GA 338

Aus SteinerWiki
ansehen im RUDOLF STEINER VERLAG

RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER DAS SOZIALE LEBEN UND
DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

Wie wirkt man für den Impuls
der Dreigliederung
des sozialen Organismus?

Zwei Schulungskurse für Redner und
aktive Vertreter des Dreigliederungsgedankens

Zwölf Vorträge und eine Fragenbeantwortung,
gehalten in Stuttgart
am 1. und 2. Januar und vom 12. bis 17. Februar 1921

GA 338

1986

Inhaltsverzeichnis


15

I WIE WIRKT MAN FÜR DEN IMPULS DER DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS? Ein Schulungskurs für Redner

16


17

ERSTER VORTRAG Stuttgart, 12. Februar 1921

Wir wollen uns heute zunächst darüber unterhalten, was die Absich­ten der Persönlichkeiten sein können, die an diesem Kursus teilneh­men, und auf welche Art eine Einstellung zu unseren Aufgaben zu gewinnen ist.

Sie werden, wenn Sie die Absichten erfüllen wollen, die mit die­sem Kurs verbunden sind, in der nächsten Zeit hinausgehen, um für den Impuls der Dreigliederung in der Welt zu wirken. Dieses Wir­ken ist in unserer Zeit ein im eminentesten Sinne Notwendiges. Und von dieser Überzeugung, daß es ein Notwendiges ist, müssen wir ausgehen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß es im Grunde genommen höchste Zeit ist, um für diesen Impuls der Dreigliede­rung, den wir ja betrachten müssen als die unbedingte Forderung des Zivilisationslebens der Gegenwart, zu wirken.

Wir müssen uns allerdings, indem wir uns in diesen Tagen über die Bedingungen dieses Wirkens unterrichten werden, von vorne­herein auf einen Standpunkt stellen, der in unseren Herzen jede Art von Skepsis gegenüber dem Impuls der Dreigliederung selbst aus­schließt. Denn Sie werden nicht wirken können, wenn Sie heute noch irgendwie skeptisch zu der Sache stehen. Wir werden ja gerade im Verlauf dieses Kursus sehen können, wie nicht nur das in der Welt wirkt, was man spricht oder tut, sondern wie gewisse Impon­derabilien, Unausgesprochenes, durchaus unser Sprechen und unser Handeln begleiten muß, wenn wir wirken wollen.

Wir müssen uns ferner darüber klar sein, daß sich gegen diesen Impuls der Dreigliederung alle alten Zivilisationskräfte, die in der Dekadenz begriffen sind, auflehnen, Gegnerschaften entwickeln, und daß wir viel zu kämpfen haben, wenn wir diesen Impuls der Dreigliederung mit unserer Kraft zur Geltung bringen wollen. Und wir werden um so mehr zu kämpfen haben, je mehr wir auf der an­deren Seite etwa einen gewissen Erfolg haben. Der Kampf wird durch einen solchen Erfolg - das zeigt Ihnen ja die Erfahrung auch

18

dieser Wochen mit unserer Gegnerschaft - nicht geringer, sondern er wird immer schärfer und schärfer. Und Sie werden sich schon ein­mal wappnen müssen gerade gegen dasjenige, was sich als Kampf gel­tend macht, womit ich natürlich nicht sagen will, daß wir uns etwa in hervorragendem Maße durchaus auf Kampf einstellen sollten; das ist es nicht, was uns vorwärtsbringen könnte. Aber wir müssen uns bewußt sein, wie stark gerade dann, wenn wir etwa durchkommen, dieser Kampf sich in der nächsten Zeit entfalten wird.

Was ich heute vorausschicken möchte, werden gewissermaßen einzelne psychologische Ausgangspunkte sein. Es kann sich selbst­verständlich hier nur darum handeln, die sachlichen Grundlagen für Ihr Wirken zu charakterisieren. Ich möchte von vorneherein beto­nen, daß es sich nicht etwa um eine Anleitung zur politisch-sozialen oder sonstigen Redekunst handeln kann, sondern eben gerade um das Schaffen der positiven Grundlagen für das Wirken im Sinne des Impulses der Dreigliederung des sozialen Organismus. Und da wer­den Sie es vielleicht zunächst wie etwas ganz aligemein Hingestelltes empfinden, wenn ich einige ganz allgemeine Regeln vorausgehen lasse, die für uns aber doch, wenn wir sie recht konkret durchden­ken, von außerordentlicher Wichtigkeit sein werden.

Sie werden mit dem, was Sie wirken wollen, nur durchkommen, wenn Sie in Ihrer Seele aus zwei Grundkräften heraus wirken, und da es sich heute um einen außerordentlichen Ernst handelt, der un­sere Sache durchdringen muß, der unser Wirken beseelen muß, so sollen wir uns zunächst durchaus bewußt werden, ganz bewußt wer­den, daß wir nicht weiterkommen, ohne diese zwei Grundkräfte un­serer Seele auszubilden: erstens aus einer wirklichen Liebe zur Sache heraus, zweitens aus einer einsichtsvollen Menschenliebe heraus zu sprechen. Seien Sie sich klar darüber: Wenn diese zwei Bedingungen nicht vorhanden sind oder wenn sie etwa ersetzt sind durch andere, sagen wir durch Ehrgeiz oder Eitelkeit, so werden Sie noch so logi­sche Urteile den Leuten vortragen können, Sie werden noch so klug sprechen können, und Sie werden doch nichts erreichen. Die Bedin­gungen, durch das Wort zu wirken, die sind im Grunde genommen durchaus etwas, was in der Formung, in der Prägung des Wortes al­lein

19

nicht liegt. Sie brauchen nur auszugehen von dem, wie Wirkun­gen durch das Wort am allerhäufigsten in unserer Gegenwart erzielt werden, und Sie werden das, was ich Ihnen gesagt habe, einsehen.

Stellen Sie sich nur einmal vor: zwei Redner treten vor ein Publi­kum. Der eine wäre eine unbekannte Persönlichkeit mit außeror­dentlich großen Einsichten, mit einer meinetwillen durchdringen­den Redekraft und mit einer vollen Berechtigung der Sache gegen­über, und ein anderer Redner träte vor dasselbe Publikum, so wie die Dinge nun heute einmal liegen, und er habe seit langer Zeit irgendeine öffentliche Position inne, sei es als der Abgeordnete NN, der Staatsmann NN, der dort oder da bekannte Großindustrielle NN oder der Gelehrte NN. Er wird wirken mit weit weniger ein­dringlichen Motiven, mit einer Sache, die weit weniger berechtigt ist. Das, was die Wirkung ausmacht, das ist etwas, was zum Inhalte des gesprochenen Wortes durchaus hinzukommt. Doch wir können ja nicht auf solche Dinge unsere Arbeit aufbauen, wie ich sie eben jetzt zuletzt charakterisiert habe.

Aber es gibt auch andere Dinge, die unsere Rede kennzeichnen müssen, und das sind eben die beiden Seeleneigenschaften, von de­nen ich gesprochen habe: Die wirkliche Liebe zur Sache, die allein die innere Überzeugung tragen kann, und die Liebe zur Menschheit. Selbstverständlich können diese beiden Seelenkräfte nicht ersetzen, was der Inhalt des gesprochenen Wortes ist. Dieser Inhalt des ge­sprochenen Wortes muß selbstverständlich unanfechtbar sein. Aber er wirkt nicht, wenn er nicht getragen ist von den zwei Seelenkräf­ten, die ich angeführt habe. Daher muß es schon heute, wo wir mehr, ich möchte sagen, die Formalien abtun wollen, durchaus aus­gesprochen werden, daß wir uns das vorhalten müssen, wieweit wir diese beiden Kräfte in unserer Seele gegenwärtig haben. Kommen wir darauf, daß wir sie nicht haben, dann wäre es vielleicht besser, wenn wir uns gerade bei der wichtigen Aktion, die nun unternom­men werden soll, nicht beteiligen würden, denn es wäre verlorene Kraft, verlorene Arbeit. Und man würde sich doch überzeugen, daß die Wirkung desjenigen, was etwa aus anderen Antrieben ent­springt, keine große sein könnte, während die Wirkung desjenigen,

20

was aus der Liebe zur Sache, die die Überzeugung trägt, und aus Menschenliebe entspringt, vielleicht zunächst unmittelbar eine ge­ringe sein mag, aber sie wird dennoch da sein.

Meine lieben Freunde, es gibt alle möglichen zunächst unerschau­baren Wege, welche sich die Wahrheit wählt, um unter die Men­schen zu kommen, und es ist nun einmal so, daß, wo die beiden Im­ponderabilien, Liebe zur Sache und Menschenliebe, da sind, auch ei­ne Wirkung sein muß, wenn sie auch zunächst nicht zutage tritt. Sie wird in irgendeiner Weise kommen, dessen können wir sicher sein.

Aber andere Dinge müssen noch hinzukommen. Es muß eine volle Einsicht vorhanden sein in dasjenige, wo hinein wir heute sprechen, wenn wir mit einer solchen Sache, wie es der Impuls der Dreigliederung ist, vor die Öffentlichkeit hintreten. Wir dürfen uns keinerlei Illusionen hingeben über die Seelenverfassung der Men­schen, zu denen wir sprechen, über die Bedingungen, die dadurch gegeben sind, daß wir eben gerade zu den Menschen der Gegenwart sprechen müssen. Unter diesen Menschen der Gegenwart sind kei­neswegs wenige, die durchaus geeignet sind, aufzunehmen, was wir ihnen zu sagen haben. Aber es ist namentlich unter den führenden Persönlichkeiten der Gegenwart die Mehrzahl so, daß die Kräfte derjenigen Menschen, die geeignet wären, den Impuls der Dreiglie­derung aufzunehmen, zunächst - und zwar ziemlich brutal - nieder­gehalten werden.

Verweilen wir möglichst wenig bei allgemeinen Redensarten, las­sen wir uns durchaus auf Einzelheiten gleich ein. Das Gewöhnlich­ste, was einem die Leute sagen, wenn man mit so etwas kommt, wie es der Impuls der Dreigliederung ist, das lautet etwa so: Ja, nament­lich in Mitteleuropa sind zunächst heute die Not und das Elend da. Wir müssen den Kampf um das trockene Brot führen. Die wirt­schaftlichen Interessen sind es zunächst, auf die wir uns einlassen müssen. Was nützen da hohe Ideale? Was nützt dasjenige, was aus geistigen Untergründen heraus vorgetragen wird? - In allen Tonar­ten werden Sie diesen Einwand hören. Und man kann ja nicht leug­nen: Er geht aus den gepreßten Seelen der Gegenwart hervor. Er hat zunächst, rein äußerlich betrachtet, eine gewisse Berechtigung. Aber

21

wir werden sehen, wenn wir die wichtigsten Fragen der Gegenwart, die die Grundlagen für unser Wirken werden können, an unseren Seelen vorbeiziehen lassen werden, daß diese Anschauung, daß es sich heute bloß um die Lösung der wirtschaftlichen Fragen handeln könne, auf einer völligen Illusion beruht. Denn sie geht von einer anderen Frage beziehungsweise von der Antwort auf eine andere Frage wie von einer Selbstverständlichkeit aus; aber es ist keine Selbstverständlichkeit. Man geht nämlich von der Voraussetzung aus - wir werden gerade über diese Sache noch sehr genau spre­chen -, daß die Menschen, nicht dieser oder jener Mensch, sondern die Menschen überhaupt, nicht schuld daran wären, daß die zivili­sierte Welt in die gegenwärtige Lage hineingekommen ist.

Wenn wir die über die ganze Erde hin verbreitete Weltwirtschaft ins Auge fassen - und sie muß heute ins Auge gefaßt werden -, dann mussen wir uns sagen: die Natur gibt uns heute nicht weniger als zu irgendeiner anderen Zeit, wenn wir ihre Ergebnisse ihr richtig ent­ringen können und wenn wir diese Ergebnisse in der richtigen Wei­se unter die Menschen bringen können - als Gesamtmenschheit selbstverständlich. Daß die Menschen heute in einer größeren Not­lage sind, als sie vorher waren, das ist nicht durch physische Ursa­chen bewirkt, sondern das ist bewirkt gerade durch den Geist der Menschen. Wenn die Menschen heute in Not sind, so hat die falsche Geistigkeit, das falsche Denken, diese Not hervorgebracht. Daher kann es auch wiederum nichts anderes geben, als daß das richtige Denken an die Stelle des falschen gesetzt wird, um aus dieser Not herauszukommen. Nicht die Natur, nicht irgendwelche unbekann­ten Mächte haben die Menschheit in die heutige Lage gebracht, son­dern die Menschen sind es selber, die diese Dinge bewirkt haben. Wenn Not ist, sind die Menschen es, die diese Not herbeigeführt ha­ben; wenn Menschen nichts zu essen haben, so sind es Menschen, die dieses Essen nicht an sie herankommen lassen. Daher kommt es darauf an, nicht von der falschen Voraussetzung auszugehen: ir­gendwelche unbekannten Mächte haben die Not bewirkt, und man muß diese Not zuerst aufheben, bevor man daran gehen kann, in der richtigen Weise zu denken - sondern klarzumachen: weil die

22

Not bewirkt ist vom unrichtigen Denken der Menschen, so kann auch nur das richtige Denken die Aufhebung dieser Not bewirken.

Man muß von den verschiedensten Seiten her diesen Aberglau­ben, daß man zunächst der Menschheit Brot verschaffen könne, und dann, wenn sie genügend Brot habe, werde sie auch zu einem besse­ren Denken kommen, ins Auge fassen. Das ist ein furchtbarer Aber­glaube. Und es wird niemals in die heutige Zivilisation herein irgend etwas Segensreiches dringen können, wenn man sich nicht dazu ent­schließt, ihn abzulegen, ihn durch den richtigen Glauben zu erset­zen, der darin besteht, daß eine Umkehrung, eine Neubildung des Denkens über die Dinge dieser Welt selber eintreten muß. Das ist es auch, was allmählich in eine genügend große Anzahl von Menschen-köpfen durchaus hinein muß.

Wir werden aber nur die Möglichkeit finden, zu diesen Menschen zu sprechen, wenn wir uns über zwei Dinge zunächst gar keiner Il­lusion hingeben. Das ist erstens die Tatsache, daß in der Gegenwart im größten Ausmaß kein Sinn vorhanden ist für die Produktivität des geistigen Lebens. Die Albernheit, mit der vor nicht zu langer Zeit das Wort geprägt worden ist «Freie Bahn dem Tüchtigen» -nicht das Wort, aber die Art und Weise, wie das Wort geprägt wor­den ist, war eine Albernheit -, diese Albernheit, die müßte aus den Menschenköpfen angesichts der Tatsachen, die in der heutigen Zivi­lisation walten, recht gründlich heraus. Denn diese Tatsachen der heutigen Zivilisation sind so, daß sie durch ihre eigene Wesenheit ge­rade eine Selektion, eine Auswahl der Untüchtigen, immer in die Höhe tragen.

Wir leben heute in einer Zeit, die die Untüchtigkeit ganz beson­ders begünstigt. Auch darüber werden wir ausführlich sprechen und werden die Kräfte suchen müssen, welche zu dieser Auslese der Un­tüchtigsten gerade in unserer Zeit in besonderem Maße führen. Heute möchte ich nur eines zunächst vorausschicken. Ich bitte aber durchaus zu berücksichtigen: Wir müssen hier, indem wir uns be­wußt sind, daß wir untereinander reden und die Bedingungen für unser Wirken schaffen, wir müssen hier von vorneherein fest auf dem Boden stehen, daß der Dreigliederungs-Impuls für uns etwas Si­cheres

23

ist, daß wir ihm mit keinem Skeptizismus gegenüberstehen, sondern ihm wirklich gegenüberstehen so, daß wir in ihm die einzi­ge Kraft sehen, die aus den Wirrnissen der Gegenwart hinausführen kann. Indem wir auf diesem Boden stehen, werden wir dasjenige, was ich jetzt sagen will, nicht als eine Unbescheidenheit oder der­gleichen ansehen können, sondern eben durchaus als sachlich zu­sammenhängend mit den Bedingungen unseres Wirkens überhaupt.

Nehmen Sie die «Kernpunkte der sozialen Frage». Betrachten Sie die Art, wie sie vielfach heute aufgefaßt werden, sehen Sie sich die Dinge an, die vorgebracht werden von den Gegnern, und versuchen Sie dann, ein Urteil darüber zu gewinnen, aus welchen Untergrün­den diese Gegner sprechen, Sie werden zu diesen Untergründen nur auf einem psychologischen Wege, auf dem Wege psychologischer Beobachtung, kommen. Die Gegner reden ja zumeist an dem Inhalt dieser «Kernpunkte», ich meine natürlich das Buch, vorbei. Es ist in der Regel in dem, was sie reden, kaum ein Bezug zu dem, was der In­halt der «Kernpunkte» eigentlich ist. Ich habe zum Beispiel neulich einmal in Bern den Inhalt der «Kernpunkte» auseinandergesetzt. Hinterher hat der Volkswirtschaftler von der Universität gespro­chen, dreiviertel Stunden lang. In keinem einzigen Satz ist es ihm ge­lungen, auf den Inhalt der «Kernpunkte» selber einzugehen. Man kann das geradezu beweisen. Und auf den Inhalt des Vortrages ging er erst recht nicht ein. Er war vollständig unvorbereitet, da er ja die «Kernpunkte» nicht kannte, nicht wahr.

Nun, was spüren denn die Menschen, wenn sie an die Ideen der Dreigliederung des sozialen Organismus herangehen? Warum for­men sie aus tiefen Untergründen ihrer Seele heraus Dinge, die so gar nicht passen? Weil sie eben etwas ganz Besonderes spüren. Sie spü­ren nämlich, ohne daß sie sich das zum Bewußtsein bringen, in sich dasjenige, was da in ihnen tätig ist. Sie spüren: wenn der Impuls für die Dreigliederung, wie er in den «Kernpunkten» dargelegt ist, in der Welt Wurzeln fassen würde, dann würde das eine Auslese der Tüch­tigen bringen, und es würden herabgestoßen von ihrem Piedestal die Untüchtigen. Denn der Impuls, der in der Dreigliederung des sozia­len Organismus liegt, er ist ein durchaus real wirksamer, sobald er

24

irgendwie in die Menschheit hineingetragen wird. Aber er wirkt un­bedingt so, daß er die Unfähigen ausschließt von einer Wirksam­keit. Das ist es, was die Menschen in den unterbewußten Untergrün­den fühlen. Das können sie natürlich nicht sagen, daher kommen sie zu demjenigen, was sie eben sagen. Wenn man sich Mühe gibt als Psychologe, das zu durchschauen, was die Leute vorbringen, na­mentlich wenn man sich Mühe gibt, die Art und Weise, wie sie wir­ken, zu analysieren, dann wird man durchaus zu einer Erhärtung dessen kommen, was ich eben ausgesprochen habe. Und alles das be­ruht zum Schluß doch darauf, daß in der Gegenwart ein Sinn für geistige Produktivität eigentlich nicht vorhanden ist. Die Leute ha­ben sich zu sehr daran gewöhnt, das Geistige vom Unpersönlichen oder von solchem Persönlichen, das selbst kein Geistiges ist, tragen zu lassen: vom Staate oder von staatlichen Persönlichkeiten, die nicht in erster Linie den lebendigen Geist als solchen im Auge haben.

Sie brauchen sich ja nur die Dinge im einzelnen vorzunehmen, brauchen sich nur zu fragen: Was wollen die theologischen Fakultä­ten? - Es geht heute in den theologischen Fakultäten viel weniger darum, hinter das Geheimnis der geistigen Urkräfte der Welt zu kommen, als im Sinne des Staates oder der Konfessionen brauchbare Religionsbeamte zu schaffen. Bei der Juristerei handelt es sich nicht darum, die Gründe und das Wesen des Rechtes zu suchen, sondern die Leute dasjenige zu lehren, was in irgendeinem Staate Usus ist, was festgelegt ist von denen, die auch nicht das Wesen des Rechtes schaffen wollten, sondern aus irgendwelchen Interessen her­aus dieses oder jenes zum Gesetz gemacht haben. Und so könnte man ja alle die Dinge, die ja doch schließlich führend werden im geistigen Leben, durchgehen und man würde überall sehen, daß für das produktive Element des Geistes, das ja doch eigentlich die Zivilisation tragen muß, daß für das lebendige Hereinwirken des Geistes in die Menschenseelen ein Sinn in der Gegenwart kaum vorhanden ist.

Die Menschen sind allmählich erzogen worden zu einer lenden­lahmen Intellektualität, zu einem bloßen Denken, ohne daß dieses

25

Denken durchdrungen wird von Willensinitiative. Die Menschen gehen auf in einem bloß betrachtenden Denken. Sie werden das ja zunächst als eine Erfahrung sehen, wenn Sie Ihre Vorträge halten werden. Sie werden es erleben können immer wieder und wieder­um, daß die Leute, die zuhören, vielleicht sogar von dem einen oder anderen, indem sie es hören, befriedigt sind; die Worte rauschen an das Ohr heran, kommen in die Seelen; die Leute haben eine gewisse Wollust über die Gedanken; sie fühlen sich darin befriedigt; sie möchten am liebsten gerade dasjenige hören, was sie in dieser Weise eben mit einer gewissen inneren Wollust ausfüllt. Aber sie sind ei­gentlich innerlich immer etwas erbost, wenn man ihnen zumutet, daß die Worte nicht Worte bleiben sollen, sondern daß sich der gan­ze Mensch erfüllen soll mit ihnen und tatkräftig von dem Gesichts­punkte aus, den die Worte eröffnen, nun ins Leben eingreifen muß, wenn die Worte irgendwie eine Folge haben sollen. Die Leute sind eben mit Bezug auf das Wort seit Jahrhunderten zu sehr an eine be­stimmte Art der Aufnahme gewöhnt worden. Wenn sie den Predi­ger auf der Kanzel anhörten, dann setzten sie sich hin in die Kir­chenbank, und die Predigt sollte «schon» sein, sollte so mit einer ge­wissen Wärme, es war in der Regel allerdings eine philiströse Wär­me, in das Innere hineinziehen. Man wollte eine gewisse innere Wollust empfinden, auch eine gewisse innere Sehnsucht der Seele befriedigt fühlen, so, daß einem die Befriedigung von außen zu­kommt. Aber dann, wenn man die Predigt wieder verlassen hatte, dann wollte man nicht etwa, daß dasjenige, was da in der Predigt ge­boten wurde, das Leben nun wirklich durchdringe. Gesagt hat man das selbstverständlich oft genug, aber geschehen ist es seit langer Zeit im Grunde niemals. Wie es in dieser Beziehung mit anderen Dingen, die geredet werden, heute steht, das wissen Sie ja wohl auch. Man kann nicht gerade sagen, daß in den meisten Fällen die jungen Leute mit einer gewissen inneren Glut heute zu den Universitätstüren her-eingehen, um ihre Stunden durchzumachen, daß sie mit einer unge­heuren inneren Wärme nun gar nicht erwarten können, was der Lehrer morgen sagen werde nach dem, was er heute gesagt hat. Die Fälle scheinen doch zahlreicher zu sein, wo die Leute ihre Stunden

26

absitzen, weil das nun einmal Pflicht ist - oder vielleicht sitzen auch viele sie gar nicht ab -, und wo sie dann froh sind, wenn sie das nun eingetrichtert haben, was notwendig ist zum Examen, durch das ja wirklich nicht festgestellt wird, ob man ein tüchtiger, fähiger Mensch ist, sondern ob man das in sich trägt, durch was man ein gu­ter theologischer oder juristischer Beamter wird, das heißt in ent­sprechender Weise in irgendeine Staatsstruktur sich einfügt.

Unter diesen Bedingungen, wir werden sehen, was für Faktoren dabei tätig waren in den letzten Jahrhunderten, insbesondere aber auch im 19. Jahrhundert, ist allmählich der Sinn für das lebendige Wirken des Geistes in der Menschheit verlorengegangen. Denken Sie doch, was wirklich wirksame Religionen geworden wären, wenn sie nicht ausgegangen wären von diesem Sinn für den lebendigen Geist. Alle Religionen, die überhaupt Religionen geworden sind, sind nicht etwa ausgegangen von dem, wovon unser heutiges Gei­stesleben ausgeht, nämlich, daß alles, was wir im Geiste tragen, im Grund nur eine Ideologie ist, eine Summe von Abstraktionen ist. Sondern die Religionen sind davon ausgegangen, daß der objektive, in der Welt vorhandene Geist sich geoffenbart hat durch gewisse Persönlichkeiten, daß er als solcher gewirkt hat, daß der Geist etwas Reales, eine reale Macht ist. Davon verstehen die meisten Menschen, die im heutigen Geistesleben darinnenstehen, kaum etwas.

Es war mir neulich im höchsten Grade interessant, folgendes zu erfahren. Ich sprach aus dem Gedanken, der im ersten Kapitel mei­ner «Kernpunkte» zugrunde gelegt ist, daß von der geistigen Seite her ein wesentlicher Bestandteil der proletarischen Frage der ist, daß das moderne Proletariat alles geistige Leben, Sitte, Recht, Kunst, Re­ligion und Wissenschaft und so weiter, für eine Ideologie ansieht, und daß in diesem Auffassen des Geisteslebens als eine Ideologie eben die Grundlage liegt für die Verödung der Seelen, die dann aus ihren Instinkten heraus zu dem kommen, was heute in vieler Bezie­hung die soziale Bewegung ist. Das habe ich in meinen «Kernpunk­ten» ausgeführt. Ich deutete es neulich in einem Vortrage an, und ein professoraler Diskussionsredner verstand die Sache so gut, daß er ungefähr sagte: Ja, da wäre angeführt worden, das Proletariat lebe in

27

geistiger Beziehung in einer Art Ideologie; das könne man doch nicht anführen, denn alle Klassen, alle Stände, die ganze Menschheit lebe ja fortwährend in Ideologie; es sei ja ganz selbstverständlich, daß alle in Ideologie leben! - Der gute Mann hat überhaupt gar kei­nen Begriff davon, was da gemeint ist, denn ihm ist ganz abhanden gekommen der Begriff der Realität des geistigen Lebens. Ihm war das eine Selbstverständlichkeit, daß dasjenige, was unseren Geist und unsere Seele ausfüllt, eben eine Ideologie ist. Er konnte also als gut Bürgerlicher auch nichts anderes fassen, als daß man ja ganz ge­rechtfertigterweise in der Ideologie drinnen lebe; wenn also das Pro­letariat darin lebe, so könne das nicht der Grund sein für die sozia­len Impulse der Gegenwart!

Sie sehen, diese Dinge sitzen so gründlich in denjenigen drinnen, die heute «die Gebildeten» sind, daß man schon davon sprechen muß: Für die Produktivität des geistigen Lebens haben die Leute gar keinen Sinn. Von dieser Produktivität des geistigen Lebens, von dem schaffenden Geist, von der Kraft des Geistes müssen wir vor al­len Dingen den Menschen der Gegenwart einen Begriff geben. Das ist dasjenige, was in allererster Linie notwendig ist. Das ist das eine, bezüglich dessen wir uns keinen Illusionen hingeben dürfen, denn wir würden sonst nicht wissen, wie wir in die Menschheit der Ge­genwart hinein reden können.

Das zweite, um was es sich handelt, ist, daß im Grunde genom­men durch die besondere Art des sozialen Lebens, wie es heraufge­kommen ist in den letzten Jahrhunderten, der Sinn für den Bedarf des anderen Menschen verlorengegangen ist. Ohne diesen Sinn für den Bedarf des anderen Menschen gibt es aber überhaupt keine Ge­staltung des Wirtschaftslebens. Das Wirtschaftsleben kann sich nur gestalten durch Menschen, die zunächst in ihren Gedanken über das Wirtschaftsleben ganz absehen können von ihren eigenen Bedürfnis­sen und die ein Gefühl haben für die Bedürfnisse irgendwelcher an­derer Menschen und dadurch lernen, sich in der Menschheit zu füh­len. Einsichtsvolles Verständnis für dasjenige, was man die Konsum­tion der Menschheit nennen kann, das ist es, was im Wirtschafts­leben notwendig ist.

28

Das Wirtschaftsleben besteht ja aus Produktion, Warenzirkula­tion, Konsumtion. Aber die Produktion zu beherrschen, der Pro­duktion ihre richtige Kraft zuzuführen, das ist in erster Linie gar nicht Sache des Wirtschaftslebens. Sie sehen das aus den «Kernpunk­ten»: Das Kapital wird zunächst in Zirkulation gebracht von dem geistigen Glied des sozialen Organismus. Die Art und Weise, wie man produziert, das ist eine durchaus geistige Frage. Eine wirtschaft­liche Frage ist im wesentlichen die Konsumtionsfrage. Natürlich müssen diejenigen, die in den wirtschaftlichen Assoziationen drin­nenstehen, aus dem Geistesleben her die Möglichkeit haben, das Produzieren zu beherrschen, das Produzieren zu organisieren; aber die Intensität der Produktion, die Art der Produktion lernt man nur kennen, wenn man einen Sinn hat für die Bedürfnisse der anderen Menschen und nicht allein, auch nicht als Gruppe, für seine eigenen.

Was ist aber heraufgezogen im neueren Leben? Überall ist zuletzt in jenen Schwätzanstalten, die man mit dem Namen Parlament be­zeichnet, es ist ja eine wörtliche Übersetzung, also eine ganz berech­tigte; wir wollen uns hier einmal, ohne gerade in Chauvinismus ver­fallen zu wollen, der deutschen Ubersetzung bedienen für das Parla­ment, überall ist in den Schwätzanstalten heraufgezogen der Usus, Interessengruppen zu bilden: Bund der Industriellen, Bund der Landwirte und so weiter. In dem zugrunde gegangenen Osterreich waren zunächst am Ausgangspunkte des Schwätzismus vier wirt­schaftliche Interessen-Kurien. Also gerade das Gegenteil von dem, was zu wirklichem wirtschaftlichem Verständnis führt, ist eigentlich in der letzten Zeit tätig gewesen. Interessengruppen, das heißt Leute waren da, die von vorneherein gesagt haben: Ich entscheide das, was ich für das Richtige halte, danach, ob ich an der Sache interessiert bin. - Im Wirtschaftsleben kann jedoch nur etwas entschieden wer­den, wenn man abstrahieren kann von den eigenen Interessen und einen Sinn hat für die Interessen anderer.

Ich hatte das einmal vor Jahren schon in jener Artikelserie ausge­sprochen, die erschienen ist unter dem Titel «Theosophie und sozia­le Frage». Da ist das mit einer gewissen Bestimmtheit formuliert, was ich jetzt sagte. Aber sehen Sie, mit solchen Dingen meinte ich

29

immer etwas, was nicht nur geredet sein soll, sonst könnte man es ja auch im Parlament, in der Schwätzanstalt sagen, sondern mit solch einer Sache meinte ich immer etwas, was die ganze Menschheit an­geht, was eine Resonanz hervorrufen sollte. Ich habe aufgehört da­zumal, weil sich kein Mensch darum gekümmert hat. Gewiß, theo­retisch wird sich mancher dafür interessiert haben. Aber das genügt seit langem nicht, daß man sich nur theoretisch interessiert. Denn die sozialen Wirkungskräfte, die in früheren Jahrhunderten herauf­gekommen sind in der Menschheit, die sind vorbei. Wir brauchen heute solche Worte, die auch unmittelbar in soziale Wirkungskraft übergehen können. Was ich damit meine, wird Ihnen vielleicht klar werden, wenn ich folgendes sage. Nehmen Sie die radikalsten Sozia­listen, die Kommunisten, die Leninisten, die Trotzkisten und so weiter, nehmen Sie sie alle. Gehen sie aus von einem Urprinzip, möchte ich sagen, des sozialen Lebens? Nein, sie nehmen einen Rah­men, etwas, was schon da ist. Auch Lenin und Trotzki nehmen ja nicht irgendwie Sachliches als Grundlage, sondern den bestehenden Staat, von dem gehen sie aus. Auch die Kommunisten nehmen also nicht irgend etwas Sachliches, irgendein Territorium eines in sich zusammenhängenden Wirtschaftslebens und dergleichen, sondern sie nehmen bestehende Rahmen, gehen davon aus, weil sie sich nicht getrauen, auch wenn sie sonst noch so radikal sind, erst Rahmen zu schaffen. Sie getrauen sich nicht, vom Anfang an wirklich anzu­fangen.

Sehen Sie auf einem anderen Gebiet sich um: In ganzen Scharen laufen heute selbst Gebildete dem römischen Katholizismus zu. Es ist jetzt eine jungkatholische Partei in Bildung begriffen, die wahr­scheinlich sehr starke Dimensionen annehmen wird. Warum? Wei] die Leute sich heute nicht getrauen, die Anfänge eines geistigen Le­bens in ihren Seelen zu suchen, weil sie sich nicht getrauen, von ir­gend etwas auszugehen, was ursprünglich ist. Sie wollen Anlehnung an etwas schon Bestehendes. Sie wollen in das hineinlaufen, was schon da ist. Denn starke innere Aktivität, die aus Ursprünglichem heraus schöpft, die wollen die Leute nicht. Das getrauen sie sich nicht. Das brauchen wir aber gerade. Dafür müssen wir einen Sinn

30

bei den Menschen erwecken. Und das ist dasjenige, was wir jetzt brauchen. Es ist höchste Zeit, daß die europäische Zivilisation in ei­ner genügend großen Anzahl von Menschen zu einem Verständnis kommt. Das ist das, was wir brauchen: von Ursprungsprinzipien ausgehen, und nicht in Abstraktionen sich dabei verlieren.

Ich sprach dazumal in jenem Aufsatz «Theosophie und soziale Frage» aus, daß das soziale Leben nur gesund werden kann durch Menschen, die von den Interessen der anderen ausgehen. Demgegen­über sagen die Abstraktlinge gewöhnlich so: Das ist ja nichts Neues, das ist ja längst ausgesprochen. Wenn man sie dann fragt, wo es aus­gesprochen ist, dann erfährt man: bei Schopenhauer. Der hat ja ganz richtig gesagt: «Moral predigen ist leicht; Moral begründen ist schwer»; Moral muß nämlich auf Mitgefühl begründet werden. Ja, sehen Sie, da haben Sie die Abstraktion! Bei Schopenhauer finden Sie eine leere Abstraktion, die als solche ganz richtig ist. Denn wenn Sie abstrakt werden wollen, können Sie sagen: Sinn haben für die Interessen anderer, heißt Mitgefühl haben. Aber Sie haben die kon­krete Tatsache, die Sie dazu führt, ins Leben einzugreifen, in eine schattenhafte Abstraktion verwandelt. Und mit diesen schattenhaf­ten Abstraktionen ist etwas gegeben, womit die Leute sehr zufrie­den sind. Wenn Sie den Leuten mit ganz Konkretem kommen, wie es gerade in der Literatur der Dreigliederung versucht worden ist, dann kommen die Gegner und sagen: Ja, das ist ja alles schon da! Wenn man dann dem nachgeht, was sie meinen, so meinen sie irgend­eine schattenhafte Abstraktion. Der eine findet, daß in Schopen­hauers Mitleidlehre schon alles das enthalten ist, worauf ich jetzt hingewiesen habe, der andere vielleicht sogar in Kants kategori­schem Imperativ und so weiter. Das ist ein Punkt, auf den wir scharf hinschauen müssen, damit wir die Möglichkeit finden, das Wesentli­che aufzugreifen.

Und so ist es notwendig, daß wir nicht aus irgendwelchen Vor­urteilen heraus über das Richtige reden, sondern daß wir uns das Richtige fortwährend diktieren lassen von dem, was wir um uns her­um bemerken, daß wir uns belehren lassen durch dasjenige, was die Menschen haben, und vor allen Dingen durch dasjenige, was sie

31

nicht haben. Aber dazu ist ja notwendig, daß wir uns mit dem, was in der Gegenwart lebt, wirklich bekanntmachen.

Sehen Sie, es ist ja richtig, daß man sich verteidigen muß gegen die Angriffe, die jetzt von allen Seiten nur so hageln gegen die Anthro­posophie und auch gegen die Dreigliederung. Aber mit der Verteidi­gung allein ist es nicht getan. Dessen müssen wir uns voll bewußt sein. Wir können uns nämlich noch so gut verteidigen, gegenüber gewissen Strömungen in der Gegenwart, aus denen heraus die Per­sönlichkeiten kommen, die angreifen, ist mit Verteidigung gar nicht viel zu machen. Nehmen Sie zum Beispiel den Typus eines religiö­sen Dadaisten, der neulich in der «Tat» geschrieben hat, Michel heißt er. Ein richtiger religiöser Dadaist, das ist das, was ihn eigentlich kennzeichnet. Und nun können Sie da verteidigen soviel Sie wollen, mit solch einem Menschen werden Sie nicht fertig. Niemals werden Sie mit ihm fertig. Denn dasjenige, was von der Anthroposophie ausgeht, was von der Dreigliederung ausgeht, das versteht er ja auch nicht einmal in einem Nebensatz. Solch ein Mensch hat zum Bei­spiel das Gefühl, daß er nur Substantive hinsetzen soll, wenn er schreibt. Obwohl er immerzu von der «Gnade» und dem, was ihm der Katholizismus gegeben hat, spricht, ist er in seinem Fühlen und in seiner Empfindungsweise, die ja vom Standpunkt eines religiösen Dadaismus herrührt, ganz materialistisch gesinnt. Wenn er also ir­gendwie nur wittert, daß man, um einmal nun wirklich geistig zu denken über das Geistige, die Substantive auflösen muß, so nennt er das «Zerblasenheit des Stiles». Das ist von seinem Standpunkte aus ganz verständlich. Aber Sie werden natürlich in der Diskussion oder Verteidigung nie fertig. Man kann schon selbstverständlich auf sol­che unreinlichen Finger klopfen, das ist ganz gut, aber erreichen kann man durch diese Dinge der Verteidigung allein doch nichts.

Und dessen müssen wir uns ganz bewußt werden, wenn wir wir­ken wollen: Es kann sich heute nicht darum handeln, daß wir bloß gegen die Angriffe uns verteidigen. Das mag manchmal notwendig sein. Aber das, um was es sich handelt, ist, daß wir die Zeitströmun­gen, die da sind, die Richtungen, die da sind, genau kennenlernen und sie vor der Mitwelt rücksichtslos charakterisieren. Es handelt

32

sich ja wirklich nicht um den Geist des Michel oder ähnliches, son­dern um diese besondere Sorte von religiösem Dadaismus. Der muß vor der Mitwelt charakterisiert werden. Es interessiert einen nicht der Herr Michel, sondern diese besondere Art von religiöser Impo­tenz, die ja Strömung wird. Die mussen wir so darstellen, daß sozu­sagen aus dem Spiegel heraus, aus dem wir den Menschen solche Strömungen zeigen, diejenigen Menschen, die ja auch da sind und noch ein gesundes Fühlen haben, einsehen, um was es sich handelt. Das ist natürlich sogar viel schwieriger, als bloß dialektische Vertei­digung. Aber das ist das ganz besonders Notwendige. Wir müssen uns bekanntmachen mit demjenigen, was in den Untergründen un­serer Gegenwartszivilisation ist. Dann werden wir sie an der Wurzel fassen und werden sie vor die Gegenwart hinstellen.

In dieser Beziehung ist manches enthalten in dem Material, wel­ches einfach dadurch vorliegt, daß von mir Vorträge gehalten wor­den sind seit dem April 1919. Da ist immer versucht worden, in ei­ner gewissen Weise auf die in der Gegenwart wirkenden sogenann­ten Geistesströmungen und wirtschaftlichen Strömungen hinzuwei­sen, auch einzelne Persönlichkeiten zu charakterisieren so, wie sie charakterisiert werden mußten. Aber die Dinge sind zum großen Teil eingesargt worden. Sie liegen da. Man hat sie gewiß gelesen. Aber es muß weitergearbeitet werden. Die Anregungen müssen auf­gegriffen, müssen weitergebracht werden.

Das ist es, um was es sich handelt. Dann wird allmählich - jetzt haben wir gar nicht mehr viel Zeit dazu, daß das «allmählich» lange noch dauern könnte -, dann wird allmählich in unserer Bewegung der Dreigliederung des sozialen Organismus etwas entstehen, was positive, fruchtbare Kritik der ganzen Gegenwartszivilisation ist. Und auf diesem Untergrund einer durchgreifenden Kritik der Ge­genwartszivilisation muß sich dasjenige aufbauen, was da an positi­ven Ideen in die Köpfe und in die Herzen hinein soll. Die Menschen müssen einsehen, wie das auseinandersplittert, was in den gegenwär­tigen Strömungen vorhanden ist und was ja zum großen Teil nur Aufwärmung von etwas Altem ist. Denn wenn sie sehen, wie das zersplittert, dann werden sie geneigt sein, sich einzulassen auf dasjenige,

33

was wir ihnen Positives sagen können, denn die führenden Persönlichkeiten bewegen sich eigentlich überall in Illusionen. Bis nicht von der oder jener Ecke etwas Katastrophales kommt, leugnen ja die Leute jede Gefahr ab. Das ist das Charakteristische der Gegen­wart.

Man muß sich also jeden Tag aufs neue bemühen, den Leuten zu zeigen, wie dasjenige, über das sie sich einen Nebel vormachen, zer­splittern muß. Von diesem Gesichtspunkte aus ist es außerordent­lich interessant zu studieren, wie die Angst der führenden Persön­lichkeiten anfänglich doch gewirkt hat, noch als wir 1919 mit unse­rer Dreigliederungsbewegung begannen. Da war zunächst noch, al­lerdings nicht mehr lange, ein paar Wochen lang, eine allgemeine Angstmeierei vorhanden. In den ersten Wochen konnte man ganz gut sehen, wie bei gewissen industriellen, kommerziellen Leuten so halb und halb widerwillig die Frage entstanden ist, die sie natürlich in ihrer Art aufgefaßt haben: Wie kommen wir mit den Sozialisten zurecht? Wie sollen wir das oder jenes machen? Und sie haben sich herbeigelassen, wenn auch meistens mit Karikaturen von Sozialisie­rungsfragen, aber immerhin, sie haben sich herbeigelassen, über sol­che Dinge zu reden. Dann vergingen ein paar Wochen, die Soziali­sten machten Dummheiten über Dummheiten, dann waren die füh­renden Persönlichkeiten der alten Zeit wieder obenauL

Das ist eine interessante Bewegung, die da beobachtet werden konnte, denn sie zeigte, wie stark der Hang ist, einfach nicht zur in­neren Aktivität überzugehen, sondern sich eben dem Bestehenden hinzugeben, aus dem Bestehenden heraus zu arbeiten und sich gar nicht klarzumachen, daß man im Grunde genommen auf einem Vulkan tanzt. Auch jetzt ist es durchaus so, daß die Menschen ah­nungslos sind. Daher ist es notwendig, daß man in den weitesten Kreisen Verständnis hervorruft für das Zersplitternde unserer Zivili­sation auf allen Gebieten. Wie man das findet, davon werden wir in diesen Vorträgen sprechen. Ich wollte heute mehr das Formale her­vorheben und zeigen, worauf wir zunächst unsere Gedanken rich­ten sollen. Denn durch irgendwelche äußeren Dinge allein kommt man heute nicht zum wirksamen Vertreten einer Sache.

34

Die Erziehung der Menschheit war eine durchaus theoretische durch lange Zeiten hindurch. Und jedem Menschen sitzt heute - und gerade den sogenannten Praktikern, deren Praxis ja im Grunde ge­nommen nur Routine ist - der Theoretiker im Nacken. Sie haben ir­gendein paar theoretische Phrasen, die «setzen sie in Wirklichkeit um». Daher ist die sogenannte Wirklichkeit, die Praxis, so unwirk­lich heute. Sie ist ja durch und durch unwirklich, weil die Menschen zu Theoretikern erzogen sind. Unser ganzes Schulwesen war darauf angelegt, die Menschen zu intellektualisieren, sie zu Theoretikern zu machen. Und das ist es, wozu wir kommen müssen: daß wir auf­hören, irgend etwas, was wir vertreten, nur theoretisch zu vertreten,

- daß jedes Wort eine innere Tat ist.

Es ist ja außerordentlich interessant, wenn man zum Beispiel die Debatten einmal auf sich wirken läßt, die in der Nationalökonomie darüber geführt worden sind, daß nur physische Arbeit produktiv Güter schaffe, geistige Arbeit aber nicht, daß geistige Arbeit unpro­duktiv sei. In der nationalökonomischen Literatur werden Sie breite Ausführungen darüber finden. Und gerade zwei der bedeutsamsten nationalökonomisch führenden Persönlichkeiten des 19. Jahrhun­derts sind von diesem Satze wie von einem Axiom ausgegangen:

Karl Marx und Rodbertus. Beide vertreten den Standpunkt, daß Gei­stiges keine Güter schaffe, daß nur physische Arbeit Güter schaffe. Diese Ansicht ist historisch zu verstehen. Aber so, wie sie vertreten wird, beruht sie darauf, daß man zum Beispiel meint: Nun ja, eine Handarbeit, die erschöpft sich, indem sie verrichtet wird, und die er­schöpfte Kraft muß dann wiederum durch Ernährung ausgeglichen und ersetzt werden; eine Idee aber erschöpft sich nicht, wenn man irgend etwas erfunden hat, wenn nach der Schablone Tausende und Tausende Dinge nachgemacht werden. Das ist ein Argument, das sehr oft vorgebracht worden ist. Aber es ist ein Unsinn. Wenn man wirklich ausrechnen würde, wieviel Kraft man braucht, um eine Idee zu finden, wo würde man schon sehen, daß dasjenige, was nun erschöpfte Kräfte sind, die ersetzt werden müssen, bei der Idee durchaus nicht geringer ist als das, was bei physischer Arbeit aufge­braucht wird, weil tatsächlich das, was im Denken verrichtet wird,

35

ebenso vom Willen abhängig ist wie das, was mit der Hand verrich­tet wird. Man kann das gar nicht voneinander trennen. Es ist der größte Unsinn, zu unterscheiden zwischen Kopf- und Handarbeit in Wirklichkeit. Aber die Dinge sind ja allmählich zur Phrase gewor­den, weil die Tendenz vorhanden war gerade in den letzten Jahr­zehnten, Phrasen zu erzeugen aus demjenigen, was früher noch tat­sächliche Wirklichkeit war.

Das kann man, wenn man Erfahrung in diesen Dingen hat, Etap­pe für Etappe verfolgen. Ich erinnere mich, wie ich zum Beispiel ei­nen Vortrag gehört habe, den der Sozialistenführer Paul Singer vor Proletariern gehalten hat. Da waren einzelne darunter, die haben so ein bißchen angefangen, von den «Schreiberseelen» geringschätzig zu sprechen. Sie hätten sehen sollen, wie da noch der alte Singer in seiner ganzen Fleischigkeit aufbegehrte und auseinandersetzte, daß er sich das nicht gefallen lasse, daß, wenn man geistige Arbeit ver­richtet, sie nicht der anderen Arbeit völlig gleichgestellt würde. Das war aber schon zu Beginn der neunziger Jahre. Seither konnte man den Gang des Phrasewerdens aus der Realität heraus auch im Soziali­stenwesen durchaus beobachten.

Auf solche Beobachtungen kommt es an, damit man sich in das Leben hineinfindet und aus dem Leben heraus spricht. Natürlich kann man das nicht in ausgiebigem Maße von heute auf morgen. Aber man muß den Sinn dafür haben. Und hat man den Sinn, dann kommen gewisse Imponderabilien in unsere Rede hinein. Und dann wird unsere Rede schon so, daß sie ihre Früchte trägt.

Das ist es, was ich Ihnen zunächst wie eine formale Einleitung sagen wollte.

36

ZWEITER VORTRAG Stuttgart, 13. Februar 1921 (nachmittags)

Wir werden jetzt nur vorwärtskommen, wenn es gelingt, die Dinge, die wir zur Gesundung der gegenwärtigen Zivilisation vorzubringen haben, in genügender Weise, das heißt in einer den einzelnen Leuten einleuchtenden Weise zu fundieren. Und vieles hängt davon ab, daß wir bei den verschiedenen Fragen von stichhaltigen Ausgangspunkten her unseren Weg nehmen. Vor allen Dingen muß ein ge­sundes Urteil darüber verbreitet werden, was es mit solchen Ausfüh­rungen, wie sie in den «Kernpunkten» enthalten sind, und mit al­lem, was sich daran anschließt, eigentlich für eine Bewandtnis hat.

Es handelt sich dabei um soziale Verhältnisse und um die Bildung von sozial gerichteten Urteilen. Bei dem Aufsuchen solcher Urteile handelt es sich immer um folgendes: Wenn man aus der bloßen Ver­standeslogik heraus über diese realen Verhältnisse urteilt, an denen ja immer Menschen beteiligt sind mit ihrem Gefühl, mit ihrem Wil­len - denn das ist ja der Fall bei den sozialen Verhältnissen -, dann kommt man zu endlosen Debatten; und das muß insbesondere bei Diskussionen durchaus ins Auge gefaßt werden. Bei Dingen, die der labilen Wirklichkeit angehören, an der Menschen beteiligt sind, muß man von der Erfahrung, von einer irgendwie gearteten Erfah­rung ausgehen, nicht von der Verstandeslogik, weil sich immer von diesem oder jenem Standpunkt aus tatsächlich für eine Sache gleich viel dafür und dawider sagen läßt. Nur vom Standpunkt der Erfah­rung aus lassen sich diese Dinge beurteilen. Wir haben gerade des­halb so mannigfaltige und einander widersprechende sozial-politi­sche Anschauungen in der neueren Zeit bekommen, weil die Leute, die sie aufgestellt haben, nicht von der Erfahrung, von der Beobach­tung der Verhältnisse ausgegangen sind und nicht aus dieser heraus geurteilt haben.

Das ist in umfassendem Sinne in der Tat zuerst in den «Kern-punkten» versucht worden. Und man muß den Leuten begreiflich machen, daß eigentlich alles, was es in der Gegenwart an Wissenschaft

37

und Bildung gibt, zu einem solchen Urteil keine Grundlage schafft, ausgenommen allein dasjenige, was die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft ist. Die geht ja nicht von Logik allein aus, sondern die geht aus von der umfassenden Erfahrung. Und man erzieht sich an ihr zu einem Urteil aus Erfahrung heraus, während das Pochen auf Erfahrung bei unseren gegenwärtigen Wissenschaft­lern ja nur eine Illusion ist. Sie reden zwar sehr viel von Erfahrung, urteilen aber im Grunde genommen aus der bloßen abstrakten Intel­lektualität heraus. Das tut unsere Geisteswissenschaft nicht. Daher erzieht sie auch ganz wesentlich zu einem solchen Erfahrungsurteil.

Sehen Sie, der Mann, den ich neulich hier im öffentlichen Vortrag erwähnt habe, der NationalökQnom Terhalle, er hat einen Aus­spruch eines ja auf diesem Gebiete nicht sonderlich maßgebenden Mannes angeführt, des Georg Brandes, der gesagt hat, es sei so schwer, in sozialen Verhältnissen zum Richtigen zu kommen, weil die breite Masse des Volkes ja nicht nach der Vernunft, sondern nach Instinkten urteilt. Es macht leicht den Eindruck, wenn man selber durchaus glaubt, auf einem gewissen unfehlbaren Standpunk­te in der Beurteilung aller Dinge stehen zu können, daß alles, was so in der sozialen Gruppenseele auftritt, aus Instinkten heraus sei und nicht aus der Vernunft. Es ist auch in gewisser Beziehung durchaus berechtigt, so etwas zu sagen. Aber es bewirkt nicht sonderlich viel. Denn wenn nicht ein Mensch in Betracht kommt für das Zustande­kommen des Urteils, sondern Gruppen von Menschen - seien es Volksgruppen oder Klassengruppen -, so ist niemals möglich, aus der Vernunft heraus zu urteilen. Denn was als Urteil auftritt, entsteht nicht immer durch den Zusammenfluß desjenigen, was die verschie­denen Menschen denken, sondern auch desjenigen, was sie fühlen und wollen. Da kann sich nie ein eindeutiges Urteil ergeben, gar nie.

Es gibt vom Standpunkte der Vernunft aus kein eindeutiges sozia­les Urteil. Sozial urteilen kann man nur vom Standpunkt der Bild­lichkeit aus. Das dürfen Sie den Leuten nicht ohne weitere Erklä­rung sagen, weil es ohne solche mißverstanden wird. Aber wissen muß man heute, wenn man irgendwie ein soziales Urteil fällen und begründen will, daß das nur vom Standpunkt der Bildlichkeit aus

38

möglich ist, das heißt von einem Standpunkte, daß das Urteil so ist, daß es sich biegen und formen läßt, daß es gewissermaßen, wenn das Wort auch verpönt ist, eine Art künstlerische Struktur hat und nicht eine bloß logische Struktur. Nur die Urteile, die eine solche bildsame Gestalt haben, die können auf das soziale Leben irgendwie anwendbar sein. Das ist etwas, was ich sagen mußte, um unserer Ab­sicht eine gewisse Richtung zu geben.

