Lehrer da, sondern es waren eben diejenigen da, die zugleich Priester und Lehrer waren. Das war insbesondere in dem der Fall, was ich Ihnen als die letzten Mysterien geschildert habe.

Nun, da sah man zunächst, daß der Mensch ein natürliches Wesen

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ist. Der Mensch ist ein natürliches Wesen, indem er mit Hilfe von Naturkräften als physischer Mensch aus dem Mutterleibe geboren wird. Da wirken - so dachte man nicht, so fühlte man - die Naturkräfte im Menschen. Wenn ich darauf sehe, wie der Mensch als physisches Wesen entsteht, so schaue ich auf Kräfte, die ich auch finde, wenn ich draußen den Baum wachsen sehe, die schließlich auch vorhanden sind, wenn das Wasser verdunstet, der Regen herunterfällt. Es sind Naturkräfte. Aber hinter diesen Naturkräften hat man im Altertum die geistigen Kräfte gesehen. Uberall in der Natur sind die geistigen Kräfte tätig. Wenn im Berg drinnen ein Kristall entsteht, wenn also der Stein wächst, sind die geistigen Kräfte tätig. Wenn die Pflanze im Frühling hervorkommt, sind die geistigen Kräfte tätig. Wenn das Wasser verdunstet, sich die Wolke bildet, das Regenwasser herunterfällt, sind die geistigen Kräfte tätig. Dieselben geistigen Kräfte sind im Menschen tätig, wenn er als Menschenkeim im Leibe der Mutter sich entwickelt. Dieselben geistigen Kräfte sind tätig, wenn sein Blut durch die Adern geht, sein Atem ein-und ausgeht. In allem, was man da als Geist in der Natur ansah, der auch im physischen Menschen gesehen wird, in dem sah man das Vater-prinzip, den Vater, weil Naturwissenschaft zugleich Religion war.

Man sagte sich: Derjenige, der im Mysterium zu der höchsten Er­leuchtung gekommen ist, der ist ein Abbild dieses Vatergeistes, der weiß Bescheid über alles, was überall in der Natur ist. - Das war die siebente Stufe, die Stufe, die der Mensch gehen konnte in den Mysterien, wenn er zur Vaterwürde aufgestiegen ist.

Die nächste Würde - ich habe es Ihnen gesagt - war die des Sonnen-geistes. Was verstand man denn unter dem Sonnengeist, den man dann später als Sohn bezeichnet hat? Daß der Christus sich selber wiederum als Sonnengeist bezeichnet hat, das habe ich Ihnen ja auseinander­gesetzt. Man sagte sich: Gewiß, der Mensch wird durch Naturkräfte geboren, durch dieselben Kräfte, durch die die Pflanze wächst und so weiter; aber wenn er auf der Erde lebt, da entwickelt er sich doch. -So wie er durch Naturkräfte geboren wird, so kann man zum Beispiel ebensowenig wie bei der Pflanze bei ihm reden von Gut und Böse. Es wird Ihnen nicht einfallen, eine Tollkirsche, weil sie als Gift auf den Menschen wirkt, böse zu nennen. Sie werden sagen: sie kann ja nichts

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dafür. Es lebt kein Wille in der Tollkirsche, wie er im Menschen lebt. Und so kann man auch nicht sagen, wenn man als Kind geboren wird, daß es durch die Naturkräfte gut und böse sein kann. Gut und böse wird es dann, indem sein menschlicher Wille allmählich heraufkommt; und im Gegensatz zu denjenigen Kräften, die in der Natur wirken, nannte man dann dasjenige, was im menschlichen Willen wirkt, was Gut und Böse im Menschen werden kann, den Gottsohn oder den Sonnengeist. Und derjenige, der im Mysterium bis zu der sechsten Stufe aufsteigen konnte, war nur sein Vertreter. Alle diese einzelnen Vertreter der sechsten Stufe waren Stellvertreter des Gottes auf der Erde. Und dann wußte man, daß eben die Sonne nicht nur ein Gaskörper ist; die Sonne gibt nicht nur Licht und Wärme, sondern auch die Kräfte, die den Willen entwickeln. Daher kommt eben von der Sonne nicht nur Licht und Wärme, sondern auch der Sonnengeist. Der Sohnesgott ist zugleich derjenige, der der Sonnengeist ist. So daß man also sagte: Die Vatergottheit, die ist überall in der Natur; die Sohnesgottheit, die ist überall da, wo Menschen freien Willen entwickeln.

Nun aber empfand man etwas ganz Eigentümliches. Man sagte sich:

Ja, aber wird der Mensch eigentlich, indem er einen freien Willen ent­wickelt und unter dem Sohnesgott steht, wird er dadurch mehr wert oder weniger wert? - Diese Frage stellte man sich auch noch zur Zeit, als das Christentum begründet wurde.

Meine Herren, sehen Sie sich irgendein Naturprodukt an, meinet-willen bis zum Tier herauf. Sie können zwar, wenn eine Kuh alt ge­worden ist, immerhin sagen, man bezahlt dann für diese Kuh weniger, als man bezahlt hat, als sie jung war. Also sie wäre weniger wert, als wo sie jung war. Nun, das ist schon ganz richtig; aber darauf kommt es dabei nicht an, sondern man ist sich klar darüber, daß die Kuh nicht durch etwas, was in ihrem Inneren als Wille wirkt, weniger wert ge­worden ist, sondern sie ist durch den Gang der Natur weniger wert geworden. Der Mensch aber, der im schlechten Sinne handelt, im schlechten Sinne seinen Willen entwickelt, der wird ja weniger wert, als er eigentlich von Natur aus ist! Daher braucht der Mensch noch eine dritte Gottheit, die ihn anleitet, seinen Willen wiederum gut zu machen, ganz gut zu machen, seinen ungesunden Willen zu heiligen. Und das

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war die dritte Gestalt der Gottheit: der Heilige Geist, der in den My­sterien überall dargestellt worden ist durch die fünfte Stufe der Ein­weihung, die man also je nach dem Volk bezeichnet hat.

Und so haben diese alten Leute gesagt: Dreierlei Arten, wie sich die Gottheit offenbart, gibt es. - Sehen Sie, sie hätten sagen können: Es gibt einen Naturgott, einen Willensgott und einen Geistgott, wo der Wille wieder geheiligt, vergeistigt wird. - Sie haben auch so gesagt, denn die alten Wörter bedeuten das durchaus. «Vater» bedeutet eigentlich etwas, was mit dem Ursprung des Physischen zusammenhängt, etwas Natur­haftes. Nur in den neueren Sprachen ist die Bedeutung dieser Wörter verlorengegangen. Aber dann haben diese alten Leute noch etwas dazu-gefügt, wenn sie gesagt haben: Es gibt einen Naturgott, den Vater; einen Willensgott, den Sohn; und einen Gott, der alles, was im Men­schen durch den Willen krankhaft werden kann, wiederum heilt, den Heiligen Geist; aber - haben sie noch hinzugefügt - diese drei sind eins. - Sie haben also gesagt als ihren wichtigsten Satz, als ihre wichtig­ste Überzeugung: Es gibt drei Gestalten der Gottheit, aber diese drei sind eins.

Und dann haben sie noch etwas gesagt. Wenn man den Menschen anschaut, haben sie gesagt, so stellt sich bei ihm ein großer Unterschied gegen die Natur dar. Wenn man einen Stein anschaut: was wirkt da drinnen? Der Vater. Wenn man die Pflanze anschaut: was wirkt da drinnen? Der Vatergott. Wenn man den Menschen als physischen Men­schen anschaut: was wirkt da drinnen? Der Vatergott. Wenn man aber einen Menschen anschaut als seelischen Menschen, in seinem Willen:

was wirkt drinnen? Der Gottsohn. Und wenn man auf die Zukunft der Menschheit rechnet, wie sie einmal werden soll, wenn wiederum alles im Willen gesund werden soll: da wirkt der Geistgott. Alle drei Götter, sagte man, wirken im Menschen. Es gibt drei Götter oder göttliche Ge­stalten; die sind aber eins, und die wirken im Menschen auch als eine Einheit.

Das war die ursprüngliche Überzeugung des Christentums. Und wenn man zurückgeht in die ersten Zeiten des Christentums, so haben die Menschen noch eine Überzeugung ausgesprochen. Sie haben gesagt:

Nun, richtig, dieser heilende, dieser gesundmachende Geist, der muß

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auf zweierlei Weise wirken. Erstens muß er, weil die Natur krank werden kann, auf das Physische wirken, auf das, was vom Vatergott herkommt. Und weil der Wille auch gesund werden muß, muß er auf das, was vom Sohne herrührt, wirken. Sie sagten also: Dieser Heilige Geist muß wirken so, daß er vom Vater und vom Sohn zugleich aus­geht. - Das war die ursprüngliche Überzeugung des Christentums.

Nun, Mohammed hat eigentlich eine gewisse Angst bekommen. Er hat gesehen, wie das alte Heidentum, das viele Götter gehabt hat, ent­arten wird, schlecht werden wird, die Menschheit ruinieren wird. Nun hat er das Christentum aufkommen sehen und hat sich gesagt: Das hätte ja auch die Gefahr in sich, Vielgötterei zu treiben, nämlich drei Götter zu haben. - Er hat das nicht so durchschaut, daß das drei gött­liche Gestalten sind. Daher ist er in Opposition getreten, hat das beson­ders betont: Es gibt nur einen einzigen Gott, und den verkündet euch der Mohammed. Alles übrige, was über die Götter gesagt wird, ist falsch.

Diese Lehre wurde dann mit ungeheurem Fanatismus verbreitet. Nun, dadurch war im Mohammedanismus, im Islam, dieses Denken von den drei göttlichen Gestalten überhaupt nicht da. Man hat sich mehr darauf beschränkt, von dem einheitlichen Gott zu reden, den man dann eigentlich als den Vater von allem empfunden hat. Und deshalb hat auch der Islam immer mehr gedacht: Nun, wie der Stein keinen freien Willen hat, um so zu wachsen, wie er ist, wie die Pflanze keinen freien Willen hat, sondern gelbe oder rote Blüten von der Natur be­kommt, so wächst auch alles beim Menschen von der Natur herauf. -Daher ist diese starre Schicksalsidee im Islam entstanden - Fatalismus nennt man das -, daß der Mensch sich eigentlich einem ganz unbeding­ten, starren Fatalismus fügen muß: Ist er glücklich, ist es vom Vater-gott bestimmt; ist er unglücklich, ist es vom Vatergott bestimmt. Er muß sich nur hineinwerfen in dieses, wie man es nennt, Fatum.

Sehen Sie, meine Herren, das war die religiöse Seite des Mohamme­danismus. Aber gerade dadurch, daß der Mohammed im Menschen alles auch so gesehen hat, wie es in der Natur ist, dadurch war er im­stande, leichter die ganze alte Kunst und das ganze frühere Leben in sich aufzunehmen als das Christentum. Das Christentum hat ja hauptsächlich

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auf die Art und Weise gesehen, wie der menschliche Wille ge­heilt werden kann. Damit hat sich der Mohammedanismus nicht befaßt. Was soll man sich denn damit befassen? Ist das bestimmt, daß der Mensch schlecht wird, so ist es vom Vatergott bestimmt. Im Christen­tum hat man gesagt: Die alten Heiden, die haben hauptsächlich auf den Vatergott gesehen; da muß man dagegen den Sohnesgott setzen. - Mo­hammed, und namentlich seine späteren Anhänger, haben das nicht gesagt; die haben gesagt: Die alten Heiden haben, wenn sie auch viele Götter gehabt haben, doch auch das Naturhafte verehrt, in dem ja auch der eine Gott wirkt. - Daher hat sich in den Mohammedanismus hinein vieles von der alten Wissenschaft und Kunst fortgesetzt. Und es war schon so: Während zum Beispiel im 9. Jahrhunderte in Europa, im Frankenreich Karl der Große herrschte, der als einer der größten Herr­scher des Mittelalters bekannt ist und überall in der Geschichte ange­führt wird - er hat sich mit Mühe die Buchstaben angeeignet, er konnte noch nicht schreiben -, war dasjenige, was er in Kunst und Wissen­schaft getan hat, eine Kleinigkeit gegen dasjenige, was in Asien drüben entstanden ist unter dem Herrscher - Harun al Raschid hat er gehei­ßen -, der zur Zeit Karls des Großen im Islam, im Mohammedanismus wirkte. Da war viel Kunst und Wissenschaft, wie sie aus dem alten Heidentum geblieben ist. Und solche Kunst und Wissenschaft hat sich dann in Europa über den Süden nach Spanien herein verpflanzt.

Nun hat sich von Rom aus das Christentum ausgebreitet. Von Asien herüber, möchte ich sagen, ist das Christentum umgangen worden vom Mohammedanismus. Da waren ja auch starke Kämpfe zwischen dem Christentum und dem Mohammedanismus, den Mohammedanern, die sich in Europa festgesetzt hatten. Wirklich, der Mohammedanismus hat da etwas sehr Merkwürdiges gemacht. Sie wissen ja, wenn irgendwo eine Heeresmasse steht, so erreicht man in der Strategie manches, wenn man sie unbemerkt umgehen kann und sie von der andern Seite an­greifen kann. Das hat eigentlich der Mohammedanismus mit dem Chri­stentum gemacht; der hat es im Süden umgangen und hat es dann von der linken Flanke aus angegriffen.

Ja aber, wenn das nicht gekommen wäre, wenn sich bloß das Chri­stentum ausgebreitet hätte, dann hätten wir heute noch keine Wissenschaft!

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Das religiöse Element vom Mohammedanismus ist abgewehrt worden, das ist durch Kriege bekämpft worden. Aber das geistige Ele­ment, das sich nicht mit religiösen Streitigkeiten befaßte, sondern das die alte Wissenschaft fortgepflanzt hat, das ist mit dem Mohammeda­nismus nach Europa gekommen. Und das, was die Europäer da gelernt haben, das ist bis in die heutige Wissenschaft hineingeflossen. Daher haben wir heute in Europa eigentlich zweierlei in unserer Seele: Wir haben die Religion, die vom Christentum angeregt worden ist, und wir haben die Wissenschaft, die vom Mohammedanismus angeregt worden ist. Und das Christentum konnte sich auch hier nur so entwickeln, daß der Mohammedanismus es wissenschaftlich beeinflußte.

Dadurch aber ist gerade in diesem europäischen Westen eine um so größere Begierde entstanden, das Christentum immer mehr zu verteidi­gen. Wo der Kultus herrscht, da braucht man die Religion weniger zu verteidigen; da übt der Kultus einen großen Einfluß auf den Menschen aus. Hier war dann von Rom ausgehend der Kultus weniger herrschend, obwohl er bewahrt worden ist; die Lehre wurde herrschend. Aber die mußte man jetzt gegen den anstürmenden Mohammedanismus fort­während verteidigen. Eigentlich ist das ganze Mittelalter verflossen unter diesen Kämpfen, die vom Mohammedanismus aus geblieben waren, diese Kämpfe, die zuerst kriegerische Kämpfe waren, später geistige Kämpfe geworden sind. In der zweiten Hälfte des Mittelalters hat sich allmählich dasjenige, was man europäische Kultur oder Zivili­sation nennt, entwickelt. Was ist denn da allmählich geworden?

Drüben im Osten bis nach Rußland herein, ja bis nach Griechen­land, da konnte das Christentum gar nicht anders, als im Kultus den alten Überlieferungen treu bleiben. Aber was heißt denn das? Das heißt ja, äußere Handlungen vollziehen, wenn sie auch nur einen sinnbild­lichen Charakter haben. Da muß man sich nach der Natur richten. Da ist man viel mehr geneigt, den Vatergott zu betonen als den Sohnesgott. Und so wie bei Mohammed verstandesmäßig dieses Schicksalsprinzip aufgetaucht ist, daß man sich streng unterwerfen muß dem, was der Vatergott bestimmt, so ist dieser Vatergott auch im östlichen Christen­tum mehr zur Geltung gekommen, dem Sinne nach mehr zur Geltung gekommen als der Sohnesgott. Nur hat da eine merkwürdige Umschichtung

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des Denkens stattgefunden: An dem Christus haben diese Leute im Osten schon stark festgehalten, aber sie haben die Eigenschaf­ten des Vatergottes auf den Christus übertragen. Man hat auch die Ge­schichte hier etwas vernebelt, hat nicht so viel vom Sohnesgott gespro­chen, sondern man wurde Christ, erkannte Christus als seinen Gott an, aber man sah ihn mit den Eigenschaften des Vatergottes. So daß eigent­lich für diese östliche Religion die Ansicht entstanden ist: Christus, unser Vater. Und das lebt eigentlich in dieser ganzen östlichen Religion drinnen: Christus, unser Vater.

Und wenn man jetzt nach Europa herüberkommt, da entstand eben, weil man sich gegen den Mohammedanismus, gegen die bloße Einheits­gottheit, die keine drei Gestalten hat, wehren wollte. eine durchdrin­gende Auffassung von den drei göttlichen Personen.

Nun, sehen Sie, meine Herren, Sie werden ja wissen, streiten kann man eine Zeitlang; die Leute können sich zusammensetzen und streiten und streiten und streiten; der eine sagt dem andern das, der andere sagt dem einen jenes! Nun streiten sie. Aber was kommt denn gewöhnlich heraus dabei? Sie trennen sich zuletzt, gehen auseinander! Das Ende der Streitigkeiten ist, daß man sich veruneinigt, daß man auseinander-geht. Die Verständigung findet ja in den wenigsten Fällen statt, ins­besondere dann nicht, wenn die Streitigkeiten großen Umfang an­nehmen. Sie wissen ja, zuerst gab es eine sozialistische Partei; die hat viel gestritten. Da gab es einen linken und einen rechten Flügel. Aber nachher sind die Flügel eigene Parteileitungen geworden. Und so war es auch mit der Ausbreitung des Christentums. Es hat sich ausgebreitet. In Asien drüben, also im Osten, hat man mehr gegeben auf den Vater-gott, durchaus aber den Christus festgehalten; in Europa hat man mehr unterschieden zwischen dem Vater und dem Sohn. Da hat man disku­tiert darüber, sich gestritten so bis ins 9., 10. Jahrhundert. Dann ist die große Kirchenspaltung eingetreten. Die östliche Kirche, die man heute die orthodoxe nennt, weil sie an ursprünglichen, alten Dingen festge­halten hat, und die westliche Kirche, die römisch-katholische Kirche, die haben sich voneinander getrennt. Da trat also zunächst dieser große Unterschied auf zwischen der östlichen Kirche, dem östlichen Christen­tum und dem westlichen Christentum.

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Das ging nun eine Zeitlang fort. Man lebte sich ein im 11., 12., 13. Jahrhundert in dieses Östliche, in dieses Westliche. Ja, da kam aber ein Ereignis hinein, das die ganze Sache, ich möchte sagen, in gewisser Be­ziehung durcheinanderbrachte. Und das waren eben die Kreuzzüge.

Diejenigen, unter denen Mohammed ursprünglich gewirkt hat, die zuerst den Islam angenommen haben, das waren die Araber. Diese Araber, die haben eine ausgesprochene Naturreligion gehabt. Die taug­ten also eigentlich so recht klar zum Verstehen des «Vaters», zur Aner­kennung der Vatergottheit. Und daher entwickelte sich auch in den ersten Zeiten des Mohammedanismus diese Anschauung von dem durch alle Natur, auch durch die menschliche Natur wirkenden Vatergott.

Aber dann kamen aus den weiten Gegenden Asiens herüber andere Völkerschaften, deren Nachkommen heute die Türken sind. Mongolische, tatarische Völkerschaften kamen. Die wirkten in Kriegen gegen die ara­bischen Leute. Und das Eigentümliche dieser mongolischen Bevölke­rung, deren Nachkommen dann die Türken sind, ist das, daß diese eigentlich gar keine Natur gehabt haben. Die haben dasjenige gehabt, was der Mensch in ältesten Zeiten hatte: keinen Blick für die Natur, den die Griechen dann so stark haben. Das haben sie sich bewahrt. Die Türken brachten sich aus ihren ursprünglichen Wohnsitzen keinen Sinn für die Natur mit, aber einen ungeheuren Sinn für einen geistigen Gott, für einen Gott, den man nur in Gedanken fassen kann, den man gar nirgends anschauen kann. Und diese besondere Art, den Gott anzu­schauen, die ging jetzt auf den Islam, auf den Mohammedanismus über. Die Türken nahmen die mohammedanische Religion von den Be­siegten an, aber sie veränderten sie nach ihrer Gesinnung. Und während die mohammedanische Religion eigentlich viel von der alten Zeit, von Kunst und Wissenschaft, angenommen hat, schmissen die Türken eigent­lich alles hinaus, was Kunst und Wissenschaft war, und wurden eigent­lich kunst- und wissenschaftsfeind. Und sie waren der Schrecken der westlichen Bevölkerung, für alle diejenigen, die das Christentum an­genommen hatten.

Sehen Sie, den Christen war die Gegend, in der das Christentum entstanden ist, Palästina mit Jerusalem, eine besonders heilige Gegend. Da pilgerten viele hin aus allen westlichen Gegenden, mit großen

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Opfern. Es gab viele Leute, die sehr arm waren, die sich furchtbar zu­sammenlegen mußten dasjenige, was sie brauchten, um eine Reise nach Palästina zu machen zum sogenannten Heiligen Grab. Ja, die machten aber diese Reise! Und erst als die Türken kamen, wurde diese Reise ge­fährlich, denn die Türken breiteten ihre Herrschaft auch über Palästina aus, und sie mißhandelten die christlichen Pilger, die da hinkamen. Und die Europäer wollten Palästina frei haben, damit man dort hinkommen könne. Sie wollten eine eigene europäische Herrschaft in Palästina auf­richten. Deshalb unternahmen sie diese großen Kriegszüge, die als die Kreuzzüge bekanntgeworden sind, die ihr Ziel ja nicht erreicht haben, die aber eigentlich den Krieg, den Kampf ausdrücken zwischen dem westlichen Christentum und dem türkisch gewordenen Mohammeda­nismus. Das Christentum sollte gegen den türkisch gewordenen Mo­hammedanismus gerettet werden.

Nun, da sind viele Leute zunächst als Krieger hinübergezogen nach Asien. Was hat man da gesehen? Die Kreuzzüge haben im 12. Jahrhun-dert begonnen, haben durch mehrere Jahrhunderte gedauert, fallen also gerade in die Mitte des Mittelalters hinein. Was haben diejenigen, die da als Kreuzfahrer, Kreuzkrieger nach Asien gezogen sind, zuerst ge­sehen? Zuerst haben sie gesehen, wie die Türken furchtbare Feinde sind. Sie standen also in den Türken furchtbaren Feinden gegenüber. Aber wenn der eine oder andere der Kreuzfahrer sich ein bißchen umgesehen hat in kampffreien Tagen, da hat er merkwürdige Erlebnisse haben können. Da hat er zum Beispiel irgendeinen alten Mann treffen kön­nen, der sich irgendwo in eine ärmliche Stube zurückgezogen hatte, der sich nicht kümmerte da um Türken, Christen und Araber, der aber mit einer merkwürdigen Treue dasjenige weiter fortgebildet hatte, was im alten Heidentum als Kultur, als Wissenschaft, als religiöse Wissenschaft gelebt hat. Die Türken haben sich darum nicht gekümmert. Das alles war eigentlich vor der offiziellen Kultur ausgerottet; aber es gab solche Menschen. Und da haben die Europäer vieles von alterWeisheit kennen­gelernt, vieles von dem, was im Christentum nicht mehr vorhanden war. Das haben sie sich mitgebracht, wie sie zurückgezogen sind nach Europa.

Jetzt denken Sie sich, was da war. Schon in früheren Zeiten sind die

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Araber über Italien, Spanien herübergezogen, haben diese Kunst und diese wissenschaftliche Denkungsweise herübergebracht. Die hat sich ausgebreitet, ist unsere Wissenschaft geworden. Jetzt brachte man die morgenländische uralte Wissenschaft herüber, und es hat sich mit­einander vermischt. Und dadurch ist in Europa etwas ganz Besonderes entstanden.

Sehen Sie, die römische Kirche, die hat den Kultus angenommen; aber sie ging auch sehr stark auf die Lehre aus. Aber diese Lehre, dieser Unterricht, dieser religiöse Unterricht, der hing in der alten Kirche an der Person. Bis in die Kreuzzugszeit hinein hing er an der Person. Das­jenige, was von der Kanzel herunter verkündet worden ist, was die Konzilien, die abgehalten worden sind, gutgeheißen haben, das wurde gelehrt. Und daneben gab es auch noch das sogenannte Neue Testament, die Bibel. Aber die Bibel zu lesen, war eigentlich den Menschen, die nicht Priester waren, verboten, und man hielt dieses Verbot streng inne. Es war eigentlich etwas Furchtbares, wenn in diesen alten Zeiten vor den Kreuzzügen jemand die Bibel lesen wollte, das Neue Testament. Das gestattete man nicht. Und dadurch hatte man eigentlich nur das, was die Priesterschaft lehrte. Die Bibel hatte man ja als Laie, als Gläu­biger nicht in der Hand.

Nun aber war etwas entstanden - dadurch, daß die Araber die Wis­senschaft gebracht hatten, daß man die alte morgenländische Weisheit kennengelernt hatte -, von dem sehr viele das Gefühl kriegten: Das wissen die Priester ja gar nicht, die da lehren! Es gibt etwas, was viel mehr Wissen ist, als die da lehren. - Und daraus entstand dann die Ab­sicht: Nun wollen wir einmal nachschauen, woraus die ihre Weisheit haben. - Und da entstand die Tendenz, die Absicht, die Bibel auch wirklich zu lesen, das Neue Testament kennenzulernen. Und daraus entstand die dritte Form des Christentums: das evangelische Christen­tum, das dann in Luther einen besonderen Vertreter gefunden hat, das sich aber eigentlich schon früher seiner Absicht nach herausgebildet hat.

Nehmen Sie zum Beispiel nur die Gegenden der heutigen Tschecho­slowakei, Böhmen, Bayern, nehmen Sie diese Gegenden hier am Rhein, von Holland nach da herein - ich könnte auch noch viele andere Ge­genden nennen -, da bildeten sich überall Brüderschaften. Hier bildete

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sich die «Brüderschaft des gemeinsamen Lebens» von Holland am Rhein herein. Hier (auf die Zeichnung weisend) bildeten sich die Brü­derschaften, die man die «Mährischen Brüder» nannte. Was wollten diese Brüderschaften? Diese Brüderschaften sagten: Ja, von Rom aus ist eigentlich nicht das wirkliche Christentum verbreitet worden, son­dern es liegt das Christentum so, daß man es eigentlich erst kennen­lernen muß, durch das innere Leben kennenlernen muß. - Und zunächst war diese Absicht, das Christentum ursprünglich kennenzulernen, ei­gentlich etwas, was innerlich erstrebt wird. Erst später hat man gesagt:

Man muß das Evangelium kennenlernen. - Aber beides geht aus dem­selben hervor.

Sehen Sie, das ist der große Unterschied zwischen Hus, der in der heutigen Tschechoslowakei gewirkt hat, und Luther. Hus hat noch weniger auf das Evangelium gesehen, als darauf gesehen, daß der Mensch innerlich das Christentum erlebt. Später hat sich das mehr ver­äußerlicht in das Kennenlernen des Evangeliums.

Aber das Evangelium, das Neue Testament, das ist ja geschrieben unter ganz andern Verhältnissen. Da war eine bildliche Ausdrucks­weise; und diese bildliche Ausdrucksweise, die hat man später gar nicht mehr verstanden. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen.

An einer Stelle des Evangeliums wird erzählt, wie Christus Kranke heilte. Nun waren in dieser Zeit, als der Christus die Kranken heilte, viel mehr diejenigen Krankheiten verbreitet in den Gegenden, wo er lehrte, die man heute die nervösen, die Nervenkrankheiten nennt, als diejenigen Krankheiten, die in den eigentlichen Organen sitzen. Nun, die Nervenkrankheiten kann man vielfach durch Zuspruch, durch Liebe und so weiter von Mensch zu Mensch heilen. Die meisten Kran­kenheilungen, von denen da die Rede ist, gehen auf solche Heilung. Aber dann steht an einer Stelle: «Als die Sonne untergegangen war, ver­sammelte der Christus die Leute um sich und heilte sie.» Diese Stelle, wenn Sie sie heute im Evangelium lesen, kommt den Menschen so vor, wie wenn sie bedeutungslos wäre, als wenn man eigentlich nur die Uhr­zeitangabe machen wollte. Aber warum wird denn gerade an der Stelle die Zeitangabe gemacht? Weil man sagen will: Diese Kräfte, die da der Mensch entwickelt, wenn er den andern heilen will, die sind stärker,

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wenn die Sonne nicht am Himmel steht, wenn sie durch die Erde durch­kommt mit ihren Strahlen, als wenn die Sonne am Himmel steht. - Das ist eine ganz bedeutungsvolle Stelle, die da steht: «Als die Sonne unter­gegangen war, versammelte der Christus die Leute um sich und heilte sie.» Die wird gar nicht mehr beachtet. Dadurch wollte man eben an­deuten, wie der Christus die den Menschen eigenen Naturkräfte ver­wendet zur Heilung. Und so übersetzte man eigentlich das Evangelium erst in einer Zeit, wo man es nicht mehr verstehen konnte. Im Grunde genommen wird das Evangelium sehr, sehr wenig verstanden.

Nun, eigentlich ging es auf allen diesen Gebieten so, sowohl im mor­genländischen Christentum wie im abendländischen westlichen, im evangelischen Christentum, wie es in manchen andern Fällen gegangen ist, die ich auseinandersetzen mußte, wo etwas, was man ursprünglich gut verstanden hat, später zwar beibehalten, aber nicht mehr verstan­den worden ist. Das Christentum wurde eben in allen drei Formen nicht mehr richtig verstanden. Ich möchte sagen, jede von diesen drei Formen hat eines hauptsächlich genommen: Das morgenländische Chri­stentum hat den Vatergott genommen, wenn man ihn auch Christus nennt. Die römisch-katholische abendländische Religion hat den Soh­nesgott genommen, sieht zum Vater nur als dem alten Manne mit wal­lendem Bart hinauf, der noch gemalt wird, aber vom Vatergott wird da wenig gesprochen. Und das evangelische Christentum hat den Geist­gott. Im evangelischen Christentum hat man ja insbesondere diskutiert:

Wie kommt man von der Sünde los? Wie wird der Mensch geheilt von der Sünde? Wie wird der Mensch gerechtfertigt vor Gott und so weiter? So ist eigentlich, während das Christentum ursprünglich die eine Gott­heit in drei Gestalten hat, das Christentum auseinandergefallen in drei Bekenntnisse. Jedes Bekenntnis hat ein Stück, ein richtiges Stück vom Christentum.

Durch eine bloße Vereinigung der drei Stücke wird es aber nicht gehen, daß man das ursprüngliche Christentum wiederfindet. Man muß es aus der richtigen Menschenkraft selber heraus wiederfinden, wie wir schon angefangen haben zu zeigen in der Darstellung, die ich neulich gegeben habe. Aber ich wollte Ihnen auch das noch zeigen, damit Sie sehen, wie schwer es ist heute, auf das ursprüngliche Christentum zu

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kommen. Denn, fragen Sie beim orientalisch-östlichen Christentum:

Welches ist das wahre Christentum? - Ja, da sagt man Ihnen alles das­jenige, was sich auf den Vater bezieht, und nennt dann den Vater Chri­stus. - Fragen Sie bei der römisch-katholischen Kirche um das Wesen des Christentums, so sagt man Ihnen alles dasjenige, was sich auf die Sündhaftigkeit des Menschen, die Schlechtigkeit der menschlichen Na­tur bezieht, daß der Mensch erlöst werden muß von seinen Leiden und so weiter. Man sagt Ihnen alles das, was sich auf den Sohn bezieht, auf den Christus. - Fragen Sie bei dem evangelischen Christentum, was das Wesen des Christentums ist, dann sagt man Ihnen: Alles kommt auf das Prinzip des Gesundens des Willens an, der Heilung, der Genesung des Willens, der Rechtfertigung vor Gott. - Man redet dann vom Heiligen Geist und nennt ihn Christus.

Und dadurch ist das alles gekommen, was wir heute haben; nicht daß die Leute nun etwa gedacht hätten: Nun müssen wir die drei ver­schiedenen Seiten des Christentums vereinigen -, sondern sie haben ge­sagt: Da versteht man ja gar nichts mehr! - Und dadurch ist eben die Stimmung der Gegenwart gekommen und die Notwendigkeit, das Chri­stentum wieder zu finden.

Und in dieser Weise möchte ich Ihnen dann am nächsten Samstag vom Mysterium von Golgatha reden. Da will ich dann sehen, daß ich mit dieser Fragenbeantwortung zu Ende komme.

SIEBENTER VORTRAG Dornach, 26. März 1924

#G353-1968-SE115 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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SIEBENTER VORTRAG

Dornach, 26. März 1924

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Guten Morgen, meine Herren! Nun, wollen wir heute noch etwas über die Frage hinzufügen, die das Christentum betrifft. Leider konnte ich nicht sprechen am letzten Samstag, weil ich nach Liestal fahren mußte. Wir haben ja versucht, einiges von dem zu sagen, was man als das ei-gentliche Wesen des Christentums bezeichnen kann, desjenigen, was das Christentum angenommen hat in der Entwickelung der Menschheit. Wir haben dann von den Kämpfen gesprochen, die in Europa eigentlich um das Christentum herum entstanden sind, und die im wesentlichen, wie ich gesagt habe, auf lange Zeit hindurch darauf beruhten, daß die eine Partei mehr das Vaterprinzip, wie das Christentum im Osten, be­tont hat, die andere Partei mehr das Sohnesprinzip, wie die römisch-katholische Kirche, und eine dritte Partei, die evangelische Kirche, mehr das Geistprinzip betont hat.

Es ist eigentlich schwer, heute über diese Dinge zu reden, weil die meisten Menschen heute denken: Kann man sich denn um solche Dinge streiten in der Welt? - Heute, nicht wahr, geht es in der Welt um ganz andere Dinge, um die man kämpft; und daß sich einmal Menschen in der allerentsetzlichsten Weise auch bekriegt haben aus dem Grunde, weil sie das eine oder andere Prinzip betont haben, das ist heute für die Menschen schwer zu begreifen. Aber sehen Sie, man muß so etwas eben auch einsehen, denn es werden ja auch Zeiten kommen, wo man dann wiederum nicht wird begreifen können, warum sich die Menschen um die heutigen Dinge gestritten haben! Das wird vielleicht in gar nicht so ferner Zukunft sein. Und wenn man das bedenkt, so wird man auch einsehen, warum sich die älteren Menschen um ganz etwas anderes ge­stritten haben als heute. Aber wissen sollte man doch, um was sich die Menschen gestritten haben, denn es lebt ja noch unter uns.

Worin besteht denn die äußere Anschauung, die sich vom Christen­tum in der allerstärksten Weise erhalten hat? Die stärkste Anschauung war ja vom Christentum durch lange Zeiten hindurch der sterbende Jesus - das Kreuz, und darauf der tote Jesus. Nicht gleich im Anfange

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hat man in dieser Weise auf den toten Jesus hingeschaut. Wenn man in die allerältesten Zeiten zurückgeht, dann findet man, daß dasjenige Bild des Christus Jesus das allerhäufigste, das allerverbreitetste ist, das den Christus darstellt als einen jüngeren Mann mit einem Lamm um die Schultern und als Hirten. Und man nannte das den Guten Hirten. Im 1., 2., 3. christlichen Jahrhunderte war eigentlich das das allerverbrei­tetste Bild, der Gute Hirte. Und eigentlich erst im 6. Jahrhundert nach Christus kamen die Abbildungen herauf, welche den Christus darstellen am Kreuze hängend und tot; wie man sagt: den Crucifixus darstellend, den Gekreuzigten. Den Gekreuzigten haben die ersten Christen nicht eigentlich dargestellt.

Dahinter steckt auch etwas Wichtiges. Sehen Sie, die ersten Christen haben durchaus noch die Anschauung gehabt, daß der Christus in den Jesus hineingekommen ist aus der Sonne, daß der Christus ein außer-irdisches Wesen ist. Das Ganze ist später mißverstanden worden. Denn das Ganze ist ja später zu dem Dogma gemacht worden von der soge­nannten unbefleckten Empfängnis, nach der Jesus, als er geboren wurde, schon nicht auf gewöhnlich menschliche Weise empfangen und geboren worden wäre. Erst als man so etwas nicht mehr verstanden hat, daß Jesus ein Mensch war zunächst,wenn auch ein sehr bedeutender Mensch, und daß erst im dreißigsten Jahr seines Lebens der Geist, den man den Christus nennt, als Sonnengeist in ihn gekommen ist - in der Zeit, als man das nicht mehr verstanden hat, hat man auf der einen Seite die Anschauung gefaßt, den toten Christus auf dem Kreuz darzustellen, den sterbenden Christus, und auf der andern Seite hat man das Herein­kommen des Christus auf geistige Weise schon in die Geburt verlegt. Das war ein Mißverständnis, welches im 6. Jahrhunderte erst aufge­kommen ist. Aber das läßt sehr, sehr tief blicken. Denn zwischen der Zeit, in der die Christen den Jesus Christus noch als Guten Hirten dar­gestellt haben, und der Zeit, in der er dargestellt worden ist als der Ge­kreuzigte, liegt eine ganz bestimmte Tatsache zwischendrinnen, näm­lich die Tatsache, daß auf einem Konzil beschlossen worden ist, daß der Mensch nicht aus drei Teilen besteht, aus Leib, Seele und Geist, sondern nur besteht aus zwei Teilen, aus Leib und Seele, und die Seele, sagte man, hätte einige geistige Eigenschaften.

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Das ist sehr wichtig, meine Herren! Denn sehen Sie, im ganzen Mit­telalter war, wie man sagte, die Trichotomie, die Dreiteilung des Men­schen, die Dreigliederung des Menschen eine ketzerische Anschauung. Da durfte niemand, der rechtgläubig war, an die Dreigliedrigkeit des Menschen glauben. Da durfte man nicht sagen: Der Mensch hat auch einen Geist; sondern man mußte sagen: Der Mensch hat Leib und Seele, und die Seele hat einige geistige Eigenschaften. - Aber dadurch, daß man gewissermaßen den Geist abgeschafft hat, ist überhaupt der ganze Weg der Menschen zum Geist versperrt worden, und erst heute muß eben wiederum die Wissenschaft vom Geist aufkommen, um dasjenige, was da der Menschheit genommen worden ist, ihr wiederzugeben.

Die ersten Christen haben vor allen Dingen gewußt: Dasjenige, was als Christus in ihnen lebt, das kann überhaupt nicht geboren werden und sterben. Das ist nicht etwas, was menschlich ist. Der Mensch wird geboren und stirbt. Aber der Christus, der in den Jesus bei Lebzeiten gegangen ist, der ist nicht geboren worden auf menschliche Art, und der kann auch nicht, als der Jesus am Kreuze gestorben ist, vom Tode be­rührt worden sein, sondern der hat eben, so wie der Mensch einen andern Rock anzieht und bleibt, eine andere Form angenommen, näm­lich eine geistige Form. Will man aber dasjenige, was geistig ist, dar­stellen - nicht wahr, das kann man nicht mit Augen sehen -, dann muß man es bildlich darstellen. Und daß der Geist wacht über dem Men­schen, daß der Geist ein guter Berater des Menschen ist, das wollte man darstellen, indem man den Christus Jesus als Guten Hirten darstellte.

Und etwas ist noch geblieben, nur verstehen es die Leute heute nicht mehr. Es ist sehr häufig so, daß von einem Bild nur ein Teil zurück­bleibt. Man sagt heute noch oftmals, wenn man vom Christus spricht:

das «Lamm Gottes». Das war auf den Bildern zu sehen, die in den ersten Jahrhunderten da waren; ein Teil davon, der abbildet das Lamm, das der Christus auf den Schultern hatte, ist geblieben. Und dieser Teil nur ist eben zurückgeblieben. Man bezeichnete in den älteren Zeiten den Menschen überhaupt nach irgendeinem Teile. Nehmen wir zum Beispiel an - es gibt ja solche Namen -, es hieße einer Kappa - Cappa, das ist einmal eine kleine Kopfbedeckung gewesen. Von dieser Kopf­bedeckung bekamen gewisse Leute den Namen. Wenn einer «Adler»

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heißt, so hatte er einmal in seinem Wappen einen Adler gehabt und so weiter. Nicht wahr, so ist auch der Name «Lamm Gottes» geblieben, weil das eben ein Teil war der älteren Abbildungen.

Nun, im 6. Jahrhunderte ist eigentlich schon alle Ansicht vom Geist gewichen gewesen, und die Folge davon war, daß man eigentlich nur noch geglaubt hat, man könne hinschauen auf dasjenige, was in dem Christus Jesus ein menschliches Schicksal gehabt hat. Man schaute nicht auf den lebendigen Christus, der Geist ist, sondern man schaute auf den sterblichen Menschen Jesus und legte es so aus, als ob er der Christus wäre. Daher wurde dieses Ereignis des Sterbens vom 6. Jahrhunderte an ganz besonders wichtig.

Ja, sehen Sie, da spielt schon der Materialismus eine Rolle. Und wir sehen gerade, wenn wir die Geschichte des Christentums verfolgen, den Materialismus erst recht sich entwickeln. Und dadurch ist in der spä­teren Zeit manches gekommen, was sonst nicht gekommen ware.

Ich habe Ihnen gesagt, meine Herren: Dieses Wissen, daß der Chri­stus ein Wesen von der Sonne ist, das in dem Menschen Jesus gelebt hat, das wird durch dieses Zeichen ausgedrückt, das man heute noch bei jedem Hochamt auf dem Altare sehen kann: Das ist das Sanktissimum, die Monstranz (siehe Zeichnung): die Sonne in der Mitte und der Mond, auf dem die Sonne darauf ist. Solange man wußte, daß es sich in dem Christus um ein Wesen von der Sonne handelt, hatte das seinen guten Sinn. Denn was ist denn das, was dadrinnen ist in der Monstranz? Das ist zusammengebackenes Mehl. Wodurch konnte dieses zusammen-gebackene Mehl entstehen? Es konnte dadurch entstehen, daß die Son­nenstrahlen auf die Erde fallen, daß die Sonne Licht und Wärme auf die Erde fallen läßt, daß Getreide wächst und aus dem Getreide das Mehl wird. Das ist also richtiges Sonnenprodukt. Es ist wirklich, wenn man es so ausdrücken will: Körper, vom Sonnenlichte gemacht. Solange man das gewußt hat, so lange hatte das Ganze einen Sinn.

Ferner: Beim Mond stellte man gerade diese Gestalt dar, weil einem da die Mondessichel als das Wichtigste vorkommt. Und ich habe Ihnen gesagt: Der Mensch hat die Kräfte, die ihm seine physische Gestalt geben, von den Mondenkräften. Das Ganze hatte einen Sinn, solange man wußte, wie die Dinge sind. Aber diese Dinge verlieren allmählich

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ganz ihre Bedeutung. Ich will Ihnen eines sagen, woraus Sie ersehen können, welche Bedeutung solche Dinge haben.

Denken Sie, daß die Türken, also die Mohammedaner, wie ich Ihnen gesagt habe, wiederum den einen Gott bloß, nicht die drei Gestalten festgelegt haben; sie haben alles wiederum auf den Vatergott zurück­gelegt. Was mußten sie denn da für ein Zeichen annehmen? Natürlich den Mond! Daher haben die Türken gerade ihr Bild: den Halbmond.

Die Christenheit müßte wissen, daß sie in diesem ihrem Zeichen das­jenige hat, wo die Sonne den Mond besiegt. Und das war hauptsächlich von den ersten Christen dargestellt worden: daß die Sonne den Mond besiegt hat durch das Mysterium von Golgatha. Was heißt das aber? Sehen Sie, jetzt geht ja alles im Geistigen drunter und drüber! Denn wenn man versteht, was mit dem Sonnenbild gegeben ist, so sagt man sich: Derjenige, der von diesem Sonnenbild weiß, der nimmt an, daß der Mensch im Leben einen freien Willen hat, daß da noch etwas in ihn hineinkommen kann, was für das Leben eine Bedeutung hat. Derjenige, der nur an den Mond glaubt, der denkt sich, daß der Mensch mit der Geburt alles bekommen hat, daß er nichts mehr aus sich selber machen

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kann. Ja, das ist aber gerade der Fatalismus der Türken! Und die Tür­ken wissen eigentlich noch etwas davon. In gewisser Beziehung sind die Türken gescheiter als die Europäer, denn die Europäer haben einmal die Sonne als ihr Zeichen gehabt, haben aber vergessen, was das für eine Bedeutung hat.

Nun, wenn Sie das bedenken, daß man im 6.Jahrhunderte eigent­lich von dem geistigen Christus nichts mehr gewußt hat, dann werden Sie auch verstehen, warum man im Mittelalter - so im 10., 11., 12., 13.Jahrhundert, und dann etwas später - plötzlich anfängt, sich zu streiten: Was bedeutet denn eigentlich das, was man das Abendmahl nennt? - Das bedeutet nur für denjenigen etwas, der ein Bild vom Gei­stigen annimmt. Aber das haben die nicht mehr gekonnt; daher stritten sie sich jetzt. Der eine sagte: Auf dem Altar in der Kirche, da verwan­delt sich wirklich das Brot in den Leib Christi. - Das glaubten die andern nicht, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß das Brot, das hinterher geradeso ausschaut wie vorher, zu Fleisch geworden sei. Das konnten sie nicht verstehen. Und da entstanden denn jene mittelalter­lichen Streite, die zu so furchtbaren Resultaten geführt haben. Denn diejenigen, welche gesagt haben: Uns ist es einerlei, ob man die Sache versteht oder nicht, wir glauben daran, daß das Brot wirkliches Fleisch ist - das war die eine Partei. Die andern sagten: Das können wir nicht glauben, sondern es kann höchstens das, was da geschieht, die Bedeu­tung haben, die sinnbildliche Bedeutung haben. - Das waren diejenigen, aus denen dann das Evangelische geworden ist.

Und um diese Sache ging eigentlich alles dasjenige los, was im Mit­telalter Religionskriege geworden sind, und was sich zu dem furcht­baren Dreißigjährigen Krieg vom Jahre 1618 bis 1648 zugespitzt hat. Begonnen hat dieser Dreißigjährige Krieg dadurch, daß Katholiken und Protestanten durcheinandergekommen sind. Bekanntlich hat ja der Dreißigjährige Krieg mit dem sogenannten Prager Fenstersturz an­gefangen. Die kaiserlichen Statthalter in Prag sind durch die Gegen­partei zum Fenster herausgeworfen worden; sie sind nur, trotzdem sie vom zweiten Stock heruntergefallen sind, so gut gefallen, daß es ihnen nichts gemacht hat, weil sie auf einen Misthaufen gefallen sind! Aber der Misthaufen war nicht aus Kuh- oder Pferdemist, sondern aus

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Papierschnitzel und dergleichen, weil damals in Prag so eine Ordnung war, daß man Papierschnitzel, Kuverts und so weiter einfach zum Fenster herausgeworfen hat. Aber es hat dann gute Dienste getan, weil, als sich Katholiken und Protestanten stritten und die kaiserlichen Statt­halter Martinitz und Slawata samt dem Geheimschreiber Fabricius zum Fenster herausgeworfen worden sind - das hat man in der damaligen Zeit öfters getan, das war etwas, was gar nicht so selten war -, dann alle drei gerettet worden sind. Aber eben damals ging der Dreißig­jährige Krieg los.

Natürlich dürfen Sie nicht glauben, daß es sich im ganzen Dreißig­jährigen Krieg nur darum gehandelt hat, Religionsstreitigkeiten auszu­fechten. Da würde wahrscheinlich doch der Dreißigjährige Krieg früher geendet haben. Was dann hinzukam, waren die Streitigkeiten der Für­sten. Die haben sich das zunutze gemacht, daß die Leute aufeinander losgingen. Der eine hat sich zu der einen, der andere zu der andern Par­tei geschlagen, und die haben dann unter dem Deckmantel der Reli­gionsstreitigkeiten ihre Ziele verfolgt, so daß der Dreißigjährige Krieg eben in der Tat dreißig Jahre gedauert hat. Aber ausgegangen ist er wirklich von dem, was ich Ihnen hier erzählte.

Nun, sehen Sie, bis zu diesem Dreißigjährigen Krieg, 1618 bis 1648, also bis ins 17.Jahrhundert hat es gedauert; das ist noch gar nicht so lange her, daß die Leute sich um solche Sachen gestritten haben. Und aus diesem Streit ist ja eigentlich der Protestantismus, ist die evange­lische Kirche herausgewachsen.

Sie werden nun sagen: Ja, wenn aber der Geist eigentlich abgeschafft war, wie kannst du uns sagen, daß die protestantische, die evangelische Kirche von den drei Gottesgestalten den Geist angenommen habe? -Ja, meine Herren, darauf muß man schon sagen, daß die Evangelischen zwar nicht gewußt haben, daß sie den Geist anbeten, denn der Geist war eben eigentlich abgeschafft worden. Gewußt haben sie es nicht. Aber ich habe Ihnen ja schon öfter gesagt: Dasjenige, was man nicht weiß, kann deshalb doch da sein. Und es war schon ein Geistiges, wenn auch nicht ein sehr großes Geistiges in der evangelischen Kirche tätig. Nur haben die Evangelischen nichts davon gewußt. - Sehen Sie, wenn alles dasjenige nicht wäre, wovon zum Beispiel die Professoren nichts

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wissen, ja, wieviel wäre denn dann auf der Welt? Das ist es eben: Man muß sich klar sein, daß man von etwas schon sprechen kann, was der Mensch tut, auch wenn er nichts davon weiß. Und so darf man bei der Entstehung des Protestantismus schon davon reden, daß diese dritte Gestalt, der Geist, eigentlich das Wirksame war.

Sie sehen aber da förmlich den Materialismus entstehen! Die älteren Menschen im Christentum, die haben nicht zu streiten brauchen, daß sich dieses plattgebackene Mehl physisch in wirkliches Fleisch ver­wandle, weil sie gar nicht daraufgekommen sind, so etwas zu denken. Erst als sie alles materiell denken wollten, ist auch das materiell gedacht worden. Das ist überhaupt sehr interessant. Der Materialismus hat nämlich zwei Gestalten: Zuerst hat man alle Geistigkeit materiell ge­dacht, und nachher hat man den Geist geleugnet. Das ist eigentlich der Weg, den der Materialismus nimmt.

Es ist nun interessant zu sehen, wie auch noch später, noch nach dem 6. Jahrhunderte, in Mitteleuropa eine viel geistigere Anschauung des Christentums vorhanden ist als später. Materialistisch ist das Christen­tum zuerst im Süden geworden. In Mitteleuropa gibt es zwei sehr schöne Dichtungen. Die eine Dichtung ist im Elsaß entstanden, im 9. Jahrhunderte, und heißt Otfrieds «Evangelienharmonie». Die andere Dichtung aber ist in Gegenden, die heute sächsisch sind, entstanden und heißt der «Heliand», Heiland. Wenn Sie den «Heliand» lesen, so wird Ihnen eines auffallen. Da werden Sie sich sagen: Nun, dieser Mönch -denn ein Mönch aus dem Bauerntum war es, der den «Heliand» ge­schrieben hat - hat wohl den Christus geschildert, aber er schilderte ihn auf ganz besondere Weise; er schilderte ihn ungefähr so, wie die Deut­schen einen Herzog schildern, der an der Spitze von deutschen Heeres-massen kämpfend einherreitet und seine Feinde besiegt. Wenn man den «Heliand» liest, fühlt man sich ganz in Deutschland, gar nicht in Palä­stina. Gewiß, es werden dieselben Ereignisse erzählt, die im Evange­lium erzählt werden; aber sie werden so erzählt, als ob der Christus Jesus eigentlich ein deutscher Herzog, ein deutscher Fürst gewesen wäre, und die Taten des Jesus sind auch so erzählt.

Ja, was bedeutet denn das? Das bedeutet, daß dem Manne, der den «Heliand» geschrieben hat, die äußeren Tatsachen, die man einmal in

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Palästina sehen konnte, ganz gleichgültig waren; die hat er gar nicht treu schildern wollen. Das äußere Bild war ihm gleichgültig. Er wollte den geistigen Christus schildern und dachte sich: Es kommt nicht dar­auf an, ob er in der Menschengestalt eines deutschen Herzogs in der Welt herumreist oder in der Gestalt eines palästinensischen Juden. Also in der Zeit, als der «Heliand» entstanden ist, hat man in Mitteleuropa noch an den geistigen Christus wirklich geglaubt, war man noch nicht materialistisch geworden. Im Süden war das schon dazumal der Fall; die romanischen Völker, die griechischen Völker waren dazumal schon ganz materialistisch geworden. Aber in Mitteleuropa war noch ein ge­wisser Sinn für das Geistige und daher schilderte dieser sächsische Mönch, der den «Heliand» geschrieben hat, eigentlich noch den Chri­stus, nur in dem Bilde eines deutschen Herzogs. Daraus können Sie schon sehen, daß man selbst hier in Mitteleuropa die Möglichkeit fin­det, zu beweisen, daß der Christus zunächst ganz geistig vorgestellt worden ist, eben als der Sonnengeist, als den ich ihn schilderte.

Und wenn man dann eingeht auf den Charakter, den der Christus in diesem Heliand hat, dann findet man, daß hauptsächlich darauf gesehen wird, daß der Heliand, der Christus, in diesem sächsischen Buche ein «freier Mensch» ist, das heißt, das Sonnenhafte in sich hat, nicht bloß das Mondhafte, also ein freier Mensch ist.

Es ist wirklich so, daß der ganze Zusammenhang des Christus mit der Welt außerhalb der Erde eben einfach vergessen worden ist und heute gar nicht mehr erkannt wird.

Nun möchte ich Ihnen aber noch etwas sagen. Wenn man wiederum zurückgeht zu jenen Mysterien, von denen ich Ihnen erzählt habe, daß sie im Altertum zugleich Unterrichtsstätten waren, Religionsstätten und Kunststätten, wenn man in diese alten Mysterien zurückgeht, so Findet man, daß Feste gefeiert werden in diesen alten Mysterien, Feste, die mit dem Jahr zusammenhängen. Im Frühling wurde eigentlich immer das Fest der sogenannten Auferstehung gefeiert. Die Natur steht ja auch auf zur Osterzeit. Da wurde das Fest der Auferstehung gefeiert. Man sagte sich: Die menschliche Seele, die kann geradeso eine Aufer­stehung feiern wie die Natur. Die Natur hat den Vater. Im Frühling werden die Kräfte der Natur neu. Aber im Menschen, wenn er richtig

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auf sich achtet, wenn er an sich arbeitet, werden die Seelenkräfte neu. -Und das strebte man vorzugsweise in den alten Mysterien an, von den eigentlich wissenden Leuten, daß die Seele ein Erlebnis hat, das, ich möchte sagen, eine Art Frühlingserlebnis im menschlichen Leben ist. Sehen Sie, ein Frühlingserleben, wo man von sich sagen kann: Ach, was ich früher eigentlich gewußt habe, ist alles nichts! Ich bin wie neu­geboren! - Es kann einem einmal im Leben die Erkenntnis aufgehen, daß man wie neugeboren, das heißt, aus dem Geiste heraus wiederge­boren ist. So sonderbar Ihnen das klingen wird: Im ganzen asiatischen Morgenlande hat man die Menschen unterschieden in solche, welche einmal geboren waren, und in solche, welche zweimal geboren waren. Man sprach überall von zweimal geborenen Leuten. Die einen, die nur einmal geboren waren, die waren durch die Mondenkräfte geboren, sind so geblieben ihr ganzes Leben hindurch. Die andern, die Zweimal­geborenen, die wurden unterrichtet in den Mysterien, haben etwas ge­lernt und haben gewußt: Der Mensch kann sich frei machen, der Mensch kann seinen eigenen Kräften folgen. - Aber das stellte man im Bilde dar.

Man kann weit, weit zurückgehen: Uberall um die Frühlingszeit gibt es ein bestimmtes Fest, wo man in den Mysterien darstellte, wie ein Gott, der in Menschengestalt da ist, stirbt und begraben wird, und wiederum aufersteht nach drei Tagen. Das war eine wirkliche Darstel­lung, die in den alten Mysterien in der Frühlingszeit immer gegeben worden ist. Da kamen die Leute zusammen. Das Bild dieses Gottes in Menschengestalt war da. Man stellte dar, wie das stirbt; man begrub es. Nach drei Tagen wurde das Bild wiederum herausgenommen aus dem Grab und in feierlicher Prozession, in feierlichem Umzug durch die Gegenden getragen, und alle schrien: Der Heiland ist uns wieder-erstanden! - Während sie in den drei Tagen, in denen der Heiland bild­lich im Grabe lag, eine Art Trauerfest hatten, folgte diesem Trauerfest ein Fröhlichkeitsfest.

Sehen Sie, das bedeutet viel; denn das bedeutet, daß die Szene, das­jenige, was dargestellt wird auf Golgatha, daß das sich im Bild in den Mysterien immer, jedes Jahr, abgespielt hat.

Wenn nun in den Evangelien erzählt wird, daß auf Golgatha das Kreuz war, der Christus da gestorben ist, so ist das ein historisches Ereignis.

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Aber das Bild davon war da durch das ganze Altertum. Und deshalb empfanden die ersten Christen dasjenige, was sich wirklich zu­getragen hat, wie eine erfüllte Prophezeiung. Und sie sagten: Diejeni­gen, die in den alten Mysterien gelebt haben, das waren die Propheten desjenigen, was sich als Mysterium von Golgatha zugetragen hat.

Also Sie sehen: Auch im Altertum gab es gewissermaßen ein Chri­stentum. Nur war das Christentum nicht das Christentum des Jesus Christus, sondern es war ein geistiges Christentum, das im Bilde ge­feiert worden ist.

Einer der wichtigsten Heiligen der katholischen Kirche ist ja Au­gustinus, der im 4. bis 5. Jahrhundert gelebt hat. Dieser heilige Augusti­nus war ja zunächst Heide, hat sich dann zum Christentum bekehrt und ist später einer der angesehensten Priester und Heiligen geworden. Nun, in den Schriften dieses Augustinus finden Sie ein merkwürdiges Wort. Er sagt: Das Christentum war schon vor dem Jesus Christus da; die alten Weisen waren schon Christen, nur hat man sie noch nicht Christen genannt.

Das ist etwas ungeheuer Bedeutendes, daß noch zur Zeit des Chri­stentums zugegeben wird, daß eben dasjenige, was einmal in den alten Mysterien schon als Christentum vorhanden war, eben nur dargestellt worden ist durch Jesus Christus in der Zeit, in der man die Mysterien nicht mehr hatte, so daß es als ein einheitliches Ereignis für die ganze Erde verbleiben mußte.

Auch das Bewußtsein davon, daß ja das Christentum schon im alten Heidentum gelebt hat, auch das ist wiederum verlorengegangen. Der Materialismus hat ungeheuer viel von dem, was die Menschheit schon gefunden hat, eben einfach zerstört. Und in diesem Bilde, wo in der Frühlingszeit inimer die Auferstehung des gestorbenen Menschengottes dargestellt worden ist, in diesem Bilde hat der Weise des Altertums sein eigenes Schicksal verwirklicht gesehen. Er hat gesagt: So muß ich wer­den; ich muß auch in mir eine Wissenschaft entwickeln, durch die ich mir sage, der Tod hat ja nur eine Bedeutung für dasjenige in mir, was durch Naturkräfte geworden ist, aber nicht für das, was später in mir zum zweiten Mal geworden ist, was ich mir durch meine eigenen Men­schenkräfte erwerbe.

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Es war in dem ersten Christentum noch etwas, wo sich die Menschen sagten: Der Mensch muß, um unsterblich zu sein, die Seele in sich wäh­rend des Lebens erwecken; dann ist er im richtigen Sinne unsterblich. -Natürlich, gegen so etwas kam ja eigentlich eine falsche Anschauung nicht an. Aber gekämpft hat schon eine falsche Anschauung. Denn während in den ersten Jahrhunderten das Christentum so ausgebreitet worden ist, daß die Leute gesagt haben: Man muß die Seele des Men­schen pflegen, damit die Seele des Menschen nicht stirbt -, ja, da hat später die Kirche eine andere Anschauung gepredigt: Sie wollte nicht mehr den Menschen für seine Seele sorgen lassen, sondern sie wollte selber für seine Seele sorgen! Immer mehr soll die Kirche für die Seele des Menschen sorgen, nicht der Mensch selber. Dadurch ist auch das herausgekommen, daß man eigentlich dasjenige im Menschen nicht mehr gesehen hat, wodurch für die Seele in der richtigen Weise gesorgt wird dadurch, daß in der Seele der Geist wiederum geboren wird, das Sonnenhafte wiederum geboren wird. - Nicht wahr, für das Sonnen-hafte kann man nicht auf materialistische Weise sorgen. Wie würde man denn auf materialistische Weise für das Sonnenhafte sorgen? Ja, da müßte man eine Expedition ausrüsten und immer von der Sonne herholen dasjenige, was man dem Menschen geben sollte! Aber das kann man natürlich nicht. Und so stellte man das Ganze in einer fal­schen Weise dar.

Sehen Sie, meine Herren, alles, was ich Ihnen da sagen muß, zeigt Ihnen, wie im Laufe der Zeit eigentlich der Materialismus mehr und mehr um sich gegriffen hat und im Menschen Geistiges eigentlich gar nicht mehr verstanden hat. Heute ist es schon so, daß ja dieses Prinzip, nicht die Seele des Menschen für sich selber sorgen zu lassen, sondern die Seele von der Kirche besorgen zu lassen, noch nicht zur Ertötung der menschlichen Seele geführt hat. Wenn aber dasselbe Prinzip weiter­leben würde, dann brauchte es jetzt nicht mehr lange, dann würden die Seelen mit den Körpern sterben. Heute leben die Seelen der Menschen noch; sie können noch aufgeweckt werden, wenn eine richtige Geistes­wissenschaft kommt. In ein oder zwei Jahrhunderten würden sie das nicht mehr können, wenn nicht eine Geisteswissenschaft käme, wenn nur in der alten Weise fortgefahren würde.

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Was würde denn geschehen, wenn der Materialismus bleiben würde? Ja, sehen Sie, nach und nach müßte dieser Materialismus über sich selber lachen; denn schon in der Erziehung muß man ja auf geistige Weise ver­fahren. Man kann gar nicht erziehen und unterrichten, ohne vom Geist zu sprechen. Aber wenn es wirklich so weit kommt, wie es jetzt schon an manchen Stellen ersichtlich ist, so wird der Materialismus über sich lachen müssen, wenn er vom Geiste redet, oder er muß dann ehrlich werden.