Außerdem aber ist es notwendig, heute die Leute daran zu ge­wöhnen, einen gewissen großen Horizont zu haben. Wir stehen ei­gentlich heute einer Welt gegenüber, wo jeder von dem denkbar kleinsten Horizont aus seine Urteile fällt, und zwar so fällt, daß er glaubt, die Dinge seien unbedingt, seien unfehlbar richtig. Er über­sieht nichts anderes als das Allernächste; aber er urteilt über alles. Das ist so das Charakteristikum unserer Zeit. Sie werden daher gese­hen haben, daß bei alledem, was ich versuchte, gerade auch, es war ja dies auch schon früher der Fall, seit dem April 1919 zu geben, mein Bestreben nicht darin bestand, überall fertige Urteile hinzustellen, sondern solche Dinge aufzuzeigen, aus denen heraus der Einzelne erst ein Urteil gewinnen kann. Unterlagen zu schaffen für ein eige­nes, selbständiges Urteil, das war gerade das Bestreben, dem ich ge­folgt bin seit dem April 1919. Das ist auch etwas, was man durchaus in weitesten Kreisen klarmachen sollte, daß es sich bei uns nicht handelt um fertige, dogmatische Urteile, sondern daß es sich handelt um Wegleitungen, die den Einzelnen dann befähigen, selbständige Urteile zu bilden. Und Sie werden gut tun bei Ihrem Wirken, bei Ih­ren Reden, nicht allzuviel zu halten von fertigen, dogmatischen Ur­teilen, sondern Sie müßten vor allen Dingen darauf sehen, Unterla­gen zu geben für ein Urteil, das sich der eine so, der andere so bilden kann; denn erst aus solchen Urteilen fließt dann etwas zusammen, was wir in Wirklichkeit brauchen können. Es ist ja leider nur allzu wahr, daß die gegenwärtige Welt an Urteilen sehr reich ist, daß sie aber im Grunde genommen weit weg ist von den tatsächlichen Un­terlagen zu berechtigten Urteilen.

Und da komme ich nun gleich auf einen Punkt, den ich unseren Betrachtungen voranstellen will, auf einen Punkt, der für Sie vor al­len

39

Dingen klar sein muß, von dem Sie, ich möchte sagen, mehr in der Formung Ihrer Reden ausgehen müssen, als daß Sie etwa genau dasselbe den Leuten sagen, was ich Ihnen nun hier auseinandersetze. Aber Sie müssen bei der Formung Ihrer Rede von dem Bewußtsein desjenigen ausgehen, was ich jetzt versuchen werde, auseinanderzu­setzen.

Sehen Sie, innerhalb der europäischen Zivilisation traten ja im Laufe der letzten 100, 150, 170 Jahre über die verschiedensten Ge­biete des sozialen Lebens die mannigfaltigsten Urteile, die mannig­faltigsten Agitationen auf. Versuchen Sie nur einmal, eine Über-schau zu halten über alles, was das 19. Jahrhundert an Ansichten ge­bracht hat über das soziale Leben, und Sie werden, wenn Sie diese Dinge durchgehen, immer sehen, daß eigentlich jede einzelne solche Bestrebung immer wunde Punkte hat. Man sieht überall, daß eine rechte Überschau über das, was not tut, eigentlich doch nicht vor­handen ist. Die Leute, die über soziale Fragen in dem letzten Zeital­ter geurteilt und diskutiert haben, sie haben viel Scharfsinniges vor­gebracht, viel außerordentlich Scharfsinniges. Aber es war alles so, daß man sich zuletzt doch sagen mußte: ja, all das bewirkt eigentlich in der Wirklichkeit nicht viel; man kann nichts machen mit dem, was von Nationalökonomen, von Praktikern und so weiter vorge­bracht worden ist über irgendwelche sozialen Einrichtungen und dergleichen. Man konnte das manchmal auf einem kleinen Gebiet brauchen, man konnte aber durchgreifend nichts damit anfangen. Und das liegt doch daran, daß man im Grunde genommen seit fast zwei Jahrhunderten innerhalb Europas Fragen «löst» aus allerersten Grundlagen heraus - man glaubt sie wenigstens aus allerersten Grundlagen heraus zu lösen -, die gar nicht aus diesen heraus zu lösen sind.

Ich möchte einen Vergleich gebrauchen, um das begreiflich zu machen, was ich sagen will. Wenn jemand sich ein Haus baut und das Fundament und das Erdgeschoß sind fertig, so darf ihm eigent­lich nicht einfallen, daß er nun einen ganz neuen Bauplan für den er­sten, zweiten Stock haben will. Er muß unbedingt in gewisser Weise so fortbauen, wie er das Fundament gelegt und den Grundplan ge­macht

40

hat. Wenn irgend etwas im Gange ist, so kann man nicht aus den Fundamenten heraus wiederum etwas ganz Neues machen. - So war es aber in Europa. Nationalökonomen, sozialistische Agitato­ren, bourgeoise Agitatoren, Praktiker und so weiter haben die wirt­schaftlichen, die rechtlichen Fragen lösen wollen, aber überall hin­gen die sogenannten Lösungen eigentlich in der Luft. Man konnte eben auch da nicht einfach von den Fundamenten ausgehen. Wenn man das Ganze des modernen Zivilisationslebens - das ja immer mehr und mehr ein solches Ganzes wurde, aus dem man nicht ein­zelne Dinge herausnehmen konnte - im Auge hatte, konnte man einfach nicht anders, als sich sagen: Ja, schließlich, wir leben ja in der Entwicklung drinnen. Wir können nicht heute fragen: Was sind die ersten Fundamente der Rechtsverhältnisse innerhalb der zivili­sierten Welt, was sind die ersten Fundamente der wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der zivilisierten Welt? Das ist etwas, was die Leute heute ganz und gar nicht berücksichtigen. Es ist zum Beispiel kurios in der Schweiz. Man glaubt, daß man mit Absehen von allem übrigen der Welt besondere «schweizerische Verhältnisse» ins Auge fassen und da wiederum über rechtliche und wirtschaftliche Verhält­nisse denken kann. So hat man es aber im Grunde genommen wirk­lich gemacht seit mehr als zwei Jahrhunderten. Und dadurch ist eigentlich das Chaos im wesentlichen gekommen. Denn sehen Sie, man hat eben versucht, Fragen zu «lösen» - lösen muß ich da unter Anführungszeichen sprechen -, die eigentlich alle im 18. Jahrhun­dert, wenn ich mich jetzt auf meinen Vergleich beziehen darf, bis zu der Beendigung des Erdgeschosses gekommen waren. Man konnte nur den nächsten Stock darauf bauen auf das, was schon da war. Das alles rührte davon her, daß man innerhalb der europäischen Zivilisa­tion ganz die Möglichkeit verloren hatte, richtige Empfindungen zu haben über historische Ereignisse, über solche historische Ereignis­se, welche Fundamente legen für das Leben, das aus ihnen dann her­vorgeht. Und wichtigste historische Ereignisse, die muß man richtig bewerten, wenn man später urteilen will. Man kann nicht immer aus den Fundamenten heraus urteilen.

Und da weise ich hin auf zwei wichtige Ereignisse, die, obgleich

41

sie sehr weit hinter uns liegen, jetzt scharf ins Auge gefaßt werden müssen. Denn sowohl unser geistiges, wie auch unser rechtlich­staatliches, wie auch unser wirtschaftliches Leben in Europa, fußen auf solchen Ereignissen, und man kann gar nicht über die moderne Zivilisation denken, ohne sich klar darüber zu sein, was durch diese Ereignisse nach Europa hereingetragen worden ist. Das eine der Er­eignisse ist das von 1721. Es ist der Friede von Nystad, der den Nor­dischen Krieg beendet hat. Das andere der Ereignisse ist das von 1763, der Friede von Paris, der die Differenzen zwischen Frankreich und den Freistaaten von Nordamerika und England zu einem Ende gebracht hat. Diese zwei Ereignisse sind eigentlich in der Tatsachen-welt mitten unter uns im europäischen Zivilisationsleben; überall sind die realen Wirkungen da. Aber der Europäer hat vollständig vergessen, an diese Ereignisse in der rechten Weise zu denken. Des­halb urteilt er überall unwirklich. Die Tatsachen, die ich eben ange­führt habe, stecken überall drinnen. Ich möchte sagen: An jedem Frühstückstische essen wir so, wie es gekommen ist durch diese zwei Ereignisse. Aber man will nichts wissen davon, wie man über­haupt nichts von der Wirklichkeit wissen will, sondern immer nur aus seinem Kopf heraus urteilt und logisch aus seinem Kopf heraus -aber wirklich - spinnt. Denn das meiste, was heute im sozialen Leben geurteilt wird, ist im Grunde genommen eigentlich ein Spinnen in der Bedeutung, wie das Wort im Volksmund vielfach gebraucht wird.

Sehen Sie, wenn man diese zwei Ereignisse richtig bewerten will, so muß man sich einen Zusammenhang vor Augen halten, der un­mittelbar zwischen diesen beiden Ereignissen und der europäischen Katastrophe, in der wir drinnenstecken, besteht. In der Menschheits­entwickelung ist es eben nicht so, daß man bloß über ein paar Jahre hin urteilen kann, weil sich die Tatsachen einfach über größere Zeit­räume erstrecken.

Die Dinge liegen ja so: Erst 1721, im Frieden von Nystad, ist es entschieden worden, daß Rußland als eine Macht, die in Betracht kommt sowohl im geistigen, wie im staatlich-rechtlichen, wie im wirtschaftlichen Leben, in die europäischen Verhältnisse eingreift. Nun, das bedeutet außerordentlich viel. Denn Rußland ist in bezug

42

auf seine geistige Verfassung - wir halten uns da nicht an die Schlag. worte, sondern an die Wirklichkeit -, Rußland ist nun einmal in be­zug auf die geistigen Interessen der Menschheit heute noch durchaus eine asiatische Macht, eine orientalisch-moralische Macht. Sein See-lenleben ist in der Verfassung, wie wir sie nur kennen in bezug auf orientalische Verhältnisse des Seelenlebens. Nur hineingeschoben in diese orientalische Seelenverfassung ist dasjenige, was durch Peter den Großen gekommen ist, was dann dazu geführt hat, daß Rußland bis an die Ostsee vorgedrungen ist.

Damit waren alle späteren Dinge schon entschieden. Und das ist wiederum etwas Charakteristisches: Europa hat fortdiskutiert dar­über, ob Rußland nach Konstantinopel kommen soll oder nicht. Das ist nicht das Wichtige gewesen, sondern das: ob es sich an euro­päischen Verhältnissen überhaupt beteiligen soll. Und diese Frage ist 1721 in dem Frieden von Nystad entschieden worden. Und das ist ja das Wesentliche im ganzen europäischen Diskutieren, daß man immerfort Fragen lösen wollte, die eigentlich zum großen Teil schon gelöst waren. Es war die Lösung schon bis zu einem gewissen Grade da, und man hat immer wieder von vorne angefangen, ohne Berücksichtigung dessen, daß eben schon Tatsachen da waren.

Was ist dadurch geworden? Wenn Sie die ganze Geschichte Euro­pas, insofern Rußland im 19. Jahrhundert daran beteiligt ist, neh­men, dann werden Sie sich sagen müssen: Diese Beteiligung Ruß­lands, denken Sie nur an die panslawistischen und an die slawophi­len Bestrebungen, die geht durchaus dahin, die geistigen Fragen des europäischen Lebens in einer orientalischen Weise aufzuwerfen. Vor dem Orient mußte ja zum Beispiel Rom in einer gewissen Wei­se kapitulieren. Der Orient wollte seine Seelenverfassung beibehal­ten; daher die Abspaltung des orientalischen Katholizismus von dem römischen Katholizismus. Das ist eine ganz andere Welt in bezug auf die Seelenverfassung. Das ist vor allem eine Welt, die immer da­hin tendiert hat, das, was im geistigen Leben hervortritt, mit dem zu verquicken, was weltliche, profane, staatliche Verwaltung ist. Man wollte in einer gewissen Weise in der staatlichen Leitung auch die religiöse Leitung suchen.

43

Dadurch hat das ganze Verhältnis der europäischen Zivilisation zu dem Osten seine Konfiguration erhalten. Dadurch sind die Fra­gen entstanden, die wirklich dagewesen sind, also nicht diejenigen, von denen man geträumt hat und über die man sich so zahllosen Il­lusionen hingegeben hat. Betrachten Sie nur alles, was im Osten auf der einen Seite die fortwährende Tendenz der tschechischen Slawen und der Südslawen nach Rußland war, welcher Rußland wiederum entgegenkam mit jenem, was ja im äußeren politischen Machtbe­reich nur Phrase war, was aber gerade ungeheuer verführerisch auf die Herzen des russischen Volkes gewirkt hat: die Befreiung der Völker auf dem Balkan. Überall sind es geistige Kräfte! Da hinein mischte sich das andere, was wiederum geistig-nationale Verhältnis­se sind: der Antagonismus zwischen dem polnisch-slawischen Ele­ment und dem russischen Element. Dadurch ist die ganze Situation für Osteuropa gekennzeichnet.

Und alles, was sich da im Geistigen abgespielt hat, das hängt ab von dem Gesamtleben der Zivilisation. Über die Dinge, die sich so in der Menschheitsentwickelung abspielen, kann man nicht so re­den, daß man bloß vom Partiellen ausgeht. Man kann einfach nicht sagen: es gibt im allgemeinen eine Ansicht, wie sich geistiges, wirt­schaftliches und politisch-rechtliches Leben zueinander verhalten sollen, sondern man kann nur unter gewissen real gegebenen Vor­aussetzungen über diese Fragen sprechen. Und die ganze Art und Weise, wie das nach Europa hereinverpflanzte orientalische Geistes­leben gewirkt hat, hängt ganz und gar davon ab, daß Rußland in so ausgiebigem Maße ein noch lange nicht vollständig zu Ende gekom­menes Agrarreich ist, daß da alles noch so ist, daß man sagt: Die Na­tur gibt noch her, was eigentlich den Gesamtton der Lebenshaltung angibt. Solch eine Seelenverfassung, wie sie da von Osten her ins eu­ropäische Leben hineingekommen ist, hängt durchaus von demjeni­gen ab, was von dem landwirtschaftlichen äußerlichen Leben in Rußland ermöglicht wird. Der einzelne Russe, ganz gleichgültig, welcher Klasse er angehört, würde diese Seelenverfassung nicht ha­ben, die er hat, wenn nicht das äußerliche Leben im Zusammenhang mit der Natur so innig wäre. Für das ganze orientalische Leben ist

44

eine eigentliche Wirtschaftsfrage, also das dritte Glied im dreigliedri­gen sozialen Oganismus, nicht vorhanden.

Es gibt überall für die ganze Welt diese drei Gebiete des mensch­lichen sozialen Lebens: das geistige Leben, das staatlich-rechtliche Leben und das Wirtschaftsleben. Aber die Seelenverfassung der Men­schen unter dem Einfluß dieser drei Glieder, die stellt sich immer an­ders dar, je nachdem ob die Menschheit nicht geneigt ist, hinzusehen auf das, was das Land gibt, oder ob sie gerade auf das hinsieht, was das Land gibt. Je weiter wir nach Osten hinüberkommen, um so mehr wird es selbstverständlich, daß man die Natur walten läßt, ihr dasjenige entnimmt, was sie hergibt, und damit wirtschaftet, ohne besonders das Wirtschaftsleben als solches zu organisieren. Und um was es sich in Rußland handelt, ist, daß man eben nicht nötig hatte, das Wirtschaftsleben als solches zu organisieren, oder es wenigstens nicht nötig fand. Das ist aber orientalische Denkweise.

Die orientalische Denkweise geht, wenn ich so sagen darf, so we­nig wie moglich über den Standpunkt hinaus, den eine andere «Be­völkerung» der Erde in dieser Beziehung einnimmt. Das ist nämlich die Tierwelt. Wer da glaubt, daß diese Tierwelt nicht auch ein geisti­ges Leben hat und sogar in gewisser Beziehung ein staatlich-recht­liches Leben, der würde auf ganz falscher Fährte sein. Das Tierleben hat durchaus auch eine geistige Welt und eine Art rechtliche Verfas­sung. Aber eine wirtschaftliche hat es nicht. Da nimmt es das, was ihm gerade die Natur gibt. Und von dieser Bevölkerung der Erde, dem Tierreiche, hebt sich möglichst wenig die orientalische Bevöl­kerung ab, die gerade dadurch dieses ausgeprägte, nach dem Bildli­chen, Intuitiven gehende geistige Leben hat, weil sie nimmt, was die Natur ihr bietet im Wirtschaftsleben, und über dieses Wirtschaftsle­ben eigentlich gar nicht besonders diskutiert. Alles, was an sozialer Struktur da ist, beruht eigentlich auf anderen Grundlagen als auf wirtschaftlichen Verhältnissen, beruht auf Herrschaftsverhältnissen, auf Erbschaftsverhältnissen, aber nicht auf wirtschaftlichem Den­ken. Diese besondere Seelenverfassung, die ist die Voraussetzung da­für, daß man überhaupt auf das nationale Element soviel geben kann, wie im Orient gegeben wird darauf.

45

Nun, Europa diskutiert seit zwei Jahrhunderten über die nationa­len und sozialen Fragen. Aber über beide hat man so diskutiert, daß man von den Elementen ausgegangen ist, ohne sich auf das Wirkli­che zu stellen, das schon da war. Man konnte einfach so, wie man im 19. Jahrhundert, besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts und im Beginn des 20. Jahrhunderts über nationale und s ziale Fragen gedacht hat, nicht mehr darüber denken, nachdem dem nationalen Element diejenige Nuance gegeben war, die ihm gegeben war dadurch, daß ein asiatisches Element, das Slawisch-Nationale, es in der Weise, wie das der Fall war, durchfruchtet hat. So hat man anachronistisch eigentlich über nationale Fragen diskutiert. Die Dinge, die man noch immer diskutierte, waren längst abgetan.

Man hätte sich bewußt sein sollen, daß eines Tages einfach die große Frage auftauchen könnte, ob nicht der Orient überhaupt das ganze Abendland überfluten könnte mit seiner Denkweise über das geistige Leben. Heute ist schon die Morgenröte dafür da. Man disku­tiert im Orient, in Asien drüben, wie man es eigentlich machen soll, damit das ganze technisch-wissenschaftliche Zeug in Europa mit sei­ner Abstraktion, mit seinem Ausbeutertum und so weiter ver­schwinde und das asiatische Element des menschlichen Fühlens und Empfindens, des Seelenhaften, die ganze Erde überziehe.

In abstracto kann man sich natürlich wiederum einverstanden da­mit erklären. Aber die Sache liegt doch so, daß das Seelen- und Gei­stesleben im Orient in der Dekadenz ist. Das hindert nicht, daß in den russischen Seelen Zukunftskräfte sind. Aber was da war, war vollständig in der Dekadenz. Man kann nicht darauf rechnen, daß etwas vom Orient herüberkommen könnte wie eine Erlösung. Se­hen Sie, durch diesen Frieden von Nystad 1721 ist eigentlich über ganz Europa die besondere Nuance im nationalen Denken gekom­men, die dem Slawentum aufgedrängt worden ist. Und alles, was von da ausgegangen ist, das hat Europa in gewisser Weise angesteckt, richtig angesteckt dadurch, daß Rußland teilnehmen konnte an den Europäischen Verhältnissen.

Und das Experimentierland - wenn man sich wirklich um die Weltverhältnisse bekümmern würde, nicht immer schon an den

46

Grenzen seiner Staatsverhältnisse haltmachen würde, so würde man so etwas einsehen -, das Experimentierland war Österreich. Und Österreich ist zugrunde gegangen aus dem Grunde, weil man dort fortwährend Fragen diskutiert hat, die bis zu einem gewissen Grade längst in eine bestimmte Richtung gebracht waren. Österreich ist mit seinem Slawenproblem nicht fertig geworden, weil es mit ihm nur hätte fertig werden können, wenn es einen Sinn entwickelt hät­te für die Urproduktion des Geistes, für ein geistiges Leben, das aus seinen eigenen Elementen heraus kommt.

Nicht wahr, man durfte ja über ein solches geistiges Leben zum Beispiel den Liberalen gegenüber, ihnen gegenüber am allerwenig­sten, überhaupt gar nicht reden. Denn sie sagten einem immer - und in solchen Ländern, die Republiken sind, wird das noch immer nachgesagt -, diese Liberalen sagten immer: Ja, wenn wir die Schule dem freien Geistesleben ausliefern, dann wird sich der Katholizis­mus dieser Schule bemächtigen, dann sind wir ausgeliefert an den Klerikalismus. Das wenden die Leute ein! Aber dieser Einwand rührt nur davon her, daß man sich als einzige Möglichkeit denkt, an ein Geistesleben zu appellieren, das vor Jahrhunderten produktiv war, heute aber da ist als etwas Anachronistisches, als etwas Deka­dentes. In dem Augenblick, wo man sich bewußt würde, daß wir ein frei schaffendes Geistesleben notwendig haben, würde man es als selbstverständlich finden, daß diesem frei schaffenden Denken na­türlich das Schulleben gegeben werden muß. Aber weil die Leute nicht den Sinn dafür haben, mit ihrem Willen teilzunehmen am Schaffen der Zivilisation, sondern weil sie sich lediglich hingeben wollen an etwas - sei es der Staat oder schon ein fertiges Wirtschafts­leben -, was sie nährt, weil sie keinen Sinn dafür haben, ihren Wil­len zu durchdringen mit etwas Schaffendem, daher treten solche ver­zagten Dinge auf wie dieses. Es handelt sich darum, daß man sich frei machen kann, ohne daß die Schule ausgeliefert wird an etwas Altes.

Die Leute, die so reden, wie ich es eben angedeutet habe, die sa­gen: Ein neues Geistesleben bringen wir doch nicht hervor, daher wird das alte alles überfluten. Da kann man natürlich leicht ein Anhänger

47

von Spengler werden mit seinem «Untergang des Abendlan­des». Das ist dann schon gleichgültig, ob wir gar nichts tun oder alles der katholischen Kirche überliefern. Aber ein neues Geistesleben muß eben da sein! Nicht das war das Falsche, daß die Kirche einmal die Schule gehabt hat; denn alles, was wir jetzt haben in den Wissen­schaften, rührt ja von der einen Seite durchaus von der alten Kirche her. Das ist nicht das Falsche, sondern das ist das Falsche: wenn die traditionelle Kirche heute noch die Schule haben sollte, wo wir vor der historischen Notwendigkeit stehen, ein neues Geistesleben zu gewinnen.

Also, es war nur die Impotenz Europas, über ein neues Geistes­leben zu sinnen, das die Diskussion über die nationale Frage herauf­gebracht hat. Es hätte von Mitteleuropa nach dem Osten hinüber gewirkt werden müssen im Sinne eines produktiven Geisteslebens. Dann wäre zweifellos daran erfroren, was in den panslawistischen und slawophilen Bestrebungen sich geltend gemacht hat. Dieses Gei­stesleben war im Anfang da. Um die Wende des 18. und 19. Jahr­hunderts hat man angefangen, ein freies Geistesleben zu schaffen, was wir «Goetheanismus» nennen. Aber es war nicht der Mut da, es festzuhalten - das auf der einen Seite.

Auf der anderen Seite steht dasjenige, was man im sozial-wirt­schaftlichen Sinn diskutiert. Seit 1763, seit von Frankreich wichtige Gebiete an England abgetreten werden mußten und damit der Ent­scheid darüber fiel, daß Amerika in seinem Norden nicht roma­nisch, sondern angelsächsisch wird, war die wirtschaftlich-soziale Frage in ein ganz bestimmtes Fahrwasser gelenkt. Im 18. Jahrhun­dert sind also schon wichtige Entscheidungen da: Im Osten diejeni­ge von 1721 mit dem Frieden zu Nystad, und im Westen diejenige von 1763 mit dem Frieden von Paris. Diese zwei wichtigen Ent­scheidungen, die drinnenstecken im gesamten geistigen und wirt­schaftlichen Leben Europas, die muß man ins Auge fassen, denn man kommt zu keinem Urteil, wenn man diese nicht ins Auge faßt. Und sehen Sie, man darf nicht so, wie man es heute von ganz sub­jektiven Standpunkten aus tut, die Dinge bewerten, die in der Welt­geschichte auftreten. Man kann auch manchmal nicht anders, als ge­wisse

48

radikale Wort bezeichnungen gebrauchen: Der Orient hatte einmal eine große, gewaltige Urweisheit. Heute ist es so, daß in ge­wissem Sinn der Orient mit seiner dekadenten alten Urweisheit der Barbarei verfallen ist. Denn Barbarei ist nichts anderes, als wenn die ursprünglichen menschlichen Instinkte rationalisiert werden, wenn sie durch den Verstand und durch das bloße Kopfleben dirigiert wer­den. Wenn wir aber den Orientalen einen Barbaren nennen und von der Barbarei in diesem Schillerschen Sinn bei dem Orientalen, na­mentlich bei dem Russen, reden, dann müssen wir, je weiter wir nach Westen vordringen, indem wir von England ausgehen und nach Amerika hinübergehen, dann müssen wir im selben Sinne die­se westliche Zivilisation nicht Zivilisation nennen, sondern Wild­heit. Diese ist das Gegenteil von Barbarentum. Der Barbar tyranni­siert Herz und Gemüt durch den Kopf; der Wilde tyrannisiert den Kopf durch das, was aus dem übrigen Organismus herauskommt, durch das Instinktleben. Und das ist im wesentlichen das westliche Leben, und dieses westliche Leben ist Anlage zur Wildheit! Im Grunde genommen, wenn man von Europas Übertünchtheit ab­sieht, die sich in Amerika findet, so muß man fragen: Was ist ameri­kanische Kultur? Es ist, radikal gesprochen, Wildheit. Aber dahinter steckt nicht eine chauvinistische Agitation! Wenn man dieses ameri­kanische Leben wirklich seinem Wesen nach erkennen will, so muß man sich sagen: eigentlich hat da nicht der Europäer über die India­ner innerlich gesiegt - äußerlich, ja! -, aber innerlich hat eigentlich sich der Europäer durchtränkt mit dem Indianerleben. Die Instinkte sind Herr geworden. Und das ist das Wesentliche: die Ansteckung des Europäers mit indianischen Instinkten. Denn es ist nicht nur so, daß der Europäer, wenn er längere Zeit drüben lebt, längere Arme bekommt und dergleichen - das ist etwas, was anthropologisch kon­statiert ist -, sondern auch die Seelenverfassung wird anders. Es kommt ja nicht darauf an, was der Mensch für Begriffe und Vorstel­lungen hat, sondern was er als Gesamtmensch für eine Verfassung hat. Und da muß man sagen: je weiter man nach Westen vorgedrun­gen ist, desto mehr ist das angelsächsische Wesen in die Wildheit übergegangen.

49

Diese Wildheit liegt durchaus vor. Und sie basiert darauf, daß nun wiederum die wirtschaftliche Frage nicht eigentlich in Diskus­sion ist. Im Orient wird die gesamte soziale Struktur durch die besondere Art, die ich Ihnen geschildert habe, absolutistisch. Im Westen wird sie anarchisch.

Studieren Sie einmal, was sich im Westen geltend gemacht hat. Man baute auf die Unerschöpflichkeit des Wirtschaftslebens, indem man es immer speiste von den Kolonien aus, indem man aus der Un­erschöpflichkeit heraus arbeitete und nicht darauf angewiesen war, daß man dieses Wirtschaftsleben durchdachte. Das westliche Wirt­schaftsleben ist ja durchaus darauf aufgebaut, daß aus den Kolonien soviel wie möglich herausgeholt wird, ob die Kolonien nun innen oder außen liegen, ist gleichgültig. Es ist ja durchaus bezeichnend, wenn Sie verfolgen, wie in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts immer weitere und weitere Gebiete in Ameri­ka dafür gewonnen worden sind, Produkte wie Feldfrüchte, Weizen und so weiter, zu liefern. Da schöpfte man aus der Natur heraus. Da hat man nicht nötig, besonders über das Wirtschaftsleben nachzu­denken. Da ist es einem natürlich gleichgültig, was Assoziationen im Wirtschaftsleben bedeuten, denn das Wirtschaftsleben wirkt aus der Unerschöpflichkeit heraus. Aber es geschieht doch etwas: es bil­det sich eine wirtschaftliche Struktur. Englands Struktur beruht dar­auf, daß es Indien hat. In Amerika bildet sich ein gewisses wirt­schaftliches Leben. Dieses hat dem ganzen Westen seine Struktur aufgedrückt in bezug auf das ganze soziale Leben. Da ist etwas ent­standen, was nur zu einem wirtschaftlichen Handeln geführt hat, das aus der Unerschöpflichkeit heraus geworden ist.

Im Osten tendierte das dekadente Geistesleben, das das wirt­schaftliche Leben gar nicht berücksichtigt, zur absoluten Herrschaft über alle Gebiete des sozialen Lebens; im Westen bildete sich durch die Assimilierbarkeit des angelsächsischen Elementes dasjenige aus, was ich eben jetzt charakterisiert habe. In diesen Gegensatz von Ost und West war die moderne Zivilisation gestellt.

Es ist interessant, zum Beispiel zwei Leute einander gegenüberzu­stellen: Rodbertus, den deutschen Nationalökonomen, der, trotzdem

50

er ein ziemlich vorurteilsfreier Mann war, sogar ins Ministeri­um kommen konnte - was sehr viel sagen will - und, sagen wir, Karl Marx. Ein Mensch wie Karl Marx war nur dadurch möglich, daß er zuerst das Denken in Mitteleuropa lernte und nachher sich die wirt­schaftlichen Verhältnisse im Westen ansah. Was Karl Marx für das Proletariat geleistet hat, hätte er nie leisten können, wenn er etwa in Deutschland geblieben wäre. Das ist nur dadurch gekommen, daß er das Denken in Deutschland gelernt hat, daß er die Art und Weise, wie man damit umgeht, in Frankreich, in Paris kennengelernt hat und daß er dann ein aus dem Unerschöpflichen heraus wirkendes Wirtschaftsleben mit allem, was dazu gehört, in England kennenge­lernt hat. Und auf dieses letztere konnte er erst bauen. Ebenso ist charakteristisch - also vergleichen Sie zwei solche Leute, Rodbertus und Karl Marx -, daß Rodbertus urteilt wie ein plötzlich soziali­stisch gewordener - das ist ja ein Ausnahmefall natürlich -, wie ein plötzlich sozialistisch gewordener pommerscher Rittergutsbesitzer. So etwa urteilt er, das ist interessant; denn wenn Sie sich zwei solche Gegensätze wie Rodbertus und Karl Marx vor Augen halten, dann kommt sehr viel Interessantes heraus! Aber von diesem Ausgangs­punkt ist Rodbertus zu verstehen: ein plötzlich sozialistisch gewor­dener pommerscher Rittergutsbesitzer! Ein solcher weiß sehr gut, daß man nirgends die Landwirtschaft entbehren kann; er weiß, was diese in der Volkswirtschaft bedeutet. Die anderen reden Zeug zu­sammen, das sehr gut den Leuten eingeht, die schon in der Jugend nicht zu unterscheiden lernten Gerste von Weizen, weil sie in der Stadt gelebt haben. Aber das weiß ein solcher Mann wie Rodbertus. Er weiß auch, was die Überlastung der Landwirtschaft durch Hypo­theken bedeutet. Hat er dazu noch sozialistische Allüren, wie er sie gehabt hat, dann verdirbt er sich das eine durch das andere nicht zu stark. Es kommt zwar etwas Fragliches zustande. Aber es wird doch das eine durch das andere korrigiert. Und dann kommt etwas halb Geniales heraus, wie es bei Rodbertus zutage getreten ist. Also ver­gleichen Sie das mit demjenigen, was Karl Marx gesagt hat, so wer­den Sie sich sagen: Der Proletarier von heute, im weitesten Sinne des Wortes, der findet, daß ihm das sofort einleuchtet, was Karl

51

Marx gesagt hat. Warum findet er das? Weil das aus einem Nur­Wirtschaftsleben heraus gedacht ist, und der Proletarier nur im Wirtschaftsleben drinnensteht, und weil es doch scharfsinnig ist, denn Karl Marx hat in Deutschland denken gelernt. Aber von der Art und Weise, wie das Wirtschaftsleben wird, wenn alles nur wirt­schaftlich gedacht ist, davon konnte sich der Deutsche doch keinen Begriff machen. Er kann es auch heute noch nicht. Er könnte es erst, wenn er sich sagen würde: Ich muß eine Realität schaffen, wo nur wirtschaftlich gedacht werden kann. Das ist innerhalb des dreiglied­rigen sozialen Organismus.

Was sonst hervortritt, auch das, was groß ist in westlichen Län­dern, nehmen Sie den Darwinismus, nehmen Sie Männer wie Spen­cer, Huxley oder irgendwelche Wissenschafter Amerikas bis hinauf zu Emerson, Wbitman, und so weiter, alles, alles ist im Grunde ge­nommen im Geistesleben doch so, daß man sagen muß: der Kopf denkt, was der Bauch ausbrütet. Es sind umgewandelte, umgesetzte Instinkte. Es ist eigentlich nur wirtschaftlich gedacht. Es ist nur da­nach gedacht, wie man ißt und trinkt. Das ist im weitesten Ausmaß und in allerintensivster Art der Fall. Gewiß, es bemerken es viele Menschen der Gegenwart nicht. Und wenn man es sagt, nehmen sie es als Schimpf. Aber es ist nicht als Schimpf gemeint. Es ist ja zu glei­cher Zeit etwas Großes, es ist das einzig Große in der neueren, in der neuesten Zivilisation, diese Art des Denkens. Aber es ist einmal so. Und zwischen diese beiden Extreme war nun tatsächlich die eu­ropäische Zivilisation seit dem 18. Jahrhundert hineingezwängt. Nur die Leute, die man ausgeschlossen hat von dieser europäischen Zivilisation, die man nur an die Maschine gestellt hat, die haben ein Denken an die Oberfläche gebracht, das eben scheinbar keinen Zu­sammenhang, aber in Wirklichkeit den allertiefsten Zusammenhang mit diesen Verhältnissen hat: das ist die proletarische Welt. Und es ist höchst interessant, wenn man die Dinge wirklichkeitsgemäß betrachtet.

Osterreich, sagte ich schon, war das Experimentierland. In den siebziger, achtziger Jahren des österreichischen Staatslebens treten ganz merkwürdige Dinge auf. Auf der einen Seite wird viel diskutiert

52

über die Slawenfrage. Manche nannten sie in besserer Weise den «österreichischen Föderalismus». Das ganze geistige Leben in Österreich, dieses eine Glied des dreigliedrigen Organismus, be­kommt seine Struktur völlig von dieser Diskussion über die Slawen-frage. Das andere ist: es treten auf - man findet es in den Nebensät­zen der Parlamentsreden viel mehr, als daß man sagen könnte, es ist geradezu herausgehoben in der richtigen Weise -, es treten auf furchtbare Befürchtungen über den Untergang des österreichischen Wirtschaftslebens durch den Amerikanismus, durch die angelsächsi­sche Wirtschaft. Man konnte in Österreich überall sehen, wie der Export, zum Beispiel an Getreide aus Ungarn, beeinträchtigt wird durch dasjenige, was von Westen kommt. Ganz einsichtsvolle Leute sagten dazumal in Österreich: Der Zug von Westen nach Osten, der überflutet unser Land mit Hypotheken, die Landwirtschaft geht all­mählich zugrunde. Das waren durchaus Hinweise auf Symptome, die tieferen historischen Grundlagen entsprachen, so daß dazumal in Österreich viel die Rede war von demjenigen, was auf der einen Sei­te hereinleuchtete als die Slawenfrage in geistiger Beziehung, und auf der anderen als die Agrarfrage in wirtschaftlicher Beziehung.

Und da tauchte zum Beispiel, ich glaube es war 1880, gerade in Österreich ein merkwürdiger Plan in einzelnen Köpfen auf, der ei­nem eigentlich einen sonderbaren Eindruck machte; es ist auch im österreichischen Parlament davon die Rede gewesen: der Plan eines Völkerbundes tauchte auf, eines Völkerbundes allerdings in der Form, daß man sagte: Westeuropäischer Völkerbund. Aber Bünd­nisse kann man nicht so schließen, daß man die ganze Welt damit umfaßt; das ist ein Unsinn. Das kann nur im Kopf eines solchen Ab­straktlings, wie es Woodrow Wilson ist, auftauchen, daß man die ganze Welt zusammenfaßt. Wenn das wäre, dann brauchte man na­türlich kein Bündnis mehr. Also, schon in den achtziger Jahren trat diese Idee eines Völkerbundes auf. Da sehen Sie wiederum so etwas, wovon man sagen kann: Ja, es sind im Laufe des 19. Jahrhunderts ganz sporadisch die Impulse aufgetaucht, die man eigentlich braucht; aber sie wurden immer überflutet von ihren uneigentlichen Lösungen, die immer vorgebracht wurden, ohne Berücksichtigung

53

der geschichtlichen Wirklichkeit. Wo auch immer die Wirklichkeit hereingeleuchtet hat in das menschliche Betrachten, da wurde sie sogleich ausgemerzt. Denn der neuere Mensch ist nun einmal ein Theoretiker.

Und das ist es, was ich Ihnen besonders ans Herz legen möchte:

Wenn es Ihnen nicht gelingt, den theoretischen Menschen abzule­gen, bevor Sie nun hinausziehen, so werden Sie nichts erreichen. Sie müssen den theoretischen Menschen ablegen, müssen aus der Wirk­lichkeit heraus versuchen zu sprechen. Das mag besser oder schlech­ter gelingen, darauf kommt es nicht an. Aber darauf kommt es an:

auf das Sprechen aus wirklichen Grundlagen heraus. Darum wollte ich heute keine Urteile abgeben, sondern Sie auf die Tatsachen hin­weisen. Ich sagte Ihnen: Betrachten Sie das, was sich herausgebildet hat durch den Frieden von Nystad 1721 und durch den Frieden von Paris 1763. Sie können alles, was die Geschichte darbietet, betrach­ten: Sie haben einen Gesichtspunkt. Sie werden es überall finden, was heute noch überall in das geistige, staatlich-rechtliche und wirt­schaftliche Leben hereinspielt. Ich möchte nur auf einen Weg hin-leuchten. Denn wenn man aus dem eigenen Urteil seine Worte be-flügeln läßt, kann man etwas erreichen - nicht, wenn man nur nachspricht.

54

DRITTER VORTRAG Stuttgart, 13. Februar 1921 (abends)

Aus den Vorgängen, die sich namentlich in der Gegenwart abspie­len, werden Sie ja ersehen, daß heute alles Reden über soziale Ange­legenheiten doch ohne das richtige Fundament ist, wenn man die in­ternationalen Verhältnisse nicht berücksichtigt. Deshalb habe ich für diese Betrachtungen gerade den Weg gewählt, der sich durch die gestrigen und heutigen Auseinandersetzungen schon verraten hat. Ich möchte ausgehen von einer kurzen Darstellung gewisser interna­tionaler Verhältnisse, um dann, so fundamentiert, zu unserer eigent­lichen Aufgabe kommen zu können.

Die vorhin gemachten Andeutungen werden Sie vor die Frage stellen: Wie hat man nun zu denken, um zu einer möglichen Lösung der großen weltgeschichtlichen Fragen von heute und der nächsten Zukunft zu kommen, wie hat man zu denken gegenüber dem Westen auf der einen Seite, gegenüber dem Osten auf der andern Seite?

Sie können ja unschwer einsehen, daß heute alles gewissermaßen im Denken der Menschen unifiziert wird. Nicht wahr, der Mensch, der heute über die Weltverhältnisse urteilen will, der denkt etwa in einer gewissen Frage nach folgendem Schema. Er sagt: Nach dem Westen hin haben wir die Aussicht, für die nächsten Jahrzehnte den Bestrebungen gegenübergestellt zu sein, die Mitteleuropa verfronen wollen. Man wird Mitteleuropa zur Fronarbeit zwingen. Und man kann dem, was da droht, nur entgehen, wenn man gewissermaßen die Orientierung, und man meint damit ungefähr dieselbe Orientie­rung, die der Westen uns angedeihen läßt in Mitteleuropa, wenn man diese Orientierung nun nach dem Osten einnimmt, also wirt­schaftliche Beziehungen nach dem Osten anknüpft und gewisserma­ßen für das, was nun in Deutschland erwirtschaftet wird, Absatz-quellen im Osten sucht. Da man eben gewohnt geworden ist, alles nur wirtschaftlich zu betrachten, so dehnt man das Schema nun nach dem Osten aus.

55

Das ist eigentlich mit Ausschluß jeder wirklichkeitsgemäßen Be­trachtung gesprochen. Und deshalb wollte ich vorhin voraus­schicken, wie der Osten und der Westen an unserem gesamten mo­dernen Zivilisationsleben beteiligt sind, damit ein Weg geschaffen werde für eine Urteilsgewinnung nach dieser Seite. Die Frage ist eben: Ist es aussichtsvoll von seiten der tonangebenden wirtschaf­tenden Menschen, die sich etwa eingliedern in jene Konfiguration, die, unter dem Einfluß des alleinseligmachenden Wirtschaftslebens, dasjenige annehmen soll, was man weiterhin das «Deutsche Reich» nennt, ist es aussichtsvoll, daß da nun wirtschaftliche Beziehungen nach dem Osten, wirtschaftliche Beziehungen als solche, unmittel­bar angeknüpft werden?

Wer abstrakt nach dem Schema, wie man heute denkt, sich die Sa­che zurechtlegt, sagt sich: Ja! Wer aber dasjenige beachtet, was das ganze Geistes-, Staats- und Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts und überhaupt des letzten Zeitalters uns lehrt, der wird wahrschein­lich zu einem anderen Urteil kommen. Denn nehmen Sie nur ein­mal die realen Tatsachen, die da vorliegen: Wir haben reichlich Ge­legenheit, zu sehen, wie hingebungsvoll und wie gerne der europäi­sche Osten das Geistesleben Mitteleuropas aufnimmt, wenn wir auf die Verhältnisse sehen, die im 19. Jahrhundert bis etwa zu seinen letzten Dezennien sich abgespielt haben. Denn wenn Sie auf das Geistesleben Rußlands eingehen und sich fragen: Wie ist es denn ei­gentlich zustande gekommen? - so werden Sie sehen, daß in diesem ganzen Geistesleben Rußlands ein Zweifaches lebt.

Erstens leben uns durch und durch in dem wirklichen russischen Geistesleben, in alledem, was uns da entgegengekommen ist und was Mitteleuropa aus einer gewissen Sensationslust, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eingetreten ist, aufgenommen hat - da leben uns durchaus die Reflexe gut mitteleuropäischen Denkens entgegen. Mit großer Willigkeit, mehr als innerhalb Deutschlands selber, wurden die deutschen Denker und alles, was mit deutschem Denken zusammenhängt, in Rußland aufgenommen. Sogar in ganz konkreter Weise berief man ja gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutsche Persönlichkeiten zur Einrichtung des russi­schen

56

Bildungslebens. Überall kann man sehen, wie dasjenige, was an konkreten Gedanken und Absichten für Institutionen in Ruß­land vorliegt, auf die Einwirkung Mitteleuropas, und zwar deut­scher Persönlichkeiten, hin entstanden ist, die gerade so zustande ge­kommen ist, wie einstmals sagenhaft die Rurik-Herrschaften, von denen man ja immer die Worte abgeleiert hört: die Russen hätten das und das und alles mögliche, nur keine Ordnung; deshalb wenden sie sich an die drei Brüder und sagen, die sollen ihnen Ordnung ma­chen. So ungefähr war es im ganzen 19. Jahrhundert mit Bezug auf alles das, was als geistige Quellen des Lebens vorliegt im Verhältnis zu Mitteleuropa. Überall, wo man etwas gebraucht hat, um Konkre­tes aufzunehmen, überall wandte man sich an Mitteleuropa oder Westeuropa. Aber die Reaktion gegenüber den beiden Gebieten war eine durchaus verschiedene. Das mitteleuropäische Leben lebte sich ein in das russische mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, ohne daß man viel Wesens davon machte, und es lebt weiter. Das mehr westeuropäische Geistesleben, das lebte sich so ein, daß man viel Wesens daraus machte, daß es einen gewissen konkreten, sensatio­nellen Anstrich annahm, daß es mit einem gewissen Pomp, mit ei­nem gewissen dekorativen Element sich einlebte. Das ist etwas, was durchaus berücksichtigt werden muß. Nehmen Sie den bedeutend­sten russischen Philosophen Solovjev. Solch ein Philosoph hat inner­halb des russischen Lebens eine ganz andere Bedeutung als ein Philo­soph innerhalb des mitteleuropäischen Lebens. Alles das, was an Ge­danken in ihm ist, ist mitteleuropäisch, ist hegelisch, ist kantisch oder goethisch und so weiter. Wir finden überall nur die Reflexe un­seres eigenen Lebens, wenn wir uns diesen Philosophen hingeben in bezug auf ihre konkreten Gedanken. Man kann sogar sagen: Was an konkreten Gedanken bei To/stoj vorhanden ist, ist mitteleuropäisch oder westeuropäisch - aber mit allen Verschiedenheiten, die ich eben auseinandergesetzt habe. Sogar für Dostojevskij gilt dasselbe, trotz seiner Verbohrtheit in russisch-nationalen Chauvinismus. Das alles ist die eine Seite.

Sie sehen aber gerade, ich möchte sagen, mit einer gewissen Ein-stimmigkeit, in Rußland Ablehnung auftreten, als Rußland Ende

57

des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts von den wirtschaftlichen Ma­chinationen Mitteleuropas berührt wird. Denken Sie nur an die Aufnahme gewisser Handelsvertragsbestimmungen und derglei­chen. Und denken Sie, wie mimosenhaft sich das russische Element verhalten hat - abgesehen von den Schreiern -, wie mimosenhaft sich Rußland als Volkselement verhalten hat in der Ablehnung ge­gen das, was da als rein wirtschaftliche Invasion sich geltend ge­macht hat oder als wirtschaftliche Machtentfaltung.

Das alles müßte Wegleitung sein. Das alles müßte zeigen, daß es ein Handeln ware mit ungeeigneten Fingern, wenn man heute dar­auf ausgehen würde, ein Verhältnis zum Osten hin zu tragen durch Handel oder sonstige wirtschaftliche Beziehungen. Worauf es an­kommt und was wir erreichen müssen trotz der großen Schwierig­keiten, die gegenüber dem bolschewistischen Element mit der Sache verbunden sind, das ist vor allen Dingen, nach Rußland das geistige Element, insofern es vom produktiven Geistesleben ausgeht, hinein­zubringen. Alles, was von einem produktiven Geistesleben ausgeht, erstreckt sich auf Anschauungen, auf Empfindungen, die das Gei­stesleben selbst oder das Staatsleben oder das Wirtschaftsleben be­treffen. Alles das wird ganz gut von dem russischen Element aufge­nommen werden.

Denn das zweite Element zu dem ersten, das eigentlich nur in der Übernahme der konkreten, namentlich deutschen Gedanken be­steht, das zweite Element am russischen Geistesleben, das ist eine, ja, wie soll man es nennen, eine undifferenzierte, vage - das ist nicht ir­gendwie agitatorisch gemeint, sondern wieder eine Terminologie -, eine vage Gemüts- und Gefühlssauce. Das ist es ja auch, was zum Beispiel ganz charakteristisch beobachtet werden kann bei solch ei­nem Philosophen, der geradezu typisch ist für das russische Element wie Solovjev: Die Gedanken sind urdeutsch. Aber sie treten in einer ganz anderen Form auf bei Solovjev als etwa bei den deutschen Den­kern. Auch das Goethesche tritt in einer ganz anderen Form bei So­lovjev auf. Es ist darüber ausgegossen und hineingegossen, hinein-versetzt, eine gewisse Gemüts- und Gefühlssauce, die dem Ganzen eine gewisse Nuance gibt. Aber diese Nuance ist auch das einzige,

58

was dieses Leben unterscheidet. Und diese Nuance ist etwas Passi­ves, etwas Annehmerisches. Und das ist angewiesen darauf, das mit­ieleuropäische Geistesleben aufzunehmen.

In diesem Verkehr zwischen dem mitteleuropäischen Geistes-leben und dem russischen Volkselement kann sich etwas Grandioses fruchtbar für die Zukunft entwickeln. Aber man muß einen Sinn haben dafür, wie zivilisationsschöpferisch gerade ein solcher Ver­kehr ist. Nur muß er sich abspielen im rein geistigen Element. Er muß sich abspielen in einem gewissen Element, das auf das Ver­liältnis gebaut ist zwischen Mensch und Mensch. Dieses Verhältnis mussen wir gewinnen zum Osten. Und wenn das eingesehen wird, dann wird sich ganz von selbst in das, was da aus dem Geistesleben heraus geschieht, dasjenige hineinbegeben, was man nennen kann ei­ne selbstverständliche Wirtschaftsgemeinschaft. Von der darf nicht ausgegangen werden, sonst wird sie unbedingt zurückgeschlagen. Alles, was die Wirtschaftler nach dem Osten hin tun könnten, das wird uns ganz gewiß nichts bringen, wenn es nicht auf der Grund­lage desjenigen aufgebaut ist, was ich eben auseinandergesetzt habe. Das ist eine eminent sozial wichtige Frage, daß man dieses ins Auge faßt.

Das andere muß uns das Verhältnis zum Westen sein. Sehen Sie, den Westen zu belehren mit dem, was unser mitteleuropäisches Gei­stesleben ist, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und mit dieser Unmöglichkeit sollte man durchaus rechnen, abgesehen davon, daß es schon außerordentlich schwierig ist, nur zur Übersetzung zu bringen, was wir in Mitteleuropa denken, was wir in Mitteleuropa empfinden, was auch der Osten empfindet. Die ganze Art und Wei­se des Anschauens, wenn es sich um rein geistige Dinge handelt, ist durch und durch verschieden zwischen dem mitteleuropäischen Ge­biet einerseits und dem Westen und Amerika andererseits. Die Leute haben sich gewundert, daß der Wilson so wenig von Europa verstan­den hat, als er nach Paris kam. Sie hätten sich weniger gewundert, wenn sie ein dickes Buch sich angesehen hätten, das Wilson schon in den neunziger Jahren geschrieben hat, es heißt «Der Staat». Das Buch, das ist eigentlich ganz unter Aufnahme europäischer Gelehrsamkeit

59

geschrieben. Aber man soll nur anschauen, was daraus ge­worden ist, aus dieser europäischen Gelehrsamkeit! Man hätte sich gar nicht gewundert, wenn man die Antezedenzien ins Auge gefaßt hätte, die vorlagen, man hätte sich nicht gewundert, daß der Wilson vom Europäischen nichts verstehen konnte. Das konnte er nicht. Denn insofern das Denken als solches in Betracht kommt, insofern ist es vergeblich, da irgendwie einen unmittelbaren Eindruck her­vorzurufen. Dagegen würde es ganz bedeutsam sein, wenn man sich einmal die Sache so vorstellte, daß man sagte, ja, wenn man etwa von Volk zu Volk verhandeln will mit dem Westen, so kommt man auf keinen grünen Zweig. Wenn man aber von den Verhandlungen ausschließt die Staatsmänner und die Gelehrten, die Gelehrten auf allen Gebieten und die Staatsmänner erst recht, wenn man keine Staatsmänner nach dem Westen schickt, sondern bloß Wirtschaftler, dann werden die westlichen Menschen diese Wirtschaftler verste­hen, und es wird etwas Ersprießliches dabei herauskommen. Nur auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens wird man in unmittelbaren Verhandlungen etwas im Westen verstehn. Das heißt aber nicht, daß man sich in bezug auf den Verkehr mit dem Westen lediglich beschränken sollte auf dasjenige, was Wirtschaftsleben ist. 0 nein, das braucht man nicht. Es ist ja zum Beispiel höchst interessant, sich manche Konzertsäle, große Konzertsäle, in westlichen Ländergebie­ten und die Namen von berühmten Komponisten anzuschauen, die da draufstehen: Mozart, Beethoven, Wagner und so weiter-, man fin­det in der Regel nur deutsche Namen. Also Sie können sicher sein:

Wenn man bloß aus der mitteleuropäischen Denksubstanz heraus in Westeuropa Eindruck machen möchte, würde man nicht sehr weit kommen, weder bei dem romanischen noch bei dem angelsächsi­schen Element. Das schließt nicht aus, daß man natürlich auch über das, was in Mitteleuropa gedacht wird, zu den Leuten reden kann. Selbstverständlich kann man das. Aber man muß in anderer Weise reden als in Mitteleuropa, wo man auf das Vorstellungsleben, das Gedankenleben in erster Linie Rücksicht nimmt. Nehmen Sie ein größeres Beispiel: Mehr noch als das, was zumeist heute in unserem Dornacher Bau tradiert wird, versteht der Westeuropäer, und auch

60

der Amerikaner vielleicht, den Dornacher Bau selber, dasjenige, was als Faktisches aus der Sache hervorgeht.

Natürlich kann man im Reden selbst die Sache so gestalten, daß man das Faktische herauskommen läßt aus der Sache. So war es ja vor dem Krieg - es darf wiederum hervorgehoben werden, ohne un­bescheiden zu sein - so weit, daß ich im Mai 1914 in Paris einen deutschen Vortrag halten konnte, der Wort für Wort übersetzt wer­den mußte; aber ich konnte ihn deutsch halten. Und dieser Vortrag, das sage ich nur als Tatsache, der hatte einen größeren Erfolg, als je­mals innerhalb Deutschlands ein Vortrag von mir hatte. Wir waren so weit. Aber es ist notwendig, daß man dann dasjenige, was gesagt wird, in einer ganz bestimmten Weise umkleidet, so daß man es, ich möchte sagen, mehr mit der Fassade, mit dem Künstlerischen, mit dem, was daraus wird, was nach außen wirken kann, daß man es so vor die Leute hintreten läßt. Da handelt es sich in einem hohen Maße um das Wie.

Und deshalb ist es durchaus kein Unreales, sondern es ist ein sehr konkret realer Gedanke, wenn man sich sagt: Wir werden nach dem Westen hin einen großen Eindruck machen, wenn wir unsere Auf­gabe in dieser Weise richtig verstehen, wenn wir zum Beispiel wirk­lich hinauskommen über das, was uns ja doch nicht gelingt und nie­mals gelingen wird, denn wir bleiben immer hinter dem Westen zu­rück, wenn wir hinauskommen über die Nachahmung des Westens. Sehen Sie, ganz gleichgültig, ob wir dem Westen Maschinen nachah­men - wir machen sie nicht so präzise wie der Westen -, ob wir ihm falsche Zähne nachmachen, wir machen sie nicht so elegant wie der Westen, es ist ganz gleichgültig! Wenn wir bloß nachahmen, so kommen wir mit dem Westen nicht zurecht. Denn er braucht das nicht anzunehmen, was wir dabei hervorbringen. Aber wenn wir er­fassen, was wir können, und was der Westen nicht kann, wenn wir zum Beispiel die Technik durchdringen würden mit Kunst und künstlerischer Auffassung, wenn wir wirklich zu dem kommen würden, was innerhalb unserer Anthroposophischen Gesellschaft längst figuriert, was wir nur nicht zur Ausführung bringen aus Man­gel an Persönlichkeiten, die sich dazu hergeben, wenn wir zum Beispiel

61

die Lokomotive künstlerisch gestalten würden, wenn wir den Bahnhof, in den man einfährt, künstlerisch gestalten würden, wenn wir dem, was von uns ergriffen werden kann, einprägten, was an uns ist, dann nehmen es die westlichen Menschen, dann verstehen sie es auch. Und dann verkehren sie auch mit uns. Aber wir müssen eine Vorstellung davon haben, wie dieser Verkehr sein soll. Das kann nur jeder auf seinem eigenen Gebiet tun, aber das müßte gemacht werden. Und anfangen müßte man in der Gegenwart damit, daß man erkennt, wie aus den ganz realen Verhältnissen heraus der Impuls der Dreigliederung ja entsteht.

Wir müssen ein Geistesleben haben, das so beschaffen ist, daß es mehr auf den Osten wirken kann in der eben charakterisierten Wei­se, das kann nur ein produktives Geistesleben sein. Damit würden wir schon ausstechen all die Lunatscharskijs und die anderen. Denn auf die Dauer würden diese nicht das Russenvolk, die russische Volksseele, versklaven können. Wenn wir dieses produktive Gei­stesleben nur erst haben, wird es schon geschehen, daß das auf den Osten einen Eindruck macht. Wir müssen nur die Kraft bekommen, dieses Geistesleben selber zur Geltung zu bringen. Wir müssen be­siegen all das Geschmeiß, das herankommt und dieses Geistesleben jetzt tottreten will.

Es ist ja so weit gekommen mit der Feindschaft gegen das Geistes­leben, daß ich neulich in Dornach einen Passus vorlesen mußte, der zum Inhalt hatte, daß nun der geistigen Feuerfunken genug entzün­det sind im Zusammenstoß mit der Geisteswissenschaft, daß wirk­lich der reale Feuerfunke diesen Dornacher Bau nun endlich ergrei­fen müsse. - Also die Gegnerschaften nehmen schon die allerbrutal­sten Formen an. Es handelt sich darum, daß es ein Notwendiges ist: dieses produktive Geistesleben, dieses ganz konkrete, produktive Geistesleben ohne Rücksicht darauf, was die Leute höhnen und was sie treiben, zur Geltung zu bringen. Denn man kann wissen: Dieses produktive Geistesleben, das in Mitteleuropa entspringen kann, das kann jene große Bruderschaft hervorrufen, die auf den Osten sich ausdehnen kann und die den Osten mit Mitteleuropa vereinen kann, während alle brutalen wirtschaftlichen Machinationen nur immer

62

mehr und mehr Abgründe aufrichten würden zwischen Mitteleuro­pa und dem Osten. Das ist das außerordentlich Wichtige, daß man solche Dinge durchschaut und daß solche Dinge populär gemacht werden. Es ist ja schon aus dem Grunde ganz besonders wichtig, weil, wenn Sie ein Publikum gewinnen für solche Dinge, die Leute dann dadurch, daß sie sich gewöhnen, auf solchen Wegen zu den­ken, auch in den übrigen sozialen Fragen zu einem ganz anderen Denken kommen.

Aber das muß auf einer breiteren Basis gemacht werden, als es bis­her geschehen ist. Dazu ist notwendig, daß wirklich nun mit allem Feuer dafür gearbeitet werde, daß unsere Dinge, die wir treiben, nicht immer eine in gewissem Sinne doch verlorene Arbeit sind. Denn das muß ja hervorgehoben werden, meine lieben Freunde: Es liegt heute ein reichliches Material vor in unserer Dreigliederungs-zeitung, das aber im Grunde genommen doch eingesargt ist, weil es nur Literatur zunächst ist. Es wird dadurch notwendig, daß man im­mer weiter arbeitet. Aber das ist eine Unmöglichkeit. Es muß tat­sächlich auf breiter Basis, durch viele Menschen, das verarbeitet wer­den, was da oder dort angeschlagen ist. Aber man muß in diese Din­ge klar hineinsehen.

Man muß sich ganz klar sein darüber, daß wir das freie produkti­ve Geistesleben brauchen, und daß wir es kultivieren müssen, damit wir mit dem Osten in ein mögliches Verhältnis kommen können.

Und ebenso müssen wir ein Wirtschaftsleben haben, in das sich der Staat nicht hineinmischt, in das sich das Geistesleben nicht hin-einmischt, in dem nur die Wirtschaftler tätig sind, um mit dem We­sten zunächst zu verhandeln. Diese Verhandlungen müssen die Wirtschaftenden allein besorgen. Nur auf diese Weise wird etwas da­bei herauskommen. Man kann es machen, man soll es auch machen, solange es nicht anders möglich ist: auch mit dem Westen von Staat zu Staat zu verhandeln. Aber herauskommen wird dabei nichts Er­sprießliches. Sondern dann erst wird etwas herauskommen, wenn bei uns die Staatsmänner aus den Wirtschaftsverhandlungen ver­schwinden, ganz gleichgültig, wie die herüberschreien da drüben. Mögen die Staatsmänner verhandeln da drüben! Da stehen die

63

Staatsmänner im Wirtschaftsleben drinnen. Aber bei uns, wenn da die Wirtschaftsmänner Staatsmänner werden, dann entwirtschaften sie sich; dann werden sie Männer, die ganz staatlich denken.

Das ist das Wichtige, daß man die realen Notwendigkeiten des Le­bens durchschaut. Wir müssen also aus dem Grunde schon eine Dreigliederung des sozialen Organismus haben, damit wir die Wirt­schaftler, die unbeeinflußt sind von den Machinationen des Staates und des Geisteslebens, nach dem Westen schicken können. Und wir brauchen ein freies Geistesleben, damit wir in ein mögliches Ver­hältnis zum Osten kommen. Also die internationalen Verhältnisse selber legen uns dieses durchaus au£

Wie sich das im einzelnen gestaltet, das muß sich jeder selber aus­bauen. Denn es soll nur eine Wegleitung sein, was hier gegeben wird. Es ist aber eine Wegleitung aus den realen Verhältnissen her­aus. Und man muß das, was öfter gesagt worden ist, im tiefsten Sinn ernst nehmen. Es ist nicht wahr, daß heute die Praktiker in Wirk­lichkeit etwas vom praktischen Leben verstehen. Sie verstehen vom wahrhaft praktischen Leben eigentlich im Grunde genommen gar nichts - gerade insofern sie Praktiker sind! Weil die Praktiker heute in Wahrheit die stärksten Theoretiker sind, weil sie sich ganz in ein­zelne Gedankenschemen einleben und theoretisieren in der Praxis drinnen. Das ist es eben, was im tiefsten Sinne des Wortes einmal gründlich eingesehen werden muß. Und das müssen wir unserer so-genannten «Agitation» ganz herzhaft zugrunde legen: daß wir aus den realen Verhältnissen heraus arbeiten.

Sehen Sie, wir müssen vor allen Dingen uns klar sein darüber, daß das moderne Wirtschaftsleben als solches notwendig macht diese Dreigliederung. Und zwar aus dem Grunde, weil dieses Wirtschafts­leben heute chaotisch durcheinandergemischt ist aus den Impulsen des Ostens, den Impulsen des Westens und den Impulsen der Mitte. Und das ist so: Das Wirtschaftsleben, es besteht ja im Grunde ge­nommen aus drei Elementen: aus dem, was die Natur hergibt in dem Sinn, wie ich es in der vorhergehenden Stunde auseinanderge­setzt habe; dann dem, was menschliche Arbeit schafft; und dem, was durch das Kapital geleistet wird. Kapital, menschliche Arbeit und

64

das, was die Natur hergibt und was durch die Produktion dann fortgesetzt wird, das ist dasjenige, was im Wirtschaftsleben drinnen figuriert.

Aber sehen Sie, so, wie es beim menschlichen dreigliedrigen Or­ganismus ist, daß er aus drei Gliedern besteht, aber in jedem seiner Glieder sich wiederholt die Dreigliederung, so ist es auch beim sozia­len Organismus. Wir haben im Haupte gewiß ein Organ des Men­schen, welches vorzugsweise Nerven-Sinnes-Organ ist; aber das Haupt wird auch ernährt, es wird in einer gewissen Beziehung von Ernährungsorganen durchzogen. Ebenso haben wir in dem, was bloß Stoffwechsel-Organismus ist, im Stoffwechsel drinnen, dem Stoffwechsel dienend, wieder etwas vom Nerven-Sinnes-Organis­mus, den Nervus sympathicus. So ist es auch in bezug auf die Drei-gliederung des sozialen Organismus. Da steckt in jedem der drei Glieder wiederum das Ganze drinnen. Aber es steckt heute in einer unorganischen Weise drinnen. Es steckt so drinnen, daß es das Le­ben zerstört, daß es das Leben nicht aufbaut.

Da steckt zunächst die Natur drinnen, und die Produktion ist ja nur eine Fortsetzung der Natur. Und insofern die Natur drinnen-steckt, steckt eigentlich in unserem Wirtschaftsleben noch diejenige Empfindungsweise drinnen, die ganz orientalisch ist, die ganz aus dem Osten ist. Der Orientale wird gar nicht verstehen, daß man ir­gendwie ins Wirtschaftsleben einbeziehen könnte dasjenige, was menschliche Arbeit ist. Und selbst wenn wir in unsere von orientali­schen Verhältnissen noch durchzogenen früheren Wirtschaftsver­hältnisse zurückgehen, so wird man da nirgends finden, daß im Wirtschaftsleben drinnen die menschliche Arbeit mitfiguriert.

Es ist auch unmöglich, daß diese menschliche Arbeit mitfiguriert im Wirtschaftsleben. Denn, sehen Sie, Sie können Äpfel und Äpfel zusammenrechnen. Sie können rechnerisch etwas herausbekommen. Sie können auch Äpfel und Birnen zu Früchten zusammenrechnen. Sie werden rechnerisch etwas herausbekommen. Ich weiß aber nicht, wie Sie zum Beispiel Äpfel und Brillen zu einer gemeinsamen Summe rechnerisch zusammenfügen wollten. Nun ist dasjenige, was in einem Gut steckt, in einer Ware steckt, grundverschieden von

65

dem, was als menschliche Arbeit, wie man mit einem marxistischen Ausdruck sagt, «in die Ware hereingeronnen ist», was nichts anderes ist als eine Torheit, so zu sprechen, aber es ist einmal heute populär geworden, zu sagen: was «in die Ware hineingeronnen ist». Diese menschliche Arbeit und dasjenige, was im Gut, in der Ware drin­nensteckt, das zu irgend etwas Gemeinschaftlichem zu machen, das ist ein ebensolcher Unsinn, als wenn Sie Äpfel und Brillen zu etwas Gemeinschaftlichem machen wollen. Aber die moderne Volkswirt­schaft hat es dazu gemacht. Es hat also das wirtschaftliche Leben das Kunststück fertiggebracht, sozusagen die Brillen zu essen und die Äpfel als Bewaffnung der Augen zu nehmen.

Das merkt man nicht im menschlichen Leben. In untergeordne­ten Naturreichen merkt man es. Es klingt paradox, wenn man so et­was sagt, aber in Wirklichkeit wird es fortwährend gemacht. Und in dem man drinnen im wirtschaftlichen Leben den Lohn überhaupt hat und der Lohn etwas in sich trägt, was eben bezahlt werden soll und was im Preise der Ware drinnen ist, wie das, was von der Natur kommt, hat man in der Tat Äpfel und Brillen addiert. Es ist eine Unmöglichkeit. Es ist gar nicht denkbar.

Als die drei Gebiete des sozialen Organismus, geistiges Leben, staatlich-rechtliches Leben und wirtschaftliches Leben, noch aus al­ten Verhältnissen geregelt waren, letzteres in orientalischer Weise, als man, ohne daß man eigentlich viel darüber nachgedacht, sondern nur aus dem Überfluß heraus produziert hat - ich sagte in der vor­hergehenden Stunde: etwa ein bißchen höher als das Tier, das auch nur nimmt, wie es die Natur bietet -, hat man in älteren Zeiten auch in unseren Gegenden durchaus nicht Ware und Arbeit zusammen-addiert. Die Arbeit war in einer anderen Weise geregelt: man war Gutsherr, adeliger Gutsherr, man erbte von seinen Vorfahren diese soziale Position. Wenn man nicht ein solches Blut in seinen Adern hatte, war man Höriger, Leibeigener, Sklave. Das heißt, die Men­schen waren in einem rechtlichen Verhältnis zueinander. Ob man nun zu arbeiten hatte oder ob man sein Bäuchlein pflegen und vom Balkon zuschauen konnte, wie die anderen arbeiteten, das war nicht nach Preisverhältnissen oder Geldverhältnissen bestimmt, sondern

66

da lagen rechtliche Verhältnisse zugrunde. Es war aus ganz andern Untergründen heraus die Arbeit geregelt als der Güterverkehr. Das war durchaus getrennt in dieser Regelung aus alten Verhältnissen, die wir jetzt nicht mehr brauchen können. Es war zweierlei: die Wa­re und die menschliche Arbeit im Oriente. Es ist durchaus immer gedacht gewesen, daß aus anderen Untergründen heraus die rechtli­chen Arbeitsverhältnisse sich feststellten als der Güterumlauf. Jene ergaben sich aus diesen alten rechtlichen Verhältnissen, gewiß. Aber es wurde nicht Arbeit irgendwie bezahlt, sondern der Mensch wur­de an einen Posten hingestellt und arbeitete dann, und was er arbei­tete, das zirkulierte. Aber es «rann» nicht hinein irgend etwas von menschlicher Arbeitskraft «in das Produkt».

So sehen Sie schon, es steckt in dem, was wirtschaftlich zustande kommt, weil ja die Arbeit daran beteiligt ist, durch die Arbeit das staatlich-rechtliche Verhältnis drinnen. Wenn wir im Wirtschaftsle­ben von dem rein Wirtschaftlichen sprechen, müssen wir von Gü­tern, von Waren sprechen. Insofern wir von dem entwickelten Wirtschaftsleben, von dem Wirtschaftsleben also, das namentlich auf Teilung der Arbeit beruht, sprechen, müssen wir ein staatlich-rechtliches Element schon dazufügen, so daß die Arbeitsregelung ein Staatlich-Rechtliches ist. Es schlägt also hinüber in das andere Glied des sozialen Organismus. Und das Kapital - ja, das Kapital ist im wesentlichen doch in dem Verhältnis drinnen im Wirtschaftsle­ben, daß es das Wirtschaftsleben geistig trägt. Das Kapital ist dasjeni­ge, was die Wirtschaftszentren schafft, was die Betriebe schafft. Es ist das geistige Element im Wirtschaftsleben. Nur ist es so, daß unter dem modernen Materialismus dieses Geistesleben im Wirtschaftsle­ben einen materialistischen Charakter angenommen hat. Aber es ist das geistige Element trotzdem im Wirtschaftsleben. Das kapitalisti­sche Element ist das Geistige im Wirtschaftsleben.

Das führt uns dahin, in diesem Wirtschaftsleben selbst wiederum die Dreigliederung zu suchen. Das heißt, vom eigentlichen Wirt­schaftsleben aus, in dem Warenproduktion, Warenzirkulation und Warenkonsum sich abspielen, ist das, was als Arbeit in das Wirt­schaftsleben hineinfließt, in Zusammenhang zu bringen mit dem

67

Rechts- oder Staatsle ben; und das Kapital, das das eigentliche geistige Element ist, ist in Zusammenhang zu bringen mit dem Geistesleben. Konkret dargestellt finden Sie dies in den «Kernpunkten», wo es heißt, daß die Kapitalübertragung, die Kapitalzirkulation in einer bestimmten Beziehung zum Geistesleben stehen muß. Das ist es: daß wir lernen, innerhalb des Wirtschaftslebens selbst diese drei Ge­biete auseinanderzuhalten.

Man wird sich aber ein richtiges Bild von dem, was da eigentlich ist, nur dann machen, wenn man auf der einen Seite weiß, daß wir in einer gewissen Beziehung das regeln müssen, über das der Orientale sorglos hinweggegangen ist: die Beziehungen des menschlichen Wirtschaftslebens zur Natur. Beim Orientalen war das eine Selbst-verständlichkeit. Wir müssen es regeln. Beim westlichen Menschen, da ist das ganze Geistesleben, wie ich Ihnen vorhin ausgeführt habe, im Wirtschaftsleben aufgegangen. Selbst Spencer denkt wirtschaft­lich, wenn er angeblich wissenschaftlich denkt. Da steckt alles im Wirtschaftsleben drinnen. Da ist das Geistesleben wirtschaftlich. Daher wird der Kapitalismus als solcher materialistisch. Das Kapital muß ja da sein, wie auch in den «Kernpunkten» steht, aber das Zu­sammenfassen des Geistigen zum Kapital wird den stärksten Wider­stand erfahren im Westen, wo der Kapitalismus, so wie er jetzt ist, gerade der westlichen Denkweise entspricht, wo man alles Geistige in das Materielle hineinbringt. Daher ist im Grunde genommen al­les, was jetzt der mittleren Welt vom Westen aufgezwungen wird, worüber man soviele unberechtigte Worte braucht, im Grunde ge­nommen eigentlich durchaus nichts anderes als die Wirkung des westlichen Kapitalismus, der nur große Dimensionen angenommen hat. So daß man, während die westlichen Staaten eben verkapitali­siert sind, glaubt, man habe es mit dem bloßen Staatsgebilde zu tun. Das ist nicht so. Auch die Staatsmänner sind da Wirtschafter im Grunde genommen, gerade so, wie die Gelehrten Wirtschafter sind. Und so wird man das auseinanderzuhalten haben, was da, ich möch­te sagen, auf der einen Seite von uns im Wirtschaftsleben durchge­dacht werden muß, während der Orient nicht gewohnt ist, das zu durchdenken - was auf der andern Seite durchgeistigt werden muß

68

in bezug auf den Kapitalismus, während dem Westen es gar nicht einfällt, die Sache zu durchgeistigen. Das ist dasjenige, was die Auf­gabe der mitteleuropäischen Gegenden ist. Deshalb entstand auch in diesen mitteleuropäischen Gegenden etwas, was nun scharf, scharf ins Auge gefaßt werden sollte.

Es begegnet einem immer wiederum - in Stuttgart hier und in der Schweiz, und auch die anderen Freunde haben ähnliches erfahren -, es begegnet einem immer wiederum, daß die Leute sagen: Ja, wenn man auch einverstanden wäre mit der Gliederung in ein freies Gei­stesleben und ein freies Wirtschaftsleben, da bleibt aber ja nichts mehr für das Staatsgebiet übrig! Tatsächlich, so, wie das Staatsleben heute ist, wie es auf der einen Seite aufgesogen hat das Geistesleben, das nicht hineingehört, wie es auf der anderen Seite aufsaugt immer mehr und mehr das Wirtschaftsleben, da verkümmert das eigentli­che Staatsleben. Da ist das eigentliche Staatsleben, nämlich dasjeni­ge, was sich abspielen soll zwischen Mensch und Mensch, zwischen allen mündig gewordenen Menschen, gar nicht mehr da. Daher kön­nen natürlich solche Leute wie die Stammler nur so stammeln, daß sie sagen: Das Staatsleben besteht darin, daß es dem Wirtschaftsleben seine Form gibt. Aber das ist eben das Wesentliche, daß das Staats-leben erst entstehen wird, nämlich umfassen wird alles dasjenige, was zwischen mündig gewordenen Menschen, rein dadurch, daß sie Menschen sind, spielt, und dazu gehört das ganze Gebiet der Ar­beitsregelung zum Beispiel, daß das erst in der richtigen Weise ent­stehen wird, wenn die beiden anderen Gebiete abgetrennt sind. Dann wird sich erst ein wirklich demokratisches Staatsleben heraus-bilden können. Daß man noch keinen rechten Begriff hat von die­sem Staatsleben, das ist nicht verwunderlich, denn heute hat man noch keinen rechten Begriff von einer selbständigen Demokratie, weil man nur abstrakt denkt und darauf losgeht, Demokratie zu de­finieren. Definieren kann man ja immer, nicht wahr? Definitionen erinnern einen immer an das alte griechische Beispiel, das ich schon öfter angeführt habe, wo jemand den Menschen definierte in einer ganz richtigen Definition: Er ist ein lebendiges Wesen, das auf zwei Beinen geht und keine Federn hat. Am nächsten Tag brachte man

69

dem, der das gesagt hatte, eine gerupfte Gans und sagte: Das ist also ein Mensch, denn es geht auf zwei Beinen und hat keine Federn. Mit Definitionen kann man alles mögliche machen. Aber es handelt sich nicht um Definitionen, sondern es handelt sich darum, Realitäten zu finden.

Nehmen Sie den Begriff der Demokratie, wie er heute existiert und wie er im Grunde genommen westlichen Ursprungs ist - wie ist er denn entstanden? Sie können die Entwickelung Englands verfol­gen. Verfolgen Sie sie durch die älteren englischen Herrschaften hin­durch, so werden Sie finden, daß da ein Streben ist heraus aus der Gebundenheit. Aber das alles hat einen religiösen Charakter. Und das nimmt dann einen ganz religiösen Charakter an gerade unter Cromwell. Da entwickelt sich aus dem theokratisch-puritanischen Element, aus der Freiheit des Glaubens, etwas heraus, was dann los-gelöst wird von der Theokratie, von dem Glauben, und was das demokratisch-politische Freiheitselement wird. Das ist also das, was man im Westen das demokratische Empfinden nennt. Das ist losge­löst aus dem religiös-unabhängigen Empfinden. So bekommt man den realen Begriff der Demokratie heraus. Und einen wirklichen Be­griff von Demokratie wird es erst geben, wenn eine Organisation da ist zwischen der geistigen und der wirtschaftlichen Organisation, die nun fußt auf dem Verhältnis von Mensch zu Mensch und der Gleichheit aller mündig gewordenen Menschen. Da wird sich erst das ergeben, was das staatliche Verhältnis ist.

Aber sehen Sie, da ist es charakteristisch, daß im Grunde genom­men in Mitteleuropa wirklich die Gedanken entstanden sind, ohne daß man auf diese Dreigliederung schon gekommen ist, daß die Ge-danken entstanden sind: Ja, wie soll eigentlich der Staat entstehen? Es ist im höchsten Maße interessant, wie aus gewissen Schillerschen Begriffen, aus Goetheschen Begriffen heraus Wilhelm von Hum­ballt, der sogar ein preußischer Minister werden konnte - das ist eine merkwürdige Sache - in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den schönen Aufsatz geschrieben hat: «Versuch, die Grenzen der Wirk­samkeit des Staates zu bestimmen». Da ist wirklich gerungen nach den Möglichkeiten eines Staatsaufbaues, eines wirklichen Staatsauf­baues.

70

Da ist versucht, das alles herauszuschälen aus den sozialen Verhältnissen, was eben nur staatlich, politisch, rechtlich sein kann. Es ist gewiß Wilhelm von Humboldt nicht in einwandfreier Weise gelungen, aber darauf kommt es nicht an. Solche Dinge hätten fort­gebildet werden müssen. Und ehe man nicht dazu kommt, das Reale zu schaffen für dasjenige, was staatlich ist, während «die Stammler» immer stammeln, daß das staatliche Leben nur die Formung des Wirtschaftslebens sei, kommen wir nicht weiter. Diese Dinge, die müssen notwendig heute vor ein großes Publikum gebracht werden, in ausgedehntem Maße und so schnell wie möglich. Denn nur da­durch, daß wir gesunde Gedanken in unsere Zeitgenossenschaft hin­einbringen und diese Gedanken so schnell wie möglich verbreiten, können wir vorwärtskommen.

Denn die entgegengesetzten Mächte sind stark. Sie höhnen und machen ihren Willen zur Vernichtung aus allen Ecken heraus gel­tend. Und man soll sich durchaus nicht Illusionen hingeben über den starken Willen, der auf jener Seite ist. Denn wenn der Zug, den wir jetzt unternehmen, einen wirklichen Sinn haben soll, dann müs­sen wir uns schon sagen: Wir haben versucht, aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft heraus einen sozialen Impuls zu ge­winnen. Nicht wahr, was anthroposophisch orientierte Geisteswis­senschaft ist, das hat Zeit, das kann langsam gehen, das kann auch Rücksicht darauf nehmen, was die Leute vertragen können. Da mö­gen sich auch Cliquen bilden. Denn diese Cliquen sind ja doch nur in der physischen Welt; über die geht die geistige Bewegung hinweg. Das, was da wirklich als Lebenskraft zugrunde liegt in der reinen anthroposophischen Bewegung, das hat eine Bedeutung, einen In­halt in der geistigen Welt. Darauf kommt es nicht so sehr an, ob sich Cliquen bilden, ob sektiererische Züge darinnen sind, und so weiter. Das ist etwas, was natürlich in den Einzelheiten Stück für Stück zu bekämpfen ist in unserer heute so ernsten Zeit. Aber es ist nicht so schlimm, als wenn auf dem Gebiet nicht das Richtige geschieht, wo das Praktische, das unmittelbar zur Wirkung Berufene herausgeholt wird aus der anthroposophischen Bewegung, wie es, möchte ich sa­gen, auf unserem sozialen Flügel der anthroposophischen Bewegung

71

ist. Da ist keine Zeit zum Warten. Da können wir nicht Bünde für Dreigliederung einrichten, die sich nun so organisieren, daß sie nur ein Abbild sind der alten anthroposophischen Zweige. Da müssen wir uns bewußt sein, daß dasjenige, was wir morgen erst erarbeiten, wenn es noch so gut ist, schlechter sein kann als dasjenige, was wir schlechter heute erarbeiten. Da kommt es darauf an, daß unmittel­bar stark in der Gegenwart, im Augenblick gewirkt wird, und daß es jeden Tag zu spät werden kann. Und tatsächlich zeigen uns die Er­eignisse, wie die Dinge durchaus Woche für Woche zu spät werden können. Deshalb ist diese Aktion eingeleitet worden, vor der wir jetzt stehen, und deshalb wird auf diese Aktion soviel Wert gelegt, weil es notwendig ist, daß die Dinge schnell geschehen. Denn Europa hat keine Zeit zu verlieren.

Was notwendig ist, das ist, in die Köpfe die Möglichkeit hineinzu­bringen, so zu denken, daß die Wirklichkeit in diesem Denken eine Rolle spielt. Die Menschheit ist ganz dazu erzogen, daß im Grunde genommen eine unreale Denkweise gerade das Tonangebende auch im praktischen Leben geworden ist. Eine unreale Denkweise ist es, wenn heute die Leute etwa auftreten und sagen: man soll das Recht kultivieren, man solle vom ethischen Standpunkte aus irgendwie weiterkommen im sozialen Leben. Diese Dinge sind sehr schön na­türlich, aber sie sind sehr abstrakt. Das Geistige hat nur einen Wert, wenn es in das materielle Leben unmittelbar eingreift, wenn es das Materielle wirklich zu tragen und zu besiegen vermag. Sonst hat es keinen Wert. Wir dürfen uns nicht irgendwie kaptivieren lassen von solchen Tiraden, wie sie zum Beispiel Förster oder ähnliche Leute heute der Welt vortragen. Das sind schöne Redensarten, aber sie dringen nicht ein in das materielle Leben, weil die Betreffenden, die sie vortragen, selber vom materiellen Leben nichts verstehen, son­dern glauben, durch Predigen ließe sich die heutige materielle Welt irgendwie weiterbringen.

Und das ist der Fehler, den die Bourgeoisie gemacht hat: Sie hat sich immer mehr und mehr zurückgezogen mit Bezug auf ihr See­lenleben auf ein Luxusgebiet. Sechs Tage der Woche sitzt man im Büro. Im Kassenbuch vorne hat man zwar stehen «Mit Gott!». Aber

72

dann geht es gar nicht sehr mit Gott auf den weiteren Seiten; da ist das «Mit Gott!» sehr abstrakt. Dann aber, nachdem man die ganze Woche in der sattsam bekannten Weise gearbeitet hat, geht man am Sonntag sich eine die Seele mit seelischer Wollust erfüllende Predigt über die ewige Seligkeit anhören und dergleichen. Das heißt, das gei­stige Leben zum Luxus machen und das materielle Leben entgeisti­gen! In dieser Beziehung ist die Bourgeoisie weit vorgeschritten. Im­mer weiter und weiter hat sie das getrieben, so daß endlich das ganze geistige Leben wirklich zur Ideologie geworden ist.

Auf der andern Seite ist es dann kein Wunder, wenn nun das Pro­letariat kommt und theoretisch wiederum erklärt: Das geistige Le­ben ist eine Ideologie - und wenn es nun versucht, das gesamte wirt­schaftliche Leben umzugestalten, indem es bloß die Produktions­weise ins Auge faßt. Beides gehört zusammen. Wirklich, es liegen die Dinge heute so, daß schließlich der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat nur darin besteht, wie lange der eine unten, der an­dere oben ist, und wiederum umgekehrt. Es ist lediglich ein Kampf. Es wird nicht darauf abgesehen, wenn man tiefer in die Sache ein­dringt, zu einer fruchtbaren Gestaltung des Lebens zu kommen. Das läßt sich nur dann, wenn man einen durchgreifenden Impuls hat, der den Menschen als solchen umfaßt.

Dann aber muß man entweder sich mit der Dreigliederung aus­einandersetzen, wenn man das einsieht, oder man muß etwas Besse­res an die Stelle der Dreigliederung zu setzen verstehen. Alles übri­ge, was heute auftritt, rechnet gar nicht mit dem Menschen als sol­chem. Deshalb ist es notwendig, daß man tatsächlich in der aller­nächsten Zeit gewissermaßen unsere Bewegung rettet vor dem, was die Gegner vorhaben. Sie haben vor, unsere Bewegung durch Machi­nationen unmöglich zu machen. Und diese Machinationen werden ja sehr raffiniert angestellt. Bedenken Sie nur einmal, welches Raffi­nement jetzt in dem Feldzug des «Berliner Tageblatts» liegt. Nicht wahr, das «Berliner Tageblatt» läßt sich einen Artikel fabrizieren, worin alle möglichen blödsinnigen «Okkultisten» erwähnt werden, und mitten drinnen steht die Anthroposophie, die damit nichts zu tun hat. Aber die Leute ersparen es sich dadurch, sich mit der Anthroposophie

73

zu beschäftigen, indem sie sie einfach unter den Blöd­sinn rubrizieren. Natürlich, von dem Unsinn, der da drinnen steht, da können alle Leute etwas begreifen, dann hat man nicht nötig, sich noch besonders mit der Anthroposophie zu beschäftigen. Das wird tatsächlich ganz international verbreitet, es tritt einem überall entge­gen, in englischen Zeitungen, überall. Das ist aber nur eines. Es be­ginnt in der nächsten Zeit - es hat schon begonnen, aber es wird fortgesetzt - ein Vernichtungskrieg gegen dasjenige, was unsere Be­wegung ist. Deshalb ist es heute notwendig, sich zu besinnen auf das, was zu tun ist. Und wenn nicht etwas Durchgreifendes ge­schieht auf breiter Basis, dann, meine lieben Freunde, dann müßten wir uns sagen: Wir haben zwar einen Begriff von dem, was aus an­throposophisch orientierter Geisteswissenschaft heraus auch in be­zug auf das soziale Leben geschehen könnte, aber wir bringen nicht die Kraft auf, um es durchzubringen. Tatsächlich, wenn man die Konsequenz sieht, in der auf gegnerischer Seite gearbeitet wird, manchmal eine Konsequenz in Verruchtheit, so sagt man: Es ist not­wendig, daß man bei uns einsieht, ein Wille muß aufgebracht wer­den! Die haben den schlechten Willen, warum sollten denn im Gu­ten nicht dieselben Kräfte aufgebracht werden können? Warum soll­te denn mit Recht gesagt werden können: da bestand die Absicht, durchzubringen etwas für die Menschheit Heilsames; aber die Geg­ner, das waren andere Kerle, die haben einen konsequenten Willen, die gehen auch bis zur Auslebung dieses Willens!

Meine lieben Freunde, wenn wir uns nicht auf diesen Boden stel­len, bis zur Auslebung auch unseres Willens zu kommen, so werden wir für den jetzigen Augenblick selbstverständlich nichts erreichen können. Es ist jetzt in einer gewissen Beziehung die Frage um ein Entweder-Oder in unserer Bewegung. Deshalb wurde diese Aktion eingeleitet. Das bitte ich zu bedenken. Das bitte ich, in Ihren Willen aufzunehmen, bevor wir weitergehen in der Ausbildung dessen, was wir zu diesem Willen gebrauchen.

74

VIERTER VORTRAG Stuttgart, 14. Februar 1921 (nachmittags)

Das erste Thema, das Ihnen zur Behandlung vorgeschlagen wird, das würde sein: Die großen Fragen der Gegenwart und die Dreigliede­rung des sozialen Organismus. - Es ist nötig, daß wir diese Themen, die Sie behandeln wollen, so wählen, daß dabei Gelegenheit ist, möglichst genau kennenzulernen erstens dasjenige, was die Gegen­wart nötig hat, zweitens dasjenige, was der Impuls für die Dreiglie­derung des sozialen Organismus zu geben hat mit Bezug auf die gro­ßen Fragen der Gegenwart, und daß Sie dabei immer die Möglich­keit haben, auf der einen Seite darauf hinzuweisen, daß anthroposo­phisch orientierte Geisteswissenschaft die Grundlage abgeben muß für diese Art des sozialen Denkens, die durch die Dreigliederung in die Welt gebracht werden soll, auf der anderen Seite, daß immer die Möglichkeit geboten sein soll, für den «Kommenden Tag» und ähn­liches einzutreten. Ihre Tätigkeit wird sich erstrecken müssen auf unsere Bewegung als Ganzes, sowohl auf die geistige Seite wie auch auf die praktischen Einrichtungen. Auf der einen Seite werden Sie der Welt plausibel zu machen haben, daß es in der gegenwärtigen Zeit notwendig ist, ein wirklich produktives Geistesleben zu kulti­vieren; auf der anderen Seite werden Sie mit dem Praktischen zu rechnen haben, daß wir einfach als Bewegung heute eingreifen müssen in das soziale Leben, in das wirtschaftliche Leben, und daß wir daher finanziell gekräftigt werden müssen, soviel es nur sein kann, nicht um unseretwillen, sondern um des Fortgangs des Wirtschafts­lebens willen.

Ich möchte gerade heute einiges mit Bezug auf die notwendigen Themen vorbringen, unseren weiteren Betrachtungen vorausschickend. Es wird vielleicht das beste sein, wenn wir dann ein zwei­tes Thema etwa so wählen: Das freie Erziehungs- und Unterrichts­wesen in seinem Verhältnis zu Staat und Wirtschaft. - Und wenn wir das dritte Thema dann so wählen: Das wirtschaftliche Assozia­tionssystem und sein Verhältnis zum Staat und zum freien Geistesle­ben. -

75

Dadurch, daß wir diese drei Themen wählen, werden wir Ge­legenheit haben, dasjenige, was als Ganzes unserer Bewegung ange­hört, wirklich in diesen nächsten Wochen in wirkungsvoller Weise vor die Welt hinzustellen.

Nun lassen Sie uns zunächst einmal etwas Prinzipielles über das erste Thema reden. Da wird es sich vor allen Dingen darum han­deln, daß Sie den Leuten zeigen, daß ja die Dreigliederung gewisser­maßen als Forderung schon da ist, daß man nichts anderes tut, als das, was schon da ist, in der richtigen Weise zu gestalten. Da ist es, allerdings in einer anderen Form, als es da sein soll und da sein wird, wenn es einmal ausgestaltet ist; da ist es als Forderung von drei Din­gen, die aber heute chaotisch ineinandergeworfen sind und gerade dadurch sich innerlich bekämpfen wie eine Art von Mißgeburt, die etwa so entstanden ist, wie wenn der Kopf des Menschen in seinem Bauche wäre und die Verdauungsorgane im Herzen und derglei­chen, wenn die drei Systeme des Organismus durcheinandergewor­fen wären. Also dem, was eigentlich da ist, was sich ausgestalten will, soll eben die richtige Gestaltung gegeben werden.

Gehen wir, um dieses anschaulich zu machen, einmal aus von dem dritten Glied des sozialen Organismus, von dem Wirtschafts­leben. Dieses Wirtschaftsleben, man kann es ja, so wie es heute da ist, charakterisieren, indem man es verfolgt in seiner Entwickelung in den letzten Jahrhunderten. In den letzten Jahrhunderten hat ja das eigentliche Wirtschaftsleben erst die Formen angenommen, die heute da sind und aus denen heraus die ganze soziale Frage erwach­sen ist. Es ist allerdings schon ein etwas längerer Prozeß. Das Wirt­schaftsleben, vor dem wir heute stehen, das geht, selbst wenn wir am weitesten zurückgehen wollen, doch nicht weiter zurück als et­wa ins 14. oder 13. Jahrhundert. Da haben wir die Zeit, in welcher das europäische Wirtschaftsleben eine Art von Krisis dürchmacht, eine Art von, man möchte sagen, schleichender Krisis. Die Zeit haben wir da, in welcher sich dieses europäische Wirtschaftsleben gründlich zu einer Veränderung anschickt.

Wenn wir in die früheren Zeiten zurückgehen, so finden wir ja dieses europäische Wirtschaftsleben durchaus unter dem Einfluß der

76

kontinentalen Handels- und Verkehrsbewegung von Asien herüber durch Mitteleuropa nach Westeuropa hinüber. Und wir finden in je­nen älteren Zeiten überall, daß das Wirtschaftsleben sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vollzieht, auch der Verkehr sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vollzieht. Es waren gewisser­maßen die wirtschaftlichen Verhältnisse noch nicht so intensiv aus­gebildet, daß man notwendig hatte, die Freiheit des Handels, die Freiheit des Verkehrs einzuschränken, zu organisieren. Aber als die mitteleuropäische Bevölkerung immer dichter und dichter wurde, als das Wirtschaftsleben also intensiver und intensiver wurde, da stellte sich die Notwendigkeit heraus, allerlei zu organisieren. Und es entstand aus dem freieren Wirtschaftsleben der älteren Zeiten ein vielfach gebundenes Wirtschaftsleben. Das freiere Wirtschaftsleben der fr ü heren Zeiten ist dadurch charakterisiert, daß die Einzelwirt­schaften, die individuellen Wirtschaften, die mehr Hauswirtschaften waren nach den Instinkten ihrer Privatbesitzer, mit den Knechten, mit der hörigen Bevölkerung, aus dem freien Empfinden heraus geführt wurden, und daß ein ausgebreiteter Handel, der dazwischen allerdings von Asien herüber getrieben worden ist, auch nicht in irgendeiner Weise besonders geregelt zu werden brauchte. Er konnte durchaus frei vollzogen werden, denn es war eben das Wirtschafts­leben noch nicht intensiv.

Aber, wie gesagt, mit der Zunahme der Bevölkerung, auch mit der Entwickelung anderer Verhältnisse, die wir ja gleich erwähnen können, wurde die Intensität des Wirtschaftslebens immer größer und größer; und es wurde notwendig, daß gewisse Schutzmaßregeln ergriffen wurden, die früher nicht nötig waren, Schutzmaßregeln, die alle mehr oder weniger den Charakter hatten, den Konsumenten zu unterstützen. Das ist das Eigentümliche, daß in der Zeit, wo das Wirtschaftsleben eine Art schleichender Krisis durchmacht, so im 13., 14. Jahrhundert, ohne daß man daraus viel Wesens macht, ei­gentlich überall die Tendenz entsteht, den Konsumenten in gewisser Weise zu schützen. Was ist es anderes als ein Schutz des Konsumen­ten, wenn die Städte, durch die der Handel durchgehen mußte, durch die die Handelsstraßen führten, das sogenannte Stapelrecht in

77

Anspruch nahmen, daß also der durchziehende Handelsmann sich eine gewisse Anzahl von Tagen aufhalten mußte und erst dann mit demjenigen, was er in diesen Tagen nicht verkaufen konnte in der Stadt, passieren und das dann frei verkaufen durfte? Es handelt sich also um den Schutz des Konsumenten, überall handelt es sich um den Schutz des Konsumenten.

Insbesondere ist, wenn das auch nicht gleich durchsichtig ist, noch etwas anderes in dieser Zeit durchaus für den Schutz des Kon­sumenten berechnet. Ich habe mich gerade viel eingelassen auf diese Frage und zuletzt doch gefunden - wenn man ganz unbefangen da­bei zu Werke geht, so kann man nicht anders als dies herausfinden -, daß auch die Errichtung und die Ausbildung der Zünfte im Grunde genommen, wenn sie auch scheinbar die Produktion organisierten, dennoch unternommen war, um den Konsum der in den Zünften hergestellten Produkte zu unterstützen. Dies geschah auf dem Um­wege durch eine Organisation des Produktionswesens. Trotzdem man die Zünfte durch Zusammenschließen der gleichartigen Gewer­be ausbildete, wurde doch in erster Linie nicht so sehr darauf gese­hen, daß die Produktion in irgendeiner Weise organisiert wird, son­dern daß diejenigen, die sich da zusammenschlossen in den Zünften, ihre Produkte so teuer verkaufen konnten, daß ihr Konsum in der entsprechenden Weise gesichert war. Es waren die Zünfte in der Tat eine Schutzvorrichtung für den Konsum. Wenn Sie sich einfach ir­gendwelche Handbücher aus der Bibliothek nehmen und die Daten sich vergegenwärtigen, die Sie da finden können, so werden Sie, wenn Sie diese Richtlinien ins Auge fassen, die ich Ihnen hier gebe, sich sagen können: damit ist in gewisser Weise das Wirtschaftsleben der damaligen Zeit charakterisiert.

Und nun entwickelte sich dieses Wirtschaftsleben unter solchen Schutzmaßregeln mehrere Jahrhunderte hindurch. Aber es hatte im­mer eine Art schleichender Krisis in sich. Es wurde eben immer in­tensiver und intensiver. Und das ist das Eigentümliche: Ein Wirt­schaftsleben, das auf einem gewissen Territorium immer intensiver und intensiver wird, das macht auch immer mehr und mehr Ein­schränkungen, Schutzmaßregeln und Organisationen notwendig.

78

Ein Wirtschaftsleben, das in irgendeiner Weise offen ist, das nach ir­gendeiner Seite hin den Zugang hat zu unerschöpflichen Quellen, namentlich der Landwirtschaft, des Grund und Bodens, hat nicht den Drang, sich so zu organisieren. Ein von allen Seiten eingeschlos­senes Wirtschaftsleben, das immer intensiver und intensiver wird, bekommt den Drang, sich zu organisieren.

Nun wäre ja zweifellos dieses europaische Wirtschaftsleben im Laufe der Jahrhunderte einer Dekadenz entgegengegangen von un­erhörter Bedeutung, wenn nicht ein Ihnen allbekanntes Ereignis ein­getreten wäre. Was vor dieser Dekadenz zunächst bewahrt hat, war auf der einen Seite die Eröffnung der Seeverbindungen und auf der anderen Seite die Entdeckung Amerikas. Da wurde, nach dem We­sten hin, das Wirtschaftsleben wiederum offen. Man kann nicht sa­gen, nicht wahr, weil die Öffnung zu groß war, daß da ein Ventil ge­öffnet worden wäre. Das wäre ein sehr großes Ventil gewesen! Aber dies ist es, was das Wirtschaftsleben wiederum in ganz andere Bah­nen gebracht hat. Nun fällt allerdings mit der Auswirkung dieses Weges nach dem Westen das Heraufkommen der modernen Tech­nik zusammen. Aber diese moderne Technik wäre in ihrer Ausdeh­nung überhaupt unter keinen anderen Verhältnissen möglich ge­worden als durch die Öffnung des ganzen Wirtschaftslebens nach der Westseite hin. Mit diesen Dingen haben Sie einfach gegeben, was dem neueren Wirtschaftsleben seine Grundfiguration gegeben hat. Da hinein stellt sich dann dasjenige, was ich gestern ausgeführt habe als die bedeutendsten politischen Ereignisse.

Nun haben wir in diesem europäischen Wirtschaftsleben drinnen zwei Tendenzen. Die eine Tendenz hat sich unter dem Zwang der intensiven Wirtschaft in der zweiten Hälfte des Mittelalters und noch darüber hinaus ausgebildet und nachher den Charakter einer gewissen wirtschaftlichen Denkweise angenommen. Man hat wirt­schaftlich denken gelernt unter den Verhältnissen, die sich herausge­bildet haben, sagen wir, vom 13. bis zum 16., 17. Jahrhundert. Da hat man die Gedanken aufgenommen, wie gewirtschaftet werden soll. Da hat sich im Handel, ganz langsam auch im Gewerbe, sogar bis in die Landwirtschaft hinein, das ausgebildet, was die treibenden

79

wirtschaftlichen Gedanken geworden sind. Die haben sich in dieser Zeit im wesentlichen festgelegt. Man kann auch sagen: diejenigen Bevölkerungsschichten, die in erster Linie mehr im Zusammenhang mit den europäischen Territorien zum wirtschaftlichen Denken be­rufen waren und es noch sind, die haben unter dem Einfluß dieser Ereignisse ihr wirtschaftliches Vorstellungsleben entwickelt. So et­was sitzt dann tief in den Menschen. Gerade bei diesen Dingen wer­den die menschlichen Seelenverfassungen konservativ. Und was als konservative Vorstellungen in den Menschen drinnensitzt, das rührt wesentlich aus dieser Zeit her.

Nun öffnete sich nach der anderen Seite hin das Wirtschaftsleben so, wie ich es Ihnen geschildert habe. Und dadurch kam in diese gan­ze Vorstellung des Wirtschaftslebens etwas hinein, was aber nicht gleich so ohne weiteres in die Denkweise aufgenommen wurde, son­dern was nur dieser Denkweise einen besonderen wirtschaftlichen Schwung gab. Da ist eben die Verbindung mit dem Westen, mit Amerika, mit demjenigen, was von der Eröffnung der Seewege kam. Das machte das Wirtschaftsleben kraftvoll.

Und so bildete sich, ich möchte sagen, auf der einen Seite der konkrete Gedankengehalt des Wirtschaftslebens heraus und auf der anderen Seite die Schwungkraft. Diese Tatsachen waren so stark, daß sie dem neueren sozialen Leben überhaupt zunächst die Konfi­guration gaben, auch seine materialistische Gestalt gaben. Und diese moderne Zivilisation nahm immer mehr und mehr den Charakter an, der sich eben aus diesen zwei geschilderten Faktoren ergeben muß.

Nun haben wir also ein Wirtschaftsleben, welches einfach durch die Macht der Ereignisse präponderiert, vorherrscht, das starken Eindruck macht auf die Menschen und die menschliche Entwicke­lung. Dieses Wirtschaftsleben nimmt auch den Charakter an, den das Wirtschaftsleben einzig und allein annehmen kann, denn es ist doch so, daß jedes der drei Gebiete des sozialen Organismus einfach durch seine Natur und Wesenheit seine eigene Gesetzmäßigkeit an­nimmt: im Wirtschaftsleben wurde Ware und Preis dasjenige, was maßgebend ist.

80

Es können aber die sozialen Verhältnisse dadurch verfälscht wer­den, daß das Wirtschaftsleben mit den beiden anderen Gebieten des sozialen Organismus zusammengeworfen wird. Dann folgt doch nur, im Streit mit den anderen, jedes einzelne Gebiet seinen eigenen Gesetzen. Und so ist es gekommen, daß, weil das Wirtschaftsleben vorherrschte, es andere Gebiete des Lebens, andere soziale Gebiete, in seine Gesetzmäßigkeit hineinzog. Und es traten die Verhältnisse ein, die dann zu der modernen sozialen Frage geführt haben.

Denn wenn wir zurückgehen in der geschichtlichen Entwicke­lung: die proletarische Bewegung als spezifische Lohnbewegung, als Bewegung gegen die Arbeitssklaverei, die ist nicht da. Ich habe ja ge­stern ausgeführt, daß die Gliederung der Arbeit, ob man Herr oder Knecht war, in älteren Zeiten nach politischen Gesichtspunkten ge­staltet war. Jetzt richtete sich das Wirtschaftsleben so ein, daß es al­les in den Warencharakter hereinzog. Es wurde alles zur Ware. Und so wurde eben die menschliche Arbeitskraft erst in dieser Zeit zur Ware. Vorher war sie Dienst, hingebender oder erzwungener Dienst. Aber eigentlich Ware wurde sie erst in dieser neuesten Zeit. Denn sie wurde allmählich so bezahlt, wie die Ware bezahlt wird. Und das Wirtschaftsleben kann eben nicht anders, als alles, was in seinen Bereich eintritt, zur Ware zu machen. Und in dem Sinn, mei­ne ich, haben wir eigentlich die Dreigliederung immer gehabt. Wir müssen sie nur wahr machen, wir müssen nur dasjenige, was in ver­logener Gestalt vorhanden ist, in wahrer Gestalt in die Welt einfüh­ren. Denn in der verlogenen Gestalt macht es Unheil, führt es zum Niedergang. Wenn wir in der Lage sind, ihm die wahre Gestalt zu geben, muß es zum Aufgang werden.

Aber nicht nur, daß die Arbeitskraft zur Ware gemacht worden ist, es war ja auch das materialistische Geistesleben zur Ware ge­macht worden in Form des Kapitals. Bitte, sehen Sie sich einmal den Kapitalmarkt und die Kapitalverwertung und -verwendung in der neueren Zeit an und vergleichen Sie sie mit der Kapitalverwertung meinetwillen im alten Griechenland! Im alten Griechenland war derjenige der Mächtige, um etwas auszuführen, der politisch der Mächtige war; der hatte die Macht, das oder jenes zu bauen. Aus politischen

81

Gründen fand er diejenigen, die die Arbeit verrichteten, und sein Kapital bestand einfach darin, daß er durch seine erblichen Verhältnisse der Herr war und eine Anzahl von Menschen befehlen konnte. Das war Kapital im älteren Griechenland. In dieser neueren Zeit, die wir jetzt betrachten, wird im wesentlichen dasjenige, was zu Unternehmungen führt, auch zur Ware. Was ist es denn schließ­lich, was Sie, wenn Sie Effekten an der Börse kaufen oder verkaufen, tun? Womit handeln Sie denn? Sie handeln im Grunde genommen mit Unternehmungsgeist. Es wird, was Unternehmungsgeist ist, an der Börse im wesentlichen Ware. Sie haben gar nicht den spezifi­schen, den speziellen Unternehmungsgeist vor sich, Sie wissen gar nicht, was Sie kaufen oder verkaufen; aber in Wirklichkeit kaufen oder verkaufen Sie den Unternehmungsgeist. Gerade in der Umlage­rung auf dem Kapitalmarkt können Sie das beobachten. Kurz, es wird alles da, wo das Wirtschaftsleben vorherrschend wird, mit dem Warencharakter ausgestattet. Alles wird zur Ware: Arbeitskraft wird Ware, Geist wird Ware. Das ist der Gang der neueren Ent­wickelung gewesen.

Nun, parallel damit geht ja allerdings etwas anderes. Es bildet sich der moderne Staat heraus aus politischen Gründen. Wir sehen zu­erst, nicht wahr, wie dieser moderne Staat sich bildet aus gewissen früheren freieren Verhältnissen der umgebenden Landbevölkerung zu den vorhandenen Städten, die aus kirchlichen Mittelpunkten oder dergleichen heraus entstanden sind in Italien, aus etwas anderer Denkweise in Frankreich, England. Also dasjenige, was Staaten sind, das bildet sich heraus.

Während sich schon im Westen der eigentliche Staatsbegriff her­ausbildet, sehen wir in Mitteleuropa und in Osteuropa eigentlich immer noch andere, in dieser Richtung freiere Verhältnisse. Wir se­hen, wie aus den alten Verhältnissen sich ergibt, daß die frühere Stadt, die aus irgendwelchen kirchlichen oder dergleichen Gründen entstanden war, Marktmittelpunkt, Markt wird. Und indem aus den alten Städten Märkte werden, entstehen wiederum neue Städte. Es ist interessant zu sehen, wie wirklich unter dem Einfluß des Wirt­schaftslebens im 13., 12., 11. Jahrhundert die Städte entstehen. Zuerst

82

entstehen die Städte durchaus so, daß sie im heutigen Süd­deutschland und im Westen von Europa in Entfernungen von fünf bis sechs Wegstunden entstehen. Im Norden und im Osten entste­hen sie in Entfernungen von sieben bis acht Wegstunden. Das ist in älteren Zeiten durchaus etwas wie Selbstverständliches. Warum? Weil die Bauern, die umher die Wirtschaft betreiben, mit ihren Pro­dukten an einem Tag hinkommen und wiederum zurückkommen sollen. Das entsteht aus innerer Notwendigkeit heraus. Wenn aber so etwas in der Geschichte entsteht, dann bildet sich nachher unter dem Einfluß des Imitationsprinzips etwas, was nicht mit solcher Notwendigkeit verbunden ist. Erst ist die Notwendigkeit da, Städte zu haben, die fünf bis sechs Wegstunden auseinanderliegen, oder sie­ben bis acht. Nachher merken die anderen: da ist etwas zu machen! Und sie machen es nach. Dann entsteht das historisch nicht Not­wendige. Das beeinträchtigt das gesunde Denken mancher Men­schen über diese Dinge. Die Historiker behandeln die einen Städte ebenso wie die anderen, also diejenigen, die nicht aus wirtschaftli­cher Notwendigkeit entstanden sind, ebenso wie die anderen, die aus wirtschaftlicher Notwendigkeit entstanden sind. Dann wird al­les durcheinander, verworren gemacht. Das richtige Anschauen sol­cher Dinge besteht aber darin, daß man ein Gefühl hat für die Un­terscheidung. Die Leute können einem sehr gelehrt beweisen, daß das nicht wahr sei, daß diese oder jene Stadt entstanden ist aus wirt­schaftlicher Notwendigkeit heraus. Gewiß, das stimmt manchmal nicht. Denn diese Stadt ist eben nicht aus wirtschaftlicher Notwen­digkeit heraus entstanden, sondern unter dem Einfluß des späteren Imitationsprinzipes. Aber die allgemeine Wahrheit ist deshalb doch richtig. Dieser Zustand, daß sich die Städte als Märkte ausbilden, war in Osteuropa viel länger als im Westen, wo sich die Einheits­staaten bildeten, die dann alles in ihren Rahmen einbeziehen wollten.