Als ich und einige andere anthroposophische Freunde im Jahre 1922 auf dem Kongreß in Wien gesprochen hatten, kam nachher ein Artikel, der endete damit, daß der Verfasser sagte: Wir müssen den Kampf gegen den Geist führen! - Er wollte uns dadurch abtun, daß er sagte:

Wir müssen den Kampf gegen den Geist führen! - Ja, wohin würde es denn dadurch kommen, daß man den Kampf gegen den Geist ehrlich weiterführen würde? Dann würde man sagen, wenn man ein Kind mit sechs Jahren ehrlich anfangen wollte zu erziehen: Donnerwetter, das setzt ja den Geist voraus! Wollen wir doch lieber dem Kind ein Pülver­chen oder etwas anderes verschreiben, damit seine Materie gewandelt wird; dann wird es gescheit, dann wird es etwas wissen! - Das ist das­jenige, was herauskommt, wenn der Materialismus ehrlich wird. Er müßte die Kinder in die Schule kommen lassen, und, wie man heute vielleicht gegen Pocken impft, so müßte ein Kind nach dem andern mit der Gescheitheit geimpft werden; denn wenn die Gescheitheit materia­listisch ist, so muß sie sich einimpfen lassen. Also es müßten die Men­schenkinder mit der Gescheitheit geimpft werden. Das würde den Ma­terialismus ehrlich machen. Denn wenn einer sagt, er denke nicht mit seiner Seele und seinem Geist, sondern mit dem Gehirn - das Gehirn ist ein Stoff-, so muß man auf das Gehirn, auf das Stoffliche weisen, nicht auf das Geistige weisen, um gescheit zu werden. In solche furchtbaren Widersprüche muß der Materialismus hineinkommen.

Da kann nur retten, daß man wiederum lernt, vom Geiste etwas zu wissen. Es mußte schon in unserer Zeit eine Geisteswissenschaft kom­men, weil sonst die Menschenseelen ersterben würden.

ACHTER VORTRAG Dornach, 12. April 1924

#G353-1968-SE128 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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ACHTER VORTRAG

Dornach, 12. April 1924

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Guten Morgen, meine Herren! Da ich nächste Woche nicht da sein kann, so wollte ich Ihnen heute eigentlich noch etwas sagen, was mit dem zusammenhängt, was wir schon besprochen haben über das Oster­fest. Oder haben Sie eine andere Frage, über etwas, was besonders jetzt wichtig ist?

Herr Burle: Ich hätte eigentlich auch etwas zu fragen, aber es hängt nicht mit dem Osterfest zusammen. Es ist unlängst ein Zeitungsartikel gekommen von Paris, wo geschrieben wird, daß es möglich ist, daß man mit der Haut lesen könne, sehen könne. - Kann Herr Doktor darüber etwas sagen? Es hat mich sehr verwundert, das zu hören.

Dr. Steiner: Nun, wenn man solch eine Sache in dieser Form mit­geteilt bekommt, wie sie da in solchen Zeitungsartikeln auftritt, so muß man natürlich sehr vorsichtig sein. Es müssen ja die Sachen erst nach­geprüft werden. Es handelt sich also darum, daß gewisse Persönlich­keiten - nun behauptet allerdings der Mann: alle Persönlichkeiten -dazu gebracht werden können, mit der Haut zu sehen, mit irgendeiner Hautstelle zum Beispiel lesen zu können.

Das ist aber eine Sache, die man längst weiß und die man eben mit gewissen Persönlichkeiten durchführen kann, so daß, wenn man Per­sönlichkeiten darauf trainiert, so richtig daraufhin ausbildet, man die Fähigkeit erzeugen kann, daß sie mit der Haut, irgendeiner beliebigen Hautstelle, lesen können. Nun möchte ich aber doch bei dieser Gelegen­heit darauf aufmerksam machen, daß man sich über so etwas nicht allzu stark verwundern sollte. Denn Sie müssen nur bedenken: Die Menschen lernen doch nicht alles, was sie können, sie bilden es nicht aus. Und man kann manche Dinge sehr schnell ausbilden, wenn man es daraufhin an­legt. Man könnte natürlich alle Kinder daraufhin ausbilden, daß sie mit den Fingern lesen könnten, wenn man zunächst die einfachen Buch­staben nimmt und die Kinder abgreifen läßt; das Papier ist an der Stelle, wo der Buchstabe nicht steht, doch ganz anders als da, wo der Buchstabe steht. Nehmen Sie nur an, man mache Buchstaben, die etwas herausragen, ausgekratzt sind aus dem Papier - warum sollte man denn

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die nicht leicht lesen können! Denn wenn man aus Holz Buchstaben macht, so kann man ja auch durch Abgreifen mit zugemachten Augen lesen. Und diese Gabe braucht nur etwas verfeinert zu werden.

Sehen Sie, ich habe mich zum Beispiel als Junge auf etwas geübt, was die wenigsten Leute üben: nämlich einen Bleistift zwischen der großen Zehe und der nächsten Zehe zu halten und damit zu schreiben. Man kann das auch lernen. Man kann eben alle diese Dinge, die man sonst nicht lernt, lernen, und dadurch entstehen dann gewisse Fähigkeiten; die verfeinern sich, und dadurch entsteht dann etwas, worüber man glaubt, sich verwundern zu sollen. Es ist aber gar nicht zu verwundern. Es beruht auf der Ausbildung des Tastvermögens. Mit jedem Körper­teil kann man tasten. So wie man einen Stich mit der Nadel wahr­nehmen kann, so kann man auch die kleinen Einkratzungen wahr­nehmen, die die Buchstaben bilden. Und auf diese Weise kann so etwas ausgebildet werden.

Aber um so etwas handelt es sich in diesem Falle doch nicht ganz, denn der Mann behauptet, daß er bei allen Personen die Fähigkeit her­vorrufen kann, mit der Haut wirklich lesen zu lernen. Nun ist jene Be­schreibung nicht ganz genau so, daß man alle Einzelheiten prüfen kann. Wenn einmal eine wissenschaftliche Begründung darüber erschienen ist, läßt sich eher sagen, ob es stimmt, wenn man Ihnen eine Seite von einem Buch auf den Bauch legt, ob Sie das lesen können. Man muß eben erst eykennen, ob es sich da um ein ganz feines Gefühl, Tastvermögen han­delt, oder ob der Mann schwindelt, ob etwas von Schwindelei dahinter­steckt. Das läßt sich aus der Beschreibung noch nicht entnehmen. Mich hat bei dieser Mitteilung die Sache gar nicht so sehr verwundert, weil ich mir denken kann, daß es möglich sein könnte; aber was mich ver­wundert hat, das ist die dumme Bemerkung, die die Journalisten daran geknüpft haben: wenn das wirklich wahr wäre, dann müßte es längst gefunden sein. - Wie kann einer sagen, wenn das Telephon zum Beispiel gefunden wird: Wenn das wirklich wahr wäre, dann müßte es längst gefunden sein, dann müßte es die Menschheit längst kennen! Das hat mich viel mehr verwundert, daß solch ein Ausspruch möglich ist, als die Sache selber. Die Sache selber ist gar nicht so wunderbar, denn man kann als Mensch sehr viel für seine Gefühls-, für seine Tastorgane 1ernen.

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Denn die Menschen bemerken nur nicht, was davon abhängt, daß sie die Augen auf etwas richten in der Beurteilung. Zum Beispiel die Finger können sehr fein ausgebildet werden für die Wahrnehmung von allem möglichen. Also ein Urteil darüber, ob der Mann, der da behaup­tet, daß er jeden Körperteil dazu bringen kann, daß er sieht, das aus langjähriger Abrichtung dazu bringt oder nicht, muß aus wirklicher Wissenschaftlichkeit hervorgehen. Ich habe darüber deutsche, englische und französische Zeitungsnachrichten gelesen; es läßt sich daraus nicht entnehmen, ob der Mann wahnsinnig oder ein Schwindler oder ein wirklich wissenschaftlicher Mensch ist. Das ist die Sache.

Nun möchte ich Ihnen also über das Osterfest noch etwas sagen. Das Osterfest ist gerade deshalb so geeignet, daß wir anknüpfen an das­jenige, was wir über das Mysterium von Golgatha gesprochen haben, weil ja, wie Sie wissen, das Osterfest ein sogenanntes bewegliches Fest ist. Es wird jedes Jahr an einem andern Zeitpunkte gefeiert. Es schwankt. Warum schwankt es? Aus dem Grunde schwankt es, weil man es nicht nach irdischen Verhältnissen festsetzt, sondern man setzt es fest nach himmlischen Verhältnissen. Man setzt es dadurch fest, daß man sich frägt:Wann ist der Frühlingsanfang? Der Frühlingsanfang ist natürlich immer am 21. März. Also bevor der Frühling anfängt, setzt man nicht das Osterfest an. Dann wartet man aber - der Frühlingsanfang ist also immer am 21. März -, bis der Vollmond kommt. Wenn der Vollmond kommt, wartet man wieder bis zum nächsten Sonntag und setzt als Ostersonntag denjenigen Sonntag fest, der der erste Sonntag ist nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang. Nun kann der erste Voll­mond auf den 22. März fallen; dann ist der nächste Sonntag für uns der Ostersonntag, weil er der erste Sonntag ist nach dem Frühlingsvoll­mond; dann ist das Osterfest sehr, sehr früh. Es kann aber auch der Vollmond erst neunundzwanzig Tage nach dem 21. März fallen. Wenn zum Beispiel der Vollmond am 19. März ist, kommt erst der Frühlings-anfang, und dann nach achtundzwanzig Tagen der Vollmond. Dann ist erst der nächste Sonntag nach vier Wochen der Ostersonntag. Dann fällt also das Osterfest weit in den April hinein. So daß das Osterfest verschiebbar ist zwischen dem 21.März und dem Ende des April. Da schwankt es hin und her.

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Nun, meine Herren, warum hat man das Osterfest festgesetzt nach dem, wie es am Himmel ist? Ja, das hängt mit dem zusammen, was ich Ihnen schon gesagt habe, daß man eben früher wußte: Mond und Sonne haben auf all das, was auf der Erde ist, einen Einfluß.

Betrachten Sie eine Pflanze, die aus der Erde herauswächst. Wenn da die Erde ist (siehe Zeichnung) so nehmen Sie ja, wenn Sie die Pflanze haben wollen, einen ganz kleinen Samen und legen ihn hinein. Da ist die ganze Pflanze, das ganze Leben der Pflanze zusammengedrängt in diesem kleinen Keim, in diesem kleinen Samen. Was wird aus diesem Samen? Zuerst die Wurzel. Da dehnt sich das ganze Leben aus zu der Wurzel. Dann zieht sie sich aber neuerdings wiederum zusammen und es wächst zusammengezogen, und es wird ein Stengel. Dann dehnt es sich wieder aus und es werden die Blätter. Dann wird die Blüte daraus. Und dann zieht es sich wiederum zusammen in dem Samen, der da war­tet bis zum nächsten Jahre. Was haben wir also bei der Pflanze? Wir haben bei der Pflanze Ausdehnen, Zusammenziehen, Ausdehnen, Zu­sammenziehen.

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Nun, jedesmal, wenn sich die Pflanze ausdehnt, ist es die Sonne, die zum Beispiel das Blatt herauszieht; jedesmal, wenn sich die Pflanze zu­sammenzieht, wenn es entweder der Same ist oder der Stengel, da ist es aber der Mond, der dieses Zusammenziehen bewirkt. Also da zwischen

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den Blättern, da wirkt der Mond. So daß man sagen kann, wenn man eine solche Pflanze bekommt, wo die Blätter ausgebreitet sind, wo die Wurzel ausgebreitet ist - zuerst beim Samen: Mond, dann: Sonne, wieder Mond, wieder Sonne, wieder Mond, Sonne, und mit dem Mond schließt es ab. So daß wir in jeder Pflanze abwechselnd bemerken kön­nen: Sonnenwirken, Mondenwirken, Sonnenkräfte, Mondenkräfte. Wir schauen um uns herum das Feld an mit den wachsenden Pflanzen und sehen da die Taten von Sonne und Mond. Ich habe Ihnen gesagt: Auch wenn der Mensch in die Welt kommt, dann ist das, wie er gestaltet ist in seinem physischen Leib, abhängig vom Mond; das, was er innerlich für Kräfte hat, um sich selber umzuwandeln, das ist abhängig von der Sonne. Das habe ich Ihnen bei der Schilderung des Mysteriums von Golgatha gesagt.

Ja, sehen Sie, das hat man früher gewußt; das hat man nur ver­gessen. Man hat sich gesagt: Wann ist die größte Kraft im Frühling vor­handen, damit die Pflanzen richtig gedeihen können und am zuträg­lichsten gedeihen können für den Menschen? Wenn Sonne und Mond richtig zusammenwirken. Das ist der Fall, wenn zum ersten Mal der Vollmond mit seiner vollen Strahlung auf die Erde scheint und die Sonnenstrahlen unterstützt. Da kommen also Sonne und Mond zu­sammen, wenn die Sonne, die ihre höchste Kraft im Frühling hat, und der Mond, der ja immer nach vier Wochen seine höchste Kraft hat, richtig zusammenwirken; deshalb Ostern am Sonntag, der der Sonne gewidmet war, nach dem Frühlingsvollmond. Also, man hat in der Festsetzung des Osterfestes gewußt, daß es sich um etwas handelt, was sich festsetzen soll als Frühlingsanfang nach der Wintersonnenwende.

Nun ist aber das Osterfest nicht etwa erst in den christlichen Zeiten entstanden, sondern es ist eigentlich aus einem alten heidnischen Fest hervorgegangen, aus dem Feste, das ich Ihnen schon angedeutet habe, jetzt genauer beschreiben will: aus dem sogenannten Adonisfest. Worin bestand denn das Adonisfest? Sehen Sie, meine Herren, das Adonisfest ist eingerichtet worden aus denjenigen Kunst- und Unterrichts- und Religionsstätten, die ich Ihnen als die Mysterien geschildert habe. Und Adonis war eine Art von Bild, das man sich gemacht hat für dasjenige im Menschen, was im Menschen geistig-seelisch ist. Also man hat sich

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unter Adonis das vorgestellt, was im Menschen geistig-seelisch ist. Und man dachte sich: Ja, aber auch das, was geistig-seelisch ist im Men­schen, stimmt überein mit der ganzen Welt. - Und berücksichtigen muß man nur, daß das Adonisfest, das unserem heutigen Osterfest gleicht, bei den alten Heiden, die die ganzen geistigen Verhältnisse noch berück­sichtigt haben, so entstanden ist, daß sie es im Herbst gefeiert haben! Also das alte Osterfest ist im Herbste gefeiert worden. Und es ist auf folgende Art gefeiert worden.

Es ist dadurch gefeiert worden, daß man das Bild dieses ewigen, un­sterblichen Teiles des Menschen, des geistig-seelischen Teiles, genommen hat, in einen Teich oder in Meereswasser, wenn es an der Küste war, getaucht hat, es drei Tage dadrinnen gelassen hat, und das Hinunter-senken des Bildes, das haben die Leute begleitet mit Trauergesängen, mit Klagegesängen. Es war dieses Hinuntersenken des Bildes verbunden mit einer solchen Feierlichkeit, wie sie sonst sein kann, wenn man aus einem regen Familien- oder Freundschaftskreis jemanden sterben sieht -ein richtiges Totenfest. Und das ist immer an einem solchen Tag gefeiert worden, den wir heute als einen Freitag bezeichnen. Der Name Kar­freitag ist eigentlich erst aufgekommen, als die Sache auf Mitteleuropa, auf die germanischen Gegenden, auf die deutschen Gegenden überging. Und «Kar» kommt von Kara, und Kara heißt eigentlich die Klage. Also ist es der Klagefreitag.

Wie diese Sache ursprünglich war, das wissen die Menschen heute so wenig, daß die Engländer diesen Freitag Good Friday, also den Guten Freitag nennen, während er in alten Zeiten derTotenfreitag,derTrauer­freitag, der Klagefreitag genannt worden ist. Es war ein richtiges Toten-fest, das für den Adonis gefeiert wurde. Und wo gar kein Wasser vor­handen war, haben sie irgendeinen künstlichen Wasserteich gemacht, wo sie ihr Bild hineintauchen konnten - es war eine Statue - und nach drei Tagen wieder hervorgezogen haben, nämlich nach dem Sonntag herausgehoben haben. Sie sehen also, das war ein richtiges Totenfest.

Beim Herausheben wurden dann Freudengesänge angestimmt, rich­tige Freudengesänge. So daß also während der drei Tage durch jede Menschenseele gezogen ist dasjenige, was erregt hat die höchste Trauer, und nach drei Tagen die größte Freude. Jubelgesänge wurden ange­stimmt.

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Und der Inhalt dieser Jubelgesänge war immer der, daß man sagte: Der Gott ist uns wieder erstanden!

Meine Herren, was bedeutete denn dieses Fest? Und ich muß immer betonen: Es wurde zunächst im Herbste gefeiert - was bedeutete dieses Fest?

Nun, ich habe Ihnen bei andern Gelegenheiten auch das Folgende erzählt: Wenn der Mensch stirbt, dann legt er seinen physischen Leib ab. Wenn der Mensch stirbt, dann trauern die Hinterbliebenen und Freunde, und es wird, je nachdem die Menschen gesonnen sind, eine solche Totenfeierlichkeit, wie sie diese Leute bei der Adonisversenkung gemacht haben, auf natürliche Weise entstehen. Nur fehlt etwas an­deres. Ich habe Ihnen ja erzählt: Drei Tage lang nach seinem Tode bleibt der Mensch so, daß er zurücksieht auf sein Erdenleben. Er hat seinen physischen Leib abgelegt, aber er hat noch seinen Ätherleib. Der wird immer größer und größer und verdunstet endlich in der Welt. Dann ist der Mensch nur noch in seinem astralischen Leib und in sei­nem Ich.

Die Leute, die das Adonisfest eingerichtet haben, die haben sich nun gesagt: Die Menschen sollen wissen, daß der Mensch nicht nur stirbt, sondern daß er nach drei Tagen in der geistigen Welt wieder auf­ersteht. - Und daß dem Menschen jedes Jahr das zum Bewußtsein komme, deshalb ist das Adonisfest eingerichtet worden. Beim Adonis-fest im Herbste sagte man: Seht ihr, die Natur stirbt ab. Die Bäume ver­lieren ihre Blätter, die Erde bedeckt sich mit Schnee, Kälte, schneidende Winde kommen, die Erde verliert ihre Fruchtbarkeit; sie sieht gerade so aus, als wenn der physische Mensch stirbt. - Aber wenn man auf die Erde schaut, dann muß man bis zum Frühling warten, wenn sie wieder auferstehen soll. Wenn man auf den Menschen schaut: der steht in der Seele, im Geiste nach drei Tagen wieder auf. Das muß zum Bewußtsein kommen. Deshalb Totenfest, und gleich darauf Auferstehungsfest -aber im Herbste, wo man dem Menschen klarmachen kann: Der Mensch ist der Gegensatz der Natur. Die Natur muß sich fügen, bleibt den gan­zen Winter tot, weil sie nur Natur ist; der Mensch lebt fort nach dem Tode in der geistigen Welt, tritt in Gegensatz zur Natur. Wenn die Natur abblättert, schneeig wird, wenn die Natur die kalten Winde hat,

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dann muß man den Menschen aufmerksam machen: Du bist anders als die Natur; wenn du dahinstirbst, stehst du in drei Tagen wiederum auf.

Das war ein schönes Fest durch die ganzen alten Zeiten. Da kamen an den Orten, wo die Mysterienkultstätten waren, die Menschen zu­sammen, blieben diese ganzen Osterfeiertage, und dann machten sie das Klagelied mit und bekamen dann am dritten Tag das Bewußtsein: Jede Seele, jedes Ich und jeder astralische Leib stehen in der geistigen Welt wiederum auf drei Tage nach dem Tode. - Es war für die Leute das Mithineinziehen in die geistige Welt, daß man sich abwendete am Oster­feste von der physischen Welt. Sehen Sie, das konnte ja auch der Zeit nach geschehen; denn in den älteren Zeiten war es nicht so, daß die Leute gerade im Frühling das Osterfest hatten, wo sie auch etwas an­deres zu tun haben, wenn sie Landleute sind. Das alte Osterfest, das Adonisfest wurde gefeiert, wenn die Früchte eingeerntet waren, wenn die Weinlese vorüber war, wenn die Menschen dem Winter nahekamen; dann wollten sie aufwachen im Geiste. Da feierten sie das Adonisfest. Man hat den Adonis an verschiedenen Orten verschieden genannt; aber dieses Adonisfest, das ist überall gefeiert worden, wo alte Religionen waren. Denn alle alten Religionen haben zu den Menschen in dieser Weise von der Unsterblichkeit der Seele geredet.

Nun, in den ersten christlichen Jahrhunderten wurde auch nicht ein Osterfest so gefeiert wie jetzt, sondern erst allmahlich, im 3., 4. Jahr hundert kam es auf. Aber da gerade haben die Menschen nichts mehr verstanden von der geistigen Welt, gar nichts mehr verstanden, sondern sie haben nur noch in die Natur schauen wollen. Sie haben sich nur noch um die Natur bekümmert. Und da haben sie gesagt: Ja, wie kön­nen wir im Herbst die Auferstehung feiern? Da aufersteht ja nichts! -Daß der Mensch aufersteht, haben sie nicht mehr gewußt, und deshalb haben sie sich gesagt: Im Herbst aufersteht ja nichts, der Schnee bedeckt alles; im Frühling aufersteht alles: da macht man das Osterfest im Frühling. - Das ist schon etwas, was aus dem Materialismus hervorge­gangen ist, wenn auch noch aus einem Materialismus, der auf den Him­mel hinaufschaute und das Osterfest nach Sonne und Mond fixierte. Im 3., 4. nachchristlichen Jahrhunderte war schon der Materialismus da, aber wenigstens noch ein Materialismus, der noch in die Welt hinausschaute,

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nicht der Regenwurm-Materialismus, wo der Mensch nur auf die Erde schaut - Regenwurm-Materialismus aus dem Grunde, weil die Regenwürmer ja immer unter der Erde sind und höchstens beim Regen einmal heraufkommen. Und so ist es beim heutigen Menschen; die heutigen Menschen schauen auf nichts mehr als auf das, was in der Erde ist. In der ersten Zeit, wo man das Osterfest feierte, war wenig­stens der Materialismus noch so, daß man geglaubt hat: Die Millionen Sterne, die haben einen Einfluß auf den Menschen. - Das ist auch ver­gessen worden vom 15. Jahrhundert an. Und so ist das Osterfest auf den Frühling gekommen. Und es konnte auf den Frühling kommen aus dem Grunde, weil ein gewisses Bestreben vorhanden war bei den Chri­sten, die alten Wahrheiten ganz aus der Welt zu schaffen. Das habe ich Ihnen schon dargestellt, als ich geredet habe über das Mysterium von Golgatha: daß man eigentlich die alten Wahrheiten aus der Welt zu schaffen bestrebt war. Und so sind denn im 8., 9. nachchristlichen Jahr­hunderte die Menschen ganz unwissend geworden darüber, daß das Erscheinen des Christus überhaupt etwas mit der Sonne zu tun hat.

Sehen Sie, da ist es ganz interessant zu beobachten, wie es im 4. Jahr­hundert hintereinander zwei Kaiser gegeben hat. Da war der Kaiser Konstantin, ein außerordentlich eitler Mensch. Der hat Konstantinopel gegründet. Einen Schatz, der einstmals von Troja nach Rom getragen worden war, der dort versenkt worden ist, den hat er von Rom aus nach Konstantinopel schaffen lassen, dort vergraben und darüber eine Säule aufgerichtet, auf dieser Säule eine Statue des alten heidnischen Gottes Apollo aufgestellt, aber sich vom Morgenland das Holz kom­men lassen - man sagt, vom Kreuze Christi - und davon einen Strahlen-kranz bilden lassen. Aber dort, wo das Holz den Strahlenkranz bilden sollte, mußten die Leute den Konstantin sehen! So daß also von da an der Konstantin verehrt worden ist, stehend auf der Bildsäule, die auf dem größten römischen Kleinodienschatz errichtet war. Der hat das äußerlich eingerichtet, daß die Leute nichts mehr gewußt haben von den Weltengeheimnissen, daß man nichts mehr davon gewußt hat, daß der Christus zusammengehörig ist mit der Sonne.

Da kam der andere dazwischen, der Julianus, der noch seine Erzie­hung gehabt hat in den Mysterien, die zu seiner Zeit noch vorhanden

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waren, aber ein schweres Leben hatten. Während sie später ausgerottet worden sind von dem Kaiser lustinian, hatten sie vorher schon ein sehr schweres Leben, jahrhundertelang vorher. Man wollte sie nicht mehr; das Christentum war ihnen spinnefeind. Nun, jener Julianus ist aber noch erzogen worden in den Mysterien und hat noch gewußt: Es gibt nicht nur eine Sonne, sondern es gibt drei Sonnen. - Da sind sie schon wild geworden, die Leute, denn das war ein Geheimnis der alten My­sterien.

Sehen Sie, die Sonne ist zuerst der physische Körper, den Sie sehen, jener weißlich-gelbe physische Körper. Das ist zunächst der physische Körper. Aber diese Sonne hat eine Seele: das ist die zweite Sonne. Und dann ist noch die dritte Sonne da: die geistige Sonne. Wie der Mensch Leib, Seele und Geist hat, so hat auch die Sonne Leib, Seele und Geist. Julianus hat von drei Sonnen geredet und wollte, daß man das Chri­stentum so kennenlernt, daß man weiß: der Christus ist aus der Sonne gekommen und in den Menschen Jesus erst hineingegangen.

Das wünschte die Kirche nicht, daß das die Menschen wissen! Die Kirche wollte nicht die Wissenschaft von dem Christus Jesus, sondern nur dasjenige, was sie befiehlt. Und so ist es denn geschehen, daß, als der Kaiser Julian einen Zug nach Asien unternommen hat, er meuch­lings ermordet worden ist, um ihn aus der Welt zu schaffen. Das hat dann dazu geführt, daß man immer diesen Julian «Julianus Apostata» nennt, den Abtrünnigen, den Ketzer: Julianus den Ketzer! Aber er wollte eben die Verbindung des Christentums mit den alten Erkennt­nissen für die Menschen bestehen lassen. Er dachte sich, das Christen­tum kommt besser fort, wenn es Weisheitsinhalt hat, als wenn es nur die Befehle der Priester in sich hat, wenn die Menschen nur glauben sollen, was die Priester sagen. - Und so ist es denn gekommen, daß in der Zeit, als das Osterfest auf den Frühling verlegt worden ist, die Menschen zwar noch gewußt haben: das Osterfest hängt mit einer Auferstehung zusammen. Wenn sie auch nichts mehr gewußt haben von der Aufer­stehung des Menschen, so haben sie doch die Auferstehung der Natur gefeiert. Aber dann ist das auch vergessen worden, dort, wo das Oster­fest noch gefeiert worden ist, wo man aber nicht mehr gewußt hat, was es bedeutet. Und heute ist es soweit, daß die Leute sich fragen: Warum

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muß das Osterfest nach Sonne, Mond und Sternen festgesetzt werden? Es soll doch einfach der erste Sonntag im April sein, dann kommen wir auch mit der Buchhaltung besser zurecht! - Nach kommerziellen Ver­hältnissen soll es heute festgesetzt werden! Eigentlich sind diejenigen Menschen, die dieses Osterfest nach kommerziellen Verhältnissen fest­setzen wollen, ehrlicher als die andern; die andern setzen das Osterfest nach dem Himmel fest, aber wissen nichts mehr davon. Diejenigen sind ehrlicher, die von ihrem Standpunkte aus sich also sagen: Das brauchen wir nicht, diese Festsetzung. - Aber es ist eben das Traurige, daß wir nur deshalb ehrlich werden können, weil man es nicht mehr weiß, wie der Zusammenhang wirklich ist. Man hat heute die Aufgabe, wiederum hinzuweisen darauf, daß das Geistige überall das Maßgebende ist.

So ist es also, daß einmal in alten Zeiten gewartet worden ist. Wann ist der letzte Vollmond nach dem Herbstanfang? - hat man sich ge­fragt. Und an dem Sonntag vor dem letzten Vollmond nach Herbst-anfang, da hat man festgelegt das Adonisfest, auch nach dem Monde, nur hat man gewußt: Es ist das Gegenteil, wenn uns der Himmel den Schnee schickt - es fiel das Osterfest, also das Adonisfest, immer zwi­schen den letzten September und den letzten Oktober -, dann ist es die beste Zeit, sich an die Auferstehung des Menschen zu erinnern. - Da brauchten die Menschen nicht die Auferstehung in der Natur. Aber wenigstens in der ersten Zeit des Osterfestes haben sie noch gewußt, daß das Osterfest ein Toten- und ein Auferstehungsfest ist. Das ist auch verlorengegangen.

Und so muß man sagen: Eigentlich ist es schon notwendig, daß man sich bei solchen Festen wiederum erinnert, was sie einmal waren, denn wir müssen ja wiederum zum Geist kommen. Wenn wir zum Geist kommen wollen, so sollen wir nicht gedankenlos Weihnachten und das Osterfest feiern, sondern wir sollen uns schon klar sein darüber, daß das einen Sinn haben muß.

Nun können wir nicht gleich die Welt auf den Kopf stellen; die Menschen würden sich auch gar nicht begeistern dafür, das Osterfest auf den Herbst zu verlegen. Aber wir können doch einen Sinn damit verbinden, daß sich der Mensch erinnert daran: Der Mensch legt seinen physischen Leib ab, wenn er durch den Tod geht, schaut zurück auf

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sein Erdenleben. Er legt dann den Ätherleib ab, ist dann rein geistig­seelisch in der geistigen Welt, aufersteht in der geistigen Welt. Damit aber vertieft sich auch wiederum die Auffassung des Mysteriums von Golgatha. Denn das Mysterium von Golgatha zeigt eigentlich in der äußeren Wirklichkeit, was immer im Bilde mit dem Adonisfest gezeigt worden ist. Die Alten haben ein Bild gehabt. Die Christen haben das geschichtliche Ereignis. Aber das geschichtliche Ereignis fließt ebenso ab wie die alte Bildlichkeit. Bei dem Adonisfest hat man das Bild des Adonis versenkt, nach drei Tagen wieder auferstehen lassen. Es war ein richtiges Osterfest. Dann ist aber das wirklich geschehen, was man immer im Bilde gemacht hat: Der Christus war in dem Jesus; er ist ge­storben. Er ist wieder auferstanden, in der Art, wie ich es Ihnen erzählt habe. Und daran sollte man sich jetzt nur noch erinnern, jedes Jahr das Erinnerungsfest an dieses Ostern haben.

Das wäre zunächst ganz gut gewesen; denn warum haben denn die Leute früher immer ein Bild bei dem Adonisfest gehabt? Weil sie eine sinnliche Anschauung brauchten. Gerade als man in den alten Zeiten noch geistig die Welt anschaute, wollte man in der Sinnlichkeit ein Bild haben. Als aber der Christus durch das Mysterium von Golgatha ge­gangen war, da sollte man kein Bild mehr haben, sondern sich nur im Geiste auch noch erinnern an das, was dort geschehen war. Es sollte mehr geistig gefeiert werden, das Osterfest. Nicht ein heidnisches Bild sollte man sich machen, sondern nur in der Seele sich erinnern. Dadurch, dachte man - und es bestanden ja noch Mysterien zur Zeit des Christus Jesus -, wird das Osterfest gerade vergeistigt. Denn schließlich, was war es denn mit dem alten Adonisfeste? Ja, Sie in Europa können ja schließlich gar nicht ganz klar sehen, was solche Feste den alten Heiden waren. Denn wenn man bei Ihnen ein solches Fest wie das Adonisfest feiern würde, so würden Sie sagen: Das ist ja nur ein Bild, überhaupt ein Bild für diejenigen, die eingeweiht waren in den Myste­rien; aber für die weitesten Kreise des Volkes wurde alljährlich die Statue, der Gott, hervorgeholt und untergetaucht. - Es ist daraus her-vorgegangen, was man Fetischismus nennt. Solch eine Statue war ein Fetisch, eine Fetischstatue, ein Gott; die ganze Anbetung eines solchen Gegenstandes nannte man Fetischismus. Davon mußte man natürlich

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abkommen. Aber in einer gewissen Beziehung ist das im Christentum geblieben; denn das, was ich Ihnen als die Monstranz aufgezeichnet habe, worauf das sogenannte Sanktissimum, die Hostie, sitzt, das wird im Katholizismus als der wirkliche Christus verehrt. Man sagt: Auch physisch verwandelt sich das Brot und der Wein in den Leib und das Blut Christi. - Es ist eben noch ein Überbleibsel, nicht vom aufgeklär­ten Heidentum, das überall dahinter das Geistige sah, sondern von dem heruntergekommenen, wo man den Fetischismus hatte, wo man die Bildsäule für den Gott nahm.

Sehen Sie, meine Herren, ich sage: Sie haben davon gar keine Vor­stellung; denn solche Dinge muß man wirklich heute erleben, um rich­tig denken zu können, wie stark die Leute im Glauben an einen solchen Bildsäulengott werden. Ich hatte zum Beispiel einen sehr gescheiten Professor kennengelernt - es gibt da auch gescheite Leute; gescheit sind sie schon eigentlich alle, nur kommen sie nicht zum Geistigen durch die heutige Wissenschaft. Der Mann war Russe, machte eine Reise durch Sibirien vom Osten herüber, von Japan herüber. Als er in die Mitte von Sibirien gekommen war, wurde es ihm etwas unbehaglich. Er fühlte sich einsam und verlassen. Was tat er da? Etwas, was Sie ganz gewiß nicht tun würden, und kein Bewohner des Westens; aber er war eben ein halber Asiate, trotzdem er gelehrt war. Da machte er sich aus Holz ein Götterbild. Und dieses Götterbild nahm er auf seiner weiteren Reise mit, und das betete er wirklich an. Er machte sich einen Holzgott. Als ich den Mann kennenlernte, war er furchtbar nervös. Das hatte er be­kommen von seinem Holzgott. Sie können sich das gar nicht vorstellen, was das bedeutet, einen solchen Holzgott anzubeten!

Und so waren denn wirklich die Mysterien, die zur Zeit der Ent­stehung des Christentums da waren, darauf bedacht, daß die Leute mehr zum Geistigen kommen. Also es sollte bloß in der Erinnerung, durch Gebete, dieses aufleben, was früher vor dem Auge, den Menschen gegenüber sich abspielte im Adonisfest.

Und statt daß die Sache geistig geworden wäre, ist sie leider erst recht materialistisch geworden. Und sie ist äußerlich geworden, formell geworden. Und allmählich, im 3., 4. Jahrhundert ist das aufgekommen, daß, wenn der Karfreitag kam, die Priester gebetet haben; die Menschen

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wurden in allerlei Stimmungen versetzt. Und um drei Uhr nach­mittags, dem Zeitpunkt, wo der Christus gestorben sein soll, da hörten dann die Glocken auf zu läuten. Alles war still. Und dann wurde doch wieder äußerlich, geradeso wie das alte Adonisfest gefeiert worden ist, nun der Crucifixus, der Christus am Kreuze, versenkt zunächst, später nur eben mit etwas bedeckt; und das Osterfest wurde dann nach drei Tagen das Auferstehungsfest. Es ist aber dasselbe, was das alte Adonis-fest war, so wie es damals war. Es ist schon in der Art, wie man das feiert, nach und nach entstanden das Antreten der Herrschaft über die Seelen von Rom aus. Denn in manchen Gegenden, zum Beispiel dort, wo ich aufgewachsen bin - ich weiß nicht, ob sich es hier auch so voll­zieht -, da ist es so: Wenn der Karfreitag da ist und der Christus also aufgebahrt ist, dann ziehen die Buben mit ihren Rätschen, die also an­stelle der Glocken sind, herum und sprechen dabei die Worte:

Wir rätschen, wir rätschen am Dom. Die Glocken ziehen nach Rom.

Also, daß alles auf Rom hintendiert wird, das tritt gerade am stärksten bei jedem Osterfest für jeden einzelnen auf.

Und das ist gerade die Aufgabe des gegenwärtigen Menschen, aus dem Materialismus herauszukommen zu einem geistigen Erkenntnis-leben, die Dinge geistig aufzufassen lernen, also auch so etwas wie das Osterfest geistig aufzufassen. Und sehen Sie: Warum wird das Oster­fest gefeiert? Jedes Jahr beim Osterfest kann man sich erinnern, daß der Mensch, wenn er durch den Tod geht und die Totenklage, die Kara eintritt, daß dann das zum Gedächtnis sein soll, daß der Mensch von der physischen Welt weggeht. Aber er schaut nur noch drei Tage auf die physische Welt zurück; dann legt er als zweiten Leichnam seinen Äther-leib ab. Dann steht er als Ich und astralischer Leib in der geistigen Welt auf. Daran muß man sich auch erinnern. Nun wäre es trostlos, brutal, wenn man jedesmal, wenn ein Mensch stirbt, gleich nach drei Tagen Lustgesänge anstimmte. Aber man kann sich dennoch erinnern an solche Lustgesänge, wenn man im allgemeinen an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele denkt, wie sie nach drei Tagen aufersteht in der geistigen Welt.

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Und daraus sind auch viele merkwürdige Dinge entstanden. Sehen Sie, es hängt dadurch das Osterfest mit jedem einzelnen Menschentod zusammen. Für jeden einzelnen Menschentod sollte eigentlich das da sein, daß man sich sagt: Wir trauern; aber es kommt das Osterfest. Da werden wir uns erinnern daran, daß jede Seele wieder aufersteht in der geistigen Welt, nachdem sie gestorben ist. - Nun, Sie werden wissen, dasjenige Fest, das an den Tod aller Menschen erinnert, das wird heute noch im Herbst gefeiert: der sogenannte Allerseelentag. Dem hat man noch, als man nichts mehr davon wußte, daß das Osterfest dazugehört, den Allerheiligentag vorausgeschoben, eingesetzt. Aber die zwei Dinge gehören zusammen, und eigentlich muß man den Allerseelentag als den Totentag feiern, und das Osterfest als den Auferstehungstag. Diese Dinge gehören zusammen. Sie sind fast um ein halbes Jahr auseinander­gerissen! So kann man oftmals aus den heutigen Einrichtungen des Jah­res nicht mehr verstehen,was eigentlich hinter den Dingen dahinterliegt.

Aber sehen Sie, es ist einmal so, daß alles auf der Erde sich nicht nach der Erde selber, sondern nach dem Himmel richtet. Man ver­wundert sich ja, wenn es zu Ostern noch schneit; da sollte es eigentlich nicht mehr schneien, sondern da sollten die Pflanzen schon heraus­sprießen, weil man weiß: das Osterfest soll eben ein Erinnerungsfest an die Auferstehung, an die Unsterblichkeit der Menschenseele sein.

Wenn man so die Sache anschaut, dann kommt wiederum Gefühls­und Gemütsinhalt in das ganze Osterfest hinein. Und dann können die Menschen, die das Osterfest feiern, sich bei dem Osterfest an etwas erinnern, was mit dem Menschen selber zusammenhängt. Dann ist das Osterfest ein Jahresfest, und dann weiß man, warum man sich an es erinnert. Heute weiß man, daß der Mensch mit dem Jahre zusammen­hängt, nur dadurch, daß er sich im Winter den Winterrock, im Sommer den Sommerrock anziehen muß, daß er im Sommer schwitzt, im Win­ter friert. Also nur das Materielle weiß man. Daß aber wirklich, wenn der Frühling herankommt, geistige Kräfte wirksam sind, die alles her­ausholen aus der Erde, daß im Herbst wiederum geistige Kräfte alles vernichten, das weiß man nicht. Wird einmal das verstanden werden, so wird man in der ganzen Natur Leben finden, die ganze Natur belebt finden. Heute reden die Leute über die Natur ja meist Unsinn. Wenn

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sie eine Pflanze sehen, so reißen sie sie aus der Erde aus und treiben Botanik, weil sie gar nichts wissen über die Sache. Wenn ich ein Haar ausreiße und es beschreibe, so ist das ein Unsinn, denn das Haar kann nur auf dem Menschen oder auf einem Tiere wachsen, kann nicht für sich entstehen; Sie können nicht irgendwo an einen leblosen Stein etwas hinbringen, wo ein Haar wachsen soll. Da muß ein Lebendiges zu­grunde liegen. Nun, die Pflanzen sind also die Haare der Erde, weil die Erde lebt. Und so wie der Mensch die Luft braucht zum Leben, so braucht die Erde den Sternenschein mit seiner Geistigkeit; den atmet sie ein, damit sie leben kann. Und so wie der Mensch auf der Erde her-umgeht mit seiner Bewegung, so geht die Erde im Weltenraum herum. Sie lebt im ganzen Weltenraum. Die Erde ist ein lebendiges Wesen.

So können wir sagen, wenigstens das kann noch beim Osterfeste erreicht werden, daß man sich erinnert: Die Erde ist selbst ein leben­diges Wesen. Wenn sie die Pflanzen hervortreibt, wird sie jung, wie das Kind jung ist, wenn es die frischen Haare bekommt. Der Greis verliert die Haare, wie die Erde im Herbst die Pflanzen verliert. - Das ist ein Leben, das nur in anderer Weise eingerichtet ist rhythmisch, Jugend-leben im Frühling, Greisenleben im Herbste, wiederum Jugendleben, wiederum Greisenleben. Beim Menschen dauert das nur länger. Und so lebt eigentlich alles im Weltenraum. Und wenn Sie an Ostern denken, so denken Sie, daß das Osterfest uns - heute wenigstens - das sein kann, wo wir aus dem Anblick der neu erwachenden Natur uns sagen: Nicht wahr ist es, daß alles tot ist. Es müssen nur die Wesen durch den Tod durchgehen. Das Ursprüngliche ist das Leben. Überall siegt das Leben doch über den Tod. Und das Osterfest soll uns anweisen, uns des Sieges des Lebens über den Tod zu erinnern und uns dadurch Kraft geben. -Wenn so die Menschen wiederum in dieser Weise Kraft gewinnen, dann werden sie auch schon zur Verbesserung der äußeren Verhältnisse mit Vernunft vorgehen können, nicht so, wie es heute vielfach geschieht. Aber zuerst brauchen wir wiederum dieses Geistige in der Geisteswis­senschaft, damit wir wiederum in Einklang kommen mit der geistigen Welt, die wiederum lebt und nicht tot ist.

In diesem Sinne, meine Herren, möchte ich Ihnen auch ein recht schönes Osterfest wünschen, das wirklich in Ihren Seelen so schön ist,

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so schön wie die Frühlingsblumen, die aus der Erde herauswachsen! Nach Ostern werden wir uns dann wieder über wissenschaftliche Fra­gen unterhalten.

Man soll also im Osterfeste empfinden: Der Mensch kann wieder mit frischem Mut und mit Freude an die Arbeit herangehen. Wenn auch oft nicht so Gelegenheit ist heute, sich auf die Arbeit zu freuen, so doch vielleicht hier! Hier ist vielleicht doch die Gelegenheit, wo man sich auch auf die Arbeit freuen kann! Aber jedenfalls, meine Herren, wollte ich Sie noch sehen, um Ihnen das zu sagen, und um Ihnen aus dem Geiste, den man aus der Geisteswissenschaft gewinnen kann, ein recht schönes Osterfest zu wünschen! Auf Wiedersehen nach Ostern!

NEUNTER VORTRAG Dornach, 26. April 1924

#G353-1968-SE145 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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NEUNTER VORTRAG

Dornach, 26. April 1924

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Fragestellung: Die eine Frage: Warum das vollständig heilt, wenn der Mensch sich eine Wunde, eine Schnittwunde zum Beispiel, beibringt, während, wenn man sich zum Beispiel ein Stück Fleisch wegschneidet, immer eine Narbe zurückbleibt; seit dreißig bis vierzig Jahren hat der Betreffende an einer solchen Stelle kein Gefühl. Er möchte wissen, wie das zusammenhängt, wenn es doch heißt, daß es sich alle sieben Jahre erneuert!

Die zweite Frage betrifft die Funde in Ägypten. Es wird berichtet, daß man eine Mumie, ein Grab ausfindig gemacht hat, und daß bei der Öffnung des Grabes oder bei dem Hereinarbeiten in den Gang zwei Ingenieure, die Hauptleiter, dabei an Ver­giftungen gestorben sind. Bei dem ersten hat man geglaubt, es wäre ein gewöhnlicher Herzschlag oder so etwas gewesen; dann nachher hat den andern dasselbe Schicksal ereilt. Es wurde in den Zeitschriften erwähnt, daß vielleicht damals bei der Einbalsa­mierung der Mumie Gifte verwendet wurden, um das Eindringen der Menschen in die Grabstätten zu verhindern. Ich kann nicht glauben, daß Gifte sich so lange halten sollen. Oder haben sich da vielleicht in den Lufträumen Gase entwickelt, so daß nach ganz kurzer Zeit der Tod eintritt? Oder können sich so lange Gifte, die man damals in Ägypten hatte, erhalten?

Man hat zum Teil Kleider dabei gefunden. Diese Kleider hat man an die Luft gebracht: sie sind sofort zu Staub zerfallen. Nachher hat man durch die Chemie Ver­suche gemacht, diese Stoffe wieder neu zu präparieren, um sie der Nachwelt erhalten zu können.

Dann ist in den Pharaonengräbern Korn gefunden worden, welches schon Jahrtau­sende gelegen hat. Dieses Korn hat man gesät, und es soll noch keimfähig gewesen sein.

Ich möchte fragen, ob das alles unter normalen Verhältnissen möglich gewesen sein kann.

Bis sie an das Hauptgrab gekommen sind, haben sie zum Beispiel nach den Zei­tungsberichten achtzig Tage gebraucht, um den Hauptstein zu bewältigen. Aber es war, wie wenn der Berg zusammengestürzt wäre, und der Grabstein, der große Stein daraufgewälzt. Oder als ob nachher durch Sprengung alles zusammengestürzt wäre, indem man doch eben die Grabstätten so schwer erreichen konnte - wie ist das mög­lich gewesen?

Dr. Steiner: Zuerst also, was die Wundheilung anbetrifft - wenn wir die Fragen nacheinander beantworten -, die Schnittwunden, die man beim Operieren machen muß: Diese Schnittwunden heilen mehr oder weniger gut zu. Das muß man zuerst festhalten: sie heilen mehr oder weniger gut zu. Und zwar kann man beobachten, wie die Schnitt­wunden manchmal außerordentlich gut verheilen, so daß man später sehr genau hinsehen muß, wenn man an die Stelle kommt, wo die

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Schnittwunde war und man die Narbe entdecken will. Dagegen gibt es andere Schnittwunden - und Sie meinen ja nicht bloß Operations­wunden, sondern auch, wenn man sich schneidet, nicht wahr? -, die außerordentlich schwer heilen; die Narbe ist dick, und man kann oft eine ganz harte Narbe finden. - Nun will ich Ihnen etwas sagen. Ich habe als Knabe selber sehr viel mit Messern geschnitzt. Jch hatte dazu­mal die Eigentümlichkeit, daß ich immer ein Taschenmesser haben mußte - ich ging weit zur Schule -, man muß so etwas haben, nicht wahr. Aber ich verlor immer das Taschenmesser, und dadurch mußte viel an Messern nachgeliefert werden. Ich schnitzelte viel, und habe mich unter anderem, wie es beim Schnitzeln geht, hier sowohl wie hier sehr stark geschnitten. Sie müssen aber sehr scharf hinsehen, wenn Sie die Spur davon noch sehen wollen; es ist fast ganz geheilt. Aber wenn man ganz genau hinsieht, dann sieht man diese Schnittwunde, die eine klaffende Wunde war, sehr stark geblutet hatte. Man sieht sie aber kaum mehr. Bei manchen Schnittwunden dagegen sind die Ränder, die dicken Narben, noch lange zu sehen. Nun, wodurch entstehen diese dicklichen Narben? Sehen Sie, der menschliche Körper ist doch ganz von innen heraus gebildet; das haben Sie gesehen aus der Art, wie ich Ihnen die Bildung des menschlichen Körpers beschrieben habe, und ich habe Ihnen auch gesagt: Alles das, was vom Menschenkörper gebildet werden muß, muß von innen gebildet werden, bis auf die Hautober­fläche. - Nun, worauf beruhen denn Erkältungen? Ich habe Ihnen auch davon gesprochen. Erkältungen beruhen darauf, daß man nicht seine eigene Wärme allein entwickelt, sondern daß die äußere Wärme oder Kälte auf einen wirkt, daß man gewissermaßen wie ein Stück Holz behandelt wird von der Umgebung, so daß die Kälte so schnell kommt, daß man auskühlt, so daß man die Kälte bloß als einen Reiz empfindet, daß sie sich entgegenstellt dem, was von innen kommt. Das alles ist dem menschlichen Körper fremd, wird von ihm bekämpft. - Nun, in dem Augenblicke, wo Sie sich schneiden, sei es durch eine Ungeschicklich­keit, durch ein Malheur, sei es durch eine Operation - in diesem Augen­blick ist noch an der Stelle, wo nur der menschliche Körper wirken soll, ein fremdes Instrument. Das Messer dringt in den Raum ein, in dem eigentlich Blut und Nerven und Muskeln und so weiter wirken sollen.

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Also an der Stelle entsteht ein ganz lebhafter Kampf zwischen den Kräften, die im Inneren des Körpers sind, und den Kräften, die ein­dringen. Sie sind ja Eindringlinge. Und um diese abzuwehren, schoppt sich ringsherum die physische Materie des menschlichen Körpers zu­sammen und macht die Narbe. Das schoppt sich zusammen, um diese Kräfte nicht weiter eindringen zu lassen. Also die Narbe ist eine Schutz­hülle zunächst, die gebildet wird, um die fremden Kräfte nicht ein­dringen zu lassen. Die Narbe entsteht anfangs immer.

Nun, nehmen Sie an, man ist jung, zum Beispiel ganz jung, wie ich war, als ich diese Schnitzelgeschichten gemacht habe; ich war zehn, elf, zwölf Jahre alt. Ja, wenn man so jung ist, da ist der Atherleib in voller Tätigkeit, ist ganz außerordentlich tätig. Die physische Materie lagert sich alle sieben Jahre ab, das wird alles wieder ersetzt. Wenn der Äther-leib so stark ist, wie er es in der ganzen ersten Jugend ist, so wird ein­fach, wenn die physische Materie abgelagert wird, die Narbe nach und nach abheilen; die Substanz der Stoffe ist in der entsprechenden Weise angeordnet. Nehmen Sie an, man ist älter; dann ist der Ätherleib, ins­besondere an der Stelle, wo die Narbe ist, nicht so stark, dies zu über­winden. Er holt das nach, macht das ein zweites Mal, weil er es nicht überwinden konnte an der Stelle, wo die Narbe angeschoppt ist, weil er nicht darüber hinwegkommen kann. Denn es ist immer abhängig von der Stärke oder Schwäche des Ätherleibes, ob eine Narbe entsteht oder nach und nach abgeschafft wird. Verletzungen im kindlichen Alter werden immer schwächere Narben zurücklassen als Verletzungen, die man sich später zufügte. Aber der Mensch ist ja auch verschieden; man­cher behält sein ganzes Leben hindurch einen außerordentlich starken Ätherleib, und bei ihm werden Narben dann leichter überwunden als bei einem andern, dessen Ätherleib eben geschwächt ist.

Wenn ein Mensch zum Beispiel ein Bauer ist, der immer draußen in der frischen Luft arbeitet, der niemals lange in der kohlensauren Luft arbeitet, hat er einen stärkeren Ätherleib. Der Bauer ist höchstens im Winter, wenn er nicht arbeitet, in der kohlensauren Luft; aber er wech­selt ja mehr zwischen Winter und Sommer ab in der guten und schlech­ten Luft. Es gibt ein bekanntes Sprichwort, nicht wahr: Warum ist auf dem Lande so gute Luft? - Weil die Bauern die Fenster zulassen! Wenn

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die Bauern die Fenster aufmachen würden, so wäre die Luft nicht so gut! - Aber das nur nebenbei. - Derjenige, der auf dem Lande lebt, hat eben immer einen starken Wechsel zwischen sauerstoffreicher und koh­lensaurer Luft. Dadurch lebt er in ganz andern, gesünderen Verhält­nissen. Die Städter haben aber einen viel empfindlicher gewordenen Ätherleib. Das zeigt sich nicht nur bei der Narbenbildung von Wunden, sondern auch bei andern Bildungen. Kommen Sie aufs Land hinaus, da gehen die Leute, wie Sie wissen, im Sommer bloßfüßig herum, ohne Strümpfe und Stiefel. Alle Augenblicke kommt es vor, daß sich irgend­einer einen ganz rostigen Nagel eintritt; aber das bedeutet da draußen gar nicht viel! Er zieht den Nagel aus, wischt mit einem meist dreckigen Finger das Blut ab - alles ist dreckig, der Nagel ist dreckig, das Blut, das er wegwischt, ist dreckig -, ein bißchen eitert es, aber es ist nach kurzer Zeit wieder fertig und geheilt. Es macht nicht viel.

Einer, der nur gewohnt ist, in der Stadt zu leben, ist viel empfind­licher. Es kann vorkommen, daß einer einen kleinen Pickel irgendwo hat; er rasiert sich, verletzt sich ein wenig - es gibt gleich etwas Schlim­mes, und unter Umständen stirbt er daran! Ich erzähle Ihnen da wirk­lich etwas Wahres: Es hat sich jemand rasiert, beim Rasieren etwas ver­letzt, und starb einfach an dem kleinen Pickel, weil gleich eine Blut­vergiftung eintrat. Das heißt, die Blutvergiftung trat ein wegen der Schwäche des Ätherleibs. Der Ätherleib ist nicht mehr stark genug ge­wesen, um die eindringenden Gifte, Fremdstoffe sogleich in der rich­tigen Weise zu beseitigen. Dazu braucht man einen robusten, leben­digen Ätherleib. Das ist aber gerade beim Bauern der Fall. Jetzt wird es zwar da auch immer schwächer; aber wenn Sie noch in meiner Jugend aufs Land hinauskamen, da konnten Sie Ihre Freude haben über diese strotzenden Ätherleiber der Bauern! Natürlich, wenn dann das richtige Alter eintritt, besonders bei den Bauern, da fallen sie zusammen, weil dann doch der Ätherleib abfällt, und weil der astralische Leib nicht sehr stark ist bei den Bauern. Aber der Ätherleib ist sehr stark. Deshalb heilt alles dort sehr viel schneller als bei den Stadtleuten. Der Erdberuf hat etwas ungeheuer Gesundes.

Sehen Sie, all das kann man natürlich wissen; aber bei unseren sozia­len Verhältnissen ist das vorläufig gar nicht zu ändern. Da müssen erst

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die Kenntnisse von diesen Dingen sich verbreiten. Das ist doch sicher schon zu verstehen, daß durch das stärkere oder schwächere Wirken des Ätherleibes eben auch sowohl die Narbenbildung stärker oder schwächer ist, als auch die Ausheilung von Dingen, die damit ver­bunden sind als Außenstoffe, die nicht in den Körper hineingehören. Das Messer zum Beispiel ist ein Außenstoff, was als Dreck eindringt, ist ein Außenstoff - der Körper muß sich sogleich entsprechend wehren und so weiter. Und wenn man das dann weiß, dann wundert man sich eigentlich gar nicht mehr darüber, daß manche Wunden überhaupt nicht mehr heilen, weil die Menschen dann einen ausgemergelten, aus-gefressenen Ätherleib haben. Das kommt namentlich vielfach davon her, daß die Arbeit nicht mehr mit der Natur im Zusammenhang ist; nicht einmal so sehr von der kohlensäurereichen Luft kommt es her, sondern einfach davon, daß man nicht mehr so mit der Natur ver­bunden ist. Wenn einer den ganzen Tag in der Schreibstube ist, oder in der Werkstätte ist, so hat das, womit er es zu tun hat, gar nichts mehr mit der Natur zu tun. Denken Sie sich unsere unglaubliche Kultur, die nach und nach sich herausgebildet hat: Die trennt den Menschen ganz von der Natur; die schafft immer schädlichere und schädlichere Stoffe heran, die immer fremder und fremder sind dem, was natürlich ist.

Da ist ein großer Ruck eingetreten in der Zeit. Vom gewöhnlichen Standpunkt aus betrachtet man ja meist solche Sachen nicht, aber sie sollten von einem gewissen Standpunkte aus betrachtet werden. Denken Sie sich nur einmal: Früher hat man doch geschrieben. Heute arbeitet man für die Schreibmaschine. Ja, was kommt denn für die Gesundheit am meisten dabei in Betracht außer der Bewegung und so weiter? Ich möchte sagen, unter den mehr verborgenen Dingen, die beim Schreiben in Betracht kommen, kommt für die Gesundheit am meisten in Betracht der Geruch der Tinte, der Tintengeruch. Und der Tintengeruch selber ist bei der früheren Tintenfabrikation kein schädlicher gewesen, son­dern er war sogar in gewissem Sinne korrigierend. Was man sich ab­genützt hat, was man durch unnatürliche Lage gehabt hat, daß man die Hand angestrengt hat, das ist durch die alte Tintenfabrikation, durch die Galläpfel-Tintenfabrikation eigentlich ausgeglichen worden. Das­jenige, was man aus den Galläpfeln bekommen hat, das roch so, daß es

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fortwährend den Ätherleib eigentlich, wenn auch nicht viel, aber doch etwas stärkte. Als man angefangen hat, wie Sie wissen, Anilintinte zu machen, rein chemische Tinte herzustellen, also nicht mehr an die Natur herangegangen ist, sondern, wie man in der Chemie sagt, synthetische Tinte machte, da war der Mensch ganz abgeschlossen; und die Anilin-tinte verbreitet einen Geruch, der geradezu das Gegenteil von dem ist, was früher der Tintengeruch bewirkte. Jetzt geht man ja vielfach zur Schreibmaschine über. Gewiß, die Bewegungen, die man ausführen muß, das Klappern - es gibt jetzt auch schon Schreibmaschinen, die still schreiben, aber das ist die neueste Konstruktion erst -, das ist nicht das Allerschlimmste, sondern das Allerschlimmste ist der Dreck, der ver­wendet wird, um die Buchstabenfarbe zu machen. Der ruiniert total den menschlichen Ätherleib, bis dahin, daß die Leute durch Schreib-maschinenschreiben herzkrank werden, weil das Herz vorzugsweise durch den Ätherleib betrieben wird. Da macht die Kultur ja auch Fort­schritte; aber die werden nie anders ausgeglichen als durch Kenntnisse, die man haben kann über dasjenige, was dabei wirklich tätig ist. Es ist, nicht wahr, wirklich so, daß sich immer mehr die Gegenwart sträubt gegen den Fortschritt. Nun, das darf natürlich nicht sein; aber es liegt doch ein gewisser Instinkt dem zugrunde, der darin besteht, daß man merkt, wenn man es auch nicht ganz genau weiß: Es kommen immer schädlichere und schädlichere Dinge herauf gerade mit dem Fortschritt der Zukunft. Es hängt das zusammen. Aber es ist so.

Nun, was Ihre andere Frage betrifft, wie es kommt, daß diese außer­ordentlich gefährlichen Dinge zunächst auftreten, wenn man Mumien­gräber bloßlegt: Es ist das nicht bloß bei alten Mumiengräbern der Fall, sondern es ist zum Beispiel auch da der Fall, wo man nicht Mumien­gräber hat, wie in Ägypten drüben, sondern nur sonst die Gräber gut verwahrt sind und Felsengräber sind. Wenn man da hineinkommt, so ist schon auch eine außerordentlich vergiftende Luft vorhanden, die einem, wenn ich so sagen darf, entgegenkommt, die außerordentlich gefährlich und schädlich ist. Nun, woher kommt das?

Es wird Ihnen merkwürdig vorkommen, meine Herren, daß ich so weit ausholen muß, wenn eine solche Sache erklärt werden soll, aber nur dadurch können Sie sie verstehen. Sehen Sie, der Mensch lebt ja

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nicht bloß einmal auf der Erde, sondern - ich habe es Ihnen schon an­gedeutet - er lebt in wiederholten Erdenleben, er kommt immer wieder. Aber der Mensch ist, wenn er wiederkommt, ganz anders, als er vorher war. Sie würden alle wahrscheinlich sehr erstaunt sein, wenn einmal ein Maler käme und so gut Geisteswissenschaft kennen würde, daß er die ganze Gesellschaft, die hiersitzt, abmalte in einem früheren Erdenleben! Da würden Sie erstaunt sein, wie jeder von Ihnen früher ganz anders ausgesehen hat als jetzt. Es wäre das ganz interessant! Aber nicht wahr, die Kraft, daß man anders wird, die Kraft, die da ist, um den späteren Körper zu bilden, die bildet sich nicht bloß aus Mutter und Vater her­aus, sondern der Mensch bildet sich auch durch dasjenige aus, was in uns jetzt ist und durch den Tod getragen wird in die geistige Welt. Das wirkt nach. Was in den vorigen Erdenkörpern drinnen wirkt, das bleibt vorhanden.

Nun aber ist es so, daß Sie sagen können: Hat denn der Mensch wirklich die Kraft, dasjenige, was heute in ihm ist und was doch ganz zusammenhängt mit dem Körper, den er hat, so umzuwandeln, daß es einen ganz andern Körper gibt? - Heute könnte natürlich keiner das­jenige, was sein Eigenstes ist, so umwandeln mit dem, was er an geisti­gen Kräften drinnen hat, daß der andere Körper gebildet werden könnte. Aber Sie können auch nicht sterben und gleich wieder geboren werden, sondern es muß eine Zeit, und zwar eine ziemlich lange Zeit dazwischen vergehen. Diese lange Zeit dazwischen muß wirklich da sein. Da wandeln sich alle Kräfte um. Und unter normalen Verhält­nissen,wenn man nicht gerade ein Verbrecher oder ein ähnlicher Mensch gewesen ist, dauert eben diese Zeit ziemlich lang zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Wann kommt man wieder auf die Erde?, können Sie nun fragen. Man kommt wiederum auf die Erde, wenn die Verhält­nisse, in denen man gelebt hat, ganz andere geworden sind. Gewiß, manche Menschen kommen in die alten Verhältnisse schon wieder hin­ein; das tut ihnen dann sehr weh. Aber normalerweise komisit man eigentlich erst wiederum auf die Erde, wenn die Verhältnisse ganz andere geworden sind. Also man wird nicht wiederum in die alten Ver­hältnisse hineingeboren.