Nun, es ist im Grunde genommen, historisch betrachtet, so unan­genehm das heute manchmal scheinen mag, so, daß in Italien aus dem Geiste gewisser patriarchalischer Zusammengehörigkeit der Bauernbevölkerung und der Städtebevölkerung die eigentümlichen

83

territorialen Gebiete entstanden sind und sich ein gewisses föderali­stisches Staatssystem herausgebildet hat, während ein anderes sich in Spanien, Frankreich und England herausbildete. Und wenn es auch, wie gesagt, manchem unangenehm zu denken ist, so ist es doch so, daß mehr gegen Mitteleuropa und Osten hin die Staatenbildungen sogar, wie die Städtebildungen früher, durch Imitation entstanden sind. Und da kommen wir auf etwas, was Sie heute den Leuten ja noch nicht sagen können, weil Sie sonst nicht dreigeteilt, sondern sogar viergeteilt würden. Aber die Wahrheit besteht deswegen doch. Es war natürlich durchaus eine wirtschaftliche Notwendigkeit, aber auch aüs der Charakteranlage der Völker heraus ist es so gekommen, daß die Weststaaten entstanden sind als Einheitsstaaten. Aber die mitteleuropäischen Staaten und die Oststaaten sind eigentlich nur durch Imitation entstanden. Für die gab es keine historische Not­wendigkeit. Im Grunde genommen ist Österreich und ist das Deut­sche Reich zuletzt daran zugrunde gegangen, daß für seine innere Zentralisation keine historische Notwendigkeit vorhanden war, sondern daß das eigentlich Imitation war. Und ebenso ist Imitation des Prinzipes der Einheitsstaat Italien, der ungefähr um dieselbe Zeit wie der deutsche Einheitsstaat entstanden ist. Und noch eine ganz äußerliche Imitation, ohne eigentlich innerlich wirklich zu dem ge­kommen zu sein, was die mitteleuropäischen Staaten sind, ist Nord­amerika, das ganz und gar darauf angewiesen ist, in die wirtschaftli­che Assoziation einzufließen. Wer übrigens die wirtschaftlichen Verhältnisse Nordamerikas richtig ins Auge faßt, der wird unbe­dingt den Gang der Ereignisse ansagen können.

Nun, sehen Sie, neben all dem, was sich herausgebildet hat gewis­sermaßen aus der ursprünglichen Wirtschaft, entstand dann unter solchen Verhältnissen, wie ich sie eben geschildert habe, die neue Konfiguration des Handels. Und da war es, wo zuerst die Fusion des Staatslebens mit dem Wirtschaftsleben entstanden ist, nicht auf dem Gebiet der Gewerbe, sondern eigentlich auf dem Gebiete des Han­dels. Die Gewerbe waren nur eingeschaltet. Es ist billig, dasjenige, was ich jetzt sage, zu bekämpfen. Denn die Leute brauchen nur zu sagen: die Gewerbe müssen zuerst da sein, und dann kann man handeln.

84

Darauf kommt es aber nicht an. Nehmen Sie selbst heute sehr entwickelte Industrien, so sind diese oft nicht über das Gebiet des Kommerziellen hinausgewachsen. Die Leute schaffen sich nur ihre eigenen Produkte für den Handel, den sie treiben. Wir sind durch­aus noch nicht so weit, daß wir schon den Übergang gefunden hät­ten von der Urproduktion, die auf die Natur gebaut ist und durch den Handel, in das Gewerbe eingeschaltet ist, zu dem, daß nun das Gewerbe tonangebend wäre. Denn in dem Moment, wo das Gewer­be tonangebend ist, ist die Assoziation eine Notwendigkeit. Die Struktur, die das heutige Geschäftsleben hat, ist immer noch aus den Prinzipien des Handelslebens heraus bestimmt; auch die Industrie ist aus dem Prinzip des Handels heraus. Im Grunde genommen sind die Fabrikanten Händler, die sich nur die Gelegenheiten zum Han­deln schaffen. Sie richten sich auch ihre industriellen Etablissements nach kommerziellen Gesichtspunkten ein; die sind das Maßgebende. Denn in dem Augenblick, wo das Gewerbliche hineingreift in das Kommerzielle, da ist die Assoziation eine Notwendigkeit. Die Fu­sion des Staates mit dem Wirtschaftsleben ist eigentlich auf dem Umwege durch das Kommerzielle geschehen.

Und auf der anderen Seite wiederum gibt sich ein jedes der drei Glieder des sozialen Organismus eben seine eigenen Gesetze und kämpft gegen das andere Glied, wenn es nicht in der richtigen Weise losgelöst ist. Sehen Sie, eigentlich kämpft schon wiederum seit lan­ger Zeit das staatlich-rechtliche Gebiet gegen das wirtschaftliche Ge­biet in der Wirtschaftsgesetzgebung, der Altersversicherung und so weiter. Was bedeutet das anderes, als daß man in törichter Weise los-lösen will die Arbeitskraft vom Wirtschaftsleben? Gescheit wäre es, wenn man es nun gleich gründlich loslöste! Aber die Staaten sind durchaus auf dem Marsch - wenn ich das Wort gebrauchen darf, das, wie Sie wissen, mißbraucht worden ist von Wissel -, auf dem Marsch nach dem selbständigen Rechtsleben. Indem sie Arbeiterschutz­gesetzgebung, Altersversicherungsgesetzgebung und so weiter schaf­fen, holen sie die Organisation der Arbeit, die Regelung von Art und Zeit der Arbeit, aus dem Wirtschaftsleben ja ohnedies heraus. Nun, da sehen wir, daß auch das zweite Glied des sozialen Organismus

85

auf dem Wege nach Emanzipation von dem wirtschaftlichen Leben ist.

Nun, etwas verworrener nimmt sich allerdings die Sache mit dem geistigen Leben aus. Alles wirkliche geistige Leben ist seinem inne­ren Wesen nach aus den alten Theokratien erwachsen. Ich bitte, Sie brauchen ja bloß das Universitätsleben im 12. und 13. Jahrhundert zu studieren. Ganz und gar bildet sich dieses heraus aus dem kirchli­chen Wesen. Und dieses war ein emanzipiertes Geistesleben. Es wächst nur allmählich in das Staatsleben hinein. Ein großer Teil der europäischen Kämpfe besteht ja in nichts anderem als in dem Über­gang der kirchlichen Anstalten in das Staatliche hinüber. Und für diese alten Zeiten muß man sagen: Die Freiheit der Bildungsanstal­ten war im alten kirchlichen System eine viel größere, als sie im spä­teren staatlichen System war oder heute ist. Denn die Dinge bilden sich doch mit vollem Bewußtsein aus dem geistigen Leben heraus. Mit vollem Bewußtsein hat die Kirche zum Beispiel im Jahre 869 auf dem ökumenischen Konzil zu Konstantinopel den Geist abge­schafft, das heißt, zum Dogma erhoben, daß der Mensch nicht aus Leib, Seele und Geist bestehe, sondern bloß aus Leib und Seele, und daß die Seele einige geistige Eigenschaften habe. Dazumal wurde das bewußt gemacht. Heutzutage predigen die Philosophieprofessoren, daß der Mensch aus Leib und Seele bestehe und wissen nicht, daß sie nur die Testamentsvollstrecker eines kirchlichen Dogmas sind. Was wir Philosophie nennen, ist durchaus aus dem alten kirchlichen Le­ben herausgewachsen, und der Herr Wundt in Leipzig ist durchaus nur ein Ableger der alten kirchlichen Dogmen, wenn das auch scheinbar nicht mehr da ist in der Art und Weise seiner Darstellung. Aber ebenso ist es in den anderen Dingen, die herausgewachsen sind aus der alten theokratischen Art des Geisteslebens. Die theologi­schen Fakultäten, nun, schauen Sie sich sie an, die sind stark heraus­gewachsen aus dem ehemaligen Geistesleben, so daß sie heute nur ei­ne Art Karikatur darbieten, ebenso die juristischen Fakultäten. Wer zusehen will, wird überall die eine Hülle des alten theokratischen Wesens in der modernen Zivilisation finden. Von der Medizin will ich nicht sprechen. Es ist ja ganz offenkundig, daß sie herausgewachsen

86

ist aus anderen Zusammengehörigkeiten mit dem alten Geistes­leben, das sich in kirchlicher, religiöser Weise entwickelt hat. Wir haben durchaus eine Strömung, einen Zweig des Geisteslebens, der ganz und gar herausgewachsen ist aus dem im Verhältnis zum Staat freien kirchlichen Leben, das für die älteren Zeiten eben das einzige Geistesleben war. Dazu ist gekommen, ich möchte sagen, jetzt nicht herauswachsend sondern sich nebenbei stellend, dasjenige, was mo­derne Naturwissenschaft und Technik ist. Da ist das Geistesleben auf einem eigenen Boden erwachsen und hat sich nur angeähnelt demjenigen, was von früher her aus der Kirche herausgewachsen ist. Daher sieht das auch so sonderbar aus, was sich da, ich möchte sa­gen, krampfhaft organisiert hat in Nachbildung der alten Einrich­tungen. Man hat nach und nach gebaut technische Hochschulen, kommerzielle Schulen, landwirtschaftliche Schulen und so weiter. Alles das hat sich krampfhaft etwas ähnlich gestaltet demjenigen, was aus dem früheren kirchlichen Leben heraus gewachsen ist. Und so haben wir das ganz unnatürliche Gefüge unseres Hochschulwe­sens. Auf der einen Seite etwas, was in vieler Beziehung zopfartig ist, das eigentliche Universitätswesen; es trägt ja seine antike kirchliche Erbschaft durchaus an sich. Auf der anderen Seite dasjenige, was sich eigentlich etwas humoristisch in seiner Gestaltung daneben hin­stellt, die moderne landwirtschaftliche Schule, die technische Schu­le, die Bergakademie und so weiter, die eine Ähnlichkeit gesucht ha­ben, auch in den Äußerlichkeiten, im Titelwesen und dergleichen, mit den Universitäten.

Da haben wir auf der einen Seite das Geistesleben, wie es vom alten, freien kirchlichen Leben heraufkommt und vom Staat allmäh­lich aufgesogen ist; und auf der anderen Seite haben wir das Hinein­schieben, ich möchte sagen, wiederum aus einer gewissen Freiheit heraus, denn der Geist muß ja wirklich frei sein, Genialität kann der Staat nicht erzeugen, desjenigen Geisteslebens, das sich wiederum hineinstellt in das Staatsleben. Es hätte ja dem Ideal vieler Menschen entsprochen, auch an den Kunstschulen wirkliche Künstler auszu­bilden. Sie wissen aber: das Lehrprogramm gibt es noch nicht, wo­durch man das Genie oder den wirklichen Künstler ausbilden kann,

87

trotzdem es manche Leute so möchten. Also wir sehen, wie da mit unzureichenden Mitteln das geistige Leben aufgesogen ist. Es ist ja im Grunde genommen nur das aufgesogen, was äußere Form ist. Der Inhalt muß sich ja immer, wenn ich so sagen darf, unter der Hand fortfretten, ganz gewiß fortfretten. Denn, nicht wahr, wenn jemand in die gegenüber den modernen Verhältnissen unangenehme Lage versetzt ist, einigen Geist zu haben, so muß er den, möglichst mit Geheimhaltung durch all die schrecklichen Qualen der Examina und so weiter, durchbringen, damit er ihm nicht einfriert während dieser ganzen Prozedur und er ihn noch nachher entfalten kann. Ja, man muß, was das eigentliche Geistesleben ist, schon eben unter der Hand fortfretten. Das ist nun eben so. Und das ist ja im Grunde ge­nommen auch nichts anderes als eine Art Emanzipation des Geistes­lebens, ein latentes Sich-emanzipiert-Halten.

Auch hier stehen wir vor einer sich vorbereitenden Krise. Die letzte Konsequenz des Verstaatlichungssystems ist ja Marxismus, und, radikal, Bolschewismus. Da wird alles verstaatlicht; da wird der ganze Staat zu einem großen Industrieetablissement, zu einer Rie­senunternehmung gemacht, wenigstens ist das zunächst das Ideal. Nun, wenn man das macht, dann ist es notwendig, einzuorganisie­ren in diese ganze Menagerie, Maschinerie wollte ich natürlich sa­gen, einzuorganisieren in diese ganze Maschinerie, was technische Kenntnisse sind. Denn ohne diese technischen Kenntnisse kann man nicht vorwärtskommen. Es ist ja die moderne Technik notwendig. Aber aller Bolschewismus und alle Arten, das marxistische Prinzip in die Wirklichkeit einzuführen, werden zu nichts anderem führen können als zu Raubbau auf diesem Gebiet. Das heißt, man wird für eine Zeitlang die technisch Begabten versklaven können. Aber sie verschwinden nach und nach, wenn man nicht vorher übergehen wird zu einem selbständigen, emanzipierten, freien, produktiven Geistesleben. Vor dieser Krisis steht man überall da, wo die Ver­staatlichung des Geisteslebens radikale Fortschritte macht. Denn ebenso, wie die beiden anderen Glieder des sozialen Organismus ih­re eigenen Gesetze haben, das rechtlich-politische und das Wirt­schaftsleben, wie das Wirtschaftsleben alles zur Ware macht, wie das

88

staatlich-rechtliche Leben doch vom Wirtschaftsleben dasjenige, was da nicht hineinpaßt, unter die Organisation, unter die Gesetzmäßig. keit spannt, so muß sich auch das Geistesleben, seinen eigenen Ge. setzen folgend, emanzipieren von den beiden anderen.

Als Forderung hat man durchaus diese drei Gebiete des sozialen Organismus: das geistige Gebiet, das rechtlich-staatliche Gebiet und das wirtschaftliche Gebiet. Deshalb sind das auch die drei großen Fragen der Gegenwart. Die drei großen Fragen der Gegenwart sind eben die Fragen der richtigen Gestaltung des Geisteslebens, der rich­tigen Gestaltung des staatlich-politischen Lebens, der richtigen Ge­staltung des Wirtschaftslebens.

Und das tritt uns überall da entgegen, wo die stümperhaften heu­tigen Versuche entstehen. Sehen Sie sich an, was zum Beispiel inner­halb Mitteleuropas, Deutschlands, von den Konfessionen heute aus­geht, wo man versucht, in den evangelischen Einheitsbestrebungen, in den jungkatholischen Bestrebungen und so weiter, das Alte zu galvanisieren, aus dem Alten noch etwas Lebensfähiges herauszu­pressen, um irgendein Geistesleben zu haben, weil man nicht den Mut hat zu einer Produktivität im Geistesleben. Sie sehen überall die stümperhaften Versuche zu einer Geburt eines neuen Geisteslebens. Natürlich kann der Versuch, aus der alten Zitrone doch noch etwas auszupressen, nicht zu einer wirklichen geistigen Gestaltung führen. Dazu kann nur führen die Hinwendung zu einem produktiven Gei­stesleben. Aber wir sehen überall die stümperhaften Versuche. Wir sehen, wie Amerikaner erscheinen zur Wiederauffrischung des alten Christentums, weil sie die Meinung haben, daß aus den alten Staats-prinzipien heraus die Menschheit nicht gesunden kann. Nirgends aber ist die Einsicht da, daß ein Geistesleben neu zu produzieren ist aus seinen Urquellen heraus. Uberall stümpert man dasjenige zu­sammen, was schon da ist. Das zeigt, daß man auch da instinktiv auf dem Wege ist, daß man aber nicht den Mut gefunden hat, ein selb­ständiges Geistesleben wirklich in seiner Reinheit hinzustellen.

Auf der anderen Seite sehen wir, wie das alte Staatsprinzip, das sich seit dem 15., 16. Jahrhundert in Europa herausgebildet hat, ver­röchelt. Denn was ist es denn anderes, was sich in den Ungetümen,

89

die man Friedensschlüsse und dergleichen nennt, die sich seit Brest­Litowsk und Versailles abgespielt haben, was ist es denn anderes als ein verröchelndes Staatsprinzip, das nicht mehr aus sich heraus et­was Fruchtbares gestalten kann, das Gebilde schafft, die nicht beste­hen können? Die Tschechoslowakei zum Beispiel wird nicht beste­hen können, weil sie nicht hat, was sie haben muß. Das polnische Staatsgebilde soll wiederum aufgerichtet werden. Es kann nicht auf­gerichtet werden und so weiter. Es ist eben durchaus nur möglich, daß das staatliche Leben wiederum gesundet, wenn es sich aufbaut auf dem demokratischen Prinzip der gleichen Menschen, das heißt, wenn es die Angelegenheiten umfaßt, welche die Angelegenheiten eines jeden Mündiggewordenen sind.

Solange das heutige Leben chaotisch zusammengeworfen wird, kommt man eben nicht mehr weiter. Da sehen wir, wie in der Tat das staatliche Leben auf der einen Seite verröchelt, auf der anderen Seite aber schon gezeigt hat, wie es die Arbeitsregelung in Anspruch nehmen muß. Wir sehen, wie ihm Aufgaben erwachsen. Und dann kann man sagen: Wir haben also die geistige Frage, die sich darin zeigt, daß stammelnde Versuche gemacht werden, wie sie sich in den evangelischen Einheitsbestrebungen, in den jungkatholischen Be­strebungen äußern; wir haben die staatlich-rechtliche Frage, die sich zeigt zum Beispiel in den Friedensschlüssen; wir haben aber auch das Wirtschaftsleben, das als die dritte große Frage der Gegenwart dasteht, aus dem ja im Grunde genommen gegen Westen hin der große Krieg entbrannt ist, das sich entlädt in demjenigen, was eben die revolutionären und ähnliche Impulse sind.

Das muß nach den verschiedensten Seiten hin behandelt werden. Sie finden ja unter meinen Vorträgen, die ich hier gehalten habe, einen, der diese Dinge beinhaltet. Unter diesem Gesichtspunkt der drei großen Zeitfragen müssen wir unser erstes Thema behandeln. Wir müssen behandeln, daß die großen Fragen heute da sind, die gei­stige Frage, die staatlich-rechtliche Frage und die wirtschaftliche Fra­ge, daß daher die Dreigliederung nicht etwas ist, was erfunden ist, sondern was abgelesen ist den drei großen Zeitfragen, und daß auf der anderen Seite dasjenige, was sich vorbereitet hat als anthroposo­phische

90

Geisteswissenschaft, eben eine Grundlage ist für ein wirk­lich produktives Geistesleben.

Was als Geistesleben aus alten Zeiten da war in den Konfessionen, von denen die Universitätswissenschaften der Gegenwart doch nur eine Dependance sind, dieses Geistesleben hat sich ausgelebt; das an­dere hat noch nicht als Geistesleben zu leben beginnen können, also dasjenige, das aus der Naturwissenschaft und Technik herausge­wachsen ist. Das konnte sich noch nicht vergeistigen. Das muß hin-aufgetrieben werden mit derselben Denkweise, aus der das alte Gei­stesleben entstanden ist. Die Geisteswissenschaft wird wiederum so produktiv sein, wie die frühere war, die dann in den Religionen in die Dekadenz gekommen ist.

Das ist es, was dem Geistesleben seinen Inhalt, seinen Schwung gibt. Und Sie werden dann, wenn Sie in dieser Weise die Sache durchschauen, wenn Sie richtig erkennen, daß Sie auf die Frage: Ja, woher soll das freie Geistesleben kommen? - zu antworten wissen mit voller Überzeugung: Ja, wir haben nicht nur zu reden von der Forderung des freien Geisteslebens, sondern wir haben etwas, was man auch in diesen Rahmen des freien Geisteslebens hineinlegen kann, was den Geist produziert, was lebendiger Geist ist. Sie werden dann auf die anthroposophische Quelle hinweisen können, die dazu gehört. Da können Sie etwas entwickeln, was, wenn Sie es an die Menschen heranbringen wollen, mit einem gewissen Enthusiasmus an sie herangebracht werden muß, so daß gewissermaßen das Innere sich nach außen wendet, so daß wirklich dasjenige, was Sie als Men­schen sind, womit Sie zusammengewachsen sind, unter das Publi­kum hineingeht. Das muß der eine Ton sein, den Sie in Ihren Vor­trägen anschlagen müssen. Sie müssen sich klar sein, daß dem freien Geistesleben die Anthroposophie den Inhalt, die Nahrung gibt.

Auf der anderen Seite werden Sie den anderen Ton finden, wenn Sie gründlich fühlen, daß das Wirtschaftsleben alles zur Ware macht, daß dasjenige, was nicht Ware sein darf, herausgenommen werden muß aus dem Wirtschaftsleben. Dann werden Sie finden den trocke­nen Ton der nüchternen Überlegung, der Ihre Vorträge durch­ziehen muß, wenn Sie vom Wirtschaftsleben sprechen. Denn da

91

können Sie nüchtern, trocken sprechen, da müssen Sie so sprechen, wie wenn Sie rechnen müßten.

Und so werden Sie die zwei Nuancen finden, die Sie brauchen für Ihre Vorträge, und werden sie allerdings verschieden voneinander finden: den trockenen, nüchternen Ton des trockenen Wirtschafts­erklärers und den begeisterten Ton desjenigen, der nicht bloß von einem politischen Ideal als dem freien Geistesleben spricht, sondern so spricht, daß er weiß, was in das hinein will.

Und dann werden Sie auch schon, zwischen beiden sich rhyth­misch hin- und herbewegend - Sie werden nicht krampfhaft Phrasen zu dreschen brauchen -, dann den dritten Ton finden, den Ton, den Sie für die Behandlung des Staatlich-Rechtlichen brauchen.

Aber es ist notwendig, daß Sie gewissermaßen in Ihren Stimmun­gen selber, damit Sie richtig erkennen, intensiv dreigegliedert wer­den, daß Sie in einer anderen Weise in Ihrer Seele sich verhalten zum Geistesleben, in einer anderen Weise zum staatlich-politischen Le­ben und in einer anderen Weise zum Wirtschaftsleben. Über das Geistesleben spricht man aus innerer Kraft und Überzeugung; man spricht so, daß man eigentlich weiß: jeder Mensch ist der berechtigte Anteilhaber an dem harmonischen Geistesleben der Menschheit, an der Harmonie des Geisteslebens der Menschheit. Über das Staatsle­ben spricht man so, daß man die Seele pendeln läßt von der einen Waagschale zu der anderen: Pflichten - Rechte, Pflichten - Rechte! Man spricht mit einer gewissen kühlen Überlegenheit, die ja durch­aus nicht die überlegene Verlogenheit der alten Staatsmänner zu sein braucht; aber es geschieht mit einer gewissen Überlegenheit, indem man im staatlich-rechtlichen Leben dem einen sein Recht ebenso wi­derfahren läßt wie dem anderen. Und über das Wirtschaftsleben re­det man so, wie wenn man, allerdings nicht seine eigene Börse zu verwalten hätte; das führt zu nichts Vernünftigem, aber mit dem Gefühl spricht man, wie wenn man die Börse anderer Menschen ei­gentlich in seiner Tasche hielte und diese zu verwalten hätte. Mit dem Gefühl spricht man da, daß man da möglichst vorsichtig zu Werke gehen müsse, daß da auch manches anders kommen kann, als man denkt. Das sichere Gefühl, das man dem Geistesleben gegenüber

92

hat - im Geistesleben kann niemals, wenn man es richtig erfaßt hat, etwas schiefgehen -, dieses sichere Gefühl kann man nicht ha­ben dem Wirtschaftsleben gegenüber. Da kann auch einmal etwas schiefgehen. Das muß auch in dem Ton drinnen sein, mit dem Sie über die Sache sprechen. Darum werden Sie das in den «Kernpunk­ten» finden: Mit absoluter Sicherheit und Bestimmtheit ist vom Gei­stesleben gesprochen; nur beispielhaft, so daß man das Gefühl hat, daß es auch anders sein könnte, ist gesprochen, wo wirtschaftliche Verhältnisse in Rede stehen.

Das ist, was Ihren Reden eine gewisse innerliche Kraft geben wird: wenn Sie innerlich intensiv dreigegliedert sind. Und das ist, was ich Ihnen empfehle, ein wenig innerlich sich zu Gemüt zu füh­ren, damit Sie vielleicht diesen Ton treffen. Da die meisten von Ihnen jung sind, so wird das, wenn Sie aufmerksam gemacht werden auf diese Dreigliederung des menschlichen Orators, so wird das etwas sein wie eine Art Kraftmittel für Ihr Wirken.

93

FÜNFTER VORTRAG Stuttgart, 14. Februar 1921 (abends)

Es wird gut sein, jetzt einiges Formelle einzufügen, damit wir dann wiederum übergehen können zu einigen sachlichen Betrachtungen.

Ich habe es vorhin angedeutet, daß man durch das Sich­Hineinversetzen in den ganzen Sinn und das Wesen des Gegenstan­des im einen oder anderen Gliede des dreigliedrigen sozialen Orga­nismus den richtigen Ton gewissermaßen finden kann. Man nimmt ihn von selbst, wenn man in der richtigen Weise in den Dingen drin­nen lebt.

Nun möchte ich in dieser Richtung Ihnen noch einiges hier vor­bringen. Aber ich möchte vorausbemerken, daß natürlich, wenn es sich um praktische Ratschläge handelt, die Dinge auch immer etwas anders sein können, daß man eigentlich über solche Dinge nur als Beispiele sprechen kann, ja, daß man die Sache in dem einen Falle so, in dem anderen Falle auch anders behandeln kann. Aber wenn ich mir vorstelle, was gerade für die Fälle passend sein könnte in be­zug auf Ihre rednerische Wirkung in den nächsten Wochen, so möchte ich zunächst darauf aufmerksam machen, daß eine ganz be­stimmte innere Einstellung doch für den Redner in jedem einzelnen Falle von einer großen Bedeutung ist.

Sehen Sie, das Schlechteste, was Sie tun könnten, wäre zweifellos das: wenn Sie sich ein solches Thema nehmen würden, wie, sagen wir, «Die großen Fragen der Gegenwart in bezug auf die Dreigliede­rung des sozialen Organismus», und, da Sie doch in der Woche eine ganze Anzahl Reden an verschiedenen Orten halten werden, dieses Thema gewissermaßen mit gedächtnismäßiger Beherrschung der einzelnen Formulierungen nun wiederholend immer vortragen würden. Das ist aus inneren sachlichen Gründen wohl die schlechte­ste Methode, die man für eine solche Sache wählen kann. Man kann eigentlich eine verantwortungsvolle und von der Sache getragene Art im Reden doch nur entwickeln, wenn einem gewissermaßen je­de Rede, die man hält, auch subjektiv, persönlich, etwas Neues ist.

94

Man hat also notig, wenn auch in einer solchen Weise, wie ich es gleich nachher andeuten werde, selbst wenn man eine Rede dreißig Mal, ja, nehmen wir den ja etwas seltenen Fall an, hundert Mal hin­tereinander hält, doch sie immer wiederum als etwas Neues zu emp-finden und immer wiederum einen gewissen gleich großen Respekt, eine Achtung vor dem Inhalt dieser Rede zu haben, sie in ihrer Grundnuance - merken Sie wohl, was ich sage - sie in ihrer Grund-nuance immer wiederum, bevor man sie hält, vor die Seele treten zu lassen, nicht so sehr in dem einzelnen Ausbau und in den einzelnen Formulierungen, sondern in den Grundnuancen, in den Gedanken sie immer wieder zu durchleben. Wie man sich dazu einstellen kann, das hängt von dem Verhältnisse ab, das man zu dem Stoff hat. Ich kannte Schauspieler und Schauspielerinnen von erster Qualität, die mir die Versicherung abgaben, daß sie eigentlich erst das Gefühl hat­ten, eine Rolle gut gespielt zu haben, wenn sie sie ungefähr das hun­dertste Mal spielten. Nun, natürlich steckt da in einem gewissen Sin­ne eine Art Illusion darin; sie hatten es beim neunundvierzigsten, fünfzigsten Mal auch, aber nur im Verhältnis zu den vorhergehen­den Malen. Jedenfalls aber gibt es eine Möglichkeit, den gleichen Re­spekt, die gleiche Achtung vor dem Inhalt der Rede zu haben, wenn man sie auch noch so oft hält. Und im Grunde genommen hält ei­nen nur in der nötigen Frische zu der Rede dieses Gefühl: daß man eigentlich niemals von dem betreffenden Stoff, auch wenn er fast ganz gleich wiederholt wird, genug kriegt.

Wer gegenüber einer Rede, die er halten soll, das Gefühl hat, sie sei ihm schon langweilig, oder es sei ihm langweilig, die Rede zu hal­ten, weil er sie mit demselben Inhalt so oft gehalten hat, der kommt mir vor, wie wenn er einen ganzen Monat gegessen hat und am Er­sten des nächsten Monats sagt: Mir ist es jetzt langweilig zu essen, denn es ist ja doch nur die Wiederholung des Essens von den vorher­gehenden dreißig Tagen; ich will das nicht wieder tun. Der Organis­mus tut im Grunde genommen in bezug auf seine wichtigsten Funk­tionen jeden Tag in eintöniger Weise dasselbe, höchstens, daß man die Speisenfolge etwas variiert. Aber in einer solchen Weise kann man ja auch die Gedanken eines Vortrages nuancieren, so daß eine

95

Abwechslung hineinkommt wie in die Speisen an den aufeinander­folgenden Tagen. Aber im wesentlichen bleibt für den Organismus das eintönige Hungrig-Sein - Sich-Sättigen, Durst-Haben - Trinken und so weiter, und es wird im Grunde genommen nie im Ernste langweilig.

Unser Intellekt, unser Seelenleben überhaupt, weicht in einer ge­wissen Weise, indem es gegenüber dem lebendigen Wachstum der natürlichen, wie auch geistigen elementaren Kräfte in die Dekadenz kommt, von diesen ab; es weicht dadurch ab, daß es gewissermaßen alles nur einmal haben will, und dann es eben «hat». Man kommt, indem man weiterschreitet in der seelischen Entwickelung, wieder­um zurück auf das, was die Natur und was die ursprünglich geistigen Elementarkräfte haben: den Rhythmus, die Wiederholung des Selbi­gen. Und zu dieser Rückkehr zu dem, was den ursprünglich schöp­ferischen Kräften nahesteht, nähersteht als unser dekadentes intel­lektuelles und unser Seelenleben, zu dieser Rückkehr müssen wir kommen, wenn wir in der geistigen Welt, in der Sphäre des Geisti­gen arbeiten. Auf das haben ja im Grunde schon die Religionen Rücksicht genommen. Denn sie lassen nicht jeden Morgen und je-den Abend neue Gebete beten, sondern immer dieselben. Und sie setzen voraus, daß es nicht langweilig ist, daß es sich wirklich so ver­hält zu der ganzen seelischen Entwickelung des Menschen, wie das Essen und Trinken zur organischen Entwickelung des Menschen. Und wir können uns zu dem, was wir im Geistigen wirken, beson­ders in einem solchen Fall, wie es die Redekunst ist, so einstellen, daß wir, wenn wir auch zahllose Male dasselbe wiederholen, immer wiederum und wiederum mit demselben Interesse, bevor wir die Sa­che vorbringen, den Inhalt innerlich durchlaufen. Nur dann, wenn wir so den Inhalt innerlich durchlaufen, und sei es manchmal nur in wenigen Minuten, nur dann werden wir das richtige Verhältnis zu dem gewinnen, was wir aussprechen wollen. Wir werden auch nur dadurch das richtige Verantwortungsgefühl gewinnen.

Und dieses Verantwortlichkeitsgefühl, das brauchen wir, wenn wir in einer solchen Lage sind wie Sie in den nächsten Wochen. Denn Sie müssen sich bewußt sein, daß Sie mit Ihren Reden eben

96

nicht bloß den Leuten etwas sagen, sondern daß wir in einem weit-historischen Augenblick stehen, und daß Ihr Reden für diesen welt-historischen Augenblick etwas zu bedeuten hat. Sie müssen sich ganz stark die Tragweite desjenigen, was Sie tun, vor die Seele stellen. Sie müssen sich ungefähr sagen: Ich habe etwas den Leuten beizubringen, was, wenn es bei ihnen einschlägt, wirklich als das einzige Mittel figurieren wird, die Welt zum Aufstieg zu bringen, während überall um uns herum die Niedergangskräfte sind.

Und wenn Sie so zu der Sache stehen, dann werden Sie auch in der richtigen Weise einschätzen, was sich aus allen Ecken heraus als die Gegnerschaft gegen unsere Sache geltend macht und die da lauert überall an den Seiten Ihrer Wege, die Sie nun betreten wollen. Die Gegnerschaft wird gerade innerhalb unserer Bewegung unberück­sichtigt gelassen von den meisten auch unserer Mitglieder. Sie küm­mern sich nicht gern darum, und das ist eben Mangel an Interesse an der Zeitgeschichte. Aber aus Interesse an der Zeitgeschichte heraus müssen wir reden und müssen wir handeln. Nur dadurch bekom­men unsre Worte ein wirkliches Gewicht, daß wir daraus handeln. Wir dürfen diese Gegnerschaft nicht leicht nehmen. Es ist ja manch­mal gerade innerhalb unsrer Bewegung geradezu zum Verzweifeln, wenn man sieht, wie gegenüber den furchtbaren Anklagen, die erho­ben werden gegen Anthroposophie, gegen die Dreigliederung und jetzt auch gegen den «Kommenden Tag» und so weiter, die Leute in­nerhalb unsrer Bewegung ganz phlegmatisch bleiben. Da sind wirk­lich die Gegner, wenn man so sagen darf, andere Kerle. Die sind manchmal ganz ruchlose Filous. Aber sie haben als Inhalt ihres Fi­loutums einen ungeheuren Eifer. Und sie finden Worte aus einem gewissen Enthusiasmus heraus, aus einem Enthusiasmus des Schlechten sehr häufig, sogar meistens, oder auch aus einem Enthu­siasmus der Unfähigkeit, die sich wehrt, weil sie nicht zur Geltung kommen kann gegenüber dem, was da zur Geltung gebracht wird. Aber es liegt dann in einem gewissen Sinn Elan drinnen; auch in dem Geschimpfe liegt Elan drinnen. Man findet nicht die rechten Worte, wenn man sie geradezu künstlich setzt. Aber man findet die rechten Worte, wenn man sie aus der Gesamtstimmung gegenüber

97

der Sache herausfinden kann. Das ist sowohl im Schriftlichen wie auch im Mündlichen dasjenige, auf das wir uns einstellen müssen. Wir dürfen nicht zurückschrecken, die stärksten Zurückweisungen erfahren zu lassen, was sich in so schamloser Weise gegen Anthropo-sophie, gegen Dreigliederung und so weiter geltend macht. Und wir müssen uns bewußt sein, daß dadurch im Grunde genommen auch das Positive seine Schattierung erhält.

Zum Sachlichen gehören auch diejenigen Dinge, die wir vorbrin­gen gegenüber unseren Gegnern mitten in unseren positiven Reden drinnen, wobei wir möglichst wenig Rücksicht darauf nehmen, uns zu verteidigen. Denn sehen Sie, gewiß, man muß sich manchmal ver­teidigen, ich habe es schon gesagt, aber was bedeutet denn eine Ver­teidigung eigentlich gegenüber solchen Individuen, wie es die Max Dessoirs sind und dergleichen? Dagegen bedeutet es viel, zu charak­terisieren, welche Schande es ist für das deutsche Bildungs- und Universitätsieben, solche Menschen zu Dozenten zu haben. Diese allgemeine Kulturerscheinung in das richtige Licht zu stellen, das ist dasjenige, wofür wir die richtigen Worte und Wortnuancierungen finden müssen. Und da ist es schon gut, die Dinge, ich möchte sagen, in einer gewissen Weise farbig zu schildern. Da müssen Sie dann ver­suchen, aus Ihren Lebenserfahrungen heraus die Tinten, die Farben zu finden, um farbig zu schildern. Es gibt ein Karma, wenn man es nur in der richtigen Weise beachtet. Dieses Karma, das trägt einem die Nuancen schon zu.

Sehen Sie, ich habe in meinen «Seelenrätseln» die eigentümliche Tatsache dessen, was Max Dessoir erwähnt hat in seinem dicken Schmöker, den er geschrieben hat, angeführt, daß er einer von den­jenigen Menschen ist, denen es durch innere Seelen bestimmung auf­erlegt ist, manchmal einhalten zu müssen in der Gedankenfolge, nicht weiterzukönnen; daß es ihm sogar bei Vorträgen passieren kann, daß er plötzlich so erfüllt ist von der ganzen Kraft desjenigen, was er auszudrücken hat, daß ihm, er sagt nicht so, der Verstand stil­lesteht, aber es ist so etwas Ähnliches wie, daß der Verstand still-steht. Ich habe das in meinen «Seelenrätseln» hervorgehoben. Vor einigen Wochen bekam ich einen Brief eines Freundes, der in den

98

Zeiten gerade bei Dessoir in Berlin die Vorlesungen gehört hat, in denen das tatsächlich passiert ist, daß Dessoir der Verstand stillge­standen hat. Die Studenten nannten dieses sonderbare Universitäts­möbel den «schönen Max», weil er die Gewohnheit hatte - das schreibt dieser betreffende Freund -, jede Woche eine andersfarbige Weste anzuziehen und mit dieser vorzutragen. Das ist ja nur Imita­tion, sehen Sie. Es haben Größere als der Max Dessoir eine solche Schwäche gehabt. So zum Beispiel ist es bei dem bekannten großen Philosophen Kuno Fischer einmal vorgekommen, daß ein junger Stu­dent zum Friseur kam, der vis-á-vis des Universitätsgebäudes in Hei­delberg war. Und dieser Friseur interessierte sich ja selbstverständ­lich sehr für die Universität und ihre Jünger. Und da kam er auch ins Gespräch mit diesem krassen Fuchs, der gerade antreten wollte zum Kolleg bei Kuno Fischer. Der verriet ihm, daß er zu Kuno Fi­scher gehen wolle. «Heute schreibt er was an die Tafel», sagte der Friseur. «Woher wissen Sie das?» fragte der junge Student erstaunt. «Er war eben vorhin hier und hat sich hinten den Scheitel machen lassen; wenn er das tut, schreibt er immer was an die Tafel; da dreht er sich nämlich um.» - Nun, der «schöne Max», der war eines Tages in der Lage, daß ihm eben plötzlich die Gedanken entfiohen sind. Da fing er an wild zu werden, selbstverständlich in der entsprechen­den Wochenweste. Da saß einer vor ihm, der hatte eine Zeitung in der Hand, auf den stürzte er los, auf den schimpfte er furchtbar, er sei schuld daran, weil er in der Zeitung gelesen hat, daß ihm die Ge­danken entfiohen seien. Nach fünf Minuten hatte er wiederum die Gedanken. - Das hat sich wirklich zugetragen, das kann dokumen­tarisch belegt werden!

Man kann solche Dinge schon nuancieren. Und man wird sehr häufig finden, daß man manche Tinten auftragen kann, wenn man gerade das sonderbare Bildungswesen in unserer Gegenwart, wie es an den Universitäten grassiert, schildern will. Es hat neben seinen schädlichen Seiten, neben seinen ärgerlichen Seiten und vernichteri­schen Seiten auch durchaus seine komischen Seiten. Ich kannte ja selbst, wenn ich das noch erwähnen darf, einen Chemiker; er war Professor für Chemie und Technologie organischer Stoffe. Er sagte

99

jedes Jahr einmal in seinem Kolleg: Ja, es gibt eigentlich nur drei große Chemiker: der eine ist Liebig, der zweite ist ein neuerer, Gorup-Besanez, und den dritten zu nennen verbietet mir die Beschei­denheit.

Nun, wie gesagt, darum handelt es sich für uns, daß wir nicht den Hauptwert legen auf das Verteidigen, das mit einfließen kann natür­lich; sondern darauf kommt es an, die Kulturerscheinungen als sol­che in ihrer ganzen Schädlichkeit hinzustellen. Daß wir also uns mächtig genug erweisen, ein Urteil zu fällen über sogenannte Gei­stesströmungen der Gegenwart. Das können wir in der positiven Darstellung überall einfließen lassen und werden es so vielleicht am besten in die Seelen hereinbringen. Denn wir müssen, wenn wir durchdringen wollen, ganz unbedingt in den Seelen unserer Zeitge­nossen einen Abscheu gegenüber gewissen zeitgenössischen Erschei­nungen erzeugen können. Wir müssen ein richtiges Urteil pflanzen können über das Furchtbare, das eigentlich unter uns grassiert durch die Unfähigkeit und namentlich auch durch die Verlogenheit, die unter uns ist. Wir müssen nur, damit wir dies in der richtigen Weise tun können, uns tatsächlich darauf verlegen, scharf den Leuten auf die Finger zu schauen und ihnen nicht irgendwelche Dirige durchge­hen zu lassen. Wir müssen gerade das Symptomatische, das Charak­teristische scharf hervorheben. Es herrscht in unserer Zeit, und wir werden die Dinge immer finden, gerade auf dem Gebiet der soge­nannten Wissenschaft eine furchtbare Verlogenheit. Und diese Ver­logenheit, die eigentlich um so stärker wird, je mehr wir von den na­turwissenschaftlichen Fakultäten, den philosophischen Fakultäten über das Medizinische nach gewissen anderen Provinzen hinkom­men, diese Verlogenheit, die müssen wir nicht verfehlen, an einzel­nen Beispielen immer wieder und wiederum vor unsere Zeitgenos­sen charakterisierend hinzustellen. Das ist von einer großen, von einer ungeheuren Wichtigkeit. Denn man hat heute doch nicht ein richtig energisches Gefühl von dem, was solche Verlogenheit eigent­lich bedeutet, wie korrumpierend es in die Gemüter hineinwirkt, wenn derjenige, der sonst Wissenschaftler ist, innerhalb seines Wir­kens zu gleicher Zeit von einer gewissen Verlogenheit angefressen

100

ist. Und wir werden sogar auf die Dauer recht viel erreichen, wenn auch nicht gleich, wenn es uns gelingt, die Verlogenheit unseres heu­tigen Bildungslebens unseren Zeitgenossen zum Bewußtsein zu brin­gen. Dafür aber werden wir die richtige oratorische Nuance finden, wenn wir aus einer solchen Stimmung gegenüber der Sache heraus sprechen, wie ich es charakterisiert habe.

Dann, sehen Sie, scheint, gerade wenn man in einer solchen Lage ist, wie Sie in den nächsten Wochen sein werden, eines wichtig: daß man lebendig in der Materie desjenigen, was man vorbringen will, drinnen lebt, daß man gewissermaßen während des Sprechens mit der Materie eigentlich immer kämpft, daß man also die Vorberei­tung so sein läßt, daß man in den Absichten, in den Gedanken, sich die Sache vor die Seele treten läßt, nicht aber in der Formulierung, denn um die Formulierung muß man eigentlich vor den Zuhörern erst kämpfen. Daher ist es gut, einen Vortrag nicht bis in die Formu­lierungen hinein vorzubereiten, sondern nur bis hin zu gewissen Schlagsätzen. Man kann das durchaus, je nachdem man subjektiv so oder so geartet ist, daß man sich Schlagsätze aufschreibt. Nicht Schlagworte! Das ist etwas, was einen in der Regel irreleitet. Aber Schlagsätze, gewissermaßen die Themen der einzelnen Absätze. Man schreibt sich also auf zum Beispiel: «Das Wirtschaftsleben hat seine eigenen Gesetze, es macht alles zur Ware.» Und dann bespricht man dieses, indem man es nicht als Ausgangspunkt nimmt, sondern als Thema eines Absatzes, wie etwas, um das sich das andere herum-kristallisiert. Man spricht in Anlehnung an einen solchen Schlagsatz. Dann geht man zum nächsten Schlagsatz über.

Wörtlich ist nur gut zu haben, aber auch nicht wörtlich im Ge­dächtnis, sondern im Sinn, dasjenige, was etwa die ersten fünf oder sechs Sätze des Vortrages umfaßt und was die letzten fünf oder sechs Sätze des Vortrages umfaßt. Das andere wörtlich zu haben, ist unter allen Umständen nicht gut, weil es das innere lebendige Verhältnis in einer sehr starken Weise beeinträchtigt. Man hat aber notig, ziem­lich genau formuliert zu haben die ersten fünf oder sechs und die letzten fünf oder sechs Sätze. Denn es ist in der Regel bei einem, der als Mensch, nicht als Sprechautomat vor das Publikum hintritt, bei

101

den ersten fünf bis sechs Sätzen das Lampenfieber da. Gerade wenn er eben Mensch ist und nicht Sprechmaschine, ist es schon so. Das ist etwas durchaus Gutes, dieses Lampenfieber. Es kann die verschie­densten Nuancen annehmen. Es kann so sein, daß da die innere Le­bendigkeit durch dieses Lampenfieber bei den ersten fünf oder sechs Sätzen, wenn sie gut formuliert sind, da ist, daß diese Formulierung uns aber ein gewisses inneres Verhältnis dazu gibt, während, wenn wir die Sätze nicht formuliert haben, es einem zu leicht passieren kann, daß einem nichts einfällt und dergleichen, nicht wahr. Ich kannte zum Beispiel einen sonst ganz ausgezeichneten Mann, der las in der Regel seine Vorträge ab. Aber er wollte einmal, es ist mir so, als wenn es jetzt noch vor mir stünde, so gut erinnere ich mich, er wollte einmal wenigstens die ersten Sätze vorbringen, den ersten Satz, aus dem Gedächtnis, aber er fiel ihm nicht ein. Er mußte schon den ersten Satz, das erste Wort lesen, so sehr hatte er sich gewöhnt an das Manuskript. Also es ist gut, ganz drinnen zu leben, bis zur Formulierung, in den ersten fünf oder sechs Sätzen.

Bei den letzten Sätzen ist es wiederum so, daß man, wenn man ge­gen das Ende kommt, doch, wenn man eben ein Mensch ist und nicht ein Sprechautomat, unter dem Eindruck seines ganzen Vortra­ges steht, und dadurch eine gewisse Lebendigkeit gerade am Ende hineinkommt, und man am Ende nicht in der Lage wäre, in jedem Fall die Formulierung so zu finden, daß man das Ende nicht beein­trächtigt, wenn man nicht sich gut vorbereitet hätte gerade für das Ende, für die letzten fünf oder sechs Sätze.

So daß also für solche im besten Sinne «Gelegenheitsreden», wie Sie sie zu halten haben, namentlich aus der Gelegenheit der ganzen Zeitlage heraus, daß für solche Reden zweifellos das Beste ist, wenn man die ersten fünf bis sechs Sätze geschrieben mitbringt, dann die Schlagsätze, und wiederum die letzten fünf bis sechs Sätze folgen läßt. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, den ich Sie aber bit­te, nicht so zu nehmen, als ob er immer unter allen Umständen be­folgt werden müßte und Sie genötigt wären, dieses, was ich jetzt eben gesagt habe in bezug auf den Zettel, den Sie mitnehmen, auszu­führen, so wäre der Rat: Machen Sie sich einen Zettel, auf dem Sie

102

die ersten fünf bis sechs Sätze formulieren, dann die Schlagsätze, dann die letzten Sätze. Halten Sie sich daran. Und dann - verbren­nen Sie das! Am nächsten Tag oder zum nächsten Vortrag machen Sie dasselbe. Und verbrennen es auch wieder. Machen Sie das lieber fünfzig Mal, als daß Sie sich gestatten, daß Sie den Zettel etwa durch alle fünfzig Vorträge beibehalten.

Das ist, was durchaus zur inneren Verlebendigung des Verhältnis­ses eines Menschen zu seinem Stoff gehört. Man muß in einer gewis­sen Weise so fertig geworden sein mit dem Lebendigen des Vortra­ges, den man gehalten hat, wie man am 14. Februar fertig geworden ist mit dem, was man am 13. gegessen hat. Das ist durchaus etwas, was als Regel gelten kann.

Denn sehen Sie: in gewissen Gebieten des Wirkens handelt es sich darum, daß wir den Weg zurück zu den elementaren Lebensverhält­nissen wiederfinden. Nur dadurch reißen wir das geistige Wirken aus jener Mehltau-Natur heraus, die es dadurch hat, daß es im ab­strakten Verstandesleben so etwas gibt wie: man will etwas nur ein­mal erleben; wenn man etwas schon erlebt hat, übt es keine Sensa­tion mehr aus, und dergleichen. Es ist durchaus so, daß, wenn man sich so etwas angewöhnt, wie ich es jetzt charakterisiert habe, man allmählich dazu kommt, aus viel tieferen Regionen als aus den höchst fraglichen Regionen, die in bezug auf die räumliche Ausdeh­nung bei dem Menschen am höchsten sitzen, dasjenige, was man gei­stig produziert, zu bekommen. Und das ist ungeheuer wichtig, daß gerade die erhabensten geistigen Dinge nicht aus dieser Hauptesre­gion heraus kommen. Denn diese Region ist farblos, ist nüchtern, ist eigentlich so, daß sie, wenn das auch paradox klingt, eigentlich nie­mand anders angeht als uns selber. Was der Verstand an Klarheit ge­winnen kann, geht eigentlich nur den Menschen an, der der Träger dieses Verstandes ist.

Was wir der Welt zu sagen haben, das beruht nicht auf dem, was wir verstehen, sondern auf dem, was wir durchfühlen, durchleben, wodurch wir Schmerz und Leid und Glück und Uberwindung erlit­ten haben. Und, meine lieben Freunde, den Inhalt desjenigen, was Sie in den nächsten Wochen der Welt zu sagen haben, werden Sie jeden

103

Tag aufs neue, wenn Sie diesen Inhalt in der Seele durchlaufen, als Überwindung und Leid, und in einer gewissen Weise, wenn Sie fühlen, was werden soll, als Glück auch, als Erlösung, empfinden können. Vor allen Dingen aber werden Sie ein starkes Verantwor­tungsgefühl empfinden können. Das alles kann jeden Tag durchge­macht werden. Und das ist eine viel bessere Vorbereitung als alle Dispositionen und alles das, was in manchen Rhetoriken gegeben wird. Dieses lebendige innere Verhältnis zur Sache ist dasjenige, was uns eigentlich wirklich so vorbereitet, daß sich jene Imponderabi­lien ausbilden, welche einmal bestehen zwischen uns und unserem Auditorium, und wenn es ein noch so großes ist.

Es ist im allgemeinen gerade auf diesem Gebiet zu bemerken, wie sehr wir Abstraktlinge und theoretische Menschen geworden sind. Ich hörte einmal mit einer großen Versammlung einem Vortrag zu, den Hermann Helmholtz hielt. Er nahm sein Manuskript heraus und las den ganzen Vortrag vom ersten bis zum letzten Wort ab. Nach­dem diese Prozedur mit den Zuhörern vorbei war, kam ein Theater­direktor, mit dem ich befreundet war, an mich heran und sagte: Wo-zu ist das eigentlich gewesen? Der Vortrag ist jetzt ja schon ge­druckt, er könnte ganz einfach jedem der Zuhörer eingehändigt werden. Und wenn Helmholtz, den man ja sehr schätzt und ehrt, herumgehen würde und jedem die Hand geben würde, so wäre das ein viel größeres Vergnügen, als sich eine Stunde das vorlesen zu lassen, was man selber lesen kann, wenn es gedruckt ist.

Das müssen wir uns eigentlich durchaus vor die Seele halten: daß das Gedruckte, also auch alles, was man ablesen kann, was man schon niedergeschrieben hat, etwas ganz anderes ist als das gespro­chene Wort. Und wenn auch das nun schon einmal vielfach ge­schieht - aus anderen Gründen wiederum als aus rein künstlerischen und ähnlichen Gründen -, daß das gesprochene Wort nachgeschrie­ben wird, daß diese ahrimanische Kunst geübt wird und daß dies dann auch wieder gelesen wird, so darf man sich doch nicht ver­hehlen, daß diese ganze Prozedur im Grunde genommen im höhe­ren Sinne ein Unfug ist. Er muß ja schon geübt werden, der Unfug, aus gewissen Gründen heraus. Aber ein Unfug bleibt es doch. Denn

104

was gesprochen wird, das ist für den, der diese Dinge künstlerisch nimmt, nicht etwas, was zu gleicher Zeit gedruckt werden kann, ge­schrieben werden kann. Daher konnte ich nicht anders als tief mit­empfinden, als mir jener Direktor sagte, es wäre gescheiter gewesen, wenn der Helmholtz jedem die Hand gedrückt und seinen Vortrag hätte verteilen lassen.

Das sind Dinge, die man sich wohl vor die Seele halten muß, denn sie sind im Grunde genommen Rhetorik, während das, was in den Rhetoriken steht, zumeist so ist, daß man es ja doch nicht eigentlich erfüllen kann. Denn es ist im Grunde genommen Gestrüpp, ausge­droschenes Stroh, mit dem man eigentlich nichts anfangen kann, wenn man lebendig in seiner Sache drinnenstehen will.

Nun, sehen Sie, das sind solche Formalien, möchte ich sagen, die nur Ratschläge enthalten können, die aber, ich möchte nicht sagen, durchdacht, aber von Ihnen durchempfunden werden könnten. Und wenn Sie sie durchempfinden werden, dann werden Sie sich für Ihren Beruf in den nächsten Wochen gerade am allerbesten vor­bereiten können. Denn aus den Gefühlen, die Sie gegenüber sol­chen Ratschlägen entwickeln werden, wird Ihnen eine Ansicht über das erwachsen, was Sie eigentlich anfangen sollen mit dem Stoff, den Sie in den nächsten Wochen verarbeiten werden. Und was nach dieser Richtung hin noch zu sagen ist, das ist etwa das

Folgende:

Bei solchen Reden, wie Sie sie jetzt halten werden, auch wenn die Themen so gefaßt sind, wie ich das vorhin angegeben habe, ist es doch gut am Anfang auszugehen von irgend etwas, was dem Tage angehört, von irgendeinem Tagesereignis, das aber symptomatisch ist für die ganze Zeitlage. Wir leben ja in einer Zeit, in der tatsäch­lich solche Ereignisse täglich geschehen. Wir brauchen nur ein we­nig die Zeitgeschichte zu verfolgen, und wir werden überall bemer­ken, wie symptomatische Ereignisse da sind. Von denen können wir dann ausgehen. Dadurch schaffen wir sogleich eine gemeinsame At­mosphäre zwischen uns und dem Zuhörer. Denn der Zuhörer kennt dann die Sache, wir kennen sie, und wir schaffen eine Art von Kom­munikation, was bei zeitgeschichtlichen Reden, oder, besser gesagt,

105

bei solchen, die auf die Entwickelung der Zeit wirken sollen, von ganz besonderer Bedeutung ist.

Oder man kann auch ein fernerliegendes Symptom erzählen. Be­sonders geeignet, in einer richtigen Weise die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, ist oftmals, wenn man etwas erzählt, was scheinbar gar keinen Zusammenhang hat mit dem Thema, aber erst recht ei­nen innerlichen Zusammenhang hat, wovon der Zuhörer zunächst etwas paradox berührt wird, nicht weiß, warum man das erzählt; und dann versucht man, den Übergang zu finden von so etwas Fernerliegendem zu dem, was man eigentlich entwickeln will.

Ein anderer Ratschlag ist der: daß es für gewisse Fälle außeror­dentlich gut ist, wenn man am Ende wiederum an den Anfang zu­rückkommt. Man kann das am besten in der Weise erreichen, daß man am Anfang irgend etwas formuliert, was man entweder als Fra­ge hinstellt, wenn auch nicht pedantisch als Frage, aber frageartig; dann ist der Vortrag die Ausführung nach der hingestellten Frage; und am Schlusse kommt man eigentlich zur Antwort, so daß das Ganze in einer bestimmten Weise schließt. Dadurch wird auf die Seele des Zuhörers oftmals ein sehr, sehr guter Einfluß ausgeübt. Er behält leichter als sonst.

Bei gewissen Dingen kann es sogar sehr gut sein, eine Art Leitmo­tiv zu haben, auf das man nach bestimmten Absätzen, wenn auch in variierter Form, zurückkommt. Dadurch, daß man es etwa in der­selben Weise formuliert immer wieder vorbringt, wird man nicht gut wirken, aber wenn man in variierter Form darauf zurück-kommt, könnte man schon durchaus gut wirken.

Dann werden wir auch schon durch die Form unserer Rede auf die Zuhörer etwas reformierend wirken müssen; ich könnte auch sa­gen «erzieherisch», wenn es nicht die Leute beleidigen würde, wenn man das Wort «erzieherisch» gebraucht. Man kann reformierend auch durch das Formale der Rede wirken. Sehen Sie, die Leute ver­langen heute von einem, daß man möglichst definiert. Nun wollen wir gerade uns stemmen gegen jedes Definieren. Wir wollen immer charakterisieren. Wir wollen namentlich manche Sache von zwei oder mehr Seiten her charakterisieren, um immer eine Anschauung

106

davon hervorzurufen, wie ein jegliches Ding verschiedene Seiten hat, von denen aus man charakterisieren kann. Die Konzession wol­len wir nicht machen, wir wollen auch andere Konzessionen nicht machen in der Rede, aber die am allerwenigsten: daß wir den Leuten pedantische Definitionen geben. Wir müssen durchaus den Ein­druck hervorrufen, daß dasjenige, was aus den geistigen Untergrün­den heraus kommt, was aus Geisteswissenschaft stammt, auch schon in bezug auf die Form vor die Zeitgenossen anders treten muß als das, was aus dem Materialismus heraus entsteht. Was aus dem Mate­rialismus heraus kommt, das wird, auch wenn es zum Beispiel von scheinbar Religiösem durchzogen ist, materialistisch sein; es wird, auch wenn es religiös gefärbt ist, in Substantiven sprechen. Was aus dem Geiste heraus kommt, kann nicht gut in Substantiven spre­chen. Denn der Geist wirkt nicht substantivisch. Er ist in stetiger Bewegung. Der Geist ist durchaus verbal. Er löst die Substantiva auf. Er bildet lieber als ein Substantiv einen Nebensatz. Dadurch vermei­det er es, die Wesenheiten wie Hölzer zu behandeln, wie Hölzer ne­beneinander hinzustellen, oder wie Pflöcke. Dieses Hinstellen der Dinge wie Pflöcke, das ist materialistisch. Was im Geiste erfaßt ist, löst gerade die Substantiva auf. Und das ist wichtig, daß wir in dieser Beziehung keinerlei Konzessionen machen an unsere materialistisch geartete Gegenwart. Allerdings - aber in diesen Fall werden Sie nicht kommen; der Dichter in der Gegenwart leichter; nicht so sehr derjenige, der zu sprechen hat, was Sie zu sprechen haben - aller­dings, wenn irgend etwas in das Visionäre getaucht ist oder nur in das Phantasievolle, dann können auch die Substantiva auftreten. Denn dann sind die Imaginationen Gestalten. Jeder Stil hat für sein besonderes Gebiet seinen besonderen Charakter. Aber was genötigt ist, in einer gewissen Beziehung Neues als Lehre, als Anschauung an seine Mitmenschen heranzubringen, das wird, wenn es aus dem Geiste heraus ist, sich durchaus nicht innerlich veranlaßt fühlen, ein Substantivum neben das andere hinzustellen.

Dann wird es für Sie nun auch gut sein, ich möchte sagen, etwas Moralisches nun wirklich durchzuführen. Als wir unsere anthropo­sophische Bewegung begonnen haben, waren die Leute geradezu

107

stolz darauf, wenn sie sagen konnten: Ich habe da oder dort wieder­um theosophische oder anthroposophische Ansichten vorgebracht, ohne zu sagen, woher sie kommen, und ohne das Wort Theosophie oder Anthroposophie zu gebrauchen. Dieses Verleugnen des Bo­dens, auf dem man eigentlich steht, das ist ein tatsächlicher Unfug gerade in den Kreisen der Anthroposophen geworden, dieses Sich­nicht-scharf-bekennen-Wollen zu einer Sache. Nun, ich möchte Ihnen sagen, daß diejenigen Menschen, die man auf diese Weise ge­wonnen hat, daß man vermieden hat, klar und deutlich mit offenem Visier von der Sache zu sprechen, entweder doch nicht wirklich ge­wonnen sind, oder, wenn sie gewonnen sind, doch nichts wert sind. Einen Wert hat für unsere Sache nur dasjenige, was in voller Wahr­heit und in absoluter Ehrlichkeit gewonnen ist. Und wenn wir uns das ganz klar zur Richtschnur machen, so werden wir vielleicht da oder dort Mißerfolge haben. Aber wo wir Erfolge haben werden, da werden es gute Erfolge sein. Wir sollen in keinem Falle vermeiden, den geisteswissenschaftlichen, den anthroposophischen Untergrund den Leuten wirklich vorzuhalten. Un4 wenn er auch zunächst für eine große Anzahl von Menschen wie das rote Tuch für den Stier wirkt! Es ist ja das Schlimme bei solchen Dingen nicht das rote Tuch, sondern der Stier.

Diese Dinge, die sind das, was zu der moralischen Nuance unseres Eifers für die Sache in den nächsten Wochen gehören muß. Und Eifer für die Sache brauchen wir. Wir brauchen ja nicht das Gefühl zu haben, daß wir geradezu für eine Sache Märtyrer sind. Aber wir sollen das Gefühl einer großen Verantwortung haben. Wir sollen durchaus das Gefühl haben, daß wir aus der Zeitentwickelung, aus der Zeitgeschichte heraus, sprechen. Je mehr wir das haben, desto besser ist es.

Ich darf Sie vielleicht heute wiederum erinnern daran, was ich schon oftmals ausgesprochen habe. Ich habe einmal zwei katholi­schen Geistlichen klarmachen wollen, wie unrecht sie hatten mit ih­rer besonderen Forderung, die sie nach einem Vortrage von mir hin-stellten. Ich hatte in einer süddeutschen Stadt, die heute keine süd­deutsche Stadt mehr ist, einen Vortrag gehalten über die Weisheit

108

des Christentums. Da waren auch zwei katholische Pfarrer anwe­send. Es war in der Zeit, es ist jetzt schon lange her, in der nicht so intensiv in die Kreise der katholischen Pfarrerschaft schon hineinge­tragen worden war der Befehl, Anthroposophie intensiv zu bekämp­fen, wie es heute der Fall ist. Und so waren denn diese beiden Pfar­rer da. Nach dem Vortrag kamen sie zu mir. Nun, nicht wahr, es ist ja die Sache mit der Anthroposophie so, daß man über ein Thema lange sachlich sprechen kann, auch wenn ein katholischer Pfarrer zuhört. Wenn er nicht von vornherein eingestellt ist darauf, daß er alles zu bekämpfen hat, was nicht gerade auf den Boden der verfas­sungsmäßig zusammengelöteten Kirche gehört, so wird er nicht be­merken, daß er irgend etwas dagegen vorbringen kann. Das muß ja aus anderen Gebieten kommen als aus Wahrheitsgebieten, was gera­de von der katholischen Kirche dagegen kommt. Die Pfarrer kamen also zu mir und sagten: Ja, gegen den Inhalt Ihres Vortrages haben wir nichts vorzubringen - dazumal war also noch nicht die Parole von Rom ausgegangen -, aber die Art und Weise, wie Sie sprechen, das geht nicht. Denn wir sprechen so, daß alle Menschen es verste­hen, aber Sie sprechen nur für einen gewissen Kreis, der vorbereitet ist. - Ich sagte, ich habe immer das Gefühl, im äußeren Leben wird man nicht unehrlich, wenn man die Leute anredet, wie es im äuße­ren Leben üblich ist; ich sage zu jedem Hofrat Hofrat, ich sage zu je­dem katholischen Priester Hochwürden. Ich sagte also: Hochwür­den, darauf kommt es nicht an, ob Sie oder ich denken, irgend etwas sei für alle Menschen. Das ist ja selbstverständlich, daß Sie und ich subjektiv so denken. Darauf kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, ob irgend etwas aus den Zeitimpulsen heraus uns auf­getragen ist, ob es, abgesehen von unserer subjektiven Verfassung, vorgebracht werden soll oder nicht. Und da frage ich Sie jetzt, in­dem ich voraussetze dieses gute, subjektive Gewissen, ob denn alle Leute, die über den Christus etwas wissen wollen, heute noch zu Ih­nen in die Kirche kommen? Wenn alle Leute zu Ihnen in die Kirche kommen, dann reden Sie für alle Leute. Ganz objektiv frage ich Sie:

Kommen denn alle Leute zu Ihnen in die Kirche? - Sie konnten nicht ja sagen, es ging nicht. Da sagte ich: Nun, sehen Sie, für dieje­nigen,

109

die nicht mehr zu Ihnen in die Kirche kommen und die doch etwas hören wollen über den Christus, zu denen rede ich. Das ist ob­jektiv. Da können wir subjektiv glauben, Sie und ich, wir reden für alle. Darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, daß wir uns den Sinn aneignen, von den Tatsachen so zu lernen, wie wir es ma­chen sollen. - Das ging natürlich den beiden hochwürdigen Herren nicht ein, selbstverständlich, aber richtig ist es trotzdem.

Also, das sind die Dinge, die ich Ihnen heute noch sagen wollte als, gewissermaßen, Formalien. Es sind nicht Regeln, es sind auch nicht solche Ratschläge, die dogmatisch gemeint sind. Ich sagte selbst am Ausgangspunkt meiner Betrachtungen, daß sie mehr im Sinne von Beispielen gemeint sind. Man kann sie vielfach variieren. Es kann sein, daß Sie genötigt sind, in einer anderen Lage anderen Richtlinien zu folgen. Aber ich habe mir einmal überlegt, was dieje­nigen Persönlichkeiten, die da vor mir sitzen, gerade in der Lage, in der Sie in den nächsten Wochen sein können, sich vielleicht überle­gen müßten, der eine wiederum so, der andere so nuanciert, wie Sie es anstellen, um in der richtigen Weise vor Ihr Publikum hinzutre­ten, und vor allen Dingen in der richtigen Weise sich zu stellen ge­genüber der Sache, was auch erreicht werden soll in vollkommener oder unvollkommener Weise, wie Sie sich gegenüber der Sache stel­len sollen, die Sie zu vertreten haben. Und da bin ich dazu gekom­men, Ihnen in formaler Beziehung das sagen zu müssen, was ich eben ausgesprochen habe.

110

SECHSTER VORTRAG Stuttgart, 15. Februar 1921 (nachmittags)

Es wird alles darauf ankommen, daß schon die ganze Haltung der Vorträge, die Sie jetzt der Öffentlichkeit darbieten wollen, eine an­dere ist als diejenige, die den bis heute gebräuchlichen Auseinander­setzungen meistens zugrunde liegt. Die Haltung, die Sie werden ein­nehmen müssen, wird vor allen Dingen dadurch besonders be­stimmt werden, daß Sie überall werden hinzuweisen haben auf die Bedeutung des Menschen selbst im ganzen sozialen Leben.

Sie werden heute überall soziale Urteile finden, die von etwas an­derem als vom Menschen als solchem ausgehen. Sie werden soziale Urteile finden, die sich stützen auf den Begriff des Kapitals, auf die Funktion des Kapitals und so weiter, innerhalb der sozialen Ord­nung. Sie werden dann finden, wie vom Kapitalismus gesprochen wird wie von irgendeiner Macht, die durch die Welt geht, und wie bei all dem Sprechen vom «Kapitalismus» eigentlich wenig zugrunde liegt von einer Rücksichtnahme auf das Wesen des Menschen als solchem.

Sie werden dann wiederum von der Arbeit gesprochen hören, von der sozialen Bedeutung der Arbeit; auch da werden Sie zwar verspüren können, daß man, indem man von Arbeit spricht, schon den Menschen zugrunde legt, weil er ja der Arbeitende ist, aber daß man auch wiederum die Arbeit als solche loslöst vom Menschen, na­mentlich von der Menschheit, und von der «Arbeit selbst» redet.

Dann als drittes werden Sie finden, daß man von der Ware redet. Das kann seine gute Bedeutung haben innerhalb des Wirtschaftsle­bens; aber es führt doch nur zu Irrtümern und schiefen sozialen Vorstellungen, wenn man nicht überall Rücksicht nimmt auf das Wesen des Menschen als solchem.

Gewiß, gerade wenn man losgeht auf die Dreigliederung des so­zialen Organismus, wird man scharf unterscheiden müssen zwi­schen dem, was, ich möchte sagen, als ein Gebiet des menschlichen Wirkens sich ausleben muß auf geistigem Felde, und dem, was sich

111

ausleben muß auf staatlich-rechtlichem Felde, und schließlich dem, was sich ausleben muß auf wirtschaftlichem Felde. Aber man wird diese Vorstellungen, die so einseitig gefaßt werden müssen über das menschliche Tun und Treiben, nicht in richtiger Weise bilden, wenn man nicht den Blick wenden kann auf das Wesentliche des Menschen als ganzer Mensch. Gerade dieses Wenden des Blickes auf das Wesentliche des Menschen als ganzer Mensch ergibt uns die Notwendigkeit, daß die äußerliche soziale Ordnung gegliedert sein muß in die durch die entsprechenden Schriften charakterisierten drei Gebiete.

Nun, den Menschen aber hat man eigentlich nach und nach im modernen Weltanschauungsleben aus der Betrachtung ausgeschie­den. Sie finden überall, daß der Mensch als solcher eigentlich ausge­schieden ist. Sie finden das zunächst auf dem engsten geistigen Ge­biet, dem der Wissenschaft. Die Wissenschaft betrachtet die Reiche der Natur, das Mineralreich, das Pflanzenreich, das Tierreich, be­Lrachtet dann die Entwickelung des Tierreiches bis herauf zum Men­schen und stellt den Menschen als komplizierteres, umgestaltetes, metamorphosiertes Tier vor. Aber sie geht nicht darauf aus, den Menschen selbst ins Auge zu fassen. Sie stellt den Menschen nur als Schlußpunkt der Tierreihe hin. Das ist seit langem das Bestreben der Wissenschaft. Das ist aber nur ein Symptom dafür, daß man über­haupt aus dem Fühlen und Denken das Wesen des Menschen her-ausgeworfen hat. Würde man in der neueren Zeit auf den verschie­densten Gebieten des Lebens ein starkes Gefühl für das rein Mensch­liche haben, dann würde man gar nicht in der Lage sein, in der soge­nannten Wissenschaft den Menschen herauszuwerfen, ihn nur wie einen Schlußpunkt zu behandeln.

Sie sehen aber auch, wie der Mensch ausgeschaltet wird in den Einrichtungen, die heute dem geistigen Leben zugrunde gelegt wer­den. Er wird ja möglichst eingespannt in Verordnungen, die nicht aus ihm selber kommen; oder er wird eingespannt in die Wirkung von Kräften, die vom Wirtschaftsleben her kommen; es wird aber sehr, sehr wenig Wert darauf gelegt, was der Mensch als Mensch im sozialen Leben ist. Und so geht man los auf Definitionen von allem

112

möglichen, von Kapital, von Arbeit, von Ware; aber der Mensch fällt aus der Betrachtung vollständig heraus.

Im Staatsleben selber ist es ja sehr merkwürdig, wie da gerade in mitteleuropäischen Ländern in der allerneuesten Zeit ganz intensiv das Gefühl abhanden gekommen ist, daß alles, was Staat oder sonsti­ge Gemeinsamkeit ist, doch eigentlich um des Menschen willen da ist, nicht der Mensch um des Staates willen; daß alle Einrichtungen, die diesen Gemeinschaften entspringen, zuletzt darauf hinzielen müssen, den Menschen selbst zum Vollmenschen, zur vollen Indivi­dualität zu entwickeln, so weit es nur möglich ist.

Wie oft ist gerade in der neuesten Zeit wiederholt worden, der Mensch müsse alles hinopfern um der Gemeinsamkeit willen. Ja, meine lieben Freunde, wenn das praktisch durchgeführt würde, was zunächst scheinbar recht schön klingt, der Mensch müsse alles hin­opfern um der Gemeinsamkeit willen, so würde es allmählich zur al­lerstärksten Verkümmerung des Gemeinschaftslebens führen. Denn nichts begründet das Gemeinschaftsleben besser, als wenn innerhalb dieses Gemeinschaftslebens die einzelnen menschlichen Individuali-täten im vollsten Sinn des Wortes allseitig sich entwickeln können. Diejenigen, die das Gegenteil meinen, berücksichtigen gewöhnlich die Hauptsache nicht.

Derjenige, der sich als Vollmensch entwickelt, der die menschli­che Individualität allseitig zur Geltung bringen kann, er ist wegen dieser Entwickelung darauf angewiesen, an das Gemeinschaftsleben möglichst viel hinzugeben; er begründet schon das Gemeinschaftsle­ben durch das, was in ihm ist, in der allerbesten Weise. Was im Men­schen entwickelt werden kann, das ist, wenn es in der richtigen Wei­se geleitet und gerichtet wird, durchaus nicht auf Egoismus angelegt. Der Egoismus wird im Menschen eigentlich von außen erzeugt, nicht von innen. Der Egoismus wird vielfach gerade durch das Ge­meinschaftsleben erzeugt. Das beachtet man bei der Behandlung so­zialer Fragen viel zu wenig. Und so hat sich auch herausgebildet, daß ein rechtes Mißverhältnis besteht in der neueren Zeit zwischen der selbstverständlichen Egoismuslosigkeit und Freigebigkeit in gei­stigen Dingen und dem Egoismus und dem Geiz in allen materiellen

113

Dingen. In bezug auf das, was die Menschen geistig hervorbringen, sind sie ihrer Naturanlage nach nicht gerade geizig; davon möchten sie soviel als möglich jedem Menschen mitteilen. Derjenige, der selbst nur ein Lyriker ist, möchte am liebsten das, was er als Lyriker produziert, allen Menschen höchst freigebig und egoismusfrei hin­geben, nicht für sich behalten. Anders machen es die Leute heute in bezug auf die äußeren, materiellen Güter, die möchten sie für sich behalten. Aber diese kommen uns ja niemals zu von innen heraus, sondern die sind gerade durch das bedingt, was uns umgibt. Und die soziale Kunst würde darin bestehen, daß man das, was uns äußerlich umgibt, allmählich so umwandelt, daß es der Mensch behandeln kann wie das, was ihm von innen aus eigen ist, wie das, was ganz aus seiner Individualität herausquillt. Dazu ist aber notwendig, daß die Menschen in ihre Gesinnung eine solche Denkweise aufnehmen, wie ich sie jetzt in ein paar abstrakten Sätzen angedeutet habe. Das werden sie niemals können innerhalb des gegenwärtigen Geistesle­bens, denn dieses gegenwärtige Geistesleben spannt eben den Men­schen in die äußere Staats- oder Wirtschaftsordnung ein und geht nicht darauf aus, das, was im Menschen ist, aus ihm heraus zu ent­wickeln. In der Pädagogik bleibt es ein abstrakter Grundsatz, wenn man sagt, man müsse alles, was man erzieht und unterrichtet, aus dem Menschen herausholen. Dieser abstrakte Grundsatz hilft gar nichts. Und diejenigen, die ihn am meisten predigen, die sündigen auch gegen ihn in der Regel am allermeisten, in der Praxis zum Beispiel.

Was einen erfüllt mit einer solchen Gesinnung, die auf das Menschliche als solches ausgerichtet ist, das kann nur anthropos phisch orientierte Geisteswissenschaft sein. Denn die führt nach je­der Richtung hin zur Anerkennung des Wesens des Menschen selbst. Sie stellt den Menschen unbedingt in den Mittelpunkt der ganzen Betrachtung. Nehmen Sie einmal, Sie können ebensogut auch anderes zugrunde legen, meine «Geheimwissenschaft»: Da werden die Entwickelungsstadien des Irdischen durch vorirdische Zustände, auf Namen kommt es nicht an, durch den Saturnzustand, Sonnenzustand, Mondenzustand und so weiter verfolgt. Aber kein

114

einziger dieser Zustände wird so verfolgt, wie er in den Hypothesen der neueren Naturwissenschaft verfolgt worden ist. Was hatte man denn da in dieser neueren Naturwissenschaft? Da hatte man zuerst irgendeinen Nebelzustand in urfernen Zeiten; da war nichts vom Menschen darinnen. Und noch lange war in den Entwickelungssta­dien, die entstanden sind nach den Gedanken der Naturwissen­schaft, nichts vom Menschen drinnen. Dann taucht der Mensch ein­mal auf, nachdem sich die anderen Wesen zusammengeballt hatten. Dann wird er später wiederum vergehen, und die Erde und alles wird mit ihm vergehen. Und zuletzt geht die ganze Entwickelung einem Leichenfeld entgegen. Da ist das, was man über die Welt, über den Kosmos denkt, entmenscht. Und würde man nicht genötigt sein - weil man dieses zweibeinige Tier auf der Erde nun einmal hat und weil schließlich dieses zweibeinige Tier nun allerdings das Geringfü­gige tut, daß es überhaupt nachdenkt -, würde man dadurch nicht gedrängt sein, den Menschen doch an eine Stelle hineinzuschwin­deln, so würde man ihn überhaupt weglegen, denn es wäre dann überhaupt keine Notwendigkeit vorhanden, den Menschen da hin­einzuschwindeln.

Aber betrachten Sie meine «Geheimwissenschaft»: Von den er­sten Anlagen an ist der Mensch darinnen. Es wird im Kosmos über­haupt nichts betrachtet, ohne daß man gleich den Menschen darin­nen hat. Es bekommt alles nur dadurch Sinn und zu gleicher Zeit Erkenntnisboden, daß man es in bezug auf den Menschen betrach­tet. Nirgends wird der Mensch ausgeschlossen. Diese anthroposo­phisch orientierte Geisteswissenschaft führt unsere Weltbetrachtung wiederum zu einer Betrachtung des menschlichen Wesens zurück.

Ich schlage damit einige Gedanken an, die für Sie wichtig sind, wenn Sie nun hinausgehen, um Ihre Vorträge zu halten, denn sie sollen Ihnen das bringen, was Sie veranlassen wird, den Gedanken nachzugehen, die das Menschliche in den Mittelpunkt des sozialen Prozesses rücken; und Sie werden, ich möchte sagen, Ihre Rede so färben, daß Sie den Menschen in den Mittelpunkt rücken und es vermeiden, den Menschen geradezu auszulassen aus diesem Mittelpunkt.

115

Sehen Sie, die theoretische Betrachtung der letzten Jahre, die hat den Menschen schon im Ausgangspunkt herausgelassen, die betrach­tet ihn eigentlich nur als eine Art Luxusobjekt für die Erkenntnis. Aber auch die nationalökonomischen Betrachtungen der neueren Zeit haben einen ähnlichen Weg genommen. Gehen Sie zurück -und es geht auch zum Beispiel das marxistische und anderes Denken darauf zurück -, gehen Sie zurück bis zu Adam Smith. Sie werden sehen, daß da in den Mittelpunkt der Betrachtung zweierlei gerückt ist: erstens die wirtschaftliche Freiheit und zweitens das private Eigentum. Der Mensch steht eigentlich nirgends da als die Hauptsache. Er wird natürlich gelegentlich betrachtet, aber er steht nicht in erster Linie da, er wird nicht in den Mittelpunkt gerückt.

Wirtschaftliche Freiheit kann ja aber der Mensch als solcher gar nicht haben! Denn wirtschaftliche Freiheit hat man nicht als Mensch, sondern als der Besitzer irgendwelcher Güter. Man bewegt sich als der Besitzer irgendwelcher Güter im sozialen Prozeß, und indem man diese Güter besitzt, kann man in gewisser Weise das ha­ben, was Adam Smith Freiheit nennt. Nicht aber als Mensch bewegt man sich, sondern man setzt Güter in Bewegung, man ruft Prozesse an den Gütern hervor. Und diese Prozesse, das Ackern, Ernten, wenn man Besitzer eines Gutes ist, oder dasjenige, was man in der Industrie tut, die sind frei, sind unabhängig; aber der Mensch als sol­cher kommt dabei überhaupt nicht in Betracht, wenn man von wirt­schaftlicher Freiheit spricht.

Und das Privateigentum? Nun, man muß sich erinnern, daß die­ses auf irgendeine Weise erworben sein muß, sei es durch Raub, sei es durch Eroberung, oder durch Erbschaft oder sonstwie; also ir­gendwie muß es mit dem Menschen zu tun gehabt haben. Aber Smith betrachtet es nicht so, wie der Mensch ursprünglich ein Ver­hältnis zum Besitz sich gebildet hat, sondern er betrachtet es als et­was absolut Gegebenes. So betrachten die Menschen das Privateigen­tum überhaupt: der Mensch ist halt wie eine Herde Schweine auch. Da betrachten sie den Menschen auch nur, indem sie nicht das Hauptaugenmerk auf ihn, den Menschen, richten, sondern auf das

116

Eigentum als solches. Da hat die nationalökonomische Betrach­tungsweise den Menschen herausgeworfen.

Aber das ist nicht mehr bloß, möchte man sagen, aus einer Erkenntnis-Ungezogenheit oder einem Erkenntnismangel entstan­den, sondern es ist dadurch entstanden, daß im Grunde genommen das Wirtschaftsleben selbst diese Gestalt angenommen hat. Im Grunde genommen hat sich unter dem Einfluß der neueren abstrak­ten Denkweise das wirtschaftliche Leben automatisch selber ent­wickelt. Der Mensch hat sich nach und nach herausgezogen, hat sich überlassen demjenigen, was außermenschlich gestaltet worden ist. Sie könnten ja im Grunde genommen folgende Betrachtung einmal leicht anstellen:

Nehmen Sie, sagen wir, ein herrschaftliches Gut und verfolgen Sie es mit Ausnahme desjenigen, was äußere Mächte durch Technik und so weiter dazu gebracht haben, verfolgen Sie es rein in bezug auf das Menschliche, das aber eben ausgeschaltet worden ist, durch eine Reihe von Generationen hindurch; gehen Sie hinauf von dem Besit­zer am Ende des 19. Jahrhunderts zu dem Besitzer in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zu dem am Anfang des 19. Jahrhunderts und so weiter. Sie können so, wie der Prozeß sich vollzogen hat, wie die Landgüter eingegriffen haben in den volkswirtschaftlichen Prozeß, eigentlich die Sache verfolgen, ohne daß Sie sich viel kümmern um den Gutsbesitzer am Ende des 19. Jahrhunderts, um den Gutsbesit­zer in der Mitte des 19. Jahrhunderts, um den Gutsbesitzer am An­fang des 19. Jahrhunderts. Die gehen spazieren auf ihren Gütern, tun dasjenige, was aus der Sache selbst folgt und schalten sich da ein; aber es ist gleichgültig, man kann nicht unterscheiden, ob das der Besitzer vom Ende des 19. Jahrhunderts ist oder von der Mitte oder vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Das, worauf es ankommt, ist der außermenschliche Prozeß. Also, es hat sich schon das Objektive so entwickelt, daß der Mensch ausgeschaltet worden ist.

Aber er ist nur ausgeschaltet worden auf der einen Seite, aber dar­auf beruhen unsere katastrophalen Verhältnisse. Er ist nicht ausge­schaltet worden mit Bezug auf ein gewisses Gebiet des Geistesle­bens: das Technisch-Naturwissenschaftliche. Da hat er eingegriffen,

117

aber die beiden Dinge haben nicht zusammengepaßt. Das eine hat sich nur in das andere hineingeschoben. Der Mensch hat allerdings auch in mannigfaltiger anderer Weise eingegriffen dadurch, daß, in­folge des Absehens vom Menschen, immer mehr und mehr Men­schen proletarisiert worden sind. Was proletarisiert worden ist, was eigentlich nichts anderes an sich hatte als den Menschen, das machte sich wieder geltend. Und so wurde in der neueren Entwickelung ab­solut nicht zusammen entwickelt, was der Mensch im ganzen volks­wirtschaftlichen, überhaupt im ganzen sozialen Prozeß bedeutete, sondern die einzelnen Gebiete wirkten unorganisch ineinander. Das eine schob sich einfach mechanisch in das andere hinein. Nirgends, kann man sagen, hat sich zum Beispiel die Technik so entwickelt, daß diejenigen die Technik in der Hand gehabt hätten, welche die Besitzer der Güter waren, sondern die Technik hat sich, ich möchte sagen, von der Seite her in die Verwaltung der Güter hineingescho­ben. Dadurch kam natürlich nichts Organisches heraus, sondern etwas, was sich zuletzt scharf bekämpfen mußte. Alles, was sich in unserer Zeit bekämpft, rührt im Grunde genommen von diesen Tatsachen her.

Das hat aber bewirkt - Sie müssen das jetzt in Ihren Vorträgen geradezu von der umgekehrten Seite an die Menschheit heranbrin­gen -, daß man immer mehr und mehr den Blick für den Zusam­menhang des ganzen volkswirtschaftlichen Prozesses verloren und ihn immer mehr und mehr auf Teilvorgänge hin gerichtet hat, also auf die Art und Weise, wie Kapital entsteht und funktioniert, wie Arbeit sich einfügt in den nationalökonomischen Prozeß, wie Güter produziert werden, wie sie zirkulieren und so weiter. Aber der Blick für das Zusammengehörige, der ist ja gar nicht ausgebildet worden. Denn sehen Sie, wenn man den zusammengehörigen Prozeß, den Prozeß des sozialen Lebens, als eine Ganzheit betrachtet, so kann man das gar nicht anders, als daß man den Menschen in den Mittel­punkt rückt, indem man alles auf den Menschen bezieht.

Dafür gibt einem aber eine richtige Gesinnung nur eine richtige Geisteswissenschaft, weil sie überall den Menschen in den Mittel­punkt stellt. Ich mußte daher in den «Kernpunkten der sozialen Fra­ge»

118

zunächst nicht fragen: Aus welchen Produktionsverhältnissen heraus ist das moderne soziale Leben entstanden? So fragt Marx und fragen ähnliche, so fragt auch Rodbertus. Sondern ich mußte fragen: Wie ist der moderne Proletarier entstanden? Wie sind die Impulse im modernen Proletariat entstanden? - Das bildet ja den Inhalt des ersten Kapitels in den «Kernpunkten»: Wie ist diese wichtige Tatsa­che, daß der Proletarier alles geistige, sittliche, wissenschaftliche, re­ligiöse, künstlerische Leben als Ideologie auffaßt, wie ist das in das Proletariat hineingefahren? Der Mensch ist da in den Mittelpunkt gestellt. Und so werden Sie es auch in den folgenden Kapiteln finden.

Dadurch aber bekommen die Begriffe von Ware, Kapital und Ar­beit erst ihre richtige Bedeutung, geradeso, wie auch die naturwis­senschaftlichen Begriffe ihre richtige Bedeutung bekommen, wenn man in die ganze kosmische Entwickelung hinein den Menschen bringt. Also davon werden Ihre Vorträge gefärbt sein müssen, daß Sie überall den Menschen in Ihren Gedanken und Empfindungen im Mittelpunkt haben und auch in den Hörern die Empfindung her­vorrufen, daß es auf den Menschen ankommt und nicht auf das Kapital und die Ware.

Ich möchte gerade über dieses Nuancieren Ihres Vortrages spre­chen: Sie müssen in einer gewissen Weise gut vertraut sein mit den Begriffen, die Sie in den gebräuchlichen Handbüchern und Hand­büchlein der Nationalökonomie vorfinden. Die sollte man schon kennen. Aber es ist auch gar nicht so schwer, sie zu kennen. Sie las­sen sich nur zuviel von dem, was einem anerzogen wird, beein­drucken. Denn nehmen Sie nur einmal die kleinen Sammlungen, die in den letzten Jahren erschienen sind, etwa «Natur und Geisteswelt» oder die Göschen-Sammlung und andere Sammlungen, und Sie wer­den die Erfahrung machen, daß man sich einfach Inhaltsverzeichnis­se geben lassen kann. Will man, sagen wir, Nationalökonomie ken­nenlernen und ist man halbwegs nicht ganz zugeknöpft oben im Oberstübchen, sondern hat man eine Fassungskraft für Begriffe, wie sie sich herausgebildet haben, so braucht man wahrhaftig nicht groß zu unterscheiden zwischen der einen oder der anderen Sammlung,

119

Sie können die eine oder die andere wählen. Wollen Sie sich Natio­nalökonomie aneignen, so nehmen Sie die Büchelchen aus der Gö­schen-Sammlung - aber es ist nicht nötig, daß es gerade diese ist, Sie können ebensogut eine andere Sammlung nehmen, das ist ganz gleichgültig. Innerlich unterscheiden sie sich nicht wesentlich. Es ist alles uniformiert. Nicht nur die Soldaten sind in die Uniform übergegangen, sondern auch die wissenschaftlichen Bücher sind im Grunde genommen alle uniformiert. Die einzigen, wo inner­liches Leben, in bedenklicher Weise allerdings innerliches Leben, drinnen ist, das sind diejenigen Sammlungen, welche von solchen Verlagen ausgehen, wie zum Beispiel die Herdersche Buchhandlung in Freiburg im Breisgau. Da steckt noch etwas von altem, der heutigen Zeit verderblichem Geistesleben drinnen, nämlich vom Urkatholizismus; da stecken Begriffe drinnen, die sich wenigstens unterscheiden von den anderen und die eine gewisse innere Stoß­kraft haben, allerdings nach einer Richtung hin Stoßkraft haben, nach der wir nicht stoßen wollen. Es ist schließlich dieselbe Er­scheinung, als wenn Sie eine Goethe-Biographie nehmen, die inner­halb des neuen Geisteslebens entstanden ist. Es kommt da auch nicht so sehr darauf an, ob Sie die eine oder die andere in die Hand nehmen, ob den Heinemann oder den Bielschowsky oder den Meyer. Die Leute erzählen natürlich in verschiedener Weise: Heine­mann wie ein Schulmeister, Bielschowsky wie ein schlechter Jour­nalist und Meyer wie ein Notizensammler. Gundoif, glaube ich, heißt einer, der erzählt wiederum wie, sagen wir, so ein etwas kokettes Kultur-Gigerl; aber Neues erfahren Sie auch darin nicht gegenüber dem, was in den anderen Biographien drinnensteht. Nicht einmal durch, ich glaube, Emil Ludwig erfahren Sie etwas ernsthaftes Neues, trotzdem er sich erheblich unterscheidet von den anderen dadurch, daß die anderen erzählen wie Philister, die in Zimmern aufgewachsen sind, und er erzählt wie ein Gassenbub. Aber dieses macht auch nicht für die eigentlichen Untergründe etwas Wesentliches aus. Dagegen nehmen Sie sich ein solch inner­lich handfestes Buch wie das vom Jesuitenpater Baumgartner über Goethe, der allerdings über Goethe schimpft, in dessen Buch aber

120

doch Geist ist, Geist freilich, dem wir keine Stoßkraft wünschen möchten!

Und so können wir sagen: Sie müssen sich ja allerdings bekannt machen mit dem, was in der heutigen Zeit produziert wird. Sie müs­sen wissen, wie man da denkt über Arbeit, über Kapital und so wei­ter. Aber Sie mussen sich bewußt werden, daß Sie überall die ganze Sache umkehren und den Menschen in den Mittelpunkt der Betrach­tungen stellen müssen.

Sie können freilich sagen: Da könnte einem angst und bange wer­den. Jetzt sollen wir bald hinausziehen und Reden halten und alles das tun, was hier gesagt wird! Aber so ist es nicht! Es kommt auf die Gesinnung an und nicht darauf, daß wir uns hinsetzen und lange nachsinnen, wie wir den Menschen in den Mittelpunkt bringen. Jetzt müssen wir unmittelbar das tun, was hier angedeutet wird. Und so handelt es sich schon darum, daß Sie mit der Gesinnung, die hier charakterisiert wird, hinausziehen und versuchen, das zu lei­sten, was Sie nach dem Stand Ihrer bisherigen Entwickelung leisten können. Aber ich muß doch die Dinge so hinstellen, wie sie nun, meinetwillen sagen wir, ideal sind. Und Sie können sich aus dem entnehmen, was Sie dann eigentlich anwenden können.

Nun, wenn man alles auf den Menschen abzielt, wenn man also in diesem Sinn anthroposophisch vorgeht, wenn man zuweilen auch einflicht, was einem gerade aus der Anthroposophie kommt, ohne daß man die Leute gerade vor den Kopf stößt, denn man braucht nicht in eine Abhandlung über das Wirtschaftsleben die Gliederung des Menschen in physischen Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich einzufü­gen, da kann der moderne Mensch dann gar nicht mit. Man muß schon versuchen, die Dinge umzusetzen in die Sprache des moder­nen Menschen. Wenn also bei Ihnen selbst nicht nur im Hintergrun­de das anthroposophische Leben steht, sondern auch in der Art, wie Sie darstellen, und in Ihren Hinweisen das steckt, was nur Anthro­posophie gibt, dadurch werden Sie, namentlich indem Sie aus der Anthroposophie die Beispiele, also dasjenige herausnehmen, wo­durch Sie die eigentlichen Erkenntnisse des sozialen Lebens anschau­lich machen, dadurch werden Sie einen gewissen Eindruck hervorrufen

121

können, dadurch aber werden Sie auch in der Lage sein, nicht aus der Einseitigkeit der Begriffe heraus zu arbeiten.

Ich will Ihnen ein Beispiel geben, wie aus der Einseitigkeit der Be­griffe heraus im gegenwärtigen sozialen Denken gearbeitet wird. Ich habe schon hingedeutet darauf, wie zum Beispiel die Marxisten über die Arbeit und über die Ware sprechen. Sie sagen: In dem Produkte, das auf dem Markt erscheint, haben wir dasjenige, in das die Arbeit gewissermaßen hineingeronnen ist; wenn wir das Produkt bezahlen, das auf den Markt gekommen ist, bezahlen wir «geronnene Arbeit». Es wird auch auf die Zeit hingewiesen, die darin steckt; aber darauf kommt es nicht an. Der Arbeiter arbeitet. Dadurch kommt das Pro­dukt zustande, und dadurch ist das Produkt «geronnene Arbeit». Das Rohprodukt, das die Natur liefert, hat ja an sich noch keinen ef­fektiven Wert im menschlichen Verkehr. Arbeit «rinnt hinein», und im Grunde genommen handelt es sich darum, zu ergründen, wieviel ein Warenobjekt dadurch wert ist, daß ein gewisses Quantum von Arbeit «hineingeronnen» ist. Dieses Quantum von Arbeit, das «hin­eingeronnen» ist, stellt man sich so vor, daß es bedeute Abnützung der menschlichen Muskelkraft, die wiederum ersetzt werden muß. Das wird auf dem Umweg durch den Lohn bewirkt, so daß man den Menschen so entlohnen muß, daß ihm der Lohn dasjenige, was ihm durch die Arbeit verlorengegangen ist, was «hineingeronnen» ist in das Produkt, wiederum auf der anderen Seite ersetzen muß. Ein au­ßerordentlich Plausibles ist das, wenn man nur einseitig auf den Ar­beiter und sein Verhältnis zum Produkt hinsieht, gerade auf dem Gebiet, wo wirklich physisch gearbeitet wird. Man könnte also sa­gen, wenn man auf dieses Gebiet einseitig hinsieht: Ein Produkt, das auf dem Markt erscheint, ist so viel Wert, als der hineingeronnenen Arbeit entspricht. Gewiß, das ist etwas, was sogar von einem gewis­sen Gesichtspunkte aus unanfechtbar ist, was sich streng logisch be­weisen läßt, von einem gewissen Gesichtspunkte aus.

Aber sehen Sie, nehmen Sie einmal einen anderen Gesichtspunkt ein. Nehmen Sie einen Arbeiter, der, sagen wir, für die Herstellung gewisser Produkte bisher gearbeitet hat. Durch irgendwelche volks­wirtschaftlichen Beziehungen ist man von irgendeiner Seite her ge­neigt,

122

ihm für das, was er da gearbeitet hat, mehr zu geben, als er frü­her bekommen hat, weil man, aus Konjunkturen heraus und so wei­ter, ihm mehr geben kann. Er wird sich geneigt erklären, seine Ar­beit dem zu geben, der ihm nun mehr gibt. Er verschafft sich also im folgenden Zeitpunkt mehr Güter für seine Arbeit, als er sich früher verschafft hatte. Dadurch bekommen aber die Güter für ihn nun­mehr eine andere Bewertung, eine wesentlich andere Bewertung. Er hört auf, den einzigen Standpunkt des Hineinrinnens von Arbeit in die Ware ins Auge zu fassen. Der entgegengesetzte Standpunkt wird für ihn maßgebend. Er fängt an, die Güter so zu bewerten, daß er sagt: Mir ist ein Gut um so wertvoller, je mehr Arbeit ich erspare, je weniger Arbeit in das Gut hineinrinnt, je weniger ich zu arbeiten brauche. Und wenn Sie beachten, daß man ja ein Gut unter Um­ständen auch erwerben kann auf andere Weise als durch Arbeit: man kann es rauben, kann es finden, kann es auch in einer Weise er­werben, daß die Ausdrücke «rauben» und «finden» dann nur figür­lich sind, aber volkswirtschaftlich doch etwas Ähnliches bedeuten, dann ist diese Anschauungsweise überhaupt die ganz gewöhnliche! Denn, hat man dann ein solches Gut, was bedeutet es dann für ei­nen? Es bedeutet für einen, daß man es hingeben kann, und der an­dere verrichtet für einen Arbeit. Man hat es dann nicht erarbeitet, aber man kann es hingeben. Der andere in unserem volkswirtschaft­lichen Zusammenhang verrichtet für einen Arbeit; man kann so und so viele Leute für einen arbeiten lassen. Da haben Sie im eminente­sten Sinn die Ersparung der Arbeit im Werte des Gutes ausgedrückt. Und im Grunde genommen geht das sogar dahin über, daß gewisse Güter ganz unter diesem Gesichtspunkte erzeugt werden, sich Ar­beit zu ersparen, sie nicht zu verrichten. Wenn ich male und mein Bild verkaufe, so liegt der volkswirtschaftliche Wert darin, daß ich nun nicht meine Stiefel selbst zu machen brauche, mein Zimmer selbst zu kehren brauche, noch manche andere Dinge tun muß, son­dern daß ich diese ganze Arbeit erspare. Da geht der Wertmesser geradezu auf das los, was man an Arbeit erspart. Da muß man nach der ersparten Arbeit den Wert bemessen.

Und so kann ich sagen: Es gibt zwei Gesichtspunkte, von denen

123

aus man das Verhältnis von Arbeit zu Gütern, zu Waren, definieren kann, oder wenigstens zum Wert derselben. Man kann sagen, eine Ware ist so viel wert, als Arbeit hineingeronnen ist. Man kann aber auch sagen, ein Gut ist so viel wert, als man mit ihm Arbeit erspart, als man nicht nötig hat, Arbeit in irgend etwas hineinrinnen zu las­sen. Und die erstere Definition, diejenige von der geronnenen Ar­beit, die wird um so mehr gültig sein, je mehr man es mit bloß phy­sischen Gütern oder durch physische Arbeit hergestellten Gütern zu tun hat. Die andere Definition aber wird um so mehr gültig sein, je mehr man es zu tun hat mit Gütern, an denen das Denken, Spekulie­ren oder auch sonst die wertvolleren geistigen Kräfte zu tun haben. Beide gelten für das Gesamtgebiet des Lebens, die eine so gut wie die andere.

Aber es handelt sich darum, daß man sich nicht betöre dadurch, daß die eine Definition richtig ist für gewisse Fälle, denn dann kann man mit dem anderen streiten. Im Leben gibt es für alles zwei entge­gengesetzte Ansichten. Man muß daher das Leben nicht vom Begrif­fe aus ins Auge fassen. Denn wenn man einen noch so richtigen Be­griff hat und damit auf das Leben abzielt, findet man immer nur ei­nen Teil des Lebens. Wenn man aber vom Leben ausgeht, dann fin­det man, daß man die Dinge immer entgegengesetzt charakterisieren kann geradeso, wie man einen Menschen von vorne und hinten, von rechts und links photographieren kann. Richtiges Erkenntnis-Betrachten unterscheidet sich nämlich gar nicht von dem künstle4-schen Abbilden. Und wir müssen eine Lebensanschauung an die Stelle der theoretisierenden Anschauungen setzen, die in der letzten Zeit unter die Menschen gebracht worden sind.

Aber wenn der Mensch Ansichten hat, so richtet er sich danach. Und die Menschen haben sich einmal seit drei, vier, fünf Jahrhun­derten solche Ansichten, die vom Begriff ausgehen, angeeignet, und darnach haben sie das soziale Leben eingerichtet. Die Menschen ma­chen das soziale Leben! Und so haben wir heute nicht nur in den menschlichen Begriffen einseitige Vorstellungen, sondern haben auch im Leben selber drinnen einseitige Einrichtungen, die dann nicht zusammenstimmen.

124

Wir haben zum Beispiel im Proletariat eine Arbeitsweise, bei der wirklich das Verhältnis zwischen Arbeit und Ware so steht, daß die Ware eine geronnene Arbeit darstellt; aber wir haben, wenn wir auf die Kapitalistenseite hinsehen, das Wesen des Warenwertes darinnen bestehen, daß dieser Wert bestimmt wird durch dasjenige, was man an Arbeitskraft erspart. Wir haben also etwas, was sich gar nicht ver­gleichen läßt, im realen Prozeß darinnen. Der Kapitalist wirkt an­ders als der Proletarier. Der Proletarier denkt nicht nur so, sondern wirkt so, daß aus seinem Wirken heraus Werte entstehen nach der in die Ware hineingeronnenen Arbeit; der Kapitalist wirkt so, daß Werte entstehen nach dem Prinzip der Arbeitsersparnis. Der eine muß also Arbeit verschwenden, damit Waren entstehen, der andere erspart Arbeit. Und das wirkt ineinander und spießt sich. Und in diesem Spießen bestehen die sozialen Übelstände der gegenwärtigen Zeit. Und kein anderes Heil gibt es, als daß man auf die realen Pro­zesse wirklich hinschaut, daß man das Leben als solches kennt, daß man tatsächlich sich gesteht: Es ist im sozialen Prozeß notwendig, daß es Menschen darinnen gibt - sehen Sie, da kommt man auf den Menschen -, daß es Menschen darinnen gibt, die so arbeiten, daß ih­re Arbeit hineinrinnt in das Produkt, und Menschen, die so arbeiten

- es kann gar nicht eine Arbeit anderer geleistet werden, ohne daß man dieses Prinzip befolgt -, daß Arbeit zu ersparen ist. Denn leiten kann man nicht, ohne diesen Grundsatz zu befolgen: Arbeit zu er­sparen.

Daraus folgt, daß es überhaupt nicht angängig ist, die Arbeitsrege­lung in den wirtschaftlichen Prozeß hineinzuziehen, sondern daß die Arbeitsregelung eben auf dem sozialen Gebiet geschehen müß, welches das staatlich-rechtliche Leben ist.

Wenn Sie solche Gedankengänge verfolgen, dann werden Sie se­hen, worauf es ankommt. Es kommt darauf an, da die Welt heute vollgepfropft ist von unklaren, nebulosen Begriffen gerade auf prak­tischem Gebiete, diese Begriffe zurechtzurücken, damit die Men­schen auch in die Einrichtungen wieder Richtiges hineinbringen können. Wenn wir also nicht die Courage haben, hineinzurufen in die Welt: Ihr dürft nicht so weiterdenken, wie Ihr bisher gedacht

125

habt, denn Ihr ruiniert die äußere Welt mit Eurem Denken; Ihr müßt den Menschen in den Mittelpunkt rücken und nicht Ware oder Kapital und so weiter, - wenn wir die Courage nicht haben, so hineinzurufen in die Irrtümer der Gegenwart, dann kommen wir keinen Schritt vorwärts. Dies muß gerade da geschehen, wo sonst durchaus von den alten Vorstellungen aus geredet wird, insbesonde­re in der Nationalökonomie.

An der Art der Auseinandersetzungen, die ich gebe, sehen Sie, wie man überall die Fälle des Lebens in Betracht ziehen muß. Die sind nämlich nicht in Betracht gezogen in der gebräuchlichen natio­nalökonomischen Literatur, so daß man Ihnen ruhig das eine oder das andere Büchelchen derselben empfehlen kann. Es schadet nichts, ob Sie gerade das Göschensche Büchelchen über Nationalökonomie bekommen oder das aus «Natur und Geisteswelt». Denn da finden Sie überall darinnen, was Sie brauchen, und die Möglichkeit, sich zu unterrichten über die Art, wie man nicht denken darf. Und überall haben Sie nötig, dem entgegenzustellen eine den Menschen durch-dringende, eine vom Menschen ausgehende Betrachtungsweise. Da­zu kann man sich aber nur erziehen, und dazu kann man die Men­schen nur erziehen durch so etwas wie anthroposophische Geistes­wissenschaft. Daher darf man keinen Irrtum darüber aufkommen lassen, daß eine Gesundung des äußeren sozialen Lebens nur mög­lich ist, wenn eine Gesundung des einen Gliedes des dreigliedrigen sozialen Organismus, des geistigen Gliedes, in Erziehung und Un­terricht und so weiter, eintritt, um dann anschaulich machen zu können, wie wiederum ein produktives, das heißt, den Menschen ganz erfüllendes Geistesleben kommen kann.

In dieser Beziehung wird man ja so schwer verstanden, aber we­nigstens diejenigen, die jetzt hier sitzen, die müßten solche Dinge recht genau verstehen. Sehen Sie, man bekommt immer wieder und wiederum von verschiedensten Seiten her mitgeteilt, daß nach dem Muster der Waldorfschule Schulen eingerichtet werden sollen. Man­che Leute sagen einem: Wir können solche Schulen, sobald wir Geld haben, gleich einrichten. - Ich frage sie immer: Ja, wie wollt Ihr das nachher machen? - Sie antworten: Wir wollen Sie fragen,

126

welche Lehrer wir nehmen sollen. - Ich sage ihnen: Ich werde nur teilweise in Betracht kommen bei der Lehrerwahl, denn es gibt die gesetzlichen Bestimmungen, daß nur solche Lehrer verwendet wer­den dürfen, die durch die staatlichen Pr ü fungen gegangen und abge­stempelt sind. Also es kommt ja das gar nicht heraus, was heraus­kommen müßte, wenn Waldorfschulen errichtet werden sollen. Man müßte ja davon ausgehen, daß man zunächst eine vollständig freie Wahl der Lehrer hat, die ja nicht ausschließt, daß auch einmal ein staatlich abgestempelter Lehrer gebraucht werden kann. Aber es dürfte nicht die Notwendigkeit vorliegen, daß nur solche verwendet werden dürfen, denn sonst stehen wir nicht in der Dreigliederung drinnen.