Ja, was wirkt denn dazu, daß diese alten Verhältnisse ganz andere

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geworden sind? Sehen Sie, man muß niemals bloß phantasieren, sondern man muß sich an die Wirklichkeiten halten. Die Kräfte, die wir haben, wenn wir nicht auf der Erde leben, sondern zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, die sind so, daß sie auch auf der Erde hier wirken. Aus allen Sternen und überall her strömen diese Kräfte uns zu. Das sind aber eigentlich unsere Kräfte. Wir sind nur während jener Zeit nicht auf der Erde. Während wir auf der Erde sind, wirken unsere Kräfte von der Erde aus; wenn wir nicht auf der Erde sind, wirken sie vom Himmelsraum herein. Und das sind gerade die Vernichtungskräfte. Die vernichten dasjenige an Verhältnissen, worinnen wir waren.

Von den äußeren Verhältnissen kann man das leicht verstehen; aber es geht bis in die Natur draußen hinein, meine Herren. Das geht bis in die Natur draußen hinein!

Denken Sie sich einmal unter den heutigen Verhältnissen, es wird ein Mensch verbrannt oder begraben. Nach einiger Zeit hat man das Be­wußtsein: Von diesem Menschen ist kaum noch etwas vorhanden. Und wenn Sie schließlich auf die Friedhöfe gehen und nach fünfzig, sechzig Jahren nachschauen, was da noch ist unter der Stelle, von der man weiß, da ist irgendeinmal einer von den Ahnen begraben worden, werden Sie höchstens noch ein paar Knochenreste finden; aber die lösen sich dann auch noch auf. Also es ist nichts mehr da von alldem, was vernichtet werden muß; es muß ja unser ganzer Leib vernichtet sein, wenn wir wieder geboren werden. Aber wenn äußerlich auch nichts mehr sichtbar ist von unserem Leib, so ist sogar noch sehr viel da; und derjenige, der die feineren Stoffe sehen kann, der findet schon, daß an der Stelle, wo ein Mensch begraben ist, sogar wo ein Mensch verbrannt ist, noch lange dasjenige nachwirkt, was eben einfach vom Menschen noch vorhanden ist. Das muß alles vorher vernichtet werden.

Nun war es bei den Ägyptern so, daß sie eine bestimmte Absicht hatten bei dieser Gewohnheit, Mumien zu bilden. Sie hatten die Ab­sicht, eigentlich im Grunde zu verhindern, daß die Menschen wieder herunterkommen müssen auf die Erde. Sie wollten das gar nicht; denn indem Sie den Leichnam konservieren, einbalsamieren, verhindern Sie das Herunterkommen. Sie wollten den Menschen die Annehmlichkeit, in der geistigen Welt zu sein, erhalten. Und die Folge davon ist, daß sie

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nicht nur die Mumien konserviert haben, sondern daß sie mit einer großen Kenntnis solche Stoffe verwendet haben, daß der physische Zusammenhalt so schön in der Form geblieben ist, daß wir heute noch die Mumien in Museen haben. Sie sind ein genauer Abdruck von dem, was eigentlich der Mensch dazumal war.

Nun ist es erstens überhaupt so, daß das, was sich seit Jahrtausenden erhalten hat, wie Gift ist, weil es vernichtend ist. Es gehört eigentlich den Vernichtungskräften an. Es leben in der Mumie ungeheuer viele Vernichtungskräfte. Es ist tatsächlich so, wenn Sie eine Mumie an­schauen und an dem Staube streifen, dann sind das lauter Vernichtungs­kräfte, die herauskommen. Diese Vernichtungskräfte sind da aus dem Grunde, den ich gesagt habe, weil eigentlich der Mensch vernichten will vom Außerirdischen aus, was da war, auch in der Form. Nun ist es da, und er hat seinen Vernichtungswillen hineingeschickt. Also es hat schon seine Vernichtungskräfte in sich.

Zweitens aber haben die Ägypter noch ganz besondere Stoffe an­gewendet, um diese Mumien zu erhalten. Diese Stoffe, die sind der Ver­nichtung ganz besonders feindlich. Und diese Stoffe verhalten sich in kurzer Zeit so, daß sie eine Giftatmosphäre erzeugen. In der Umgebung einer Mumie ist immer eine Giftatmosphäre. Die rührt aus dem reli­giösen Anschauen der alten Ägypter her.

Nun kommt natürlich noch etwas anderes dazu. Wodurch haben denn die Ägypter solche Stoffe bekommen, die sich in verhältnismäßig kurzer Zeit, während sie selber damit ganz gut haben arbeiten können, in Gift verwandelt haben? Sehen Sie, der heutige Mensch hat ja gar keine Ahnung mehr von der Kraft der Sprache! Die Kraft der Sprache war in älteren Zeiten, auch in der ägyptischen Zeit, eine ungeheure. Denken Sie sich heute ein Feuer, das einen starken Rauch verursacht. Wenn Sie in das Feuer hineinblasen, so verändern Sie die Rauchgestalt. Sie können den Rauch, indem Sie da hineinblasen, in irgendeiner Weise zum Wirbeln bringen, Sie können die Rauchgestalt also verändern. Das Blasen macht noch nicht viel aus. Aber wenn Sie anfangen, ein Lied­chen zu pfeifen, dann ist ja das auch ein fortwährendes Blasen und so weiter. Da gestalten Sie schon die Rauchflammen nach dem Inhalt des Liedchens. Das haben die alten Menschen immer gewußt, daß der Stoff,

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wenn sie in irgendeiner Weise in ihn hineinsprechen, und gar erst durch bestimmte Worte, ganz verändert wird. Nun haben sie ihre Spezereien verwendet zum Einbalsamieren der Mumien. Mit diesen Spezereien haben sie nicht so gearbeitet, wie wir heute arbeiten, sondern es ist immer so gearbeitet worden, daß während des Einbalsamierens etwas gesprochen wurde, was heute eben etwa lauten würde: Wer sich mei­nem Leibe nähert, wird den Tod finden. - Aber das ist in einem solchen Tonfall und in einer solchen Sprache gehalten gewesen, daß sich die Materie darnach gerichtet hat, so daß während des Einbalsamierens diese Kraft in den Stoff übergegangen ist. Das lebt darinnen. - Das kann der heutige Mensch gar nicht mehr glauben; es ist aber so. Wenn Sie also eine Mumie haben und an den Stoff einer Mumie herankom­men, so ist darinnen heute noch enthalten das uralte Wort: Wer sich meinem Leibe nähert, der stirbt daran, der findet den Tod. - Das ge­schieht auch, weil mittlerweile diese Materie jene Kraft bekommen hat, die durch das Wort in sie hineingekommen ist.

Heute ist das alles nur noch in den allerletzten Überresten vorhan­den. Aber gehen Sie in eine katholische Kirche - da hat der Priester nicht mehr die Macht, die Spezereien mit dem Worte zu bezwingen; aber einer geringeren Macht bedient er sich: er macht Weihrauch. Nun, die ganze Prozedur, die sich da abspielt, mag unschädlich verfließen, wenn das Richtige gemacht würde, wenn der Weihrauch entzündet würde, dann in den Weihrauch hinein gewisse Gebete gesprochen wür­den, oder Gedanken geschickt würden. Aber das geschieht nicht, son­dern es wird der Weihrauch gemacht; in den hinein werden bestimmte Worte gesprochen - die sind dann im Weihrauch drinnen, und die wir­ken dann auf die Leute, die in der Weihrauchatmosphäre sind. Daher ist der Weihrauchgeruch ein richtiges Mittel zur Bekehrung der Sünder.

Also Sie sehen, die letzten Reste von alldem sind noch geblieben! Aber dieses Einbalsamieren war tatsächlich eine religiöse Handlung, und man änderte die Materie um. Sehen Sie, ein Mann, den ich gut kenne, der sich asiatischen Gräbern genähert hat - die ägyptischen Gräber sind dafür besonders charakteristisch, die asiatischen haben es aber auch -, der hat gefunden: Man kann sich überhaupt nicht über eine gewisse Grenze diesen Gräbern nähern; man weiß: gehst du jetzt

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noch weiter, so wirst du ohnmächtig, oder stirbst. - Also man kann nicht herankommen; es hält einen die Giftatmosphäre zurück. Das ist aus dem Grunde, weil diesen Stoffen, mit denen die Leichen behandelt worden sind, in der Tat das Wort, das schädigende, vernichtende Wort eingepflanzt worden ist.

Aber jetzt kommt etwas anderes. Nicht wahr, wenn der Mensch vor zehn Jahrhunderten, vor einem Jahrtausend auf der Erde gewesen ist, so ändern sich ja seine Kräfte um. Er geht durch die Zeit zwischen Tod und neuer Geburt. Er kommt wieder. Nun hat er da die Kräfte, sich den neuen Körper aufzubauen. Diese Kräfte hat er. Die hat er nur da­durch, daß er im Geistigen alle Vernichtungskräfte überwinden kann. Also die Kraft, die aus dem Samen heraus wirkt, die wird gerade da­durch verstärkt. Denn der Mensch könnte heute nicht einen Menschen-samen zu einem Leibe formen, den er jetzt will, sondern der wird halt derjenige Leib, der vor Jahrhunderten da war. Die Kraft, die in irgend­einem Samen liegen wird, die muß alt sein, die muß von früher da sein. Mit der jetzigen Kraft kann man in keinem Samen etwas bewirken. Sehen Sie, damit der Same überhaupt bei der Pflanze im nächsten Jahr wirken kann, muß er durch den Winter den äußeren Kräften entzogen sein, den inneren Kräften der Erde zugewendet sein. Diese Kräfte sind für alles Äußere Vernichtungskräfte.

Nun wurden diese Kornkörner, die in die ägyptischen Königsgräber hineinkamen, doch eigentlich mit den Vernichtungskräften mitbegra­ben. Während also alles dasjenige, was jetziger Körper ist, zerstört wird, wenn der Mensch seinen Körper den Vernichtungskräften ent­gegenbringt, hat ja dasjenige, was im Samen liegt, entgegengesetzte Beziehungen. Das wird gerade in seiner Lebenskraft verstärkt. Dadurch kann es vorkommen, bei allen Körnern ist es nicht der Fall, aber bei vielen, daß dasselbe eintritt, was sonst nur während des Winters ein­tritt: daß, weil die Samenkörner der Pflanze mit den Vernichtungs­kräften zusammen sind - da sind sie in den Gräbern mit den Vernich­tungskräften der Leichname beisammen, deren Vernichtungskräfte so­gar konserviert werden, erhalten werden -, sie noch nach langer Zeit als frische Getreidekörner wirken können!

Und so muß man, gerade wenn man auf diese Dinge hinschaut, sich

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klar darüber sein, daß im Leben eben die Sachen vorkommen, die man mit der materialistischen Wissenschaft gar nicht verstehen kann, weil da wirklich geistige Kräfte wirken. Und die geistigen Kräfte fangen sofort an mitzuwirken, wenn eine gewisse Zeit im Erdenlauf ver-flossen ist.

Nehmen Sie einmal folgendes an. Natürlich, das ist etwas, was ich Ihnen nur erzählen kann; aber es ist möglich, daß der Mensch dazu-kommt, wirklich zurückzuschauen in frühere Erdenleben, für sich und für andere Menschen, die mit ihm zusammen waren. Aber da haben sich die früheren Menschen in Geist verwandelt. Es ist auch nichts von ihnen geblieben. Wenn also, sagen wir, ein Mensch, der im alten Grie­chenland gelebt hat, heute ein ganz weiser Mensch ist, wiedergeboren wird und seine Gestalt vom alten Griechenland anschauen kann, wie er da herumgewandelt ist, dann sieht er sie ja im Geist, sieht sie richtig im Geist. Würde plötzlich einmal durch irgend etwas - was weiß ich, durch einen Teufel -, das, was er im Geist sieht, in einen wirklichen Menschen verwandelt, das heißt, würde er sich als leibhaftiger Mensch wieder begegnen, so würde er davon sterben. Da stirbt man! Und der­jenige, der eine vergangene Inkarnation sehen würde, wie er wirklich physisch war, der wird auch den Kräften gegenüberstehen, die durch­aus das Zukünftige sterben machen wollen, richtig sterben machen wol­len. So ist es schon. Nun, dadurch entstehen ganz unnatürliche Verhält­nisse. Denken Sie sich, die Leute, die in Ägypten ihren Leibern nach mumifiziert worden sind, die also jetzt ihrer Gestalt nach daliegen, die sind ja längst auf die Erde wiedergekommen, sind längst wiederge­kommen! So daß sie gelebt haben, oder jetzt leben, und ihre früheren Gestalten sind da. Diese früheren Gestalten wirken nicht nur auf die Menschen, die wiedergekommen sind, sondern wenn der Mensch wie­dergekommen ist, wirken sie auch zerstörend auf die andern Menschen, die in der Nähe einer solchen erhalten gebliebenen Gestalt sind. So daß eigentlich von jeder Mumie in Wirklichkeit eine Feindschaft ausgeht gegen das menschliche Leben. Es ist gar nicht anders möglich: es geht eine Feindschaft von ihnen aus für das menschliche Leben. Das alles beachten die Menschen eigentlich nicht. Und dadurch kann es natür­lich auch vorkommen, daß Mumien, die besonders ehrgeizigen Men­schen

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mit großer Machtbefugnis angehört haben, in die man viel ge­heimnißt hat, daß sie sich recht lang erhalten und schädlich wirken sollen, tatsächlich einmal so schlimm wirken können, daß, wenn man in ihre Nähe kommt, man krank wird und unter Umständen auch stirbt. Daher diese unerklärlichen Sachen, die jetzt herauskommen.

Nun bleibt noch das Dritte übrig: daß Sie diesen Nachrichten nach erfahren, daß es außerordentlich schwierig ist, an diese Gräber heran­zukommen. Es ist in der Tat furchtbar schwierig. Und wenn wir heute von den alten Mysterien hören - das tun wir ja vielfach -, da ist es auch so, daß man fragen kann: Wo sind denn diese Mysterien? Ja, man müßte erst tief in die Felsen hineingraben, da würde man auf Höhlen kommen; in diesen Höhlen würde man, wenn man es entziffern könnte, allerlei interessante Schriftzeichen sehen. Das ist alles heute im Grunde von Felsen bedeckt, Felsen, die so verwachsen sind, bei denen die Nar­ben, diese Narben, die ja entstehen, wenn man Felsen bearbeitet, so ver­wachsen sind, daß man heute, wenn man es oberflächlich anschaut, gar nicht bemerkt, daß diese Felsen nicht von Natur dahin gekommen sind, sondern eigentlich von Menschenhänden bearbeitet worden sind. -Und es war schon so, daß der Ägypter wollte, daß die Gräber geschützt sind. Also er hat sie tief in den Felsen hineingearbeitet und dann außer­dem noch künstliche Gebilde darüber gemacht, die allmählich im Laufe der Jahrtausende sich verwandelt haben, so daß sie wie natürliche Fel­sengebilde oder Felsenhügel ausschauen.

Da bleibt nur die einzige Frage, die Sie aber dazu führen wird, vieles aus der Geschichte zu verstehen, was man sonst gar nicht versteht. Nun, ich möchte wissen, wie es möglich wäre, wenn heute eine Anzahl von Menschen, und seien es noch so viele, solche Kräfte aufbringen müßten, wie man sich vorstellen muß, daß sie notwendig sind, um diese Sachen aufzubauen! Schon zum Zerstören gehört so viel Zeit, wie Sie gesagt haben! Denken Sie sich nur einmal, die Pharaonen - so haben die ägyp­tischen Könige geheißen -, die hatten die Macht, durch ihre starke Geistigkeit auf Menschen zu wirken. Wenn man in den Stoff hinein­wirken kann, kann man erst recht mit den Worten auf Menschen wir­ken. Das tun wir heute nicht, weil heute der Mensch überzeugt sein soll von dem, was er hört. Aber diese alten Pharaonen, die hatten eine un­geheure

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Macht. Daher konnten sie auf die Kraft der Menschen, auf deren Arbeitskraft, ungeheuer wirken. Nun müssen Sie aber eine andere Erscheinung zu Hilfe nehmen, um das zu verstehen. Sehen Sie, der nor­male Mensch kann ja gewisse Dinge heben und verrücken und so wei­ter. Aber haben Sie nicht schon gesehen, wenn einer verrückt wird, daß ungeheure Kräfte in ihm wachsen? Sie können manchmal darüber erstaunt sein, was ein Mensch für Kräfte kriegt zum Heben von Dingen, die er sonst nicht heben kann, im Tragen von Dingen, die er sonst nicht tragen kann! Und was er erst für Kräfte kriegt, wenn er mit Ihnen rauft! Sie können ihn spielend leicht überwunden haben, als er noch nicht verrückt war; wird er verrückt, sofort hat er Sie niederge­worfen. So wachsen die Kräfte dem Menschen, wenn er wahnsinnig geworden ist.

Nun waren das die Ägypter nicht. Sie waren aber auch nicht so besonnen wie wir heute, sondern waren in einem traumhaften Leben, hatten riesige Kräfte. Und wie wenig Leute man brauchte im alten Ägypten, um einen riesigen Stein zu heben, zu wälzen, an seinen Ort zu bringen, der manchmal sehr hoch sein konnte, davon hat heute der Mensch überhaupt keine Begriffe mehr. Der Mensch heute kann sich gar nicht mehr vorstellen, daß es Zeiten gegeben hat, in denen fünf Menschen einen ungeheuren Felsblock von weither genommen hatten und hoch hinauf befördern konnten. Die Kräfte der Menschen im alten Ägypten waren eben ungeheuer groß. Und das konnte man natürlich nur dadurch bewirken, daß man die Kräfte bei diesen Menschen da­durch ausgebildet hat, daß man sie geradezu zu Sklaven gemacht hat. Aber die Sklaverei war nicht bloß dazu da; das erwies sich, als die Menschheit schon schwach geworden war und der Verstand schon er­wachte. In der Zeit, die auf die ägyptische folgte, wird mit dem Ver­stand die physische Kraft schon vermindert. Da nimmt sich das Skla­ventum so aus, daß man es nur in Gang halten will, es gefügig in Gang halten will. Früher war es aber noch anders; da hat man die ganze Natur des Menschen dumpf und stumpf und traumhaft gelassen, weil man dadurch seine physische Kraft verstärken konnte. Und durch solche künstlich gezogenen physischen Kräfte sind namentlich solche Dinge gebaut worden wie diese Königsgräber, zu deren teilweisen Zer­störung,

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um hineinzukommen, man heute einen so riesigen Arbeits­aufwand braucht.

Nicht wahr, über all diese Sachen werden ja wirklich die irrtüm­lichsten Ansichten verbreitet, aus dem Grunde, weil heute meistens die am meisten materialistisch gesinnten Menschen an diese Sachen heran­kommen. Die können gar nicht verstehen, was da eigentlich ist. Da gräbt einer ein Königsgrab auf - muß sterben. Die Leute sind furchtbar verwundert darüber, weil sie nicht wissen, daß das eigentlich im Grunde mit beabsichtigt war von den alten Ägyptern, daß der stirbt. Sie haben die Mittel gehabt, um auch durch die Zeit hindurch zu wirken.

Vergegenwärtigen Sie sich nur dieses: Sagen wir, Sie sind in Basel und Sie haben einen Funktelegraphen; irgend jemand in Berlin fängt das Telegramm auf, er hört, was Sie im Funktelegraphen sagen. Nicht wahr, das ist dem Raume nach weit weg, ganz weit weg. Warum? Weil wir in unserem Funktelegraphen, den wir entdeckt haben, den Raum überwinden und imstande sind, durch den Raum hindurch zu wirken. Ganz woanders erscheint das, was dem Funkspruch übergeben wird. Der Funkspruch geht durch den Raum, und auf einer andern Ecke lebt er auf. Ja, meine Herren, denken Sie sich, hier lassen Sie den Funk-spruch los: Wer hört, was ich sage, der stirbt! - und nun denken Sie, es hörte dies hier ein sehr nervöser Mensch, ein furchtbar beeinflußbarer Mensch. Der vernimmt: Wer hört, was ich sage, der stirbt -, natürlich muß er schon sehr nervös sein, aber er kann auch aus Schreck sterben, besonders wenn der, der da redet, der den Funkspruch gibt, ein Ver­rückter ist. Denn die Kräfte, die beim Verrückten in der Sprache leben, sind ja viel überwältigender als die Kräfte des besonnenen Lebens. Wenn also da ein Verrückter hereinspricht und dort einer den Spruch des Verrückten hört, der kann sterben.

Nun haben eben die Ägypter die Möglichkeit gehabt, in ihren Grä­bern solches zu konservieren, solche Sprüche hineinzureden. Die wirken jetzt nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit. Und wenn jetzt der Engländer seine Nase hineinsteckt, dann weiß er nicht, daß im Ge­ruch, der in die Nase hereingeht, die in die Spezereien hineinversetzten Worte wirken.

Der Mensch, der hier am Funktelegraphen als nervöser Mensch

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horcht, zuhört dem Funkspruch des Verrückten, der muß wenigstens aus Schreck sterben. Der andere aber stirbt, ohne daß er etwas hört, weil es im Geruch liegt. Er stirbt davon. Da hinein ist der «Funk-spruch» - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf - hineingezaubert; und man setzt sich eigentlich in zeitliche Ferntelegraphie mit dem, was die alten Ägypter getan haben. Die wollten ja den töten, der seine Nase hineinsteckte. Das geschieht nur eben, weil sie die Kunst gekannt haben, die entsprechenden Worte in die Spezereien hineinzusprechen, so daß sie wirken.

Sehen Sie, wenn Sie an diese Dinge mit geistigem Wissen herangehen, dann kann man über sie nicht mehr verwundert sein. Aber das Merk­würdige ist, daß, indem der Mensch heute überall hinkommt und seine Untersuchungen macht, er mit der Nase manchmal, wie diese letzten Fälle zeigen, in recht unangenehmer Weise daraufgestoßen wird, wie der Geist wirkt. Diejenigen, auf die dann der Geist am stärksten wirkt, dadurch, daß er sie tötet, die würden, wenn sie nachher nach ihrem Tod Weisheit verbreiten könnten, schon die Wahrheit reden! Nun, das geht nicht. So müssen wir sie selber aussprechen, die Ratschlüsse aus der geistigen Welt.

ZEHNTER VORTRAG Dornach, 5. Mai 1924

#G353-1968-SE161 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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ZEHNTER VORTRAG

Dornach, 5. Mai 1924

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Guten Morgen, meine Herren! Hat sich heute irgend jemand von Ihnen etwas ausgedacht?

Herr Erbsmehl: Ich möchte einmal fragen, wie es kommt, daß die heutigen Men­schen den Sternenhimmel so betrachten, wie sie es tun, und die alten Babylonier ihn doch noch ganz anders betrachtet haben?

Dr. Steiner: Nun, die Frage gehört dahin, überhaupt etwas zu sagen über den ganzen Umschwung, der in der Betrachtung der Welt einge­treten ist. Sie haben ja diesen astronomischen Kursus hier - durch Fräu­lein Dr. Vreede - und werden sehen, wie schwer es heute eigentlich ist, durch die rechnerischen und mathematischen Betrachtungen durchzu­kommen.

Sehen Sie, wenn man sich klarwerden will über diese Dinge, so muß man sich vor allem vorstellen, daß die älteren Menschen noch viel, man kann schon sagen, geistiger waren als die gegenwärtigen Menschen. Man hat verhältnismäßig lange noch etwas von denjenigen Wirkungen in der Natur gewußt, die heute eigentlich ganz unbekannt sind. Ich möchte Sie auf einiges in dieser Richtung aufmerksam machen. Denn man kann nicht begreifen, was die alten Babylonier und Assyrier mit ihrer Sternenwissenschaft wollten, wenn man nicht gewisse Dinge be­greift, die heute eigentlich ganz unbekannt sind.

Es erzählt zum Beispiel noch R. folgendes: er habe es in Agypten, also in einer wärmeren Gegend, von der wir ja auch in der letzten Stunde so merkwürdiges gehört haben, nicht wahr, dahin gebracht, durch seinen Blick, indem er die Tiere in einer gewissen Weise an­geschaut hat, zum Beispiel Kröten, die ihm entgegengekommen sind, durch das Anstarren in die Augen der Kröte hinein, die Kröte zum Stillhalten zu bringen, und dazu zu bringen, daß die Kröte sich über­haupt nicht mehr rühren konnte. Die Kröten waren wie gelähmt. Das ist ihm in wärmeren Gegenden, in Ägypten zum Beispiel, immer ge­lungen. Er hat da die Kröten lähmen und nachher auch töten können. Dasselbe wollte er aber auch in Lyon treiben. Da kam ihm eine Kröte

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entgegen. Er schaute sie an, starrte sie an, und siehe da - er wurde ge­lähmt! Er konnte sein Auge nicht mehr bewegen, war gelähmt, wie wenn er tot wäre. Erst als die Leute dazugekommen sind und einen Arzt geholt haben, und man ihm Viperngift, Schlangengift gegeben hat, was ihn eben aus dem Krampfe herausriß, ist er wieder davongekom­men. Da hatte sich die Geschichte gedreht. Also Sie sehen, man braucht nur von wärmeren Gegenden nach Lyon zu gehen, da drehen sich sol­che Wirkungen, die ausgehen von Naturwesen, einfach um.

Wir können also sagen: Es gibt schon Wirkungen - denn es ist ja eine Entfaltung des menschlichen Willens -, die sehr eng zusammen­hängen mit dem menschlichen Willen. Es gibt solche Wirkungen. Und diese Kräfte, die sind eben auch da. Denn nicht wahr, was vor einem Jahrhundert noch da war, das ist heute auch noch da, wird immer da sein, solange die Erde besteht. Aber die Menschen wollen heute nicht mehr von solchen Dingen wissen und bekümmern sich nicht mehr um sie.

Aber, sehen Sie, meine Herren, das hängt noch mit einigen andern Dingen zusammen. Wir müssen, wenn wir einsehen wollen, wie gewisse Dinge sind, Rücksicht nehmen auf den Ort, wo sie gemacht werden. Wir müssen also in einem gewissen Sinne die Geographie zu Hilfe ziehen. Aber wiederum nicht diejenige Geographie, die heute die gültige ist, denn die redet nicht von dem Unterschied der Krötenwirkungen, vom Menschen ausgehend oder zum Menschen hin, sondern die redet bloß von ganz äußerlichen Dingen.

Nun will ich Ihnen noch ein anderes Beispiel nach dieser Richtung erzählen. Es gab im 17. Jahrhundert einen Gelehrten, van Helmont. Dieser Gelehrte, der hatte noch viel von demjenigen in sich, was man früher gewußt hat. Denn eigentlich sind die Dinge des früheren Wis­sens erst im 19. Jahrhundert ganz verlorengegangen. Im 17. Jahrhun­dert waren sie ziemlich stark noch da, und im 18. Jahrhundert, da be­gann schon das Zugrundegehen. Aber im 19. Jahrhundert, da sind die Leute eben nach ihrer eigenen Meinung ganz gescheit geworden!

Dieser van Helmont hat nachgesonnen, wie man mehr wissen könnte, als man es durch den gewöhnlichen menschlichen Verstand haben kann. Heute denken die Menschen ja nicht nach darüber, wie man mehr wis­sen könnte, als man durch den gewöhnlichen Verstand wissen kann,

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weil sie glauben, daß der menschliche Verstand alles wissen kann. Aber van Helmont, der Arzt war, hat nicht sehr viel gegeben auf diesen menschlichen Verstand. Er wollte ein geistiges Wissen.

Aber das geistige Wissen auf geistige Art zu erringen, so wie man es heute in der Anthroposophie versucht, das war dazumal noch nicht möglich. So weit war die Menschheit nicht. So hat van Helmont noch ältere Methoden angewendet. Da hat er folgendes gemacht, wovon ich natürlich nicht irgendwie die Empfehlung geben möchte, daß es nach­gemacht werde. Das kann man nicht. Heute wirkt es auch nicht mehr so wie dazumal. Aber van Helmont hat das noch gemacht. Er nahm eine gewisse Pflanze, die eine giftige Heilpflanze ist. Bei gewissen Krankheiten verschreibt man sie. Die nahm er also; von dieser Pflanze wußte er natürlich, da er Arzt war, daß er sie nicht essen kann, weil sie eben den Tod bringen würde. Aber er leckte etwas an der Spitze der Wurzel, am unteren Teil der Wurzel. Und da beschreibt er dann den Zustand, in den er gekommen ist, in der folgenden Weise. Er sagt, er hätte so etwas empfunden, wie wenn sein Kopf ganz ausgeschaltet wor­den wäre, wie wenn er kopflos geworden wäre. Er war ganz kopflos geworden davon. Es war natürlich nicht etwa der Kopf heruntergefal­len, aber er hat ihn nicht mehr gespürt. Da hat er durch den Kopf nichts mehr gespürt. Aber jetzt hat angefangen, seine Bauchgegend so zu wir­ken wie ein Kopf. Und siehe da, er hat eine große Erleuchtung bekom­men in Form von Bildern, was wir heute in der Anthroposophie Imagi­nation nennen, in Form von Bildern von der geistigen Welt her. Und das hat ihm einen großen Ruck gegeben im Leben, einen furchtbaren Ruck; denn jetzt wußte er: man kann nicht nur durch den Verstand etwas sagen über die geistige Welt, sondern man kann auch wirklich die gei­stige Welt sehen. Er hat nicht etwa durch das Nervensystem, das im Stoffwechsel-Gliedmaßensystem des Menschen ist, gedacht, sondern er hat angeschaut, gesehen eine wirkliche geistige Welt. Er hat also von der geistigen Welt dadurch Imaginationen bekommen.

Das hat zwei Stunden gedauert. Nach diesen zwei Stunden hat er ein ganz klein wenig Schwindelanfall gehabt. Dann ist er gesund ge­worden. Nun können Sie sich denken, das hat natürlich seinem Leben einen bedeutenden Ruck gegeben; denn von diesem Zeitpunkt an hat er

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gewußt, daß man die geistige Welt sehen kann. Aber er hat noch etwas anderes gewußt. Er hat gewußt, daß der Kopf mit seinem Denken ein Hindernis ist für das Schauen der geistigen Welt.

Wir machen es natürlich nicht so, daß wir, wie van Helmont, an einer Pflanzenwurzel lecken - das glauben ja manche Leute, das ist aber ein Unsinn -, aber es wird durch geistige Übungen das Kopf-denken selber ausgeschaltet. Der Kopf ist nur dazu da, daß er das­jenige auffaßt, was mit dem übrigen Organismus des Menschen ge­schaut wird, angeschaut wird. Also es wird auf geistige Art derselbe Vorgang hervorgerufen, den auf uralte Weise van Helmont hervor­gerufen hat.

Nun sage ich Ihnen heute nicht alles, was notwendig wäre, um Sie noch einmal hinzuweisen auf die geisteswissenschaftliche Schulung; das kann bei anderer Gelegenheit geschehen. Aber heute sage ich Ihnen das auf die Frage von Herrn Erbsmehl hin. Gerade die Dinge, die ich Ihnen heute erzählt habe, die zwei Dinge, die hängen nämlich zusammen mit der Sternenwirkung. Und da man heute die Sternenwirkung überhaupt leugnet, so sieht man nicht mehr auf diese Dinge hin.

Van Helmont, der hat nun diesen großen Ruck in seinem Leben er­fahren, und er hat, weil es ihm gefallen hat, die Sache öfter wieder­holen wollen, hat noch öfter einmal genascht an dieser Pflanzenwurzel-spitze. Und da ist ihm nicht mehr dasselbe gelungen.

Ja, was bedeutet denn das, daß ihm nicht mehr dasselbe gelungen ist? Sehen Sie, das bedeutet, daß der van Helmont irgend etwas später getan hat, was nicht mehr ganz übereinstimmte mit dem früheren. Van Helmont hat selber keine Erklärung dafür. Nun kann ich Ihnen natürlich nicht sagen - aus dem van Helmont können Sie das selber gewinnen, was ich Ihnen jetzt sagen werde -, weil der van Helmont nicht das Datum angibt, wann er das erstemal an der Pflanzenwurzel-spitze genascht hat. Aber aus dem, was man sonst aus der Geisteswis­senschaft wissen kann, kann man das Folgende sagen.

Sehen Sie, das erstemal, als der van Helmont an dieser Pflanzen­wurzelspitze genascht hat, da war gewiß Vollmond. Und das hat er nicht beachtet. Und später hat er es nicht mehr bei Vollmond gemacht, und da ist es ihm nicht mehr in der Weise gelungen. Es ist ihm etwas

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zurückgeblieben vom erstenmal; er hat immer wieder etwas in die geistige Welt hineinsehen können. Aber solch ein Ruck, wie das erste­mal, ist ihm nicht wieder gelungen.

Nun wußte er im 17. Jahrhundert schon nicht mehr, daß das vom Monde abhängig ist und glaubte, daß es von der Pflanzenwurzel allein herrühre. Aber in älteren Zeiten hat man solche Dinge ganz genau ge­wußt. Und daher war in älteren Zeiten überall auch diese Ansicht ganz lebendig, daß die Sterne auf das Leben der Menschen, der Tiere und der Pflanzen einen sicheren Einfluß haben.

Wenn man nun prüfen würde, wie solche Sachen geschehen, so müßte man sich sagen: Wir essen zwar nicht Giftpflanzen, aber wir essen doch Pflanzen, essen auch die Wurzeln der Pflanzen. Und wäh­rend man die Giftpflanzen nur anwenden kann bei der Heilung, wen­det man die andern Pflanzen, die nicht Giftpflanzen sind, als Nahrungs­mittel an. Sehen Sie, da ist die Sache so: Wenn man eine Pflanzenwurzel ißt, so steht diese geradeso wie die giftige Pflanzenwurzel unter dem Einfluß des Mondes. Der Mond hat einen Einfluß auf das Wachstum der Pflanzenwurzeln. Daher sind auch gewisse Pflanzenwurzeln bei einer gewissen menschlichen Konstitution sehr notwendig. Sie wissen ja, daß es zum Beispiel auch eine Bevölkerung gibt des Darmes, also der Verdauungsorgane, Würmer, die etwas sehr Lästiges darstellen. Nun, für Leute, die leicht Würmer haben, ist ein gutes Nahrungsmittel die Rote Rübe. Die Rote Rübe kann nicht in den Darm hineinkommen, ohne daß die Würmer böse werden; sie werden gelähmt, und gehen dann mit dem Darmkot ab. So daß Sie also daraus ersehen, daß auf das Leben dieser niederen Tiere, der Würmer, die Wurzel schon auch einen Einfluß hat. Die Rote-Rüben-Wurzel vergiftet uns nicht, aber sie ver­giftet die Würmer. Und wiederum ist das so, daß Sie finden werden, daß die stärkste Wirksamkeit zur Vertreibung der Würmer dann aus­geht von jenen Pflanzenwurzeln, welche wir essen während des Voll­mondes. Solche Dinge müssen durchaus berücksichtigt werden.

Nun, sehen Sie, man kann sagen: Wenn man die Pflanzenwurzel studiert, dann ist das so, daß die Pflanzen uns etwas geben, was sehr stark wirkt auf das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem. Man könnte so­gar Leuten, welche gewisse Krankheiten haben, dadurch große Hilfe

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gewähren, daß man ihnen gerade eine Wurzeldiät gibt, Wurzeln zu essen gibt, und es so macht, daß man es zur Zeit des Vollmondes gibt, und zur Zeit des Neumondes aussetzen läßt.

Nun, sehen Sie, alles dasjenige, was man also an den Pflanzen beob­achten kann, hat aber auch für den Menschen eine Bedeutung, nämlich für die menschliche Fortpflanzung, für das menschliche Wachstum. Kinder, die die Sucht haben, klein zu bleiben, die könnte man auch mit einer Wurzelnahrung etwas aufpäppeln, daß sie leichter wachsen wür­den; man muß es nur in entsprechender Jugend tun, zwischen der Ge­burt und dem siebenten Lebensjahr. Auf alles dasjenige, was in der Pflanzenwelt, und auf alles dasjenige, was in der Tierwelt und Men­schenwelt mit der Fortpflanzung, mit dem Wachstum zu tun hat, haben die Mondenkräfte einen großen Einfluß. Man muß also den Mond nicht nur studieren dadurch, daß man ein Fernrohr auf ihn richtet, sondern dadurch, daß man das studiert, was er bewirkt auf der Erde. Und bei den Babyloniern und Assyriern wußten diejenigen, die dort die Gelehr­ten waren, die man damals Eingeweihte genannt hat, genau: diese Pflanze steht so unter dem Einfluß des Mondes, eine andere so, und so weiter. Die sprachen nicht vom Mond als einer bloßen Kugel, die da oben vereist im Weltenraum ist, sondern die sahen die Mondenwirkun­gen überall. Und diese Mondenwirkungen, die zeigen sich ja haupt­sächlich an der Oberfläche der Erde. Sie gehen nicht tiefer in die Erde hinein. Sie gehen gerade noch so weit, daß die Wurzeln der Pflanzen angeregt werden können. Sie stecken gar nicht in der Erde drinnen.

Sie können zum Beispiel den Beweis finden, daß die Mondenkräfte gar nicht in die Erde hineingehen. Wenn Sie irgendwo Schwimmer fragen, die schwimmen wollen bei Mondenlicht, so werden Sie finden, die gehen bald wieder heraus, weil sie immer das Gefühl haben, sie ver­sinken. Es ist das Wasser stockschwarz. Es geht nicht ins Wasser hinein, es geht gar nicht tiefer hinein, es verbindet sich nicht mit der Erde, das Mondenlicht. Und so sehen Sie, daß die Sache so ist, daß die Tiere und Pflanzen unter einem Einfluß des Mondenlichtes stehen, das gar nicht von der Erde aus wirkt, sondern nur von der alleräußersten Oberfläche noch bis zur Wurzel der Pflanze. Nun, dieses gibt Ihnen einen ersten Aufschluß über den Sternenhimmel.

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Gehen wir jetzt zu dem Beispiel, das ich Ihnen angeführt habe von R., der Kröten lähmen, ja töten konnte in der heißen Zone, der aber selber gelähmt wurde in der gemäßigten Zone, in Lyon. Was liegt denn da zugrunde?

Ja, meine Herren, Sie müssen nur bedenken: Wenn die Erde, die ja nahezu eine Kugel ist, von der Sonne beschienen ist, so fallen die Son­nenstrahlen in der heißen Zone fast senkrecht auf. Da wirken sie ganz anders als in der gemäßigten Zone, wo sie schief auf die Erde auffallen, unter einem ganz andern Winkel. Und ebenso wie Wachstum und Fort­pflanzung bei den Pflanzen und beim Menschen unter dem Einfluß des Mondes steht, so steht dasjenige, was seine inneren animalischen Kräfte sind, was sich überträgt auf den Blick, unter dem Einfluß der Sonne. Diese animalischen, diese tierischen Kräfte, die hängen von der Sonne ab. So daß also die Sonne bewirkt mit ihren Kräften, daß in Ägypten der Mensch die Kröten leicht faszinieren, lähmen, ja töten kann, wäh­rend er sich in der gemäßigten Zone dem Einfluß der Kröten selber hin­geben muß. Das hängt also wiederum von der Sonne ab.

Und dann werden Sie ja wissen, daß einem manchmal das Denken, überhaupt das ganze innere Leben schwerer ist, manchmal leichter ist. Das hängt wiederum ab vom Saturn, je nachdem, wo er steht.

Und so haben wir für alles, was im menschlichen, im tierischen, im pflanzlichen Leben auftritt, Sternenwirkungen. Bloß die Mineralien sind Erdenwirkungen. Daher kann man mit einer Wissenschaft, die sich bloß auf das Irdische beschränkt, gar nicht dahin kommen, den Men­schen irgendwie wirklich zu begreifen. Und man kann auch nicht wis­sen, was die Sterne tun, wenn man nicht die Taten der Sterne anschaut.

Denken Sie sich einmal - heute ist das ja nicht mehr so schlimm, aber früher konnte es noch vorkommen -, daß einer meinetwillen ein großer Staatsmann wäre. Aber man hätte nun fragen können diejenigen, die mit ihm im Hause wohnten, für ihn kochten, die Köchin zum Beispiel, die sich gar nicht interessiert hat für Staatskunst, was der Mann tut. Da hätte sie vielleicht gesagt: Der frühstückt, ißt Mittagsbrot, ißt Abendbrot; sonst tut er überhaupt nichts, während der andern Zeit geht er fort. Sonst tut er nichts. - Die hätte einfach nicht gewußt, was er sonst noch tut.

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Die heutigen Gelehrten reden so vom Sternenhimmel, reden auch nur das von den Sternen, was sie errechnen können, wissen nur das. Die andern, die früheren Menschen, haben sich interessiert für das, was die Sterne sonst noch tun. Und daher haben sie eine solche Sternenwissen­schaft gehabt. Die wußten, der Mond hat eine Beziehung zu dem Pflanzlichen im Menschen, die Sonne zu dem Tierischen im Menschen, und der Saturn hat eine Beziehung zu dem ganz Menschlichen im Men­schen. Und so gingen sie weiter.

Nun sagten sie sich: Die Sonne hat also eine Beziehung zu dem Tie­rischen im Menschen. Wenn die Sonne ganz senkrecht aufscheint, dann kann der Mensch in der heißen Zone stark auf die Tiere wirken. Sehen Sie, es gibt zum Beispiel in Europa eine starke Wirkung von dem Menschen auf die Pferde; aber so innig zusammenhängend mit dem Pferde, wie es bei den Arabern ist, also in der heißen Zone, so kann es in Europa niemals werden, weil diese Beziehung zwischen den Menschen und den Tieren eben da nicht stattfinden kann. Das hängt ab von dem senkrechten Auffallen der Sonnenstrahlen, von den Sonnenwirkungen.

Und weiter. In Babylonien und Assyrien wußte man, von der Sonne gehen gewisse Wirkungen, gewisse Kräfte aus. Aber nun haben die Leute beobachtet die Sonne (es wird gezeichnet); da ist das Sternbild des Löwen, haben sie sich gesagt, also eine Gruppe von Sternen draußen auf dem Himmel, und da ist meinetwillen das Sternbild des Skorpions. Nun gibt es eine gewisse Zeit im Jahre, da steht die Sonne im Sternbild des Löwen, das heißt, sie deckt den Löwen zu; man sieht hinter der Sonne den Löwen. Zu einer andern Zeit deckt die Sonne das Sternbild des Skorpions zu, oder das Sternbild des Schützen oder irgendeine andere Sterngruppe.

Nun wußten die Babylonier und Assyrier: Diese Wirkungen, die vom Menschen auf Tiere ausgehen, die sind dann am stärksten, wenn die Sonne vor dem Löwen steht; sie werden schwächer, wenn die Sonne weitergeht und in der Jungfrau oder im Skorpion steht. Also sie wußten nicht nur, bei den Planeten besteht eine Beziehung in bezug auf das, was der Mensch macht, sondern sie wußten, es besteht auch eine Beziehung zu der Stellung der Sonne, ob sie den Löwen bedeckt, oder den Skor­pion bedeckt, denn da ändern sich diese Dinge.

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Was tut man heute? Heute rechnet man einfach aus: die Sonne steht im Tierkreis im Widder, im Stier, in den Zwillingen, im Krebs, im Löwen, in der Jungfrau, in der Waage, in den Fischen und so weiter; da rechnet man aus, wie lange sie in dem Sternbilde steht, wann sie dar­innen steht und so weiter. Daß am 21. März die Sonne im Sternbild der Fische steht, das weiß man, aber mehr weiß man halt nicht. Die alten Babylonier wußten zum Beispiel noch, daß, wenn die Sonne in einem gewissen Sternbilde steht, das man die Plejaden nennt, dann der mensch­liche Kopf am freiesten ist. Das alles wußten sie. Sie konnten das leicht beurteilen, weil sie eben in einer heißeren Gegend wohnten als wir und da eine gewisse Wissenschaft ausbildeten, nach der sie den ganzen Men­schen aus dem Himmel heraus begriffen.

Wenn man also sagen kann, diese Wissenschaft war so, daß sie auf den Menschen angewendet wurde - nun, so ist diese Wissenschaft eben allmählich dann vergessen worden. Damals aber hat man das Planeten-system überschaut, und hat auch den Fixsternhimmel überschaut. Man wußte, je nachdem ein Planet da oder dort steht, bedeutet er für das menschliche Leben dies oder jenes. Man wußte, wenn die Sonne im Löwen steht, so übt die Sonne den stärksten Einfluß aus auf das mensch­liche Herz.

Die Leute haben jetzt probiert, wie das nun ist mit den Mineralien. Sie haben sich gesagt: Auf Pflanzen, Tiere und Menschen wirken die Sterne; auf die Mineralien wirken sie nicht. Auf die Mineralien wirkt bloß die Erde. Aber die Mineralien in der Erde sind ja nicht heute bloß entstanden, sondern sie sind viel früher entstanden, und waren in alten Zeiten auch Pflanzen. Alle Mineralien waren Pflanzen. Von den Stein-kohlen wissen Sie es ja, daß sie Pflanzen waren. Aber ebenso wie die Steinkohlen waren alle andern Mineralien früher einmal Pflanzen. Da hat der Mond auf sie einen Einfluß gehabt, und in noch früheren Zeiten auch die Sonne, und in noch früheren Zeiten auch der Saturn. Und nun wollte man wissen, welches Mineral in viel früheren Zeiten, als es noch Pflanze war, einen Einfluß von der Sonne gehabt hat. Da hat man die Mineralität geprüft in ihrer Wirkung auf den Menschen, und hat zum Beispiel herausbekommen: Wenn die Sonne vor dem Löwen steht und den starken Einfluß auf das Herz hat, dann kriegt man dieselbe Herzwirkung

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heraus, wie wenn man dem Menschen Gold eingibt. Daraus haben sie geschlossen, daß die Sonne einmal einen großen Einfluß auf das Gold gehabt hat. Oder wenn Saturn im Sternbild der Plejaden steht, dann ist der stärkste Einfluß auf den menschlichen Kopf. Der wird nämlich frei. Und dann haben sie probiert, welches Mineral einmal, als es noch Tier war - denn bevor die Mineralien Pflanzen waren, waren die Mineralien Tiere -, den stärksten Einfluß gehabt haben kann vom Saturn aus. Und dann haben sie gefunden, das ist das Blei. Und auf diese Weise bekommt man heraus, daß das Blei auch dahin wirkt, daß der menschliche Kopf freier wird. Man muß daher jemandem, der einen dumpfen Kopf kriegt, und bei dem es daher rührt, daß er gewisse Ver­dauungsprozesse, die eigentlich im Kopf nicht mehr vor sich gehen soll­ten, durch Krankheit mit dem Kopf ausführt, man muß dem Blei ein­geben.

Und so bekommt man für jeden Planeten ein Metall. Daher haben die Babylonier und Assyrier die Sonne mit diesem Zeichen geschrieben:

O. Aber mit diesem Zeichen haben sie auch das Gold geschrieben. Sie haben also gewußt, die Sterne haben jetzt, wo die Erde da ist, keinen Einfluß mehr auf die Mineralien, aber sie haben ihn einmal gehabt. Sie haben die Sonne und das Gold so aufgeschrieben: O. Wir schreiben die Sonne und das Gold halt mit den Buchstaben, die in unserem Alphabet sind; aber die Alten haben immer dieses Zeichen gemacht: O. Sie haben auch nicht «Blei» geschrieben, sondern sie haben dieses Zeichen ge­macht: h, und das bedeutet sowohl Saturn wie Blei. Keinem wäre es eingefallen in den alten Zeiten, mit gewöhnlichen Buchstaben Saturn oder Blei zu schreiben. Wenn er das schreiben wollte, schrieb er dieses Zeichen 1 hin. Wenn er «Silber» schreiben wollte, schrieb er dieses Zeichen hin: (( . Das bedeutet sowohl den Mond wie das Silber. So daß man also die Erde, insoferne sie metallisch ist, auch auf die Sterne bezog.

Ja, sehen Sie, man weiß eigentlich vom Menschen und seiner Bezie­hung zum Weltenall nicht sehr viel, wenn man auf solche Dinge nicht eingehen kann.

Nun weiter. Diese Dinge waren im Altertum allgemein bekannt. Die Sache ist ja so: Als sich zunächst das Christentum ausgebreitet hat, da war auch über die südlicheren Gegenden von Europa eine solche

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Wissenschaft verbreitet. Es gibt zum Beispiel noch aus den ersten christ­lichen Jahrhunderten ein Buch über die Natur, das enthält vieles von dem. Man muß es heute wiederum wissen, sonst kann man die ver­worrenen Angaben dort nicht herausfinden, denn es ist schon ziemlich verworren; aber es enthält vieles von einer solchen alten Weisheit. Dann aber kam die Zeit, in der das Christentum sich nur auf den Ver­stand beschränkt hat, und das andere alles nur für das Dogma hin­gegeben hat. Das war die Zeit, in der überhaupt alles von einer solchen alten Wissenschaft in Europa ausgerottet worden ist. Zwischen dem 5. und dem 11., 12. Jahrhundert hat man eigentlich daran gearbeitet, in Europa diese alte Wissenschaft auszumerzen. Und das ist auch in einem hohen Grade gelungen. Denn, sehen Sie, die Sache war ja so: Die­jenigen Menschen, welche diese alte Wissenschaft im alten Griechen­land, in Rom, in Spanien getrieben haben, also in den südlichen Gegen­den, diese Menschen waren zu gleicher Zeit schon ganz seelisch und leiblich verdorbene Menschen. Die Geschichte von Rom in dieser Zeit ist eigentlich eine fürchterliche; es waren sittlich ganz verdorbene Men­schen. Die haben zwar noch die alte Wissenschaft gehabt, haben sich aber als Menschen nicht mehr aufrechterhalten können, solche Herr­scher wie Nero oder Commodus.

Von Commodus, dem römischen Cäsar, kann man folgendes erzäh­len. Dieser Commodus, der war, wie alle römischen Kaiser, ein Ein­geweihter. Aber nun, was heißt ein «Eingeweihter» in diesem Falle? Das ist so, wie wenn man heute dem Namen nach irgendeinen Titel trägt. Jeder römische Kaiser galt von vornherein, weil er eingeweiht war, als ein Wissender. Das bezeugt allerdings, daß man dazumal die Wissenschaft sehr hoch geschätzt hat. Nur, die römischen Kaiser haben immer - außer Augustus - diese Wissenschaft nicht gehabt. Aber sie sind aüch in die Mysterien hineingekommen; sie haben sogar selber andere einweihen können. Nun gab es einen gewissen Grad, da mußte man dem, der eingeweiht wurde, einen Schlag auf den Kopf geben. Das ist eine sinnbildliche Handlung. Der Kaiser Cominodus hat diesen Schlag so gegeben, daß der Betreffende tot zusammensank. Man konnte das nicht bestrafen, weil es eben der Kaiser Commodus war. Und eben­so, wie sie waren als «Eingeweihte», so waren sie als Menschen.

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Weiter im Norden wohnten ja noch diejenigen Menschen, die sich später allerdings zu der mitteleuropäischen Kultur entwickelt haben, aber damals noch ganz unzivilisiert waren. Aber die Germanen er­oberten später Italien, Griechenland, Spanien. Da haben sich nur die­jenigen erhalten, die mit der bloßen Logik, mit dem bloßen Denken arbeiteten. Das sollte nur Dogma sein. Das andere sollte man nicht ein­sehen. Das Denken wurde beschränkt nur auf die alleräußerlichsten Dinge. Und so ist es denn gekommen, daß von den Schulen, von den Klöstern überall ausgerottet worden ist dasjenige, was altes Wissen war. Und man kann sehen, wie eigentlich nur auf Schleichwegen, ich möchte sagen, durch Konterbande, etwas von dieser babylonischen Wissen­schaft nach Europa gekommen ist. Aber es ist in der Regel nicht weit gekommen. In Babylonien ist noch verhältnismäßig lang eine solche Wissenschaft gepflegt worden.

Aber noch bis ins Mittelalter hinein gab es ein griechisches Kaiser­tum in Konstantinopel. Ja, sehen Sie, es waren schon merkwürdige Ge­stalten! Wie wenn zu uns manchmal die polnischen Juden kommen mit den Kaftanen mit ihren alten Rollen, die aber ja auch nicht sehr an­gesehen sind manchmal, aber grundgelehrt sind im Judentum, so kamen auch solche Gestalten nach Konstantinopel immer wieder in der Zeit an, als alles ausgerottet wurde. Die kamen an mit großen, mächtigen Pergamentrollen, wo sie vieles aufgeschrieben hatten. Nun, sehen Sie, diese Pergamentrollen hat man diesen merkwürdigen Gestalten alle in Konstantinopel abgenommen und hat sie dort aufgemacht. Und so ist in Konstantinopel alles aufgespeichert worden, was von Babylonien und Assyrien heraufgekommen ist. Und gekümmert hat sich keiner darum. Und in Europa hat man alles ausgerottet. Erst mit dem 12., 13. Jahrhundert und später im Mittelalter wurden mit dem Untergang des Kaiserreichs diese Pergamente wieder frei, und da stibitzten sie mancherlei Leute. Die zogen dann in Europa herum. Von dem ist alles gekommen, was dazumal noch nicht die gelehrten, aber die ungelehrten Leute entziffert haben aus diesen Pergamentrollen. Und so ist wieder im Mittelalter ein kleines Wissen verbreitet worden. Solch ein kleines Wissen hat dann wieder auf andere anregend gewirkt, sonst hätte es nicht einen van Helmont, Paracelsus und so weiter geben können, wenn

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die Leute nicht diese Pergamentrollen, die sie stibitzt haben, nach Eu­ropa gebracht und dort um teures Geld verkauft hätten. Dadurch ist wiederum manches nach Europa gekommen. Und von alledem, was da nach Europa gekommen ist, leben heute noch manche Geheimgesell­schaften. Es gibt allerlei Orden, Freimaurer, Odd Fellows und so wei­ter, die hätten gar kein Wissen, wenn nicht das von Konstantinopel nach Europa herübergekommen wäre in den Pergamentrollen, die da­zumal für teures Geld verkauft worden sind.

Aber dieses Wissen schätzte man nicht. Wenn man ein gelehrter Domherr war wie Kopernikus, so ging man doch nicht zu denjenigen Leuten, die solche Pergamentrollen hatten. Man durfte das nicht tun. Man hätte alles Ansehen verloren. Ja, aber dadurch verlor auch die alte Wissenschaft alles Ansehen. Und solch ein Mann wie Kopernikus, der hat dann diejenige Wissenschaft zuerst begründet, die wir noch heute haben, richtig noch heute haben.

Aber da geschah etwas sehr Merkwürdiges, meine Herren. Das Schönste dabei, sehen Sie, das ist, daß der Kopernikus nun eine gewisse astronomische Wissenschaft begründet hat, und die war schon so, daß er alles das, was man darüber früher gewußt hat, nicht mehr wußte, wie man es auch heute nicht mehr weiß. Aber die folgende Zeit ver­stand nicht einmal mehr das, was Kopernikus gesagt hat. Zwei Sätze von Kopernikus verstand man; den dritten verstand man nicht mehr. Denn wenn man die zwei Sätze des Kopernikus versteht, so glaubt man, daß die Sonne im Mittelpunkt steht, um die Sonne dreht sich die Venus, der Merkur, die Erde und so weiter. Das wird heute in allen Schulen gelehrt. Wenn man aber den ganzen Kopernikus versteht, so ist die Sache schon gar nicht mehr so, sondern Kopernikus selber macht noch darauf aufmerksam, daß da die Sonne steht (es wird gezeichnet), hinter ihr Merkur, hinter ihr Venus, hier die Erde und so weiter. Das alles dreht sich in Wirklichkeit mit der Sonne durch den Weltenraum in einer solchen Schraubenlinie. Das kann man schon aus dem Kopernikus lesen, wenn man will. Also es liegt die sonderbare Tatsache vor, daß schon der Kopernikus die alte Wissenschaft mit Füßen getreten hat, daß aber die neuere Entwickelung nicht einmal mehr den Kopernikus verstanden hat. Jetzt fängt man etwas an, den Kopernikus zu ver­stehen,

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das heißt, darauf zu sehen, daß er drei Sätze, nicht nur zwei, gesagt hat; der dritte Satz war den Leuten zu schwer verständlich. Und so ist die Astronomie nach und nach zu dem geworden, was sie heute ist, eine bloße Rechnerei.

Und nun können Sie sich ja denken: Das, was von der alten Wissen­schaft übriggeblieben ist, es war nicht in der Weise errungen, wie wir heute etwas erringen wollen. Wir müssen heute etwas erringen mit der vollen Klarheit der Seele. Die Alten gingen mehr instinktiv vor. Und so ist es gar nicht mehr verständlich, was die Alten mit Wissen gemeint haben.

Da hat es vor ein paar Jahren ein ganz interessantes Beispiel ge­geben. Ein schwedischer Gelehrter kam dazu, ein altes alchemistisches Buch zu lesen, in dem allerlei drinnen stand über Blei, über Silber und so weiter; wenn man Blei zu Silber bringt, geschieht das, wenn man Gold hinzufügt, geschieht das und so weiter. Was tat der Gelehrte? Er sagte: Da haben wir die Sachen aufgeschrieben; wollen wir die nach­machen! - Und er machte sie nach in seinem Laboratorium, nahm Blei, wie man es heute hat, Silber, wie man es heute hat, behandelte die im Feuer, wie es da beschrieben war - nichts kam heraus!

Es konnte auch nichts herauskommen, denn, was er dort gelesen hat, das waren solche Zeichen. Nun hat er geglaubt, dieses Zeichen 0 be­deutet Gold; also nehme ich Gold und verarbeite es chemisch. Dieses Zeichen h bedeutet Blei; also nehme ich Blei und verarbeite es chemisch.

Aber das Schreckliche war nur dieses, daß der Mann, bei dem der schwedische Gelehrte das gelesen hat, der Alchemist, nicht die Metalle in diesem Falle gemeint hat, sondern die Planeten, und gemeint hat, wenn man Sonnenkräfte mit Saturnkräften und Mondkräften mischt -was da an dieser Stelle beschrieben wird, bezieht sich nämlich auf den menschlichen Embryo -, wenn auf das Kind im Mutterleibe Sonnen-und Mondenkräfte wirken, dann geschieht das und das.

Nun ist es diesem schwedischen Gelehrten also passiert, daß er das, was sich bei diesem alten Alchemisten auf die Keimung im mensch­lichen Mutterleib bezieht, in der Retorte nachmachen wollte mit den äußeren Metallen. Natürlich konnte das nicht stimmen, denn er hätte die Entstehung im menschlichen Mutterleib ansehen müssen; dann hätte

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er darauf kommen können. Sehen Sie, so wenig versteht man heute, was eigentlich in dieser alten Wissenschaft gemeint war.

Alles das wird Ihnen nun bezeugen, wie diese Frage, die Herr Erbs-mehl gestellt hat, eigentlich zu beantworten ist. Sie ist eigentlich so zu beantworten, daß einem bewußt wird: Es ist ja alles gut und schön und recht mit der neueren Wissenschaft, man kann heute genau den Ort be­rechnen, wo ein Stern steht; man kann die Entfernung berechnen, die er zu einem andern Stern hat, kann auch durch das Spektroskop sehen, welche Farbe die Lichtstrahlen haben, kann daraus auf die stoffliche Zusammensetzung der Sterne schließen. Aber wie die Sterne auf die Erde wirken, das muß man erst wieder erforschen! Und das darf man nicht so erforschen, wie es viele Leute heute tun, indem sie einfach alte Bücher nehmen. Es wäre natürlich leicht, wenn man einfach alte Bücher nehmen würde, und aus ihnen dasjenige wissen könnte, was die Leute heute nicht mehr wissen. Aber das nützte schon nichts mehr bei Para­celsus, denn den verstehen schon die Leute nicht mehr, wenn sie ihn mit den heutigen Augen lesen, sondern es handelt sich darum, daß man wiederum auch neu erforschen lernt, was die Sterne für einen Einfluß auf die Menschen haben. Und das kann man eben nur mit der Geistes­wissenschaft, mit der anthroposophischen Geisteswissenschaft.

Da kommt man wiederum darauf, zu erforschen, nicht nur, wo der Mond steht, sondern wie der Mond zusammenhängt mit dem ganzen Menschen. Da kommt man darauf, daß das Kind zehn Mondmonate, also zehn mal vier Wochen im Mutterleibe erlebt den Einfluß des Mon­des, und den Einfluß des Mondes so erlebt, daß da in dieser Zeit acht-, neun-, zehnmal der Vollmond erlebt wird. Nun, das Kind schwimmt im Fruchtwasser, ist also ein ganz anderes Wesen, bevor es geboren wird, wird geschützt vor den Erdenkräften. Das ist das Wesentliche, daß es geschützt wird vor den Erdenkräften, und da vorzugsweise - es hat ja auch den Einfluß von den andern Sternen - den Einfluß des Mondes hat.

Sehen Sie, so müßte es geschehen, daß heute an unseren Universi­täten und an unseren Schulen, und schon an den Volksschulen in ge­wisser Weise, soweit das sein kann, die Dinge ganz anders studiert wür­den, daß der Mensch vor allen Dingen studiert würde, menschliches

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Herz, menschlicher Kopf, und im Zusammenhange damit die Sterne studiert würden. Und an den Universitäten müßte es erstens geben eine Beschreibung, wie sich aus dem ganz kleinen Menschensamen der menschliche Keim durch die erste, zweite, dritte, vierte, fünfte Woche und so weiter entwickelt. Das hat man, das gibt es, diese Beschreibung, aber die andere Beschreibung gibt es nicht, was in derselben Zeit der Mond macht. Deshalb kann man nur eine Wissenschaft von der phy­sischen Entstehung des Menschen haben, wenn man auf der einen Seite das beschreibt, was vorgeht im Mutterleibe, und auf der andern Seite beschreibt die Taten des Mondes.

Und wiederum, man kann nur ganz richtig verstehen, wie zum Bei­spiel die Zähne wechseln um das siebente Jahr herum, wenn man nicht nur - was heute geschieht - beschreibt, wie da der Milchzahn ist, der andere nachwächst, dem Milchzahn nachgeschoben wird, sondern wenn man wiederum eine Sonnenwissenschaft hat; denn das hängt von den Sonnenkräften ab.

Und ebenso, wenn der Mensch geschlechtsreif wird, da beschreibt man heute die rein physischen Vorgänge. Die hängen aber vom Saturn ab; da braucht man eine Saturnwissenschaft. Also man kann gar nicht so vorgehen, wie man heute vorgeht, daß man jedes Ding für sich be­schreibt. Denn dann kommt natürlich das heraus, wie es geschah in einem Krankenhaus in einer großen europäischen Stadt. Da kam einer mit einer Milzkrankheit, wie er glaubte, ins Universitätsspital. Da fragte er: Nach welcher Abteilung soll ich da gehen mit einer Milz­krankheit? - Da gab man ihm Anweisung, daß er in irgendeine Abtei­lung gehen sollte. Nun erwähnte er dort unglückseligerweise nebenbei, daß er auch eine Leberkrankheit habe. Da sagte man ihm: Da können Sie bei uns nichts haben, da müssen Sie in ein ganz anderes Spital hin­übergehen, da ist es für Leberkrankheiten; bei uns hier ist es nur für Milzkrankheiten. - Der war nun «zwischen zwei Bündeln Heu» wie der bekannte Esel, denn die andere Abteilung war wieder nur für Leberkrankheiten, und nicht für Milzkrankheiten - zwischen zwei Bündeln Heu, die gleich groß waren, die sich gar nicht voneinander unterschieden. - Es ist ja ein berühmtes logisches Bild über die Freiheit des Willens! Da hat man gesagt: Was tut ein Esel, wenn er zwischen

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zwei Bündeln Heu steht, die ganz gleich groß sind, ganz gleich stark riechen? Will er sich für das linke entscheiden, dann denkt er sich: das rechte schmeckt ebensogut; will er sich für das rechte entscheiden, denkt er: das linke ist ebensogut. Und dann fährt er immer hin und her und stirbt zwischen diesen zwei Heubündeln vor Hunger!- So war nun dieser mit den zwei Krankheiten, er wußte nicht, wohin, und hat eigent­lich sterben können zwischen seinem Entschluß drinnen, ob er nun zur Abteilung für Leberkrankheiten oder zur Abteilung für Milzkrank­heiten gehöre!

Ich will das nur erwähnen, um zu zeigen, daß jeder heute nur etwas weiß von einem ganz kleinen Stückchen der Welt. Aber so kann man heute nichts wissen! Denn wenn man heute etwas wissen will vom Mond, muß man auf die Sternwarte gehen und die Leute fragen. Aber die wissen wiederum nichts über die Entstehung des Menschen. Da muß man wieder den Gynäkologen, den Geburtshelfer, den Frauenprofessor fragen. Der weiß aber nichts von den Sternen. Aber die zwei Dinge gehören zusammen.

Darauf beruht ja das Elend des heutigen Wissens, daß jeder ein Stück von der Welt weiß, aber niemand das Ganze. Daher kommt es, darauf beruht es, daß die Wissenschaft heute, wenn sie vorgetragen wird in populären Vorträgen, so furchtbar langweilig ist. Natürlich, meine Herren, die Sache muß ja langweilig sein, wenn Ihnen die Leute nur das erzählen, was nur ein kleines bißchen von der Sache ist.

Nehmen Sie an, Sie wollten wissen, wie ein Stuhl ausschaut, der nicht gerade hier ist, und einer beschreibt Ihnen das Holz; Sie wollen aber wissen, wie er gestaltet ist. Dann wird Ihnen das langweilig sein, wenn der am Stuhl Ihnen nur das Holz beschreibt. So ist es heute lang­weilig, wenn man, wie man es heute nennt, Anthropologie, die Wissen­schaft vom physischen Menschen, lernt, weil das, worauf es ankommt, nicht mitbeschrieben wird. Und wenn es mitbeschrieben wird, hat es gar keinen Bezug zur Sache.

Also Sternenwissenschaft wird nur in Ordnung kommen, wenn man sie verbinden wird mit Menschenwissenschaft. Und darum handelt es sich; das ist die Art, wie ich diese Frage Ihnen sachgemäß heute beant­worten kann. Es ist wirklich so, daß man solche wichtigen Dinge, wie

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die, welche ich Ihnen von R. und van Helmont erzählt habe - die ja da sind, und die man gar nicht von der Erde aus verstehen kann -, daß man die verstehen muß. Die Leute sind schon materialistisch ge­worden selbst in bezug auf die Worte. Wie hat man zum Beispiel so etwas genannt, das darin bestand, daß irgendein Mensch Tiere hat lähmen können durch seinen Blick? Man hat das Magnetismus genannt. Ja, aber das Wort Magnetismus hat man später nur angewendet auf das Eisen, auf den Magneten. Und wenn man heute redet in der Wissen­schaft, redet man nur davon, es beim Eisen zu belassen, und Magnetis­mus nicht zu mißbrauchen. Nur die Scharlatane, die reden noch davon, daß man einen Menschen magnetisiert; aber sie können sich nichts mehr darunter vorstellen. Dazu, um solches zu durchschauen, braucht es eben eine geistige Wissenschaft.

ELFTER VORTRAG Dornach, 8. Mai 1924

#G353-1968-SE179 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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ELFTER VORTRAG

Dornach, 8. Mai 1924

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Nun, meine Herren, was haben Sie sich für heute als Fragen zurechtgelegt?

Fragesteller: Was verursachte beim Tode Christi, daß die Sonne drei Stunden ver­finstert war?

Dr. Steiner: Ja, meine Herren, das ist natürlich eine sehr bedeutungs­volle Frage: Was verursachte beim Tode Christi, daß die Sonne ver­finstert war? - Sehen Sie, diese Frage hat mich auch, wie Sie sich den­ken können, sehr, sehr viel beschäftigt. Ich kann mir denken, daß es auch für den Fragesteller eine ganz wichtige Frage ist, weil sie ja doch zeigt, daß eigentlich solche Dinge für den heutigen Menschen nicht mehr recht glaublich sind. Deshalb hat ja auch das 19. Jahrhundert die Sache sehr einfach dadurch zur Lösung gebracht, daß es gesagt hat:

Nun, es ist eben einfach nicht wahr, das ist ein bloßes Bild, und man braucht auf solche Dinge keinen großen Wert zu legen. - Aber so ist die Sache doch nicht. Gerade wenn man ganz sorgfältig alles dasjenige ver­folgt, was man aus der Geisteswissenschaft wissen kann, so kommt man doch darauf, daß es sich beim Tode Christi um eine Sonnenfinsternis handelt, wenigstens um ein starkes Bedecktsein der Sonne, so daß wäh­rend der Zeit, in der der Tod eingetreten ist, eine Verfinsterung der Gegend vorhanden war. Und man kommt nicht einfach dadurch über solche Dinge hinweg, daß man sie ableugnet, sondern man muß sie natürlich erklären.

Nun möchte ich Sie da auf etwas aufmerksam machen, was ich schon öfter in Ihrer Gegenwart erwähnt habe: Sie finden überall in älteren Nachrichten, daß stark Rücksicht genommen wird auf die Tageszeit, Jahreszeit und so weiter. Das merken die Menschen heute gar nicht. Sie werden ja wissen, daß im Neuen Testament viel von den Heilungen Christi erzählt wird, über die Art und Weise, wie er Kranke geheilt hat. Und es wird da ein großer Wert darauf gelegt, daß er auch eine ganz bestimmte menschliche Praxis in der Krankenheilung entwickelte.

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Die Heilungen waren in der damaligen Zeit wesentlich leich­ter als heute, und das ist es gerade, was die Menschen heute nicht mehr berücksichtigen. Heute muß man ja die Menschheit, die sich schon ein­mal so entwickelt hat, namentlich in Europa, einfach vom Körper aus heilen. Aber das war nicht immer der Fall. Man konnte ganz gut noch zu der Zeit, als Christus auf der Erde war, und in älteren Zeiten erst recht, von der Seele aus heilen. Bei dem heutigen Menschen hat die Seele eben nicht mehr diesen starken Einfluß, weil er seiner ganzen Er­ziehung nach ja abstrakte Gedanken hat. Solche Gedanken, sehen Sie, wie sie heute alle Menschen haben, die gab es eben in der damaligen Zeit noch nicht. Da wurde der Mensch innerlich von dem, was er dachte, ergriffen. Irgend etwas, was man «logisches Denken» nennt, das gab es in der damaligen Zeit nicht. Und so war der Mensch ganz anders in seinem Seelenleben. Heute können Sie zu dem Menschen das Allergewichtigste sprechen - es wirkt nicht auf seinen Körper, weil er die Seele abgezogen vom Körper hat. Man glaubt, die alten Menschen waren dadurch instinktiv hellsichtig, daß sie freier waren von ihrem Körper. Das ist aber gar nicht wahr; sie steckten mehr in ihrem Körper drinnen, sie fühlten mehr alles mit ihrem Körper und konnten daher auch einen reinen Einfluß von der Seele aus auf den Körper ausüben. Wenn ein bestimmter Name ausgesprochen wurde, dann stand bei dem älteren Menschen gleich das Bild vor der Seele. Heute, nun, da spricht man irgendein Wort aus, und man hat nicht ein Bild. Die älteren Men­schen hatten gleich ein vollständiges Bild, und dieses Bild durchrieselte sie entweder mit einer Gänsehaut oder mit einem Lachreiz oder irgend etwas: es ging gleich alles in den Körper über. Diese Dinge aber, sehen Sie, wurden sehr stark benützt zum Heilen. Man konnte sie aber nur benützen, wenn man richtig die Kräfte benützte, die in der Umgebung des Menschen sind. Daher heißt es einmal, als vom Krankenheilen bei Christus die Rede ist: «Als die Sonne untergegangen war, versammelte er die Leidenden.» Also er hat sie nicht versammelt bei vollem, hellem Sonnenschein; da hätte seine Zusprache auf die Seele nichts genützt. Erst als die Menschen in der Dunkelheit, in der Dämmerung zu ihm kamen, da nützte das etwas.

Über solche Sachen geht der Mensch heute ganz hinweg. Aber es ist

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eben durchaus so, daß diese Dinge mit dem menschlichen Leben zu­sammenhängen. Ob heller Sonnenschein ist oder Dämmerung, ob Früh­ling, Herbst und so weiter, das hat einen riesigen Einfluß. Und so auch die andern Erscheinungen der Natur. So daß wir sagen können:

Wir beobachten das Leben Christi, wie es sich entwickelt hat von seiner Geburt bis zu der Johannes-Taufe, und dann durch die drei Jahre, bis er zum Tod gekommen ist: alles hat sich in einer gewissen Weise zugespitzt. Aber nicht bloß dasjenige, was der Hohe Rat dazu­mal beschlossen hat, nicht bloß dasjenige, was gemacht hat, sagen wir die Revolution der Leute dort und so weiter, söndern auch die Erscheinungen am Himmel und in der ganzen Natur, die haben mit­gewirkt.

Nun habe ich Ihnen gesagt, meine Herren: Einfluß auf den Men­schen, insofern er zunächst im Mutterleibe ist, dann geboren wird, haben die Mondenkräfte. Später haben Einfluß auf den Menschen die Sonnenkräfte. Ich habe Ihnen davon gesprochen, daß auch andere Sternenkräfte Einfluß haben auf den Menschen. Einfluß auf den Men­schen haben alle Erscheinungen, die draußen in der Natur sind.

Sehen Sie, es ist manchmal ganz merkwürdig, wie sich die Menschen heute, weil sie aus ihrem abstrakten Denken gar nicht herauskommen, abplagen mit Naturerscheinungen. Es ist zum Beispiel heute bekannt, daß die Sonnenflecken - es sind ja Flecken in der Sonne - nach etwa elf bis zwölf Jahren immer wieder und wiederum in großer Zahl er­scheinen. Aber trotzdem man weiß, däß in der Zeit, in der die Sonnen-flecken erscheinen, immer irgendwie etwas Unruhiges auf der Erde vorgeht, kann man sich doch nicht dazu bequemen, nun den außer-irdischen Einfluß auf die Erde, der sich in den Sonnenflecken aus­drückt, wirklich zu berücksichtigen. Aber dieser Einfluß ist einmal da! Nicht wahr, wenn es regnet, so folgt auf der Erde durch das Bewußt­sein des Menschen, daß gewisse Dinge unterlassen werden müssen. Sie können zum Beispiel nicht, wenn es Schloßhunde regnet, Gärtner-arbeiten und dergleichen machen; die müssen unterlassen werden. Ja, da hat die Natur einen Einfluß auf das bewußte Leben des Menschen. Aber für das unbewußte Leben des Menschen hat der ganze Umkreis der Welt mit der Sternenwelt eine große Bedeutung. Und so kommt das

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Sonnenlicht, das ja für den Menschen eine Bedeutung hat, ganz anders zu ihm, wenn es stellenweise verdunkelt ist, als wenn es durch und durch erhellt ist.

Man kann nicht sagen, daß durch solche Dinge die Freiheit beein­flußt wird; aber wo irgendwie tiefere, geistige Wirkungen in Betracht kommen, da muß der Mensch mit seiner Freiheit auf diese Wirkungen geradeso bauen, wie er darauf baut, daß er ja nicht sagen kann, wenn er im ersten Stock oben ist: der Boden soll ein Loch kriegen, damit ich durch diesen Boden hinunter ins untere Geschoß kommen kann. Die Naturgesetze müssen eben berücksichtigt werden, auch die großen, die draußen in der Welt sind.

Und so kann man sagen: Es hat sich in der Natur alles zugespitzt in der Zeit gerade, in der sich in Palästina in gewissen Herzen dasjenige, was geschehen ist, abgespielt hat, bis zur größten Traurigkeit. Aber damit ging einher die größte Traurigkeit in der Natur. Diese zwei Dinge stimmten eben durchaus zusammen; sie stimmten in der Wirk­lichkeit zusammen. Und dann kann man sagen: Geradeso wie im Kör­per das Blut fließt und des Menschen Gesundheit von diesem Blute ab­hängt, so fließt wiederum ins Blut hinein dasjenige, was im Sonnen-lichte lebt. Es fließt ja ins Blut hinein.

Denken Sie sich, irgend jemand stirbt. Nun, könnten Sie zwei Mo­nate vorher sein Blut untersuchen, dann würde sich Ihnen zeigen, daß es schon auf dem Wege ist, leblos zu werden. Ebenso nun, wie das Blut vor dem Tode des Menschen auf dem Wege ist, leblos zu werden, so war dasjenige, was im Lichte lebt, vorher schon, zur Zeit von Christi Geburt schon, auf dem Weg, sich so zu entwickeln, daß eben eine Dämmerung war mit dem Tode. Also es standen eben einfach die Naturerscheinun­gen in einem innigen Zusammenhang mit Christi Leben. Und man möchte sagen: Geradeso wie der Christus bewußt die Dämmerung ge­wählt hat, um Kranke zu heilen, so hat sein Unbewußtes in der Seele die Sonnenfinsternis gewählt, um zu sterben. So muß man sich diese Dinge vorstellen; dann kommt man schon zu einer richtigen Erklärung. Und das ist wichtig, meine Herren! Man kann sich natürlich nicht in äußerlicher, grober Weise diese Sachen erklären, sondern man muß sie in intimer Weise erklären.

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Fragestellung: Hat das jüdische Volk seine Mission in der Menichheitsentwicke­jung erfüllt?

Dr. Steiner: Ja, sehen Sie, das ist eine Frage, die natürlich, wenn man sie bespricht, leider allzuschnell in die Agitation hineintreibt. Dasjenige aber, was man ganz objektiv in dieser Beziehung sagen muß, hat nichts zu tun mit irgendeiner Agitation.

Wenn man das jüdische Volk ansieht, wie es sich in alten Zeiten entwickelt hat, so muß man sagen, es hat sich in einer Weise entwickelt, die außerordentlich stark die christliche Entwickelung vorbereitet hat. Die Juden haben, bevor das Christentum in die Welt getreten ist, eine sehr geistige Religion gehabt, aber eine Religion - ich habe sie Ihnen schon charakterisiert -, die eigentlich nur auf das geistige Naturgesetz Rücksicht genommen hat. Hat man den Juden gefragt: Woher kommt der Frühling?, so hat er gesagt: Weil Jehova es so will! - Warum ist das ein schlechter Mensch? Weil Jehova es so will! - Warum bricht in einem Lande eine Hungersnot aus? Weil Jehova es so will! - Alles wurde zurückgeführt auf diesen einen Gott. Und dadurch lebten ja die Juden mit ihren Nachbarvölkern nicht in Frieden; sie wurden von ihnen nicht verstanden. Und sie verstanden auch diese Nachbarvölker nicht, weil die Nachbarvölker eigentlich nicht diesen einen Gott in derselben Weise anerkannt haben, sondern die geistigen Wesenheiten in allen Natur­erscheinungen - viele geistige Wesenheiten - anerkannt haben.

Ja, sehen Sie, diese vielen geistigen Wesenheiten in der Natur sind halt einfach vorhanden, und diejenigen, die sie leugnen, leugnen etwas Wirkliches. Es ist geradeso, wenn man diese geistigen Wesenheiten in den Naturerscheinungen leugnet, als wenn ich jetzt sage: In diesem Saale sitzt kein einziger Mensch! - Das kann ich natürlich sagen, und wenn ich einen Blinden hereinbringe und Sie nicht gerade anfangen darüber so laut zu lachen, daß er es hört, dann kann er es glauben. -Es gibt ja auch auf diesem Gebiet Täuschungen. Friedrich Nietzsche, der sehr schlecht gesehen hat - er war damals Professor in Basel -, hat immer sehr wenig Zuhörer gehabt; trotzdem dieVorlesungen sehr inter­essant waren, waren die jungen Zuhörer nicht besonders fleißig. Er war immer in Gedanken versunken, ging hinauf aufs Podium und hielt seine Vorträge. So geschah es auch wieder einmal - und es war kein einziger

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drinnen! Er hat es aber erst bemerkt, als er hinausging, weil er so schlecht sah. Und einem Blinden wäre auch klarzumachen, daß hier kein einziger Mensch im Saal ist. So macht man den Menschen klar, daß nirgends geistige Wirkungen sind, weil man sie zunächst durch die Erziehung und alles, was heute geschieht, für die geistigen Wirkungen blind macht.

Aber auf der andern Seite ist es auch wieder für den Menschen wich­tig, daß er einsieht, er hat zwar viel zu tun mit all diesen vielen Natur-geistern. Aber es gibt in ihm eine Macht, die all das, was diese Natur-geister im Menschen bewirken, besiegt. Und dadurch kommt der Mensch zu dem einen Menschengott. Und die Juden kamen eben zu­nächst in einer ganz starken Weise zu dem einen Menschengott und leugneten alle übrigen geistigen Wesenheiten in den Naturerscheinun­gen. Dadurch erwarben sie sich zunächst zur Anerkennung des einen Menschengottes, des Jahve oder Jehova, ein großes Verdienst. Jahve hieß ja einfach: Ich bin.

Nun, diese Sache ist für die Weltgeschichte sehr wichtig geworden, die eine Gottheit, mit der Leugnung aller übrigen geistigen Wesenheiten. Denken Sie sich: Es gibt zwei Völker, die führen miteinander Krieg; jedes erkennt den einen Gott an, und eines von diesen Völkern kann nur siegen. Das siegende Volk, das sagt: Unser Gott hat uns siegen lassen. - Hätte das andere Volk gesiegt, so hätte das auch gesagt: Unser Gott hat uns siegen lassen. Aber wenn es der eine Gott ist, der das eine Volk siegen läßt und das andere Volk besiegen läßt, so ist es ja der Gott selber, der sich besiegt! Also wenn die Türken ihren Gott haben und die Christen ihren Gott, und beide Völker den einen Gott haben, und das eine Volk bittet: Der eine Gott möge uns den Sieg bringen -, und das andere Volk betet: Der eine Gott möge uns den Sieg bringen -, so ver­langen sie ja beide von demselben Gott, daß er sich selber besiegt! Man muß sich klar sein: Es handelt sich nicht um ein einziges geistiges We­sen. Das tritt aber schon im alltäglichen Leben hervor: Der eine will, daß es regnet, betet um Regen, der andere will, daß die Sonne scheint, betet um Sonnenschein am selben Tag. Ja, das geht nicht! Würde man das bemerken, so würde schon mehr Klarheit in diesen Dingen herr­schen. Aber man bemerkt es halt nicht. In großen Dingen gibt sich der

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Mensch einer Gedankenlosigkeit hin, lebt in der Gedankenlosigkeit, die er sich in kleinen Dingen gar nicht gestatten würde. Er würde wahr­scheinlich nicht zugleich Salz und Zucker in den Kaffee tun, sondern er zuckert ihn bloß, macht bloß das eine. Aber im Großen - darauf be­ruhen ja auch die großen Verwirrungen -, da sind die Menschen nicht so, daß sie sich nur einer Klarheit hingeben wollen. So haben also die Juden das, was man den Monotheismus nennt, also das Bekenntnis zu dem einen Gotte, aufgebracht.

Nun habe ich Ihnen kürzlich einmal gesagt, daß das Christentum eigentlich die drei Gottheiten ins Auge gefaßt hat; es hat den Vater-gott, der in allen Naturerscheinungen lebt, den Sohnesgott, der in der menschlichen Freiheit lebt, und es hat den Geistgott, der dem Menschen zum Bewußtsein bringen soll, daß er ein von seinem Körper unab­hängiges Geistiges hat. Damit also sind drei Dinge begriffen. Sonst muß man dem einen Gott zuschreiben, daß er den Menschen sterben läßt aus dem Körper, daß er ihn auch wieder auferweckt aus demselben Ent­schluß heraus. Währenddem, wenn man drei Personen hat, fällt das Sterben dem einen Gott, das andere, das Durchgehenlassen durch den Tod, dem andern, das Auferwecktwerden im Geiste wieder einem an­dern zu. Also das Christentum war genötigt, die geistige Gottheit in drei Personen sich vorzustellen. In drei Personen - das ist nur heute so, daß man das nicht versteht, aber das heißt ursprünglich dreigestaltet, und man hat sich vorgestellt: die Gottheit trat eben in drei Gestal­ten auf.

Nun ist das Judentum genötigt gewesen, weil es nur diesen einen Gott sich vorstellte, überhaupt von diesem einen Gott sich gar kein Bild zu machen, sondern diesen einen Gott ganz nur mit dem Inneren der Seele, mit dem Verstande zu begreifen. Aber es ist auch leicht einzu­sehen, daß sich damit eigentlich der menschliche Egoismus im höchsten Grade verdichtete; denn der Mensch wird fremd alledem, was außer ihm ist, wenn er das Geistige nur in seiner eigenen Person sieht. Und das hat in der Tat einen gewissen Volksegoismus im Judentum hervor­gebracht, das ist nicht zu leugnen; aber die Juden sind dadurch auch mehr geeignet, dasjenige, wäs nicht bildlich ist, in sich aufzunehmen, während sie weniger geeignet sind, das Bildhafte in sich aufzunehmen.

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Wenn ein Jude Bildhauer wird, dann kommt eigentlich nichts Beson­deres dabei heraus, weil er dazu noch nicht veranlagt ist. Er hat nicht diese bildhafte Veranlagung; die geht ihm nicht ein. Wenn ein Jude Musiker wird, so wird er meistens ein ausgezeichneter Musiker, weil das nicht bildhaft ist; das stellt man nicht äußerlich dar. So können Sie unter den Juden große Musiker finden, aber Sie werden kaum in der Zeit, in der die Künste geblüht haben, unter ihnen große Bildhauer fin­den, nicht einmal Maler! Die Juden malen ganz anders als meinetwillen die christlichen oder auch nichtchristlichen, die orientalischen Maler. Sie malen so, daß eigentlich die Farbe auf einem Bild, das von einem Juden gemalt wird, gar keine große Bedeutung hat, sondern das, was es ausdrückt,was man eigentlich durch das Bild erzählen will. Das ist das­jenige, was das Judentum besonders charakterisiert: das Nichtbildhafte, das ganz und gar im menschlichen Ich Vorsichgehende in die Welt zu bringen.

Aber sehen Sie, so leicht es ausschaut, es ist nicht so leicht, dieses Be­kenntnis zu dem einen Gotte festzuhalten, sondern die Menschen wer­den eigentlich sogleich Heiden, wenn man ihnen dieses Bekenntnis zu dem einen Gotte nicht scharf aufdrückt. Die Juden sind am allerwenig­sten Heiden geworden. Im Christentum dagegen herrscht leicht ein Zug zum Heidentum. Sie können das, wenn Sie scharf zusehen, überall be­merken. Nehmen Sie zum Beispiel diese Verehrung, die das Christen­tum hat für Zeremonien. Nicht wahr, ich habe Ihnen gesagt: Die Mon­stranz stellt eigentlich die Sonne dar und darinnen den Mond. - Das weiß man gar nicht mehr. Aber der Mensch, der in dieser Beziehung nicht aufgeklärt ist, betet eigentlich die Monstranz an, also ein Außer-liches. Die Menschen neigen sehr leicht dazu, das Außerliche anzu­nehmen. Und so ist es eigentlich wirklich geschehen, daß im Verlaufe der Jahrhunderte sich das Christentum sehr heidnisch gebildet hat. Dagegen hat immer das Judentum eine Gegenwirkung entfaltet.

Nehmen Sie das nur einmal auf einem ganz bestimmten Gebiete an, wo es am leichtesten einleuchten kann: Die Christen des Abendlandes, also die Christen, die aus Griechenland, Rom und Mitteldeutschland kamen, die waren eigentlich ziemlich unfähig, die alte Medizin fort­zupflanzen, weil sie in den Heilkräutern nicht mehr das Geistige sehen

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konnten. Es war ihnen unmöglich, in den Heilkräutern noch das Gei­stige zu sehen. Aber überall haben das Geistige, das heißt ihren einen Jehova gesehen diejenigen Juden, die aus dem Morgenland, von Persien und so weiter gekommen sind. Wenn Sie die Entwickelung der Medizin im Mittelalter betrachten, dann haben die Juden einen ungeheuer star­ken Anteil daran. Die Araber haben gerade an der Entwickelung der andern Wissenschaften, die Juden an der Entwickelung der Medizin einen starken Anteil. Und was die Araber an Medizin gebracht haben, haben sie auch wiederum mit Hilfe der Juden ausgearbeitet. Aber da­durch wiederum ist die Medizin das geworden, was sie heute geworden ist. Die Medizin ist zwar geistig geblieben, aber sie ist, ich möchte sagen, monotheistisch geblieben. Und heute können Sie sehen, wenn Sie die Medizin beobachten: mit Ausnahme von ein paar Mitteln, ganz wenigen, wird eigentlich allen übrigen Mitteln alles zugeschrie­ben! Man weiß nicht mehr, wie das eine Mittel wirkt, geradesowenig wie man im Judentum gewußt hat, wie die einzelnen Naturgeister sind. So ist auch da in der Medizin ein abstrakter Geist, ein abstrakter Jehova-Dienst eingezogen, der heute eigentlich noch immer in der Medizin drinnen ist.

Es wäre zum Beispiel sehr natürlich, daß in den verschiedenen Län­dern Europas nicht mehr Juden Arzte wären, als sie prozentual zu der Bevölkerung sind. Ich will nicht sagen - bitte, mich nicht mißzu­verstehen! -, daß man das durch ein Gesetz festsetzen sollte; das fällt mir durchaus nicht ein. Aber die natürliche Anschauung müßte das ergeben, daß entsprechend der Anzahl Juden auch jüdische Arzte da wären. Aber das ist gar nicht der Fall. In den meisten Ländern sind eine viel größere Anzahl Juden Ärzte. Das stammt noch aus dem Mittel­alter; sie fühlen sich noch zu der Medizin sehr hingezogen, weil es ihrem abstrakten Denken entspricht. Dieser abstrakten Jehova-Medizin, der ist eigentlich ihr ganzes Denken angepaßt; sie entspricht ihnen. Und erst hier in der Anthroposophie, wo man wieder zurückgeht auf die ein­zelnen Naturgeister, da erkennt man auch wieder, was in den einzelnen Kräutern und Steinen an Naturkräften enthalten ist. Da bringt man das wieder auf einen sicheren Boden.

Die Juden haben also den einen Jehova verehrt und dadurch die

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Menschen davon abgehalten, sich zu verlieren in die Vielgeistigkeit. Nun ist es natürlich so, daß die Juden sich dadurch auch immer von den andern Menschen unterschieden haben, und dadurch vielfach - wie immer derjenige, der sich unterscheidet, Abneigung und Antipathie hervorruft - die Abneigung und Antipathie hervorgerufen haben. Aber im ganzen kann man sagen: Heute handelt es sich darum, sich zu sagen, daß eine solche Weise, die Kultur nicht auseinandertreiben zu lassen, sondern zusammenzuhalten, wie es jahrhundertelang bewirkt worden ist durch die Juden, in der Zukunft nicht mehr notwendig sein wird, sondern in der Zukunft muß das ersetzt werden durch eine starke gei­stige Erkenntnis. Dann wird auch das Verhältnis zwischen der einigen Gottheit und den vielen Geistern sich vor der Erkenntnis, vor dem Be­wußtsein des Menschen darstellen. Dann braucht nicht im Unbewußten ein einziges Volk zu wirken. Daher habe ich es von Anfang an bedenk­lich gefunden, daß die Juden, als sie nicht mehr recht aus und ein ge­wußt haben, die zionistische Bewegung begründet haben. Einen Juden-staat aufrichten, das heißt, in der wüstesten Weise Reaktion treiben, in der wüstesten Weise zur Reaktion zurückkehren, und damit sündigt man gegen alles dasjenige, was auf diesem Gebiet notwendig ist. Sehen Sie, ein sehr angesehener Zionist, mit dem ich befreundet war, der legte mir einmal seine Ideale auseinander, nach Palästina zu gehen und dort ein Judenreich zu gründen. Er tat selber sehr stark mit an der Begrün­dung dieses jüdischen Reiches, tut heute noch mit und hat sogar in Pa­lästina eine sehr angesehene Stellung. Dem sagte ich: Solch eine Sache ist heute gar nicht zeitgemäß; denn heute ist dasjenige zeitgemäß, dem jeder Mensch, ohne Unterschied von Rasse und Volk und Klasse und so weiter sich anschließen kann. Nur das kann man eigentlich heute protegieren, dem sich jeder Mensch ohne Unterschied anschließen kann. Aber jemand kann doch nicht von mir verlangen, daß ich mich der zio­nistischen Bewegung anschließe. Da sondert ihr ja wiederum einen Teil aus vdn der ganzen Menschheit! - Aus diesem einfach naheliegenden Grunde kann eigentlich eine solche Bewegung heute nicht gehen. Sie ist im Grunde genommen die wüsteste Reaktion. Natürlich erwidern ei­nem dann solche Menschen etwas Merkwürdiges; sie sagen: Ja, in der Zeit hat es sich doch herausgestellt, daß die Menschen so etwas wie

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allgemein Menschliches gar nicht wollen, sondern fordern, daß sich alles aus dem Volkstümlichen heraus entwickeln soll.

Dieses Gespräch, das ich Ihnen jetzt erzählt habe, hat stattgefunden vor dem großen Kriege 1914 bis 1918, sehen Sie, und daß die Menschen nicht mehr wollen die großen allgemein-menschlichen Prinzipe, son­dern sich absondern, Volkskräfte entwickeln wollen, das hat eben ge­rade zu dem großen Krieg geführt! Und so ist das größte Unglück dieses 20. Jahrhunderts gekommen von dem, was die Juden auch wollen. Und so kann man sagen: Da alles dasjenige, was die Juden getan haben, jetzt in bewußter Weise von allen Menschen zum Beispiel getan werden könnte, so könnten die Juden eigentlich nichts Besseres vollbringen, als aufgehen in der übrigen Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so daß das Judentum als Volk einfach aufhören würde. Das ist dasjenige, was ein Ideal wäre. Dem widerstreben heute noch viele jüdische Gewohnheiten - und vor allen Dingen der Haß der andern Menschen. Und das ist gerade dasjenige, was überwunden wer­den müßte. Die Dinge werden nicht überwunden, wenn alles beim alten bleibt. Und wenn sich die Juden zum Beispiel beleidigt fühlen, wenn man sagt: Ihr seid keine Bildhauer, ihr könnt da nichts leisten - so kann man sich sagen: Es müssen doch nicht alle Leute Bildhauer sein! Sie können doch durch ihre persönlichen Fähigkeiten anderswo etwas lei­sten! - So sind die Juden eben nicht zur Bildhauerei geeignet; sie haben ja auch in die Zehn Gebote das eine aufgenommen: «Du sollst dir von deinem Gotte kein Bild machen», weil sie eben überhaupt in der bild­lichen Anschaulichkeit nichts Ubersinnliches darstellen wollen. Da­durch wird man gerade auf das Persönliche zurückgewiesen.

Nicht wahr, Sie können sich das sehr einfach vorstellen: Wenn ich ein Bild mache, auch nur ein geschildertes, wie es oftmals in der Geistes­wissenschaft geschieht, so kann sich der andere dieses Bild merken, sich erbauen, daran erkennen - was er eben will. Wenn ich aber kein Bild mache, dann muß ich immer bei der Wirkung selber persönlich dabei sein; dann sondert sich das nicht ab von mir. Daher nimmt es einen persönlichen Charakter an. Das hat auch das Judentum; alles, was bei den Juden ist, nimmt auch einen persönlichen Charakter an. Die Men­schen müssen dazukommen, in dem andern Menschen das Geistige zu

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sehen. Heute beherrscht noch alle Dinge der Juden das Rassenmäßige. Sie heiraten vor allen Dingen untereinander. Sie sehen also noch das Rassenmäßige, nicht das Geistige. Und das ist es, was notwendig wäre zu sagen auf die Frage: Hat das jüdische Volk seine Mission in der menschlichen Erkenntnisentwickelung erfüllt? - Es hat sie erfüllt; denn es mußte früher ein einzelnes Volk da sein, das einen gewissen Mono­theismus bewirkte. Heute muß es aber die geistige Erkenntnis selber sein. Daher ist diese Mission erfüllt. Und daher ist diese jüdische Mis­sion als solche, als jüdische, nicht mehr notwendig in der Entwickelung, sondern das einzig Richtige ist, wenn die Juden durch Vermischung mit den andern Völkern in den andern Völkern aufgehen.

Fragestellung: Wie konnte über dieses Volk das Schicksal kommen, daß sie ins Exil mußten?

Dr. Steiner: Ja, sehen Sie, meine Herren, da muß man die ganze Art, den ganzen Charakter dieses Exils ins Auge fassen. Das Judenvolk, das zur Zeit Christi gelebt hat, unter dem der Christus gestorben ist, lebte ia mittendrin unter einem ganz andern Volk, unter den Römern. Und nun denken Sie sich, die Römer hätten eben einfach Palästina erobert, hätten die Menschen, die sie haben töten wollen, getötet, die andern ausgewiesen, und die Juden hätten schon dazumal die Absicht oder den Trieb dazu gehabt, mit den andern Völkern sich zu vermischen - was wäre geschehen? Nun, die Römer hätten Palästina erobert, ein Teil der Juden würde getötet worden sein; andere wären, wie man heute sagt -was ja alle Länder tun -, ausgewiesen worden und hätten draußen irgendwo leben können.

Nun haben die Juden nicht die Absicht und nicht den Drang gehabt, sich mit den andern zu vermischen, sondern überall, wo nur ein paar Juden waren, haben sie ausschließlich miteinander gelebt. Nun sind sie nach allen Seiten zerstreut worden; dadurch allein, daß sie nur mit­einander gelebt, ineinander geheiratet haben, ist es ja bemerkt worden, daß sie als Juden selber Fremde sind. Sonst hätte man gar nicht be­merkt, daß sie irgendwie im Exil sind. Es war also durch diesen Trieb der Juden, daß man bemerkte: die sind im Exil. Das liegt im Charakter des Judentums. Und die Nachwelt, die staunt nun darüber, daß die

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Juden vertrieben worden sind, in der Fremde leben mußten. Ja, aber das ist doch fast überall geschehen! Nur haben sich die andern Men­schen mit den übrigen vermischt und man hat es nicht bemerkt. So liegt es im Charakter des Judentums, daß es zäh überall zusammengehalten hat. In dieser Beziehung muß man schon sagen: durch das Zusammen­halten der Menschen werden Dinge, die sonst nicht bemerkt werden, eben bemerkt.

Gewiß, es ist bejammernswert, herzbedrückend, wenn man liest, wie die Juden das Mittelalter hindurch in den Ghettos gelebt haben, also in den Vierteln der Städte, wo sie sich aufhalten durften. Sie durften nicht in die andern Viertel der Städte kommen; die Tore der Ghettos wurden sogar geschlossen und so weiter. Aber sehen Sie: davon spricht man, weil die Juden im Ghetto zusammengehalten haben, weil man das be­merkt hat! Und andern Menschen ist es ebenso schlecht gegangen, nicht gerade in dieser Weise, aber in anderer Weise. Die Juden, nicht wahr, die blieben in ihren Ghettos und hielten dort zusammen, und man wußte: die dürfen nicht heraus. Aber andere Menschen, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend alle Tage arbeiten mußten, die konnten auch nicht heraus, wenn auch keine Tore da waren; denen ist es gerade so schlecht gegangen! So daß man sagen muß: Solche Dinge beruhen vielfach einzig und allein auf dem Schein, beruhen nur auf dem Schein, wie in der Weltgeschichte eben vieles auf dem äußeren Schein beruht.

Heute ist die Zeit, wo man in alle diese Dinge mit der Wirklichkeit hineinleuchten muß. Und da kommt man schon darauf: Wo ein Schick­sal sich erfüllt, da ist es eigentlich so, daß es wirklich, wie wir es mit einem orientalischen Ausdruck nennen, ein Karma, ein inneres Schick­sal ist. Dieses Exilgeschick, das hat sich bei den Juden durch den eigenen Charakter so gemacht; sie sind zäh, und sie haben sich erhalten in der Fremde. Das macht es, daß man es in der späteren Zeit so stark be­merkte und heute noch davon redet.

Das hat es natürlich auf der andern Seite hervorgebracht, daß man sie u~r~~jieidet von den andern und ihnen so alle möglichen Dinge zu-schreibt, von denen man nicht die Ursachen weiß. Nicht wahr, wenn irgendwo in einer abergläubischen Gegend ein Mensch ermordet wird und man nicht darauf kommt, wer der Täter ist, und dort ein unbelieb­ter

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Jude lebt, so sagt man: Die Juden brauchen zur Osterzeit Menschen-blut, sie haben den Menschen getötet. - Ja, das sind natürlich solche Dinge, die gesagt werden, weil man den Juden von den andern unter­scheidet. Aber die Juden haben ja selber furchtbar viel dazu beigetra­gen, daß man sie von den andern unterscheidet.

Heute ist es sehr notwendig, daß man diesen Dingen gegenüber streng nicht dieses Rassenmäßige, nicht dieses Volksmäßige, sondern das allgemein Menschliche hervorhebt.

Frage: Was für eine Weltbedeutung hatten die siebzig Seelen der israelitischen Urfamilie, die die Menschheit zusammensetzen?

Dr. Steiner: Nun, meine Herren, da ist die Sache so: Auf der Erde sind von altersher mannigfaltige Völker. Diese mannigfaltigen Völker verlieren von der jetzigen Zeit an ihre Bedeutung. Das habe ich ja eben gesagt: es sollte das allgemein Menschliche geltend werden. Wenn wir aber nun zurückgehen in der Entwickelung der Menschheit, so finden wir die Erdenbevölkerung geteilt in die verschiedensten Völker. So wie in den Naturerscheinungen Geistiges lebt, so lebt auch in den Völkern Geistiges. In jedem Volke ist einfach ein leitender Volksgeist da. Des­halb habe ich in meiner «Theosophie» gesagt: Das ist nicht bloß ein abstraktes Wort, der Volksgeist! Nicht wahr, was ist heute für den materialistischen Menschen das französische Volk? Nun, das sind so und so viel, zweiundvierzig Millionen Menschen, die auf einem Haufen in Westeuropa zusammen sind. Und dann erst, wenn man das ganz Abstrakte nimmt, dann studiert man die Eigentümlichkeiten dieses Volkes. Aber so ist es nicht! Sondern geradeso wie ein Keim vorhanden ist für die Pflanze, so ist für das Geistige eines Volkes etwas Keimhaftes vorhanden, das sich dann entwickelt. Es lebt ein wirklicher Geist im ganzen Volke.

Nun, wenn Sie gerade das nehmen, meine lieben Freunde, was ich jetzt gesagt habe, daß die Juden schon eine Zeitlang in der mensch­lichen Geschichtsentwickelung die Mission gehabt haben, die eine Gott­heit zu verbreiten, dann werden Sie begreifen, daß dieses Judenvolk auch volksmäßig dazu vorbereitet sein mußte. Daher ist es schon so ge­kommen, daß sich die verschiedenen Volksgeister, die sich einzeln sonst

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um die Völker bekümmert haben, ursprünglich, als das Judenvolk in der Welt entstanden ist, um das ganze Judenvolk bekümmerten. Nicht wahr, wenn wir die Babylonier nehmen, dann kommen wir zu den Assyriern, den Ägyptern, den Griechen, den Römern; dann sagen wir uns also: Inder = indischer Volksgeist, babylonischer Volksgeist, assy­rischer Volksgeist, ägyptischer Volksgeist, griechischer Volksgeist, rö­mischer Volksgeist und so weiter. Die sind also voneinander verschie­den, diese Volksgeister, und jeder einzelne Volksgeist hat sich nur um

dieses Volk bekümmert (es wird gezeichnet). Wenn wir aber das jüdi­sche Volk nehmen, dann haben wir das so, daß auf dem Fleck Erde in Syrien, wo sich das Judenvolk entwickelt, all diese Volksgeister ihren Einfluß ausüben auf das Volk, so daß eigentlich der Wille all dieser Volksgeister in dem einen Judenvolk schon lebte.

Ich möchte Ihnen das mit einem Bilde klarmachen. Denken Sie sich einmal, Sie gehen jeder in Ihre Häuslichkeit, verrichten dort diejenige Sache, die Sie in Ihrer Häuslichkeit zu verrichten haben. Jetzt wird also jeder von Ihnen, der Herr Dollinger, der Herr Erbsmehl, der Herr Burle und so weiter in einem besonderen Kreis drinnen sein. Das war bei diesen Volksgeistern der Fall. Nun aber, sagen wir, Sie wollen die Interessen der Arbeiterschaft vertreten: Da bleiben Sie nicht in Ihrem Haus, da halten Sie eine Versammlung ab, da kommen Sie zusammen, besprechen miteinander dasjenige, was dann von Ihnen ausgeht, von Ihrer Gemeinschaft ausgeht. So kann man sagen: Dasjenige, was diese Volksgeister bewirkten bei den andern Völkern, das machte jeder für sich in den Volkshäusern; was sie bewirkten durch das Judentum, das taten sie, indem sie eine geistige Versammlung abhielten - es wirkte auf den einen Juden mehr, auf den andern Juden weniger. Das drückt die Bibel aus, indem sie sagt: In das israelitische Volk fahren von siebzig Volksseelen die Volksgeister; die haben alle Einfluß. - Aber dieser Ein­fluß, der so stark war, der hat die Juden schon in einer gewissen Weise zu einem kosmopolitischen Volk gemacht, daß sie so zäh geblieben sind. Sie konnten überall zusammenkommen und dort das Judentum bewah­ren, weil sie auf diese Weise alles in sich hatten.

Es ist auch merkwürdig, was das Judentum alles in sich hat! Wenn Sie zum Beispiel in solche Gesellschaften hineingehen, in solche freimaurerische

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Odd Fellows-Gesellschaften, die nicht neues geisteswissen­schaftliches Wissen haben, sondern die altes Wissen haben auf eine Weise, die sie selber nicht mehr verstehen, da werden Sie bis auf die Worte überall von allen möglichen Völkern etwas finden, ägyptische Sachen, Zeremonien, Worte, assyrische, babylonische Worte und Zei­chen, Zeremonien und so weiter; aber am allermeisten finden Sie das Jüdische drinnen, sogenannte Kabbala und so weiter. Das Jüdische ist wirklich in dieser Richtung kosmopolitisch, paßt sich allem an, aber behält auch sein Ursprüngliches, weil es eben sein Ursprüngliches schon in sich hat. Daher ist es auch mit der hebräischen Sprache so, weil in der hebräischen Sprache überall ursprünglich viel drinnen liegt, sowohl Geistiges wie Physisches, daß immer mit einem hebräischen Worte sehr viel gesagt ist. Und die Juden haben ja die Eigentümlichkeit, nur die Mitlaute zu schreiben; die Selbstlaute wurden dann später durch Zei­chen ergänzt. Diese Selbstlaute schrieb man eigentlich gar nicht auf das Papier. Jeder konnte sie für sich sagen, so daß der eine sagte: Jehova, der andere Jeheva, ein dritter Jehave, ein vierter Johave. Die Vokale waren verschieden, je nachdem empfunden wurde. Und daher nannte man so etwas, was die Priester festgesetzt hatten auf eine Weise, wie den Jehova-Namen, den «unaussprechlichen Namen», weil man nicht mehr die Vokale gebrauchen durfte, wie man sie wollte.

Das Judentum hatte also schon etwas durch seine Zähigkeit, was hinwies auf die Art, wie die verschiedenen Volksseelen an dieser ein­zigen Nation teilgenommen hatten. Wenn Sie die Juden dann auf den verschiedensten Gebieten sehen, dann müssen Sie schon ein scharfes Auge haben, den Juden - diejenigen Juden, die sich vermischt haben, mitgewirkt haben unter den andern - noch zu erkennen. Sie wissen ja, daß der bedeutendste Staatsmann des 19. Jahrhunderts ein Jude war. Also Juden, die in den andern aufgegangen sind, die unterscheidet man schon wirklich gar nicht mehr. Derjenige, der ein Kenner ist, weiß in einem Satze, den ein Jude spricht: da ist jüdische Stilisierung drinnen -wenn es nich t nachgemacht ist; natürlich machen die heutigen Men­schen sehr viel nach. Aber die Juden machen wenig nach. Man kann es bemerken, wie der Jude überall von dem ausgeht, was man innerlich in Gedanken fixieren kann. Das ist eine Eigentümlichkeit. Und das hängt

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zusammen mit dieser Versammlung der Volksseelen, die da eigentlich alle mitgewirkt haben; so daß der Jude auch heute noch glaubt, wenn er irgend etwas sagt, das müsse unbedingt gültig sein. Nicht wahr, er geht aus von dem, was beschlossen wird von dem einzelnen. Es ist sehr interessant! Nehmen Sie an, es sind eine Anzahl von Leuten zusammen, drei, vier, fünf Leute; die andern sind nicht Juden, einer ist Jude. Nun handelt es sich darum, daß das, sagen wir, die Vertreter sind von irgend­einer Gemeinschaft. Ich erzähle Ihnen nicht Dinge, die ich erfinde, sondern die ich erlebt habe. In dieser Gemeinschaft herrschen verschie­dene Meinungen. Nehmen Sie nun an, diese fünf Menschen, unter denen der eine ein Jude ist, die sprechen. Der eine wird sagen: Ja, es ist sehr schwer, diese Menschen alle unter einen Hut zu bringen; da muß man denjenigen, die die Minorität sind, so zureden, der Majorität so zu­reden, damit ein Kompromiß zustande komme. - Kompromisse werden ja auf die Weise gemacht, daß die Leute so untereinander reden. Der zweite Nichtjude wird sagen: Ja, aber ich habe da gelebt unter diesen Leuten, die da in der Minorität sind; ich weiß, wie schwierig es ist, die Leute zu überzeugen! - Der dritte, der Vertreter der Minorität ist, sagt:

Wir haben schon gar keine Lust mehr, daran teilzunehmen, das geht alles nicht! - Der vierte sagt: Man muß eben doch sehen, daß man von dieser oder jener Seite ausgeht. - So die vier Nichtjuden. Jetzt fängt der Jude an: Das ist alles nichts! Begriff des Kompromisses: Der Kom­promiß besteht darin, daß die Leute mit verschiedenen Meinungen sich ausgleichen und daß sie klein beigeben. - Er bringt abstrakt: Begriff des Kompromisses -, geht nicht aus von dem oder jenem, er fängt an:

Begriff des Kompromisses - läßt den Artikel aus, darinnen auch seine ursprüngliche Zähigkeit beweisend. Wenn einer sagt: Welches ist der Begriff des Kompromisses? und so weiter - dann hat er schon in sich eine Anschauung; dann will er das anschauen. Aber so fängt der Jude nicht an, sondern er sagt: Begriff des Kompromisses! - Damit wird die Jehova-Anschauung hingestellt: Jehova sagt -. Man denkt nicht nach:

Wie ist das im einzelnen?, sondern das, was festgestellt ist im Begriff, das wird einfach aufgestellt. Daher denkt der Jude immer, er könne alles aus dem Begriff heraus entwickeln. Solange die Juden zusammen zäh unter sich sind, wird natürlich das so sein; wenn sie aber aufge­gangen

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sein werden unter den andern Menschen, werden sie nicht sagen: Begriff des Kompromisses -, sondern sie werden eben auch so sein müssen wie die andern Menschen. Das ist eben dies, was damit zu­sämmenhängt, daß die Volksseelen auf sie wirken.

Herr Dollinger: Was für eine Bedeutung hat der Sephirotbaum für das jüdische Volk?

Dr. Steiner: Damit wollen wir dann das nächste Mal beginnen.

ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 10. Mai 1924

#G353-1968-SE197 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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ZWÖLFTER VORTRAG

Dornach, 10. Mai 1924

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Nun, meine Herren, es bleibt uns noch von den letzten Fragen übrig die nach dem jüdischen Sephirothbaum. In diesem Sephirothbaum ha­ben die Juden des Altertums ihre höchste Weisheit eigentlich einge­schlossen. Und zwar könnte man sagen: Sie haben darin eingeschlossen die Weisheit von der Beziehung des Menschen, von dem Verhältnis des Menschen zu der Welt. Wir haben ja öfter betont: Der Mensch besteht nicht nur aus dem sichtbaren Teile, die man mit dem Auge sieht, son­dern der Mensch besteht auch noch aus unsichtbaren, übersinnlichen Gliedern. Wir haben diese übersinnlichen Glieder genannt den Äther-leib, den Astralleib, das Ich oder die Ich-Organisation. Nun, von allen diesen Dingen hat man schon in alten Zeiten, wenn auch nicht so, wie wir es heute haben, aber man hat davon gewußt aus dem Instinkt her­aus. Dieses alte Wissen ist eben ganz verlorengegangen. Heute glaubt man, daß so etwas wie dieser jüdische Lebensbaum, der Sephirothbaum, eigentlich eine Phantasie ist. Das ist aber nicht so.

Nun wollen wir uns heute einmal klarmachen, was die alten Juden mit diesem Sephirothbaum eigentlich gemeint haben. Nicht wahr, sie dachten sich das so: Der Mensch steht da in der Welt, aber die Kräfte der Welt wirken von allen Seiten auf ihn ein. Wenn man den Menschen, wie er dasteht in der Welt (es wird gezeichnet), anschaut, so können wir uns ihn, schematisch gezeichnet, so vorstellen, als in der Welt ste­henden, stofflichen Menschen. Den haben sich nun die alten Juden so vorgestellt, daß auf ihn von allen Seiten die Kräfte der Welt wirken. Ich zeichne hier einen Pfeil, der so bis ins Herz hineingeht: also auf den Menschen wirkend die Kraft der Welt; hier unten die Kraft der Erde.

Nun haben die Juden gesagt: Zunächst wirken drei Kräfte auf den menschlichen Kopf - die habe ich in der Zeichnung mit diesen Pfeilen:

2, 1, 3 bezeichnet -, drei Kräfte auf die menschliche Mitte, auf die Brust, Blutzirkulation hauptsächlich (Pfeile 4, 5, 6 der Zeichnung). Dann wirken drei Kräfte mehr auf die Gliedmaßen des Menschen, auf die Körpermitte und auf die Gliedmaßen (Pfeile 7, 8, 9), und eine

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zehnte Kraft, die wirkt von der Erde aus auf den Menschen (Pfeil 10, von unten). Also zehn Kräfte, stellten sich die alten Juden vor, wirken von außen.

Betrachten wir zunächst die drei Kräfte, die sozusagen von den wei­testen Partien des Weltenalis kommen und auf den menschlichen Kopf wirken, den menschlichen Kopf eigentlich rund machen, wie zu einem Bilde vom ganzen runden Weltenall machen. Diese drei Kräfte, also 1, 2, 3, sind die edelsten; die kommen sozusagen, wenn man mit einem späteren Ausdrucke sprechen will, mit einem griechischen Ausdruck zum Beispiel, von den höchsten Himmeln her. Die formen den mensch­lichen Kopf, indem sie ihn zu einem runden Abbilde des ganzen runden Weltenalis machen.

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Nun müssen wir aber gleich dabei einen Begriff entwickeln, welcher Sie stören könnte, wenn ich ihn einfach Ihnen sagen würde. Denn, sehen Sie, in diesen zehn Begriffen, die da die Juden an die Spitze ihrer Weisheit gestellt haben, da ist der erste da oben (1) ein solcher, der später furchtbar mißbraucht worden ist; denn später haben diejenigen Menschen, welchen es gelungen ist, die Macht an sich zu reißen, die Zeichen dieser Macht und auch die Worte für diese Macht in den äuße­ren Machtbereich heruntergezogen. Und so haben gewisse Menschen, welche sich die Macht der Völker angeeignet und auch auf ihre Nach­kommen übertragen haben, sich angeeignet dasjenige, was man Krone nennt. Krone war früher, in alten Zeiten, ein Wort, das man für das Höchste gebrauchte, was dem Menschen an Geistigkeit geschenkt werden

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kann. Und die Krone durfte nur derjenige tragen, der in dem Sinne, wie ich es Ihnen erklärt habe, durch die Einweihung gegangen ist, der also die höchste Weisheit errungen hat. Sie war ein Zeichen der höch­sten Weisheit. Ich habe Ihnen ja auseinandergesetzt, wie die Orden ursprünglich alle etwas bedeutet haben, wie sie später angelegt worden sind aus Eitelkeit und nichts mehr bedeuten. Namentlich aber müssen wir so etwas gegenüber dem Ausdruck «Krone» in Betracht ziehen. Krone war für die Alten der Inbegriff von alldem, was sich an Über-menschlichkeit aus der geistigen Welt in die Menschen herniederzu­senken hat. Kein Wunder, daß die Könige sich die Krone aufgesetzt haben. Die waren ja, wie Sie wissen, nicht immer weise und haben nicht immer die höchsten Himmelsgaben in sich vereinigt, aber sie haben sich das Zeichen aufgesetzt. Und man darf, wenn so etwas nach alten Sitten ausgesprochen worden ist, das nicht verwechseln mit dem, was daraus durch Mißbrauch geworden ist. Also das Höchste, die höchsten Welten-gaben, die höchsten Geistesgaben, die sich auf den Menschen nieder-senken können, die er vereinigen kann mit seinem Kopfe, wenn er viel weiß, das wurde im alten Judentum genannt Kether, Krone. Nun, sehen Sie, das war also das Höchste. Das war dasjenige, was vom Weltenall herein geistig den Kopf formte.

Und dann brauchte dieser Menschenkopf noch zwei andere Kräfte. Diese zwei andern Kräfte kamen ihm von rechts und von links. Man dachte sich: das Höchste kommt von oben herunter; von rechts und links kamen ihm die zwei andern Kräfte aus den Weltenkräften, die im ganzen Weltenall ausgebreitet sind. Nun, die eine, die wie durchs rechte Ohr hineingeht, nannte man Chokmah = Weisheit. Wir würden heute, wenn wir das Wort übersetzen wollten, sagen: Weisheit. Und auf der andern Seite kam herein aus der Welt: Binah. Wir würden heute sagen:

Intelligenz (2 und 3 der Zeichnung). Die alten Juden unterschieden zwischen Weisheit und Intelligenz. Heute betrachtet man einen jeden Menschen, der intelligent ist, auch so, als ob er weise wäre. Aber das ist ja nicht der Fall. Man kann intelligent sein und die größte Dummheit denken. Es ½rden die größten Dummheiten sehr intelligent ausge­dacht. Namentlich wenn man in vieles von der heutigen Wissenschaft hineinsieht, muß man sagen, intelligent ist diese Wissenschaft eigentlich

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auf allen Gebieten, aber weise ist sie sicher nicht. Die alten Juden haben Chokmah und Binah, die alte Weisheit von der alten Intelligenz schon früh voneinander unterschieden. - Also den menschlichen Kopf, alles das eigentlich, was im Menschen zum Sinnessystem gehört, auch das, was an Nerven im Sinnessystem ausgebreitet liegt, all das bezeichnete man mit den drei Ausdrücken Kether, Chokmah, Binah - Krone, Weis­heit, Intelligenz.

So wird, nach der Ansicht der alten Juden, der menschliche Kopf aufgebaut aus dem Weltenall herein. Es ist also ein starkes Bewußtsein davon vorhanden gewesen - sonst hätte man eine solche Lehre nicht ausgebildet -, daß der Mensch ein Glied im ganzen Weltenall ist. Wir können zum Beispiel beim menschlichen Körper fragen: Was ist mit der Leber? Nun, die Leber bekommt von der Blutzirkulation ihre Adern; sie bekommt ihre Kräfte von der menschlichen Umgebung. So haben die alten Juden gesagt: Der Mensch bekommt von der Weltumgebung die Kräfte, die dann zunächst im Mutterleib und später auch seine Kopfbildung bewirken.

Nun, dann gibt es die drei andern Kräfte (4, 5, 6 der Zeichnung); die wirken mehr auf den mittleren Menschen, auf den Menschen, in dem das Herz, in dem die Lunge ist. Sie wirken also auf den mittleren Menschen; sie kommen weniger von oben herunter, sie leben mit in der Umgebung. Sie leben im Sonnenschein, der auf der Erde herumgeht, sie leben in Wind und Wetter. Da kommen diejenigen drei Kräfte in Be­tracht, die die alten Juden genannt haben: Chesed, Geburah, Tiphereth. Wenn wir das mit heutigen Ausdrücken sagen wollen, so könnten wir es ausdrücken als: Chesed = Freiheit; Geburah = Kraft; Tiphereth = Schönheit.

Gehen wir nun vor allen Dingen von der mittleren Kraft aus, von Geburah. Ich habe Ihnen gesagt, ich will den Pfeil so zeichnen, daß er ins Herz geht! Die Kraft, die der Mensch hat, diese Herzhaftigkeit, Seelenkraft und physische Kraft zugleich, die wird angedeutet durch das menschliche Herz. Daher stellten sich die Juden vor: Wenn der Atem hineinkommt in den Menschen, wenn der Atem in das Herz läuft, da kommen von außen nicht nur diese physischen Atemkräfte in ihn, sondern es kommt die geistige Kraft, Geburah, die mit dem Atem verbunden

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ist. Wir würden also sagen, wenn wir es noch genauer aus­drücken wollten: die Lebenskraft, durch die er auch etwas kann = Geburah. Aber an der Seite von Geburah ist dasjenige, was man Chesed nannte, die menschliche Freiheit. Und auf der andern Seite: der Mensch ist ja tatsächlich in seiner Gestalt das Schönste auf der Erde! Der alte Jude hat sich vorgestellt: Höre ich den Herzschlag, so vernehme ich die Lebenskraft, die in den Menschen hineinkommt. Strecke ich die rechte Hand aus, so vernehme ich, daß ich ein freier Mensch bin; da kommt, wenn die Muskeln sich strecken, die Kraft der Freiheit. Die linke Hand, die mehr sanft sich bewegt, die mehr sanft greifen kann, die bringt das­jenige, was der Mensch in Schönheit macht.

Also diese drei Kräfte: Chesed = Freiheit, Geburah = Lebenskraft, Tiphereth = Schönheit, die entsprechen dem im Menschen, was mit dem Atem und mit der Blutzirkulation, all dem, was in Bewegung ist und sich immer wiederholt, zusammenhängt. Es gehört dazu schon auch die Bewegung des Schlafens, der Wechsel von Tag und Nacht. Das gehört auch zu der Bewegung; da gehört der Mensch auch mit dazu.

Dann aber ist der Mensch außerdem ein Wesen, das seine Stellung im Raume ändern kann, das herumgehen kann, das nicht so wie die Pflanze immer an einem Ort bleiben muß. Das Tier kann ja auch schon herumgehen. Das hat der Mensch gemeinsam mit dem Tier. Das Tier hat nicht Chokmah, nicht Tiphereth, noch nicht Chesed, es hat aber schon Geburah = Lebenskraft. Und die drei, die ich da bezeichnet habe, die hat der Mensch gemeinschaftlich mit dem Tiere nur dadurch, daß er die andern hat.

Dieses, daß man herumgehen kann, daß man nicht festgebannt ist an einen Ort, das nannten die Juden: Nezach, und das bedeutet, daß man den festen Stand der Erde überwindet, daß man sich bewegt (Pfeil 7 der Zeichnung). Nezach ist Überwindung. Nun, dasjenige, was mehr auf die Mitte des Menschen wirkt, da wo sein Schwerpunkt ist - es ist interessant, wissen Sie: das ist der Punkt, den man unterstützen kann, dann macht das Ganze halt beim Menschen -, und der etwa hier ge­legen ist - er ist etwas höher im Wachen, er senkt sich herunter im Schlafen, was auch bezeugt, daß beim Schlafen etwas draußen ist -, dasjenige, was in der Körpermitte wirkt, was beim Menschen auch die

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Fortpflanzung hervorbringt, was also mit der Sexualität zusammen­hängt, das nannten die alten Juden Hod. Wir würden es heute bezeich­nen mit dem Worte, das etwa ausdrücken würde Mitgefühl. Sie sehen, die Ausdrücke werden schon menschlicher. - Also mit dem Nezach ist die äußere Bewegung gemeint - wir gehen hinaus in den Raum, über­winden den Raum -, mit Hod das innere Fühlen, die innere Bewegung. Das innere Mitgefühl mit der Außenwelt, das ist alles Hod (Pfeil 8). Dann unter 9: Jesod; das ist nun dasjenige, auf dem der Mensch eigent­lich steht, das ist Jesod = das Fundament. Daß er ein solches Funda­ment hat, rührt eben auch von den Kräften her, die von außen an ihn herankommen. Der Mensch fühlt sich da also an die Erde gebunden; daß er auf der Erde stehen kann, ist das Fundament, ist Jesod. - Und dann wirken die Kräfte der Erde selber auf ihn (Pfeil 10), nicht nur die umgebenden Kräfte, sondern die Kräfte der Erde selber wirken auf ihn. Das nannte man dann Malkuth. Wir würden es heute übersetzen: das Feld, auf dem der Mensch wirkt, die irdische Außenwelt; Malkuth -das Feld. Man kann schwer einen richtigen Ausdruck für dieses Malkuth prägen, man kann sagen: Reich, Feld; aber alle Dinge sind eigentlich mißbraucht worden, und die heutigen Namen bezeichnen eben nicht mehr dieses, was der alte Jude fühlte: daß da die Erde eigentlich auf ihn wirkt.