Denn nicht darauf kann es ankommen, innerhalb des gegenwärti­gen Systems Schulen zu gründen, in denen man Surrogate des Un­terrichts schafft, indem man einfach glaubt, den Kurs befolgen zu können, den ich gegeben habe, sondern darauf kommt es an, daß man das Prinzip verfolgt auf diesem Gebiet: Freiheit im Geistesle­ben. - Dann ist mit einer solchen Schule ein Anfang der Dreigliede­rung gemacht. Rufen Sie daher in den Leuten nicht falsche Vorstel­lungen hervor, indem Sie ihnen den Glauben beibringen, man kön­ne brav in den alten Verhältnissen bleiben und trotzdem Waldorf­schulen gründen, sondern rufen Sie die Vorstellung hervor, daß in der Schule in Stuttgart wirklich freies Geistesleben ist. Denn da gibt es kein Programm und keinen Lehrplan, sondern da gibt es den Leh­rer mit seinem realen Können, nicht mit der Verordnung, wieviel er können soll. Man hat es mit dem wirklichen, realen Lehrer zu tun. Es ist noch immer besser, wenn man einen schlechteren wirklichen Lehrer ins Auge faßt, als wenn man einen ins Auge faßt, der einfach in der Verordnung drinnensteht, der nicht real ist. Und man hat es, wenn man unterrichtet, mit den Schülern zu tun und hat es zu tun mit demjenigen, womit die sechs Wände der Klasse ausgefüllt sind, nicht mit dem, was man in den Verordnungen Lehrmaterial, Lehr-methode und so weiter nennt. Und das ist es, worauf man hinweisen muß: daß man es mit Realitäten zu tun haben soll.

Wenn es ankommt auf programmatische Einrichtungen, dann

127

können sich meinetwillen zwölf Menschen zusammensetzen - es können auch mehr oder weniger sein. Ich gebe Ihnen die Versiche­rung: Wenn diese zwölf Menschen untereinander nur ein klein we­nig diszipliniert sind, so werden sie furchtbar gescheit denken, wer­den Reformpläne aufstellen können; es wird furchtbar gescheit sein können, furchtbar vernünftig, was sie denken. Man wird sagen kön­nen: das hat so zu geschehen, das so und so weiter. In bezug auf sol­che Dinge könnte man ja sogar behaupten, daß es zahlreiche Men­schen gibt, die sehr gut sagen könnten, wie man irgendein Wissen­schaftsgebiet ideal behandeln oder ein Journal ideal gestalten soll. Aber auf das kommt es nicht an. Darauf kommt es an, daß man aus der Realität heraus arbeitet.

Was nützt es, wenn man noch so schöne Schulverordnungen hat und man vielleicht ein Lehrermaterial hat, das in seinen Fähigkeiten fernesteht diesen Dingen? Darüber schwindelt man sich dann mit solchen Verordnungen nur etwas vor, während man die Wahrheit vertritt, wenn man das Material nimmt, das man hat. Man muß mit Realitäten rechnen und sich hüten, mit Paragraphen und Program­men irgendwie zu rechnen, wenn es sich darum handelt, irgend et­was zu schaffen.

Das versteht man so schwer in unserer Zeit, und deshalb ist es notwendig, daß gerade auf diesen Punkt die Menschheit scharf hin­gewiesen wird. Denn indem man in der letzten Zeit in dem breite­sten Umfang des Lebens mit Programmen gearbeitet hat, hat man das Leben gründlich verdorben.

Wenn Sie zum Beispiel die Entwickelung der Sozialdemokratie nehmen vom Eisenacher Programm bis zum Gothaer Programm, so sehen Sie eine Verflachung. Am schlimmsten ist es dann mit dem Er­furter Programm. Darin steht, wie sich alles gestalten soll, zum Bei­spiel bei der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Aber es ist mit Ausschluß jeglicher Anschauung des Lebens entstanden. Und dann hat sich einer gefunden, der ungefähr von dem Grundsatz aus­geht: Was geht mich das Leben an? - mich geht nur das marxistische Programm an! Das Leben mag zugrunde gehen, wenn nur das mar­xistische Programm erfüllt wird! Meinetwillen können an einem

128

Tage Tausende und Tausende von Menschen gehenkt werden, wenn nur das marxistische Programm erfüllt wird! Dieser Mann ist Lenin. Er wäre imstande, Tausende von Menschen täglich henken zu las­sen, wenn nur das marxistische Programm erfüllt würde.

Natürlich sind diese Dinge alle radikal gesprochen, aber sie cha­rakterisieren dennoch die Situation richtig. Und wozu kommt der Mann? Sehen Sie, die unwirkliche Lebensbetrachtung dieses Man­nes geht ja hervor aus etwas, was im Grunde genommen nur geniale Menschen sagen. Natürlich ist Lenin ein genialer Mensch wiederum, wenn auch verbohrt genial, stierhaft genial, aber doch genial. Sie fin­den in seiner Schrift «Staat und Revolution» ungefähr gesagt: Ja, die Erfüllung desjenigen, was da kommen soll, die folgt nicht aus mei­nem marxistischen Programm. Aber mein marxistisches Programm wird alles ruinieren, was jetzt da ist. Dann aber wird eine neue Menschheit gezüchtet werden. Die wird dann nicht ein marxisti­sches Programm haben, sondern nach dem Programm leben: Jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Aber es muß erst eine neue Menschheit gezüchtet werden!

Also so unwirklichkeitsgemäß ist unser Programmleben gewor­den, das heute ja da ist bei einem Menschen, der mit Hilfe seiner Helfershelfer ein ganzes großes Reich nicht nach dem Leben, son­dern nach Programmen einrichtet, der aber zugibt: eigentlich ist die­se Einrichtung im Grunde genommen aussichtslos, denn gesunde Zustände werden erst auftreten, wenn die Menschen gar nicht mehr da sind, die jetzt da sind, sondern wenn andere Menschen an ihre Stelle getreten sind. Ich möchte sagen: handgreiflich tritt es einem da entgegen, wozu die besondere Vorstellungs- und Empfindungs­welt der Gegenwart gekommen ist. Solche Dinge darf man nicht unterschätzen, sondern muß man scharf, scharf ins Auge fassen.

129

SIEBENTER VORTRAG Stuttgart, 15. Februar 1921 (abends)

Daß der Mensch in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt wer­den muß, die Ihnen in der nächsten Zeit obliegen werden, das habe ich vorhin charakterisiert. Es wird, wenn dieses in vollstem Maße geschieht, manches zurechtgerückt werden können in den Anschau­ungen der Gegenwart, welche ja in der Weise notwendig zu Kata­strophen hinführen müssen, wie ich das im letzten Vortrag wieder­um gezeigt habe. Nun handelt es sich darum, wenigstens beispiels­weise einiges zur Illustration der Dinge zu sagen, die zusammenhän­gen mit dieser Behauptung: der Mensch müsse nun einmal heute in den Mittelpunkt der sozialen Betrachtungen und sozialen Maß­nahmen gerückt werden.

Wir haben unter uns eine ganze Summe von Schlagworten, Phra­sen und so weiter. Was viele Menschen vor ihren Mitmenschen gel­tend machen, ist nach und nach fast ausschließlich Phrase geworden. Wir leben einmal in einer Zeit der Phrase. Und eine Wirklichkeit, die von Phrasen gelenkt und geleitet wird, muß offenbar in sich selbst zerfallen. Das hängt zusammen mit den Grundphänomenen unserer gegenwärtigen Zeitenentwickelung.

Nehmen wir aus der ganzen Summe desjenigen, was im sozialen Leben vorhanden ist, irgend etwas heraus, und sehen wir es so an, wie es heute sehr häufig besprochen wird. Wir hören heute von manchen, die mitreden wollen in sozialen Fragen, es käme zum Bei­spiel darauf an, daß die proletarische Bewegung sich auflehne gegen das arbeitslose Einkommen, gegen den arbeitslosen Erwerb. - Nun, gewiß, hinter der Geltendmachung solcher Behauptungen liegt ja immer irgend etwas Reales. Aber zumeist etwas ganz anderes, als die Leute meinen, die sehr häufig solch eine Behauptung aufstellen. Denn man muß sich klar sein darüber, daß man erst, und zwar nicht durch Begriffe, sondern durch Beobachtungen der sozialen Vorgän­ge, dahinterkommen muß, was eigentlich «arbeitsloses Einkom­men», «arbeitsloser Erwerb» ist.

130

Über diese Dinge haben sich ja die Menschen in der verschieden­sten Weise geäußert. Es gibt Leute, sogar Bismarck gehörte zu ihnen, welche sich zwar anders ausdrückten - sie sprachen von «produkti­ven Ständen», meinten aber eigentlich arbeitende Stände -, welche aber der Ansicht waren, daß zum Beispiel Landwirte, Gewerbetrei­bende, die mit ihren Händen arbeiten, und Vertreter ähnlicher Be­rufszweige «produktive Leute», daß aber zum Beispiel Lehrer, Ärzte und dergleichen nicht «produktive Leute» wären. Daß also, was vom Lehrer ausgeht, nicht «produktive Arbeit» sei.

Sie wissen ja vielleicht, daß Karl Marx eine volkswirtschaftliche Entdeckung gemacht hat, welche viel, viel herumgesprochen wor­den ist, gerade um die «produktive Arbeit», die die Leute meinten, in das rechte Licht zu setzen. Diese Entdeckung des Karl Marx ist ja der bekannte «indische Buchhalter». Es ist der Mensch, der irgend­wo in einem kleinen indischen Dorfe, wo die anderen Leute mit ihren Händen arbeiteten, also säten, ernteten, Früchte pflückten von den Bäumen und dergleichen, angestellt war, um über diese Dinge Buch zu führen. Und Karl Marx hat dahin entschieden, daß alle anderen Leute «produktive Arbeit» leisten in diesem Dorfe, je­ner unglückselige Buchhalter aber «unproduktive Arbeit» leiste, und daß er vom «Mehrwert», der abgezogen wird aus den Arbeitserträg­nissen der anderen, sein unproduktives Leben fristet. Und von die­sem unglückseligen indischen Buchhalter gehen ja sehr viele Deduk­tionen aus, die gerade auf einem gewissen Gebiet volkswirtschaftli­cher Betrachtungsweise in der neuesten Zeit üblich geworden sind.

Selbstverständlich kann man die Tätigkeit des Lehrers in ebender­selben Weise eingliedern in den sozialen Prozeß als eine «unproduk­tive Tätigkeit», wie Karl Marx eingegliedert hat die Tätigkeit seines unglückseligen indischen Buchhalters. Nun aber nehmen wir einmal den Fall so: Ein Lehrer ist ein geschickter Mann, geschickt als Voll-mensch. Er unterrichtet und erzieht ganz junge Kinder, Volksschul-kinder. Und nehmen wir der Einfachheit halber an - die Theorie wird ja dadurch nicht beeinträchtigt -, daß alle die Kinder, die der Lehrer erzieht und unterrichtet, Schuster werden. Und durch seine Geschicklichkeit, dadurch, daß er durch den Unterricht seiner Kinder

131

Fähigkeiten entwickelt, durch die sie klug denken, sich klug hin­einstellen mit ihrem Beruf als Schuster in das Leben, ferner durch seine praktische Anleitung mit allerlei Erziehungsmitteln, macht er seine Kinder geschickter; und sie werden nun solche Schuster, wel­che, sagen wir, alle zehn Tage so viel Stiefel herstellen, wie andere in fünfzehn Tagen. Nun, was liegt da eigentlich vor? Nicht wahr, alle diese Schuster, die da entstanden sind, die liefern ja nach echt marxi­stischer Lehre «produktive Arbeit». Wäre der Lehrer nicht gewesen mit seiner Geschicklichkeit, wäre er ein ungeschickter Lehrer gewe­sen, so würden sie dieselbe produktive Arbeit auch in fünfzehn Ta­gen leisten, statt in zehn. Rechnen Sie nun zusammen alle die Schu­he, welche durch diese Kinder, nachdem sie erwachsen sind, ge­macht werden in den fünf Tagen, die erspart worden sind dadurch, daß sie einen geschickten Lehrer gehabt haben, so können Sie sagen:

Alle diese Stiefel hat im Grunde genommen dieser geschickte Lehrer gemacht, und mindestens in dem volkswirtschaftlichen Prozeß, in all demjenigen, was zu diesem volkswirtschaftlichen Prozeß gehört, das heißt in allem, was aus ihm herausfließt zum Unterhalt der Menschen und so weiter, in alledem war der Lehrer der eigentlich Produktive. Seine Wesenheit lebt eigentlich fort in den in den fünf Tagen erzeugten Stiefeln!

Es handelt sich darum, daß man hier an einer solchen Sache eine kurzmaschige Betrachtungsart anwenden kann, und man wird dann dazu kommen, marxistisch «produktive Arbeit», nur die Arbeit des Schusters zu nennen, «unproduktive Arbeit», das heißt solche, die aus dem Mehrwerte sich unterhält, aber die des Lehrers. Aber man verfälscht ja alle Wirklichkeit durch eine solche Betrachtungsweise.

Man kann eine andere Betrachtung anstellen, welche nicht einsei­tig nach der einen oder anderen Richtung hin tendiert, sondern den gesamten Prozeß des sozialen Lebens ins Auge faßt. Wenn man aber wiederum volkswirtschaftlich denkt, rein volkswirtschaftlich, dann muß man folgendes sagen: Was ist denn dasjenige eigentlich, was der Lehrer zu seinem physischen Unterhalte bezieht? Unterscheidet es sich in volkswirtschaftlicher Beziehung, also bitte: unterscheidet es sich in volkswirtschaftlicher Beziehung von irgendeiner anderen

132

Rente? Unterscheidet es sich von irgend etwas, was sonst, reden wir jetzt marxistisch, «abgezogen» wird von der rein physisch-körper­lichen Arbeit und, ich sage jetzt, einem anderen Menschen überge­ben wird? Es unterscheidet sich volkswirtschaftlich nämlich gar nicht! Denn es handelt sich dabei um folgendes.

Nehmen Sie an, es wird dasjenige, was der sogenannte «Mehr-wert» ist, verwendet für Lehrer, dann fließt es in der Weise, wie ich es eben charakterisiert habe, produktiv in den ganzen volkswirt­schaftlichen Prozeß ein. Nehmen wir an, es wird übergeben einem Financier, einem Menschen, den man im wirklichen Sinne einen Rentner nennt, der eigentlich nichts tut, als was man gewöhnlich «Coupons abschneiden» nennt. Ja, ist denn damit, daß er die Cou­pons abschneidet, der volkswirtschaftliche Prozeß erschöpft? Nicht wahr, der Mann ißt und trinkt und kleidet sich und so weiter. Er kann ja nicht von demjenigen, was ihm abgeliefert wird als «Mehr-wert», leben. Er lebt ja von dem, was die anderen Menschen für ihn erarbeiten. Er ist ja bloß eine Umschaltungsstelle für die Arbeit, für den volkswirtschaftlichen Prozeß.

Und wenn man die Sache ganz objektiv betrachtet, so kann man eigentlich nur das Folgende sagen: Solch ein Mensch, der als finan­zierender Rentner irgendwo lebt, durch den umgeschaltet werden die volkswirtschaftlichen Prozesse, der ist im sozialen Leben drin­nen etwa so wie der Ruhepunkt einer Waage, eines Waagebalkens. Der muß auch da sein, der Ruhepunkt eines Waagebalkens. Alle an­deren Punkte bewegen sich; der eine Ruhepunkt des Waagebalkens bewegt sich nicht. Er muß aber da sein. Denn, es muß umgeschaltet werden. Das heißt mit anderen Worten: Volkswirtschaftlich läßt sich überhaupt nicht über diese Sache entscheiden. Höchstens könn­te man sagen: wenn diese Ruhepunkte, diese «Coupons abschnei­denden» Rentner, an Zahl zu groß würden, dann würden die ande­ren um ein Wesentliches mehr arbeiten müssen, länger arbeiten müssen. Aber so ist es ja in Wirklichkeit nirgends, weil die Zahl der Rentner im Verhältnis zu irgendeiner Gesamtbevölkerung niemals in dieser Weise überhaupt in Betracht kommt, und weil zunächst so, wie wir heute den sozialen Prozeß haben, kaum irgend etwas

133

herauskommen würde, wenn man die Sache aus unseren heutigen Verhältnissen heraus ändern würde.

Also so kann man überhaupt über die ganze Sache nicht denken. Und wenn Sie die marxistische Literatur durchgehen, so werden Sie sehen, daß gerade durch den Zwang, den man sich auferlegt, sozusa­gen für alle Schäden des sozialen Lebens etwas verantwortlich zu machen, wie den sogenannten arbeitslosen Erwerb, lauter Konklu­sionen, lauter Schlüsse herauskommen, die nicht bündig sind. Denn sie besagen eigentlich nichts. Sie würden ja nur etwas besagen, wenn sich nun tatsächlich irgendwie der volkswirtschaftliche Prozeß we­sentlich ändern würde, wenn die Rentner ihre Rente nicht beziehen würden. Das würde aber gar nicht der Fall sein. Also mit dieser Denkweise kommt man der Sache überhaupt nicht nahe.

Es handelt sich vielmehr darum, daß man das Augenmerk recht klar darauf richtet, daß notwendig solche Ruhepunkte sein müssen zum Umschalten, zum Umsatz im wirtschaftlichen Leben. Denn es gibt einen Mehrwert, der volkswirtschaftlich ganz genau überein­stimmt mit allen Definitionen des Mehrwertes von Karl Marx, der auch in allen seinen Funktionen übereinstimmt, soweit man bloß wirtschaftlich denkt, mit den Funktionen des Mehrwertes von Marx: das ist die Steuerbelastung. Die Steuer ist ja in bezug auf Ent­stehung und Funktion ganz genau dasselbe wie der Mehrwert von Karl Marx. Und die verschiedenen sozialistischen Regierungen ha­ben ja nicht gerade erwiesen, da, wo sie aufgetreten sind, daß sie be­sonders Bekämpfer des Mehrwertes in der Form der Steuerleistung geworden sind! An solchen Dingen zeigt sich aber eben die Absurdi­tät der Theorien.

Die Absurdität der Theorien zeigt sich nämlich niemals vor der Logik, sondern immer nur vor der Wirklichkeit. Das muß derjenige sagen, der sich bestrebt, überall aus dieser Wirklichkeit heraus zu ur­teilen. Solange man im wirtschaftlichen Leben stehenbleibt, ist es unmöglich, irgendwie mit dem Begriff «Mehrwert» einen vernünfti­gen Sinn zu verbinden. Denn solange wir im wirtschaftlichen Leben stehenbleiben, so lange haben wir es zu tun mit der Umsetzung wirtschaftlicher Prozesse. Und die können sich nur umsetzen dadurch,

134

daß Schaltestellen da sind. Ob die nun beim Staate liegen oder bei einzelnen Rentnern, das ist nur ein sekundärer Unter­schied, rein wirtschaftlich gedacht. Deshalb ist es notwendig, darauf hinzuweisen, daß alles, was mit einem solchen Begriff wie «arbeitslo­ses Einkommen» oder «arbeitsloser Erwerb» zusammenhängt, gar nicht auf volkswirtschaftlichem Denken beruht, sondern lediglich auf Ressentiment: auf dem Anschauen desjenigen, der ein solches «arbeitsloses Einkommen» hat, und den man im Grunde genommen als jemand betrachtet, der faulenzt, der nicht arbeitet. Es wird ein­fach in das volkswirtschaftliche Denken ein rechtlicher oder sogar moralischer Begriff eingeschmuggelt. Das ist das Urphänomen die­ser Sache.

In Wirklichkeit handelt es sich nämlich um etwas ganz anderes bei diesen Dingen, nämlich darum, daß überhaupt unser menschli­cher Lebensprozeß, unser Zivilisationsprozeß gar nicht erhalten werden könnte, wenn man etwa dasjenige verwirklichen würde, was manche eben anstreben, indem sie wiederum das phrasenhafte Wort erfinden: «das Recht auf den vollen Arbeitsertrag». Denn es gibt kei­ne Möglichkeit, von einem «vollen Arbeitsertrag» zu sprechen, wenn man bedenkt, daß, wenn ich Schuster geworden bin und ge­schickter arbeite, als ich gearbeitet hätte, wenn ich nicht einen ge­schickten Lehrer gehabt hätte, jede Möglichkeit entfällt, mir das Recht zu vindizieren auf den «vollen Arbeitsertrag». Denn woraus fließt er denn? Nicht einmal aus der Gesamtheit der Gegenwart! Der Lehrer, der mich gelehrt hat, kann vielleicht längst gestorben sein. Es gliedert sich zusammen die Vergangenheit mit der Gegen­wart, und die Gegenwart wiederum fließt hinüber in die Zukunft. Mit kurzmaschigen Begriffen solche Dinge übersehen zu wollen, wie sich das Einzelne, was der Mensch leistet, hineinstellt in den ganzen Volkswirtschaftsprozeß, das ist ein Unding.

Es kommt aber sogleich etwas anderes heraus, wenn man sich sagt: Nun gut, rein volkswirtschaftlich gedacht kann nicht die Rede davon sein, daß irgendwie ein «voller Arbeitsertrag» einem Men­schen zukommen kann, denn man kann den Begriff gar nicht ein­mal fassen. Man kann ihn nicht einengen, konturieren. Das gibt es

135

nicht. Das ist unmöglich. Es kommt aber sogleich etwas heraus, wenn man die Wirklichkeit betrachtet. In der Wirklichkeit finden sich solche Umschaltestellen, solche Menschen, denen zufließt zum Teil das Erträgnis anderer, die physisch arbeiten. Nun, nehmen wir an, derjenige, dem das zufließt, der ist Lehrer, so leistet er in dem Sinn eine recht produktive Arbeit, wie ich es vorhin charakterisiert habe. Aber nehmen wir an, er ist nicht Lehrer, sondern wirklich ein Coupon-Abschneider. Nehmen wir als Ausgangspunkt nicht einen Coupon-Abschneider, sondern zwei. Der eine schneidet morgens seine Coupons ab, zündet sich dann nach dem Frühstück ein paar Zigaretten an, liest sein Morgenblatt, dann geht er spazieren, dann ißt er zu Mittag, dann setzt er sich in seinen Schaukelstuhl und schaukelt sich etwas, dann geht er in den Club und spielt Whist oder Poker und so weiter, und so verbringt er seinen Tag. Nehmen wir nun einen anderen, der auch am Morgen seine Coupons abschnei­det, sagen wir, der aber dann sich damit beschäftigt, nun, wir wollen sagen, ein wissenschaftliches Institut einzurichten, der also seine Ge­danken darauf verwendet, ein wissenschaftliches Institut einzurich­ten, welches niemals zustande kommen würde, wenn er nicht Cou­pons abschneiden könnte; denn wenn es eingerichtet werden sollte von den Leuten, die etwa da sind, um die Arbeit zu verrichten, durch die er seine Coupons abschneidet, so würde es ganz gewiß nie­mals eingerichtet werden. Er richtet es ein. Und in diesem wissen­schaftlichen Institute wird vielleicht nach zehn Jahren, vielleicht nach zwanzig Jahren, eine außerordentlich wichtige Entdeckung oder Erfindung gemacht. Durch diese Entdeckung oder Erfindung wird produktive Arbeit in ähnlicher Art geleistet, aber noch in aus­giebigerem Maße vielleicht, als sie der Lehrer an seinen Kindern tun konnte, die Schuster wurden. Dann gibt es doch einen gewissen Un­terschied zwischen dem Coupon-Abschneider A und dem Coupon­Abschneider B - einen Unterschied, der volkswirtschaftlich ganz au­ßerordentlich in Betracht kommt. Und wir müssen sagen: der ganze Prozeß des Coupon-Abschneidens war außerordentlich produktiv im ganzen Zusammenhang des menschlichen Lebens.

Wirtschaftlich, rein wirtschaftlich läßt sich die Frage gar nicht

136

entscheiden. Sie läßt sich nur dann entscheiden, wenn außer dem Wirtschaftsleben noch etwas anderes da ist, was, abgesehen vom Wirtschaftsleben, abgegliedert vom Wirtschaftsleben, die Menschen dazu bringt, wenn sie, auf welche Art immer, ihren Unterhalt aus der Allgemeinheit herausziehen, durch ihre eigene Wesenheit wieder­um zurückzugeben, was sie herausziehen; wenn also ein freies Gei­stesleben da ist, das die Leute so anregt, daß sie nicht Financiers wer­den, sondern in irgendeiner Weise gerade ihre geistige Kraft viel­leicht anwenden, so, wie sie sie haben, oder auch die physische Kraft anwenden, so, wie sie sie haben.

Gerade dann, wenn man die Dinge durchschaut, wie sie im wirk­lichen Leben sind, so wird man auf die Notwendigkeit der Dreiglie­derung des sozialen Organismus geführt. Und man wird vor allen Dingen aufmerksam gemacht durch solches Durchschauen des Le­bens, daß all das Zeug, das heute vielfach nationalökonomisch, auch von Praktikern, vorgebracht wird, im Grunde unbrauchbar ist, daß in die Köpfe der Menschen endlich etwas anderes hinein muß, näm­lich eine Totalbetrachtung des Lebens. Und diese Totalbetrachtung des Lebens, die ist es, die am Ende führt zur Dreigliederung des sozialen Organismus.

Wir müssen uns also bemühen, solche Vorstellungen immer wei­ter und weiter zu verbreiten. Wir dürfen es nicht verschmähen, hin­zuweisen darauf, wie kurzmaschig gerade das praktische Leben der Gegenwart ist. Wir müssen schon diese zwei Tätigkeiten miteinan­der verbinden: auf der einen Seite das Positive der Dreigliederung hinstellen, und auf der anderen Seite die schärfsten Kritiker sein des­jenigen, was heute so vielfach als Geistesströmungen existiert. Wir müssen diese Geistesströmungen kennenlernen und müssen scharfe Kritiker dieser Geistesströmungen werden. Denn nur dadurch, daß wir den Leuten wie im Spiegelbild vorhalten die Absurditäten, die heute existieren, nur dadurch werden wir vorwärtskommen, wer­den wir durchdringen können. Und das, was wir so auf diese Weise den Menschen beibringen, von dem müssen wir ihnen zu gleicher Zeit eine solche Vorstellung geben, daß sie empfinden, wie wir mit realen Begriffen arbeiten.

137

Sehen Sie, ein Mensch, der Stiefel produziert, ist ganz gewiß ein produktiver Mensch. Nach marxistischen Begriffen ist aber der ein ebenso produktiver Mensch, der, sagen wir, Schönheitspflästerchen fabriziert. Denn wenn man bloß von der Leistung körperlicher Ar­beit ausgeht, so ist das ebenso eine körperliche Arbeit wie das ande­re. Es handelt sich darum, daß man den ganzen Prozeß ins Auge faßt und eine Vorstellung davon bekommt, wie sich das, was jemand lei­stet, in den Prozeß des sozialen Lebens hinein gestaltet. Die Men­schen müssen eine Empfindung von diesen Dingen bekommen. Auf eine andere Weise geht es nicht vorwärts.

Nun werden wir aber genötigt sein, die Denkgewohnheiten der heutigen Menschen zu respektieren. Sie müssen sich aber nur klar sein darüber, daß, wenn Sie jetzt hinausziehen und den Leuten eine Stunde lang, fünfviertel Stunden lang von solchen Dingen reden, wie ich sie Ihnen jetzt vorbringe, sie anfangen zu gähnen, und sie ge­hen zuletzt aus dem Saal und sind froh, daß es aufgehört hat, denn sie sehnen sich nach einem gesunden Schläfchen. Sie finden, daß das schwer ist, viel zu schwer ist! Denn die Menschen haben sich voll­ständig abgewöhnt, Gedanken zu folgen, die von Wirklichkeit ge­tragen sind. Dadurch, daß die Leute immer nur Abstraktionen ge­folgt sind, daß sie schon als Schulkinder daran gewöhnt worden sind, Abstraktionen zu folgen, dadurch ist die Menschheit denkfaul geworden. Die Menschheit ist ja furchtbar denkfaul in der Gegen­wart. Und darauf müssen wir Rücksicht nehmen, aber in nützlicher Weise.

Deshalb lassen wir ja Erzählungen einfließen in unsere Vorträge von demjenigen, was aus anthroposophisch orientierter Geisteswis­senschaft sich schon herausentwickelt hat. Erzählen wir den Leuten vielleicht weniger Anekdoten! Das ist ja sonst sehr nützlich gegen. über der heutigen denkfaulen Menschheit, wenn man ab und zu ei­nen schwierigen Vortrag durch Anekdoten unterbricht, aber wir können unsere Zeit auf Besseres verwenden. Erzählen wir in der Zwischenzeit, indem wir das in der nötigen Weise einfügen in den Verlauf unserer Gedankenfolge, von unserer Waldorfschule, von der Eurythmie, von unseren Hochschulkursen, von dem Kommenden

138

Tag. Das ist etwas, was dann den Gedankenverlauf durchbricht, was für die Leute zunächst eine angenehme Abwechslung ist - sie brauchen dann weniger zu denken. Denn, nicht wahr, das Wesen der Sache kann dann nachkommen. Wir können eine Weile schil­dern, wie die Waldorfschule zustande gekommen ist, wie sie einge­richtet ist; wir können schildern, wie dreißig Dozenten in Dornach in den Hochschulkursen die Wissenschaften zu befruchten versucht haben von der Geisteswissenschaft aus. Da brauchen die Leute, wenn man ihnen sagt, die Wissenschaft soll befruchtet werden, in diesem Moment nicht darüber nachzudenken, wie das in der Che­mie, in der Botanik und so weiter geschieht, sondern sie können bei allgemein verschwommenen Vorstellungen bleiben, während man davon spricht. Und da haben sie dann Zeit, sich ein wenig zwischen den vorgebrachten Gedanken ins Gedankenbett zu legen. Wir ha­ben wiederum die Möglichkeit gewonnen, in den nächsten fünf Mi­nuten von etwas schwierigeren Dingen zu sprechen. Die anderen Dinge sind aber trotzdem außerordentlich nützlich. Wenn wir zum Beispiel den Leuten erzählen, wie wir Zeugnisse gemacht haben in der Waldorfschule, wie wir versucht haben, da nicht hineinzuschrei­ben «fast befriedigend», «kaum genügend» - was man ja überhaupt gar nicht unterscheiden kann, ob einer «kaum» oder «fast genügend» hat -, wo wir aber so etwas wie eine kleine Biographie gegeben ha­ben jedem Kinde, und einen Lebensspruch. Die Leute brauchen ja nicht viel darüber nachzudenken, wie schwierig das ist, das heißt, das können sie schon nachdenken, wie schwierig es ist, einen Le­bensspruch für jedes Kind zu finden; aber wenn man bloß das Resul­tat sagt, geht es schmerzlos vor sich, das entgegenzunehmen. So können wir erzählen, was praktisch da ausgestaltet worden ist. Und auf diese Weise können wir den Leuten auch etwas erzählen über die Einrichtungen der Waldorfschule, wie dann nach und nach das Haus zu klein geworden sei, wie wir Baracken bauen mußten, weil wir nicht das Geld hatten, um Vollgebäude zu bauen. Es ist schon nützlich, daß die Leute auch manchmal hören, daß wir nicht genug Geld haben; das kann ganz angenehme Folgen haben. Wenn wir sol­che Dinge einfügen in unsere Betrachtungen, so wird das durchaus

139

erstens sehr sachlich sein - denn sachlich ist es -, wird sehr gerecht­fertigt sein; aber außerdem können wir eine angenehme Abwechs­lung für die Zuhörer schaffen.

Dann können wir erzählen von den Hochschulkursen in Dorn­ach, in Stuttgart. Wir können einfiechten, daß das alles heute noch zum großen Teil die armen Waldorflehrer leisten müssen, daß also sich wenig Leute noch zusammengefunden haben, die nun wirklich im Sinne anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft etwas leisten. Denn daß die Waldorflehrer dreimal überlastet sind, das ist auch etwas, was die Leute ganz gern entgegennehmen, nicht wahr. Jeder bildet sich dann ein, er selber sei auch überlastet. Na, und auf diese Weise können wir, indem wir tatsächlich von demjeni­gen, was äußerlich schon dasteht, sprechen, den Leuten zu gleicher Zeit etwas zeigen, was sie vielleicht zwischendurch immer wieder gerne hören, aber was sie auch wissen sollen, was sie auch wissen müssen.

Und dann reden wir ihnen namentlich auch von dem Kommen­den Tag. Wir versuchen, ein Bild zu geben davon, wie dieser Kom­mende Tag eingerichtet ist. Wie er eingerichtet ist, das sehen Sie ja aus den Prospekten, die ausgegeben worden sind. Wir bringen den Leuten einen Begriff vom Kommenden Tag anhand der ausgegebe­nen Prospekte bei und sagen ihnen: Selbstverständlich werden Sie finden, daß dieser Kommende Tag noch nicht den Assoziationen -über Assoziationen werden wir morgen noch sprechen - vollständig entspricht, daß er noch sehr stark herausgebaut ist aus der gegenwär­tigen Volkswirtschaft. Aber wir sagen den Leuten zu gleicher Zeit:

Das wissen wir ja ohnedies, aber es zeigt eben, wie notwendig es ist, daß diese Volkswirtschaft anders wird, wie man mit dem besten Willen nicht ein Ideal einer Assoziation herausgestalten kann aus dem gegenwärtigen volkswirtschaftlichen Leben.

Aber notwendig ist es, daß Sie in Ihren Vorträgen unsere Bewe­gung als ein Ganzes fassen. Sie sollen sich nicht genieren, auf der ei­nen Seite, der geistigen Seite, die anthroposophische Orientierung vor die Leute hinzustellen, auf der anderen Seite aber auch bis in die praktischen Dinge des Kommenden Tages hineinzugehen und das

140

alles vor die Leute hinzustellen. Sie brauchen im Vortrage, den Sie halten, ja nicht gerade zur Geldzeichnung aufzufordern, das - ich sage es in Parenthese - kann dann der andere tun, der mitfährt und der erst nach dem Vortrag an die Leute herantritt, es nimmt sich so besser aus. Aber obwohl ich es in Parenthese sage, so soll es doch ge­schehen. Wie gesagt, Sie brauchen das im Vortrag nicht direkt zu tun, für die Sache zu werben. Aber Sie können eben durchaus durchblicken lassen, daß man, ohne daß irgendwie selbstsüchtige Zwecke dahinterstecken, zur Förderung desjenigen, was eigentlich mit der Dreigliederung gewollt ist, erstens Geld, zweitens Geld, drit­tens Geld braucht. Und je nachdem der eine oder andere von Ihnen nun nach der Situation das für richtig findet, kann er mit dem drei­fachen Geldbetonen das erste Wort Geld stärker tönen lassen und mit dem Ton fallen oder auch mit dem zweiten Ton ansteigen. Das ist etwas, was zur inneren Formung der Sache irgendwie etwas bei­tragen kann.

Ich sage Ihnen das nicht, um damit mehr andeuten zu wollen als das, daß man schon Rücksicht nehmen muß auf die Art und Weise, wie etwas gesagt wird. In einer gewissen Beziehung sollte man, wenn man in einen Saal hineingeht, sich einmal selber durchfühlen, ob man so oder so reden muß. Das kann man nämlich ungefähr durchfühlen, namentlich wenn man unter ganz fremde Leute tritt. Also, solche Dinge werden Sie doch schon berücksichtigen müssen. Sie werden nicht, wenn Sie das erreichen wollen, was jetzt erreicht werden soll, mit einem fertigen Konzept vor die Leute hintreten können, sondern Sie werden sich ganz nach den Verhältnissen rich­ten müssen. Das werden Sie nur können, wenn Sie in bezug auf die Gestaltung und Durchlebung Ihrer Vorträge sich so verhalten, wie ich das gestern charakterisiert habe. Aber wir dürfen durchaus nicht außer acht lassen, auf dasjenige, was uns immerhin doch schon ge­lungen ist in der Begründung des Schulwesens, auch praktischer Ein­richtungen, immer wieder und wiederum hinzuweisen. Denn es ist schon einmal so in der Gegenwart, daß die Menschen dieses brau­chen. Und Sie tun gut, gerade wenn Sie den dreigegliederten sozialen Organismus schildern, die Einrichtung der Waldorfschule zur Illu­stration

141

zu benützen, und ebenso, wenn Sie das sonstige Wirt­schaftsleben schildern, immer wiederum zu exemplifizieren dasjeni­ge, was durch den Kommenden Tag gewollt wird. Ich möchte durchaus, daß Sie nicht vergessen, daß auf unsere verschiedenen Einrichtungen gerade durch Ihre Vorträge die Welt ganz scharf hingewiesen werden muß.

Und hinter all dem muß das Bewußtsein davon stehen, daß aus al­len Ecken und Enden heraus - ich habe es schon mehrmals in diesen Vorträgen gesagt - die Gegnerschaft da ist und noch mehr kommen wird, und daß wir nicht mehr sehr lange Zeit haben, um das zur Geltung zu bringen, was wir zur Geltung bringen wollen und was zur Geltung gebracht werden muß, sondern daß wir in der nächsten Zeit die Dinge scharf anfassen müssen.

Wir dürfen uns kein Beispiel nehmen - das sage ich für diejenigen, die längere Zeit in der anthroposophischen Bewegung drinnenste­hen - an dem, wie die anthroposophische Bewegung als solche ver­laufen ist, denn die verläuft zum Teil ja so, daß ihre Mitglieder sich allzu wenig für das interessieren, was eigentlich in der Welt vorgeht. Jetzt sind wir in einer Zeit, wo ein scharfes Interesse entwickelt wer­den muß für das, was in der Welt vorgeht. Und wir müssen schon einmal durchaus exemplifizieren und auch uns kritisierend verhal­ten mit Bezug auf das, was heute an aktuellen Ereignissen in der Welt vor sich geht. Daher müssen wir uns interessieren für diese Er­eignisse. Wir müssen aus diesen Ereignissen heraus suchen, die Not­wendigkeit unserer Bewegung darzulegen. Wir müssen immer wie­der und wiederum betonen, wie diese Ereignisse geeignet sind, die moderne Zivilisation in ihren Niedergang hineinzuführen. Denn die Menschen müssen begreifen lernen, daß, wenn so fortgefahren wird, wie es heute üblich ist, ganz gewiß der Niedergang der modernen Zi­vilisation herauskommt, und daß die europäischen Länder wenig­stens durch furchtbare Zeiten hindurchgehen müßten, wenn nicht aus einem wirklich aktiven Geistesleben und aus einem aktiv erfaß­ten Staats- und Wirtschaftsleben heraus eine Grundlage gelegt würde für einen Neuaufbau.

Wir müssen den Leuten auch die Phrasen nehmen, die etwa in der

142

folgenden Weise immer wieder ausgesprochen werden: Ja, das mag ja alles sehr schön sein mit der Dreigliederung, aber um so etwas ein­zuführen, dazu bedarf man nicht nur Jahrzehnte, sondern vielleicht Jahrhunderte. - Es ist ein Einwand, der vielfach gemacht wird. Es gibt aber keinen unsinnigeren Einwand als diesen. Denn was in der Menschheit entstehen soll, namentlich an sozialen Einrichtungen, das hängt ja davon ab, was die Menschen wollen und welche Kraft und welchen Mut sie in ihr Wollen hineinlegen. Und was selbstver­ständlich bei Lässigkeit und Trägheit Jahrhunderte dauern kann, das kann bei Anwendung aktiver Kräfte die allerkürzeste Zeit dauern. Aber dazu ist eben notwendig, daß wir in immer mehr und mehr Köpfe hineinbringen, was von unserer Geisteswissenschaft kommen und sich durch das Anschauen unserer übrigen Einrichtungen erge­ben kann. Vergessen Sie auch nicht, auf solche Dinge hinzuweisen, wie sie jetzt hier in Stuttgart entstehen sollen etwa in dem Medizi­nisch-Therapeutischen Institut. Denn es ist einmal so, daß vielleicht gerade von solchen Einrichtungen aus die Menschen das Fruchtbare der Geisteswissenschaft, für den ersten Anhub wenigstens, am besten verstehen lernen.

Es kommt ja auch, wenn man so etwas den Leuten plausibel zu machen versteht, noch das in Betracht, daß es eigentlich gar nichts nützen würde für die Fortentwickelung der Menschheit, wenn es ge­länge, neben dem alten katholischen Religionsbekenntnis, dem alten evangelischen Religionsbekenntnis und dem jüdischen, türkischen Religionsbekenntnis und so weiter und neben manchem Sektiereri­schen nun auch aufzurichten eine Weltanschauung, die «die anthro­posophische» wäre. Das würde ja gewiß eine Bedeutung haben für die Menschen, die sich alle Wochen, oder auch die Woche zweimal, zusammensetzen, um sich in solchen Weltanschauungsfragen zu er­gehen. Es würde eine subjektive Bedeutung für diese Menschen ha­ben. Aber für die Welt hätte das doch gar keine Bedeutung. Für die Welt hat eben nur eine Weltanschauung und Lebensauffassung Be­deutung, welche in unmittelbar praktische Fragen eingreift. Und deshalb finden wir es auch allzu häufig jetzt, daß sich die Menschen ja ganz gerne etwas sagen lassen über das Ewige in der Menschennatur,

143

über das Leben nach dem Tode. Auch kann man bei einer größeren Anzahl von Menschen schon sprechen, ohne daß sie einem gerade deshalb, weil man es sagt, die Augen auskratzen, über die wiederholten Erdenleben, über das Karmagesetz und so weiter. Aber es ist heute sogar nützlicher und wichtiger, den Leuten beizubrin­gen, daß anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft etwas hineintragen kann zum Beispiel in die Medizin, in die Therapie, da­mit gesehen werde, wie wirklich für die materielle Welt dasjenige, was man im Geiste sich erobert, eine gewisse einzigartige Bedeutung hat. Denn es kommt nicht bloß darauf an, sich zum Geiste in seiner Abstraktheit zu erheben, sondern es kommt darauf an, sich so zu erheben, daß dieses der lebendige Geist ist, der dann Kraft genug hat und Stärke, um in das Materielle hineinzuwirken.

Diesen Gedanken, dieses Hineinstellen des Geistes in das mate­rielle Leben in den verschiedensten Varianten, sollen Sie den Leuten immer wieder und wiederum vor die Seelenaugen stellen. Denn der Geist will die Materie regieren, nicht die Materie fliehen. Deshalb ist es in einer gewissen Beziehung geradezu ruchlos, wenn solche Leute wie Bruhn, der das Büchelchen geschrieben hat «Theosophie und Anthroposophie», der Anthroposophie zum Vorwurf machen, daß sie dasjenige, was schweben soll in Himmelshöhen, über der Wirk­lichkeit, was nicht herabgezogen werden soll in die materielle Wirk­lichkeit, in das Alltagsleben hineinziehen wolle. Man kann sich kaum ärgere Verderber des Menschenlebens denken als solche Volkslehrer, die die Katheder und die Universitäten brauchen können, um derlei Zeug den Menschen beizubringen. Das aber geschieht ja heute in allen, allen Varianten.

Und besonders das ist heute an der Tagesordnung, daß die Leute sagen: Ja, Anthroposophie mag der Versuch sein, die einzelnen Wis­senschaften zu vertiefen, aber mit der Religion hat die Anthroposo­phie nichts zu tun, mit dem Christentum hat die Anthroposophie nichts zu tun. Und dann kommen die Leute und wollen beweisen, warum die Anthroposophie mit Religion und Christentum nichts zu tun habe. Dann kommen sie und stellen ganz willkürliche Begrif­fe auf, die sie haben von Religion und Christentum. Und sie machen

144

begreiflich, daß an diesen Begriffen, die sie haben von Religion und Christentum, nicht gerüttelt werden darf!

Wenn die Menschen doch wenigstens wahrhaftig wären! Man würde ja dann einige Nachsicht mit ihnen haben können. Wenn die Menschen kommen würden und würden sagen: Da tritt jetzt die Anthroposophie auf; sie redet aus anderen Quellen heraus, als ich bisher auf dem theologischen Katheder oder auf der Kanzel geredet habe. Ich habe jetzt nur die Wahl, entweder meinen Beruf aufzuge­ben, dann habe ich ja aber nichts zu essen, das ist eine fatale Sache, oder ich bleibe lieber bei meinem Beruf und lehne die Anthroposo­phie ab! Solche Leute, man würde sie ja nicht gerade sehr ernst neh­men können für das Kulturleben der Menschheit. Aber sie würden wahr sprechen, geradeso, wie der Grazer juristische Lehrer wahr ge­sprochen hat, der die Freiheit des menschlichen Willens jedes Jahr vor seinen Schülern bewiesen hat, indem er sagte: Die Menschen ha­ben einen freien Willen! Denn wenn die Menschen keinen freien Willen hätten, dann hätten sie auch keine Verantwortlichkeit für ih­re Taten. Und wenn sie keine Verantwortlichkeit für ihre Taten hätten, dann gäbe es ja auch keine Strafen und auch kein Strafrecht. Aber ich bin Lehrer des Strafrechts. Ich täte also dann nicht ein Strafrecht vortragen. Nun muß ich das aber. Und weil es mich ge­ben muß an dieser Universität, muß es ein Strafrecht geben, also muß es auch Strafen geben, also auch eine Verantwortung der Men­schen, also folglich auch einen freien Willen der Menschen. - So un­gefähr hat dieser GrazerJurisprudenzlehrer vorjahren seinen Zuhö­rern die Freiheit des menschlichen Willens beigebracht. Es war wirklich nicht viel anders, was er vorbrachte.

Und nach diesem Schema würden auch Theologen und andere Leute handeln, wenn sie das sagen würden, was wahr ist. Sie könn­ten auch noch die andere Seite der Sache anführen, sie würden dann ebenso wahr sein, und man würde dann nachsichtiger sein, sie könn­ten noch sagen: Ich könnte ja vielleicht auch die Unbequemlichkeit auf mich nehmen, Religion und Christentum neu zu fundieren. Bei Universitätsprofessoren könnte es ja dann passieren, daß sie dann von den theologischen Fakultäten vielleicht, wenn sie in einer grö­ßeren

145

Zahl wären, in die philosophische Fakultät hinüberwandern müßten. Wenn sie schon mal Professor sind, dann geht das schon leichter, als wenn sie erst hineinkommen wollen in die Universität. Aber selbst mit der Beibehaltung des Lebensfutters würde es noch immer schwer sein. Aber sie wollen schon nicht diese Unbequem­lichkeit und diesen Fleiß auf sich nehmen, die Dinge neu zu fundie­ren. Wenn sie aber nur diese Dinge sagen wollten, dann wären sie wenigstens ehrlich. Statt dessen bringen sie alles mögliche vor, was ja doch nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern was nur etwas Dekoratives ist, was die Wirklichkeit überdecken soll. Wir aber dür­fen in diesen Punkten in keiner Beziehung nachsichtig sein, sondern wir müssen in diesen Punkten Unwahrhaftigkeit und Verlogenheit überall in den Schlupfwinkeln aufsuchen und rücksichtslos vor der Mitwelt charakterisieren.

Und wir dürfen auch nicht versäumen, immer wiederum hinzu­weisen auf die Schlampigkeit im Denken mancher Menschen, die sich einfach dadurch äußert, daß sie gewisse Behauptungen doch nicht mit aller moralischen Tiefe nehmen wollen. Es ist noch nicht lange her, da hat jemand gehört, wie ich die Verlogenheit des Frohn-meyer öffentlich charakterisiert habe, der einfach in lügenhafter, ten­denziöser Weise für Dornach etwas beschrieben hat, was ganz an­ders aussieht, als er es in tendenziöser Weise beschrieben hat. Und dieser Jemand sagte: Nun ja, der Frohn meyer hat das eben geglaubt, daß das so aussieht. - Darauf kommt es mir ja gar nicht an, gerade just darauf hinzuweisen, daß der Frohnmeyer etwas Unwahres sagt in diesem Fall, sondern darauf, daß der Frohnmeyer zeigt, daß er Be­hauptungen tut über irgend etwas, was in Dornach steht, die der Wahrheit ins Gesicht schlagen. Wer das in einem Punkte tut, der tut das in anderen Punkten auch. Er ist Theologe. Er trägt vor an der Basler Universität. Die Theologie schöpft aus Quellen, von denen man behauptet, daß sie Wahrheitsquellen sind. Wer in dieser Weise Zeugnis ablegt wie Frohnmeyer, wer die Christusstatue so schildert, wie er sie geschildert hat, der zeigt, daß er keinen Begriff hat, wie man aus den Quellen heraus die Wahrheit erforscht. Wenn nicht in den Geschichtsbüchern stehen würde, wann Napoleon geboren und

146

gestorben ist, könnte er auch noch über diese Dinge die Unwahrheit sagen, wenn er sie erforschen müßte. Darauf kommt es mir an, daß man solche Leute in ihrer ganzen verderblichen Wirkung auf die Zeitgeschichte schildert, daß man zeigt, daß sie nicht hineinpassen in die Lage, in die sie hineingestellt worden sind durch die chaoti­schen Zeitverhältnisse. In diesem Punkte dürfen wir in keiner Weise nachsichtig sein.

Das ist dasjenige, was zu den Formalien Ihres Wirkens in den nächsten Wochen gehört.

147

ACHTER VORTRAG Stuttgart, 16. Februar 1921 (nachmittags)

Ich möchte in dieser Stunde einiges sprechen über gewisse Färbun­gen gegenüber den Eigenschaften des gegenwärtigen Geisteslebens, welche unsere Vortragsarbeit wird annehmen müssen. Wir dürfen uns nämlich nicht darauf beschränken, unsere Rede lediglich abzu­stellen auf das Begreifen des Verstandesmäßigen in den sozialen Fra­gen, sondern wir müssen durchaus dahin arbeiten, die Welt auf­merksam zu machen, wie in bezug auf gewisse Dinge anders emp­funden werden müsse, als gegenwärtig eben gerade in den angeblich maßgebenden Kreisen empfunden wird. Denn was äußerlich in Ein­richtungen lebt, was äußerlich in sozialen Handlungen der Men­schen geschieht, das hängt durchaus ab von dem, was Denk-, Emp­findungsweise und Willensrichtung der Menschen ist. Deshalb habe ich so stark betont, daß der Mensch als solcher in den Mittelpunkt auch der sozialen wie der ganzen Lebens- und Weltbetrachtung ge­rückt werden müsse. Wir müssen uns aber selber eine Empfindung dafür aneignen, wie irregeführt und auf abschüssigen Wegen befind­lich das Empfindungsleben in der Gegenwart eigentlich ist. Wir müssen ein scharfes Gefühl dafür haben, daß die zivilisierte Welt in die heutige Lage eben durch dieses oftmals ganz verkehrte Empfin­dungsleben gekommen ist. Solche Dinge sollen wir uns selbst klar­machen an Beispielen. Und wir sollen sie auch an Beispielen der Welt klarmachen. Wir können ja solche Beispiele leicht finden, wenn wir eben gerade mit einem gewissen objektiven Sinn die Be­handlung erörtern, welche die anthroposophische Bewegung in der Gegenwart durch unsere Zeitgenossenschaft findet.

Es muß ja gerade bei Besprechung der sozialen Fragen immer das moralische Moment hervorgehoben werden, welches darin besteht, daß die führenden Menschen der unmittelbaren Vergangenheit in ei­ner eigentlich recht unverantwortlichen Weise die Zeitereignisse ha­ben ablaufen lassen. Ist es denn nicht so, daß man sich in den führen­den Kreisen nur bekümmert hat um das In-Szene-Setzen des Weltengangs

148

in dem Sinne, wie die moderne Technik und die Formen des Materialismus, die sich in der neuesten Zeit herausgebildet haben, den Weltengang tragen, wie der Weltengang durch diese getragen wird? Und es ist ganz klar: man hat sich nicht gekümmert darum, was dieser Gang der Welt auf die zahllosen Menschen für einen Ein­fluß gewinnen muß, die als Proletariat gerade durch diesen Welten-gang sich herausgebildet haben. Man hat das alles wirklich mit einer Sorglosigkeit herankommen lassen, die sich jetzt selbstverständlich tragisch zeigt, die aber durchaus scharf ins Auge gefaßt werden muß, wenn irgendeine Besserung eintreten soll.

Ein krasses Beispiel für diese Sorglosigkeit ist ja wohl dieses, das ich schon früher öfter erwähnt habe. Es gab in Österreich am Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einen Polizeiminister Giskra. Es gab dazumal auch schon einzelne Menschen, welche dar­auf hinwiesen, daß eine soziale Frage heraufziehe an dem Horizonte der modernen Zivilisation. Und jener Polizeiminister hat auf gewis­se Anfragen bezüglich der sozialen Frage die Antwort gegeben: «Ei­ne soziale Frage kennt Österreich nicht. Die hört bei Bodenbach auf!»

Nun, dieses Den-Kopf-in-den-Sand-Stecken, diese Vogel-Strauß-Politik, die ist im weitesten Umfange getrieben worden durch die führenden Kreise in der neueren Zeit. Und das, meine lieben Freun­de, das muß durchschaut, das muß der Gegenwart scharf beige­bracht werden. Denn man kann sagen: Die Gewissenlosigkeit ist eben nach und nach aus der äußeren Welt heraus in das Denken selbst eingezogen und macht sich da, leider für sehr viele Leute un­bemerkt, geltend. Es wird dadurch geradezu eine Grobheit des Den­kens bewirkt, und diese Grobheit des Denkens, die wird meistens gerade von den intellektuellen Menschen der Gegenwart abgeleug­net. Ich möchte Ihnen das, was ich jetzt gesagt habe, an einem eben zutage getretenen Beispiel erläutern.