Wir brauchen uns nur vorzustellen, wir hätten hier die Mitte des Menschen; da setzt ein Oberschenkelknochen ein, auf jeder Seite des Menschen - das geht hier bis zum Knie, da wäre die Kniescheibe. Auf diesen Knochen wirken alle diese Kräfte auch; aber daß er eigentlich so durchbohrt wird, daß er eigentlich eine Röhre ist, das kommt da­durch, daß die Erdenkräfte eindringen. Das bezeichnete der alte Jude mit Malkuth, das Feld.

Sie sehen also, man muß an den Menschen herankommen, wenn man von diesem Sephirothbaum sprechen will! Alle zehn zusammen, also:

Kether, Chokmah, Binah, Chesed, Geburah, Tiphereth, Nezach, Hod, Jesod, Malkuth nannten die Juden die zehn Sephiroth. Das ist das­jenige, wodurch der Mensch eigentlich mit der höheren geistigen Welt zusammenhängt. Nur die zehnte, Malkuth, ist eben in die Erde hinein-versenkt. Also im Grunde genommen ist das hier der physische Mensch

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(auf die Zeichnung deutend), und diesen physischen Menschen umgibt der geistige Mensch, unten zunächst als die Erdenkräfte, dann aber als die Kräfte, die mehr schon nahen der Erde, aber doch noch aus der Um­gebung hereinwirken: Nezach, Hod, Jesod. Das gehört also alles geistig zum Menschen dazu, wie diese Kräfte hereinwirken. Dann die Kräfte, die auf seine Blutzirkulation und Atmung wirken: Chesed, Geburah, Tiphereth. Und dann die edelsten Kräfte, die auf den Menschen wir­ken, die auf sein Kopfsystem wirken: Kether, Chokmah, Binah. So daß sich die Juden eigentlich so, wie ich es Ihnen hier farbig aufgezeichnet habe, den Menschen mit der Welt nach allen Seiten verbunden dachten. Der Mensch ist eben durchaus so, daß er auch ein Übersinnliches in sich enthält. Und dieses Übersinnliche, das haben sie sich so vorgestellt.

Nun können wir aber die Frage aufwerfen: Was haben denn außer­dem, daß sie sich dadurch ihr Verhältnis zur Welt erklärt haben, die Juden eigentlich mit den zehn Sephiroth erreichen wollen? Denn jeder Judenschüler mußte die zehn Sephiroth lernen, aber nicht bloß so, daß er sie aufzählen konnte; da würden Sie sich ganz falsche Vorstellungen machen, wenn Sie glaubten, der Unterricht, den die alten Juden ent­falteten, wäre so gewesen, daß das das Markante war, was ich Ihnen jetzt auf die Tafel gezeichnet habe. Wenn man nur auf die Frage ant­worten will: Was ist der Sephirothbaum? -, da hätte man schnell fertig werden können; flugs hätten Sie es gewußt. Mit dem sind die Menschen heute zufrieden, daß man frägt: Was ist der Sephirothbaum? Da steht dies und das drinnen, was ich Ihnen jetzt gesagt habe. - Aber das ist dann nicht in der Beziehung zum Menschen! Sondern es werden dann eben nur zehn Worte und allerlei phantastische Erklärungen da­für gegeben! Aber in bezug auf den Menschen ist das das Richtige, was ich Ihnen jetzt gesagt habe. Aber damit war es nicht etwa abgetan in der Schule, sondern der jüdische Zögling, der Wissenschaft lernen wollte in dem damaligen Sinne, der mußte viel mehr darüber lernen.

Denken Sie einmal, Sie hätten bloß gelernt, was das Alphabet ist und Sie wüßten, wenn Sie jemand frägt: Was ist das A, das B, das C und so weiter? - also die Buchstaben A, B, C, D und so weiter. Sie hätten es bis dahin gebracht, daß Sie die zweiundzwanzig oder drei­undzwanzig Buchstaben hintereinander aufzählen können. Da würden

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Sie nicht viel anfangen können damit! Wenn irgendein Mensch nur die dreiundzwanzig Buchstaben aufzählen könnte, da könnte er nicht viel damit anfangen, nicht wahr? Geradeso aber würde ein alter Jude an­gesehen worden sein, der nur hätte sagen können: Kether, Chokmah, Binah, Chesed, Geburah, Tiphereth, Nezach, Hod, Jesod, Malkuth, also diese zehn Sephiroth hätte aufzählen können. Wer nur so geant­wortet hätte, der hätte den Juden so geschienen wie einer, der sagen kann: A, B, C, D, E, F, G, H und so weiter. Man muß ja noch mehr lernen als das Alphabet, nicht wahr; man muß lernen, das Alphabet zum Lesen zu benutzen, muß lernen, wie man die Buchstaben zum Lesen benutzt. Nun, denken Sie sich einmal aus, wie wenig Buchstaben es gibt, und wieviel Sie in Ihrem Leben schon gelesen haben! Sie müssen das nur bedenken. Nehmen Sie zum Beispiel irgendein Buch, nehmen Sie, ich will sagen, Karl Marx' «Kapital» und schauen Sie da nach, wenn Sie das Buch vor sich haben: nichts steht auf den Seiten als die zweiundzwanzig Buchstaben, gar nichts sonst! Es stehen nur die Buch­staben darin im Buch. Aber was dadrinnen steht, das ist viel, und das ist alles hervorgebracht dadurch, daß die zweiundzwanzig Buchstaben durcheinandergewürfelt sind: bald steht das A vor dem B, bald vor dem M, bald das M vor dem A, das L vor dem I und so weiter, und da­durch entsteht das ganze Komplizierte, das in dem Buche ist. Wenn einer nur das Alphabet kann, nimmt er das Buch in die Hand und sagt vielleicht: Mir ist alles klar, was in dem Buche ist: da steht A vor B, C, D und so weiter, nur verschieden eingereiht; ich weiß alles, was da steht. - Aber alles, was da wirklich innerlich dem Sinne nach drinnen-steht, das kann er ja nicht lesen, wenn er nur einzelne Buchstaben lesen kann! Sie sehen daraus, man muß lesen lernen mit dem, was die Buch­staben sind; man muß wirklich in seinem Kopf und in seinem Geist die Buchstaben so durcheinanderwürfeln können, daß Sinn daraus ent­steht. Und so, sehen Sie, haben die alten Juden lernen müssen die zehn Sephiroth; die waren für sie Buchstaben. Sie werden sagen: Ja, das sind Worte. - Früher aber wurden die Buchstaben auch mit Worten bezeich­net! Das ist nur von den Menschen, als die Buchstaben nach Europa gekommen sind, in Griechenland verloren worden.

Nicht wahr, als der Übergang von der griechischen zur römischen

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Kultur war, da geschah etwas sehr Bedeutsames. Die Griechen nannten ihr A nicht A, sondern Alpha, und Alpha heißt eigentlich: der geistige Mensch; und sie nannten ihr B nicht B, sondern Beta, das ist so etwas wie ein Haus. Und so hatte jeder Buchstabe einen Namen. Und der Grieche hätte sich gar nicht vorstellen können, daß der Buchstabe etwas anderes ist, als was man mit einem Namen bezeichnet. Dann erst, als der Übergang von der griechischen Kultur zu der römischen geschah, da sagte man nicht mehr Alpha, Beta, Gamma, Delta und so weiter, da bezeichnete man die Buchstaben nicht mehr mit ihren Namen, wo jeder Buchstabe darauf hinwies, was ein solcher Name bedeutet, sondern da sagte man: A, B, C, D, E, F, G und so weiter, da wurde das Ganze ab­strakt. Gerade als das Griechentum untergegangen ist, in das Römer­tum eingegangen ist, entstand die große Kulturdiarrhöe in Europa. Da verlor man in einer riesigen Diarrhöe das Geistige auf diesem Weg vom Griechentum ins Römertum.

Und sehen Sie, da war aber insbesondere das Judentum dann groß. Wenn die ihr Aleph aufschrieben, Aleph = ihr erster Buchstabe, so meinten sie damit den Menschen, und sie wußten: überall, wo sie diesen Buchstaben für die sinnliche Welt hinstellten, da muß das, was sie durch diesen Buchstaben ausdrücken, auf den Menschen passen. Und so hatte auch jeder Buchstabe, der für die Ausdrücke der sinnlichen Welt war, einen Namen. Und die Namen jetzt: Kether, Chokmah, Binah, Chesed, Geburah, Tiphereth, Nezach, Hod, Jesod, Malkuth, das waren die Namen für die geistigen Buchstaben, für das, was man lernen mußte, um in der geistigen Welt zu lesen. Und so hatten die Juden ein Alpha­bet: Aleph, Bet und so weiter - ein Alphabet, mit dem sie die äußere Welt, die physische Welt erfaßten. Aber sie hatten auch das andere Alphabet, wo sie nur zehn Buchstaben, zehn Sephiroth hatten: mit dem erfaßten sie die geistige Welt.

Sehen Sie, wenn ich Ihnen die Namen so aufzähle, Kether, Chok­mah, Binah, Chesed und so weiter, nun, das ist so wie A, B, C, D und so weiter. Aber solch ein alter Jude würde, wenn er so durcheinander­gewürfelt hätte, wie wir die Buchstaben durcheinanderwürfeln, und hätte Kether, Chesed, Binah gehabt, so würde er gesagt haben: In der geistigen Welt bewirkt die höchste geistige Kraft durch die Freiheit die

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Intelligenz. - Und damit würde er die höheren Wesen bezeichnet haben, die nicht einen physischen Leib haben, bei denen die höchste Himmels-kraft durch die Freiheit die Intelligenz bewirkt.

Oder er würde gesagt haben: Chokmah, Geburah, Malkuth - das würde geheißen haben: Die Weisheit bringt die Geister der Lebenskraft hervor, durch die sie auf die Erde wirken. - Er hat gewußt alle diese Dinge durcheinanderzuwürfeln und zu lesen, wie wir Buchstaben durcheinanderwürfeln und lesen. So haben diese alten Judenschüler durch diese zehn Geistbuchstaben in ihrer Art die Geisteswissenschaft begriffen. Dieser Baum, der Sephirothbaum, war also für sie dasselbe, was für uns der Baum des Alphabets mit seinen dreiundzwanzig Buch­staben ist. Es ist mit diesen Dingen ganz merkwürdig gegangen, sehen Sie: In den ersten zwei Jahrhunderten nach der Entstehung des Chri­stentums hat man von allen diesen Dingen gewußt. Aber als dann die Juden sich zerstreut haben in die Welt, ist diese Art zu wissen durch die zehn Sephiroth auch zerstreut worden. Einzelne Judenzöglinge, die man dann, wie Sie vielleicht wissen, Chachamim genannt hat, wenn sie die Schüler des Rabbiners geworden sind, diese Chachamim haben diese Dinge noch gelernt; aber auch da wurde eigentlich nicht mehr recht gewußt, wie man durch diese zehn Sephiroth liest. Es ist zum Beispiel noch im 12. Jahrhundert nach Christo ein großer Streit entstanden über zwei Sätze; der erste Satz hieß: Hod, Chesed, Binah. Diesen Satz hat der Maimonides festgehalten. Sein Gegner dagegen behauptete: Chesed, Kether, Binah. Also über diese Sätze hat man sich schon gestritten. Man muß wissen: Diese Sätze sind aus dem Sephirothbaum heraus; der eine hat so, der andere so gelesen, die Dinge so und so zusammengesetzt. Aber man hatte gegen das Mittelalter diese Lesekunst eigentlich ver­gessen. Und das Interessante ist, daß später, in der Mitte des Mittel­alters, ein Mann aufgetaucht ist, Raimundus Lullus - ein sehr interes­santer Mensch, dieser Raimundus Lullus!

Sehen Sie, es ist eigentlich außerordentlich interessant, einen solchen Menschen kennenzulernen. Denken wir uns, es wäre unter Ihnen ein recht Neugieriger, der würde sich sagen: Jetzt habe ich von Raimund Lullus gehört; ich will jetzt einmal nachlesen über ihn! - Nehmen Sie zuerst das Lexikon, dann irgendwie Bücher, wo etwas von Raimund

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Lullus drinnensteht: Ja,wenn Sie das lesen, was da von Raimund Lullus steht in den Büchern heute, dann können Sie sich den Bauch halten vor Lachen, denn das wäre der lächerlichste Mensch gewesen, den man sich denken könnte! Da sagen nämlich die Leute: Dieser Raimundus Lullus, der hat zehn Wörter auf Zetteln geschrieben, und dann hat er so etwas genommen, wie man es hat beim Hasardspiel, eine Art Roulette, wo man dreht, wo man die Geschichte durcheinanderwürfelt, da hätte er diese zehn Zettel immer durcheinandergewürfelt, und was herausge­kommen wäre, das habe er nun aufgeschrieben, und das wäre seine Weltweisheit gewesen. Nun, wenn man so etwas liest, daß also einfach zehn Zettel mit Worten daraufgeschrieben genommen und durchein­andergeworfen wurden, und der Mann dadurch etwas Besonderes fin­den wollte, so muß man sich den Bauch vor Lachen halten, denn das ist doch ein lächerlicher Mensch, der so etwas täte.

Aber so war es nämlich bei Raimundus Lullus nicht. Er hat eigent­lich das Folgende gesagt: Ihr könnt noch so weit mit eurem Erden-alphabet, mit alldem, was das Erdenalphabet euch gibt, herumforschen, die Wahrheit, die könnt ihr trotzdem nicht finden. - Und nun hat er gesagt: Die Wahrheit zu finden, dazu taugt euer gewöhnlicher Kopf nicht. Dieser gewöhnliche Kopf, der ist so wie eine Roulette, wo man dreht, und wo nichts darinnen liegt, wo also nichts herausgesucht wer­den kann, um zu gewinnen. - Der Lullus hat seinen Mitmenschen ge­sagt: Ihr seid eigentlich alle Hohlköpfe geworden, euer Kopf ist nichts mehr, da ist nichts mehr drinnen. Und ihr müßt solche Begriffe, wie diese zehn Sephiroth, einmal in eure Köpfe hineintun; da müßt ihr ler­nen, eure Köpfe von einem der Sephiroth zum andern zu drehen, bis ihr lernt, die Buchstaben zu gebrauchen. - Das hat ihnen der Raimundus Lullus wieder gesagt. Das steht auch in seinen Schriften. Er hat nur ein Bild dafür gebraucht, und das Bild, das haben die Philosophen ernst genommen und geglaubt, er meine wirklich eine Art Roulette, wo man so herumdreht, daß man die Zettel mischt, während diese Roulette, die er gemeint hat, eben das übersinnliche Erkennen im Kopfe sein soll!

Dieser Lebensbaum, dieser Sephirothbaum, der ist also das geistige Alphabet. Die Menschen, die mehr im Abendlande waren, in Griechen­land, die hatten schon auch in den alten Zeiten ein geistiges Alphabet

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gehabt. Und in der Zeit, in der Alexander der Große gelebt hat und Aristoteles, wurden dort auf griechische Art auch zehn Begriffe ge­geben. Die finden Sie heute noch überall in allen Logiken der Schulen aufgezeichnet: Sein, Eigenschaft, Besitz und so weiter - auch zehn sol­che Namen, nur eben, daß sie anders sind, weil sie für das Abendland geeignet sind. Aber im Abendlande hat man diese zehn griechischen Buchstaben des geistigen Alphabets ebensowenig verstanden, wie man verstanden hat diese vorher angeführten.

Aber sehen Sie, es ist schon eigentlich eine interessante Geschichte, die da stattfindet in der Menschheit. Drüben in Asien, da haben die­jenigen, die noch etwas gewußt haben, lesen gelernt in der geistigen Welt durch diesen Sephirothbaum. Und in den ersten Jahrhunderten des Christentums haben die Menschen, die noch etwas gewußt haben von der geistigen Welt, nach dem aristotelischen Lebensbaum - drüben in Griechenland, in Rom und so weiter - lesen gelernt. Aber nach und nach haben alle - die vom Sephirothbaum und die vom Aristoteles-baum - vergessen, wozu diese Dinge eigentlich sind, konnten nurmehr die zehn Begriffe aufzählen. Und erst jetzt wieder müssen wir eigent­lich diese Dinge so gebrauchen, daß wir lesen lernen in der geistigen Welt, sonst wird man nach und nach vom Menschen gar nichts mehr wissen. Ein sehr interessanter Satz ist der folgende. Wenn so ein jüdi­scher Weiser geschrieben hat oder gesagt hat: Geburah, Nezach, Hod -, so würde man heute so übersetzen müssen, daß man im Deutschen sagt die Worte: Die Lebenskraft brütet in den Nieren die Träume aus. -Aber wenn man heute sagt: Die Lebenskraft brütet in den Nieren die Träume aus -, so meint man physische Kräfte, physische Wirkungen. Aber der alte Jude hat, wenn er gesagt hat: Geburah, Nezach, Hod -, damit gemeint: Das, was der geistige Mensch im Menschen ist, das be-wirkt dasjenige, was in den Träumen erscheint. Überall war es eine geistige Behauptung, die man durch das, was durch das Zusammenwürfeln der Buchstaben entstand, ausdrückte.

Es ist schon so, daß es nur durch die Geisteswissenschaft heute mög­lich ist, überhaupt einen Aufschluß über diese Dinge zu bekommen. Denn kein Mensch sagt Ihnen heute, daß diese zehn Sephiroth solche Buchstaben waren für die geistige Welt. Das können Sie sonst nirgends

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hören, das weiß eigentlich heute kein Mensch! So daß man sagen kann, die Sache liegt ja so, daß die heutige Wissenschaft die meisten Sachen, die man schon einmal gewußt hat in der Menschheit, nicht mehr weiß, und sie müssen erst wiederum errungen werden.

Nehmen Sie nur diesen Buchstaben, den ich Ihnen da aufgemalt habe: Aleph i,'. Was bedeutet denn dieser Aleph für die Sinneswelt? Nun, da steht der Mensch. So steht er, seine Kraft aussendend. Das ist dieser Strich (Zeichnung). Er hebt die rechte Hand hinauf: das ist die­ser Strich; er streckt die andere Hand herunter: das ist dieser Strich. So daß dieser erste Buchstabe Aleph ausdrückt den Menschen. Und jeder Buchstabe drückte - auch noch im Griechischen - irgend etwas aus, so wie der erste Buchstabe «den Menschen» ausdrückt.

Sehen Sie, die Leute haben heute gar kein Gefühl mehr dafür, wie die Dinge zusammenhängen. Den ersten Buchstaben für den Menschen nannte der Hebräer Aleph, die Griechen Alpha, und sie meinten damit das, was geistig sich im Menschen bewegt, was hinter dem physischen Menschen geistig ist. Nun haben Sie aber auch noch ein altes deutsches Wort. Zunächst wird es dann gebraucht, wenn der Mensch besondere Träume hat. Wenn ihn ein geistiger Mensch drückt, dann nennt man dies den Alpdruck, den Alp. Da sagt man, da komme über den Men­schen etwas, was ihn besessen macht. Aber daraus ist das Elp entstan­den, Elp, Elf, der Elf, die Elfe, diese geistigen Wesen, die Elfen; der Mensch ist nur ein verdichteter Elf. Dieses Wort Elf, das auf Alp zu­rückführt, das kann Sie noch erinnern an Alpha im Griechischen. Sie brauchen nur das a wegzulassen, dann haben Sie: Alph, - ph ist das­selbe, wie unser f -, Elf; Aleph = ein Geistiges. Dadurch, daß das f da-zugesetzt worden ist, sagt man: der Aleph im Menschen, der Alp im Menschen. Wenn Sie im Jüdischen, wie es üblich ist, überall die Selbst­laute weglassen, so bekommen Sie direkt Alph = Elf für den ersten Buchstaben. Die Menschen sprechen aus: Elf für diese geistige Wesen­heit. Man redet von Elfen. Natürlich sagt man heute: Das sind Wesen­heiten, welche die Alten erfunden haben aus ihrer Phantasie heraus. Wir glauben nicht mehr daran. - Aber die Alten haben gesagt: Ihr braucht ja nur auf den Menschen selber hinzuschauen, dann habt ihr den Alph, nur daß da der Alph im Körper drinnensteckt und nicht ein

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feines ätherisches Wesen ist, sondern ein dichtes körperliches Wesen ist im Menschen. - Aber die Menschen haben ja längst verlernt, überhaupt noch den Menschen aufzufassen.

Da erlebt man ja das Allerdrolligste, meine Herren. Denken Sie sich einmal, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgendes auf­gekommen ist - ich will gar nicht dagegen reden, die Dinge können geschehen -: Da wurde ein Tisch genommen, um den setzten sich die Leute herum, sagen wir acht Leute; sie legen die Hände, die sich dann mit den äußersten Enden berühren, auf die Tischplatte, und da fängt der Tisch zu tanzen an! Dann zählen sie die Tanzschritte des Tisches ab, formen daraus, auch aus Buchstaben, Worte. Das sind spiritistische Sitzungen. Was glauben die Menschen? Sie glauben: Na, wenn wir nachdenken, dann kommt nichts von wirklicher Erkenntnis heraus; die wirkliche Erkenntnis, die muß uns irgendwo zufallen. - Nun, in Wahr­heit ist es ja so, daß die Menschen, die das sagen, von sich es allerdings sagen könnten, denn es sind meist solche, die gedankenlos sind, und die nicht nachdenken wollen, die gern möchten, daß ihnen die Wahrheit von irgendwoher zufällt ohne ihre eigene Arbeit. Daher setzen sich acht um den Tisch herum, dann lassen sie den Tisch aufschlagen, das erste­mal A, das zweitemal B, dann C und so weiter, und daraus formen sie dann Worte - und das sind dann spiritistische Offenbarungen. Nicht wahr, da ist ihnen die Weisheit zugefallen; sie haben sie nicht selber errungen!

Aber sehen Sie, was sollte man denn zu solchen Menschen eigentlich sagen? Solche Menschen, die wollen die geistige Welt erkennen; das ist doch ihre ehrliche Absicht, die geistige Welt zu erkennen. Die Geister, die kann man nicht anschauen; man sieht und hört sie nicht, weil sie keinen Körper haben. Da denken die Leute: Da können sie ja diesen Tisch als Körper benützen, und da können sie sich auf diese Weise so eintißchen verständlich machen.-Nebenbei bemerkt: Es kommen mei­stens sehr allgemeine Dinge heraus, die man sich so und so deuten kann! - Aber jedenfalls muß man zu diesen Menschen sagen: Da sitzt ihr, acht Menschen, um den Tisch herum; ihr wollt, daß ein Geist kommt, der sich hörbar macht: Ja, seid ihr denn nicht selber auch Geister? Ihr seid ja selber auch Geister, die ihr da herumsitzet! Schaut

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einmal auf euch selber hin und sucht in euch selber den Geist. Da wer­det ihr noch einen viel größeren Geist finden können. Von euch werdet ihr nicht voraussetzen, daß ihr nur dann geschaut werdet, wenn ihr durch einen Tisch schlaget, sondern wenn ihr menschengemäß eure Glieder, eure Stimmen, vor allem eure Denkkräfte benützt! - Daher ist es ist in der Tat so - und man braucht es nicht zu bezweifeln, wenn sich achte um den Tisch herumsetzen, daß der Tisch anfängt zu tanzen, weil ja die unterbewußten Kräfte auf den Tisch wirken -, die Sache ist schon so, aber heraus kommt doch nicht irgend etwas, was nicht in viel höherem Sinn herauskäme, wenn der Mensch sein eigenes Alpha oder Aleph in sich anstrengt.

Aber die Menschen haben bei dem Übergang von dem Griechentum ins Römertum Aleph verlernt. Der erste Buchstabe bedeutet A - ja, nur glauben, der erste Buchstabe bedeutet bloß A, das heißt ja Maulaffen feilhalten! Da kommt ja nichts dabei heraus. Einer Ehefrau ist es ein­mal zu dumm geworden, daß ihr Mann bloß Vorträge gehalten hat aus der Wissenschaft heraus. Er hatte viel gelernt und hat immer Vorträge gehalten. Das war ihr furchtbar zuwider. Und da sagte sie zu ihm eines Tages: Du willst immer Vorträge halten! - wenn du schon etwas halten willst, so halt das Maul! - Ja, eigentlich ist dasjenige, was Inhalt ist, ganz verlorengegangen. Die Griechen haben nicht ein A, ein Alpha, so gedacht, ohne an den Menschen zu denken. Sie wurden gleich an den Menschen erinnert. Und sie haben nicht ein Beta gehabt, ohne sich an ein Haus zu erinnern, worin der Mensch wohnt. Das Alpha ist immer der Mensch. Sie stellten sich etwas Menschenähnliches vor. Und bei Beta, da stellten sie sich etwas, was um den Menschen herum ist, vor. Da wurde dann das jüdische Bet und das griechische Beta das Um­hüllende um das Alpha, das noch drinnen ist als geistiges Wesen. So würde auch der Körper das Bet, Beta sein, und das Alpha der Geist darinnen. Und nun reden wir heute vom «Alphabet» - das heißt aber für die Griechen: «derMensch in seinem Haus», oder auch: «derMensch in seinem Körper», in seiner Umhüllung.

Es ist eigentlich furchtbar lustig. Nehmen Sie heute ein Lexikon in die Hand, so lesen Sie nach in dem Alphabet die ganze Weisheit, die die Menschheit hat. Wenn einer - Sie werden es nicht tun - beim A anfängt

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und beim Z aufhören würde, dann würde er die ganze Weisheit in sich haben. Ja, nach was ist denn aber diese Weisheit im Menschen anzu­ordnen? Nach dem Alphabet, nach dem, was man vom Menschen wis­sen kann. Es ist sehr interessant: Die Menschen haben es dazu gebracht, alle Weisheit zu verbreiten, weil sie nicht mehr wußten, daß das eigent­lich hindeutet auf das, was aus dem Alphabet kommt. - Übersetzt man Alphabet, so kommt heraus, wenn man etwas anders aus­drückt: Menschenweisheit, Menschenwissen - wiederum mit einem griechischen Wort ausgedrückt: Anthroposophie, Menschenweisheit. Und so sagt es denn jedes Lexikon. Eigentlich müßte in jedem Lexikon Anthröposophie drinnenstehen, denn es ist nur nach dem Alphabet, nach der Menschenweisheit, «der Mensch in seinem Körper» angeord­net. Es ist also furchtbar lustig: eigentlich stellt jedes Lexikon ein Toten-gerippe dar, wo in der alphabetisch angeordneten Wissenschaft die alte Weisheit verschwunden ist. Es ist alles Fleisch und Blut weg, alle Mus­keln, alle Nerven sind heruntergefallen. Jetzt gehen Sie zum Lexikon; da ist nur noch das tote Gerippe von der alten Wissenschaft drinnen. -Jetzt muß wieder eine neue Wissenschaft entstehen, die nicht nur das Totengerippe hat, wie das Lexikon, sondern wirklich alles wieder hat vom Menschen, Fleisch und Blut und so weiter: das ist die Anthropo­sophie! Daher möchte man am liebsten - trotzdem man sie heute braucht - diese Lexika alle zum Teufel schmeißen, weil sie das tote Gerippe sind von einer alten Wissenschaft. Neue Wissenschaft muß begründet werden!

Sehen Sie, meine Herren, das ist dasjenige, was man gerade auch am Sephirothbaum lernen kann, wenn man ihn in der richtigen Weise be­greift. Es ist sehr nützlich, nicht wahr, daß Herr Dollinger diese Frage gestellt hat, denn sie hat uns wieder ein bißchen tiefer hineingeführt in die Anthroposophie.

Das nächstemal dann am Mittwoch um neun Uhr.

DREIZEHNTER VORTRAG Dornach, 14. Mai 1924

#G353-1968-SE214 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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DREIZEHNTER VORTRAG

Dornach, 14. Mai 1924

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Herr Burle: Am 22. April war der Geburtstag von Kant. Wenn ich Herrn Doktor bitten dürfte, daß er uns etwas über die Lehre von Kant erzählen würde, was die Gegensätze zu ihr wären, und ob sie eine heutige anthroposophische Lehre wäre.

Dr. Steiner: Ja, meine Herren, wenn ich diese Frage beantworten soll, dann müssen Sie mir eben heute ein bißchen in ein schwer ver-ständliches Gebiet folgen. Aber der Herr Burle, der auch schon die Frage über den Relativismus gestellt hat, der stellt ja immer so schwere Fragen! Und so müssen Sie heute eventuell darauf gefaßt sein, daß die Dinge nicht so leicht verständlich sind wie dasjenige, was ich sonst berichte. Aber sehen Sie, von Kant ist in einer leichtverständlichen Weise gar nicht zu erzählen, weil er eben in sich selber nicht leicht ver­ständlich ist. Es ist schon so, daß heute die ganze Welt eigentlich, die sich überhaupt für solche Dinge, ich will gar nicht sagen interessiert, denn in Wirklichkeit interessieren sich ja die wenigsten Menschen da­für, aber die vorgibt, sich dafür zu interessieren, von Kant redet wie von etwas, was im allereminentesten Sinne die Welt viel, viel angeht. Und Sie wissen ja auch, daß zu diesem zweihundertsten Geburtstage eine ganze Menge von Artikeln geschrieben worden sind, die also der Welt klarmachen sollten, was für eine ungeheure Bedeutung für das ganze Geistesleben Kant gehabt hat.

Sehen Sie, schon als Bub hörte ich in der Schule oftmals von dem Literaturgeschichtslehrer: Immanuel Kant war der Kaiser des litera­rischen Deutschlands! - Ich habe mich einmal versprochen und habe gesagt: König des literarischen Deutschlands. Da hat er mich gleich korrigiert und hat gesagt: Kaiser des literarischen Deutschlands!

Nun, ich habe mich gerade außerordentlich viel mit Kant beschäf­tigt und habe - das habe ich ja erzählt in meiner Lebensbeschreibung -eine Zeitlang einen Lehrer in der Geschichte gehabt, der eigentlich immer nur aus andern Büchern vorgelesen hat; ich habe mir gedacht:

das kann ich selber lesen zu Hause, und als er einmal hinausgegangen ist, habe ich nachgeschaut, was er eigentlich vorliest. Und es war dann

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günstiger, daß ich mir das selber verschaffte. Aus «Reclams Universal-bibliothek» hatte ich mir Kants «Kritik der reinen Vernunft» besorgt; ich trennte es auseinander, und das habe ich dann hineingeheftet in mein Schulbuch, das ich während des Unterrichts vor mir liegen hatte, und las nun Kant, während vom Lehrer Geschichte gelehrt wurde. Deshalb habe ich mir auch ganz ordentlich getraut über Kant zu reden, von dem alle eigentlich immerfort so reden, daß die Leute, wenn man irgend etwas, was auf Geistiges Bezug hat, sagt, dann sagen: Ja, aber Kant hat gesagt. - Wie man in der Theologie immer sagt: Ja, aber die Bibel sagt -, so sagen eigentlich viele aufgeklärte Leute: Ja, aber Kant hat gesagt. - Ich habe vor jetzt vierundzwanzig Jahren Vorträge ge­halten; da lernte ich einen Menschen kennen, der im Auditorium saß und der immer schlief, immer schlafend zuhörte; manchmal, wenn von mir die Stimme ein bißchen erhoben wurde, da wurde er wach, und besonders am Schluß. Da habe ich auch einiges über Geistiges gesagt -da wachte er wieder auf, ist aufgesprungen immer wie ein Stehauf-männchen und rief: Aber Kant hat gesagt. - Also es ist schon so, daß man aus Kant außerordentlich viel Wesens macht.

Nun wollen wir uns einmal vor Augen stellen, wie eigentlich dieser Kant die Welt angesehen hat. Er sagte ja mit einem gewissen Recht:

Alles dasjenige, was wir sehen, was wir fühlen, kurz, was wir durch die' Sinne wahrnehmen, also die ganze Natur, die außer uns ist, die ist nicht eine Wirklichkeit, sondern die ist ein Schein, eine Erscheinung. Aber wodurch entsteht sie? Ja, sie entsteht dadurch - das ist das Schwierige jetzt, da müssen Sie ganz gut aufpassen -, daß irgend etwas, was er «das Ding an sich» nannte, also etwas ganz Unbekanntes, wovon wir nichts wissen, auf uns einen Eindruck macht; und diesen Eindruck, den sehen wir eigentlich, nicht das Ding an sich.

Also sehen Sie, meine Herren, wenn ich es Ihnen aufzeichne, so ist die Sache so: Da ist der Mensch - man könnte es ebensogut mit dem Hören und Fühlen machen, wollen wir es mit dem Sehen machen -, da ist irgendwo draußen das Ding an sich. Aber von dem wissen wir nichts, das ist ganz unbekannt, von dem weiß man nichts. Aber dieses Ding an sich, das macht jetzt auf das Auge einen Eindruck. Von diesem weiß man auch noch nichts, aber auf das Auge wird ein Eindruck gemacht.

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Und da drinnen im Menschen, da entsteht jetzt eine Erscheinung, und diese Erscheinung, die plustern wir auf zu der ganzen Welt. (Auf die Zeichnung deutend): Von dem Roten wissen wir nichts, nur von dem, was wir da als Erscheinung haben; was ich also jetzt als Violett auf-zeichne, von dem wissen wir etwas. Also eigentlich ist die ganze Welt im Grunde genommen, nach Kant, vom Menschen gemacht. Sie sehen den Baum. Von dem Baum an sich wissen Sie gar nichts, der Baum macht nur einen Eindruck auf Sie, das heißt: irgend etwas Unbekanntes macht einen Eindruck auf Sie, und diesen Eindruck, den bilden Sie zum Baum, und Sie setzen in Ihren Wahrnehmungen den Baum hin. Also bedenken Sie: Hier ist ein Stuhl, ein Sessel - ein Ding an sich. Was da eigentlich ist, weiß man nicht; aber was da ist, macht auf mich einen Eindruck: ich stelle den Stuhl hin - aber auf was für ein Ding ich mich da eigentlich setze, wenn ich mich auf den Stuhl setze, das weiß man nicht. Das Ding an sich, das, worauf ich mich setze, das habe ich eigent­lich hingestellt.

Sehen Sie, Kant spricht so von den Erkenntnisgrenzen, daß man nie­nials wissen kann, was das Ding an sich ist, weil alles eigentlich nur eine vom Menschen gemachte Welt ist. Es ist sehr schwer, die Sache ernst­haft verständlich zu machen. Und wenn man über diesen Kant gefragt wird, da ist es schon so, daß man, wenn man ihn wirklich kennzeichnet, wirklich nun charakterisiert, eigentlich ganz merkwürdige Sachen sagen muß. Denn wenn man den wahren Kant ansieht, so ist es eigent­lich schwer, einem zu glauben, daß die Sache so ist. Aber es ist so, daß einfach Kant aus der Theorie heraus, aus dem Denken heraus behaup­tet: Von dem Ding an sich weiß niemand etwas, sondern die ganze Welt ist nur aus dem Eindruck gemacht, den wir von den Dingen empfangen.

Ich habe einmal gesagt: Wenn man also nicht weiß, was das Ding an sich ist, so kann es ja alles mögliche sein; es kann zum Beispiel aus Stecknadelköpfen bestehen! - So ist es auch bei Kant. Man kann ganz gut sagen: aus allem möglichen könnte nach ihm das Ding an sich beste­hen. Nun kommt aber das Weitere: Wenn man bei dieser Theorie stehen-bleibt, sind Sie alle hier, wie ich Sie hier sehe, nur meine Erscheinung; ich habe Sie alle auf die Stühle hier gesetzt, und was dahintersteckt

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hinter jedem von Ihnen als Ding an sich, das weiß ich nicht. Und wie­derum, wenn ich da stehe, so wissen Sie auch nicht, was das für ein Ding an sich ist, sondern Sie sehen die Erscheinung, die Sie selber hinsetzen. Und was ich rede, das ist dasjenige, was Sie selber herhören! Also, was ich eigentlich da mache - das Ding an sich, was das eigentlich da macht, das wissen Sie alle nicht; aber dieses Ding an sich macht auf Sie einen Eindruck, und Sie werfen dann diesen Eindruck hierher; Sie hören im Grunde genommen dasjenige, was Sie selber machen!

Nun, gerade wenn man dies Beispiel nimmt, dann könnte man, wenn man im Kantschen Sinne redet, etwa das Folgende sagen: Sie sitzen da draußen und frühstücken und sagen: Ja, jetzt wollen wir einmal in den Saal hineingehen und wollen da einmal eine Stunde das und das hören. Was das für ein Ding an sich ist, was wir hören, das können wir nicht wissen; aber wir werden den Steiner da hinschauen, so daß wir - wenig­stens eine Stunde lang - diese Erscheinung haben, und nachher werden wir dasjenige, was wir hören wollen, hinhören. - Das ist es eigentlich zunächst, was der Kant sagt, deswegen, weil er behauptet: Niemals weiß man etwas vom Ding an sich!

Sehen Sie, einer der Nachfolger von Kant, Schopenhauer, der hat die Sache so klar gefunden, daß er gesagt hat: Daran kann man doch gar nicht zweifeln! - Das ist ganz sicher, sagt er, daß, wenn ich Blau sehe, dann nicht da draußen etwas blau ist, sondern von mir kommt das Blaue dahin, wenn ein Ding an sich auf mich einen Eindruck macht. Wenn ich von da draußen höre, daß einer jammert und einen Schmerz hat, dann kommt der Schmerz und das Gejammer nicht von ihm, son­dern von mir! Das, sagt Schopenhauer, ist eigentlich ganz klar. Und wenn der Mensch die Augen zumacht und schläft, dann ist die ganze Welt finster und stumm; dann ist gar nichts da für ihn.

Nun, Sie können nach dieser Theorie in der einfachsten Weise die Welt erschaffen und wieder wegtun. Sie schlafen ein, die Welt ist fort; und Sie wachen wiederum auf: und Sie haben die ganze Welt wiederum gemacht - wenigstens die, die Sie sehen. Außer dem ist nur das Ding an sich da, von dem Sie nichts wissen. Ja, das hat der Schopenhauer ganz klar gefunden. Aber dem Schopenhauer ist dabei doch etwas schwum­melig geworden. Es war ihm nicht recht wohl bei der Behauptung. Da

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hat er gesagt: Wenigstens etwas ist draußen - Blau und Rot, und alle Kälte und Wärme ist nicht draußen; wenn ich friere, mache ich selber die Kälte -, aber was draußen ist, ist der Wille. In allem lebt Wille. Und der Wille, der ist eine ganz freie dämonische Gewalt. Aber er lebt in allen Dingen.

Also er hat schon ein bißchen etwas in «das Ding an sich» hinein-getan. Alles, was wir vorstellen, hat er auch als eine bloße Erscheinung, die wir selber machen, angesehen; aber das Ding an sich hat er wenig­stens schon mit dem Willen ausgestattet. Es waren viele Leute und es sind bis heute viele Leute, die sich eigentlich gar nicht klarmachen, was die Konsequenzen der Kantschen Lehre sind. Ich habe einmal einen Menschen kennengelernt, der war nun wirklich - was man eigentlich sollte, wenn man eine Lehre hat - ganz durchdrungen von dieser Kant­schen Lehre, und der hat sich gesagt: Ich habe ja alles selber gemacht:

die Berge, die Wolken, die Sterne, alles, alles, und die Menschheit habe ich selber auch gemacht, und alles, was in der Welt ist, habe ich selber gemacht. Nun gefällt es mir aber nicht, was ich gemacht habe. Ich habe alles erschaffen; es gefällt mir aber jetzt nicht. Nun will ich es wieder wegschaffen. - Und da sagte er, er habe angefangen damit, ein paar Menschen umzubringen - er war eben wahnsinnig; er hat erzählt, daß er angefangen habe, ein paar Menschen umzubringen, um dem nachzu­kommen, daß er sie, die er selber gemacht hat, wieder wegschaffen wollte. Ich habe ihm gesagt, er solle nur nachdenken darüber, was da für ein Unterschied ist: Er hat ein Paar Stiefel; nach der Kantschen Lehre hat er auch diese gemacht. Aber er soll nur nachdenken, was neben dem, was er nun macht als Erscheinung an den Stiefeln, noch der Schuster gemacht hat!

Ja, sehen Sie, so ist es schon: Es gibt in dem, was als das Berühmteste in der Welt oftmals auftritt, das Allerunsinnigste! Und die Leute halten mit der ungeheuersten Starrsinnigkeit an dem Allerunsinnigsten fest. Und es sind gerade kurioserweise die Aufgeklärten, die daran festhalten.

Das, was ich Ihnen da in kurzen Worten, ohnedies schon recht schwer verständlich, gesagt habe, das muß man, wenn man Kant liest, in vielen Büchern lesen; denn das hat er nun auseinandergeschält in langen, langen Theorien; und er beginnt zum Beispiel sein Buch «Kritik

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der reinen Vernunft» - so nennt er es - damit, daß er zunächst beweist:

Der Raum, der ist nicht draußen in der Welt, den mache ich selber, den spinne ich aus mir heraus. Also erstens: Der Raum ist eine Erscheinung. Zweitens: Die Zeit ist auch eine Erscheinung. Denn da wird gesagt: Es gab einmal einen Aristoteles - ja, aber den mache ich selber in die Zeit hinein, denn die ganze Zeit mache ich selber!

Nun hat er dieses große Buch, die «Kritik der reinen Vernunft» ge­schrieben; es macht schon einen recht netten Eindruck. Wenn nun einer kommt, so ein richtiger Philister, und bekommt ein dickes Buch in die Hand, «Kritik der reinen Vernunft»: da leckt er sich die Finger ab, denn das ist etwas furchtbar Gescheites, Kritik der reinen Vernunft; da wird man halt selber so eine Art Herrgott auf der Erde, wenn man so etwas liest! Dann aber steht nach der Einleitung: Erster Teil. Die transzendentale Ästhetik. - Ja nun, nicht wahr, da steht: Die trans­zendentale Ästhetik. - Wenn einer meine «Philosophie der Freiheit» aufschlägt, so steht bei dem Kapitel vielleicht nur: Der Mensch und die Welt. - Oh, der Mensch und die Welt, das ist so etwas Gewöhnliches, aber: transzendentale Ästhetik! - Wenn der Philister ein solches Buch au fschlägt, das ist etwas, was etwas ganz Gewaltiges sein muß! Was transzendentale Ästhetik ist, dabei denkt er sich gewöhnlich nichts; aber das gerade ist ihm ja recht; das ist ein Wort, bei dem er sich ein bißchen die Zunge aushebt, wenn er es spricht. - Das ist der Obertitel.

Jetzt kommt der Untertitel: Erster Abschnitt. Die transzendentale Deduktion des Raumes. - Nun kann man sich doch nichts Schöneres denken für einen Philister, als daß er solch ein Kapitel hat. Und nach­her beginnt es in einer Weise, daß er eigentlich nichts davon versteht. Aber seit mehr als hundert Jahren sagt jeder Mensch: Kant ist ein gro­ßer Mann. - Also wenn er das liest, so kriegt er selber so ein bißchen was hinein, kommt so in einen kleinen Größenwahn.

Dann kommt der zweite Abschnitt: Die transzendentale Deduktion der Zeit. - Wenn man sich da nun durchgerungen hat durch die trans­zendentale Deduktion des Raumes und der Zeit, dann kommt das zweite große Hauptstück: die Transzendentale Analytik. - Und in der transzendentalen Analytik kommt hauptsächlich der Beweis, daß der Mensch eine transzendentale Apperzeption hat.

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Nun, ich bin gefragt worden, und ich muß Ihnen schon diese Dinge sagen, die Geschichte mit der transzendentalen Apperzeption. Da muß man schon viele hundert Seiten durchlesen, damit man alles in sich hin­einbekommt, was dadrinnen an Gelehrsamkeit in dieser Weise verzapft wird in dem Kapitel über die transzendentale Apperzeption. Mit der transzendentalen Apperzeption ist gemeint, daß der Mensch seine Vor­stellungen macht und eine Einheit in diesem Vorstellen ist. Also wenn alles nur Vorstellung ist, die ganze Welt, so muß eigentlich jetzt durch diese transzendentale Apperzeption die ganze Welt aus dem Nichts des eigenen Wesens heraus gesponnen werden. Ja, so ungefähr wird das da auch dargestellt.

Jetzt kommt man also dazu: der Kant spinnt in dem Kapitel über die transzendentale Apperzeption die ganze Welt mit allen Bäumen, Wolken, Sternen und so weiter aus sich heraus. Ja, er spinnt sie heraus -das sagt er. Aber was er in Wirklichkeit herausspinnt und womit man sich immer herumschlägt in diesem ganzen weiten Kapitel, das sind nämlich jene Vorstellungen, nur etwas ins Spätere übersetzt, die ich Ihnen letzthin auf dem Sephirothbaum aufgeschrieben habe, aber nur in der Form von a A - des bloßen Alphabets -, nicht so, daß man damit lesen kann, irgend etwas weiß! Und noch dazu: Da war es doch wenig­stens etwas sehr Konkretes. Aber Kant spinnt es so heraus, daß er sagt:

Die Welt besteht also erstens aus Quantität, zweitens aus Qualität, drittens aus Relation, viertens Modalität. Nun also, jeder von diesen Begriffen hat wiederum drei Unterbegriffe; zum Beispiel die Quanti­tät: Einheit, Vielheit, Allheit. Nun, die Qualität hat: Realität, Nega­tion, Limitation und so weiter. Das waren zwölf Begriffe - drei mal vier ist zwölf -, und män kann die Welt aus ihnen herausspinnen. Der gute Kant hat gar nicht die Welt damit herausgesponnen, sondern er hat eigentlich nur zwölf Begriffe herausgesponnen mit der transzen­dentalen Apperzeption. Also er hat eigentlich nur zwölf Begriffe ge­schaffen, nicht die Welt.

Wenn nun irgend etwas daran wäre an der Geschichte, so würde doch etwas dabei herauskommen! Aber das bemerken die Philister gar nicht, daß nichts herauskommt, daß nur zwölf Begriffe herauskommen, sondern sie gehen jetzt mit vollem Magen und mit Kantischer Philosophie

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durch die Welt und sagen: Nichts kann man begreifen! - Nun, das kann man bei den Philistern verstehen; sie finden sich angeheimelt, wenn ihnen gesagt wird: Wenn sie nichts begreifen, so kommt das nicht von ihnen, sondern von der ganzen Welt. Wenn du glaubst, daß du nichts weißt, so hast du schon recht; aber das kommt nicht davon, weil du nichts kannst, sondern weil die ganze Welt nichts wissen kann. -Und so kommen diese zwölf Begriffe heraus. Das ist dann die trans­zendentale Analytik.

Jetzt kommen aber noch die ganz schweren Kapitel. Da kommt dann dasjenige Kapitel, das überschrieben ist: Von den transzenden­talen Paralogismen. - So geht es ja überhaupt fort. Man bekommt in der Kantschen «Kritik der reinen Vernunft» Titel nach Titel! Da wird gesagt: Es gibt Leute, die behaupten: Der Raum ist unendlich. Aber es gibt auch Leute, die sagen: Der Raum ist begrenzt. - Das wird auch bewiesen, wie die Leute es eben beweisen. So daß Sie in der «reinenVer­nunft» später in den Kapiteln einander gegenübergestellt finden, auf der einen Seite wird bewiesen: Der Raum ist unendlich; auf der andern Seite wird bewiesen: Der Raum ist endlich. Dann wird wiederum be­wiesen: Die Zeit ist unendlich, ist eine Ewigkeit. Dann wird bewiesen:

Die Zeit hat einen Anfang genommen und wird ein Ende finden. Und so macht das der Kant, meine Herren. Dann wird bewiesen: Der Mensch ist frei. Und wiederum auf der andern Seite: Der Mensch ist unfrei.

Was will Kant dadurch sagen, daß er für die zwei entgegengesetzten Behauptungen die Beweise gibt? Er will damit sagen: Wir können über­haupt nichts beweisen! Wir können ebensogut behaupten: Der Raum ist unendlich wie endlich; die Zeit ist ewig, die Zeit wird ein Ende fin­den! - Ebensogut können wir sagen: Der Mensch ist frei, oder: Er ist unfrei. - Also das läuft darauf hinaus, daß man in der modernen Zeit sagen muß: Denkt wie ihr wollt, auf die Wahrheit kommt ihr nicht, sondern für euch Menschen ist alles gleich.

Dann bekommt man noch Anweisung darüber, wie man so denken kann, in der transzendentalen Methodik gelehrt. Auf diese Weise kann man zunächst ein Buch von Kant durchnehmen. Also man kann fragen:

Warum hat er denn eigentlich das alles unternommen? Da kommt man

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dann darauf, was der Kant eigentlich gewollt hat. Sehen Sie, bis zu Kant haben zwar die Leute, die Philosophie getrieben haben, auch nicht gerade viel gewußt, aber sie haben wenigstens behauptet: Einiges kann man wissen von der Welt.-Dem stand dasjenige gegenüber - was schon aus dem Mittelalter gekommen ist, weil man, wie ich Ihnen gezeigt habe, im Mittelalter das alte Wissen verloren hat -, was man schon im Mittel­alter gefaßt hat als Gedanken, daß man nur etwas wissen kann von dem, was die Sinne darstellen, und nichts wissen kann, was vom Geiste ist. Das muß man glauben. Und so entstand durch das Mittelalter und hinauf bis zu Kant die Behauptung: Man kann nichts wissen über das Geistige; vom Geistigen kann man nur etwas glauben.

Die Kirchen, die kommen natürlich mit dieser Lehre, daß man vom Geistigen nichts wissen könne, das müsse man glauben, sehr gut weg, denn dann können sie daraus diktieren, was der Mensch vom Geistigen glauben soll!

Nun gab es, wie gesagt, Philosophen, - Leibniz, Wolff und so wei­ter -, die bis zu Kant hin behaupteten, daß man wenigstens einiges wissen kann, durch bloße Vernunft wissen kann, was in der Welt Gei­stiges ist. Kant sagte nun: Das ist alles Unsinn, zu glauben, daß man irgend etwas vom Geistigen wissen kann, sondern das Geistige muß man alles bloß glauben! - Und Kant hat auch, als er die zweite Auflage seiner «Kritik der reinen Vernunft» geschrieben hat, sich verraten. In dieser zweiten Auflage steht ein kurioser Satz drinnen; da steht drinnen:

«Ich mußte das Wissen absetzen, um für den Glauben Platz zu bekom­men.» Das ist das Bekenntnis eigentlich, meine Herren! Das ist das­jenige, was zum unbekannten Ding an sich geführt hat! Deshalb nannte Kant sein Buch «Kritik der reinen Vernunft»: die Vernunft selber sollte kritisiert werden, daß sie nichts wissen kann. Und in diesem Satze:

«Ich mußte das Wissen absetzen, um für den Glauben Platz zu bekom­men», in diesem liegt eigentlich die Wahrheit der Kantschen Philoso­phie. Damit aber ist jedem Glauben Tür und Tor geöffnet. Und eigent­lich könnte sich auf Kant allein die positive Religion berufen! Aber es können sich auch diejenigen Leute auf Kant berufen, die überhaupt nichts wissen wollen, die sagen: Warum wissen wir denn nichts? Weil man nichts wissen kann! - Sehen Sie, so ist eigentlich die Lehre von

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Kant eine Stütze des Glaubens geworden. Daher war es ganz natürlich, daß ich selber vom Anfange an die Kantsche Lehre ganz habe abweisen müssen; obwohl ich als Schulbube schon den ganzen Kant gelesen habe, muß ich immer die Kantsche Lehre ganz abweisen, aus dem einfachen Grunde, weil man dann einfach hätte stehenbleiben müssen bei dem­jenigen, was die Leute glauben über die geistige Welt und niemals ein wirkliches geistiges Wissen hätte herauskommen können. Kant ist also eigentlich derjenige, der am meisten alle Geisteswissenschaft ausschließt und nur haben will einen gewissen Glauben.

So hat Kant zunächst dieses ganze Buch geschrieben: «Kritik der reinen Vernunft.» In dieser «Kritik der reinen Vernunft» wird also bewiesen: Vom Ding an sich weiß man nichts.

Dann hat er ein zweites Buch geschrieben: «Kritik der praktischen Vernunft.» Er hat dann noch ein drittes Buch geschrieben: «Kritik der Urteilskraft», aber das ist nicht so wichtig. Also «Kritik der prak­tischen Vernunft» hat er als zweites Buch geschrieben. Da hat er nun seinen eigenen Glauben aufgestellt. Also er hat erstens ein Buch des Wissens geschrieben: «Kritik der reinen Vernunft»; in dem hat er be­wiesen, daß man nichts wissen kann. Jetzt kann der Philister das Buch /aus der Hand legen; es ist bewiesen, daß man nichts wissen kann. Dann hat Kant geschrieben die «Kritik der praktischen Vernunft»; da baut er nun seinen Glauben auf. Wie baut er seinen Glauben auf? Da sagt er:

Wenn sich der Mensch in der Welt anschaut, so ist er ein unvollkom­menes Wesen; aber so unvollkommen zu sein, das ist eigentlich nicht menschlich; also muß es irgendwo eine größere Vollkommenheit des Menschen geben. Wir wissen zwar nichts darüber; aber glauben wir daran, daß es irgendwo innerhalb der Erde eine größere Vollkommen­heit des Menschen gibt, glauben wir an eine Unsterblichkeit.

Ja, sehen Sie, meine Herren, das unterscheidet sich allerdings wesent­lich von den wissenschaftlichen Betrachtungen, die ich Ihnen gebe für das, was vom Menschen fortlebt, wenn er durch den Tod geht! Kant will aber gar keine solche Erkenntnis, sondern will einfach aus der Un­vollkommenheit des Menschen heraus beweisen, daß der Mensch glau­ben soll an eine Unsterblichkeit.

Dann beweist er auf ebensolche Weise, daß man nur glauben soll,

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daß man nichts wissen könne über die Freiheit, sondern glauben soll, daß der Mensch frei ist; denn wenn er nicht frei wäre, so wäre er für seine Handlungen nicht verantwortlich. Also glaubt man, damit er ver­antwortlich sein kann, er sei frei.

Mich hat eigentlich oftmals diese Kantsche Lehre von der Freiheit erinnert an eine andere Lehre, die ein Professor der Jurisprudenz immer an den Anfang seiner Vorlesungen setzte. Er sagte: Meine Herren, da gibt es Menschen, die sagen: Der Mensch ist nicht frei. Aber, meine Herren, wenn der Mensch nicht frei wäre, dann wäre er nicht verant­wortlich für seine Taten. Dann könnte es aber auch keine Strafen geben. Wenn es aber keine Strafen gibt, dann kann es auch keine Strafwissen­schaft geben. Die Strafwissenschaft trage ich aber selber vor -, dann könnte es also auch mich nicht geben. Mich gibt es aber, also gibt es auch eine Strafwissenschaft, folglich gibt es auch eine Strafe, folglich auch eine Freiheit - also habe ich Ihnen bewiesen, daß es eine Freiheit gibt! - Ganz an diese Rede des Professors erinnert mich dasjenige, was Kant über die Freiheit sagt. Und ebenso redet Kant von Gott. Er sagt:

Wissen kann man nichts von irgendeiner göttlichen Macht an sich. Aber einen Elefanten kann ich doch nicht machen; also glaube ich, daß ihn ein anderer machen kann, der mehr kann als ich. Also glaube ich an einen Gott.

Nun hat also Kant dieses zweite Buch geschrieben, die «Kritik der praktischen Vernunft». In diesem hat er gesagt, man solle als Mensch glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Wissen kann man nichts darüber, aber glauben soll man es. Denken Sie nur einmal, was für ein Unmenschliches eigentlich dadrinnen liegt: Erst wird bewiesen, daß das Wissen eigentlich nichts ist; zweitens, daß man an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit glauben soll, von dem man nichts wissen kann! So ist also Kant im Grunde genommen der größte Reaktionär. Die Leute machen schöne Worte; daher haben sie ihn genannt den Alleszermalmer. Ja, das Wissen hat er alles zermalmt, aber nur so, wie wenn einer Spiel­zeug vernichtet. Denn die Welt ist ja trotzdem da geblieben! Und den Glauben, den hat er eigentlich in ganz beträchtlicher Weise gestützt.

Das ist dann fortgegangen das ganze 19. Jahrhundert, bis in unser Jahrhundert hineingekommen, und heute schreiben natürlich überall

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die Leute zum zweihundertsten Geburtstag Kants! Und in Wahrheit ist gerade der Kant ein Beispiel dafür, wie wenig die Menschen eigentlich nachdenken. Denn das, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, das ist einfach die reine Darstellung der Kantschen Lehre! Aber dasjenige, was die Leute sagen: daß der Kant der größte Philosoph gewesen ist, daß Kant gar nicht zu widerlegen sei und so weiter - nun, nicht wahr, wenn man dieses Beispiel nimmt, dann bekommt man eigentlich so recht heraus, wie gerade der Kant es ist, auf den sich die Gegner der Geisteswissen­schaft immer stützen können. Einfach, nicht wahr, weil sie dann selber sagen können: Ja, wir gehen nicht von der Religion aus, sondern wir gehen von dem aufgeklärtesten Philosophen aus! - Aber es ist eben so, daß von Kant wirklich der dogmatischste Religionslehrer ausgehen könnte wie irgendein aufgeklärter Mensch.

Dann hat der Kant noch andere Schriften geschrieben, eine Schrift

e twa des Inhalts: Wie ist Metaphysik in aller Zukunft als Wissenschaft möglich?, worinnen er eigentlich wieder beweist, daß sie unmöglich ist und so weiter. Man muß eigentlich sagen: Die ganze Wissenschaft im 19. Jahrhundert hat eigentlich an Kant gekrankt; Kant war im Grunde genommen eine Wissenschaftskrankheit.

Nun, wenn Sie also den Kant nehmen als ein Beispiel, wie unsinnig eigentlich manchmal die geistige Entwickelung vor sich geht, dann haben Sie ihn in der richtigen Weise genommen. Aber dann werden Sie auch sich sagen: Man muß wirklich in der Erkenntnis achtgeben; denn die Welt ist furchtbar stark darauf aus, gerade in der Erkenntnis den allergrößten Unsinn zu betreiben. Und Sie können sich denken, in welch schwieriger Lage man als Vertreter der Geisteswissenschaft ist:

Man hat nicht nur die Vertreter der Religionen gegen sich, sondern man hat auch die andern Leute, die ganzen Philosophen und diejenigen, die wiederum von den Philosophen angesteckt sind, gegen sich und so wei­ter. Jeder Philister kommt und sagt: Ja, du behauptest über die geistige Welt dieses; Kant hat ja schon bewiesen - so sagen sie -, daß man dar­über nichts wissen kann! - Das ist eigentlich die beste Pauschaleinwen-dung, die man machen kann. Es kann einer sagen: Ich will überhaupt nichts von dem hören, was der Steiner sagt, denn der Kant hat ja schon bewiesen, daß man von alldem nichts wissen kann.

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Sind Sie befriedigt?

Herr Burle sagt, er wollte hauptsächlich einmal hören, was Kant gemeint hat. Es ist, wie Herr Doktor sagt: Man hört so viel von Kant, aber nichts Positives. Man hat allerdings ziemlich Mühe, es zu verstehen.

Dr. Steiner: Die Sache hat dann Konsequenzen gehabt. Im Jahre 1869 ist dann auch von einem, der von Kant angeregt war, erschienen «Die Philosophie des Unbewußten», wiederum ein Buch, das riesiges Aufsehen gemacht hat. Und Eduard von Hartmann war schon ein sehr gescheiter Mensch! Hätte Eduard von Hartmann vor Kant gelebt, hätte nicht Kant auf ihn einen solchen Einfluß gehabt, so wäre wahrschein­lich viel mehr herausgekommen bei ihm. Aber er konnte nicht über die­ses starke Vorurteil, das man von Kant hat, eigentlich hinaus. So war, geradeso wie Schopenhauer vorher, es auch dem Eduard von Hartmann klar, daß man von der ganzen Welt nichts weiß als seine eigenen Vor­stellungen, das, was man selber da hinausstellt. Aber außerdem hatte er die Schopenhauersche Lehre angenommen, daß man das Ding an sich mit dem Willen ausrüsten müsse. Nun ist der Wille überall drinnen. Ich habe einmal einen Artikel über Eduard von Hartmann geschrieben, und da erwähnte ich auch den Schopenhauer. Nun hat der Schopen­hauer gesagt: Vom Ding an sich weiß man nichts; davon hat man nur Vorstellungen. Gescheit sind nur die Vorstellungen; der Wille ist dumm. So daß eigentlich alles, was man von sich weiß, nichts anderes als der dumme Wille ist.

Ich habe dazumal in dem Artikel, in dem ich Schopenhauer erwähnt habe, gesagt: Nach Schopenhauer ist eigentlich alles, was in der Welt gescheit ist, Menschenwerk; denn der Mensch schafft ja alles in die Welt hinein; und was dahinter ist, ist der dumme Wille. Also die Dummheit der Gottheit ist die Welt. - Das haben sie aber damals kon­fisziert! In Österreich sollte es erscheinen.

Die Sache ist so: Eduard von Hartmann hat angenommen: Das Ding an sich, das muß man mit dem Willen ausrüsten; aber der Wille ist ei­gentlich dumm, und deshalb ist es in der Welt so schlecht. - Und des­halb ist Eduard von Hartmann, wie man sagt, Pessimist geworden. Deshalb hat er die Anschauung gehabt, daß die Welt nichts taugt, nicht gut ist, sondern im Grunde schlecht ist, ganz schlecht. Und nicht etwa

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bloß das, was die Menschen tun, auch alles, was in der Welt ist, ist schlecht. Er sagte: Das kann man ausrechnen, daß die Welt schlecht ist. Man solle nur auf die eine Seite stellen, auf die Sollseite, alles dasjenige, was man im Leben hat an Glück und Lust und so weiter, und auf die andere Seite alles das, was man an Leiden und so weiter hat: es kommt immer auf der andern Seite mehr heraus. Die Bilanz ist immer eine negative. Also die ganze Welt ist schlecht. - Deshalb ist Hartmann Pessimist geworden.

Aber sehen Sie, Eduard von Hartmann war erstens im Grunde ge­nommen ein gescheiter Mensch und zweitens einer, der dann auch die Konsequenzen gezogen hat. Er hat gesagt: Warum leben denn die Men­schen eigentlich noch? Warum ziehen sie denn nicht vor, sich umzu­bringen? Wenn alles schlecht ist, wäre es ja viel gescheiter, wenn eines Tages festgelegt würde der allgemeine Menschheitsselbstmord; dann wäre doch das alles, was da geschaffen wird, weg. - Aber Eduard von Hartmann sagte wiederum: Nein, das kriegt man nicht zustande, daß man einen solchen allgemeinen Weltselbstmordtag festsetzt. Und selbst wenn wir das festsetzten - die Menschen sind aus den Tieren entstan­den; die Tiere würden sich doch nicht selbst umbringen; und dann wür­den wiederum aus den Tieren Menschen entstehen! Also auf die Weise kriegen wir es nicht fertig. - Deshalb hat er sich etwas anderes ausge­dacht. Er sagte sich: Wenn man schon wirklich alles ausrotten will, was irdische Welt ist, dann kann man es nicht durch Selbstmord des Men­schen machen, sondern man muß die ganze Erde gründlich ausrotten. Dazu haben wir heute noch nicht die nötigen Maschinen; aber die Men­schen haben schon manche Maschine erfunden; deshalb muß alle Weis­heit darauf verwendet werden, eine Maschine zu erfinden, mit der man in die Erde hineinbohren kann, so daß man tief genug kommt, und die dann durch eine besondere Dynamit- oder ähnliche Einrichtung die ganze Erde sprengt, daß die Trümmer in die Welt hinaus fliegen und zu Staub werden. Dann ist das richtige Endziel erreicht.

Ja, das ist nicht ein Scherz, meine Herren! Das ist wirklich die Lehre von Eduard von Hartmann, man solle eine Maschine erfinden, daß man die ganze Erde, man kann sagen, in die Luft sprengen kann und die Erde zerstäubt und zersplittert.

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Zwischenruf: In Amerika wollen sie Kanonen bauen, daß man den Mond dann herunterschießen könne!

Dr. Steiner: Aber das, was ich Ihnen gesagt habe, ist eine wirkliche philosophische Lehre gewesen im 19. Jahrhundert!

Nun werden Sie sagen: Es hat einen so gescheiten Menschen ge­geben - wie kann das nur sein? Er muß doch dumm gewesen sein, der das behauptet hat! - Nein, wahrhaftig, der Eduard von Hartmann war nicht dumm, sondern er war gescheiter als alle andern. Das kann ich Ihnen auch gleich beweisen. Aber gerade, daß er gescheiter war als die Lehre, die durch Kant angeregt ist, daraus ist diese Dummheit entstan­den von der Maschine, mit der man die Welt ins Nichts hinausschleu­dern soll. Das hat ein ganz gescheiter, nur von Kant gründlich verdor­bener Mensch behauptet.

Nun hat er also diese «Philosophie des Unbewußten» geschrieben. In dieser «Philosophie des Unbewußten» hat er gesagt: Ja, das ist schon richtig, daß die Menschen sich aus dem Tiere entwickelt haben; aber da haben geistige Kräfte mitgespielt. Nun sind diese Kräfte Willenskräfte, also keine gescheiten, sondern dumme Kräfte. Und das hat er nun sehr gescheit dargestellt, und damit hat er eben etwas dargestellt, was dem Darwinismus widersprochen hat.

Jetzt gab es also dazumal - denken Sie sich, das war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts! - diese gescheite Hartmannsche «Phi­losophie des Unbewußten» und den Darwinismus, den der Haeckel, Oscar Schmidt und andere vertreten haben, der aber für die andern Menschen das Allergescheiteste war; dem hat aber die «Philosophie des Unbewußten» widersprochen. Jetzt traten alle diejenigen, die wieder­um starrköpfige Darwinisten waren, auf und sagten: Diesen Eduard von Hartmann, den muß man gründlich widerlegen; der weiß ja gar nichts von der Naturwissenschaft! - Was tat aber Hartmann? Was er damals getan hat, geht aus folgendem hervor. Nachdem die andern sich die Mäuler ausgeschrieen hatten - das heißt, auf Druckpapier -, da er­schien auch ein Buch: «Das Unbewußte vom Standpunkt des Darwinis­mus.» Eine gründlicheWiderlegung Eduard von Hartmanns vom Stand­punkte des Darwinismus! - Aber man wußte nicht, von wem es war.

Nun, meine Herren, jetzt waren die Naturwissenschafter alle froh,

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denn da stand dasjenige darinnen,was gründlich widerlegte den Eduard von Hartmann. Sogar der Haeckel sagte: So ein Mensch, der das gegen den Hartmann geschrieben hat, er nenne sich uns doch, und wir be­trachten ihn als einen der unsrigen, als einen Naturforscher ersten Ranges! - Und richtig, das Buch wurde nachher sehr schnell verkauft und eine zweite Auflage erschien: da nannte sich der Verfasser - es war Eduard von Hartmann selber! Er hatte es selber gegen sich geschrieben. Aber jetzt hörten sie auf, ihn zu loben; die Sache wurde nicht sehr be­kannt! Also er hat dadurch bewiesen, daß er gescheiter war als die andern alle! Aber sehen Sie, über diese Geschichten, da schweigen die Nachrichten, die man den Leuten gibt. Aber solch ein Geschichtchen in der Geistesgeschichte muß man erzählen; dann kommt man darauf:

Eduard von Hartmann war ein Mensch, der von Kant verdorben ist, aber grundgescheit ist.

Nun, wenn ich Ihnen sagte, er will die Welt mit einer großen Ma­schine, die man erfinden soll, in die Luft sprengen -, so mögen Sie ganz richtig sagen, er mag ja furchtbar gescheit gewesen sein, der Eduard von Hartmann, aber uns kommt es doch vor, die wir noch nicht den Kant studiert haben, daß das doch etwas Dummes ist. Und Sie könnten nun auch glauben, daß, wenn ich Ihnen auch den Eduard von Hart­mann gescheit darstelle, er doch dumm gewesen sei. Das könnten Sie leicht glauben. Dann müßten Sie aber das letzte auch erzählen und denken, daß die andern noch dümmer waren; und dann bin ich es mei­netwillen auch zufrieden! Aber man kann das ganz geschichtlich be­weisen, daß die andern noch dümmer waren als einer, der beweist, daß man die Erde in die Luft sprengen müßte.

Es ist schon wichtig, daß man eine solche Sache weiß; denn es be­steht heute noch immer diese eigentümliche Anbetung alles desjenigen, was gedruckt ist. Und seit in der «Universalbibliothek» der Kant er­schienen ist - ich habe ihn ja nur dadurch lesen können, denn ich hätte ihn mir sonst nicht kaufen können dazumal; aber da war er billig, trotzdem die Bücher sehr dick sind -, seit der Zeit ist überhaupt noch mehr der Teufel los mit dem Kant als früher, denn seither lesen alle den Kant. Das heißt, sie lesen die erste Seite, aber sie verstehen nichts. Dann hören sie, daß der Kant «der Kaiser des literarischen Deutschlands» ist;

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da denken sie: Donnerwetter, wir wissen jetzt etwas von Kant, also sind wir ja selber gescheite Leute! - Und die meisten von ihnen sind auch so, daß sie zugeben: Ja, ich muß sagen, daß ich den Kant verstehe, denn sonst sagen die andern, ich sei dumm, wenn ich den Kant nicht verstehe. - In Wirklichkeit verstehen die Leute nichts von ihm, aber sie geben das nicht zu; sie sagen: Den Kant muß ich verstehen, denn er ist sehr gescheit. Da behaupte ich: Ich verstehe etwas von Kant! Dann im­poniert es auch den Leuten.

Aber wirklich, meine Herren, trotzdem es schwer war, dies so ein bißchen populär darzustellen, bin ich doch froh, daß gerade das ge­bracht worden ist als Frage, weil daraus hervorgehen konnte, wie es eigentlich im sogenannten geistigen Leben der Menschen zugeht, und wie vorsichtig eigentlich der Mensch sein muß, wenn so etwas auf ihn wirkt, was selbst dazu führt, daß jetzt in allen Zeitungen großer Sums gemacht wird mit dem zweihundertjährigen Geburtstag. Ich will nicht sagen, daß Kant nicht gefeiert werden soll - es werden ja auch andere gefeiert -, aber die Wahrheit ist doch so, wie ich es Ihnen gesagt habe.

VIERZEHNTER VORTRAG Dornach, 17. Mai 1924

#G353-1968-SE231 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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VIERZEHNTER VORTRAG

Dornach, 17. Mai 1924

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Herr Erbsmehl: Was bedeuten die von Zeit zu Zeit erscheinenden Kometen? Und worin unterscheidet sich der Tierkreis von den übrigen Sternen?

Dr. Steiner: Das ist eine Frage, die uns überhaupt ein bißchen in das Verständnis der Astronomie hineinführen wird. Sie hören ja astrono­mische Vorträge, und da kann es ganz gut sein, wenn wir diese Frage gerade einmal von einem gewissen Gesichtspunkte aus besprechen.

Wenn wir den Sternenhimmel anschauen, so haben wir als größten und auch als nächststehenden Stern den Mond. Der Mond hat daher auch denjenigen Einfluß auf die Menschen der Erde, der am leichtesten wahrzunehmen ist. Und Sie haben gewiß auch schon gehört davon, wie der Mond die Phantasie der Menschen anregt. Das ist etwas, was jeder weiß. Aber ich habe Ihnen erzählt von andern Einflüssen des Mondes; er hat auch Einfluß auf die Fortpflanzung der Wesen und so weiter. Dann sehen wir andere Himmelskörper, die in ähnlicher Weise ver­treten sind wie der Mond. Der Mond bewegt sich - Sie können ihn sich bewegen sehen -, und die andern Sterne, die ihm ähnlich sind, bewegen sich auch. Diese Sterne, die sich auch bewegen, nennen wir Wandel-sterne oder Planeten.

Nun scheint es bei der Sonne auch so. In Wirklichkeit bewegt sie sich auch; aber in bezug auf unsere Erde bewegt sie sich nicht. Sie bleibt immer etwa in derselben Entfernung und beschreibt auch nicht um die Erde herum einen Kreis. Die Sonne wird daher als ein Fixstern an-gesprochen. Und so sind auch die andern Sterne, außer denjenigen, die deutlich ihren Ort verändern, Fixsterne.

Wenn man sich nun den Sternenhimmel anschaut, so hat man un­gefähr den Anblick, den einem jede Nacht - namentlich die Zeiten, wo Mondschein ist - der Sternenhimmel offenbart. Aber es gibt Verände­rungen am Sternenhimmel. Sie können besonders in gewissen Wochen im Sommer sehen, wie ein Stern nach dem andern - scheinbar - sich schnell bewegt und dann verschwindet: Sternschnuppen. Solche Stern­schnuppen sind ja auch sonst am Himmel zu sehen, aber sie sind vorzugsweise

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in gewissen Sommerwochen zu sehen, wo gerade Scharen von solchen kleinen Sternen schnell aufleuchten, rasch über den Himmel hingehen und dann verschwinden.

Außer diesen sind aber jene Sterne nun vorhanden, von denen der Herr Erbsmehl in seiner Frage eben gesprochen hat: die Kometen. Diese Kometen erscheinen nur seltener; sie unterscheiden sich auch in bezug auf ihre Gestalt von den andern Sternen. Sie zeigen eine Gestalt, die zum Beispiel etwa so ausschaut: Sie haben eine Art von Kern, und dann haben sie einen Schwanz, den sie nachziehen. Manchmal schauen sie auch so aus, daß sie zwei Schwänze nachziehen. Wenn man die andern Sterne anschaut, die sich bewegen, so haben diese eine Bewegung, die verhältnismäßig regelmäßig ist und man weiß immer, zu einem be­stimmten Zeitpunkt erscheinen diese andern Sterne, zu einem andern Zeitpunkt sind sie unter der Erde und erscheinen nicht, während man bei diesen Sternen, den Kometen, eben wahrnimmt: sie kommen und gehen wiederum fort, ohne daß man so recht weiß, wohin sie eigentlich gehen. Sie zeigen also innerhalb der andern Sterne gewissermaßen un-regelmäßige Bewegungen.

Nun, diese Kometen, die wurden immer von den Menschen anders aufgefaßt als die andern Sterne, und namentlich spielten sie bei aber­gläubischen Menschen eine große Rolle. Diese abergläubischen Leute glaubten, wenn ein solcher Komet erscheint, so bedeute er Unglück.

Darüber braucht man sich nicht besonders zu wundern, denn alles, was nicht regelmäßig abläuft, verursacht bei den Leuten Verwunderung, Erstaunen. Es braucht das gar nicht so furchtbar ernst genommen zu werden, denn die Leute finden ja auch bei ganz gewöhnlichen Gegen­ständen, die sich sonst immer anders verhalten, daß es etwas bedeutet, wenn sie sich besonders verhalten. Wenn man zum Beispiel ein Messer fallen läßt, bleibt es gewöhnlich nicht im Boden stecken, sondern fällt glatt auf. Da bedeutet es nichts, weil man das gewohnt ist. Wenn aber das Messer gerade im Boden steckenbleibt, so haben abergläubische Leute die Meinung, daß das etwas bedeute. Wenn der Mond erscheint -daran sind die Leute gewöhnt, das bedeutet ihnen nichts Besonderes. Wenn aber solch ein Stern auftritt, der noch dazu eine besondere Ge­stalt hat, dann, ja dann bedeutet das eben etwas Besonderes! Nicht

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wahr, darüber braucht man sich nicht aufzuregen, wie bei abergläubi­schen Leuten eben die Sachen bezogen werden.

Wir müssen vor allen Dingen die Sache jetzt wissenschaftlich be­trachten. Und da ist vor allem folgendes wahr. In nicht sehr alten Zei­ten, da hat man sich mehr nach dem gerichtet, was man sah am Himmel und hat beschrieben, daß die Erde im Mittelpunkt der Welt steht - ich will jetzt nur erzählen, wie man sich das vorgestellt hat -, und daß sich um die Erde herumbewegen der Mond, der Merkur, die Venus, die Sonne und so weiter, und daß sich der ganze Sternenhimmel, wie man das ja auch sieht: jeder Stern geht auf und dann wieder unter, bewegt. Also man sieht den Sternenhimmel ja sich bewegen. Wenn Sie lange genug draußen bleiben würden, würden Sie sehen, wie die sogenannten Fixsterne scheinbar über den Himmel gehen. Das hat man in alten Zei­ten so genommen, weil man es ja auch gesehen hat, und hat es so be­schrieben, wie man es eben gesehen hat.

Nun ist, wie Sie wissen, im 15., 16. Jahrhundert der Kopernikus ge­kommen und hat gesagt: Nichts da! Die Erde steht nicht im Mittel­punkt, und um die Sonne herum bewegen sich Merkur, Venus, die Erde und so weiter. - Damit wurde die Erde selber zu einem Planeten ge­macht. Ein ganz anderes Weltsystem, eine ganz andere Anschauung in bezug auf den Raum trat auf. Und so wie die Sonne, so sollten nun auch die andern Fixsterne feststehen. Ihre Bewegung ist also dann nur eine scheinbare.

Sehen Sie, meine Herren, die Sache ist so: Ich bin schon einmal auf diese Sache zu sprechen gekommen bei einer andern Frage, die Herr Burle gestellt hat über die Relativitätstheorie, ob etwas Richtiges sei an diesen Theorien, und an manchen andern noch, die man aufgestellt hat. So zum Beispiel ist auch das eine Theorie gewesen, die ein gewisser Tycho Brahe aufgestellt hat, der gesagt hat: Ja, die Sonne steht schon still, aber die Erde steht auch still und so weiter. - Also es hat auch andere Weltsysteme gegeben; aber wir betrachten diese zwei: das alte, das hauptsächlich zurückführt auf den Ptolemäus, das Ptolemäische System, und dann das Kopernikanische System, das auf Kopernikus zurückführt. Das sind also zwei Weltensysteme. Etwas ist an jedem richtig. Namentlich kann man nicht unterscheiden, wenn man ganz

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genau auf die Tatsachen eingeht, ob das eine oder das andere richtig ist. Die Sache ist diese, meine Herren: Ich habe Ihnen damals gesagt,

daß es Leute gibt, die behaupten, man könne nicht unterscheiden, wenn ich zum Beispiel mit einem Auto von der Villa Hansi her­auffahre zum Goetheanum, ob nun das Auto fährt oder das Goethe­anum entgegenkommt! Nun, das ist ja gewiß nach dem Augenschein nicht zu unterscheiden, sondern bloß dadurch, daß das Auto abgenützt wird, daß das Auto Benzin braucht, und nicht das Goetheanum. Nach dem Inneren kann man es unterscheiden. Ebenso können Sie, wenn Sie nach Basel hineingehen, unterscheiden, ob Basel zu Ihnen herauskommt oder Sie hineingehen, weil Sie sich ermüden. Also nur im Inneren kann man es entscheiden.

Daraus soll Ihnen nur ersichtlich sein, daß eigentlich jedes Welt­system so ist, daß es von der einen Seite richtig und von der andern Seite falsch sein kann. Man kann gar nicht absolut entscheiden. Das ist so! Man kann wirklich nicht entscheiden bei einem Weltsystem, welches ganz richtig und welches ganz falsch ist. Sie werden sagen: Ja, aber die Sachen werden doch berechnet! - Sehen Sie, sie werden schon berech­net, aber die Rechnungen, die man aufstellt, stimmen nie ganz! Wenn man zum Beispiel berechnet, wie schnell ein Stern sich bewegt, so weiß man: Nach einer bestimmten Zeit muß er an einem bestimmten Ort am Himmel stehen. Also man rechnet aus, wo ein Stern zu einer bestimm­ten Zeit stehen soll, richtet das Fernrohr hin; nun müßte er zu einer bestimmten Zeit im Fernrohr drinnen sein. Oftmals ist er es nicht, da muß man wieder die Formel korrigieren; und so zeigt sich, daß eigent­lich auch keine Rechnung ganz stimmt. Die Sache im Weltensystem ist so, daß keine Rechnung ganz stimmt! Woher kommt das? Stellen Sie sich vor, Sie kennen einen Menschen ganz gut. So werden Sie sich sagen, wenn der Ihnen etwas verspricht, können Sie ganz sicher darauf bauen. Nehmen Sie an, Sie kennen einen Menschen ganz gut; der hat Ihnen versprochen, am 20. Mai um fünf Uhr nachmittags wird er an dem und dem Ort sein. Sie können auch dort sein. Sie werden eben ganz sicher sein, daß er dort ist, weil Sie ihn kennen. Nun kann es sich aber doch zutragen, daß er nicht kommt! Und so ist es auch beim Weltsystem. Wenn man auf kleine Sachen sieht, dann kann man sagen: Man kann

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sicher darauf bauen, daß die Dinge so eintreten, wie man es weiß. Wenn ich also einen Ofen heize, so wird der nach Naturgesetzen im Zimmer Wärme ausbreiten. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß einmal ein Feuer nicht Wärme machte im Zimmer! Aber das hört auf, wenn die großen Verhältnisse im Weltenall anfangen. Da wird die Geschichte zwar auch so unsicher, wie es beim einzelnen Menschen ist, so daß alles das, was man da irgendwo berechnet, immer einen Knacks hat. Und woher rührt der Knacks? Der Knacks rührt nicht nur davon her, daß diese Sonnensysteme nicht allein auf sich selber angewiesen sind. Neh­men Sie an, dem betreffenden Menschen hat auf dem Weg, auf dem er zu Ihnen gegangen ist, etwas besonders gefallen. Er ist aufgehalten wor­den. Wenn diese Planetensysteme so wären, daß gar nichts in ihnen vor­kommen könnte als das, was Sonne, Mond und Sterne tun, so würde man sie auch berechnen können; man würde ganz genau wissen, wie der eine Stern zu einem bestimmten andern steht, bis auf das Tausendstel einer Sekunde, denn Rechnungen können sehr genau angestellt werden. Aber die Rechnungen haben eben, wie ich gesagt habe, einen Knacks. Das rührt lediglich davon her, daß diesen Systemen gar nicht gestattet ist, im Weltenall ganz ungeniert für sich zu sein, sondern da dringen nun hinein die Kometen, fahren so durch; und damit, daß diese Ko­meten aus dem Weltenall eindringen, damit gibt das Weltenall diesem Planetensystem so etwas Ahnliches, wie wir bekommen, wenn wir essen:

Der Komet ist eine Art Nahrungsmittel für die Planetensysteme! Und die Sache ist diese: Wenn dann solch ein Komet eindringt, so verändert sich immer ein bißchen etwas in der Bewegung; und so kommt man nie auf eine ganz regelmäßige Bewegung. Von den Kometen rührt also die Unregelmäßigkeit in der Bewegung oder in der Ruhe des ganzen Pla­netensystems her.

Nun die Kometen selber. Sehen Sie, da behaupten die Leute: So ein Komet, der kommt von so weit her, daß man ihn zunächst nicht sieht; wenn er in die Nähe des Sonnensystems kommt, dann fängt man an, ihn zu sehen (es wird gezeichnet). Also da sieht man ihn. Jetzt geht er weiter; man sieht ihn immer noch, dann etwas noch, und da verschwin­det er. Nun, was sagen da die Leute? Die Leute sagen: Nun, das ist über der Erde, das kann man jetzt sehen; aber dann geht der Komet so herüber,

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wird unsichtbar und kommt da wieder zurück nach einer Anzahl von Jahren. So sagen die Leute.

Wenn ich Ihnen das Sonnensystem zeichne, so haben wir da die Sonne; da sind die Planeten. Nun stellen sich die Leute vor: Der Komet kommt von weit her, von außerhalb des Sonnensystems, kommt hier in den Bereich der Sonne; und da sieht man ihn nicht mehr, wenn er drunten ist - da kommt er wieder zurück. Also sie stellen sich vor, die Planeten bewegen sich in einer kurzen Ellipse, der Komet aber in einer riesig langen Ellipse. Und wenn er hereinkommt und wir ihn über uns haben, daß man hinaufschauen kann, dann bleibt er sichtbar, sonst ist er unsichtbar, und kommt dann wieder zurück. Der Halleysche Komet, der nach seinem Entdecker so genannt wurde, kommt alle sechsund-siebzig Jahre.

Nun, meine Herren, da ist aber jetzt etwas darinnen, wo die Geistes­wissenschaft aus ihrer Beobachtung heraus nicht mitgehen kann: Es ist nämlich gar nicht wahr, daß der Komet so herumgeht! Sondern wirk­lich wahr ist dieses, daß der Komet hier erst entsteht, und da sondert er, wenn ich so sagen soll, den Weltenstoff zusammen und sammelt sich den Weltenstoff; da entsteht er (auf die Zeichnung weisend), geht so weiter, und hier verschwindet er wiederum, löst sich auf. Diese Linie (Ellipse) hier, die ist in Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Man hat es also zu tun mit einem Gebilde, das in einer gewissen Entfernung ent­steht und in einer gewissen Entfernung wieder vergeht. Ja, was ge­schieht denn da eigentlich?

Nun, da kommt man dazu, zu sagen: Das ist ja nicht wahr, daß die Sonne stillsteht! In bezug auf die Erde steht sie still, aber in bezug auf den Raum bewegt sie sich mit einer riesigen Schnelligkeit. Das ganze Planetensystem rast durch den Weltenraum, bewegt sich vorwärts. Die Sonne bewegt sich gegen das Sternbild des Herkules hin. Sie könnten nun fragen, woher man das wisse, daß sich die Sonne gegen das Stern­bild des Herkules hin bewegt? Wenn Sie hier eine Allee haben - Sie wissen, wenn man in eine Allee hineingeht und Sie dastehen, so scheinen die Bäume, die da vorne sind, weiter auseinander, und dann scheinen sie immer näher. Nicht wahr, wenn man in eine Allee hineinschaut, dann ist es so, daß die Bäume immer näher scheinen; wenn Sie aber jetzt in

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dieser Richtung weitergehen, dann ist es, als ob diese Bäume auseinan­dergingen. Da wird der Raum, den Sie zwischen zwei Bäumen sehen, immer größer und größer. Nun denken Sie sich, wenn hier das Stern­bild des Herkules ist, da haben doch die Sterne im Sternbilde des Herkules gewisse Entfernungen voneinander. Wenn wir mit unserem Sonnensystem hierstehen, so müßten diese Entfernungen immer gleich bleiben. Wenn aber die Sonne mit den andern Planeten sich dahin bewegt, so müssen die Sterne vom Herkules immer weiter erscheinen, sie müssen scheinbar auseinandergehen. Und das tun sie wirklich! Seit Jahrhunderten kann man beobachten, daß die Entfernungen im Stern-bilde des Herkules immer größer und größer werden. Daraus geht her­vor, daß die Sonne sich wirklich hinbewegt gegen das Sternbild des Herkules. Und geradeso wie man hier berechnen kann, wenn man mit einem Visierinstrument mißt, wie nahe wir vorbeigehen und wie schnell - wenn einer schneller geht, so wird die Entfernung rascher größer als bei dem andern -, so kann man berechnen, wie die Sonne geht. Die Messungen sind immer sehr genau ausgeführt. Also das ganze Planetensystem mit der Sonne rast dahin gegen das Sternbild des Herkules.

Aber dieses Dahinrasen ist etwas, was am Planetensystem ebenso wirkt, wie wenn Sie arbeiten. Wenn Sie arbeiten, verlieren Sie von Ihrer Substanz, müssen sie wieder ersetzen. Und so ist es auch, daß, wenn das Planetensystem durch den Weltenraum rast, es da fortwäh­rend von seiner Substanz verliert, und die muß wieder ersetzt werden. Da ziehen die Kometen herum; die sammeln die Substanz, und sie wird wiederum eingefangen, wenn der Komet durchgeht durch das Planeten-system. Auf diese Weise wird durch die Kometen die unbrauchbar ge­wordene, die ausgeschiedene Substanz des Planetensystems wiederum ersetzt. Aber zu gleicher Zeit kommen diese Kometen herein in dieses Planetensystem, und sie bewirken darinnen eine Unregelmäßigkeit, so daß man die Bewegungen in Wirklichkeit nicht berechnen kann.

Dies zeigt Ihnen zugleich: Wenn man genügend weit geht, wird die Sache lebendig im Weltenraum! Solch ein Planetensystem ist eigentlich ein lebendiges Wesen; es muß essen. Und die Kometen werden gegessen!

Nun, aus was bestehen denn diese Kometen? Diese Kometen haben

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als wichtigste Substanz in sich dasjenige, was man innerhalb des Pla­netensystems wirklich gerade aus dem Himmel heraus braucht: sie haben in sich Kohlenstoff und Stickstoff. Natürlich auch Wasserstoff und so weiter. Aber diese zwei Stoffe sind besonders wichtig: Kohlen­stoff und Stickstoff. Denn den Stickstoff brauchen wir in der Luft, der muß immer erneuert werden; den Kohlenstoff, den brauchen wir, weil ihn alle Pflanzen brauchen. Und so bezieht auch die Erde ihre Stoffe eigentlich wirklich aus dem Weltenall! Die werden immer ersetzt.

Aber die Sache geht ja nun weiter. Sie wissen ja, wenn Sie essen, da essen Sie Dinge, die auf den Tellern noch groß sind; aber Sie zerkleinern sie, Sie zerreiben sie. Zunächst zerschneiden Sie sie. Und Sie müssen das tun, denn wenn Sie, wenn das möglich wäre, eine große Gans ver­schlucken würden, so würde Ihnen das nicht gut bekommen! Sie müs­sen das zerkleinern. Ebenso können Sie keinen ganzen Kalbskopf ver­schlucken; das können nur die Schlangen, die Menschen können das nicht. Das muß zerkleinert werden. Nun, ebenso hält es mit seiner Nahrung das Planetensystem. Solch ein Komet kann manchmal - nicht jeder, aber mancher kann nach Schlangenart ganz verschluckt werden; aber es kommen auch solche Kometen, welche zerkleinert werden, wenn sie hereinkommen. Dann zerfällt der Komet, wie zum Beispiel im August der Meteorenschwarm in lauter kleine Sterne zerfällt, die als Sternschnuppen herunterkommen. Denn diese Sternschnuppen sind lauter kleinwinzige Teile von Kometen, die heruntersausen. Und so sehen Sie nicht nur die Art und Weise, wie die Weltennahrung in das Sonnensystem hereinkommt, sondern Sie sehen zu gleicher Zeit, wie diese Weltennahrung von der Erde verzehrt wird. Man kann also auf diese Weise wirklich darauf hinschauen, was die Kometen, die so un­regelmäßig erscheinen, für eine Bedeutung haben für die Erde.

Und die Sache ist diese - da muß man von allem Aberglauben ab­sehen -: auf das Ganze, was auf der Erde vorgeht, hat schon wiederum der Komet seinen außerirdischen Einfluß, den man auch sehen kann. Es ist ja merkwürdig: Sie wissen, es gibt gute und schlechte Weinjahre; aber die guten Weinjahre, die rühren eigentlich davon her, daß die Erde hungrig geworden ist. Da überläßt sie ihre Fruchtbarkeit mehr der Sonne, und die Sonne, die bewirkt die Güte des Weines. Wenn nun die

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Erde auf der einen Seite einmal ein gutes Weinjahr hat, so kann man fast sicher sein, daß bald darnach ein Komet kommt, weil die Erde wiederum hungrig war und wiederum Nahrung braucht für das andere. Dann kommen schlechte Weinjahre. Wenn wiederum ein gutes Wein-jahr kommt, kommt hinterher ein Komet. Es hängt schon das, was die Erde in ihren Substanzen ist, zusammen mit der Art, wie die Kometen erscheinen und nicht erscheinen.

Nun wurde noch gefragt, wodurch sich der Tierkreis von den andern Fixsternen unterscheide.

Nicht wahr, wenn man einfach hinausschaut in die Weiten des Wel­tenalls, dann sieht man unzählige Sterne. Diese Sterne stehen scheinbar unregelmäßig. Aber man kann immer Gruppen unterscheiden, die man Sternbilder nennt.

Nun, was man da überschaut, das ist so, daß es näher oder entfernter vom Mond absteht. Wenn man diese Sterne beschaut, so sieht man den Mond, nicht wahr, so hingehen durch den Sternenhimmel. Aber es gibt gewisse Sternbilder, die liegen so, daß der Mond immer durch diese Sternbilder durchgeht; durch die andern geht er nicht durch. Also wenn Sie sich zum Beispiel das Sternbild des Herkules anschauen: der Mond geht durch ihn nicht durch. Aber wenn Sie das Sternbild des Löwen anschauen, so geht der Mond nach einer bestimmten Zeit immer durch das Sternbild des Löwen. Und so gibt es zwölf Sternbilder, die dadurch ausgezeichnet sind, daß sie sozusagen der Weg sind, den der Mond nimmt, den auch die Sonne nimmt. Sie sind also eigentlich die Anzeiger der Wege, die scheinbar die Sonne und wirklich der Mond nimmt. So daß man sagen kann: Die zwölf Sternbilder Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Stein­bock, Wassermann, Fische, die sind der Weg des Mondes; da geht er immer durch - durch die andern Sternbilder nicht. So daß man immer sagen kann: Zu einer bestimmten Zeit, wenn der Mond am Himmel steht, steht er entweder vor einem Sternbild oder zwischen zweien, aber solchen Sternbildern, die in den Tierkreis gehören.

Nun beachten Sie nur einmal, daß alles, was am Sternenhimmel steht, eben durchaus einen Einfluß hat auf die Erde überhaupt, und besonders auf den Menschen. Der Mensch ist wirklich nicht bloß abhängig

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von dem, was auf der Erde ist, sondern der Mensch hängt zu­sammen mit demjenigen, was als Sterne am Himmel steht.

Denken Sie sich irgendeinen beliebigen Stern oder ein Sternbild, das da draußen steht: Abends geht es auf, wie man sagt, morgens unter. Es steht immer da, hat immer auf den Menschen seinen Einfluß. Aber denken Sie sich ein anderes Sternbild, sagen wir also zum Beispiel die Zwillinge oder den Löwen: da geht ja der Mond vorbei. In dem Mo­ment, wo der Mond vorbeigeht, da deckt er die Zwillinge oder den Löwen zu; da sehe ich nur den Mond, aber die Zwillinge zum Beispiel sehe ich nicht. Die können also in dem Moment auch keinen Einfluß haben auf die Erde, weil ihr Einfluß zugedeckt wird. So haben wir überall am Himmel Sterne, die nie zugedeckt werden, weder von der Sonne noch vom Mond, sondern die immer ihren Einfluß haben auf die Erde; dagegen haben wir Sterne, an denen geht der Mond vorbei, auch die Sonne geht, scheinbar, vorbei; die werden immer von Zeit zu Zeit zugedeckt, und ihr Einfluß hört auf. Und so können wir sagen: Der Löwe ist ein Sternbild im Tierkreis, er hat einen gewissen Einfluß auf den Menschen. Wenn aber der Mond davorsteht, hat er ihn nicht; da ist der Mensch frei von dem Einfluß des Löwen, da wirkt der Einfluß des Löwen nicht auf ihn.

Nun denken Sie sich einmal, Sie stehen da und sind fürchterlich faul und gehen nicht, es stößt Sie aber einer von hinten, und Sie mussen nun gehen; der treibt Sie dann vorwärts, das ist sein Einfluß. Nun aber nehmen Sie an, ich halte den Einfluß zurück; der kann Sie nicht stoßen - so wird der Einfluß nicht auf Sie ausgeübt; da müssen Sie, wenn Sie gehen sollen, selber gehen!

Sehen Sie, der Mensch braucht diese Einflüsse. Und wie ist denn nun die Geschichte, meine Herren? Halten wir das recht fest: Das Sternbild des Löwen hat einen gewissen Einfluß auf den Menschen. Diesen Ein­fluß hat das Sternbild, solange es nicht vom Mond zugedeckt ist oder von der Sonne. Aber nun geht es weiter. Nehmen wir wiederum einen Vergleich mit dem Leben. Sagen wir, man will irgend etwas wissen. Nehmen Sie an, man hat eine Gouvernante oder einen Hauslehrer, der weiß ja meistens alles; man ist als kleiner Junge selber zu bequem, nach­zudenken, man fragt den Hauslehrer; der sagt es einem - der macht

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einem ja auch die Aufgaben. Wenn der Hauslehrer aber einmal ausge­gangen ist, wenn man also gerade keinen Hauslehrer hat und man soll doch die Aufgaben machen, da muß man aus sich heraus die Kraft ge­winnen. Man muß sich erinnern.

Nun, der Löwe hat den Einfluß auf den Menschen fortwährend; nur dann nicht, wenn der Mond ihn zudeckt - da fehlt der Einfluß. Wenn aber der Mond den Einfluß vom Löwen zudeckt, da muß der Mensch ihn aus sich selber heraus entwickeln. Also ein Mensch, der, während das Sternbild vom Mond zugedeckt ist, diesen Einfluß aus sich selber heraus entwickeln kann, der ist sozusagen ein Löwenmensch. Wer besonders den Einfluß im Sternbild des Krebses entwickeln kann, wenn es zugedeckt ist, der ist ein Krebsmensch. Je nach der Anlage entwickelt der eine Mensch das eine oder das andere mehr. Aber Sie sehen daraus, daß die Tierkreis-Sternbilder besonders ausgezeichnet sind: bei denen ist es so, daß bald der Einfluß ausgeübt wird, bald nicht. Der Mond, der ja alle vier Wochen an den Sternbildern vorbeigeht, der bringt das auch hervor, daß wir innerhalb von vier Wochen immer einen Zeit­punkt haben, wo dieser Einfluß nicht ausgeübt wird bei irgendeinem Tierkreis-Sternbild; und bei den andern Tierkreis-Sternbildern ist es eben dasselbe. Und weil in alten Zeiten die Menschen sehr stark Rück-sicht genommen haben auf diesen Einfluß vom Himmel, so war ihnen der Tierkreis natürlich wichtiger als die andern Sternbilder. Denn die andern haben immer einen Einfluß; der ändert sich nicht. Aber beim Tierkreis kann man sagen: Das ändert sich, je nachdem ein Bild im Tier-kreis zugedeckt ist oder nicht. Und aus dem Grunde hat man immer den Tierkreis in seiner Wirkung auf die Erde ganz besonders unter­sucht. Und jetzt sehen Sie auch ein, warum der Tierkreis wichtiger ist für die Betrachtung des Sternenhimmels als die andern Sterne. - Aber aus alledem werden Sie entnehmen, daß schon das bloße Rechnen, wie ich vor kurzem zu Ihnen gesagt habe, nicht eigentlich die ganze Kennt­nis der Astronomie sein kann, sondern daß man auf solche Dinge, wie ich sie Ihnen da auseinandergesetzt habe, durchaus eingehen muß.

Es ist ja so, daß man heute, wenn man über solche Dinge redet, noch als Phantast, als ein halber Narr betrachtet wird, weil die Leute sagen:

Na, wenn man etwas über die Sterne wissen will, da soll man doch zu

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den Astronomen gehen auf die Sternwarte, die wissen alles! - Sie wis­sen, es gibt eine Art Sprichwort: Weil der Mensch in bezug auf seine gichtischen Zustände auch von allerlei äußeren Einflüssen abhängig ist, so sagen manche Leute, wenn einer das Zipperlein hat oder Gicht hat, er solle auf die Sternwarte gehen und soll sich dort die Sache regulieren lassen. Nun, die Leute sehen einen heute, wenn man etwas aus dem Gei­ste heraus über diese Dinge sagen will, als halbnärrisch an. Aber dabei passieren die folgenden Dinge. Aus dieser Kenntnis heraus, die sich da ergibt, war es mir gelungen, 1906 in Paris bei einer Reihe von Vor­trägen zu sagen: Wenn das alles so ist bei den Kometen, wenn die wirk­lich dazu da sind, diese Aufgaben zu erfüllen, dann muß in ihnen eine Verbindung von Kohlenstoff und Stickstoff sein. - Das hatte man bis dahin nicht gewußt. Und Kohlenstoff und Stickstoff zusammen macht nämlich Zyan aus, Blausäure. Kohlenstoff und Stickstoff müßte also, sagte ich, auch in den Kometen gefunden werden. Das war 1906 von mir gesagt in Paris. Es brauchte es keiner damals zu glauben, der nicht die Bedeutung der Geisteswissenschaft anerkennt. Dann aber, kurze Zeit darauf, war ich auf einer Vortragsreise in Schweden - da ging durch alle Zeitungen eine sehr überraschende Nachricht, daß auch mit dem Spektroskop in dem damals erschienenen Kometen das Zyan ent­deckt worden sei.

Sehen Sie, die Leute sagen immer: Nun, die Anthroposophen sollen, wenn sie etwas wissen, auch etwas sagen, was nachher bestätigt werden kann. - Ja, unzählige solche Sachen sind vorgekommen! Wirklich, 1906 habe ich diese Entdeckung, daß in den Kometen Zyan drinnen ist, vor­ausgesagt! Sie ist gleich hinterher wirklich gemacht worden. Und dar­aus können Sie sehen, daß die Dinge tatsächlich stimmen, denn man kann nachher die Sache bewahrheiten, wenn man es nur richtig an­stellt. Aber natürlich, wenn so etwas wiederum vorkommt, dann schweigen die Leute, und schweigen das tot, weil es ihnen nicht paßt. Aber wahr ist es doch. Wenn man also bei den Kometen bis in die materielle Zusammensetzung schaut, bis dahin, daß Zyan in den Ko­meten enthalten ist - man kann bis in die materielle Zusammensetzung hinein aus dem geistigen Erkennen etwas sagen -, so kann das dann wiederum bestätigt werden. Und das ist solch ein Beispiel.

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Deshalb schrecke ich nicht davor zurück, auch solche Dinge zu sagen, die den Leuten ganz närrisch erscheinen: daß die Kometen hier entstehen und da wiederum vergehen, dahier ihre Materie zusammen­gesammelt wird, und dahier wiederum verschwindet, wenn sie aus dem Planetensystem herauskommen. Das ergibt schon die geistige Beobach­tung. Das wird seinerzeit auch durchaus die physische Beobachtung bestätigen. Heute kann man es eben nur aus der geistigen Beobachtung heraus sagen.

Vieles von dem, was gerade die materialistische Wissenschaft heute sagt, ist ungeheuer phantastisch. Die Leute stellen sich zum Beispiel vor, daß die Sonne eine Art Gaskugel wäre. Sie ist gar nicht eine Gaskugel, sondern sie ist eigentlich etwas ganz anderes als eine Gaskugel. Sehen Sie, meine Herren, wenn Sie eine Selterswasserflasche haben, so sind dar­innen die kleinen Perlen. Da könnte nun einer glauben: Nun, da ist das Selterswasser; nun sind dadrinnen die kleinen Perlen - es sind Dinge, die darinnen schwimmen. Aber so ist es ja nicht in Wirklichkeit, sondern da ist das Selterswasser, und da ist es hohl (es wird gezeichnet). Da ist weniger drinnen als im übrigen Wasser. Nun ist das allerdings Kohlen­säure, Gas, und rundherum ist Wasser; aber das Gas ist eben dünner als das Wasser. In bezug auf das Wasser ist das, was dadrinnen ist, Hohl­raum, und dem Wasser gegenüber braucht man bloß die Feinheit des Gases. Die Sonne ist nun auch ein Hohlraum im Weltenall, aber dünner ist das als jedes Gas; das ist ganz dünn da, wo die Sonne steht! Ja, noch mehr: Wenn Sie durch die Welt gehen, sind Sie im Raum. Dort aber, wo die Sonne steht, ist auch der Raum hohl. Was heißt das: Der Raum ist hohl? Was das heißt: Der Raum ist hohl - das können Sie aus folgen­dem entnehmen: Wenn Sie in einer Luftpumpe auspumpen, bis es da-drinnen luftleer ist, wenn Sie nun dahier eine ~ffnung machen, da saugt dieser luftleere Raum sofort die äußere Luft ein. Bei der Sonne ist es so, daß das, was da ist, durchaus von allem ein Hohlraum ist; nicht bloß von der Luft, sondern auch von der Wärme - von allem ein Hohlraum ist. Nun ist dieser Hohlraum so, daß er nach allen Seiten geistig abge­schlossen ist, und daß nur durch die Sonnenflecken ab und zu etwas hinzuschießen kann. Die Astronomen, die würden sich riesig wundern, wenn sie wirklich mit einem Weltenauto oder so etwas ähnlichem oder

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mit einem Weltenluftschiff - ein Luftschiff könnte es ja nicht sein, weil die Luft da oben aufhört, aber mit einem Weltenraumschiff da hinauf­fahren könnten. Da würden die Astronomen erwarten: Nun, da kom­men wir oben an und kommen da in einen solchen Gasnebel hinein, denn die Sonne ist glühendes Gas. - Und sie erwarten nur, daß dieses glühende Gas sie verbrennen würde, sie da im Feuer aufgehen würden, weil sie ja viele Tausende Temperaturgrade kriegten. Aber Gelegenheit, im Feuer aufzugehen, hat man nämlich nicht, denn die Sonne ist auch von der Wärme hohl; Wärme ist auch nicht da! Das könnte man alles ertragen. Man könnte auch die Wärme ertragen, wenn man da mit einem Riesenweltschiff hinaufkäme. Aber etwas anderes ist nicht zu ertragen: Da ist etwas Ähnliches der Fall, wie wenn Luft pfeilschnell hereingelassen würde - nicht hinausgelassen, hereingelassen - und man würde flugs in die Sonne hineingezogen werden und gleich würde man Staub sein, ganz zerstoben sein, weil die Sonne ein Hohlraum ist, der alles aufsaugt; man würde ganz aufgesogen werden. Es wäre die sicher­ste Art zu verschwinden.

Die Sonne wird also von der materialistischen Wissenschaft ganz falsch betrachtet. Sie ist in bezug auf alles ein Hohlraum; und dadurch ist sie eigentlich unter denjenigen Sternen, die uns am nächsten stehen, die leichteste Person da draußen im Weltenraum, die allerleichteste. Der Mond ist verhältnismäßig schwer, weil der einmal aus der Erde hinausgegangen ist und gerade das, was die Erde nicht brauchen konnte an Schweresubstanzen, sich mitgenommen hat. So daß Sonne und Mond auch da volle Gegensätze sind: Die Sonne ist einer der leichtesten Kör­per im Weltenraum, der Mond der materiellste Körper. Er ist natürlich leichter als die Erde, weil er viel kleiner ist, wenn man ihn wiegen würde, aber im Verhältnis, was man spezifisches Gewicht nennt, ist er schwerer. Daraus folgt, daß in bezug auf die Sonne, weil sie der leichteste Körper ist im Weltenraum, das geistigste Wesen ausgeht. Und deshalb konnte ich Ihnen sagen in bezug auf das, was Herr Dollinger wegen der Chri­stus-Frage gefragt hat: daß von der Sonne das geistigste Wesen ausgeht, wenn wir geboren werden, weil die Sonne das geistigste Wesen ist; der Mond ist das materiellste Wesen. Und wenn der Mond das materiellste Wesen ist, so hat er auf den Menschen einen Einfluß, der über das Alltägliche

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hinausgeht im Materiellen. Alle andern Sterne außer dem Mond haben natürlich auch ihren Einfluß. Und wenn wir verdauen, wenn wir unser Blut zirkulieren sehen, so haben auf das alles die Sterne einen Ein­fluß. Sie haben auf die materiellen Vorgänge einen Einfluß. Aber wenn Sie sich vorstellen, daß Sie ein Stück Brot essen, so wird das Brot allmäh­lich in Blut umgewandelt; da wird irgend etwas umgewandelt in etwas anderes: ein Teil des Menschen entsteht, Blut entsteht, wenn Sie Brot im Stoffwechselprozeß umwandeln. Wenn Sie das Brot salzen, dann geht das Salz in die Knochen hinein, wird umgewandelt. Immer ein Teil entsteht, weil diese Materien eben nur zu Teilen des Menschen einen Bezug haben. Alles, was auf der Erde ist, kann nur einen Teil des Men­schen entstehen lassen; so muß im Menschen dann verbleiben, was da entsteht. Der Mond aber hat einen starken materiellen Einfluß; daher hat er einen Einfluß auf die Fortpflanzung: nicht nur ein Teil, sondern der ganze Mensch entsteht! Die Sonne hat auf das Geistigste einen Ein­fluß, der Mond, weil er selber das Materielle ist, auf das Materielle. So daß der Mensch sich selber erzeugt oder ein Ebenbild von sich selber erzeugt unter dem Einfluß des Mondes. Das ist der Gegensatz: Die Sonnenwirkungen erzeugen sozusagen immer unsere Gedanken, unsere Willenskräfte neu. Der Mond hat den Einfluß, daß er die materiellen Kräfte neu erzeugt, hervorbringt. Und zwischen dem Mond und der Sonne stehen dann die andern Sterne, die eben das teilweise bewirken, daß die andern Dinge geschehen im Menschen.

Alles das kann man einsehen. Aber man muß immer, wenn man das Astronomische betrachtet, zu gleicher Zeit auf den Menschen Rück­sicht nehmen. Sehen Sie, der Astronom sagt: Was ich da mit dem bloßen Auge sehe, das imponiert mir nicht; ich muß mit dem Fernrohr hin­schauen. Dann verlasse ich mich auf das Fernrohr; das ist mein Instru­ment. - Die Geisteswissenschaft sagt: Ach, was betrachtet ihr mit Fern­rohren! Da seht ihr natürlich viel; wir wollen das nicht bestreiten, wollen das auch anerkennen; aber das beste Instrument, das man ver­wenden kann, um das Weltenall zu erkennen, das ist der Mensch selber. Am Menschen erkennt man alles. Der Mensch selber ist das beste In­strument, weil sich im Menschen alles zeigt. Was da oben im Löwen vorgeht, das zeigt sich in der Blutzirkulation des Menschen. Wenn der

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Mond vor dem Löwen steht, erkennt man das aus der Blutzirkulation des Menschen. Was da oben im Widder vorgeht, das zeigt sich am Haar­wuchs des Menschen. Und wenn der Mond vor dem Widder steht, wachsen die Haare langsamer und so weiter. Also überall kann man am Menschen sehen, was im Weltenall vorgeht. Wenn der Mensch zum Beispiel, sagen wir, Gelbsucht bekommt, muß man natürlich zunächst in der Heilkunde auf die Ursache im Körper sehen, selbstverständlich; aber letzten Endes, warum bekommt denn ein Mensch Gelbsucht? Weil er dann besonders veranlagt ist, wenn der Mond das Sternbild des Steinbocks zudeckt, aus sich heraus die Kräfte des Steinbocks zu ent­wickeln.

Und so kann man überall sehen: Der Mensch ist das Instrument, woran man alles erkennt. Wenn der Mensch stumpf wird zum Beispiel gegen den Einfluß des Wassermanns, wenn also der Wassermann durch den Mond zugedeckt ist und der Mensch nicht die Kräfte des Wasser-manns aus sich heraus entwickeln kann, dann kriegt er Hühneraugen. So kann man überall am Menschen als einem Instrument sehen, wie es im Weltenall zugeht, wenn man es nur wissenschaftlich macht, nicht abergläubisch. Und so, auf diese Weise, ist es ein richtiges Wissenschaft­liches, was die Geisteswissenschaft betreibt. Natürlich, wie viele Men­schen denken, so ist es unbestimmt, so kann man nichts sehen aus dem, was sie denken. Da gilt das Sprichwort: Kräht der Hahn auf dem Mist, so ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist. - Es ist schon so, wie viele Leute denken über die Welt: Kräht der Hahn auf dem Mist, än­dert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.

Aber wenn man auf die Sache wirklich eingeht, dann ist es nicht so; dann erkennt man am Menschen als dem allervollkommensten Instru­ment, vollkommener als durch alle andern, was im Weltenall vor­kommt. Es ist also nicht so, daß man die Sache bloß erfindet, sondern man studiert, was im Menschen vorgeht. Natürlich muß man zuerst wissen, wie es steht mit den Hühneraugen, wie sie sich aus der Haut heraus bilden und so weiter, daß man darauf kommen kann, wie das wirkt, wenn das Sternbild, der Wassermann, zugedeckt ist. Aber wenn man die Sache am Menschen studiert, so kann man am Menschen das ganze Weltenall studieren.

FÜNFZEHNTER VORTRAG Dornach, 20. Mai 1924

#G353-1968-SE247 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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FÜNFZEHNTER VORTRAG

Dornach, 20. Mai 1924

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Guten Morgen, meine Herren! Vielleicht hat sich auch für die heutige Stunde jemand etwas ausgedacht?

Frage: Wie sind die Wunder zu verstehen, von denen in der Bibel im Zusammen-hange mit Moses erzählt wird - das Stillstehen des Meeres?

Dr. Steiner: Sehen Sie, das beruht ja weniger darauf, daß da ein plötzliches Wunder geschehen wäre, sondern darauf, daß Moses sehr kenntnisreich war. Er war nicht bloß dasjenige, als was er in der Bibel dargestellt wird, sondern er war tatsächlich ein Schüler der ägyptischen hohen Schulen, der Mysterien. Und in diesen Schulen lehrte man auch nicht nur über die geistige Welt, sondern von einem gewissen Gesichts­punkte aus über die natürliche Welt. Nun gibt es ja im Meere eine ge­wöhnliche Zeit der Ebbe und Flut, eines solchen Steigens und wiederum Zurückgehens, und die Sache war eben diese, daß Moses den Übergang über das Rote Meer so anzustellen wußte, daß er mit seinen Leuten hin-überging zu einer Zeit, als das Meer zurückgegangen war und eine Sandbank, die dadurch sichtbar geworden ist, das heißt, bloßgelegt worden ist, benützt werden konnte, um hinüberzugehen. Also das Wun­der besteht nicht darinnen, daß etwa Moses das Rote Meer zurück­gedämmt und bekämpft hat, sondern darinnen, daß er tatsächlich mehr wußte als die andern, daß er die Zeit in der richtigen Weise wählen konnte. Das haben die andern nicht gewußt. Moses hatte sich die Sache ausgerechnet, so daß er gerade zur rechten Zeit ankam - er wußte, daß das so lange dauerte, beziehungsweise daß es schnell gehen mußte, da­mit man nicht wiederum vom Meer überrascht werde. Das alles kam natürlich den andern als ein Wunder vor. Man muß überall bei diesen Dingen darauf sehen, daß eigentlich Kenntnisse den Sachen zugrunde liegen, nicht irgendwelche andern Dinge, sondern Kenntnisse.

So ist es bei den meisten Dingen, die aus alten Zeiten berichtet wer­den. Das Volk wunderte sich darüber, weil es die Sache nicht verstand, nicht wußte. Aber dann, wenn man weiß, daß es auch in alten Zeiten

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sehr gescheite Leute gegeben hat, dann kann man sich ja die Dinge er­klären. Sonst ist an diesen Sachen nicht viel zu erklären.

Vielleicht hat noch jemand eine Frage?

Frage: Kann die geistige Kultur, welche von Tibet in das übrige Asien hinein­fließt, diesen Menschen noch genügen, oder fällt sie ganz in die Dekadenz?

Dr. Steiner: Nun, sehen Sie, die Kultur von Tibet, die ist eine sehr alte Kultur, und zwar eine Kultur, die eigentlich noch aus der alten atlantischen Zeit kommt. Sie müssen sich nur vorstellen, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, da Europa zum größten Teil unter Wasser war, und das Wasser nahm erst ab gegen Asien hin. Dagegen war Land an der Stelle, wo heute der Atlantische Ozean ist. Wo wir heute zwischen Europa und Amerika nach Amerika hinüberfahren, da war Land. Das ist also eben eine alte Zeit gewesen, in der Landflächen und Wasser­flächen in einem ganz andern Verhältnis waren als heute.

Nun aber; in einer Zeit, die unserer Zeit um fünf, sechs, sieben Jahr-tausende vorangeht, war in Asien drüben auch dieselbe Kultur wie auf diesem atlantischen Kontinent, der also an der Stelle war, die heute zwischen Europa und Amerika mit Meer bedeckt ist. Da drüben in Asien gab es dazumal eine Kultur, die erhalten geblieben ist in den Klüften, in den unterirdischen Höhlen von Tibet. Diese atlantische Kultur ist ja, als zwischen Europa und Amerika das Meer gekommen ist und Europa sich heraufhob, natürlich da ganz versunken; aber in Tibet drüben hat sie sich erhalten. Aber nun ist ja diese Kultur eigent­lich nur passend gewesen für jene alten Zeiten, wo die Menschen unter ganz andern Bedingungen lebten als heute. Sie müssen sich nur vorstel­len, daß dazumal die Luft nicht so war wie heute, daß der Mensch nicht so schwer war wie heute, sondern daß der Mensch ein viel geringeres Gewicht hatte, daß die Luft viel dichter war. Eigentlich war dazumal die Luft immer mit einem dicken Nebel durchsetzt, der es möglich machte, daß man überhaupt in einer ganz andern Weise lebte.

Nun, Schreiben und Lesen oder so etwas gab es dazumal nicht, son­dern man hatte Zeichen. Diese Zeichen setzte man nicht aufs Papier. Das Papier gab es ja nicht. Man setzte sie aber auch nicht aufs Perga­ment, sondern man kratzte sie ein in Felsen. Diese Felsen, die waren

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ausgehöhlt worden von den Leuten, und in das Innere dieser Höhlen kratzten sie dann, wie man es nannte, ihre Geheimnisse ein; so daß man eigentlich diese Zeichen, die sie machten, verstehen muß, wenn man dasjenige wissen will, was diese Leute sich vorgestellt haben.

Nun können Sie fragen: Wie kommt es denn, daß diese Leute das so verborgen gehalten haben? Ja, wissen Sie, die älteste Baukunst bestand überhaupt nicht darinnen, daß man äußerlich baute, sondern zunächst grub man in die Felsen hinein, und man machte im Fels Wohnungen. Das ist also die älteste Form der Baukunst. Man braucht sich ja nicht zu verwundern, daß die älteste Form der Baukunst da auch in Tibet so ist. Aber solch eine Kultur kommt eben nach und nach durchaus in die Dekadenz, in den Untergang hinein. Und dasjenige, was dann in Tibet später entstanden ist, das ist durchaus so, daß man es in der gegenwär­tigen Zeit nicht mehr eigentlich gebrauchen kann, denn die tibetanische Kultur ist älter als die indische Kultur. Die indische Kultur ist erst, nachdem die Erde die Gestalt angenommen hat, die sie heute hat, ent­standen. Die tibetanische Kultur ist also ganz alt. Und diese tibetani­sche Kultur, die hat aufbewahrt in einer schlechten Form, was vorher in einer verhältnismäßig guten Form vorhanden gewesen war. So ist namentlich das Herrscherprinzip in Tibet in einer recht wenig erfreu­lichen Form ausgebildet worden. In Tibet ist es so, daß derjenige, der Herrscher sein soll, eigentlich eine göttliche Verehrung genießt; und diese göttliche Verehrung, die bereitet man im Grunde schon vor. Man wählt dort eigentlich, ich möchte sagen, auf eine übersinnliche Weise. Der Dalai Lama, der also als Herrscher ausersehen ist, der kommt in der Weise zustande, daß lange vorher, wenn noch der alte Dalai Lama da ist und man merkt: Nun, dieser alte Dalai Lama kann bald sterben-, eine Familie irgendwo bestimmt wird, und man sagt: Aus dieser Familie muß der neue Dalai Lama hervorgehen. - So war es in Tibet in früheren Zeiten. Nicht etwa war eine erbliche Herrschaft. Das war nicht der Fall, sondern eine Priesterschaft, die in Wirklichkeit eigentlich herrscht, bestimmt eine neue Familie, aus der ein Dalai Lama hervorgehen sollte.

Nun, nicht wahr, wenn in dieser Familie ein Kind geboren wurde, so bewahrte man es auf, bis der alte Dalai Lama starb. Sie können sich denken, daß da manchmal der größte Unfug getrieben worden ist. Man

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hat einfach, wenn einem der alte Dalai Lama nicht mehr gepaßt hat, ein Kind gesucht und gesagt: In diese Seele muß nun die Seele des alten Dalai Lama hineinfahren. Dazu mußte er aber erst sterben. Das haben die Priesterschaften schon besorgt zur rechten Zeit, und es ist dann für den Glauben des Volkes die Seele des alten Dalai Lama in das Kind ein-gezogen gewesen. Auf diese Weise haben die Leute es dazu getrieben, daß tatsächlich das ganze Volk geglaubt hat: Dieselbe Seele, die in irgendeinem Dalai Lama drinnen ist, war schon in dem Dalai Lama vor vielen tausend Jahren. Es ist immer dieselbe Seele, dachten sie. Es ist eigentlich für die Leute immer derselbe Dalai Lama gewesen; er hat nur den äußeren Körper gewechselt.

So war es nicht in der alten Kultur, die früher da war; sondern das ist schon ein ganz außerordentlicher Unfug, der da entstanden ist. Sie können aber daraus ersehen, daß es der Priesterschaft nach und nach darauf angekommen ist, die Dinge so zu betreiben, daß ihre Herrschaft gesichert war.

Das hindert aber nicht, daß trotzdem, wenn es gelingt, diese Zeichen, die da eingegraben sind in die Felsen, zu denen aber die Europäer nur in den allerseltensten Fällen Zutritt bekommen haben, zu enträtseln, man auf große naturwissenschaftliche Geheimnisse kommt, die die Menschen in der alten Zeit einmal gehabt haben. Das ist also schon wiederum richtig, daß man auf große naturwissenschaftliche Geheim­nisse kommt, die die Menschen in der alten Zeit gehabt haben, und es würde sich nur darum handeln, daß diese Kenntnisse in einer neuen Form gefunden würden.

Nun ist es ja so: Nicht wahr, dieselben Kenntnisse, die da einmal da waren, die wie im Traumnebel an die Leute herangekommen sind, diese selbe Kenntnis soll durch Anthroposophie wiederum unter die Leute kommen. Aber das kann nicht im Orient geschehen. Sehen Sie, im Orient wird niemals auf dieselbe Weise wie hier in Europa ein neues Wissen, eine neue Erkenntnis zustande kommen, weil der orientalische Körper nicht dazu geeignet ist. Die Versuche, die man machen muß, um zu solchen Dingen zu kommen, wie ich es Ihnen jetzt eben erzähle, die sind eben nur im Westlichen und nicht im Östlichen gangbar. Aber der Orientale ist in einem ganz andern Maße noch konservativ, als der

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Europäer konservativ sein kann; er will nichts Neues haben, und des­halb macht auf ihn natürlich dasjenige, was wir in Europa hier machen, keinen besonderen Eindruck. Wenn man ihm dagegen sagen kann: Aus den alten Krypten, so nennt man diese Felsenhöhlen, da kommen be­deutsame Weisheiten zutage, und das ist alt -, dann macht das auf ihn einen ganz gewaltigen Eindruck. Ein bißchen etwas davon haben ja auch die Europäer: Sie brauchen sich nur die Freimaurerlogen der höheren Grade anzusehen, wenn man in die hineinkommt! Für Anthro­posophie, nun, da interessieren sie sich ein bißchen, weil sie sich ja auch um übersinnliche Dinge bekümmern; aber gar stark gehen sie nicht auf die Sache ein. Wenn man ihnen dagegen sagt: Das hat man gefunden, das war eine alte ägyptische Weisheit oder eine alte hebräische Weis­heit -, da sind sie froh! Da gehen sie gleich darauf ein, weil die Men­schen schon einmal so sind, daß das, was neu gefunden wird, keinen rechten Eindruck macht; dagegen dasjenige, was uralt ist, auch wenn es nicht verstanden wird, ist das, was auf die Leute einen ganz gewaltigen Eindruck macht. Daher kann man schon annehmen, daß es sich durch­aus, weil es sich um uralte Weisheiten handelt, die in Tibet gefunden werden können, schon darum handeln kann, damit einen gewissen Auf­schwung wiederum zu erzielen. Denn viele Sachen sind ja auch den Asiaten verlorengegangen, weil eben die bedeutendste asiatische Kultur, die indische Kultur, erst nachher begründet worden ist. Also vieles von dem, was die Asiaten nicht wissen, könnte schon in Tibet gefunden werden.

Nun haben ja die Leute dort nicht recht die Möglichkeit, die Sache ordentlich zu verbreiten, denn die alte tibetanische Priesterherrschaft hat nichts getan zur Verbreitung; die wollten die alte Herrschaft selber behalten. Wissen ist eben Macht, wenn es geheimgehalten wird. Und als die Europäer nach Tibet kamen, da verstanden sie, wie gesagt, die Sachen nicht. Also es ist nicht viel Aussicht vorhanden, daß die wirk­lichen tibetanischen Wahrheiten verbreitet werden können; sie leben fort in alten Traditionen. Denn die Sache ist doch so, daß vieles eben auf die Nachwelt gekommen ist, und daß man schon eine Vorstellung davon haben kann, was da eigentlich verborgen ist. Aber eine eigent­liche Verbreitung kann man sich schwer denken. Dekadent, wie sie in

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der Frage genannt werden, sind schon die Sachen; aber wenn man zu­rückgeht auf das, was in den Krypten steht, und nicht auf das, was die Priesterschaft sagt, dann wird man schon etwas Außerordentliches herausbekommen können. Nur wird es ganz außerordentlich schwer gelingen, es zu entziffern. Ohne Anthroposophie ist das schwer zu fin­den. Anthroposophie kann es entziffern, braucht es aber nicht, weil sie die Sache selber findet.