Sehen Sie, so recht eine Pflanze aus den Kreisen heraus, welche mit der größten Sorglosigkeit und Unbekümmertheit um den Gang der Weltereignisse gewirkt haben, ist noch in der Gegenwart ein ge­wisser Graf Hermann Keyserling, der in Darmstadt eine sogenannte

149

«Schule der Weisheit» gegründet hat, ein ganz gräßliches Kulturpro­dukt der Gegenwart. Seine Buchhandlung macht Reklame für diese «Schule der Weisheit». Und es ist eben ein Heftchen erschienen, das trägt, wie Sie vielleicht selber zugeben werden, den recht anspruchs­vollen Titel «Der Weg zur Vollendung». Dieses Heft brauchte von der Buchhandlung aus eine Reklame. Zu dieser Reklame wird außen auf der sogenannten Bauchbinde hinzugefügt: «Erledigung der An­griffe Rudolf Steiners.» Die Buchhandlung fügt dann in ihrer An­kündigung hinzu: «Die Stellung des Grafen Keyserling zur Theoso­phie im allgemeinen und zur Steinerschen Theosophie im besonde­ren ist im 14. Kapitel seines letzten Buches unter dem Titel mitgeteilt. Rudolf Steiner hat es für nötig befunden, diese in durchaus sachlicher Form die Wahrheit bekundenden Ausführungen mit persönlichen Be­schimpfungen zu beantworten.» Das ist die Reklame, welche die Buchhandlung für diese «Schule der Weisheit» schreibt! Nun ist es eben wirklich notwendig, wenn eine soziale Gesundung in der Ge­genwart eintreten soll, solchen Leuten, wie dieser Graf Hermann Keyserling ist, auf die Finger zu schauen und dasjenige, was man durch dieses Auf-die-Finger-Schauen erkundet hat, wirklich auch vor aller Welt frei und frank zu sagen. Denn es müssen die Schäd­linge der gegenwärtigen Zivilisation entlarvt werden.

Was die innere Gewissenlosigkeit, die intellektuelle Gewissenlo­sigkeit, dieses Grafen Keyserling ist, das mag Ihnen aus der Art und Weise hervorgehen, in der er in dieser Schrift vorgeht, die im übri­gen zum Beispiel auf der Seite 59 den schönen Satz hat: «Auf längere persönliche Aussprachen mit dem Grafen Keyserling außerhalb der allgemeinen Mitgliederversammlungen haben lediglich die Mitglie­der der Gemeinschaft der Schüler Anspruch. Für diese ist er, nach vorhergehender Verabredung und mit Ausnahme des Sonnabends und Sonntags, falls er nicht gerade verreist ist, jeden Nachmittag zwischen 3 und 5 Uhr in den Räumen der Schule, Paradeplatz 2, Eingang von der Zeughausstraße, zu sprechen. Sollte jemand, ohne Schüler zu sein, die Zeit des Schulleiters in Weisheitsfragen in An­spruch nehmen wollen, so behält sich die Geschäftsleitung für sol­che

150

Fälle vor, besondere Konsultationsgebühren zum Besten der Schule zu erheben.»

Meine lieben Freunde, es ist ganz gewiß berechtigt, über solche Sachen zu lachen; aber die Dinge sind nicht lächerlich. Gerade in diesen Dingen liegen die Urschäden unseres sozialen Lebens. Denn Sie finden da auf Seite 47 folgenden Satz - Sie wissen, ich habe mit einer allerdings gewissen Rücksichtslosigkeit, aber die ist notwendig in solchen Fällen, und sie ist wohlüberlegt, die Unwahrhaftigkeit des Grafen Hermann Keyserling mit Bezug auf meine Abhängigkeit von Haeckel, die er behauptet hat, gebührend hier im öffentlichen Vortrag charakterisiert -, auf diese Charakteristik hin schreibt er nun den folgenden Satz: «... und anstatt einen etwaigen Irrtum mei­nerseits zu korrigieren, was ich mir gerne gefallen ließe, denn zu spe­zieller Steiner-Quellenforschung habe ich keine Zeit gehabt ... zeiht Steiner mich schlankweg der Lüge .. .» Also, dieser Mann entblödet sich nicht, das als eine Möglichkeit hinzustellen, daß jeder jede belie­bige Unwahrheit hinschreibt und dafür in keiner anderen Weise auf die Finger geklopft kriegt als dadurch, daß man sie berichtigt! Den­ken Sie sich einmal diese intellektuelle Verlottertheit, geradezu dar­auf hinzuarbeiten: man kann alles mögliche hinschreiben, und der andere ist verpflichtet, das dann zu berichtigen. Wenn wir in dieser Weise arbeiten würden, dann würden wir in den sozialen Sumpf hineingeraten. Und in einer solchen Weise dann hinzuschreiben:

... zu spezieller Steiner-Quellenforschung habe ich keine Zeit .. .» -was heißt das in Wirklichkeit? Das heißt in Wirklichkeit: Zum ge­nauen Nachsehen über dasjenige, was ich hinschreibe, nehme ich mir keine Zeit. - Und das beansprucht solch ein Mann als sein gutes Recht!

Meine lieben Freunde, wir müssen eine Empfindung haben für die perversen intellektualistischen Empfindungen der Gegenwart. Und bekommen wir diese nicht, können wir nicht vor die Gegen­wart mit der Entlarvung dieses Sumpfes hintreten, dann ist unser übriges Reden ganz vergeblich. Da muß ich immer wieder sagen:

Ein bloßes Verteidigen hilft nichts. Wir dürfen dasjenige, was als Angriff gegen uns figuriert, nur als Symptom nehmen, um daran die

151

intellektualistische Verlottertheit, welche existiert, zu charakterisie­ren. Denn die Menschheit muß wissen, wie sie eigentlich heute gei­stig geleitet wird.

Es ist das ein Gegenstück zu einer schönen Denunziation, die sich ein Basler Universitätsprofessor, der mit solchen Dingen immer her­ausspringt wie die Heinzelmännchen in der Nacht und vielleicht aus diesem Grunde Professor Heinzelmann heißt, geleistet hat. Dr. Boos hat ja in einer Erwiderung auf gewisse Angriffe in einer etwas schar­fen Weise draufgeschlagen. Es wurde nämlich in der Schweiz in Zei­tungen behauptet, die Anthroposophie sei entlehnt von verschiede­nen alten Schriften; es wurde da angeführt etwas aus der indischen Veden-Literatur und Vedanta-Literatur, die Bhagavad-Gita wurde angeführt, und unter den Dingen, die da angeführt wurden, befand sich auch die Akasha-Chronik! Nun sehen Sie, Dr. Boos hat wohl mit einem gewissen Recht gesagt: So etwas behaupten heißt den Be­weis liefern, daß man eine wissentliche Unwahrheit sagt; denn derje­nige; der so etwas sagt, muß doch wissen, daß, wenn er an den Bü­cherständer herangeht, er nicht hintereinander herausnehmen kann etwa Veden-Bücher, die Bhagavad-Gita und nachher die Akasha­Chronik. So war ja die Sache dargestellt. Man muß also wissen, daß man eine Unwahrheit hinschreibt. Jenes «Heinzelmännchen» aus Basel schreibt nun, nachdem ich das entsprechend charakterisiert ha­be, daß meine Charakterisierung eine «ganz neuartige Definition von wissentlicher Unwahrheit» sei; ich hätte auf Seite so und so viel die Definition geliefert, eine objektive Unwahrheit liege dort vor, wo man unrichtigerweise etwas behauptet, was man eigentlich wis­sen müsse; das widerspreche der bisher geläufigen Definition von «wissentlicher Unwahrheit», die darin bestehe, daß man etwas be­haupte «wider besseres Wissen».

Es schreibt also dieser Universitätsprofessor, daß auf jener Seite eine Definition stehe. Es steht aber gar keine Definition da! Ich habe nur gesagt: Was er da über die Akasha-Chronik sagt, ist wirklich wi­der besseres Wissen behauptet. - Also, es wird einfach gelogen, daß eine Definition auf jener Seite stehe. Es wird den Leuten Dunst vor die Augen gemacht, indem sie abgelenkt werden von dem eigentli­chen

152

Tatbestand: daß es gerade ankommt darauf, daß wider besseres Wissen die Sache behauptet worden ist.

Sehen Sie, das sind scheinbar Pedanterien. In Wirklichkeit sind sie es nicht, sondern sie sind dasjenige, was heute zu den in moralischer Beziehung notwendigsten Dingen gehört: daß wir den führenden Persönlichkeiten gegenüber den Standpunkt geltend machen, wie moralisch versumpft das Denken eigentlich geworden ist. Und diese moralische Versumpftheit ist im Grunde genommen heute ausge­breitet über das ganze Geistesleben.

Nun ist es ja allerdings wahr, daß aus zwei Quellen heraus diese Versumpft heit kommt: zunächst aus dem wissenschaftlichen Leben selber, zweitens allerdings aus dem Journalismus. Aber das kann nicht hindern, diese Dinge aufzusuchen, wo sie sich nur geltend ma­chen, und sie immer wieder und wiederum zum Bewußtsein der Menschen zu bringen.

Und wenn wir gerade für die Menschen der Gegenwart, die so schwer von Verständnis sind, klarmachen wollen, wie notwendig die Verselbständigung des Geisteslebens ist, so werden wir es tun können, indem wir darauf hinweisen, was aus dem Geistesleben un­ter der Führung des staatlichen und des wirtschaftlichen Lebens eben geworden ist. Es ist durchaus in der Sache selbst liegend, daß wir, ohne weiter polemisch zu werden, rein charakterisierend diese Dinge hinstellen, ich möchte sagen, mit demselben Ton, mit dem wir uns bemühen, irgendeinen anderen objektiven Tatbestand hin­zustellen. Das setzt ja allerdings voraus, daß wir uns um solche Din­ge bekümmern. Und das müssen wir überhaupt haben können: frei­en, offenen Blick für das, was geschieht, für das, was um uns herum vorgeht. Ich habe das ja von anderen Gesichtspunkten aus schon betont.

Es wird gar nicht schwerhalten, mancherlei, was gerade in dieser Broschüre des Grafen Keyserling sich findet, ich möchte sagen, in seiner ganzen Schädlichkeit darzustellen. Denn, nicht wahr, in die­ser Broschüre finden sich da, wo von jener wohligen Atmosphäre gesprochen wird, in die diejenigen aufgenommen werden, welche sich der Weisheitsschule in Darmstadt widmen, Sätze von diesem

153

Kaliber: «Diese» - die Atmosphäre - «wird bald einen solchen Machtfaktor bedeuten, daß der bloße Aufenthalt in ihren Räumen dem empfänglichen Neuling genügen wird, um gefühlsmäßig zu er­fassen, was in ihr erstrebt wird.» Dann weiter: «Doch bedeutet die Erschaffung einer bestimmten Kulturhöhenatmosphäre nicht die Hauptabsicht, welche der Schule der Weisheit zugrunde liegt. Die Atmosphäre ist die Grundvoraussetzung dazu, damit Wichtigeres erzielt werde. Dieses aber besteht darin, den berufenen Einzelnen nicht allein durch den unwillkürlich unbewußten Einfluß eines be­stimmten Lebensstils sowie des Seinsniveaus der leitenden Persön­lichkeiten, sondern in intensiver Privatbehandlung zu fördern.» Und wiederum weiter: «Er mag eine beliebige Weltanschauung ver­treten, beliebigen politischen Programmen anhängen, beliebigen Glaubens sein, beliebigen Interessen leben; er mag jung sein oder alt, Mann oder Weib: in der Schule der Weisheit wird er lernen, ein be­liebiges auf ein tieferes zurückzubeziehen.» An ei­ner anderen Stelle ist noch hervorgehoben, wie schön die Schule der Weisheit dadurch ist, daß sie sich nicht darum bekümmert, ob zum Beispiel die Leute, welche vom Freigeld sprechen, recht haben oder nicht, ob andere Richtungen recht haben oder nicht; das betrachtet die Weisheitsschule in Darmstadt überhaupt als eine Kleinigkeit, ob irgend jemand nach irgendeiner Richtung recht hat oder nicht. Son­dern es sollen sich alle diese Richtungen zusammenfinden auf dem Boden des Parketts von Darmstadt! Denn alle diese beliebigen Inter­essen, beliebigen Glaubensmeinungen, beliebigen menschlichen Verfassungen werden dort dazu veranlaßt, «ein beliebiges auf ein tieferes zurückzubeziehen».

Sehen Sie, es ist dieses ja im Grunde genommen nur die Schatten­seite von etwas, was eigentlich nicht besser werden kann, wenn das geistige Leben nicht auf einen völlig neuen, und zwar freien Boden gestellt wird. Denn man muß, wenn man heute von der Gesundung der sozialen Verhältnisse reden will, schon durchaus sich dessen be­wußt sein, daß wir in einem welthistorisch wichtigen Augenblick der Menschheitsentwickelung stehen, daß gewisse Dinge einfach dadurch angestrebt werden, daß sie sich aus den Untergründen

154

des menschlichen Seelenlebens herausarbeiten. Und einer der wich­tigsten Impulse, die sich da aus den Untergründen des mensch­lichen Seelenlebens herausarbeiten, das ist der, die alten Zwangs-einrichtungen im Verhältnis von Mensch zu Mensch zu über­winden.

Beachten Sie wohl gerade diese Formel: Überwindung der alten Zwangseinrichtungen im Verhältnis von Mensch zu Mensch. - Wir sehen zurück in die sozialen Verhältnisse der Menschheit. Wir fin­den, daß es in älteren Zeiten die Einrichtung gegeben hat, auf das bloße Blut hin soziale Schichtungen zu bewirken; durch sein Gebo­rensein aus diesem oder jenem Stamm, aus dieser oder jener Familie heraus war der eine Herr, der andere Knecht, der eine der Befehlen­de, der andere der Hörige. Je weiter wir zurückgehen in der Ent­wickelung der Menschheit, desto mehr finden wir, daß auf solche Bluts- und Erblichkeitsverhältnisse das soziale Leben gebaut war. Sie haben sich zum Teil noch im Bewußtsein der Menschen erhalten. Was als Klassenbewußtsein der Adelsschichten heute noch immer existiert, rührt ja schließlich durchaus aus alten Zeiten her und ist im wesentlichen eine Fortsetzung jener sozialen Forderungen, die sich auf das Blut in alten Zeiten gegründet haben.

Nun ist allerdings im Laufe der neueren Zeit in diese soziale Schichtung eine andere hineingeschoben worden. Und diese andere beruht auf der wirtschaftlichen Macht. Zu demjenigen, das früher als von einer gewissen Seite aus berechtigt anerkannt worden ist, nämlich aus dem Blut heraus Herr oder Knecht zu sein, zu dem ist hinzugetreten, was die modernen wirtschaftlichen Verhältnisse ge­bracht haben: die Schichtung eben durch die wirtschaftliche Macht. Der wirtschaftlich Mächtige gehört einer anderen Klasse an als derje­nige, der nichts hat, der also der wirtschaftlich Ohnmächtige ist. Das hat sich hineingeschoben in das Alte. Im Grunde genommen beruht ja vieles in unseren sozialen Verhältnissen der Gegenwart noch im­mer auf einem Fortleben der alten Zwangsverhältnisse. Gegen das bäumt sich das heutige Menschheitsbewußtsein auf. Und im Grunde genommen beruht ein großer Teil dessen, was wir die sozialen Fra­gen nennen, auf diesem demokratischen Aufbäumen gegen die alten

155

Zwangsverhältnisse. Es muß daher die Frage entstehen: Wie hat man sich nach dieser Richtung hin zu verhalten?

Und da muß man sich doch klar machen, daß ohne die Abgliede­rung des freien Geisteslebens von den übrigen Gliedern des sozialen Organismus auf dem Boden, den ich eben charakterisiert habe, ein haltbarer sozialer Zustand nicht geschaffen werden kann. Wenn das Geistesleben wirklich auf seinen eigenen Boden gestellt wird, dann wird es in diesem Geistesleben nicht irgendein soziales Zwangsver­hältnis geben können, sondern nur das Verhältnis der freien Aner­kennung. Und diese freie Anerkennung, die ergibt sich ganz von selbst innerhalb des sozialen Lebens. Grob gesprochen: Man wird doch kaum irgendwo jemanden als einen Musiklehrer anstellen, der niemals in seinem Leben irgendein Musikinstrument gespielt hat, und es wird niemals das demokratische Gefühl fordern, daß absolute Gleichberechtigung herrschen soll unter allen Menschen mit Bezug auf die Bestellung eines Musiklehrers. Sondern es wird in ganz selb­ständiger freier Anerkennung jemand zum Musiklehrer bestellt wer­den, der die Dinge, die nötig sind zum Musiklehrer, kennt und kann. Und man wird dem, der die Dinge kennt und kann, dann, wenn nirgends etwas ist, was zwangsmäßig geübt wird, die Aner­kennung nicht versagen können; die wird sich ganz von selbst her­ausstellen.

Es wird im freien Geistesleben gerade sehr, sehr viel von den Din­gen geben, die ähnlich sind dem Bauen auf Autorität. Aber es wird überall ein Bauen sein auf selbstverständliche Autorität. Denn wo-rauf beruht das Aufbäumen zahlloser Menschen der Gegenwart ge­gen jegliche Autorität? Es beruht dieses Aufbäumen auf nichts ande­rem, als daß die Leute wahrnehmen: die wirtschaftlichen Verhältnis­se legen uns Zwangsunterordnungen auf, und wir erkennen nicht an, daß aus den wirtschaftlichen Verhältnissen uns Zwangsunterord­nungen auferlegt werden. Ebensowenig erkennen die Leute an, daß aus den politischen oder Blutsverhältnissen heraus Zwangsunterord­nungen auferlegt werden. Dagegen bäumt sich eben das Historische, das ich charakterisiert habe als das demokratische Gefühl, das aus den tiefen Untergründen der Menschheit heute an die Oberfläche

156

tritt. Und da natürlich die weitesten Kreise von den Intellektuellen und Geistig-Führenden keine Genauigkeit, sondern Keyserlingelei­en gelernt haben, so nehmen sie die Geschichte so, daß sie sich sa­gen: sie lehnen sich auf gegen jede Autoritat im wirtschaftlichen Leben. Und nun das dritte, das Geistesleben, das nimmt man auch noch dazu, weil es eben nicht in seiner ganz besonderen Wesenheit vor die Seelenaugen der Menschen tritt. Das kann es bloß, wenn es tatsächlich in unmittelbarer freier Selbstverwaltung dasteht. Aus den verschiedensten Untergründen heraus muß man die Notwen­digkeit der Befreiung des Geisteslebens den Leuten klarmachen.

Und man muß auf folgendes noch einen großen Wert legen: Es muß ein Gebiet da sein, wo sich die Menschen wirklich gleich füh­len. Das ist heute dadurch nicht da, daß auf der einen Seite der Staat aufgesogen hat das Geistesleben und auf der anderen Seite an sich heranzieht das Wirtschaftsleben, daß er also das Autoritative von beiden Seiten in sein Wesen hereinzieht und daß eigentlich gar kein Boden da ist, auf dem sich die Menschen, die mündig geworden sind, völlig gleich fühlen würden. Ist der Boden da, auf dem sich die Men­schen, die mündig geworden sind, völlig gleich fühlen können, kann jemand wirklich empfinden: Ich bin als Mensch gleich jedem ande­ren Menschen. - Dann wird er auch auf dem Gebiet, wo er das nicht empfinden kann, weil es eine Absurdität ist, die Autorität anerken­nen oder das assoziative Urteil.

Es wird wiederum etwas auftreten - das ist heute noch nicht op­portun, den Leuten zu sagen; aber ich sage es Ihnen -, es wird etwas auftreten, wie dasjenige ist, was aus anderen Verhältnissen heraus in alten Zeiten eine gewisse Rolle gespielt hat. Nehmen Sie ein Dorf in alten Zeiten: der Pfarrer war im vollsten Sinne des Wortes eine Art Gottheit. Aber es gab Gelegenheiten, wo der Pfarrer rein als Mensch unter den anderen Menschen erschien. Das schätzten sie sehr. Wenn wir nun auf der einen Seite das Geistesleben haben mit der Anerken­nung, der freien Anerkennung der selbstverständlichen Autorität, auf der anderen Seite das Wirtschaftsleben mit dem Gruppenurteil, das auf dem Zusammenfluß der Urteile der assoziierten Menschen beruht, und dazwischen einen Boden, wo sich die Menschen ganz

157

ohne Unterschied des übrigen Autoritativen begegnen - und das würde der Fall sein, wenn die Dreigliederung des sozialen Organis­mus da wäre -, dann wirkte das tatsächlich im allertiefsten Sinn real zur Lösung der sozialen Frage. Aber es muß im tiefsten Sinn das der Fall sein, daß der Lehrer, der geistige Mensch - ich meine das jetzt symbolisch - seine Toga auszieht, wenn er sich auf dem Boden des sozialen Staatslebens zeigt, und daß der Arbeiter seine Bluse auszie­hen kann, wenn er sich auf den Boden des sozialen Staatslebens stellt, so daß in der Tat von beiden Seiten her die Menschen in der gleichen Uniform sich begegnen, die ja keine Uniform im gewöhnli­chen Sinne zu sein braucht, aber gleichwertig sein kann, wenn sie auf dem Boden des Rechtlich-Staatlichen stehen.

Wir müssen großen Wert darauf legen, daß solche, ich möchte sa­gen, moralische Impulse, die äußerlich auch leben, wirklich wieder­um in die menschliche Gesellschaft hineinkommen. Denn Verwilde­rung und Barbarei würden ja unzweifelhaft eintreten, wenn sich ver­wirklichte, was so ein echter Marxist ansieht als das Ideal sozialer Ordnung. Aber auf der anderen Seite kann man ganz sicher sein:

wenn die breiten Volksmassen nach den Erfahrungen, die sie in Eu­ropa in den letzten Monaten machen konnten, in der richtigen Wei­se, unbeirrt durch ihre Führer, lange genug das hören, was der Sinn der Dreigliederung des sozialen Organismus ist, dann muß ihnen endlich ein Licht aufgehen.

Aber es muß parallel zu dieser Aktion das andere geschehen: den moralischen Niedergang, wie ich ihn eben vorhin charakterisiert ha­be, im Urteil der Gegenwart zum Bewußtsein zu bringen. Wir müs­sen geradezu handgreiflich beweisen, wo einfach im Urteilen die Menschen so aus der Moral herausfallen, wie es bei dem Grafen Her­mann Keyserling der Fall ist. Denn der Mann ist in hohem Grade ein den Menschen Sand-in-die-Augen-Streuender, und man muß nur in der richtigen Weise solch ein Exemplar von einem Menschen vor die Mitwelt hinstellen. Dann hat man moralisch etwas Außeror­dentliches getan.

Denn sehen Sie, nachdem sich der Graf Hermann Keyserling alles das geleistet hatte, oder sich hat leisten lassen durch seine Buchhandlung,

158

was ich Ihnen angeführt habe, bringt er dann das Folgende zu­stande. Er sagt: «Ich berühre den Fall nur deshalb, um an seinem Beispiel recht deutlich zu machen, wie reinlich man zwischen und unterscheiden muß. Von Steiners Sein kann ich un­möglich einen günstigen Eindruck haben; noblesse oblige» - damit meint er: die Noblesse verpflichtet dazu, einen Lügner nicht Lügner zu nennen - «... aber als Könner finde ich ihn nach wie vor sehr be­achtenswert und rate jedem kritikfähigen Geist von psychistischer Beanlagung, die seltene Gelegenheit des Daseins eines solchen Spe­zialisten auszunutzen, um von und an ihm zu lernen. Ich kenne nicht bloß die wichtigsten seiner allen zugänglichen Schriften, son­dern auch seiner Zyklen, und habe aus ihnen den Eindruck gewon­nen, daß Steiner nicht allein außerordentlich begabt ist, sondern tat­sächlich über ungewöhnliche Erkenntnisquellen verfügt. Für den fehlt ihm jedes feinere Organ, deshalb muß er alle Weisheit abstrakt und leer finden, die sich nicht auf Phänomene bezieht; aber was er über solche vorbringt, verdient ernste Nachprüfung, so absurd manches zunächst klinge und so wenig vertrauenerweckend sein Stil als Offenbarer seines Wesens wirkt, weshalb ich es lebhaft bedaure, daß sein mir völlig unerwartet gekommenes Vorgehen gegen mich mir die Möglichkeit raubt, mit ihm selber persönliche Fühlung zu nehmen. Denn es bleibt wahr, was ich im gleichen Aufsatz, der Stei­ners Wut gereizt hat, zu dessen Schutz gegen seine Gegner schrieb, daß ein bedeutender Mensch ausschließlich nach seinen besten Sei­ten beurteilt werden sollte; das Interesse an seinem Wissen und Kön­nen darf durch seine Gebrechen und Fehler nicht beeinträchtigt werden. Am gleichen Tage, an dem ich Steiners Schmährede zuge­schickt erhielt, empfahl ich einem Schüler von mir das ernste Studi­um seiner Schriften und sogar den Eintritt in seine Gesellschaft, da dies mir sein Weg zu sein schien und ich in seinem Fall den Kontakt mit dem Bedenklichen, das mit Steiner zusammenhängt, nicht für ge­fährlich anzusehen brauchte. Man soll nie vergessen, daß schlecht­hin jedes Wesen vielfältig ist, daß keine schlechte Eigenschaft die gu­ten entwertet; und daß der Charakter einer Gesellschaft ganz und gar vom Geist ihrer vorherrschenden Mitglieder abhängt. Auch die anthroposophische

159

kann noch eine Zukunft haben, wenn der Dogmen­glaube und Sektengeist sie verläßt, wenn sie das unsaubere Agitieren aufgibt und wirklich zu dem wird, was sie statutenmäßig sein soll.»

Also, Sie sehen, für diejenigen, die es auch in der Anthroposophi­schen Gesellschaft leider so zahlreich gibt, ist Gelegenheit genug ge­boten, zu sagen: Ja, was will denn der Steiner? Der Keyserling lobt Lhn ja über den grünen Klee! Aber darauf kommt es mir nicht an, ob er mich lobt, sondern ob er ein Schädling der Zivilisation ist oder nicht. Denn mir erscheint das alles, was Keyserling da zuletzt sagt, so, daß ich es nur charakterisieren kann damit, daß ich sage: Dieser Mann versucht alles, was durch seine Oberflächlichkeit der Welt aufgehalst wird, zu verdecken hinter solchen, ich kann es in diesem Falle nicht anders nennen, Lobhudeleien. Ich sage das aus dem einfa­chen Grunde, weil ich voll überzeugt bin, daß der Graf Keyserling nicht das geringste Organ hat, um die Dinge zu verstehen, die er hier lobt.

Und das muß uns viel wichtiger sein: auf dieses Sachliche einzu­gehen, überhaupt in unseren Vorträgen der Welt zu zeigen - ich ha­be den Grafen Keyerling heute nur als Beispiel angeführt -, was heu­te an Oberflächlichkeit und an unberechtigten Aspirationen da ist. Sieht die Welt ein, von welchen Leuten sie geführt wird, dann wird sie ein Verständnis bekommen für die Befreiung des Geisteslebens. Denn es wird unmöglich sein, daß im großen und ganzen aus einem freien Geistesleben solche Helden hervorgehen. Ganz gewiß, meine lieben Freunde, das irdische Leben, das der Mensch zwischen Ge­burt und Tod zubringt, wird niemals lauter Engel aufweisen. Und nur solch ein Mensch wie der Professor Rein in Jena kann die sonderbare Behauptung aufstellen, daß die anthroposophische Moral eigentlich für die Engel gemeint sei, wie er es ja einmal in einem Artikel getan hat. Aber wenn es auch im freien Geistesleben selbst­verständlich alle möglichen sonderbaren Käuze geben wird, die Majo­rität wird das nicht sein können, sondern die Majorität wird eben gerade durch die innere Kraft und Impulsivität des Geisteslebens zu einem anderen erzogen werden. Man kann selbstverständlich derlei Gedankenleerheit, wie sie der Graf Keyserling der Welt gibt, leicht

160

der Welt geben, wenn man die soziale Position so bekommen hat aus alten Blutsverhältnissen heraus wie der Graf Keyserling, und wenn man vielleicht noch einige Unterstützung von anderen Seiten her, die jetzt nicht erwähnt zu werden brauchen, dann für die Er­richtung solcher «Weisheitsschulen» bekommt. Aber niemals wird in einem freien Gesitesleben solche Torheit irgendwie aufkommen können. Denn da werden ganz gewiß genügend Leute da sein, die solches ausscheiden.

Sehen Sie, worauf es mir in jenem Vortrag hier angekommen ist, das war, hinzuweisen scharf auf die Leerheit und Abstraktheit der Keyserlingschen Auseinandersetzungen, auf das Unwirklichkeitsge­mäße. Und wer sich gut erinnert, der wird wissen, daß ich zuerst diese Leerheit und Abstraktheit, dieses Unsubstantielle, Phrasenhaf­te, charakterisiert und dann hinzugefügt habe: Wer sich so in leeren Abstraktionen und in Phrasenhaftigkeit ergeht, der ist dann genö­tigt, wenn er an etwas stößt, was einen substantiellen Inhalt hat, in die Unwahrheit zu verfallen. Das war der Zusammenhang. Und auf diesen kam es dazumal ganz wesentlich an. Und was wird nun dar­aus gemacht? Es wäre ja interessant, zu erfahren, was ein Mann, dem man vorgeworfen hat, daß er an Leerheit, an intellektualistischer und spiritueller Atemnot leide, was ein solcher Mann vorzubringen hat zu seiner Verteidigung. Aber der Graf hat darauf folgendes zu sa­gen in seiner Zeitschrift «Der Weg zur Vollendung, Mitteilungen der Gesellschaft für freie Philosophie, Schule der Weisheit». Er sagt, und er meint mich, daß er meine Weisheit blutlos, abstrakt und leer findet und behauptet, er könne immer schon im voraus sagen, was Leute meines Schlages vorbringen könnten; das Wesentliche meiner Philosophie sei «seelische Atemnot, ein innerliches Nach-Luft-Schnappen», und von Anthroposophie hätte ich «keinen Dunst, nicht einmal einen blauen». Sie sehen also, es ist durch die Art und Weise, wie ich diese Charakteristik gegeben habe, der Graf Keyser­ling selber charakterisiert. Aber er ist in dieser Beziehung wirklich nur ein Beispiel. Gerade dasjenige, was im gegenwärtigen Geistes­leben als der Hauptton enthalten ist, das führt schließlich auf solche Dinge zurück.

161

Wir haben tatsächlich durch die Entwickelung gerade des abstrak­ten Geisteslebens in den letzten Jahrhunderten die Möglichkeit er­halten, daß ganz ausgezeichnete Gelehrte auf irgendeinem Gebiete auftreten, die eigentlich im Grunde genommen doch keinen richti­gen, inhaltsvollen Gedanken fassen können. Dafür ist ein gutes Bei­spiel der ausgezeichnete Biologe Oscar Hertwig von der Berliner Universität. Wenn Sie sein Buch lesen, in dem er den Darwinismus kritisiert, so werden Sie nicht anders können als sagen: Das ist ein Mensch, der restlos bedeutend genannt werden muß in seinem Fach. Und das Buch «Das Werden der Organismen», so heißt es, ist ein gutes Buch. Aber man braucht nichts, um ein solches gutes Buch zu schreiben, als in dem Mechanismus des gedankenlosen experi­mentellen Forschens drinnenzustehen, fleißig zu sein, ein wenig be­fördert zu werden - er wurde ja hineinbugsiert in eine gewisse Cli­que als Haeckel-Schüler -, und kann da, wenn die Verhältnisse gün­stig sind, ein ganz bedeutender Mensch sein. Er ist ja so bedeutend, daß er sogar ausersehen worden ist, in Berlin dem ehemaligen deut­schen Kaiser Wilhelm II. zu seiner Weisheit noch einiges hinzuzufü­gen, daß er ihm vortragen durfte über besonders Sensationelles aus der Erforschung der niederen Lebewesen! Nun, bald nachdem das Buch über den Darwinismus erschienen war von Hertwig, das also ein ausgezeichnetes Buch ist auf seinem Gebiete, hat Hertwig auch ein Buch über soziale Fragen erscheinen lassen. Das ist nun nichts anderes als eine Zusammenstellung von lauter Unsinn, Zeile für Zei­le. Warum? Ja, sehen Sie, bei dem Buche «Das Werden der Organis­men» brauchte man nicht zu denken. Da lebte man ja drinnen in dem Mechanismus des modernen Wissenschaftsbetriebes. Zum Fäl­len eines gesunden Urteils auf sozialem Gebiet ist es aber notwen­dig, daß man selber anfängt zu denken. Da zeigte es sich also, daß der große Gelehrte überhaupt nicht in der einfachsten, primitivsten Weise denken kann.

An solch konkreten Beispielen muß man anfassen die Tatsache, daß wir in einem sogenannten Wissenschafts- und Geistesleben drin­nenstehen, das im Grunde genommen geführt werden kann mit Ausschluß eines jeglichen wirklichen selbständigen Denkens. Und

162

indem immer mehr und mehr ein solches Geistesleben führend wur­de, versickerte das wirkliche Denken, das inhaltvolle, substantielle Denken, immer mehr und mehr.

Und man erlebte dann das Sonderbare, daß man die Begabungen der Kinder prüfen will mit experimenteller Psychologie, indem man irgendwelche unsinnig zusammengestellte Wörter dem Gedächtnis einverleibt, um dieses Gedächtnis festzustellen, oder ähnliche Witz­chen, die man als «exakt wissenschaftlich» ausgibt, die in Amerika noch ärger grassieren als in Europa, die aber in Deutschland schon recht hoch gekommen sind. Indem man dies hineinträgt in das Schulleben, bedeutet das nichts anderes, als daß wir so stark den Menschen herausgestellt haben aus dem sozialen Leben, daß der Lehrer keine Beziehung mehr zum Kinde hat, daß er nicht mehr aus dem Kinde heraus, sondern daß er durch Apparate feststellen muß, wozu der Betreffende befähigt ist. Und wenn der Bolschewismus in Rußland noch lange macht, so wird diese Methode in Rußland viel­leicht noch in einem sehr erheblichen Maße an Stelle der Prüfungen gesetzt werden. Man wird die Kinder wie Maschinen abprüfen, ob sie etwas taugen oder nichts für das Leben. Zu den Idealen des Lunatscharskij gehört das schon.

Diese Dinge muß man unbefangen charakterisieren, dann wird man doch vielleicht nach und nach ein Gefühl bei den Menschen der Gegenwart hervorrufen von dem, was so handgreiflich zeigt, wie wir eine Erneuerung, eine Befruchtung des Geisteslebens brauchen, und wie diese Erneuerung, diese Befruchtung auf dem Boden der Abgliederung des Geistigen von den anderen sozialen Gliedern sich vollziehen kann. Wir müssen versuchen, in diesen Dingen an Erscheinungen der Gegenwart, die wir in aller Schärfe vorführen, illustrativ zu wirken.

163

NEUNTER VORTRAG Stuttgart, 16. Februar 1921 (abends)

Wie es auf der einen Seite notwendig ist, durch ein Eingehen auf die Fäden des geistigen Lebens in der Gegenwart den Leuten die Not­wendigkeit der Abgliederung und freien Gestaltung des Geistes­lebens zu zeigen, so ist es auf der anderen Seite notwendig, alles herbeizutragen, was zuletzt zeigt, wie das Wirtschaftsleben auf den Boden des assoziativen Prinzips gestellt werden muß.

Es muß da vor allen Dingen ein sicheres Urteil der Menschen darüber herausgefordert werden, daß der einzelne Mensch nicht in der Lage ist, irgendwie im wirtschaftlichen Leben etwas zu tun, was sich in dieses wirtschaftliche Leben fruchtbringend einfügen kann. Im geistigen Leben ist es einmal so, daß das Urteil zuletzt immer doch vom einzelnen Menschen ausgehen muß; daher muß durch ein freies Geistesleben der einzelne Mensch voll zur Geltung kommen kön­nen; es muß der Zustand herbeigeführt werden, durch den ein jeder gemäß seinen Fähigkeiten ganz individuell zur Geltung kommen kann. Im Wirtschaftsleben würde das gar nichts nützen. Im Gegen­teil, es würde schädlich sein, weil das wirtschaftliche Urteil eines einzelnen Menschen überhaupt keinen Wert hat. Es kann niemals in Wahrheit in der Wirklichkeit wurzeln.

Gerade wenn man auf anthroposophischem Boden steht, wird man dieses einsehen. Denn was Geistesleben ist, fließt zuletzt aus dem Innern des Menschen heraus. Der Mensch muß das, was er sich mitbringt durch die Geburt, aus sich heraus gestalten. Allerdings ge­staltet er es im Wechselverkehr mit der Umgebung heraus. Er er­wirbt sich auch Erfahrung, sei es äußere, sei es innere, sei es physi­sche, sei es geistige Erfahrung. Aber der Prozeß, den da der Mensch abwickelt, der muß aus seinen ganz individuellen Fähigkeiten kom­men. Nun haben wir, wenn wir ins Wirtschaftsleben eingreifen wol­len, nichts in unserer Menschlichkeit, das irgendwie ebenso maßge­bend sein könnte für das soziale Leben wie die individuellen Fähig­keiten des einzelnen Menschen.

164

Diese individuellen Fähigkeiten bereichern das allgemeine Leben der Menschheit, wenn sie der Mensch anwendet. Wenn er sie ein­fach anwendet, wird das Gemeinschaftsleben bereichert. Im Wirt­schaftsleben als solchem, das heißt, sofern man es zu tun hat mit dem Austausch und der Bewertung von Waren, liegt aus dem Men­schen heraus nichts anderes vor als seine Bedürfnisse. Der Mensch weiß gewissermaßen als Einzelner nichts über das Wirtschaftsleben und seine Notwendigkeiten durch etwas anders als durch seine Be­dürfnisse; er weiß, daß er in einem gewissen Maße essen und trinken muß, er hat einzelne individuelle Bedürfnisse. Aber diese individuel­len Bedürfnisse haben nur eine Bedeutung für ihn selbst, lediglich für ihn selbst.

Was ein Mensch geistig produziert, hat für alle anderen eine Be­deutung; was er geistig produziert, ist in der Tat von vornherein von sozialer Bedeutung. Die Bedürfnisse, die ein Mensch hat, und um derentwillen er wünschen muß, daß es ein Wirtschaftsleben gibt, ha­ben nur für ihn Bedeutung. Er könnte wirtschaftlich nur wissen, wie er für sich selber zu sorgen hat. Das liefert aber durchaus in kei­ner Weise irgendwie einen sozialen Maßstab, nirgends die Grundlage für ein soziales Urteil. Denn es wird einfach ausgeschlossen, was im sozialen Leben wirken soll, wenn man nur einen Maßstab hat für das, was man selber braucht. Daher läßt sich auf jene Erkenntnis, die aus den eigenen Bedürfnissen genommen ist, niemals ein soziales Urteil aufbauen. Der einzelne Mensch hat keinen Boden für ein so­ziales Urteil. Wenn er aus dem, was er als einzelner Mensch ist, her­aus handelt, also einfach auf seine Bedürfnisse Rücksicht nimmt, dann seinen Verstand und seine Fähigkeiten anwendet, jetzt nicht, um irgend etwas für die Allgemeinheit zu produzieren, wie im Gei­stesleben, sondern um seine Bedürfnisse zu befriedigen, so wirkt er unter allen Umständen als ein antisoziales Wesen.

Das ist es auch, warum alle Gescheitheit nichts hilft, wenn es sich um wirtschaftliche Urteile handelt. Ich muß immer wieder und wiederum das Beispiel anführen von der Verteidigung der Gold­währung im Laufe des 19. Jahrhunderts. Sie können, wenn Sie die Parlamentsberichte und sonstiges lesen, was zum Beispiel auch

165

von Praktikern ausgegangen ist zur Verteidigung der Goldwährung in einzelnen Ländern, überall tatsächlich einen großen Aufwand von individuellem Scharfsinn finden. Was da gesprochen worden ist, war eigentlich restlos gescheit - könnte man sagen. Man gewinnt Respekt vor der menschlichen Kapazität, wenn man die Reden, die da gehalten worden sind über die Goldwährung, heu­te noch durchliest. Aber gerade, was die gescheitesten Leute ge­sagt haben, gipfelte immer darin, daß die Goldwährung wesentlich dazu beitragen werde, den freien Handel in der Welt zu begün­stigen. Und die Gründe, die vorgebracht worden sind zur Erhär­tung dieses Urteils, daß der freie Handel hervorgehen werde aus der Goldwährung, sind eigentlich unanfechtbar. Aber das Gegen­teil davon ist überall eingetreten! Es ist überall im Gefolge der Goldwährung das Bedürfnis nach Schutzzöllen und dergleichen entstanden. Es ist überall die Einschränkung des freien Handels entstanden. Und es zeigt dieses Beispiel im eminenten Maße, daß den wirtschaftlichen Fragen gegenüber die individuelle mensch­liche Gescheitheit nichts hilft, selbst wenn sie so stark hervortritt wie dazumal im 19. Jahrhundert. Man irrt als einzelner Mensch, wenn man aus den individuellen Urteilen heraus wirtschaftlich handeln will.

Daraus ergibt sich mit apodiktischer Sicherheit die Notwendig­keit der Assoziationen. Nur dadurch, daß Menschen, die in den ver­schiedensten Zweigen und Elementen drinnenstehen, sich assoziie­ren, und das, was der eine weiß auf dem einen Gebiet dadurch, daß er nicht seine Bedürfnisse kennenlernt, sondern diejenigen der ande­ren, mit denen er es zu tun hat, ergänzt und erweitert wird durch dasjenige, was ein anderer weiß, nur dadurch entsteht ein gemeinsa­mes Urteil, das dann in wirtschaftliches Handeln übergehen und zu einer sozialen Gesundung führen kann. Es gibt gar keine Möglich­keit, zu entgehen der Notwendigkeit der Assoziation, wenn man einfach auf diese Grundtatsache hinweist. Außerdem: Was wird un­ter dem Einflusse der Dreigliederung aus dem Wirtschaftsleben als solchem? Was haben wir denn eigentlich im Wirtschaftsleben? Wir haben da drei Faktoren.

166

Der erste ist derjenige, der entspringt aus der Sachkenntnis gegen­über der Produktion von dem oder jenem. Man muß Sachkenner sein, ganz gleichgültig, ob man Steinkohlen zutage fördern will, oder ob man Getreide anbauen oder Vieh züchten oder irgendeine Industrie versorgen will, man muß Sachkenner sein.

Das zweite ist: Es muß innerhalb unseres heutigen Wirtschafts­lebens der Verkehr mit den Gütern, mit den Lebensgütern, in der richtigen Weise geleitet werden. Es muß der Handel in der richtigen Weise geleitet werden. Die Güter müssen an die Orte gebracht wer­den, wo sie gebraucht werden. Denn nur dort haben sie ihren eigent­lichen Wert. Sonst sind sie keine Waren, sondern nur Gegenstände. Man muß das unterscheiden. Irgend etwas, selbst ein Nahrungsmit­tel, kann, wenn es an irgendeinem Orte ist, durchaus bloß ein Ge­genstand sein und keine Ware. Denn wenn an irgendeinem Orte un­geheuer viele Nahrungsmittel einer bestimmten Qualität sind, ohne daß die Leute sie brauchen, so sind davon nur soviel Waren, als die Leute aufbrauchen können. Die anderen sind bloß Gegenstände, und sie werden erst zur Ware, wenn sie an die Orte kommen, wo sie gebraucht werden können. Ohne den Handel ist kein Objekt eine Ware. Das ist durchaus das zweite, um was es sich handelt. Aber die­ses zweite hängt innig zusammen mit der menschlichen Arbeit. Denn die Verwandlung der Natur- und anderen Objekte aus Gegen­ständen in Waren geschieht eben durch menschliche Arbeit. Wenn Sie nachdenken, so werden Sie finden, daß diese Umwandlung von Gegenständen in Waren eigentlich ganz äquivalent ist der Aufwen­dung von menschlicher Arbeit. Die Arbeit fängt an bei dem, was wir der Natur entnehmen. Da ist durchaus immer möglich, bis zu dem Gegenstandscharakter des Objekts zurückzugehen, und kommt man bis zu diesem zurück, dann kann man noch nicht von irgendeinem volkswirtschaftlichen Charakter des Objektes spre­chen. Volkswirtschaftlich wird die Sache erst dann, wenn sie in den Verkehr kommt. Nur dadurch wird sie zu etwas, was in der ganzen Volkswirtschaft eine Bedeutung hat. Das aber hängt zusammen mit der ganzen Gliederung, Entfaltung der menschlichen Arbeit, mit Art und Zeit und so weiter der menschlichen Arbeit.

167

Das dritte in der Wirtschaft ist, daß man die Bedürfnisse kennt. Denn nur dadurch, daß die Bedürfnisse bekannt sind über ein gewis­ses Territorium hin, kann in vernünftiger Weise produziert werden. Ein Gegenstand, der zu viel produziert wird, wird ganz unweiger­lich zu billig; und ein Gegenstand, der zu wenig produziert wird, wird ganz unweigerlich zu teuer. Es hängt der Preis davon ab, wie­viel Leute an der Produktion eines Gegenstandes beteiligt sind. Das ist die Grund- und Lebensfrage der Volkswirtschaft, daß von der Bedürfnis-Befriedigung, und zwar von der freien Bedürfnis­Befriedigung, ausgegangen wird. Was da vorliegt, kann, weil es in ei­nem lebendigen Prozeß ist, nicht durch die Statistik festgesetzt wer­den, sondern nur dadurch, daß assoziierte Leute über ein bestimm­tes Territorium hin einfach, indem sie menschlich bekannt werden mit denjenigen, die das oder jenes Bedürfnis haben, die Summe der Bedürfnisse menschlich kennen und vom rein menschlichen, leben­digen Standpunkt, nicht vom Standpunkt einer Statistik, wiederum darüber verhandeln können, wieviel Leute zur Produktion eines Ar­tikels notwendig sind. So daß man im Assoziationsleben drinnen zu­nächst diejenigen Menschen hat, die darauf ausgehen, sich über ein Territorium hin, das sich ja aus wirtschaftlichen Unterlagen ergibt, zu unterrichten über die vorhandenen Bedürfnisse, und den Willen entwickeln, Verhandlungen einzuleiten darüber, wieviel Leute in ir­gendeinem Wirtschaftszweige produzieren müssen, damit die Be­dürfnisse befriedigt werden können. Das alles muß verknüpft sein damit, daß man einen Sinn hat für die Freiheit der Bedürfnisse. Es darf in keiner Weise irgendeine Ansicht herrschen bei denjenigen, die zunächst die eben charakterisierte Aufgabe haben, ob irgendein Bedürfnis berechtigt ist oder nicht, sondern es muß sich lediglich handeln um das objektive Konstatieren eines Bedürfnisses.

Die Bekämpfung sinnloser Bedürfnisse, luxuriöser, schädlicher Bedürfnisse, obliegt nicht dem wirtschaftlichen Assoziationsleben, sondern lediglich dem Einfluß des geistigen Lebens. Sinnlose, schäd­liche Bedürfnisse müssen dadurch aus der Welt geschafft werden, daß vom geistigen Leben die Belehrung darüber ausgeht, daß die Be­gehrungen, die Empfindungen veredelt werden. Ein freies Geistesleben

168

wird durchaus in der Lage sein, das zu tun. Grob ausgedrückt:

Kinos dürfen nicht polizeilich verboten werden, sondern die Leute müssen so gebildet werden, daß sie keinen Geschmack daran finden. Das ist die einzige gesunde Bekä mpfung schädlicher Einflüsse im so­zialen Leben. In dem Augenblicke, wo von Wirtschafts oder Staats wegen die Bedürfnisse als solche taxiert werden, haben wir es nicht mehr mit einer Dreigliederung des sozialen Organismus zu tun, son­dern mit einer chaotischen Durcheinandermischung von geistigen, wirtschaftlichen und sonstigen Interessen. Die Dreigliederung muß durchaus bis in die innersten Fasern hinein ernst genommen wer­den. Es muß das Geistesleben tatsächlich auf seine Freiheit gestellt werden. Es ist nicht frei, wenn irgendeine so oder so geartete Zen­surbehörde da ist, wenn dieses oder jenes verboten werden kann, was im Bereich der menschlichen Bedürfnisse liegt. Man kann noch so wettern, wenn man gerade fanatischen Sinn hat, gegen Kinos; das beeinträchtigt das freie Geistesleben nicht. In dem Augenblick, wo man nach der Polizei schreit, wo man schreit: Das sollte verboten sein, beeinträchtigt man das freie Geistesleben. Das muß festge­halten werden, und man darf da nicht zurückschrecken vor einem gewissen Radikalismus.

So hat man es also zunächst zu tun in den Assoziationen mit Leuten, die sich informieren über die Bedürfnisse innerhalb eines ge­wissen Territoriums, und die dann Verhandlungen einleiten, nicht Gesetze machen, über die notwendige Produktion.

Sie sehen also, man kann die Sache etwas anders charakterisieren, dann wird sie sich vielleicht sogar, ich möchte sagen, etwas profaner ausnehmen. Aber schließlich zur Illustration kann auch das gesagt werden: man wird zunächst in den Assoziationen objektivierte Agenturen, Agenten nötig haben, die sich eben nicht bloß dafür in­teressieren müssen, daß derjenige, für den sie Agent sind, möglichst viel verkauft, sondern welche sich fragen: Was für Bedürfnisse sind da? - und die dann sachverständig darin sind, wie man produzieren muß, damit diese Bedürfnisse befriedigt werden.

Dadurch hat man, ich möchte sagen, das eine Glied der Assozia­tionen. Das zweite Glied ist dann genommen aus der Reihe derjeni­gen,

169

welche den Verkehr zu versorgen haben, welche also, wenn ir­gendwo ein Produkt fabriziert wird, es zu verfrachten haben, repek­tive die Verhandlungen einzuleiten haben, daß es verfrachtet werde, um an den Ort zu kommen, wo man es braucht. So daß wir finden gewissermaßen Sachverständige des Konsums, Sachverständige des Handels und als drittes Sachverständige der Produktion. Die sind aber aus dem freien Geistesleben genommen, denn dieses umfaßt al­les, was aus dem Geistigen heraus durch Fähigkeiten in das produk­tive Leben einfließt. Das erste, was ich genannt habe, die Sachkennt­nis, die fließt durch Belehrung aus dem freien Geistesleben heraus.

Sehen Sie, in den Assoziationen des Wirtschaftslebens werden Vertreter aller drei Glieder des sozialen Organismus sein; nur wer­den die Assoziationen selber eben nur dem wirtschaftlichen Gliede angehören und nur mit wirtschaftlichen Angelegenheiten zu tun ha­ben: mit Warenkonsum, Warenzirkulation und Warenproduktion und der daraus hervorgehenden Preisbestimmung. Darum handelt es sich beim dreigliedrigen sozialen Organismus, daß Korporationen da sind, die bloße Kompetenz haben innerhalb des einen betreffen­den Gliedes. In den wirtschaftlichen Assoziationen wird über nichts als über Wirtschaftsfragen verhandelt; aber in den Assoziationen sit­zen natürlich die Leute, die ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zu den Verhandlungen aus dem freien Geistesleben und dem Rechtlich­Staatlichen heraus haben. Es handelt sich also gar nicht darum, daß man äußerlich schematisch nebeneinanderstellt die drei Glieder des sozialen Organismus, sondern daß Verwaltungen, Korporationen mit der Kompetenz in den einzelnen Dingen da sind. Das ist es, um was es sich handelt.

Im einzelnen geht Ihnen das klar aus den «Kernpunkten» hervor. Zunächst handelt es sich darum, daß immer appelliert wird in bezug auf das Kapital an das Geistesleben, indem man sagt: Derjenige, der Produktionsmittel zusammengebracht hat durch seine Fähigkeiten, bleibt solange dabei, wie diese Fähigkeiten vorhanden sind. Das zu bestimmen ist Angelegenheit des Geisteslebens. Dann schreibt es ihm noch so viel Urteil zu, daß er seinen Nachfolger bestimmen kann. Das gehört auch dem freien Geistesleben an. Und wenn er das

170

nicht selber kann oder will, so entscheidet die freie Korporation des freien Geisteslebens. Sie sehen, alles, was Funktion des abstrakten Kapitalismus ist, geht über in das Wirken des freien Geisteslebens innerhalb des Wirtschaftslebens. Das ist geradeso wie im mensch­lichen Organismus. Das Blut hängt zusammen mit dem Zirkulations­system, aber es geht in den Kopf über und durchpulst den Kopf. Ge­nau ebenso ist es beim wirklichen sozialen Organismus. Daher ist es schon in gewissem Sinn fatal, daß, namentlich im Ausland, beson­ders in nordischen Ländern>, so stark die Tendenz Platz gegriffen hat, zu sagen «Dreiteilung» des sozialen Organismus, statt «Dreiglie­derung». Dieser «dreigeteilte» soziale Organismus ruft natürlich furchtbare Mißverständnisse hervor. Es handelt sich um eine Gliede­rung, die nicht eine Teilung ist. Die einzelnen Glieder müssen durchaus ineinanderwirken. Dafür müssen wir ein deutliches Ver­ständnis hervorrufen.

Und man> kann die Hoffnung haben, daß die vernünftigen Bour­geois ebenso wie die Proletarier nach und nach dennoch zu einem Verständnis der Sache kommen werden. Wir haben davon in Stutt­gart durchaus schon den Anfang gehabt im Jahre 1919; anderswo ist vielleicht auch schon da oder dort ein Anfang gemacht worden. Aber es ist eben zunächst die Gegnerschaft aus allen Ecken so tätig geworden, daß wir mit unseren paar Menschlein vorläufig nicht standhalten konnten. Daher haben wir Ihre starken Kräfte jetzt her­beigerufen, damit wieder eine Art Stärkung unseres Eintretens für die Dreigliederung des sozialen Organismus eintreten könne. Es ist jetzt schon durchaus notwendig, daß, ich möchte sagen, ein starker Vorstoß unternommen werde für alles, was hervorgeht aus anthro­posophischer Geisteswissenschaft und was Dreigliederung des sozia­len Organismus ist. Denn in einer gewissen Beziehung handelt es sich doch um vorläufiges Sein oder Nichtsein. Darüber sollten wir uns gar keiner Täuschung hingeben.