Frage: Wie könnte Europa etwas tun, um eine solche abwärtsgehende Zeitströ­mung in Asien wiederum aufwärtszuhringen?

Dr. Steiner: Das ist nun eine sehr schöne Frage! Denn sehen Sie, wenn Europa nicht etwas tut, dann muß eben die Welt abwärtsgehen! Denn in Asien drüben ist es so - das geht ja aus den Worten hervor, die ich vorhin gesagt habe -, daß die Leute am alten festhalten, aber eben keinen Fortschritt kennen. Sie sehen das an China. China ist auf der­selben Stufe, auf der es vor Jahrtausenden gestanden hat. Vieles haben die Chinesen vor Jahrtausenden gehabt, was in Europa viel später erst entdeckt worden ist: Papier, Buchdruckerkunst und so weiter haben sie dort schon gehabt. Aber sie nehmen nicht Fortschritte an, sondern sie behalten es in der alten Form.

Die Europäer wiederum, wenn sie über Asien kommen, was tun sie dann? Nicht wahr, die Engländer haben den Chinesen das Opium ge­bracht und solche Dinge, in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts! Aber die Europäer haben eigentlich bis jetzt nichts Rechtes getan, um in Asien irgendwie rechtes Geistesleben zu verbreiten. Es ist auch schwer, weil die Leute das einfach nicht annehmen.

Sehen Sie, da ist es interessant: Sie wissen, es gibt ja auch europä­ische Missionare; die gehen hinüber mit der europäischen Religion, europäischen Theologie und wollen in Asien drüben europäische Kultur verbreiten. Ja, das macht auf die Asiaten gar keinen Eindruck! Denn da schildern ihnen dann diese Missionare einen Christus Jesus, wie sie ihn sich vorstellen. Da sagt der Asiate: Ja, wenn ich auf meinen Buddha hinschaue, so hat der viel vorzüglichere Eigenschaften! - Also das im­poniert ihnen gar nicht. Es würde ihnen erst imponieren, wenn man den Jesus Christus so darstellte, wie er hier in diesen Vorträgen vor einiger Zeit - auch auf Fragen von Ihnen hin - vorgestellt worden ist. Dann

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würde das natürlich einen Eindruck machen. Aber es würde dem noch immer gegenüberstehen, daß der Asiate eben konservativ ist, reaktio­när, und daß er zunächst mißtrauisch ist.

Es ist auch sehr merkwürdig, nmeine Herren: Sehen Sie, es gibt ein­zelne Schüler von den alten Weisheiten. Diese Schüler in Asien drüben, die haben von tibetanischen Gelehrten, Weisen, tibetanischen Einge­weihten etwas gelernt. Die Eingeweihten selber befassen sich mit den Europäern nicht; aber Schüler haben sich immerhin mit ihnen befaßt. Ja, da ist man manchmal ganz außerordentlich erstaunt. Ich habe Ihnen ja manches schon gesagt, was Sie verwundert haben wird, wie der Ein­fluß des Weltenalls auf den Menschen ist. Wenn man das wirklich er­forschen will, da gehört sehr viel Zeit dazu. Ich kann wirklich sagen:

Manches von dem, was ich Ihnen heute sagen kann, hat vierzig Jahre gedauert, bis ich es sagen konnte! Denn man kann das nicht von heute auf morgen finden, sondern das muß man durch Jahre hindurch finden. Nun findet man solche Dinge. Man findet zum Beispiel das, was ich Ihnen erzählt habe über den Mond, daß er eine Bevölkerung hat, die mit der Erdenbevölkerung das zu tun hat, daß die Fortpflanzung da­durch geregelt wird. Ja, wirklich, das findet man nicht äuf dem Wege, den die gegenwärtige Wissenschaft geht; das findet man auch nicht von heute zu morgen, sondern das findet man eben im Lauf vieler Jahre. Es ist so! Dann hat man es. Ja, aber dann, wenn man es hat, dann geht einem plötzlich ein merkwürdiges Licht auf über dasjenige, nwas die Schüler der orientalischen Eingeweihten sagen. Vorher versteht n man das gar nicht. Die Leute reden, sagen wir, von Geistern des Mondes und ihrem Einfluß auf die Erde. Die europäischen Gelehrten sagen: Das ist ja alles Unsinn, was die sagen! - Wenn man aber selber daraufkommt, sagt man nicht mehr, das ist ein Unsinn, sondern man ist nur erstaunt darüber, was diese alten Köpfe vor vielen tausend Jahren eben schon gewußt haben, und was der Menschheit wiederum verlorengegangen ist! Das ist sogar ein großer Eindruck, den man bekommen kann: Man erforscht selber die Dinge mit ungeheurer Mühe, und dann kommt man darauf, daß das schon einmal gewußt worden ist, und nur in einer heute unverständlichen Weise - manchmal selbst von denen, die es sagen, gar nicht verstanden - aus alten Zeiten herübergekommen ist. Also einen

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gewissen Respekt kann man schon bekommen, einen großen Respekt, eine große Achtung vor demjenigen, was da einmal da war.

Nun wäre es notwendig, wenn die Europäer drüben etwas tun woll­ten, daß sie sich zunächst natürlich mit der Anthroposophie beschäftig­ten! Denn auf eine andere Weise werden sie da gar nichts zu tun be­kommen. Die heutige europäische Wissenschaft und Technik, die im­poniert den Asiaten nicht, denn die heutige europäische Wissenschaft betrachten sie als kindisch, als etwas, was sich nur im Außerlichen hält, und die äußerliche europäische Technik - dafür haben sie keinen Be­darf. Sie sagen: Warum sollen wir uns an Maschinen stellen? Das ist unmenschlich! - Das imponiert ihnen gar nicht, und sie sehen es als Eingriff in ihre Rechte an, wenn man Eisenbahnen und Fabriken drüben baut; das tun die Europäer. Das hassen die aber dort eigentlich. So kann man wiederum nicht vorgehen. Man muß auch etwas lernen von den alten Zeiten. Und in alten Zeiten hatte man tatsächlich einen gewissen Geist dafür, wie man vorgehen soll.

Sehen Sie, warum sollte es der heutigen europäischen Kultur nicht gelingen, in Asien drüben etwas zu tun? Es ist ja einem Menschen ge­lungen, in Asien drüben mit der griechischen Kultur etwas zu tun! Das war im 4.Jahrhundert vor der Begründung des Christentums: Dem Alexander dem Großen ist es gelungen. Alexander der Große hat vieles von der griechischen Kultur doch nach Asien hinübergebracht. Das ist jetzt dort drinnen. Das ist sogar auf dem Umweg von Spanien durch die Araber und Juden wiederum nach Europa gekommen, was da Alexander nach Asien hinübergebracht hat! Aber wodurch ist es denn Alexander dem Großen gelungen, diese Sachen überhaupt nach Asien hinüberzubringen? Nur dadurch, daß er nicht so vorgegangen ist wie die heutigen Europäer. Die Europäer betrachten sich als die gescheiten Leute, als die absolut gescheiten Leute. Wenn sie nun irgendwo anders hinkommen, so sagen sie: Die sind ja alle dumm; also müssen wir ihnen unsere Weisheit bringen. - Ja, damit können die andern gar nichts an­fangen. Das hat Alexander nicht getan; sondern der ging zunächst ganz auf das ein, was die Leute hatten. Der hat nur ganz langsam, in kleiner Weise in das, was die andern hatten, etwas hineinfließen lassen, hat geschätzt und geachtet, was die andern hatten.

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Und das ist überhaupt das Geheimnis, sehen Sie, irgendwo etwas hineinzubringen! Trotzdem gegen die Engländer so viel zu sagen ist, trotzdem es zum Beispiel ein trauriges Kapitel ist in der englischen Ge­schichte, daß die Engländer das Opium zum Beispiel aus lauter Egois­mus nach China gebracht haben, um Geschäfte damit zu machen, und trotzdem vieles andere zu sagen ist gegen die Engländer, muß man doch das sagen: Nicht gerade auf geistigem Gebiet, aber auch da sogar - aber namentlich auf wirtschaftlichem Gebiete wissen die Engländer immer zu achten, was bei den Völkern, zu denen sie kommen, üblich ist. Sie wissen das einfach zu achten! Und am wenigsten wissen das zu achten zum Beispiel die Deutschen. Die Deutschen sind deshalb unglücklich in allem Kolonisieren, weil sie sich gar keine Gedanken darüber machen, wie es ausschaut bei denjenigen Menschen, bei denen sie ihre Kolonien haben wollen. Über Hals und Kopf sollen die das annehmen, was die Deutschen selber in der Mitte von Europa haben! Das geht natürlich nicht. Deshalb ist es ja auch so, daß die Entwickelung diesen Weg ge­macht hat: England ist glücklich in der Behauptung seiner Kolonien, wenn auch die Kolonisten rebellieren und alles mögliche - wirtschaft­lich behält doch England immer die Oberhand. Also die Engländer ver­stehen immerhin auf die Natur und das Wesen fremder Völker einzu­gehen. Die Engländer führen ja auch ganz anders Kriege, als zum Bei­spiel die Deutschen sie führen. Wie stellt sich der Deutsche vor, daß irgendwo ein Volk bekriegt werden soll? Ich will jetzt gar nicht gegen den Krieg reden, sondern nur erzählen, wie sich die Deutschen das vor­stellen: Nun, da muß man eben losziehen und dieses Volk besiegen. -Das tun die Engländer nicht, sondern sie schauen zunächst zu, putschen eher noch ein anderes Volk auf und lassen sich die untereinander zer­schlagen, und sie schauen zu, so lang es nur irgend geht, das heißt, sie lassen die Menschen untereinander fertig werden. So hat sich die Ge­schichte immer gegeben. Dadurch ist ja gerade dieses englische Welt­reich begründet worden. Die andern, nicht wahr, wissen niemals eigent­lich, wie der Hase läuft. Die Engländer haben einen gewissen Instinkt dafür, dasjenige, was die Eigentümlichkeit der fremden Völker ist, zu achten. Dadurch ist es ja den Engländern gelungen, eine so kolossale wirtschaftliche Übermacht zu erlangen. In England wäre es sicher keinem

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Menschen eingefallen, das zu tun, was man jetzt in Deutschland gemacht hat, nämlich Rentenmark einzuführen. Selbstverständlich ist jetzt in Deutschland die größte Geldnot. Kein Mensch hat Geld. Aber wie die Rentenmark gemacht worden ist - das sogenannte wertbestän­dige Geld -, da haben die Leute das als etwas furchtbar Gescheites be­trachtet! Es war natürlich das Dümmste, was man hat tun können. Denn solange in England jedes Papiergeld durch Gold gedeckt ist, geht es nicht anders, als daß man das in der ganzen Welt macht im Wirt­schaftlichen: für jedes Papiergeld Golddeckung zu haben. Macht man Geld, wofür keine Golddeckung da ist, so muß dieses Geld entweder sofort an Wert heruntergehen, das heißt, die Valuta muß sinken, oder wenn man es künstlich macht, wie man es jetzt mit dem wertbestän­digen Geld macht, dann werden eben die Waren um so teurer. Nicht wahr, nun hat man eine Rentenmark in Deutschland; die ist immer eine Mark wert. Ja, aber, meine Herren, da kriegt man nur so viel, als man früher für fünfzehn Pfennige gekriegt hat! Also tist in Wirklichkeit solch eine Rentenmark nicht mehr wert als fünfzehn Pfennig, trotz­dem daß sie nicht sinkt, daß sie «Wertbeständigkeit» hat! Das ist ja nur eine Täuschung. Man denkt in Deutschland, aber man hat keinen Sinn dafür, die Wirklichkeiten zu beachten.

Sehen Sie, da gibt es eine recht nette Anekdote, wie die verschie­denen Völker Naturgeschichte, sagen wir zum Beispiel von einem Kän­guruh, studieren, oder von irgendeinem andern Tiere, das in Afrika ist. Der Engländer macht eine Reise nach Afrika - wie ja Darwin über­haupt, um zur Naturwissenschaft zu kommen, seine Weltreise gemacht hat; sie betrachten das Tier da, wo es wirklich lebt. Da kann er sehen, wie es lebt, wie seine Naturbedingungen sind. Der Franzose, der trägt dieses Tier fort von der Wüste in den Zoologischen Garten. Er studiert es im Zoologischen Garten; er betrachtet nicht das Tier in seiner natür­lichen Umgebung, sondern im Zoologischen Garten. Aber der Deutsche, was tut denn der? Der kümmert sich überhaupt nicht um das Tier, wie es ausschaut, sondern er setzt sich in seine Studierstube, fängt an nach­zudenken. Das Ding an sich interessiert ihn ja nicht - nach der Kant-schen Philosophie, wie ich Ihnen neulich gesagt habe -, sondern nur, was in seinem Kopfe ist. Dann denkt er sich genügend lange etwas aus.

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Und nachdem er genügend lange nachgedacht hat, sagt er etwas. Aber das stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein.

Aber nun ist das mit Bezug auf die Engländer auch nur verhältnis­mäßig. Denn wie in alten Zeiten verfahren worden ist, auf den Men­schen zu wirken, so versteht das heute in Europa kein Mensch mehr -wie Alexander der Große scheinbar alles gelassen hat, wie es war, und nur ganz zizerlweis, langsam dasjenige, was er von Griechenland nach Asien hinzubringen hatte, tat. Das versteht kein Mensch mehr in Eu­ropa. Das müßten sich aber die Europäer wieder angewöhnen. Daher wäre das erste, was die Europäer lernen müßten, nicht bloß hinzutragen nach Asien das, was die schon haben, sondern die Europäer sollten vor allen Dingen ganz aufmerksam lernen, was die Asiaten wissen; dann würden sie zum Beispiel das, was tibetanische Weisheit ist, dann wissen. Dann würden sie es nicht in der alten Weise den Leuten sagen, sondern in der neuen Weise, würden aber das benutzen, was tibetanische Weis­heit ist. Und dann würden sie, wenn sie die Kultur der andern achten würden, damit etwas erreichen. Das ist etwas, was Europa gerade ler­nen muß.

Europa ist eigentlich ein großes Theoriengebäude. Europa theoreti­siert, hat eigentlich im Grunde genommen keine Praxis. Es ist schon so! Europa macht auch Geschäfte auf theoretische Weise, bloß dadurch, daß die Sachen ausgedacht werden. Das geht dann eine Zeitlang. Das geht immer nicht auf die Dauer. Aber Europa ist namentlich in der Ausbreitung der Geisteskultur höchst unglücklich, weil es gar nicht versteht, irgendwie einzugehen auf die andern.

Auch da muß die Geisteswissenschaft eine Sinnesänderung schaffen. Aber wie geht das heute noch zu? Sehen Sie, es handelte sich gerade bei der Anthroposophie darum, ganz im Sinne einer Lebenspraxis zu han­deln. Nun, man muß doch irgendwo anfangen. Was habe ich selber ge­tan, meine Herren? Ich habe einmal über Nietzsche geschrieben - da haben die Leute geglaubt, jetzt sei ich ein Anhänger Nietzsches. Hätte ich so geschrieben, wie es die Leute hätten haben wollen nach so man­chen Ansichten, so hätte ich geschrieben: Nietzsche ist ein großer Narr, Nietzsche hat diese und jene Narrheiten, man muß Nietzsche be­kämpfen bis aufs Messer und so weiter. Ich würde eine gegnerische

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Schrift gegen Nietzsche geschrieben haben; da hätte ich fein schimpfen können, fast so stark, wie Nietzsche selber geschimpft hat - aber es würde gar nichts genützt haben! Ich bin eingegangen auf dieNietzsche­sche Lehre; ich habe das dargestellt, was Nietzsche selber gesagt hat, und ließ nur da hineinfließen dasjenige, was Anthroposophie ist. Heute kommen die Leute und sagen: Der war früher Nietzsche-Anhänger, jetzt ist er Anthroposoph. - Gerade weil ich Anthroposoph bin, ist über Nietzsche so geschrieben worden, wie es von mir geschrieben worden ist! Dann habe ich über Haeckel geradeso geschrieben. Ich hätte natür­lich schreiben können: Haeckel ist ein krasser Materialist, der versteht gar nichts vom Geist und so weiter. Ja, meine Herren, wiederum wäre damit nichts getan gewesen; sondern ich habe den Haeckel genommen wie er ist, habe es überhaupt mit allem so gemacht, habe nicht verleug­net die Sachen, aber eben die Dinge so genommen, wie sie sind. Und damit fing wenigstens durch die Anthroposophie dasjenige an, was man nun, wenn man die Kultur nach Asien hinübertragen müßte, da tun müßte! Man müßte, wenn man nach Indien geht, vor allen Dingen genau wissen: Das ist von den alten Brahmanen behauptet worden -; das wird von den Buddhisten behauptet. Man muß den Leuten dann Buddhismus und Brahmanismus vortragen, aber da hineinfließen las­sen dasjenige, was man für das Richtige hält. So haben es zum Beispiel die Schüler von Buddha selber gemacht. Die Schüler von Buddha haben noch, kurz bevor das Christentum entstanden ist, in Babylon drüben am Euphrat und Tigris den Buddhismus ausgebreitet, aber eben so, wie ich es Ihnen jetzt erzählt habe, indem sie durchaus zu den Menschen so gesprochen haben, daß die etwas verstehen konnten. Im Altertum kam es einem nämlich gar nicht darauf an, so die Theorien durchzudrücken, bloß eigensinnig zu sein. Die Asiaten verstehen gar nicht den europä­ischen Eigensinn. Es ist durchaus so, daß zum Beispiel das Verhältnis von den Brahmanen zu den Buddhisten nicht so ist wie das zwischen den Katholiken und Protestanten. Katholiken und Protestanten betrei­ben heute ihre Lehre ganz theoretisch: Der eine glaubt das, der andere etwas anderes. Zwischen den Brahmanen und Buddhisten ist kaum ein anderer Unterschied, als daß die Brahmanen den Buddha nicht ver­ehren und die Buddhisten ihn verehren und so weiter. Und so kommen

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sie eigentlich in ganz anderer Weise miteinander aus, als Evangelische und Katholische in Europa miteinander auskommen.

Es ist nun eben so, daß man einen Sinn haben muß für die Wirklich­keit,wenn man Kultur verbreiten will! Man kann förmlich Blut schwit­zen, möchte ich sagen, wenn man heute gewahr wird, wie die Europäer in Asien drüben wirtschaften. Dabei geht auch alles, was Asien hat, zugrunde, und heraus kommt gar nichts dabei. Nun ist natürlich aller­dings das eigentliche Elend dieses, daß Europa selber im Elend ist, und daß man sehr schwer sich denken kann, wie Europa aus diesem Elend herauskommen soll. Es ist ja das große Elend dieses, daß Europa jetzt selber im Niedergang ist, Europa aus allen den Kulturschäden, in denen es drinnen ist, nicht eigentlich recht herauskommen kann, wenn sich die Leute nicht dazu entschließen, eine wirkliche Geisteskultur anzuneh­men. Das glauben heute noch viele nicht. Und so ist es heute gekommen, daß alle Leute, die etwa von Asien nach Europa gekommen sind, wirk­lich gefunden haben: Diese Europäer sind eigentlich alle Barbaren.

Sie haben das wahrscheinlich auch gehört, daß allerlei Asiaten, kul­tivierte Asiaten, gescheite Asiaten, in Europa herumziehen; aber die haben alle die Meinung, daß die Europäer eigentlich Barbaren sind. Und das haben sie aus dem Grunde, weil eben so viel sich noch in Asien erhalten hat von der alten Wissenschaft vom Geist, von der alten Er-kenntnis vom Geist, daß das, was die Europäer wissen, den Leuten kin­disch vorkommt. Alles das, was so bewundert wird in Europa, das kommt den Leuten in Asien furchtbar kindisch vor!

Sehen Sie, die Europäer haben sich eben so entwickelt, daß selbst ihre großen technischen Fortschritte eigentlich alle furchtbar jung sind. Interessant zum Beispiel ist ja dieses: Wenn Sie in gewisse Museen gehen, wo aus alten europäischen Zeiten Überreste sind, da können Sie manchmal furchtbar staunen. Sie können zum Beispiel staunen, sagen wir, in etruskischen Museen, wo die Überreste von dem sind, was etrus­kische Kultur war, also eine Kultur, die einmal in Europa war, wie die Leute geschickt waren zum Beispiel in der Zahnbehandlung. Die haben schon ganz geschickt die Zähne behandelt, eine Art Plomben eingesetzt aus Stein! Das alles ist in Europa zugrunde gegangen, und es trat in Europa eine Barbarei ja wirklich ein. Zu der Zeit, in der man von der

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Völkerwanderung spricht - im 3. bis 7. nachchristlichen Jahrhundert -, war in Europa alles eigentlich barbarisiert. Und nach dieser Zeit erst sind die Dinge eigentlich wiederum erobert worden. Natürlich wundert man sich heute furchtbar darüber, was alles errungen worden ist! Aber die Dinge waren eben schon einmal da. Woher sind sie dazumal ge­kommen? Dazumal sind sie mehr oder weniger doch aus Asien herüber­gekommen! Die Asiaten haben dann auch die äußere Technik, die sie schon gehabt haben, verloren. Die Chinesen haben noch einiges davon. Aber in der geistigen Kultur selber sind eben die Asiaten den Europäern inWirklichkeit auch heute noch voraus. Undwenn wir in Europa nichts Besseres finden können als dasjenige, was die Asiaten in der geistigen Kultur haben, warum soll man denn überhaupt in Asien drüben Mis­sionen und dergleichen Zeug haben? Das ist ja gar nicht notwendig!

Also einen Sinn bekommt die Kulturausbreitung in Asien erst wie­derum, wenn Europa selber eine Geisteswissenschaft hat. Wenn Europa den Asiaten Geisteswissenschaft geben kann, dann werden die Asiaten sich vielleicht auch gefallen lassen, daß man ihnen die europäische Technik bringt. Aber jetzt, nicht wahr, nehmen sie nur das wahr, daß die Europäer überhaupt außer dieser Technik nichts kennen. Und es ist gerade unter den Asiaten so, daß es auf sie einen großen Eindruck macht, wenn sie zum Beispiel nach Deutschland kommen - wenn so ein richtiger Asiate, der gebildet ist, ein gelehrter Asiate, in das heutige Deutschland kommt; man hat es zum Beispiel bei gut gebildeten chine­sischen Gelehrten gesehen: Wenn die nach Deutschland kommen und man erzählt ihnen von Schiller und Goethe - da passen sie auf! Da sagt der Gelehrte nur: Ja, Goethe und Schiller waren zwar nicht so gelehrt, nicht so weise, wie die alten asiatischen Persönlichkeiten waren, aber immerhin, da war etwas von Geistigkeit. - Aber rasch hat im 19. Jahr­hundert das alles abgenommen, rasch ist das alles verschwunden. Und heute sieht der chinesische Gelehrte eben in dem Deutschen zum Bei­spiel einen furchtbaren Barbaren. Er sagt: Mit Goethe und Schiller ist die deutsche Kultur zugrunde gegangen. - Daß man im 19. Jahrhundert die Eisenbahn erfunden hat, das imponiert ihm gar nicht. Es imponiert ihm allerdings der Goethesche «Faust» noch etwas, nur behauptet er noch immer, daß seine asiatischen großen Persönlichkeiten viel weiser

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waren. Das müßte der Europäer zuallererst einmal einsehen. Er müßte einsehen, daß der Asiate sich aus solchen Begriffen, wie sie der Europäer hat, überhaupt nichts macht; gar nichts macht er sich daraus, sondern der Asiate will Bilder. Diese Abstraktionen, diese Begriffe, die der Eu­ropäer hat, die will der Asiate nicht haben, die tun ihm in seinem Ge­hirn weh, die will er nicht haben.

Und ein solches Zeichen, wie zum Beispiel das Hakenkreuz, die so­genannte Swastika, dieses Zeichen (Zeichnung) - das war ein uraltes Sonnenzeichen -, das war in Asien drüben überall verbreitet. An das erinnern sich die alten Asiaten noch. Gewisse bolschewistische Regie­rungsmänner waren so klug, geradeso wie die deutschen Völkischen, dieses alte Hakenkreuz als ihr Zeichen zu verwenden. Das macht auf die Asiaten einen viel größeren Eindruck als alles dasjenige, was der Marxismus ist. Der Marxismus besteht aus Begriffen zum Denken; das imponiert den Leuten nicht. Aber solch ein Zeichen, das imponiert den Leuten. Und wenn nicht verstanden wird, eben einzugehen auf die Leute, sondern wenn man ihnen kommt mit dem, was ihnen eine ganz fremde Sache ist, dann wird man unter ihnen absolut nichts erreichen.

So ist es schon, daß auch da sich zeigt, daß wirklich in Europa alles darauf ankommt, selber erst wiederum eine geistige Erkenntnis, eine Geisteswissenschaft zu haben.

Sie werden vielleicht auch gehört haben, daß ein großes, zweibän­diges Buch erschienen ist von einem gewissen Spengler - der hat ja sogar einmal in Basel einen Vortrag gehalten, wie ich gehört habe -, ein Buch von Oswald Spengler: «Der Untergang des Abendlandes», also der Untergang von Europa und Amerika. Der Mann stellt dar, wie alles dasjenige, was jetzt an sogenannter europäischer Kultur da ist, zugrunde gehen muß. Das zeigt sich einem. Er betrachtet es als krank, das muß zugrunde gehen. Deshalb handelt das Buch vom Untergang des Abendlandes. Man kann fast gar nichts sagen gegen das Buch, gegen das, was er sagt über den Untergang des Abendlandes, über das, was notwendig in bezug auf Außerlichkeiten gesagt ist. Aber nun kommt der Spengler zu dem, was er positiv betrachtet, was sich ihm als Neues zeigt. Und was zeigt er, meine Herren? Was ist das bei Oswald Speng­ler? Das ist das Preußentum! So daß ganz Europa das Preußentum annehmen

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müsse; das müsse die Zukunftskultur sein von Europa, meint Spengler.

Nun, ich weiß nicht, wie er in Basel geredet hat, denn ich könnte mir nicht gut denken, daß das einen großen Eindruck auf die Schweizer gernacht hätte, wenn er gezeigt hätte, daß aus diesem Untergang heraus das Preußentum kommen muß! Aber Sie sehen, daß ein sehr bedeuten­der Mensch, ein gescheiter Mensch, wie der Spengler, sehr gut einsehen kann: Ja, untergehen muß dasjenige, was da ist; aber es muß die Zu­kunft brutale Gewalt haben. Das sagt er auch ganz offen: In der Zu­kunft kann es nur geben den brutalen gewaltigen Eroberer,-so meint er.

Nun, wenn natürlich so etwas heute das verbreitetste Buch ist - denn es ist eines der verbreitetsten Bücher in Deutschland, das von Oswald Spengler - und der Orientale, der Asiate vergleicht das, was dadrinnen steht, mit seiner eigenen Geisteskultur, und muß sich sagen: Das ist einer der gescheitesten Menschen in Europa! - und hat dabei seine hohe Geisteswissenschaft, wenn auch auf eine traumhafte, alte Weise, dann sagt er: Ja, was sind denn das für Kerle, diese allergescheitesten Leute in Europa? Die können uns nichts bringen!

Das ist eben die Sache. Und wenn daher die Frage aufgeworfen wird: Wie könnte Europa etwas tun gegen eine solche abwärtsgehende Zeitströmung in Asien drüben? - ja, da muß man eben einfach sagen:

Es ist in Europa so, daß die Europäer selber erst eine Geistigkeit er­ringen müssen, die bei ihnen verlorengegangen ist mit der Völker­wanderung. In den ersten christlichen Jahrhunderten ist eigentlich eine wirkliche Geisteskultur verlorengegangen. Denn was gekommen ist nach Europa, war ja nicht in Wirklichkeit das tiefere Christentum, sondern waren Worte, richtige Worte waren es. Das kann man am besten daraus sehen, wie Luther dann die Bibel übersetzt hat. Was hat er denn aus der Bibel gemacht? Ein unverständliches Buch! Denn man kann das nicht verstehen, was die Luthersche Bibel ist, wenn man ehrlich ist. Man kann es glauben; aber in Wirklichkeit ist das nicht zu verstehen, weil eben in Europa schon die Zeit war, wo man nichts rnehr vom Geist wußte. In der Bibel ist Geist! Man muß, wenn man die Bibel übersetzt, eben geistig übersetzen. Aber dasjenige, was zum Beispiel eben die deutsche Luthersche Bibel enthält, das ist unverständlich,

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wenn man es ehrlich nimmt. Das ist auf allen Gebieten eigent­lich so, mit Ausnahme der ganz äußerlichen Naturerkenntnisse, die aber in die Welt in Wirklichkeit gar nicht hineinführen. Und wenn Europa überhaupt in Asien drüben etwas tun will, so muß ich auf diese Frage antworten: Es wird erst etwas tun können, wenn es einmal selbst zur Besinnung gekommen ist.

Nun, meine Herren, ich muß jetzt eine Reise nach Paris machen; ich werde es Ihnen dann sagen, wann wir das nächste Mal fortsetzen können.

SECHZEHNTER VORTRAG Dornach, 4. Juni 1924

#G353-1968-SE264 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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SECHZEHNTER VORTRAG

Dornach, 4. Juni 1924

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Haben Sie etwas gefunden, das Sie fragen wollen, meine Herren?

Frage: Wie entstehen die Sonnenstrahlen? Ist das eine Substanz? Und wie kommt es, daß sie auf die Erde in einem Bogen einfallen?

Dr. Steiner: Nicht wahr, Sie meinen, daß die Sonnenstrahlen eine Wirklichkeit sind? Und warum Sie meinen, daß sie in einem Bogen ein­fallen, können Sie vielleicht noch etwas erklären.

Der Fragesteller sagt, er habe schon gehört, sie fielen nicht gerade auf die Erde, sondern in einem Bogen.

Dr. Steiner: Die Sache ist so: Die Sonnenstrahlen, wie man sie sieht, sind eigentlich keine Wirklichkeit; sondern, wenn wir die Sonne als solche betrachten, so ist sie eigentlich nicht ein physischer Stoff, sie ist eigentlich geistig, und besteht in einer Aushöhlung des Raumes.

Nun, Sie müssen sich nur richtig vorstellen, was eine solche Aus­höhlung des Raumes bedeutet. Wenn man - ich habe den Vergleich schon einmal gebraucht - eine Flasche mit Selterswasser hat, dann ist die Flasche mit Wasser angefüllt, und man sieht eigentlich das Was­ser kaum; man weiß, daß Wasser drin ist, aber man sieht sehr deut­lich die Perlen, die da drinnen sind. Sie wissen aber: Wenn Sie das Wasser herausgießen, dann verduften die Perlen; sie sind eigentlich Luft, und sie sind als Luft dünner als das Wasser. Man sieht nicht etwas, was dichter ist als Wasser, aber das Dünnere der Luft sieht man da-drinnen. So ist es mit der Sonne da droben. Alles, was ringsherum um die Sonne ist, ist eigentlich dichter als die Sonne, und die Sonne ist dünner als das, was um die Sonne herum ist; dadurch sehen Sie die Sonne. Es ist also eine Täuschung, wenn man glaubt, daß die Sonne sozusagen etwas ist im Raume. Es ist eigentlich dort nichts im Raume; es ist ein großes Loch da, wie bei dem Selterswasser auch überall, wo eine Perle ist, Luft ist, ein Loch ist.

Daraus können Sie schon entnehmen: Es kann sich gar nicht darum handeln, daß von dem Loch Strahlen ausgehen. Die Strahlen entstehen

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auf ganz andere Weise. Sie können sich das auf folgende Weise klar­machen. Nehmen Sie einmal an, Sie haben eine Straßenlaterne; in die­ser Straßenlaterne ist Licht drinnen. Wenn Sie nun auf der Straße gehen und Sie schauen diese Laterne an, und es ist ein recht heller Abend, so werden Sie die Laterne mit festem, schönem Glänzen sehen. Bedenken Sie aber: Es ist ein nebliger Abend, überall herum ist ein Nebel - da wird es Ihnen gerade so scheinen, als ob lauter Strahlen ausgehen wür­den von der Laterne, von dem Licht! Sie sehen dann also die Strahlen drinnen. Sie sehen bloß nicht die Strahlen vom Licht, sonst müßten Sie bei einem richtig guten Abend auch die Strahlen sehen. Die kommen aber von dem, was ringsherum ist; und je mehr Nebel ist, desto mehr sehen Sie die Strahlen. Daher sehen Sie die Sonnenstrahlen auch nicht als Wirklichkeit, sondern als etwas, wo Sie auf ein weniger Dichtes, in ein Leeres hinschauen. Versteht man das?

Nun aber weiter: Wenn man durch einen Nebel durchschaut in die Ferne, dann erscheint der Gegenstand, den man schaut, immer an einem andern Ort, als wo er eigentlich ist. Wenn man hier auf der Erde steht, und man schaut durch die Luft, schaut die Sonne, die eigentlich leer ist, an, dann wird, indem man hinschaut, die Sonne tieferstehen. Dadurch erscheint dasjenige, was ohnehin gar keine Wirklichkeit hat, wie wenn es ausgebogen wäre. Es ist also eigentlich nur dadurch, daß man durch den Nebel durchschaut. Das ist in diesem Falle die Wirklichkeit. Man muß nur immer wiederum von neuem staunen, daß die Physiker heute die Dinge so aufzeichnen, als wenn da eine Sonne stünde und die Strah­len so verlaufen würden, währenddem weder die Sonne noch die Strah­len eine äußere Wirklichkeit sind. Und in dem Raum, der da leer ist, dadrinnen ist allerdings dann Geistiges. Das muß dabei immer berück­sichtigt werden. Das kann ich in bezug auf diese Frage sagen.

Vielleicht fällt jemandem noch etwas anderes ein?

Frage: Könnte man etwas hören über die Freimaurerei und ihren Zweck?

Dr. Steiner: Nun, sehen Sie, meine Herren, die heutige Freimaurerei, die ist eigentlich, man könnte sagen, nur der Schatten dessen, was sie einmal war. Ich habe hier auch schon verschiedentlich davon geredet, daß es in sehr alten Zeiten der Menschheitsentwickelung nicht solche

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Schulen gab wie heute, auch nicht solche Kirchen, auch nicht solche Kunstanstalten, sondern da war alles eins. In den alten Mysterien, wie man es nannte, war zugleich die Schule, die Kunstanstalt und die Re­ligion. Das ist erst später auseinandergegangen. So daß es eigentlich für unsere mitteleuropäischen Gegenden, man könnte sogar sagen, erst im 11., 12.Jahrhundert so geworden ist; früher waren die Klöster, ich möchte sagen, ein Andenken an die alte Zeit. Aber in ganz alten Zeiten war das so, daß Schule, Kirche und Kunstanstalten eines waren. Es war aber so, daß in den Mysterien alles das, was da getrieben wurde, viel ernster genommen worden ist als heute zum Beispiel in unseren Schulen und auch in unserer Kirche die Sachen genommen werden.

Die Sache ist nämlich so gewesen, daß man lange Zeit hat vorberei­tet werden müssen, bis man hat lernen dürfen. Heute entscheidet ja im Grunde genommen, ob man etwas lernen kann oder nicht, wirklich ein Prinzip, das gar nichts zu tun hat mit dem Lernen. Nicht wahr, heute entscheidet eigentlich nur das, ob für den Betreffenden, der lernen will, das Geld aufgebracht werden kann oder nicht aufgebracht werden kann! Das ist natürlich etwas, was gar nichts zu tun hat mit den Fähig­keiten, die der Betreffende hat. Und ganz anders nun war die Sache in ganz alten Zeiten. Da hat man unter allen Menschen diejenigen aus­gesucht, die etwa die Fähigsten waren; man hat einen besseren Blick dafür gehabt als heute. Natürlich ist die Sache dann fast überall, weil die Menschen schon einmal egoistisch sind, in Verfall geraten; aber das Prinzip war ursprünglich dies, daß man diejenigen aussuchte, die Fähig­keiten hatten. Und die wurden dann erst dazu berechtigt, daß sie geistig lernen konnten - nicht einfach durch Drill und durch Dressur und durch Elemente, wie heute gelernt wird, sondern die konnten geistig lernen.

Dieses geistige Lernen, das ist nun' aber damit verknüpft, daß man in der Vorbereitung lernt, ganz bestimmte Fähigkeiten auszubilden. Sie müssen nur bedenken, wenn man im gewöhnlichen Leben irgend etwas angreift, so hat man eigentlich eine grobe Empfindung davon; und das Außerste, was heute die Menschen erreichen, ist, daß sie in der Empfin­dung manchmal Stoffe voneinander unterscheiden können, daß sie die Dinge so befühlen und etwas in der Empfindung unterscheiden. Aber

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die Menschen sind in ihrer Empfindung - ich meine, in der rein phy­sischen Empfindung - heute eigentlich recht grob. Höchstens daß es die Leute, die darauf angewiesen sind, zu einer feineren Empfindung brin­gen. Das sind zum Beispiel die Blinden. Es gibt Blinde, die lernen, wenn sie das Papier überfahren, die Buchstabenformen befühlen. Jeder Buch­stabe ist ja ein bißchen Eingrabung ins Papier. Wenn das Gefühl in den Fingern fein ausgebildet wird, kann man schon die Buchstaben etwas befühlen. Das sind die einzigen Leute, die heute lernen, feiner etwas fühlen, feiner etwas empfinden. In der Regel wird die Empfindung gar nicht ausgebildet, aber man lernt ungeheuer viel, wenn man das Gefühl, und namentlich das Gefühl in den Fingerspitzen und in den Fingern ganz fein ausbildet. Heute unterscheidet der Mensch Wärme und Kälte nicht bloß durch das Gefühl. Ja, das kann er auch heute, deshalb, weil er das Thermometer lesen kann; da werden ihm die feinen Unterschiede in Wärme und Kälte sichtbar. Aber das Thermometer ist ja auch erst im Laufe der Zeit erfunden worden. Vorher hatten die Leute nur ihr Gefühl, besonders in den Fingern und Fingerspitzen, ganz besonders ausgebildet, und es war so, daß man in feinster Weise empfinden lernte.

Wer war also eigentlich in den Mysterien derjenige, der zuerst vor­bereitet worden war, ganz fein zu empfinden? Nun, die andern Men­schen konnten nicht so fein empfinden. Nehmen Sie nun an, irgendwo, an einem andern Orte, war ein Mysterium. Die Leute reisten ja viel im Altertum; sie reisten fast ebensoviel wie wir, und manchmal ist man erstaunt, wie schnell sie reisten. Sie hatten keine Eisenbahn; aber sie reisten, weil sie flinker waren, weil sie schneller gehen konnten, weniger müde wurden, auch etwas besser gingen und so weiter. Und nun trafen sie auf dem Wege solche Leute, die fein empfinden konnten. Ja, wenn sich zwei solche Leute, die fein empfinden konnten, die Hand gaben, so merkten sie das aneinander, und man sagte dann: Die erkennen sich an ihrer feineren Empfindung. Das ist dasjenige, was man den Griff nennt - den Griff, wenn man den andern angriff in alten Zeiten und man merkte, der hat eine feinere Empfindung.

Nun weiter, meine Herren, bedenken Sie das zweite: Wenn erkannt wurde, daß einer eine feine Empfindung hatte, dann ging man wei­ter, denn man lernte noch mehr. In alten Zeiten schrieb man ja nicht

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so viel wie heute; man schrieb eigentlich nur sehr selten und das Aller­allerheiligste auf. Allerdings, es gibt auch im Altertum schon eine Art von Korrespondenz; aber auch diese Korrespondenz war mehr in aller­lei Zeichen. Und so entstanden viele Zeichen für alles mögliche. Es war ja auch so, daß die Leute, die also nicht zu den Mysterien gehörten, die also nicht die Weisen, wie man sie nannte, waren, wenn sie reisten, nur in kleinerem Umkreis reisten; die kamen nicht sehr weit. Aber die Ge­lehrten, die Weisen, die reisten sehr viel. Da hätten sie eigentlich nicht nur alle Sprachen, sondern alle Dialekte kennen müssen. Es ist ja natür­lich schwer, schon wenn man Norddeutscher ist, den Schweizer Dialekt zu können. Nun aber gab es für diese Leute aus den Mysterien außer der Sprache, die sie sprachen, für alle Dinge, die sie interessierten, gewisse Zeichen. Sie machten Zeichen. So zum Beispiel, sagen wir, es wurde die gewöhnliche Gebärde, die man schon in der Empfindung hat, weiter ausgebildet: Ich begreife -; oder: Das ist nichts, was du mir sagst -; oder: Wir verstehen uns gut miteinander. - Man zeichnete das Kreuz hinein. So daß es eine voll ausgebildete Zeichensprache gerade unter den alten Weisen gab, und man legte alles, was man wußte, in solche Zeichen hinein. So daß Sie einsehen können: Alle die Leute, die in den damaligen hohen Schulen, den Mysterien, waren, hatten für alles ge­wisse Zeichen. Sie wollten nun zum Beispiel diese Zeichen festhalten; da malten sie sie dann erst auf. So entstanden die aufgemalten Zeichen.

Es ist schon interessant, daß es heute noch eine gewisse Schrift der Inder gibt, die Sanskritschrift. Bei ihr sieht man überall, daß alles aus der krummen und aus der geraden Linie hervorgegangen ist. Krumme Linien: Unzufriedenheit mit etwas, Antipathie; gerade Linien: Sympa­thie. Bedenken Sie einmal: Es weiß einer, die geraden Linien bedeuten Sympathie, die krummen Linien bedeuten Antipathie. Jetzt will ich ihm etwas mitteilen. Dafür habe ich auch mein Zeichen. Er will mir etwas sagen; das kann ja anfangs gut gehen, später aber kann die Ge­schichte schlecht werden. Sehen Sie, da geht es noch gut; später zeich­net er eine Schlangenlinie: da kann es schlecht gehen. Und so hatte man für alles bestimmte Zeichen. An diesen Zeichen oder mit diesen Zeichen verständigten sich diejenigen wieder, die in den Mysterien waren. So daß man zum Griff dazu hatte das Zeichen.

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Nun, etwas ganz Besonderes sah man früher in den Worten. Sehen Sie, wenn heute der Mensch Worte spricht, so hat er eigentlich gar keine Ahnung mehr, was es mit den Worten ist. Aber man kann doch noch etwas empfinden, was in den Lauten schon drinnen liegt. Sie werden leicht empfinden können, wenn einer irgendwie in einer Lebensiage ist und er fängt an: A - da hat das irgend etwas mit Verwunderung zu tun. Nun nehmen Sie dazu den Buchstaben R: dadrinnen liegt das Hin­rollen, Strahlen: R = Ausstrahlen. A = Verwunderung, R = Rollen, Ausstrahlen.

Nun wissen wir jetzt allerdings das, was wir eben über die Sonnen­strahlen gesagt haben. Aber auch wenn die Sonnenstrahlen scheinbar sind, wenn sie keine Wirklichkeit sind: es sieht so aus, wie wenn sie hin-strömen würden. Nun denken Sie, es will einer sagen: Da oben ist etwas, das wirft mir hier auf der Erde etwas zu, was, wenn es mir am Morgen erscheint, Verwunderung hervorruft. Die Verwunderung drückt er aus durch A, aber daß es von oben kommt, mit R; das drückt er also aus mit: RA. Ja, so haben die alten Agypter den Sonnengott genannt: Ra! In jedem von diesen Buchstaben liegt eben ein Empfinden darinnen, und wir haben die Buchstaben zu Worten zusammengesetzt. Es war also eine ganz ausgebreitete Empfindung drinnen. Das ist heute längst vergessen. So etwas kann man an verschiedenen Dingen spüren. Neh­men Sie zum Beispiel: I. Das ist so etwas wie eine leise Freude; man findet sich ab mit dem, was man erfährt, wahrnimmt: I. Daher wird auch das Lachen ausgedrückt mit: hihi. Das ist eine leise Freude. So hat jeder Buchstabe etwas Bestimmtes in sich. Und es gibt eine Kenntnis, durch die man geradezu die Worte bilden kann, wenn man Verständnis hat für die Laute, die in den Worten drinnen sind.

Nun werden Sie eines sagen, meine Herren: Ja, dann könnte es ei­gentlich,wenn das so wäre, nur eine einzige Sprache geben! - Ursprüng­lich hat es unter der Menschheit auch eine einzige Sprache gegeben; als man noch ein Empfinden hatte für diese Laute, diese Buchstaben, hat es nur eine einzige Sprache gegeben. Die Sprachen sind dann verschie­den geworden, als sich die Menschen zerstreut haben. Aber ursprüng­lich haben die Menschen das empfunden, und in den Mysterien wurde das richtig gelehrt, wie man Laute, Buchstaben empfindet und zu Worten

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verbindet. Daher gab es eine eigene Sprache in den Mysterien. Diese Sprache, die sprachen alle untereinander - nicht die Dialekte, aber diese Sprache, die verstanden alle. Wenn einer Ra sagte, wußte der andere, daß das die Sonne ist. Wenn einer zum Beispiel sagt: E - fühlen Sie nur:

Ich schrecke etwas zurück, das paßt mir nicht; E = ich habe eine leise Furcht, so etwas wie Furcht! Nun, nehmen Sie einfach das L: das ist so, L, wie wenn etwas hinschwindend ist, wie wenn etwas fließt, und EL, ja, das ist etwas, das hinfließt und wodurch man zurückschreckt, wodurch man sich fürchtet. So hat in Babylon El = Gott geheißen. Und so wurde alles nach diesem Prinzip bezeichnet. Oder nehmen Sie die Bibel: Wenn Sie sagen: 0 - das ist eine Verwunderung, eine plötzliche Verwunde­rung, gegen die man nicht aufkommt. Beim A - da hat man eine Emp­findung, welche man gern hat, eine Verwunderung, die man gern hat; 0 - da will man zurückweichen; H, Ch ist der Atem. So daß man sagen kann: 0 = zurückweichende Verwunderung; H = Atem; I = da zeigt man hin darauf, man freut sich darüber, es ist leise Freude = I. Und M, das ist: Man will selber hineingehen. Sie spüren, wenn Sie M aussprechen: M - da geht der Atem hinaus, und man fühlt, man läuft förmlich nach dem Atem; M ist also: hinweggehen. Jetzt setzen wir das zusammen: El, das haben wir schon gesehen, ist der im Winde her­kommende Geist, El; 0 = das ist die zurückweichende Verwunderung, H = der Atem; das ist also schon der feinere Geist, der als Atem wirkt; I = das ist die leise Freude; M - das ist das Hingeben. Da haben Sie Elohim, womit die Bibel beginnt; da haben Sie diese Laute drinnen. So daß man sagen kann: Die Elohim sind im Winde Wesen, vor denen man etwas Angst hat, vor denen man etwas zurückweicht, die aber durch den Atem zur Freude der Menschen, im Hingeben des Menschen Freude haben: Elohim. Und so ist ursprünglich in den Worten nach den Lauten, nach den Buchstaben zu studieren, was die Worte eigentlich bedeuten. Die Menschen spüren eigentlich heute gar nicht mehr, wie das ist.

Wie heißt hier in der Schweiz die Mehrzahl von Wagen? Heißt es auch hier: Wagen, oder heißt es die Wägen? ( Antwort: Die Wagen!) - Die Wagen heißt es noch. Da ist es also schon verwuschelt; das Ursprüng­liche wäre: der Wagen, die Wägen! Und bei der Mehrzahl haben wir das in der verschiedensten Weise; zum Beispiel haben wir: der Bruder,

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die Brüder. Das ist aber doch wohl auch so in der Schweiz! Sie haben doch nicht: die Bruder? Also: der Bruder, die Brüder. Oder sagen wir:

das Holz, die Hölzer. Man sagt ja wohl auch hier nicht: die Holzer. Das Holz, die Hölzer. Sie sehen, meine Herren, wenn die Mehrzahl ge­bildet wird, da wird der Umlaut gebildet: a in ä, u in ü, o in ö. Warum geschieht das? Ja, der Umlaut, der drückt aus, daß die Sache undeutlich wird! Wenn ich einen Bruder sehe, dann ist er deutlich da als eine Per­son; wenn ich mehrere Brüder sehe, da wird es schon undeutlich, da muß ich schon einen von dem andern unterscheiden, und wenn ich das nicht kann, wird es undeutlich. Man muß einen um den andern an­schauen. Das Undeutlichwerden wird überall durch den Umlaut an­gedeutet. Wo also zum Beispiel ein Umlaut in irgendeinem Worte ist, da ist irgend etwas undeutlich.

In der Sprache liegt etwas, woran man eigentlich den ganzen Men­schen erkennen kann; da ist der ganze Mensch. Und so drückten die Leute auch aus, wie schon in den Buchstaben, die man aufschrieb, in diesen Zeichen gewisse Bedeutungen drinnen liegen. A war immer Ver­wunderung. Wenn nun der alte Jude so S aufgeschrieben hat, so sagte er sich: Wer verwundert sich in der Erdenwelt? Die Tiere verwundern sich eigentlich nicht, nur der Mensch. Daher nannte er den Menschen überhaupt: die Verwunderung. Wenn er sein Aleph aufschrieb, das S, das hebräische A, dann bedeutete das aber auch den Menschen.

Und so war es, daß jeder Buchstabe zugleich ein bestimmtes Ding oder Wesen bedeutete. Das alles kannten wiederum die Leute, die in den Mysterien waren. Wenn also einer reiste und traf den andern, und sie hatten die gemeinsame Kenntnis, so erkannten sie sich am Wort. So daß man sagen kann: In den alten Zeiten war es so, daß die Leute, die etwas gelernt haben, die also viel wußten, einander erkannten an Griff, Zei­chen und Wort. Ja, aber, da war etwas darinnen! Da war wirklich zu­gleich die ganze Gelehrsamkeit drinnen in diesen Zeichen, Griff und Wort. Denn dadurch, daß man fühlen lernte, lernte man die Gegen­stände unterscheiden. Dadurch, daß man die Zeichen hatte, hatte man ein Na'chahmen alles desjenigen, was Naturgeheimnisse waren. Und im Worte lernte man den inneren Menschen kennen. So daß man also sagen kann: Im Griff hatte man die Wahrnehmung; im Zeichen hatte

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man die Natur, und im Wort hatte man den Menschen, seine innere Verwunderung oder seine Freude und so weiter. Man hatte also Natur und Mensch, und die haben wiedergegeben die Zeichen, Griff und Wort.

Nun, im Laufe der Menschheitsentwickelung ist dann dasjenige ent­standen, was sich auf der einen Seite trennte in die Universität, also die späteren Schulen, und auf der andern Seite in die Kirche, und in die Kunst. Alle drei haben nicht mehr verstanden, was ursprünglich vor­handen war; und ganz verloren ging gleichfalls Griff, Zeichen und Wort. Nur diejenigen, die dann bemerkt hatten: Donnerwetter, diese alten Weisen, die hatten ja dadurch eine gewisse Macht, daß sie das wußten! Das ist eine gerechtfertigte Macht, die ein Mensch hat, wenn er etwas weiß, denn dadurch kommt es den andern Menschen zugute; wenn keiner eine Lokomotive zu machen verstünde, so würde die Menschheit eben niemals eine Lokomotive haben! Also wenn einer etwas weiß, so kommt es den Menschen zugute; das ist eine gerecht­fertigte Macht. Später aber haben sich die Leute einfach die Macht an­geeignet, indem sie abgeguckt haben die äußeren Zeichen. Gerade wie diese oder jene Zeichen früher einmal etwas bedeutet haben und man später die Bedeutung verloren hat, so hat alles das die Bedeutung ver­loren. Und es bildete sich dann, ich möchte sagen, durch Nachäffung von den alten Mysterien, allerlei aus, indem Sie nur äußerlich die Sache haben. Was haben diese Leute getan? Die hatten die feine Empfindung nicht mehr, aber sie verabredeten ein Zeichen, an dem sie sich erkennen. Sie geben sich die Hand in einer bestimmten Weise, wodurch einer weiß:

der gehört zu diesem Bund. Da haben sie sich erkannt am Griff. Dann machen sie sich noch in irgendeiner Weise ein Zeichen. Das Zeichen und der Griff sind verschieden, je nachdem der eine im ersten oder zweiten oder dritten Grad ist. Daran erkennen sich dann die Leute. Aber es ist nicht mehr darinnen als nur ein Erkennungszeichen. Und ebenso haben sie für jeden Grad bestimmte Worte, die sie aussprechen können in ge­wissen freimaurerischen Bünden; sie haben, sagen wir für den ersten Grad zum Beispiel, wenn man wissen will: Was ist das Wort? - sagt er:

Jachin. Man weiß, er hat das Wort Jachin in der Freimaurerloge ge­lernt, sonst wäre er nicht im ersten Grad drin. Das ist nur noch ein Losungswort. Und ebenso macht er dann das Zeichen und so weiter.

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Nun, eigentlich hat diese Art der Freimaurerei sich erst entwickelt, als alles übrige aus den Mysterien vergessen war; und es wurden ein­zelne von den alten Dingen, die man nicht mehr verstand, nachgeahmt. So daß dasjenige, was die Freimaurerei an Kultus übernommen hat, meistens heute von den Freimaurern nicht mehr verstanden wird; auch Zeichen, Griff und Wort verstehen sie nicht, weil sie all das nicht wis­sen, um was es sich da eigentlich handelt. Sie wissen zum Beispiel nicht, daß, wenn man das Wort des zweiten Grades ausspricht: Boas, daß es sich da handelt darum, daß das B so viel ist wie ein Haus; 0 ist, wie ich Ihnen sagte, wie eine zurückhaltende Verwunderung; A: das ist die angenehme Verwunderung; S ist das Zeichen für die Schlange. Damit haben Sie ausgedrückt: Wir erkennen die Welt als dasjenige an, was ein großes Haus ist, das der große Baumeister der Welt gebaut hat, über das man sich sowohl ängstlich als auch behaglich verwundern muß und in dem es auch das Böse gibt, die Schlange. - Ja, so etwas hat man gewußt in alten Zeiten; da hat man die Natur angeschaut nach diesen Dingen, den Menschen angeschaut nach diesen Dingen. Heute sprechen ahnungslos in gewissen Freimaurerbünden diejenigen, die den zweiten Grad haben, das Wort «Boas» aus. Ebenso, nicht wahr, wenn beim drit­ten Grad die Leute die Finger gelegt haben auf die Pulsader, dann war das wirklich eine Erkenntnis, daß der Betreffende eine feine Empfin­dung hat. Das merkte man an der Art und Weise, wie der Finger lag an der Pulsader. Das ist später geworden der Griff für den dritten Grad. Die Leute wissen heute nur noch, wenn einer kommt und so die Hand nimmt: das ist ein Freimaurer. Also in diesen Dingen ist eigentlich etwas Altes, Ehrwürdiges, Großes, etwas, worin alle frühere Gelehrsamkeit gelegen ist; das ist jetzt also ganz ins Formale, Abstrakte, Nichtige aus­gegangen. So daß heute der Freimaurerbund solche Dinge hat; er hat auch Zeremonien, einen Kultus: das ist noch aus den Zeiten, wo man alles auch in einem Kultus, in Zeremonien gezeigt hat, damit es den Leuten mehr eindringlich war. Die Freimaurer machen das auch heute noch. So daß in dieser innerlichen Beziehung wirklich der Freimaurer-orden keine Bedeutung mehr hat.

Aber es ist doch so furchtbar langweilig für viele Leute gewesen, wenn solche Bündnisse eingerichtet worden sind, da die Sachen mitzumachen;

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denn eigentlich artete es aus in eine Art Spielerei. Es brauchte also etwas, was man wiederum hineinschüttete, hineingoß in die Frei­maurerei. Und dadurch entstand das, daß dann die Freimaurer mehr oder weniger politisch wurden, oder wiederum mehr oder weniger religiöse Aufklärungslehren verbreiteten. Diejenige Lehre, die Rom gegenüberstand, wurde dann von der Freimaurerei verbreitet. Daher sind Rom, der römische Kultus, und die Freimaurerei die allergrößten Gegner. Das hängt gar nicht mehr zusammen mit dem, was nun der Kultus, Zeichen, Griff und Wort bei den Freimaurern war, sondern das ist eben dazwischen gekommen. In Frankreich nannte man den Bund nicht Bund, sondern «Orient de France», weil alles von dem Orient ge­nommen ist - «Grand Orient de France», das ist der große französische Freimaurerbund. Das andere, Zeichen, Griff und Wort, das ist nur noch, damit die Leute zusammenhalten, das ist das, woran sie sich er­kennen. Der gemeinschaftliche Kultus ist das, wo sie zusammenkommen unter besonders feierlichen Umständen; so wie die andern in der Kirche zusammenkommen, so kommen diese Freimaurer unter Zeremonien, die von alten Mysterien herrühren, zusammen. Das hält die Leute zusammen.

Es war ja auch besonders in Italien zu gewissen Zeiten, wo politische Geheimbünde sich bildeten, Sitte, unter gewissen Zeremonien, Zeichen und Griff, sich zu erkennen und zusammenzukommen. Politische Bünde, politische Vereinigungen haben immer angeknüpft an dieses alte Mysterienwissen. Und es ist heute ganz merkwürdig: Wenn Sie heute zum Beispiel in gewisse polnische oder österreichische Gegenden gehen, finden Sie Plakate; auf diesen Plakaten sind sonderbare Zeichen und sonderbare Buchstaben, die sich dann zu Worten verbinden; man weiß zunächst nicht, was dieses Plakat bedeutet - aber solch ein Plakat, das heute in polnischen und österreichischen Gegenden überall ange­schlagen ist, das ist das äußere Zeichen für einen Bund, der von gewissen nationalistischen Seiten unter der Jugend gebildet wird. Da wird mit denselben Dingen vorgegangen. Es ist das eigentlich weit, weit ver­breitet, und die Leute wissen ganz gut, daß das Zeichen auch eine ge­wisse starke Kraft hat. Es gibt Verbände, die Deutschvölkischen zum Beispiel, die haben ein altes indisches Zeichen: zwei ineinandergeschlun-gene Schlangen, oder auch, wenn Sie wollen, ein Rad, das sich dann so

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umgebildet hat zum Hakenkreuz. Die haben das heute als Abzei­chen. Und Sie werden vielfach hören, daß das Hakenkreuz wieder­um als ein Zeichen angenommen wird für gewisse chauvinistische völkische Kreise. Das ist aus dem Grunde, weil man die Überliefe­rung hat: durch solche Zeichen haben die Alten ihre Herrschaft aus­gedrückt. Und so ist es im großen Maßstabe immer gewesen beim Freimaurerbund. Der Freimaurerbund ist eigentlich dazu da, um ge­wisse Leute zusammenzuhalten, und das tut er durch Zeremonien, durch Zeichen, Griff und Wort. Und dann verfolgt er gewisse Ziele, indem er unter all denen, die unter diesen Zeremonien, Zeichen, Griff und Wort, zusammenkommen, gewisse Geheimnisse bewahrt. Natür­lich, geheime Ziele kann man nur verfolgen, wenn sie nicht alle wissen; und so ist es bei den Freimaurerbünden, daß sie vielfach politische oder kulturelle oder dergleichen Ziele verfolgen.

Nun können Sie aber noch eines sagen, meine Herren. Sehen Sie, die Leute, die in Freimaurerbünden verbunden sind, sind keineswegs des­halb anzufechten, weil sie das tun, sondern manchmal haben sie die allerbesten und edelsten Absichten; sie sind nur der Ansicht: Man kann die Menschen nicht auf eine andere Weise als durch solche Bündnisse für so etwas gewinnen, und daher haben die meisten Freimaurerbünde auch wiederum den Zweck, Wohltätigkeit im großen zu üben. Das ist schön, Wohltätigkeit und Humanität zu üben. Das ist nun auch etwas, was von diesen Bünden in großem Maßstabe ausgeübt wird. Daher ist es kein Wunder, wenn der Freimaurer immer darauf hinweisen kann, daß furchtbar vieles außerordentlich Humanes und Wohltätiges gerade von den Freimaurerbünden getätigt und gegründet wird. Man muß nur immer sich sagen: In der heutigen Zeit sind eigentlich alle solche Dinge nicht mehr zeitgemäß. Denn, nicht wahr, was müssen wir denn heute an solchen Dingen hauptsächlich ablehnen? Wir müssen die Abson­derung ablehnen. Es entsteht dadurch auch bald eine geistige Aristokra­tie, die es nicht geben soll. So daß man also sagen kann: Es ist schon einmal so, daß derjenige, der noch heute verstehen kann, was in man­chen freimaurerischen Zeremonien für den ersten, zweiten und dritten Grad enthalten ist, in dem, was die Freimaurer selber oft nicht ver­stehen, erkennen kann, daß sie oft zurückreichen auf ganz alte Weis­heit;

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aber dieses hat nicht die große Bedeutung. Die große Bedeutung hat dieses, daß eigentlich heute bei vielen freimaurerischen Verbänden, Bündnissen, eben viele politische oder sonstige soziale Wohltätigkeits-bestrebungen leben. Aber bis aufs Messer bekämpfen sich die katho­lische Kirche und die Freimaurer. Das hat sich aber auch im Laufe der Zeit erst herausgebildet.

Nun, diese Dinge kann man natürlich auch leicht verkennen. Und es ist auch das aufgetreten: Die Freimaurer haben eine bestimmte Beklei­dung bei ihren Zeremonien; sie haben zum Beispiel ein Schurzfell aus Lamm, das Lammschurzfell. Da haben manche gesagt: Die Freimaure­rei ist überhaupt nichts anderes als eine Spielerei mit dem Maurerhand­werk, weil der Maurer ein Schurzfell hat. Aber das ist nicht wahr. Und das Schurzfell, das da ist, das ist durchaus dazu da - und es ist durchaus immer ursprünglich so gewesen, nicht erst allmählich so geworden -, um zu zeigen, daß derjenige, der in solchen Bündnissen ist, nicht ein wütender Kerl sein soll in bezug auf die Leidenschaften; es sollen also die Geschlechtsteile bedeckt werden mit seinem Schurz, und das ist das Zeichen dafür. Also es handelte sich da um etwas, was in Zeichen aus­drückte den menschlichen Charakter. Und so ist es mit sehr vielen Zei­chen, die auch in der Bekleidung liegen.

Man hat dann auch höhere Grade, wo ein ganz priesterähnliches Kleid getragen wird; da bedeutet alles einzelne etwas. Zum Beispiel habe ich Ihnen gesagt, daß der Mensch ja außer dem physischen Leib noch einen Ätherleib hat. Und geradeso wie der Priester ein weißes Linnenkleid, ein hemdartiges Gewand hat, um den Ätherleib auszu­drücken, so haben auch gewisse hohe Grade der Freimaurer ein solches Gewand, und für den Astralleib - er ist farbig -, da hat man eine Toga, ein Übergewand; das drückt alles das aus. Und der Mantel, der dann verbunden war mit dem Helm, der drückte aus die Macht des Ich.

Alle diese Dinge führen eben zurück auf alte, sehr sinnreiche Ge­bräuche, die heute ihre Bedeutung verloren haben. Wenn jemand die Freimaurerei gern hat, so soll er das nicht als etwas Abschätziges be­handeln, was ich gesagt habe. Ich wollte nur auseinandersetzen, wie es ist. Es kann natürlich ein Freimaurerorden bestehen, der außerordent­lich gute Menschen in sich vereinigt und so weiter. Und in der heutigen

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Zeit, sehen Sie, da kann so etwas besonders wichtig werden. Wirklich, was heute meistens der Mensch lernt, wenn er Arzt oder Jurist wird -ja, das ergreift sein Herz nicht. Und deshalb werden noch viele Juristen echte Freimaurer, weil sie dann wenigstens die Feierlichkeit der alten Zeremonien haben und etwas, wobei sie sich nicht mehr viel denken können, was aber immerhin noch etwas ist: Zeichen, Griff und Wort, was aber hinweist darauf, daß der Mensch nicht bloß im äußeren Ma­teriellen lebt.

Das ist das, was ich Ihnen sagen wollte. Haben Sie sonst noch irgend etwas, was Sie gerne fragen wollten?

Frage: In Amerika gibt es etwas, das heißt «Ku-Klux-Klan». Wie ist es damit? Können wir von Herrn Doktor etwas darüber hören, was das bedeutet? Man liest immer wieder darüber.

Dr. Steiner: Ja, sehen Sie, der Ku-Klux-Klan, der ist eine der neue­sten Erfindungen auf diesem Gebiet, und zwar eine solche Erfindung, die schon wichtiger genommen werden sollte als man sie gewöhnlich nimmt. Sie wissen ja, meine Herren, daß eigentlich eine Begeisterung für einen gewissen Kosmopolitismus nur war vor einigen Jahrzehnten. Heute ist er zwar noch da, selbstverständlich, unter der Arbeiterschaft, unter dem Sozialdemokratismus - diese sind ein internationales Ele­ment -, aber in den bürgerlichen Kreisen und in andern Kreisen, da nimmt der Nationalismus furchtbar überhand, und die Stimmung für den Nationalismus ist ja stark da. Und Sie werden sich auch erinnern, daß diejenigen Menschen, die hinter Woodrow Wilson standen - er selber war ja nur eine Art Strohmann -, eigentlich gerechnet haben mit diesem Nationalismus, überall nationale Staaten haben wollten, überall den Nationalismus aufstacheln wollten und so weiter. Ja, darüber kann man so seine Ansichten haben! Aber nun gibt es eben Menschen, die ent­wickeln heute überall die Tendenz, den Nationalismus bis auf die Spitze zu treiben. Und in diesem Bestreben, den Nationalismus bis auf die Spitze zu treiben, ist eben in Amerika der Ku - Klux - Klan entstanden. Der arbeitet nun eben durchaus mit solchen Mitteln, wie zum Beispiel Zeichen sind, in dem Sinne, wie ich es gesagt habe.

Wenn man nun gerade wiederum solche Verbindungen ins Auge faßt, dann muß man wissen, daß Zeichen schon auch eine gewisse hypnoti­sierende

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Kraft haben. Sie wissen ja zum Beispiel auch, wenn Sie ein Huhn haben (es wird gezeichnet), dieses Huhn mit dem Schnabel auf die Erde aufstoßen lassen, und Sie zeichnen von da aus einen Kreide­strich, so läuft das Huhn dem Kreidestrich nach! Es ist hypnotisiert, es läuft dem Strich nach! Sie müssen nur erst den Schnabel aufstoßen auf den Anfang, dann läuft es dem Kreidestrich nach, weil es hypnotisiert ist von dem Strich. So hat jedes Zeichen - nicht nur für das Huhn die gerade Linie - eine Bedeutung, eine bestimmte einschläfernde Bedeu­tung, wenn man es darauf anlegt. Und das benützen nun wiederum ge­wisse Geheimverbindungen, um gerade solche Zeichen zu wählen, durch die sie den andern Menschen betören, einschläfern, so daß er seine eigene Urteilskraft nicht geltend macht. Und mit solchen Mitteln ar­beiten extrem namentlich solche Geheimverbindungen. Dazu gehört in Amerika wiederum der Ku-Klux-Klan. Nun ist der Ku-Klux-Klan aus dem Grunde sehr gefährlich, weil solche Verbindungen nicht nur auf das eine Volk ausgehen, sondern sie wollen das nationalistische Prinzip überall haben. Es kann niemand sagen: Der Ku-Klux-Klan braucht bloß eine amerikanische Einrichtung zu bleiben, weil er den Amerika­nismus besonders befördern will. - So sagt der Anhänger des Ku-Klux-Klan nicht; sondern er sagt: Man soll überhaupt den Nationalismus befördern, also den in Ungarn, den in Deutschland, den in Frankreich. -Sehr schön! Nicht auf den Amerikanismus kommt es ihm an, er ist nicht ein Patriot, sondern er sieht in diesem Pochen der Menschen auf den Nationalismus etwas, was, wenn es dann zusammenwirkt bei den ver­schiedensten Nationen, dann bewirkt, was er erreichen will: nämlich die Menschen absolut ins Chaos hineinbringen. Das will er: er will alles ins Chaos hineinbringen! Es ist die reine Zerstörungswut darinnen. Und so ist der Ku-Klux-Klan besonders aus dem Grund gefährlich, weil er sich in allen Ländern ausbreiten kann. Und Sie können nicht sagen, wenn das sich einmal ausbreitet hier in der Schweiz, das sei eine ameri­kanische Einrichtung, sondern es ist dann eine nationale schweize?ische Einrichtung.

Und so waren im Grunde auch die freimaurerischen Bündnisse; sie waren international, aber für die einzelnen Länder immer national. Aber darauf gaben sie nicht viel, sondern sie haben es mehr der Außenwelt

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gegenüber getan, daß sie mitmachten, was in der Außenwelt war. Und man kann nun sagen: Aber sind denn solche Menschen nicht ei­gentlich wahnsinnig, die aufrütteln wollen so etwas wie ein absolut nationalistisches Prinzip, und die da alles zerstören wollen? Das kann man eigentlich auch nicht sagen. Natürlich, wenn man frägt, heißt es:

Selbstverständlich macht man solche Sachen nicht mit. - Aber die Leute sagen sich: Es ist alles so verdorben heute - die Führenden sagen sich das bei den andern, die nachlaufen -, das ist ja den andern ganz einerlei, so daß es gar keinen Sinn hat, die Dinge zu pflegen, die heute da sind. Man muß erst die Menschheit wie eine wirre Masse behandeln. Dann werden die Menschen wieder zu sich kommen, und dann werden sie wiederum etwas Ordentliches lernen. Also eine Idee haben die Leute schon, und namentlich der Ku-Klux-Klan hat eine Idee in dieser Be­ziehung.

Sie meinen: nicht?

Der Fragesteller: Doch! aber das ist komisch!

Dr. Steiner: Sehen Sie, viele Dinge sind im Kulturleben komisch, und wir haben ja auch schon Dinge erwähnt, die komisch aussahen. Aber das Komische ist manchmal recht gefährlich. Es scheint einem komisch, aber es ist manchmal außerordentlich gefährlich.

Nun, meine Herren, muß ich morgen im Laufe des Tages wiederum -nach Breslau - verreisen. Ich werde dann sagen, wann wir die nächste Vortragsstunde haben werden.

SIEBZEHNTER VORTRAG Dornach, 25. Juni 1924

#G353-1968-SE280 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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SIEBZEHNTER VORTRAG

Dornach, 25. Juni 1924

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Guten Morgen, meine Herren! Vielleicht ist Ihnen etwas eingefallen in der etwas längeren Zeit - eine besondere Frage?

Frage über die Wesenheit der verschiedenen Hierarchien und ihre Einwirkung auf die Menschheit.

Dr. Steiner: Das ist natürlich, wie ich glaube, eine Sache, die für die­jenigen Herren, die heute zum erstenmal da sind, etwas schwierig, etwas unverständlich sein wird, weil man dazu etwas wissen sollte von dem, was schon in den Vorträgen, die gehalten worden sind, vorgebracht worden ist. Aber ich will doch auf die Sache eingehen und sie möglichst verständlich behandeln.

Sehen Sie, wenn Sie den Menschen betrachten, wie er da auf der Erde steht und geht, so hat der Mensch alle Naturreiche eigentlich in sich. Der Mensch hat zunächst das Tierreich in sich; er ist in einem ge­wissen Sinne auch tierisch organisiert. Das können Sie ja schon daraus sehen, daß der Mensch zum Beispiel, sagen wir, Oberschenkel-, Ober­armknochen hat, die man ähnlich auch bei den höheren Tieren findet; aber wenn man die Sache gut erkennen kann, findet man sie auch bei den niederen Tieren verwandt oder doch ähnlich gestaltet. Und bis in die Fische hinein kann man ungefähr sehen, was einem Knochen des Menschen beim Fisch entspricht. Dasselbe, was man so sagen kann für das Knochensystem, kann man auch sagen für das Muskelsystem, auch für die inneren Organe. Wir finden beim Menschen einen Magen - wir finden in der entsprechenden Weise auch bei den Tieren einen Magen. Kurz, wir finden dasjenige, was im Tierreich ist, auch im menschlichen Leibe vor.

Das hat dazu geführt, daß man den Menschen überhaupt nach der materialistischen Anschauung für ein höherentwickeltes Tier angesehen hat. Aber das ist er nicht; sondern der Mensch entwickelt drei Dinge, die das Tier nicht aus seinem Organismus heraus entwickeln kann. Das eine ist, daß der Mensch aufrecht gehen lernt. Schauen Sie sich nur diejenigen

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Tiere an, die so halbwegs aufrecht gehen lernen, so werden Sie schon den beträchtlichen Unterschied zwischen ihnen und dem Men­schen sehen. Bei den Tieren, die so etwas aufrecht gehen, zum Beispiel beim Känguruh, werden Sie schon sehen, wie die vorderen Gliedmaßen, mit denen es nicht auftritt, verkümmert bleiben. Die vorderen Glied­maßen sind eben beim Känguruh nicht zur freien Handhabung einge-richtet. Und beim Affen können wir erst recht nicht sagen, daß er in dieser Beziehung menschenähnlich sei; denn wenn der auf die Bäume hinaufsteigt, geht er ja nicht, sondern er klettert. Er hat eigentlich vier Hände, er hat nicht zwei Füße und zwei Hände. Bei ihm sind die Füße händeähnlich gestaltet, gebildet; er klettert. Also der aufrechte Gang ist das erste, was den Menschen vom Tiere unterscheidet.

Das zweite,was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die Sprach-fähigkeit. Und die Sprachfähigkeit hängt mit dem aufrechten Gang zu­sammen. Daher werden Sie finden, daß da, wo wiederum das Tier so etwas Ahnliches kriegt wie die Sprachfähigkeit - es kriegt sie nicht, nun, etwa der Hund, der verhältnismäßig ein sehr intelligentes Tier ist, sondern es kriegt sie zum Beispiel der Papagei, der etwas aufrecht ge­richtet ist -, Sie werden finden, daß das Tier dann aufgerichtet ist. Die Sprache hängt ganz zusammen mit diesem Aufgerichtetsein.

Und das dritte ist eben der freie Wille, zu dem das Tier auch nicht kommen kann, sondern das Tier ist abhängig von seinen inneren Vor­gängen. Das sind eben Dinge, die beim Menschen die ganze innere Or­ganisation ausmachen und sie menschlich gestalten.

Aber der Mensch trägt trotzdem die Tierheit in sich. Er hat also die­ses tierische Reich eben in sich.

Das zweite, was der Mensch in sich trägt, ist das pflanzliche Reich. Was kann der Mensch dadurch, daß er das Tierreich in sich trägt? Sehen Sie, das Tier empfindet - der Mensch auch; die Pflanze empfin-det nicht. Zwar hat wiederum eine merkwürdige Wissenschaft der Ge­genwart - ich habe das schon einmal hier erwähnt - die Anschauung, eine Pflanze könne auch empfinden, weil es nämlich eine Pflanze gibt, die sogenannte Venusfliegenfalle zum ßeispiel: Wenn da ein Insekt in die Nähe kommt, so klappt, wenn das Insekt herangeflogen ist, diese Venusfliegenfalle ihre Blätter zu und verschlingt das Insekt. Das ist

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eine sehr interessante Erscheinung. Aber wenn einer sagt: Diese Pflanze, diese Venusfliegenfalle, die muß das Insekt spüren, also wahrnehmend empfinden, wenn es in die Nähe kommt, so ist das gerade ein solcher Unsinn, wie wenn einer sagt: So ein ganz kleines Ding, das ich her-richte dazu, daß wenn eine Maus in die Nähe kommt, es zuklappt -eine Mausefalle, die hätte auch eine Empfindung, daß die Maus herein­kommtl Also mit solchen wissenschaftlichen Meinungen ist es nicht weit her, sie sind eben ein einfacher Unsinn. Die Pflanzen empfinden nicht. Ebensowenig bewegen sich Pflanzen frei.

Das also, was beim Menschen an Empfindung und Bewegung ist, das hat er mit dem Tier gemein; da trägt er die Tierheit in sich. Erst wenn er verständig denkt - was ja das Tier nicht kann -, ist er dadurch Mensch. Weiter trägt der Mensch das ganze Pflanzenreich in sich. Die Pflanzen bewegen sich nicht, aber sie wachsen. Die Pflanzen empfinden nicht, aber sie ernähren sich. Der Mensch wächst und ernährt sich auch. Das macht in ihm das Pflanzenreich. Diese Pflanzenkraft trägt der Mensch eben auch in sich, wenn er schläft. Die Tierheit legt er ab, wenn er schläft, denn er empfindet nicht und bewegt sich nicht, wenn er nicht gerade ein Nachtwandler ist, und das beruht eben auf abnormer Ent­wickelung. Da legt er nicht die vollständige Bewegung ab, da ist er krank; aber im normalen Zustand läuft ja der Mensch im Schlaf nicht herum und empfindet auch nicht. Wenn er empfinden soll, wacht er auf. Schlafend kann er nicht empfinden. Der Mensch trägt allein auch im Schlafe die Pflanzenwesenheit in sich.

Und die mineralische Wesenheit, die tragen wir auch in uns; die ist zum Beispiel in unseren Knochen enthalten. Die leben zwar etwas, aber sie enthälten das Leblose von kohlensaurem Kalk. Wir tragen das mine­ralische Reich in uns. Wir haben sogar im Gehirn den Gehirnsand. Der ist mine ralisch. Wir tragen das Mineralreich auch in uns. - Wir tragen also das Tierreich, wir tragen das Pflanzenreich, wir tragen das mine­ralische Reich in uns.

Aber damit ist es beim Menschen nicht abgetan. Wenn der Mensch eben bloß Mineral, Pflanze und Tier in sich tragen könnte, so wäre er wie ein Tier, würde er wie ein Tier herumlaufen, denn das Tier trägt auch Mineral, Pflanze und Tier in sich. Natürlich, der Mensch steht

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nicht nur zu diesen drei Reichen der Natur in Beziehung, die sichtbar sind, sondern er steht auch zu andern Reichen in Beziehung.

Nun will ich Ihnen dies schematisch aufzeichnen. Denken Sie sich einmal, das wäre der Mensch (siehe Zeichnung); jetzt steht er in Be­ziehung zum mineralischen Reich, zum Pflanzenreich, zum Tierreich.

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Aber er ist ein Mensch. Sie können sagen: Nun, die Tiere, die kann man zähmen. Das ist schon recht; aber haben Sie es schon einmal erlebt, daß ein Ochs von einem Ochsen gezähmt worden ist? Oder ein Pferd von einem Pferd? Die Tiere, wenn sie auch gezähmt werden, also dadurch gewisse Fähigkeiten erlangen, die man entfernt mit menschlichen Fähig­keiten vergleichen kann, die müssen eben von Menschen gezähmt wer-den! Nicht wahr, eine Hundeschule, wo die Hunde sich selber unter­richten und zahme Hunde machen aus wilden Hunden, die gibt es ja nicht; da müssen die Menschen eingreifen. Und selbst wenn man meinte,

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man könne den Materialisten alles mögliche zugeben, man müsse nur ihre eigenen Gedankengänge fortsetzen - man kann ihnen alles zu­geben, meinetwillen kann einer sagen: der Mensch, wie er jetzt ist, war ursprünglich ein Tier und ist gezähmt worden -, so könnte ihn doch nicht das Tier, das er ursprünglich war, selber gezähmt haben! Das geht doch nicht, sonst könnte auch ein Hund einen Hund zähmen. Das geht nicht. Also müssen ursprünglich Wesen dagewesen sein, die mögen jetzt woanders sein, aber trotzdem müssen ursprünglich Wesen dagewesen sein, die den Menschen auf seine jetzige Höhe heraufgebracht haben. Und diese Wesen können den drei Reichen der Natur nicht angehören. Denn wenn Sie sich jetzt vorstellen, daß Sie jemals von einer Giraffe gezähmt würden, zum Menschen gemacht würden, wenn Sie wie ein kleines Tierchen in der Kindheit. noch sind: ebensowenig, wie dies mög­lich wäre, ebensowenig könnten Sie von einer Eiche gezähmt werden. Das glauben ..h~chstens die Deutschvölkischen, die annehmen, daß die Eiche, die heilige Eiche die Menschen gezähmt habe. Und, sehen Sie, die Mineralien erst recht nicht; der Bergkristall ist schön, aber zähmen kann er den Menschen erst recht nicht. Da müssen andere Wesen da­gewesen sein, andere Reiche noch.

Nun, alles wird beim Menschen ins Höhere hinaufgerufen. Das Tier hat die Möglichkeit, Vorstellungen zu haben, aber es denkt nicht. Die Vorstellungen bilden sich in den Tieren. Aber diese Tätigkeit des Den­kens hat das Tier nicht. Der Mensch hat diese Tätigkeit des Denkens. Und so kann 4er Mensch zwar seine Blutzirkulation aus dem Tierreich haten, aber er kann sein Denkorgan nicht aus dem Tierreich haben. So daß man sagen kann: Der Mensch denkt, er fühlt, er will. Das alles geschieht in freier Weise. Und das wird ja alles anders dadurch, daß der Mensch ein aufrechtes und sprechendes Wesen ist.

Denken Sie, wie Sie anders wollen müßten, wie alles Wollen anders wäre, wenn Sie so wie im. ersten Lebensjahr auf allen vieren herum-kriechen znüßten; es wäre doch wirklich alles menschliche Wollen anders. Und zum Denken würden Sie überhaupt nicht kommen. Und ebenso wie die Dinge, die wir im physischen Leib tragen, uns mit den drei Reichen der Natur verbinden, so verbinden uns Denken, Fühlen und Wollen mit drei andern Reichen, mit übersinnlichen, mit unsichtbaren

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Reichen. Namen muß man fur alles haben So wie wir Minera lien, Pflanzen und Tiere die Naturreiche nennen so nennen wir die jenigen Reiche; die beim Menschen das Denken Fuhlen und Wollen so bewirken, daß sie frei sind eben Hierarchien So daß wir also hier haben: Näturreiche, durch das iagt der Mensch in die Natur hinein; und hier haben wir: Hierarchien. Sehen Sie, geradeso wie der Mensch in drei Naturreiche hineinreicht, sö reicht er in drei Geistesreiche hin­ein. Mit seinem Denken reicht er hinein in die Hierarchie -. nun, sehen Sie, da gibt es heute noch keinen Namen dafür. Weil der Materialismus auf diese Sache keine Rücksicht nimmt, gibt es noch keinen Namen dafür; also mussen wir sie benennen mit den alten Namen: Angeloi, Engel. Da wird man gleich verschrieen als abergläubisch. Gewiß, wir haben heute in der Sprache nicht mehr recht die Möglichkeit, Namen zu finden, weil die Menschen die Fähigkeit verloren haben, zu empfin­den bei den Lauten; aber nur so lange konnten die Sprachen gebildet werden, als die Menschen bei den Lauten noch etwas empfunden haben. Heute redet ein jeder von Ball, von Fall, von Kraft; da ist überall ein A drinnen, in jedem dieser Worte ist ein A drinnen. Aber was ist denn ein A? Ein «Ah» ist ja der Ausdruck des Gefühls! Denken Sie, wenn Sie hier plötzlich sehen würden daß da einer von draußen das Fenster auf machte und hereinguckte was das bewirkt weil das jetzt nicht sein soll, wären Sie erstaunt wahrscheinlich wurde ein großer Teil von Ihnen mit Ah! das Erstaunen ausdrucken wenn er sich nicht genieren würde, es zu tun. A ist immer der Ausdruck des Erstaunens So ist bei jedem Buchstaben irgendein Ausdruck da von irgend etwas. Und wenn ich sage: «Ball», so brauche ich A deshalb, weil ich erstaunt bin, wenn ich den Ball schmeiße, wie er sich merkwürdig benimmt; oder wenn das einen Tanzball bedeutet, so bin ich auch erstaunt, wie das durcheinan­derwirbelt! Nur ist es so geworden, daß es die Menschen nach und nach gewohnt sind, so daß sie gar nicht mehr erstaunt sind; so könnte man es auch Bull oder Bill nennen aber ja nicht mehr Ball Nun nehmen wir «Fall». Wenn einer irgendwo herunterplumpst kann man auch sagen:. Ah! - Und das andere was bedeutend ist ist eben in dem F drinnen. «Kraft»: wenn einer eine Kraft anwendet die ihn selber stoßt Ah: überall, wo das Erstaunen auftritt ist eben das A drinnen

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Und bedenken Sie: Sie haben die Ansicht, daß irgendwie dasjenige, was Denken ist, in Ihrem Kopfe sitzt. Wenn Sie aber plötzlich wahrneh­men würden, daß zu Ihrem Denken ebenso geistige Wesenheiten ge­hören, wie zu Ihrem Empfinden und Fühlen auf der Erde Tiere sein müssen, damit Sie die Tierheit in sich haben können, dann würden Sie auch erstaunt sein, würden also, wenn Sie dieses Erstaunen aus­drücken, ein Wort haben müssen, das das A enthält. Sie würden also diese Denkwesen, die man einmal Angeloi genannt hat, auch mit einem A benennen können, und das, daß die die Macht des Denkens haben, würden Sie mit demjenigen Buchstaben benennen, der Macht ausdrückt in einer gewissen Weise: L; und die Macht, die wirkt, wür­den Sie vielleicht mit einem B bezeichnen. Das Wort «Alb>, das schon einmal Verwendung gefunden hat für etwas Geistiges, das würde für diese Wesen, die mit dem Denken zu tun haben, ebensogut ein Zeichen werden können, wenn es nicht für den Alpdruck bloß gebraucht würde, wo es krankhaft ist. Also die Hierarchien sind eben Reiche, in die der Mensch hineinreicht, die er in sich trägt, geradeso wie er die Reiche der Natur in sich trägt; und diese Wesen, die älso damit zu tun haben, die man Alb oder Engel genannt hat, das sind diejeni­gen, die mit dem Denken zu tun haben>

Dagegen mit dem Fühlen im Menschen, da haben tierische Wesen zu tun. Nun, sehen Sie, wenn man ein bißchen aufmerksam ist, wenn man nicht gleich wild wird von vornherein, wenn von Geistigem die Rede ist, also wenn man sich eben darauf einläßt, daß von Geistigem die Rede sein kann, so kommt man schon auf manches - auch wenn man noch nicht mit Geistesforschung, wie es bei der Anthroposophie der Fall ist, vorgehen kann> Denken Sie sich doch einmal, daß, wenn Sie fühlen wollen, Sie eine gewisse Wärme in sich haben müssen! Der Frosch fühlt viel weniger lebhaft als der Mensch, weil er nicht so warmes Blut hat; man muß wirklich Wärme in sich haben, wenn man fühlt. Aber die Wärme, die man in sich hat, kommt ja von der Sonne! Und so kann man sagen: Auch das Fühlen steht in Verbindung mit der Sonne - nur geistig> Die physische Wärme steht mit der physischen Sonne, das Füh­len, das mit der physischen Wärme zusammenhängt, steht mit der gei­stigen Sonne in Zusammenhang. Diese zweite Hierarchie, die mit dem

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Fühlen zu tun hat, die wohnt also in der Sonne> Man kann unbedingt darauf kommen, wenn man nur ein wenig nicht aufs Gehirn gefallen ist, wie es heute eben viele sind - die Wissenschafter insbesondere -, da kommt man darauf: Die zweite Hierarchie, das sind die Sonnenwesen> Und weil die Sonne nur nach außen sich offenbart in Licht und Wärme -das Innere der Sonne kennt ja kein Mensch, denn wenn die Physiker wirklich auf die Sonne kommen würden, würden sie höchst erstaunt sein darüber, daß die Sonne gar nicht so ausschaut, wie sie gewöhnlich meinen! -, denken sie sich, die Sonne ist ein glühender Gasball> Das ist sie gar nicht; sie ist eigentlich aus lauter saugenden Kräften bestehend; hohl ist sie, leer nicht einmal, aber saugend. Also nach außen offenbart sie sich als Licht, als Wärme; die Wesen, die drinnen sind, haben im Griechischen «Offenbarungswesen> geheißen. Wo man noch etwas wußte von den Dingen - denn die alte instinktive Wissenschaft war noch viel gescheiter als die heutige -, da hat man diese Wesen, die sich offenbaren von der Sonne aus, Exusiai genannt. Wir können ebensogut auch sagen: Sonnenwesen. Wir müssen nur wissen, daß wenn man vom Fühlen spricht, man in das Reich der Sonnenwesen hineinkommt> Gerädeso wie wenn ich sage: Der Mensch hat in sich Wachstums- und Ernährungskräfte, also das Pflanzenreich in sich, so muß ich sagen:

Der Mensch hat in sich die Kräfte des Fühlens, also Kräfte des geistigen Sonnenreichs, der zweiten Hierarchie.

Und das dritte ist die erste Hierarchie, die zu. tun hat mit dem menschlichen Willen, wo der Mensch am kräftigsten wird, wo er nicht bloß sich bewegt, wo er seine Taten ausdrückt. Das steht im Zusammen­hang mit denjenigen Wesen, die geistig in der ganzen Welt draußen sind, und die überhaupt die höchsten geistigen Wesen sind, die wir kennenlernen können. Wir nennen sie wiederum mit griechischen oder hebräischen Namen, weil wir deutsche noch nicht haben, oder über­haupt die Ausdrücke im Sprachlichen noch nicht haben: Throne, Che­rubim, Seraphim. Das ist das oberste Reich.

So gibt es drei Reiche im Geistigen, wie es drei Reiche in der Natur gibt> So wie der Mensch es mit den drei Reichen der Natur zu tun hat, so hat er es auch mit den drei Reichen des Geistigen zu tun.

Nun werden Sie sagen: Ja, aber das kann ich glauben oder nicht,

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denn diese drei Reiche sind ja nicht sichtbar, nicht wahrnehmbar. Ja, aber, meine Herren, ich habe schon Leute kennengelernt, denen hat man begreiflich machen sollen, daß es eine Luft gibt! Das hat er nicht ge­glaubt, daß da Luft wäre> Wenn ich ihm sage: Da ist eine Tafel - das glaubt er, denn da kann er hingehen und stößt an, wenn er hingeht. Da stößt er sich an der Tafel an, oder wenn er mit dem Auge hinschaut, da sieht er die Tafel, aber er stößt sich nicht an der Luft. Er guckt und sagt: Da ist doch nichts da> Dennoch gibt heute schon jeder die Luft zu. Sie ist eben da. So wird es auch kommen, daß die Leute das Geistige zugeben> Heute noch sagen die Menschen: Nun, das Geistige ist eben nicht da -, wie die Bauern früh.er gesagt haben: Die Luft ist nicht da. -In meiner Heimat sagten die Bauern: Die Luft ist ja gar nicht da - das sagen nur die Großkopfeten in der Stadt, die so gescheit sein wollen; da kann man ja durchgehen, da ist gar nichts, weil man durchgehen kann! - Aber das ist lange her. Heute wissen die Bauern auch schon, daß es Luft gibt> Heüte wissen aber die gescheitesten Leute noch nicht, daß überall geistige Wesen sind! Das werden sie aber seinerzeit schon zugeben, weil sie sich eben gewisse Dinge sonst nicht erklären können, die eben auch erklärt werden müssen.

Wenn heute einer sagt: In alle dem, was da ist als Natur, da ist kein Geist drinnen; es ist alles darinnen, was die Naturwissenschaft von der Natur weiß, sonst ist nichts darinnen in der Natur - ja, wer so sagt, der ist gerade so, als wenn da ein gestorbener Mensch liegt, ein Leichnam, und ich komme und sage: Du fauler Kerl, warum stehst du denn nicht auf und gehst nicht! - Ich gebe mir Mühe, ihm begreiflich zu machen, daß er nicht so faul sein und aufstehen soll. Ja, da bin ich unverständig, weil ich glaube, da drinnen sei der lebendige Mensch. Und so ist es:

Alles das, was der Naturforscher dadrinnen finden kann, das findet er im Leben nicht, das findet er im Toten; er findet draußen in der Natur auch überall das Tote> Dasjenige, was lebt, findet er noch; nicht aber findet er auf diese Weise dasjenige, was geistig ist. Aber deshalb ist es doch da.

Das also wollte ich auf diese Frage sagen, die gestellt wurde im Zu­sammenhang mit den Hierarchien.

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Herr Burle: Herr Doktor hat in früheren Vorträgen über das Wissen der Geistes­wissenschaft von den alten Völkern gesprochen> Das ist heute der Menschheit ver­lorengegangen. Ob uns Herr Doktor erklären könnte, wieso das gekommen ist? Ob da bloß der Materialismus schuld war?

Dr. Steiner: Wieso das alte Wissen untergegangen ist? Ja, sehen Sie, das ist schon eine sehr merkwürdige Tatsache. Nicht so wie wir heute, aber in einer künstlerischen, poetischen Form, in einer dichterischen Form hatten die alten Menschen, unsere Vorfahren, in Urzeiten ein großes Wissen, und dieses Wissen ist, wie Herr Burle ganz richtig sagt, der Menschheit verlorengegangen. Nun können wir fragen, wodurch dieses Wissen verlorengegangen ist. Natürlich können wir nicht sagen, daß da bloß der Materialismus daran schuld sei; denn wenn alle Men­schen noch das alte Wissen hätten, so wäre der Materialismus ja nicht entstanden. Eben gerade weil das alte Wissen verlorengegangen ist und die Menschen geistig zu Krüppeln geworden sind, haben sie den Mate­rialismus erfunden. Also der Materialismus kommt von dem Untergang des alten Wissens - nicht, daß man sagen kann, der Untergang des alten Wissens käme vom Materialismus. Also wovon kommt in Wirklichkeit der Untergang des alten Wissens?

Ja, meine Herren, der kommt davon, daß die Menschheit in Wirk­lichkeit in einer Entwickelung begriffen ist. Natürlich, man kann den Menschen, der jetzt da ist, sezieren; wenn er stirbt, können Sie einen Menschen sezieren. Da können Sie Kenntnisse gewinnen über die Art und Weise, wie der Mensch halt jetzt in der Gegenwart zusammen­gesetzt ist> Von alten Zeiten sind ja höchstens vorhanden, nun, die Mumien in Ägypten, von denen wir neulich gesprochen haben; nur sind die einbalsamiert, da kann man doch nicht mehr richtig sezieren. Also wie der Mensch ausgesehen hat in früherer Zeit, namentlich in der Zeit, als er feiner gebaut war, davon können sich die Menschen jetzt wissen­schaftlich gar keinen Begriff machen durch bloße äußere Forschung; da muß man schon auch durch Geistesforschung eindringen. Und da kommt man aber darauf, daß der Mensch in alten Zeiten gar nicht so wär wie heute.

Es gab Zeiten auf der Erde, da haben die Menschen nicht so feste Knochen gehabt, wie wir sie heute haben; da haben die Menschen

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Knochen gehabt, wie sie heute nur noch die rachitischen Kinder haben, die weiche Knochen haben, so daß sie 0- oder X-Beine kriegen und überhaupt schwach sind> Sie können ja sehen, daß es solche weiche Knochen geben kann, denn bei den Knorpelfischen sind sie heute noch vorhanden. Solche Knochen haben die Menschen einmal gehabt, denn das Knochengerüst war einmal weich. Nun werden Sie sagen: Da müs­sen ja die Menschen alle herumgegangen sein mit X- oder 0-Beinen, und alles müßte krumm gewesen sein, wenn die Knochen weich ge­wesen sind!

Das wäre natürlich dann der Fall gewesen, wenn auf unserer Erde immer dieselbe Luft gewesen wäre wie heute. Aber das war es ja nicht; die Luft war nämlich viel dicker in alten Zeiten. Sie ist viel dünner ge­worden> Und die Luft hat viel mehr Wasser enthalten in alten Zeiten als heute. Die Luft hat auch viel mehr Kohlensäure enthalten. Die ganze Luft war also dicker. - Jetzt kommen Sie schon darauf, daß die Men­schen auch dazumal mit ihren weichen Knochen haben leben können; denn wir müssen unsere heutigen Knochen nur deshalb haben, weil uns die Luft ja gar nicht mehr trägt. Eine dickere Luft trägt die Menschen> Das Gehen in jenen alten Zeiten war früher viel ähnlicher einem Schwimmen, als das heute ist. Das heutige Gehen ist ja etwas furchtbar Maschinelles: wir setzen ein Bein auf - das muß richtig stehen wie eine Säule -, wir setzen das zweite Bein auf. So gingen die Menschen in der Urzeit nicht, sondern sie spürten, geradeso wie einer im Wasser sich tragen läßt, die wasserhaltige Luft; da konnten sie ihre weichen Kno­chen haben. Aber wenn da die Luft eben dünner geworden ist - und das kann man schon in der äußeren Wissenschaft wissen, daß da die Luft dünner geworden ist -, da bekamen erst die harten Knochen einen Sinn; da sind erst die harten Knochen entstanden. Natürlich, früher wär die Kohlensäure draußen, die Luft enthielt sie; heute, wo auch die Luft dünner ist, tragen wir den kohlensauren Kalk in uns; dadurch sind die Menschenknochen hart geworden. So hängen die Dinge zusammen.

Aber wenn die Knochen hart werden, werden auch die andern Dinge beim Menschen hart, so daß der Mensch, der weichere Knochen hatte, auch eine weichere Gehirnmasse hatte> Überhaupt wär der Schädel in den alten Zeiten auch ganz anders geformt. Sehen Sie, er war mehr so

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geformt, wie heute die Wasserköpfe geformt sind; das war dazumal schön, ist heute nicht mehr schön. Und so, wie es das ganz kleine Kind im Mutterleib hat, so behielt er seinen Kopf, weil er eine weiche Ge­hirnmasse hatte, und das weiche Gehirn lädt sich ab in den Vorder­schädel> Alles war weicher am Menschen>

Nun, meine Herren, wenn der Mensch weicher war, so wären auch seine Seelenfähigkeiten andere. Mit einem weichen Hirn kann man viel geistiger denken, als wenn man ein hartes Hirn hat> Das haben die Men­schen noch gefühlt; die haben einen Menschen, der immer nur dasselbe denken kann und wenig annimmt und daher eigensinnig immer bei dem einen bleibt, einen Dickschädel genannt. In diesem Gefühl liegt schon das, daß man eigentlich besser denken, bessere Vorstellungen haben kann, wenn man ein weiches Hirn hat. Die Urmenschen haben solch ein weiches Hirn gehabt.

Aber etwas anderes hatten diese Urmenschen wiederum. Wir können ja wirklich sagen: Wenn ein Kind geboren wird, so ist sein Schädel mit seinem weichen Gehirn und sind sogar die Knochen noch ähnlich - die Knochen nicht mehr so stark, aber das Gehirn ist sehr stark ähnlich dem, wie es beim Urmenschen war. Aber setzen oder legen Sie einmal ein kleines Kind hin: es kann sich nicht von der Stelle rühren, sich nicht selber ernähren und dergleichen, es kann nichts! Dafür mußte von höheren Wesen gesorgt werden, als die Menschen noch dieses weiche Gehirn hatten> Und die Folge davon war, daß die Menschen dazumal keine Freiheit hatten. Diese Menschen hatten große Weisheit, aber gar keinen freien Willen> Aber in der menschlichen Entwickelung kommt allmählich der freie Wille heraus> Dazu müssen sich die Knochen und das Hirn verhärten. Aber in der Verhärtung nimmt wiederum die alte Erkenntnis ihren Untergang. Wir wären keine freien Menschen ge­worden, wenn wir nicht Dickschädel geworden wären, Hartschädel, Schädel mit den harten Gehirnen bekommen hätten. Dem verdanken wir unsere Freiheit. Und so kommt eigentlich der Untergang des alten Wissens mit der Freiheit. Das ist es. Ist es verständlich? ( Antwort: Ja!) Es kommt mit der Freiheit!

Jetzt aber haben die Menschen, während sie sich auf der einen Seite die Freiheit errungen haben, das alte Wissen verloren, sind dem Materialismus

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verfallen. Aber der Materialismus ist nicht die Wahrheit. Daher müssen wir wieder zur geistigen Erkenntnis kommen, trotzdem wir heute ein dichteres Gehirn haben als die Urmenschen. Das können wir eben nur durch die anthroposophische Geisteswissenschaft, die zu Erkenntnissen kommt, die vom Körper unabhängig sind, die mit der Seele ganz allein erkannt werden. Die alten Menschen hatten ihre Kenntnise dadurch, daß ihr Gehirn weicher war, das heißt, seelenähn­licher war; und wir haben unseren Materialismus, weil unser Hirn hart geworden ist, die Seele nicht mehr aufnimmt> Nun müssen wir eben mit der Seele allein, die nicht vom Hirn aufgenommen ist, geistige Erkennt­nisse gewinnen. Das tut die Geisteswissenschaft> Man kommt wiederum zurück zu den geistigen Erkenntnissen. Aber wir leben jetzt in dem Zeitalter, wo sich die Menschheit durch den Materialismus die Freiheit erkauft hat. Deshalb kann man nicht sagen, daß der Materialismus, wenn er auch die Unwahrheit ist, etwas Schlechtes ist> Der Materialis­mus, wenn er nicht übertrieben wird, ist eben nichts Schlechtes, sondern durch den Materialismus lernte die Menschheit sehr viel kennen, was sie früher nicht kannte> Das ist es.

Nun ist noch eine Frage schon vorher schriftlich gestellt worden:

Ich habe in Ihrer «Philosophie der Freiheit» den Satz gelesen: «Erst wenn wir den Weltinhalt zu unserem Gedankeninb alt gemacht haben, erst dann finden wir den Zu­sammenhang wieder, aus dem wir uns selbst gelöst haben>»

Das hat der Herr also gelesen in der «Philosophie der Freiheit»> Er stellt nun die Frage: Welches gehört zu diesem Weltinhalt, da doch alles, was wir sehen, nur insofern da ist, daß es gedacht wird? Und dann wird angeführt: Kant erklärt, daß der Verstand unfähig ist, dasjenige zu begreifen, welches die erscheinende Ursachenwelt vor der Erfah­rungswelt ist.

Nun, sehen Sie, meine Herren, das ist so: Wenn wir geboren werden, ein kleines Kind sind, dann haben wir Augen, haben Ohren, wir sehen und hören, das heißt, wir nehmen wahr die Dinge, die außer uns sind. Der Stuhl, der da steht, wird vom Kind noch nicht gedacht, aber wahr­genommen> Der schaut für das Kind geradeso aus wie für den Erwach­senen, nur denkt das Kind den Stuhl noch nicht> Nehmen wir nun an,

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durch irgend etwas könnte das ganz kleine Kind, das noch keine Ge­danken hat, schon reden; dann wäre - das ist man ja heute gewöhnt, wo ja auch die gedankenlosen Menschen am meisten kritisieren - das Kind schon geneigt zu kritisieren, alles also zu kritisieren> Ich bin sogar überzeugt, wenn ganz kleine Kinder, die noch nicht denken könnten, zum Beispiel viel schwätzen könnten, so würden sie die stärksten Kri­tiker werden> Nicht wahr, im uralten Indien, da haben überhaupt kritisieren, urteilen dürfen nur diejenigen, die schon sechzig Jahre alt waren; den andern ist noch kein Urteil zugestanden worden, weil man sagte: sie haben keine Welterfahrung. Nun, ich will das weder vertei­digen, noch selber kritisieren, sondern ich will es Ihnen nur erzählen, daß das so war. Nun, heute würde einen natürlich jeder Mensch aus­lachen, der zwanzig Jahre alt geworden ist, wenn man ihm sagen wollte, er müßte mit seinem Urteil warten, bis er zu einem Sechzigjährigen ge­worden ist! Das tun die heutigen jungen Leute nicht; sie warten über­haupt nicht, sondern sobald sie irgendwie überhaupt nur eine Feder führen können, fangen sie ja schon an für Zeitungen zu schreiben, alles zu beurteilen. In dieser Beziehung haben wir es heute schon weit ge­bracht. Aber ich bin überzeugt, wenn die ganz kleinen Kinder sprechen könnten - oh, die wären strenge Kritiker! So ein Halbjähriger, Donner­wetter, was würde der alles kritisieren an unseren Handlungen, wenn er zum Reden gebracht werden könnte!

Nun, sehen Sie, zu denken fangen wir halt erst später an! - Wie wär denn das Sprache-Bilden? Nun, denken Sie sich einmal so ein halb­jähriges Kind, das noch nicht den Gedanken des Stuhles haben kann, aber den Stuhl geradeso sieht wie wir, das würde über den Stuhl disku­tieren. Jetzt sagten Sie: Ich habe auch den Gedanken des Stuhles; in dem Stuhle ist Schwerkraft, dadurch steht er auf dem Boden; an dem Stuhl ist etwas geschnitzt worden, dadurch hat er eine Form. Der Stuhl hat in sich eine gewisse innere Konsistenz, dadurch kann ich mich dar­auf setzen, falle nicht herunter, wenn ich mich darauf setze und so weiter. Ich habe den Gedanken des Stuhles. Ich denke mir etwas beim Stuhl. - Das tut das halbjährige Kind nicht, das denkt dies alles nicht. Ich komme also und sage: Der Stuhl hat feste Formen, hat eine Schwere. - Das halbjährige Kind, das noch nicht diesen Gedanken hat,

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sägt: Du bist ein dummer Kerl, du bist dumm geworden, weil du so alt geworden bist> Dasjenige, was der Stuhl ist, das wissen wir eben, wenn wir hälbjährig sind; später macht ihr euch allerlei phantastische Ge­danken darüber. - Ja, so wäre es, wenn das Kind mit einem halben Jahr reden könnte; das würde so sagen! Und was wir eben erst im Laufe des Alters können - sagen wir, daß wir bei dem, was wir sagen, auch dar­über denken können -, bei alldem ist es ja so, daß die Gedanken eben doch zum Stuhl gehören; ich weiß es nur vorher nicht. Ich weiß die Gedanken erst, wenn ich dazu reif geworden bin. Ich setze mich doch nicht auf meine eigene Festigkeit, wenn ich mich auf den Stuhl setze, sonst könnte ich mich doch auf mich wieder draufsetzen. Der Stuhl wird doch nicht bei mir schwerer, wenn ich mich draufsetze, er ist doch an sich schwer. Alles, was ich als Gedanken erfasse, liegt ja schon im Stuhl drinnen. So daß ich die Wirklichkeit des Stuhles erfasse, wenn ich mich durch den Gedanken wieder verbinde mit dem Stuhl. Zuerst sehe ich nur die Farben und so weiter, höre, wenn man mit dem Stuhl klappert, fühle auch, ob er kalt oder warm ist; ich kann das mit den Sinnen wahrnehmen. Was aber im Stuhl drinnen ist, das weiß man erst, nachdem man älter geworden ist und denkt. Da verbindet man sich wieder mit ihm, stellt die Rückwirkung her.

Kant - ich habe neulich über ihn gesprochen - hat ja den größten Fehler gemacht, indem er geglaubt hat, dasjenige, was das Kind noch nicht wahrnimmt und was man erst später wahrnimmt, den Gedanken-inhalt nämlich, den trage der Mensch erst in die Sachen hinein. Also Kant sagt eigentlich: Wenn da der Stuhl steht - der Stuhl hat Farben, der Stuhl klappert. Aber wenn ich sage, der Stuhl ist schwer, so ist das nicht eine Eigenschaft des Stuhles, sondern die gebe ich ihm, indem ich ihn schwer denke. Der Stuhl hat Festigkeit, aber die hat er nicht in sich, die gebe ich ihm, indem ich ihn fest und schwer denke. - Ja, meine Her­ren, das wird zwar als eine große Wissenschaft angesehen, diese Kant­sche Lehre, das habe ich Ihnen vor einiger Zeit gesagt; aber sie ist eben in Wirklichkeit ein bloßer Unsinn. Es wird da eben einmal ein großer Unsinn durch die eigentümliche Entwickelung der Menschheit als eine große Wissenschaft, als die höchste Philosophie angesehen, und Kant wird ja immer der Alleszermalmer, der Alleszerstörer auch genannt.

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Ich habe immer nur in ihm sehen können - ich habe mich schon als ganz kleiner Junge mit Kant befaßt - wirklich einen Zertrümmerer; aber sonst habe ich nicht bemerkt, daß derjenige das Größte begründet, der die Suppenteller zertrümmert, größer wäre als derjenige, der sie macht. Mir schien immer derjenige, der sie macht, größer! Kant hat immer alles zertrümmert in Wirklichkeit> - Also diese Einwände von Kant, die dürfen uns gar nicht bekümmern> Aber die Sache ist die, daß wir geboren werden als losgelöst von den Dingen, weil wir gar keinen Zu­sammenhang mit ihnen haben. Wir wachsen erst wieder hinein in die Dinge, indem wir uns die Begriffe bilden. Daher muß man die Frage, die hier gestellt ist, so beantworten: Was gehört zum Weltinhalt? Ich habe gesägt in meiner «Philosophie der Freiheit>: Wenn wir den Welt-inhalt zu unserem Gedankeninhalt gemacht haben, erst dann finden wir den Zusammenhang wieder, aus dem wir uns als Kind herausgelöst haben. Als Kind haben wir nicht den Weltinhalt, da haben wir nur den sinnlichen Teil des Weltinhaltes> Aber der Gedanke ist wirklich drin­nen im Weltinhalt. So daß wir als Kind nur einen halben Weltinhält haben, und erst später, wenn wir heranwachsen zu unseren Gedanken, haben wir den Gedänkeninhält nicht bloß in uns, sondern wir wissen, daß er in den Dingen drinnen ist, behandeln auch unsere Gedanken so, daß wir wissen, daß sie in den Dingen drinnen sind, und da stellen wir den Zusammenhang mit den Dingen wiederum her.

Sehen Sie, es war schwer in den achtziger Jahren des vorigen Jahr­hunderts, wo alles käntianisiert worden war, wo alles so redete, daß eben die Kantsche Philosophie als das Höchste angesehen wurde und noch keiner sich getraute, etwas gegen die Kantsche Philosophie zu sägen - es war sehr schwer, als ich dazumal aufgetreten bin und erklärt habe, daß die Kantsche Philosophie eigentlich ein Unsinn ist. Aber das habe ich von allem Anfang an erklären müssen. Denn natürlich, wenn jemand wie Kant meint, daß wir eigentlich den Gedankeninhalt zu den Dingen hinzuschaffen, dann kann er nicht mehr zum einfachen Inhalt kommen, dann sind in der Seele eben die Gedanken zu den äußeren Dingen, und es ist erst recht Materialismus. Kant ist vielfach schuld daran, daß die Menschen nicht aus dem Materialismus herausgekom­men sind. Kant ist überhaupt an sehr vielem schuld. Ich habe es Ihnen

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dazumal gesagt, als ich von einer andern Seite her über Kant gefragt worden bin. Die andern haben, weil sie nichts anderes denken konnten, den Materialismus gemacht. Kant hat aber gesagt: Über die geistige Welt kann man überhaupt nichts wissen, sondern nur glauben. - Damit hat er eigentlich gesagt: Man kann nur über die sinnliche Welt etwas wissen, weil man nur in die sinnliche Welt die Gedanken hereinschlep­pen kann.

Und nun fühlten die Menschen, die materialistisch werden wollten, sich immer mehr gerechtfertigt, indem sie auf Kant verwiesen. Aber es muß sich die Menschheit auch dieses Vorurteil eben abgewöhnen - das heißt, ein Teil der Menschheit, die wenigsten wissen ja viel von Kant -, sie müssen sich abgewöhnen, daß sie sich immer auf Kant berufen, und gerade auf Kant berufen dann, wenn sie sagen wollen: Man kann eigentlich nichts wissen über die geistige Welt. - Also: Weltinhalte = Sinnesinhalte und Geistesinhalte. Aber zum geistigen Inhalt kommt man erst im Laufe des Lebens, wenn man Gedanken entwickelt. Dann stellt man wieder den Zusammenhang zwischen Natur und Geist her, während man anfangs als Kind nur die Natur vor sich hat, und der Geist erst allmählich sich herausentwickelt aus der eigenen Natur.

Hat vielleicht noch jemand eine ganz kleine Frage?

Herr Burle frägt über das menschliche Haar und sagt: Heute sind so viele Mäd-chen, die sich die Haare abschneiden lassen. Kann der Herr Doktor sagen, ob dies der Gesundheit förderlich ist? Auch meine kleine Tochter hätte sich gern das Haar ab­geschnitten; ich habe es ihr aber nicht erlaubt. Ich möchte wissen, ob es schädlich wäre oder nicht.

Dr. Steiner: Nicht wahr, die Sache ist diese: Es ist der Haarwuchs so wenig mit dem ganzen Organismus in einem Verhältnis, daß nicht so furchtbar viel darauf ankommt, ob man sich das Haar lang wachsen läßt oder abschneidet. Der Schaden wird eben nicht so groß, daß er wahrnehmbar wird. Es ist aber ein Unterschied zwischen Männern und Frauen in dieser Beziehung> Nicht wahr, eine Zeitlang war es ja so, daß man sehr oft Anthroposophen miteinander hat gehen sehen, die Herren und die Damen - der Herr, der schnitt sich sein Haar nicht ab, der trug eben lange Locken, und die Damen schnitten sich die Haare kurz! Da sagten die Leute natürlich auch: Diese Anthroposophie bringt die verkehrte

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Welt, denn bei den Anthroposophen schneiden sich die Damen die Haare ab und die Männer lassen sie sich wachsen. - Jetzt ist das ja nicht mehr so, wenigstens nicht so auffällig. Aber man kann schon auch fragen, wie das mit dem Unterschied der Geschlechter ist beim Haar-abschneiden.

Im allgemeinen ist das allerdings so, daß bei den Männern der üppige Haarwuchs etwas eher Überflüssiges ist; bei den Frauen ist er etwas Notwendiges. In den Haaren ist nämlich immer Schwefel enthalten, Eisen, Kieselsäure und noch einige andere Stoffe. Diese Stoffe werden auch gebraucht von dem Organismus. Zum Beispiel wird beim Mann sehr stark die Kieselsäure gebraucht, weil der Mann dadurch, daß er männlichen Geschlechtes wird im Mutterleibe, die Fähigkeit verliert, selber Kieselsäure zu erzeugen. Durch die abgeschnittenen Haare -immer wenn die Haare frisch abgeschnitten sind, saugen sie die Kiesel­säure, die in der Luft ist, ein -, da nimmt der Mann Kieselsäure aus der Luft auf. Also da ist das Abschneiden der Haare nicht schlimm. Schlimm ist nur, wenn sie ausgehen, denn da können sie nichts einsaugen. Daher ist das frühe Glatzenkriegen, das ja ein bißchen mit der Lebensweise der Menschen zusammenhängt, nicht gerade etwas Vorzügliches für den Menschen>

Nun, bei der Frau ist aber das Abschneiden der Haare doch nicht ganz gut, aus dem Grunde, weil eben die Frau die Fähigkeit hat, Kiesel­säure mehr in ihrem Organismus zu erzeugen, und sich also nicht zu oft die Haare ganz kurz abschneiden sollte; denn da saugen dann die Haare die Kieselsäure, die die Frau schon in sich hat, aus der Luft auch noch auf und treiben sie in den Organismus zurück> Da wird die Frau inner-lich haarig, stachelig; sie kriegt dann «Haare auf die Zähne». Das ist dann dasjenige, was nicht in so auffälliger Weise geschieht; man muß schon ein bißchen empfindlich sein, wenn man das bemerken will, aber etwas ist es schon vorhanden> Es hat auch die ganze Art und Weise dann so etwas Stachliges, sie wird so innerlich haarig und stachelig; da hat schon das Abschneiden, insbesondere wenn es in jugendlichem Alter geschieht, auch einen Einfluß.

- Nicht wahr, die Geschichte kann ja auch umgekehrt sein, meine Herren. Es kann so sein, daß solche heutige Menschheitssprossen schon

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in eine Umgebung kommen - die Kinder sind ja heute alle anders ge­artet, als wir in unserer Jugend waren -, da genügt ihnen ihre eigene Kieselsäure nicht mehr, weil sie stachelig sein wollen. Sie wollen so ein bißchen stachelig, kratzig sein> Da bekommen sie den Instinkt, sich die Haare zu schneiden. Das wird dann Mode: Der eine macht es dem an­dern nach, und da ist die Geschichte umgekehrt aufgezogen, da wollen die Kinder stachelig werden und lassen sich die Haare schneiden. Wenn man es dann dazu bringt, daß diese Mode ein bißchen bekärnpft wird, so kann das gar nicht schlecht sein, wenn man diese Mode ein bißchen übertrieben hat. Schließlich kommt es ja darauf hinaus, nicht wahr:

Der eine hat eine Sanfte, der andere eine Stachelige gern; da kann es sich im Geschmacksurteil ein bißchen ändern. Aber einen so ganz gro­ßen Einfluß kann es ja nicht haben. Wenn Ihre Tochter die Neigung hat oder gerade durch die Verhältnisse sich einen Mann auswählen will oder soll, der eine Stachelige liebt, so soll sie sich die Haare schneiden lassen. Freilich, einen Mann, der recht empfindlich ist für Milde, den wird sie dann nicht kriegen; das kann dann schon passieren. - Also die Geschichte greift ja schon mehr in die Ausläufer des Lebens hinein.

HINWEISE

#G353-1968-SE299 Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker

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HINWEISE

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11 eines kleinen Ortes: Neudörfl bei Wiener Neustadt, im damaligen Ungarn.

15 ein anderer, ganz kleiner Ort: Sauerbrunn.

17 ich habe es Ihnen einmal aufgezeichnet: Im Vortrag vom 3. März 1923, in Band 3 dieser Vorträge.

Mahatma Gandhi, 1869-1948, religiös - politischer Führer Indiens.

23 Ich habe sie Ihnen neulich erwähnt: Im Vortrag vom 21. Februar 1924, in Band 6 dieser Vorträge.

45 Plato, 427-347 v. Chr.

47 Publius Cornelius Tacitus, um 55 bis 120 n.Chr.

einen einzigen Satz: «Dieses Namens (Christianer) Urheber, Christus, war unter des Tiberius Herrschaft vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden.» Annalen, 15. Buch, 44.

53 Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896, schweizerischer Naturforscher, Professor für Physiologie in Berlin, über seinen Ausspruch vergl. «Über die Grenzen des Naturerkennens», 7. Aufl. Leipzig 1916, S.46.

56 Gustav Stresemann, 1878-1929, war 1923 Reichskanzler.

58 ich habe einen Mann gekannt: Ferdinand August Louvier, «Sphinx locuta est. Goethes «Faust» und die Resultate einer rationellen Methode der For­schung» (2 Bände), Berlin 1887.

62 die Jungfrau von Orléans: Jeanne d'Arc, 1412-1431, wurde 1920 heiligge­sprochen.

63 ein deutscher Historiker: Ludwig Quidde, «Caligula», Leipzig 1894.

Kaiser Wilhelm II., 1859-1941, Kaiser von 1888 - 1918.

Augustus, Gajus Julius Cäsar Octavianus, 63 v. Chr. bis 14 n.Chr.

76 Julianus Apostata, 332-363, von 361-363 Kaiser.

77 Heinrich II., 973-1024, 1002 König, 1014 Kaiser, 1146 vom Papst heilig-gesprochen.

78 die Kreuzzüge: Der erste Kreuzzug fand statt 1096-1099 und führte zur Gründung des Königreichs Jerusalem durch Gottfried von Bouillon, der 1100 starb.

Peter von Amiens, gestorben um 1115.

Wiltber von Habenichts: Französischer Ritter, nahm 1095 das Kreuz, fiel 1096 bei Nicäa gegen die Seldschukken.

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80 Otto von Guericke, 1602 - 1686.

Nikolaus Kopernikus, 1473-1543, Domherr in Frauenburg. 83 Wulfila, Ulfilas, 310 - 383.

86 Attila, 445 - 453.

Tacitus: Siehe Hinweis zu S.47. 1000 Mohammed, um 570 - 632.

106 Karl der Große, 742-814.

Harun al Raschid, 786-809, Kalif von Bagdad. 111 Martin Luther, 1483-10546.

112 Jan Hus, um 1369-1415.

Als die Sonne untergegangen war... : Markus 10,32.

116 auf einem Konzil: 869 auf dem 8. ökumenischen Konzil zu Konstantinopel.

122 Otfried von Weissenburg, Elsässer Mönch, lebte im 9. Jahrhundert.

Heliand: Niederdeutsches Gedicht über Christus in Stabreimen, 9. Jahrhun­dert.

125 Aurelius Augustinus, 354-430.

127 ein Artikel: Konnte bisher nicht festgestellt1werden.

136 Konstantin, 306-3370, römischer Kaiser.

Julianus: Julianus Apostata; s. Hinweis zu S. 76.

137 Justinian 1., regierte 5270-565, oströmischer Kaiser.

161 Dieser Vortrag (5. Mai 1924) wurde versehentlich unter dem Datum vom

4 S. Mai 1923 in Band 3 der Arbeitervorträge, Bibl.- Nr. 349, Gesamtausgabe

Dornach 1961, abgedruckt.

161 R.: Konnte nicht festgestellt werden.

162 Johann Baptist van Helmont, holländischer Arzt, 1577 - 1644.

163 Er nahm eine gewisse Pflanze: den Eisenhut; vergl. hierzu J. B. van Helmont, «Demens Idea», S 12ff.

171 Lucius Domitius Nero, 54 - 68 römischer Kaiser.

Commodus: von 180-192 römischer Kaiser. Augustus: Siehe Hinweis zu S. 63.

172 Theophrastus Paracelsus von Hohenheim, 1493-1541, schweizerischer Arzt, als «Vater der Medizin» gefeiert.

173 Kopernikus: Siehe Hinweis zu S. 80.

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174 ein schwedischer Gelehrter: Theodor Svedberg, geb 1884; vgl. sein Werk «Die Materie», 1912, deutsch 1914.

183 Friedrich Nietzsche, 16844-1900.

194 der bedeutendste Staatsmann des 19. Jahrhunderts: Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield, 1804-1881, englischer Staatsmann ünd Schriftsteller.

197 Sephirothbaum: Die Ableitung und Anordnung des Sephirothbaumes ist in der

kabbalistischen Literatur eine etwas andere als die hier von Rudolf Steiner

gegebene.

200 Chokmah: gespröchen Chochmah.

201 Geburah : gesprochen Göwurah.

203 Malkuth: gesprochen Malchuth.

207 Moses Maimonides, 11345-1204, jüdischer Philosoph.

Raimundus Lullus, 12345-13145, katalanischer Philosoph.

209 Alexander der Große, 3456-323 v.Chr.

Aristoteles, 3684-322 v. Chr.

214 lmmanuel Kant, 1724 - 1804.

in meiner Lebensbeschreibung: «Mein Lebensgang», im 2. Kapitel; Bibl .- Nr. 28, Gesamtausgabe Dornach 1962.

217 Arthur Schopenhauer, 1788 - 1860.

219 «Die Philosophie der Freiheit», Bibl.-Nr. 4, Gesamtausgabe Dornach 1962.

222 Gottfried Wilhelm Leibniz, 1646 - 1716.

Christian Wolff, 1679 - 1754.

225 Wie ist die Metaphysik.. . : «Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta­physik, die als Wissenschaft wird auftreten können», Riga 1783.

226 Eduard von Hartmann, 10842-1906, deutscher Philosoph.

Ich habe einmal einen Artikel über Eduard von Hartmann geschrieben: «Eduard von Hartmann. Seine Lehre und seine Bedeutung»; in «Methodische Grund­lagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 1884-1901», Bibl.-Nr. 30, Gesamtausgabe Dornach 1961.

228 Ernst Haeckel, 1834-1919.

Oscar Schmidt, 1823-1886, Zoologe.

233 jeder Stern geht auf und dann wieder unter: außer den zirkumpolaren.

Tycho Brahe, 1546-1601, dänischer Astronom.

Claudius Ptolemäus, 87-1645, ägyptischer Geograph, Mathematiker und Astro­nom.

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242 1906 in Paris: Paris, 25. Mai-16. Juni 1906, «Esquisse d'une cosmogonie psy­chologique» (Referate von Edouard Schuré), Paris 1928; 2. Aufl. unter dem Titel «L'Esoterisme, Esquisse d'une cosmogonie psychologique», Paris 1957.

247 Moses, um 1300 v. Chr.

256 Charles Darwin, 16809-18682.

257 Ich habe einmal über Nietzsche geschrieben: «Friedrich Nietzsche, ein Kämp­Fer gegen seine Zeit», Bibl.-Nr. 5, Gesamtausgabe Dornach 10963.

258 Dann habe ich über Haeckel geschrieben: «Haeckel und seine Gegner», 106899; wiederabgedruckt in «Methodische Grundlagen der Antroposophie. Gesam­melte Aufsätze 1068684-19010», Bibl.-Nr. 30, Gesamtausgabe Dornach 1961.

261 Oswald Spengler, 1880 - 1936, «Der Untergang des Abendlandes», 2 Bände,

191068-22.

277 Woodrow Wilson, 1856 - 1924; war von 10913-180210 Präsident der USA, stellte im Januar 1918 das Friedensprogramm der «Vierzehn Punkte» auf.

281 die sogenannte Venusfliegen falle: Dionaea muscipula, eine zu den Sonnentau-gewächsen (Droseraceae) gehörige «insektenfressende» Pflanze, die an sump­figen Stellen im wärmeren Nordamerika wächst. 292 «Erst wenn wir den Weltinhalt... >: Vgl. «Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung», Bibl.-Nr. 4, Gesamtausgabe Dornach 1962, S. 29.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.