Aber wir müssen überall auf große Klarheit hinarbeiten. Deshalb versuchte ich auch jetzt wiederum, eine möglichst klare Vorstellung zu geben von dem assoziativen Leben. Wenn über Assoziationen noch weiter etwas gewußt werden will, dann können wir das ja heute

171

abend noch durch die Beantwortung von allerlei Fragen erledigen. Das muß überhaupt durch unsere Vorträge hindurchgehen, daß wir nach Klarheit streben und daß wir geradezu ein Verständnis dafür hervorzurufen versuchen, wie die Unklarheit in unseren öffentli­chen Zuständen, in unseren sozialen Zuständen, unsere jetzige Lage herbeigeführt hat. Ich will Ihnen dafür ein Beispiel geben.

Wenn man heute gefragt wird nach diesem oder jenem, dann kommen die Leute mit den schematisierten Fragen. Sie fragen einen:

Wie verhält es sich mit dem Kapital, wie mit dem Kleingewerbe, wie mit Grund und Boden und so weiter? - Nun, mit Bezug auf gesunde soziale Verhältnisse ist die Grund- und Bodenfrage erledigt in mei­nen «Kernpunkten», obwohl sie scheinbar nur in einem Nebensatz berührt worden ist. Aber alles, was sonst darüber heute in Diskus­sionen figuriert, das rührt davon her, daß gerade Grund und Boden in einer unglaublich verworrenen Weise in unserem sozialen Leben drinnensteckt.

Als das neuere Wirtschaftsleben heraufkam und den Warencha­rakter allem aufdrückte, zum Beispiel auch der Arbeit, daß man also alles kaufen kann, da wurde auch der Boden zur Ware. Man konnte ihn kaufen und verkaufen. Aber was steckt eigentlich in diesem Kaufen und Verkaufen des Bodens drinnen? Wenn man das einse­hen will, so muß man in sehr primitive Verhältnisse zurückgehen, in denen der Feudalherr entweder durch Eroberung oder sonstwie sich einen gewissen Boden erworben hatte und ihn abgab an diejeni­gen, die ihn bearbeiten sollten, die dann in natura oder in Abgaben anderer Art ihm eine gewisse Quote zurückgaben, was zunächst den Ursprung der Grundrente bedeutet. Aber wofür gaben ihm die Leu­te diese Grundrente, ihm, dem Feudalherren oder der Kirche, dem Kloster, wofür gaben sie das? Was machte es ihnen plausibel, daß sie solche Abgaben leisteten? Nichts anderes machte es ihnen plausibel, als das, wenn sie als kleine Besitzer auf ihrem Grund und Boden ar­beiteten, um zu ackern und zu ernten, da jeder Nächstbeste kom­men und sie fortjagen konnte. Grund und Boden bearbeiten kön­nen, erfordert Schutz des Grund und Bodens. Nun hatten meist die Feudalherren selber ein Heer, das sie aus den Abgaben unterhielten,

172

und das war zum Schutz des Grund und Bodens. Und die Grundren­te wurde bezahlt nicht etwa für das Recht, den Boden zu bearbeiten, sondern für den Schutz des Bodens. Das Recht, den Boden zu bear­beiten, war durchaus entsprungen aus der Notwendigkeit, da ja der Grundherr nicht selber den ganzen Boden bearbeiten konnte. Das hatte nichts zu tun mit irgendwelchen anderen Verhältnissen. Aber geschützt mußte der Grund und Boden werden. Und dafür lieferte man die Abgaben. Ebenso lieferte man die Abgaben an die Klöster. Die Klöster unterhielten selbst wiederum Heere, mit denen sie den Grund und Boden schützten, oder sie waren durch irgendwelche Verträge da oder dort so gebunden, daß durch irgendwelche anderen Macht beziehungen der Boden> gesichert war. Wenn Sie den Ursprung der Grundrente aufsuchen, so müssen Sie sie als Abgabe ansehen für den Schutz des Grund und Bodens. Wenn wir diese ursprüngliche Bedeutung der Grundrente ins Auge fassen>, so sehen wir daran, daß sie sich bezieht auf Zeiten, wo sehr primitive Verhältnisse herrsch­ten, wo in> wirtschaftlicher Beziehung souveräne Feudalherren oder Klöster herrschten, die niemandem gehorchten.

Diese Verhältnisse hörten, zuerst im Westen und erst später in Mitteleuropa, dadurch auf, daß allmählich gewisse Rechte, die die einzelnen hatten - in gewissen Gegenden Deutschlands hörten sie am allerspätesten auf, Einzelrechte zu sein -, übertragen wurden auf einzelne Fürsten, was durchaus nicht ein wirtschaftlicher, sondern ein politischer Vorgang war. Es wurden die Rechte übertragen. Mit der Übertragung der Rechte wurde auch dasjenige übertragen, was zum Schutze da war von Grund und Boden. Es wurde dann dem Fürsten notwendig, die Heere zu halten. Dafür mußte er natürlich eine Abgabe fordern. Es kam allmählich dasjenige, was uns heute so schwer aufliegt, die Systematisierung des Steuerwesens. Die kam hinzu zu dem anderen, aber das andere blieb kurioserweise! Es ver­lor seinen Sinn, denn derjenige, der jetzt der Großgrundbesitzer war, der brauchte nichts mehr auszugeben zum Schutz von Grund und Boden, dafür war jetzt der Territorialfürst oder der Staat da. Die Grundrente blieb aber doch. Und sie ging allmählich mit dem neuen Wirtschaftsleben über in die gewöhnliche Warenzirkulation. Dadurch,

173

daß der Zusammenhang zwischen Grundrente und Grund und Boden den Sinn verlor, konnte die Grundrente zu einem Ge­winnobjekt gemacht werden. Es ist der reine Unsinn, der da Realität geworden ist. Es ist etwas im Zirkulationsprozeß der Werte drin­nen, das im Grunde genommen seinen Sinn vollständig verloren hat, mit dem aber doch heute gehandelt wird wie mit einer Ware.

Solche Dinge sind überall in unserem Volkswirtschaftsleben nachzuweisen. Sie sind aus irgendwelchen berechtigten Dingen ent­standen. An die Stelle dieser berechtigten Dinge hat sich etwas ande­res gesetzt. Aber das Alte ist geblieben. Und da hat irgendein neuer Prozeß die Sache aufgegriffen und das Sinnlose in das soziale Leben hineingestellt.

Wenn man nun einfach das Wirtschaftsleben so nimmt, wie es ist - wenn man also Professor der Nationalökonomie ist und damit die Aufgabe hat, möglichst wenig zu denken in dem Sinne, wie ich es vorhin charakterisiert habe -, dann definiert man die Grundrente so, wie es heute drinnensteht in den Büchern. Und als etwas so Sinn­loses figuriert sie auch heute im Leben. Sie sehen also, wieviel man zu tun hat, um dahin zu kommen, den Menschen verständlich zu machen, daß wir nicht nur Unsinn haben in unserem Denksystem, sondern auch überall im Wirtschaftsleben. Und wenn der einzelne seufzt unter dem Wirtschaftsleben, so ist es tatsächlich mit aus sol­chen Untergründen heraus. Es handelt sich heute schon darum, daß man zu einem gründlicheren, vorurteilsloseren>, umfassenderen Denken kommt, als das ist, was entwickelt werden kann, wenn man in den heutigen Bildungsanstalten sitzt.

Denn schließlich: was für ein Denken entwickelt man da heute? Man entwickelt das Denken, das vielleicht durch die Mathematik bezeichnet werden kann. Aber das wird so entwickelt, daß es abseits steht von aller Wirklichkeit. Man entwickelt dann das Denken, das am Experiment gelernt werden kann, das an der Systematik gelernt werden kann, entwickelt dasjenige Denken, das endlich bei solchen Leuten wie Poincaré, Mach und so weiter zu einer bloßen Formalität, zu etwas geworden ist, was sie bloß «Zusammenfassen der äußeren Wirklichkeit> nennen. Kurz, man entwickelt überhaupt kein Denken!

174

Und darum, weil man kein Denken entwickelt, kann man in der Nationalökonomie im Grunde genommen gar nichts anfangen.

Ja, es hat sich nach und nach sogar eine nationalökonomische Methode herausgebildet - besonders schlau hat sie Lujo Brentano ge­handhabt -, die aus begreiflichen Bedürfnissen heraus die Theorie entwickelt, man solle überhaupt nicht nachdenken darüber, wie das wirtschaftliche Leben sein soll, sondern es nur richtig beobachten. Nun, man soll sich vorstellen, wie man irgendwie zu einer Wissen­schaft vom Wirtschaftsleben kommen soll durch das bloße Beobach­ten! Es wäre so, wie wenn man dem Pädagogen anempfehlen wollte, er solle bloß die Kinder beobachten. Es würde ja niemals eine Akti­vität daraus entstehen können. Daher sind unsere nationalökonomi­schen Theoretiker so furchtbar steril, weil sie die sich passiv zur äußeren Wirklichkeit stellende Methode haben.

Und die Kehrseite davon zeigt sich, wenn die Menschen nun wirklich anfangen, ins Wirtschaftsleben einzugreifen. Sie entwickel­ten auf der einen Seite eine Wissenschaft, die nur beobachtet. Als aber nun für Mitteleuropa der Krieg kam, sollte man plötzlich ins Wirtschaftsleben eingreifen, sogar bis zur Beeinflussung der Preisbil­dung. Was ist da herausgekommen? Der Nationalökonom Terhalle hat ja das zusammengefaßt, was dabei herausgekommen ist: Erstens, sagte er, und dafür führt er unzählige wissenschaftliche Belege an in seinem Buche über «Freie oder gebundene Preisbildung?>, erstens: es sind die Dinge so gemacht worden, daß man sieht, die Leute, die es gemacht haben, haben überhaupt nicht gewußt, worauf es ankommt.

Zweitens: es sind zugrunde gelegt worden theoretische Schematis­men, die mit der Wirklichkeit so wenig zu tun haben, daß, indem sie angewendet wurden, sie die Wirklichkeit ruinierten. Drittens: es ist bei der Beeinflussung der Preisbildung dazu gekommen, daß den einzelnen Gewerben nicht genützt, sondern geschadet worden ist; und viertens: es ist das ehrliche Handwerk und Gewerbe zugunsten des Schiebertums geschädigt worden! Denken Sie nur einmal, was es bedeutet, daß ein offizieller Nationalökonom aus nationalökonomi­schen Untersuchungen heraus über die politisch-staatliche national-ökonomische Tätigkeit der letzten Jahre das Urteil fällen muß:

175

sie habe das Schiebertum begünstigt auf Kosten des ehrlichen Ge­werbes und Handwerkes! Man muß nur fühlen, was das eigentlich bedeutet. Diese Dinge müssen den Leuten gesagt werden, möglichst deutlich, damit man sieht, wie ohnmächtig unsere Zivilisation gegenüber der Wirklichkeit geworden ist.

Wenn wir nicht darauf eingehen, solche Dinge, wie ich sie Ihnen eben mit Bezug auf die Grundrente gesagt habe, klarzustellen, so werden wir nicht dazu kommen>, die Notwendigkeit der Assoziatio­nen den Leuten zu zeigen; denn denken Sie sich nur einmal in der notdürftigsten Weise die Assoziationen installiert: sofort tritt die Erfahrung zutage, wie schädlich auf die Preisbildung all die unnatür­lichen Dinge wirken, die im Wirtschaftsleben drinnenstehen. Das kann natürlich nicht zutage treten, wenn man das Wirtschaftsleben so versorgt, daß die Agenten auf das Land gehen und für die einzel­nen Unternehmungen Geschäfte machen. Da kann ihnen nicht ent­gegentreten der Zusammenhang zwischen Produktion und Kon­sum. Sie haben nicht das Interesse, das Augenmerk darauf zu rich­ten, wieviel produziert werden soll. Für sie gilt nur die eine, selbst­verständliche «Wahrheit>, daß ihr Brotherr möglichst viel produzie­ren kann. Dieses Interesse an dem möglichst starken Produzieren des Brotherrn muß ersetzt werden durch die positive Kenntnis:

Wieviele Produzenten müssen da sein, weil wir gesehen haben, so und so viel ist Bedarf für einen Artikel, also dafür gesorgt werden muß, daß nicht zu viele und nicht zu wenige auf dem betreffenden> Territorium für diese Sache arbeiten? Das sachliche Interesse muß an die Stelle des Interesses für den einzelnen Unternehmer treten. Darauf kommt es bei der Assoziation an.

Nun muß man den Leuten zeigen, wie das Wirtschaftsleben, weil es so viele absurde Elemente in sich hat - denn außer der Grundren­te sind noch viele andere darinnen -, heute schon nach Zusammen­gliederung drängt. Das Kartellwesen mit den Kontingentierungen des Gewinns, der Nachfrage, des Absatzes und so weiter, das Zusam­menschließen, das Sich-Fusionieren - woraus entsteht es denn>? In Europa nimmt es mehr die Form des Kartells, in Amerika mehr die des Trusts an. Es entsteht daraus, daß durch die vielen absurden Ele­mente,

176

die im Wirtschaftsleben sind, der einzelne nicht mehr produ­zieren kann. Denken Sie nur einmal, wie anders das heute ist, wo al­les der Großunternehmung zudrängt, als es war, als der Einzelunter-nehmer als Kleinunternehmer im Wirtschaftsleben drinnenstand. Was kann der Mensch heute einzig und allein fragen, wenn er als Unternehmer auftreten will? Er kann nichts anderes fragen als: wie die Marktlage irgendeines Artikels beschaffen ist, ob irgendein Arti­kel begehrt wird. Ein Artikel, der begehrt wird, erscheint aussichts­voll, ein Artikel, der nicht begehrt wird, eben nicht aussichtsvoll.

In früheren Zeiten, wo die Zahl der Unternehmer klein war, machte das nicht viel aus; erst als es zu viele wurden, gingen die ein­zelnen zugrunde. Nehmen Sie aber an, es drängt alles nach der Großunternehmung hin, wenn man für irgendeinen Artikel be­merkt, daß er gebraucht wird, daß sich da etwas verdienen läßt. Da­durch, daß man die Großunternehmung errichtet, hebt man dasjeni­ge auf, woraus man die Notwendigkeit geschlossen hat, die Großun­ternehmung zu errichten! Indem alles nach der Großunternehmung tendiert, ist das nicht mehr maßgebend, was für den einzelnen klei­nen früheren Unternehmer maßgebend war. Daher tritt diese Not­wendigkeit der Fusionierung auf. Und so haben wir die Kartelle, Trusts und so weiter, weil eben die führenden Kreise ganz sorglos waren mit Bezug auf den Konsum. Weil sie sich nicht um ihn be­kümmert haben, entstehen diese Zusammenschließungen nur aus den Interessen der Produzenten heraus. Der Konsum wird dabei nicht berücksichtigt.

Das ist das Wesentliche, daß gezeigt wird: Man kommt im Wirt­schaftsleben nicht mehr aus ohne Assoziierung. Deshalb müssen die einseitigen Assoziierungen der Kartelle und Trusts, die aber aus blo­ßem Produktionsinteresse hervorgehen, ergänzt werden dadurch, daß sie gestellt werden auf das Konsumverständnis, auf die Einsicht in die Bedürfnisse irgendeines Territoriums. So zeigen die Trusts, die Kartelle dadurch, daß sie Karikaturen sind dessen, was entstehen soll, wie notwendig es ist, sich in einer gewissen Richtung, nach der Richtung des Assoziierens hin, zu bewegen. Man muß nur aufsu­chen, wie nun die Assoziationen beschaffen sein sollen.

177

Überall muß man aus dem realen Leben heraus charakterisieren. Dann wird man vielleicht den Leuten begreiflich machen können, wie notwendig die Assoziationen für das Wirtschaftsleben sind. Und so wird es sich tatsächlich darum handeln, nach möglichst kla­ren Begriffen hin die Vorträge zu halten, die Sie nun geben wollen. Die Voraussetzung muß durchaus da sein, daß dasjenige, was in den «Kernpunkten» gegeben ist, im Grunde genommen eine Art Axiom des modernen sozialen Lebens ist. Man wird niemals nötig haben, den Pythagoreischen Lehrsatz an allen einzelnen Objekten zu be­weisen. Aber er muß sich an allen einzelnen Objekten bewähren. Ebensowenig hat man nötig, die Einsicht über die sozialen Verhält­nisse, wie sie gewonnen ist, im einzelnen zu beweisen; sie ist als sol­che durch ihren Inhalt bewiesen, wie der Pythagoreische Lehrsatz auch. Und man hat nur zu zeigen, wie sich die Dinge ins Leben hin­eingliedern müssen. Das muß berücksichtigt werden.

Und das möchte ich noch sagen: Betrachten wir doch wirklich unsere Tätigkeit so, daß sie sich anschließt an dasjenige, was schon geschehen ist. Deshalb habe ich gestern gesagt: Es ist notwendig, daß man unsere Bewegung als ein Ganzes betrachtet und sich nicht geniert, dasjenige, was getan ist, vor die Leute hinzustellen und ih­nen zu sagen, daß es da ist. Es ist ja in der Tat eine Erfahrung, die wir immer wieder und wiederum, in einer erschreckenden Weise ei­gentlich, machen: Wenn ich irgendwo hinkomme und einen Vor­trag halte, so ist ein Büchertisch am Eingang jedes Saales. Dieser wird immer nur platonisch betrachtet, wenn ich gar keine Erwäh­nung der Bücher bringe. Erwähne ich eines, so wird es gekauft. Meist ist es dann gar nicht in der genügenden Anzahl da. An den an­deren geht man platonisch vorbei. Nun, ich bedaure ja immer, daß es so viele Bücher gibt. Man kann ja gar nicht alle in einem einzelnen Vortrag erwähnen. Deshalb müssen wir uns auch mit einem Wirk­lichkeitssinn in die Gegenwart stellen. Da empfehle ich Ihnen, daß Sie keine Gelegenheit verschmähen, die Dreigliederungszeitung, wo Sie können, zu empfehlen, denn die Etappe muß erreicht werden, wo die Dreigliederungszeitung eine Tageszeitung wird. Aber wir er­reichen das nicht, wenn wir sie nicht populärer machen als sie ist.

178

Also, so weit müssen wir uns schon mit Wirklichkeitssinn begaben. Aber vergessen Sie dabei nicht, auch etwas anderes zu empfehlen! Sonst wird das andere in ganzen Stößen> ungekauft zurückgeschickt werden. Nicht wahr, es sieht sonderbar aus, wenn man in ernsten Vorträgen solche Dinge sagt; wenn man sie aber nicht sagt, werden sie heute sehr häufig auch nicht getan. Und wir sind doch zusam­mengekommen, um uns zu verständigen über diejenigen Dinge, die getan werden sollen. Denn wir wollen etwas tun in der nächsten Zeit.

179

ZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 17. Februar 1921 (vormittags)

Wenn Sie Umschau halten in der etwas erfahreneren volkswirt­schaftlichen Literatur, so wird es Ihnen, wenigstens in vielen Fällen, doch auffallen können, daß irgendwo bei den Autoren sich eine be­stimmte Bemerkung findet, die etwa so lautet : Der Volkswirtschaft-1er habe sich nicht zu bekümmern darum, wie das Volk erzogen werde oder was dem Volk mit Bezug auf seine Bedürfnisse fromme -von einem anderen Gesichtspunkt aus habe ich ja schon darauf hin­gewiesen -, das müsse er überlassen dem Ethiker, dem Hygieniker und so weiter.

Wenn Sie eine solche Bemerkung ernst nehmen, so bedeutet sie eigentlich im Grunde nichts Geringeres als den Beweis der Notwen­digkeit der Dreigliederung des sozialen Organismus. Denn was wird da gesagt? Es wird gesagt: Wenn man volkswirtschaftlich denkt, so kommt nichts heraus, was irgendwie auf Ethik, auf Hygiene abzie­len könnte, sondern was auf Ethik, auf Hygiene abzielen sollte, muß von anderer Seite her kommen.

Denkt man sich nun eine solche Bemerkung, die bis heute eigent­lich nur theoretisch gemeint war, praktisch ausgenützt, so heißt es, es ist notwendig, daß volkswirtschaftlich real geurteilt, das heißt, daß die Volkswirtschaft so angelegt werde, daß ins Urteil nur einflie­ßen diejenigen Dinge, die eben einfach ökonomisch sind, die als sehen von aller Ethik, von aller Hygiene und so weiter, und daß daneben reale Verwaltungen existieren, die da sind für die ethische Durchdringung, für die hygienische Ausgestaltung des sozialen Lebens. Die werden liegen im freien Geistesleben.

Und für Sie wird das ein wichtiger pädagogisch-didaktischer Ge­sichtspunkt sein, daß Sie gerade zeigen, wie überall die Grundlagen dafür da sind, die, in der richtigen Weise benützt, zu Folgerungen führen in bezug auf die Dreigliederung des sozialen Organismus. Man kann geradezu sagen : Die Volkswirtschaftler können, wenn sie wirklich wirtschaftlich denken, nicht anders denken, als gedacht

180

werden muß im assoziativen Glied des sozialen Organismus. Nur bleiben die Dinge, die so gedacht werden, dann nicht in den Bü­chern, sondern es bestehen Instanzen, die das auch reinlich in die Wirklichkeit überführen.

Ich erwähne dieses heute, wo ich mehr auf methodische Dinge hinweisen will, eben vorzugsweise in methodischer Beziehung, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß man überall, wo von der Dreigliederung die Rede ist, ausgehen kann von Dingen, die die Leu­te schon irgendwie gedacht haben. Nur hat keiner heute den Mut, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Das Wesentliche besteht bei uns darin, daß die notwendigen Konsequenzen für das soziale Leben gezogen werden.

Ebenso werden Sie andere Fragen zu behandeln haben, wenn Sie gerade auf das Soziale abzielen wollen. Sie werden, wenn Sie sich be­kannt machen mit der Entwickelung des volkswirtschaftlichen Den­kens, finden, daß in der neueren Zeit eine ganze Reihe von utopisti­schen Ideen aufgetreten sind. Wir brauchen mit solchen utopisti­schen Ideen vielleicht, weil die älteren weniger bedeutsam sind für die Gegenwart, nur zurückzugehen bis zum 18. Jahrhundert; aber seit dem 18. Jahrhundert wurde ja eine ganz stattliche Reihe von so­zialen Utopien ausgedacht. Warum sind solche Utopien entstanden? Das ist wichtig für Sie zu wissen, damit Sie es einfließen lassen kön­nen in die ganze Haltung Ihrer Vorträge.

Sehen Sie, für das geistige Leben liegt folgendes vor. Es führt im Grunde genommen überall zurück auf alte Urweisheit und die da­mit verbundenen Gebräuche. Nehmen Sie selbst dasjenige, was wir heute in Europa als ein ganz dekadentes Geistesleben haben : den Katholizismus auf der einen Seite und auf der anderen Seite das sehr filtrierte moderne Bildungsleben, das aber auch noch gespeist wird von den alten religiösen Vorstellungen; sie sind überall drinnen. Bis in die materialistischen Partien der Medizin hinein können Sie sie verfolgen; und in der Philologie sind sie drinnen, diese Ausläufer des theokratischen oder theologischen Denkens. Wenn Sie also sich vor­halten, wie das ganze moderne Denken durchaus imprägniert ist von diesem Element, das zurückführt auf alte Urweisheit, so werden

181

Sie begreifen, daß in der ganzen Art, wie das Geistesleben, ich müß­te jetzt sagen, sich selbst verwaltet - denn es ist ja schon anarchisch geworden, insofern es nicht in die strammen Fesseln des Staatslebens eingezogen ist -, so werden Sie bemerken, daß da auch in den Ver­waltungen die Fäden zu sehen sind, die in der Konstitution der Ter­ritorien waren, in denen alte Urweisheit geherrscht hat. In der Kir­che sehen Sie es in dem Aufbau der Hierarchien. Dieser führt auf die Anschauungen der alten Urweisheit zurück. In der Jurisprudenz se­hen Sie es vielleicht nur noch in dem Kampfe, der in dem äußeren Leben der Kampf des Materialismus gegen den Spiritualismus ist, in dem Kampf, der geführt wird von Rechtsanwälten und Richtern ge­gen das Tragen des Talars in den gerichtlichen Verhandlungen. Im Anhänger des Talars haben Sie die Reste des alten Denkens, im Kampf gegen den Talar haben Sie die moderne materialistische Denkweise. Und das hat eine viel größere Bedeutung, als man ei­gentlich denkt. Und wenn Sie all den Kram ins Auge fassen, der sich rein formal anknüpft bei einigen unserer Hochschulen an die Dok­torpromotion, so werden Sie sehr leicht die Fäden zurückverfolgen können zu dem alten theokratischen Element. Da haben wir überall darinnen etwas, was zwar den Leuten abhanden gekommen ist, was aber auf Altes zurückweist, zurückweist darauf, daß man einmal ge­wußt hat, wie das Geistesleben zu verwalten ist. Wenn wir auch die­ses Geistesleben nicht mehr lebendig haben in unserer heutigen Zeit, die Formen haben wir drinnenstecken; und sogar die abge­legten Kleider, möchte ich sagen, haben wir noch drinnenstecken. Wir brauchen eben überall neue Formen. Die werden sich im freien Geistesleben finden.

Das andere ist dieses. In England hat sich zum Beispiel aus dem kirchlich-demokratischen Elemente das politisch-demokratische heraus entwickelt. Dies ist einfach dadurch entstanden in England, daß abgestreift worden ist der kirchliche Hintergrund und daß man die demokratische Form des Denkens herausgeschält hat. So aber ist überall eigentlich das politisch-rechtliche nach und nach herausge­boren worden aus dem theokratisch-kirchlichen Element. Nur be­merkt man es an anderen Stellen nicht mehr so genau. Es gibt zum

182

Beispiel einen geheimen Zusammenhang zwischen dem gesamten Beamtenwesen, an dessen Spitze man sich ja denken kann den abso­luten Herrscher «von Gottes Gnaden», welch letzteres gerade den Ursprung aus dem theokratisch-kirchlichen Element verrät, denn «von Gottes Gnaden» war nur derjenige, der von geistigen Behörden aus eingesetzt war. Der ganze Beamtenkörper ist einfach die profan gewordene kirchliche Hierarchie. Aber die andere Seite, die sich im Grunde genommen auch aus dem theokratisch-kirchlichen Element herausentwickelt hat, ist das Heerwesen. Das wird von den heutigen Menschen als paradox empfunden. Das Heerwesen ist aber nur das­jenige, was, wie der Schatten einem beleuchteten Gegenstand, der ganzen Organisation des staatlichen Wesens folgt. Und so hat sich, ich möchte sagen, nach und nach während der Ablösung des profa­nen Elementes vom theokratisch-kirchlichen Elemente ein gewisses Handhaben des Staatlichen herausgebildet. In allen Einzelheiten ist das nachweisbar, wenn man den Übergang der Formen der Verwal­tung ins Auge faßt, wie sie sich in jenen Zeiten noch deutlich in ih­rer theokratisch-hierarchischen Gestalt gezeigt haben, als Karl der Große einen Wert darauf legt, von dem Papst in Rom gekrönt zu werden, wie das kirchliche Leben dann in das profane übergeht, wie als Nachzügler dieses Überganges zum Beispiel die Besetzung erster Staatsstellen in Frankreich mit Kardinälen stattfindet. Wenn Sie das bedenken, so werden Sie überall das Hervorgehen dieses modernen politisch-rechtlichen Elementes im Handhaben aus dem theokra­tisch-kirchlichen Element und das Selbständigwerden der Hand­habung mit Händen greifen können. Man konnte diese Dinge selbständig handhaben.

Da hinein nun drängt sich das moderne Wirtschaftsleben, das zwar instinktive Usancen hervorgebracht hat, aber bis jetzt noch immer nicht etwas, was so innerlich durchdrungen wäre wie das alte hierarchisch-kirchliche und das staatlich-militaristische Element. Diese beiden Elemente haben die Welt zu strammer Uniformierung gebracht. Dagegen war es erst in der neuesten Zeit, daß der Trieb entstand, dasjenige bewußt zu durchdringen, was sich als das kom­plizierte Wirtschaftsleben, über das man in älteren Zeiten nicht

183

nachzudenken brauchte, weil man aus unerschöpflichen Quellen schöpfte, präponderierend in das moderne Leben hineingedrängt hat. Es ist zwar die Notwendigkeit entstanden, auch eine gewisse Handhabung des Wirtschaftslebens zu finden. Aber dieses Hand­haben ist eben noch nicht gefunden worden.

Und im Grunde genommen ist der erste Versuch, in das Wirt­schaftsleben etwas hineinzubringen, was parallelisiert werden kann dem staatlichen und dem kirchlichen Element, das assoziative Prin­zip. Es ist zum ersten Male der Versuch, wirklich im Wirtschaftsle­ben organisch etwas zu begründen. Denn das ist bisher nicht gesche­hen. Und die verschiedensten theoretischen Versuche, eine Denk-weise zu gewinnen, das Wirtschaftsleben als solches zu organisieren, das sind die utopistischen Theorien, die immer angesteckt waren von dem, was noch von früher herübergekommen ist. Da dachte man noch so: Wenn man organisiert, so muß man so organisieren, wie es im kirchlich-hierarchischen oder staatlichen Element ist - die Leute waren sich ja dessen nicht bewußt.

Und der äußere praktische Ausdruck für diese Sache ist das Auf­tauchen des wirtschaftlichen Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Denn warum ist dieser wirtschaftliche Liberalis­mus aufgetaucht? Was ist er denn? Er ist das Appellieren an die Tüchtigkeit der einzelnen wirtschaftlichen Persönlichkeiten. Eben­so war es im theokratisch-hierarchischen Element. Bevor man eine Organisation fand, mußte man appellieren an die einzelnen führen­den Individualitäten. Ebenso war es im staatlichen Element. Bevor man zum Parlamentarismus überging, mußte man appellieren an diejenigen, die die Fähigkeit hatten, das Staatliche zu verwalten. Der wirtschaftliche Liberalismus ist nichts anderes als dieses Appellieren an die individuelle Tüchtigkeit der Persönlichkeit auf wirtschaftli­chem Gebiet. Nur weil sich die Dinge in der Welt rascher entwickel­ten, ist eben auch rascher notwendig geworden, dasjenige zu finden, was nun wirklich paralysiert die schädlichen Wirkungen der absolu­tistischen einzelnen Persönlichkeit.

Nicht wahr, Sie brauchen nur die Konstitution der katholischen Kirche zu studieren, so werden Sie in dieser katholischen Kirche, die

184

einfach bewahrt eine alte Verwaltung des geistigen Lebens, überall finden, daß die Einrichtungen, die Institutionen darauf ausgehen, die Schädlichkeiten der Individualität zu bannen. Gerade dadurch kann in einer gewissen Weise die Individualität zur Geltung kommen.

Ich wohnte einmal in Wien einem Gespräche bei, in dem sich ein Professor der Wiener theologischen Fakultät, der etwas liberale Nei­gungen hatte, denen er aber nur in höchst vorsichtiger Weise frönte, beklagte, daß man ihm von Rom ganz die Kehle zuschnüre und ihm nichts vom Katheder zu äußern gestatte. Es wurde ausführlich be­sprochen, warum es zum Beispiel in Innsbruck, wo dasselbe Fach ein Jesuit verwaltete, diesem gestattet war, in der freiesten Weise über dieselben Themen sich zu äußern. Und diejenigen, die in sol­chen Dingen erfahren waren, sagten sich : Ja, der katholischen Kir­che kommt es nicht darauf an, daß zum Beispiel Exegese nicht auch frei vorgetragen werde an der Universität, sondern darauf, daß die Individuen, die in ihr drinnenstehen, eine absolute Sicherheit abge­ben, daß sie trotz ihrer liberalen Anschauungen fest in der Organisa­tion drinnenstehen, und das erreicht natürlich der Jesuit in ganz be­sonderem Maße, fest in der Organisation drinnenzustehen. Dann ist ihm auch gestattet, seine besonderen Freiheiten sich zu nehmen. Denn durch die Organisation ist nicht etwa die Individualität da zer­stört. Sie ist gar nicht zerstört. Die einzelne Persönlichkeit ist gerade in der kirchlichen Hierarchie des Katholizismus in einem hohen Maße frei. Aber denen wird die Kehle zugeschnürt, die die Dinge dem Protestantismus ähnlich nehmen, die die Dinge so nehmen, daß sie Ernst machen aus der Dogmatik; der Katholik macht nur Ernst aus der Symbolik. Bei diesen ist immer die Gefahr vorhanden, daß sie den Talar wegwerfen. Das darf aber nicht sein. Innerhalb der Kirche kann alles geschehen; außerhalb der Kirche darf sich keiner stellen.

Natürlich kann so etwas nicht nachgeahmt werden. Aber es kann angeführt werden zur Charakteristik dafür, daß das nach der ande­ren Seite hin gefunden worden ist : ältere Zeiten appellieren an die Individualität, haben aber eine solche Organisation, daß die Indivi­dualität nicht schädlich werden kann. Im Staatsleben ist die Zeit

185

auch schon vorbei, wo man gewahr wurde, daß diese beiden Seiten vorhanden sein müssen.

Im Wirtschaftsleben handelt es sich darum, daß der Übergang ge­funden wird vom wirtschaftlichen Liberalismus zum Assoziations­prinzip. Da stecken wir erst mitten in demjenigen drinnen, was ge­schehen muß. Das ist es, was uns den welthistorischen Augenblick in dieser Beziehung in seiner Wesenheit eigentlich erst enthüllt : As­soziationsprinzip im wirtschaftlichen Leben bedeutet nichts anderes als dasjenige, was notwendig kommen muß gegenüber den Ausar­tungen des wirtschaftlichen Liberalismus. Und in der modernen Zeit haben eben die Leute noch nicht, weil das Denken in gewisser Weise inaktiv ist, den Mut gefunden, zur Aktivität überzugehen, überzugehen vom liberalistischen Denken zum aktiven Denken. Aber überall ist der Versuch gemacht worden. Da macht man, wenn man aufpaßt, interessante Erfahrungen.

Ich habe letzthin einmal das kleine volkswirtschaftliche Büchel­chen aus der Göschenschen Sammlung in die Hand genommen. Da wird über den wirtschaftlichen Liberalismus gesprochen und gesagt :

Es ergab sich die Notwendigkeit, von der individualistischen Wirt­schaftsform überzugehen zu einer Art sozialer Wirtschaftsform. Und da war es notwendig, immer mehr und mehr hinüberzuführen das individualistisch Eingerichtete zu den Staatsverwaltüngen :

Staatssozialismus! Also keine Spur von einem Begreifen der Not­wendigkeit des Assoziationsprinzips, aber: Staatssozialismus! - Und an einer anderen Stelle dieses Göschenschen Büchleins - es rührte auch von einem Fuchs her, aber nicht von so einem schlimmen -fand sich folgender Satz : Und der Weltkrieg hat uns geradezu ge­zeigt, wie richtig diese Denkweise war; er meint: zu übertragen all­mählich dasjenige, was die Individuen geleistet haben, an den Staat. Ich sagte mir: Nun muß ich aber das Titelblatt aufschlagen. In wel­chem Jahr ist es einem Menschen möglich, das noch hinzuschrei­ben? Ich fand: 1918! Es war der letzte Termin, wo man dies, ohne ein Tor genannt werden zu müssen, hinschreiben konnte. [Zwi­schenruf: Verzeihen Sie, Herr Doktor: 1920! - Herr Blume weist die neueste Auflage vor]. Es fragt sich, ob es noch in der neuesten

186

Auflage steht. Hier steht «Neudruck». Wenn es noch drinnensteht, so rührt das davon her, daß die Dinge einfach in ihrer Torheit auch noch 1920 geblieben wären. In der Tat! Er hat nicht die Notwen­digkeit gehabt, nach zwei Jahren die Sache zu korrigieren! Sie sind nicht schlau, diese Füchse. Ich schlug das Titelblatt «1918» auf und sagte : Konnten da die Verhältnisse noch so sein, daß der Mensch glauben konnte, daß die Überführung desjenigen, was als Weltwirt­schaft aus dem alten System hervorgegangen ist, in die Staatswirt­schaft oder gar in die Stadtwirtschaft - ich erinnere daran, daß gera­de die Kommunen unmittelbar vor dem Ruin stehen und nächstens alle zusammenkrachen werden - das absolut Richtige sei?

Nun, was ich andeuten will, ist, daß das moderne Denken eben noch nicht den wirklichen, richtigen Übergang gefunden hat von der liberalistischen Ökonomie zu der assoziativen Ökonomie.

Es wird vielleicht überhaupt gar nicht möglich sein, daß jemand das assoziative Prinzip richtig begreift, wenn er nicht zu gleicher Zeit im vollen Sinn sich zu der Dreigliederung bekennt. Denn im Einheitsstaat wird dasjenige, was im dreigliedrigen sozialen Organis­mus richtig wirkt, sogar schädlich wirken. Und das muß scharf be­tont werden, wenigstens in der Nuance, die Sie Ihren Vorträgen ge­ben, daß zum Beispiel derjenige mit der Dreigliederung nichts zu tun hat, der nun kommt und sagt : Ja, das Geistesleben wollen wir dem Staate lassen. Die Dreigliederung wollen wir nicht. Aber die Zweigliederung - es war sogar etwas ähnliches in der Weimarer Na­tional-Versammlung angeschlagen - ja, aber Zweigliederung! Das geht : das Wirtschaftsleben abzugliedern! - Das geht aber aus dem Grunde nicht, weil ein abgegliedertes Wirtschaftsleben, assoziativ eingerichtet, ja in sich haben würde in den Assoziationen die vom Staat ganz und gar abhängigen, also nicht dem freien Geistesleben entwachsenen Menschen, die dann das Wirtschaftsleben im staatli­chen Sinne beeinflussen würden. Es würde also das ganze Wirt­schaftsleben dadurch die Staatsgesinnung annehmen.

Ebenso würden wir niemals in Wirklichkeit freie Schulen wie die Waldorfschule errichten, wenn wir zugeben würden, daß aus den staatlichen Einrichtungen heraus die Lehrer genommen würden,

187

daß also mit den Lehrern die staatliche Approbation der Lehrer mit­genommen werden müßte. Wenn man sagt, wir könnten eine freie Schule errichten, könnten das aber nur erreichen, wenn wir staatlich abgestempelte Lehrer finden, so bezeugt das, daß man von der Sache nichts versteht. Denn das bedeutet nichts anderes als dieses, daß man stehenbleibt bei dem Alten und es nur im modernen Sinne auffri­siert, also den Leuten Sand in die Augen streut. Und dazu ist die Zeit zu ernst. Was im Sinne der Dreigliederung vertreten werden soll, ist dasjenige, was die wirkliche Dreigliederung in sich hält, selbst auf die Gefahr hin, daß die praktischen Einrichtungen wegen des Wider­standes der Menschen nicht gleich erfolgen können. Das Wichtigste ist heute, daß die Dreigliederungsidee in möglichst viele Köpfe hin­ein kommt. Dadurch kommen wir doch auch am schnellsten zur praktischen Verwirklichung derselben.

Und nun noch methodisch etwas darüber, inwiefern Sie die Drei­gliederungsidee nicht vortragen können, ohne die anthroposophiscli orientierte Geisteswissenschaft, selbstverständlich in taktvoller und didaktisch-pädagogisch richtiger Weise, zugrunde zu legen. Das läßt sich auch aus der Entwickelung der Denkweise im sozialen Leben der neueren Zeit durchaus verfolgen.

Nicht wahr, es sind die verschiedensten Utopien aufgetreten und es hat sich entwickelt dasjenige System, das im weitesten Sinne bei der proletarischen Bevölkerung populär geworden ist : das marxisti­sche System. Gewiß, dieses marxistische System hat mancherlei For­men angenommen. Revisionismus nach der einen Seite, Leninismus nach der anderen Seite. Dies ist ein solcher Radikalismus, der da etwa sagt : Wir wissen wohl, daß der Marxismus die soziale Frage nicht löst, aber er wirkt zur radikalen Zerstörung alles Bestehenden und dann kommt eine andere Menschheit, die neu aufbauen wird. Aber das marxistische System liegt all dem doch zugrunde. Karl Marx hat es verstanden, sich in die Seelen der modernen proletari­schen Welt hineinzufinden. Und dadurch ist es auch den Führern der proletarischen Welt möglich, mit den marxistischen Anschauun­gen auf die proletarische Welt zu wirken. In gewisser Beziehung muß man sogar sagen, daß dieser Marxismus - nicht so sehr, wie er

188

als Theorie lebte bei Karl Marx, als wie er vielmehr lebt in den An­schauungen der breitesten proletarischen Massen - seiner Form nach weltanschauungsgemäß die modernste soziale Lebensauffas­sung ist. Die anderen, gleichgültig, ob sie von Praktikern oder von Universitätsprofessoren vertreten werden, sind immer eigentlich etwas rückständiger.

Gerade weil der Marxismus die modernste Form ist, muß er auch von denjenigen, die nun etwas wirklich Durchgreifendes wollen, scharf ins Auge gefaßt werden. Ganz selbstverständlich kann man heute nicht irgendwie in die Menschenmassen hineinreden, ohne ein geklärtes, wenigstens gefühlsmäßiges Verständnis zu haben für das­jenige, was der Marxismus bedeutet. Das Wesentliche dabei ist ja doch, daß der Marxismus jene Weltanschauung und Lebensauffas­sung ist, welche am besten der ganzen sozialen Lage des modernen Proletariers entspricht. Er ist einfach angepaßt der ganzen sozialen Lebensauffassung des modernen Proletariers. Und wenn man rein theoretisch den Marxismus bekämpft, so macht man eigentlich et­was, was der Wirklichkeit nicht gemäß ist. Man bekämpft den Mar­xismus und bedenkt nicht, daß man es ja hat dazu kommen lassen in der Realität, daß der moderne Proletarier so geworden ist, wie er ge­worden ist. Das ist zurückzuführen auf die Sorglosigkeit der übrigen Bevölkerung. Aber indem man ihn hat werden lassen, wie er gewor­den ist, konnte er nichts anderes, als den Marxismus als seine Welt­anschauung und Lebensauffassung nehmen. Denn dieser Marxismus enthält in sich durchaus für die Auffassung des Proletariats die Drei-gliederung des menschlichen sozialen Lebens. Der Arbeiter hat, in­dem er Marxist wird, aus dem Marxismus heraus seine für seine Klasse passende Anschauung über die Dreigliederung des sozialen Lebens. Die hat er da drinnen.

Denn sehen Sie, in der modernen Zeit wurde es immer mehr und mehr Sitte, von dem Konsum und seinem Durchschauen abzulen­ken und nach dem bloßen Erwerb hinzuschauen. Dabei hatte man dann nur die Notwendigkeit, von diesem Erwerben so viel abzu­lassen, daß der soziale Organismus noch verwaltet werden kann. Es interessierte einen, gleichgültig, ob Aristokrat oder Bourgeois, nur

189

so viel von dem Erträgnis des Erwerbs, als man selbst bekam und als man abgeben mußte, damit überhaupt das Ganze zusammengehal­ten werden konnte. Wie gestaltete sich das bei den Menschen, wel­che durch alte Privilegien oder sonstige Umstände in dem realen so­zialen Organismus drinnenstanden? Sie suchten soviel wie möglich aus dem Erwerb herauszuschlagen. Den Konsum achtete man nicht, und man bewilligte, allerdings nur mit Brummen, für dasjenige, was für den Zusammenhalt des Ganzen notwendig war, die Steuern. Was tat der moderne Proletarier? Der stand nur an der Maschine und außerhalb des Kapitalismus. Der bewilligte gewisse Steuern grundsätzlich nicht, wenn er nicht umfiel. Denn er hatte kein Inter­esse an der Realität des alten sozialen Organismus. Er interessierte sich auch nur für das, was übrigblieb aus dem Erwerb. Da er nicht drinnenstand in der Verwaltung des Kapitals, so wurde das bei ihm nur der Gegenstand einer Kritik dessen, was er Mehrwert nennt. Das Verhältnis des Proletariers zum Mehrwert, ihn kritisierend, ist dasselbe wie beim Bourgeois, wenn er brummend die Steuern bewil­ligt. Der Bourgeois ist, indem er die Steuer bewilligt, nicht vorge­drungen zu dem, was dahintersteht. Der Proletarier ist auch nicht vorgedrungen. Aber er hat Kritik geübt. Er hat den Mehrwert ins Auge gefaßt und hat Kritik geübt. Das zeigt also, daß es sich darum handelt, zu der Kritik das Positive hinzuzufügen. Das wäre selbst­verständlich das assoziative Prinzip. Aber es ist in der Theorie des Mehrwertes dasjenige drinnen, was innerhalb einer Weltanschauung und Lebensauffassung dem Proletarier das wirtschaftliche Element verkörpert.

Das zweite, was in der marxistischen Theorie drinnenlebt, inso­ferne sie die Lebensauffassung und Weltanschauung des Proletariers ist, ist der Klassenkampf, der nach seiner Ansicht sein muß. Das ist das politisch-rechtliche Element. Auf dem Wege des Klassenkampfes will er sich seine Rechte erkämpfen, will er die Arbeit organisieren und so weiter. Es ist also das zweite Gebiet des sozialen Lebens dar­innen. Es ist nur die Kehrseite zu dem, wie es bei dem Bourgeois und den Aristokraten ist. Die kommen aus ihrer Klasse nicht her­aus. Die haben nicht das Talent, aus dem Klassenmäßigen in das allgemein

190

Menschliche hineinzukommen. Der Arbeiter macht das be­wußt, aber er nimmt natürlich seine Klasse. So haben wir also im Marxismus auch dasjenige, was sich im modernen Leben als das poli­tisch-rechtliche Element herausgebildet hat, das noch nicht den Übergang gefunden hat zu dem wirklich demokratischen Element, das ja nirgends durchgeführt ist, wozu man aber kommen muß, wo sich auf dem Boden des staatlich-rechtlichen Gebietes des sozialen Organismus alle Menschen gleichberechtigt gegenüberstehen, die mündig geworden sind. Das ist ungefähr dasjenige, was immer die betreffenden Klassen gemeint haben bis jetzt. Als es noch, sagen wir, vor der Französischen Revolution im wesentlichen das aristokrati­sche Element gegeben hat, war dieses unter sich ganz demokratisch, aber unterhalb seiner Klasse hat der Mensch eben aufgehört, er war nicht mehr im vollsten Sinne des Wortes Mensch. Dann kam das Bourgeoistum herau£ Das war unter sich wiederum ganz demokra­tisch. Aber darunter hörte wiederum der Mensch auf. Dasjenige, wohin alles tendiert in der neueren Zeit, ist die allgemeine Demo­kratie. Derjenige, der außerhalb des sozialen Organismus stand wie der Proletarier, der konstituierte seine eigene Klasse gegen die ande­ren an die Stelle des allgemeinen Menschlichen, das so zu definieren ist, daß in alledem, worüber demokratisch parlamentarisiert werden soll, alle Menschen, was sie auch vorstellen, alle Menschen, die mün­dig geworden sind, als gleiche sich behandelnd sich gegenüberste­hen. So haben wir, ich möchte sagen, auch in dem Klassenkampf dasjenige, was wir etwa so charakterisieren müssen: Der Proletarier weiß, es muß - er ist insofern modern -, es muß etwas ganz anderes kommen, als bisher dagewesen ist. Aber das allgemein Menschliche hat er nicht gelernt. Daher geht er von seiner Klasse aus, statt von dem allgemein Menschlichen.

Und auch für das Geistige hat innerhalb der marxistischen Welt­anschauung und Lebensauffassung der Proletarier sein Element. Das ist die materialistische Geschichtsauffassung. Im materialistischen Zeitalter und bei der ganzen Erziehung des modernen Proletariers, der nur an den Mechanismus des Lebens herankommt und nicht an die Psyche und an den Geist, wurde dieses Geistesleben in der Anschauung

191

des Proletariers ganz selbstverständlich zu der materialisti­schen Geschichtsauffassung. Aber diese stellt welt- und lebensan­schauungsgemäß das geistige Element dar.

Sie haben also das alleräußerste radikale Ausleben desjenigen, was die moderne Menschheit eigentlich will und worin sie sich nicht zu helfen weiß, in dem proletarischen Marxismus. Und Sie müssen dem gegenüber etwas stellen, was ebenso fundiert ist wie der proletari­sche Marxismus für das Proletariat. Was ist das Wesentliche dieses proletarischen Marxismus als Weltanschauung? Das Wesentliche des proletarischen Marxismus als Weltanschauung ist der Unglaube an den Menschen.

Dieser Unglaube an den Menschen hatte in den Zeiten der Ur­weisheit der Menschheit seine Berechtigung, denn da waren es gött­liche Kräfte, die in dem menschlichen Innern saßen und den Men­schen führten. Die Menschen wußten sich auf dasjenige verwiesen, was sie unbewußt aus Seelentiefen heraus als die Offenbarungen der Götter als Richtkräfte für das Leben erkennen konnten. Da war es der Unglaube an den Menschen und der Glaube an die Götter. Als herausgebunden war aus dem alten theokratisch-kirchlichen Ele­ment das staatlich-administrative, das beamtlich-militärische Ele­ment, da bestand noch immer dieser Unglaube an den Menschen. Denn da entstand der Glaube, der Mensch als solcher kann doch nicht die Geschicke leiten, das muß der Staat tun. Der Staat wurde zum Götzen, zum Fetisch. Und das führte den Menschen, der nun in das Staatssystem eingespannt war, zum Unglauben an den Men­schen, zum Glauben an den äußeren Fetisch. Natürlich, sobald der Gott herunterkommt, wird er immer mehr und mehr zum Fetisch. Der proletarische Marxismus ist die dritte und letzte Stufe des Un­glaubens an den Menschen. Denn der Proletarier sagt sich in seiner materialistischen Geschichtsphilosophie : Nicht der Mensch ist es, der die Geschicke leitet, sondern «die Produktionskräfte» sind es, die ihn leiten. Wir stehen als Menschen ohnmächtig da mit unserer Ideologie. So, wie die Produktionsprozesse verlaufen, so ist der ge­schichtliche Gang. Und was die Menschen innerhalb dieser Produk­tionskräfte sind, ist nur das Ergebnis der Produktionskräfte selbst.

192

Unglaube an den Menschen und wirklicher Glaube auch an den handgreiflichen Fetisch! Es ist kein prinzipieller Unterschied, ob der auf andere Weise in die Dekadenz gekommene afrikanische Wilde einen äußeren Holzklotz anbetet, zum Fetisch macht, oder ob der europäische Proletarier die Produktionsmittel und Produk­tionsprozesse als dasjenige ansieht, was die Geschichte dirigiert. Da ist logisch prinzipiell gar kein Unterschied, es ist unser Zauber-Aberglaube! Und das müssen wir genügend ansehen. In ver­schiedener Weise sind die Menschen in die Dekadenz gekommen. In Afrika war auch eine Urweisheit da. Dann ist das herunterge­kommen in der Verwaltung; in Ägypten sehen wir das. Dann ver­fällt es. Der Fetischismus ist nicht dasjenige, was am Ausgangspunk­te steht, sondern was in der Dekadenz eintritt. Am Ausgangspunkt steht überall der reine Götterglaube, und im Verkommen liegt erst der Fetischismus. Innerhalb der zvilisierten Gegenden wurden, statt daß man äußerliche Holzklötze anbetete, die «Produktionskräfte» angebetet. Die Gebete wurden natürlich auch anders eingerichtet. Aber «die Produktionskräfte» und «Produktionsprozesse» wurden zu Götzen gemacht. Es ist die letzte Phase des Unglaubens an den Menschen, die Phase der wirtschaftlich abergläubischen Denkweise. Es ist auch prinzipiell kein Unterschied, ob man sich als afrika­nischer Wilder mit einem Zauberspruch zu seinem Götzen begibt oder in einer modernen proletarischen Versammlung sich zusam­menfindet und marxistische Phrasen drischt. Das Gebet klingt anders, aber man muß sich klar sein darüber, was das innere Wesen der Sache ist.

Dem muß gegenübergestellt werden, was nun nicht Unglaube an den Menschen, sondern Glaube an den Menschen ist. Und letzten Endes kommt es darauf an, daß der Glaube an den Menschen gefun­den werde, der Glaube, daß im Innern des Menschen sich die Richt­kräfte für das Leben offenbaren. Der Mensch muß zu sich selbst kommen, zum vollen Selbstbewußtsein. Er muß die Möglichkeit finden, sich zu sagen : Alles Äußere ist Aberglaube. Einzig und allein die Richtkräfte im eigenen Innern sind es, die in das Leben ein­greifen müssen!

193

Dazu aber ist Mut notwendig, über das bloße passive Gebet hin­auszukommen und in der Ergreifung des Göttlichen im Willen ein aktives Gebet zu haben. Dieser Übergang zum aktiven Gebet, zur innerlichen Aktivität überhaupt, dieser Übergang vom Unglauben an den Menschen zum Glauben an den Menschen, das ist dasjenige, was als Enthusiasmus in Ihren Herzen und Seelen sitzen muß. Sie müssen sich fühlen als diejenigen, die am Wendepunkt der Ge­schichte stehen, wo die Menschen vom Unglauben an den Men­schen zum Glauben an den Menschen geführt werden müssen.

Sie brauchen es den Leuten nicht zu sagen, Sie müssen aber selber mit dem Bewußtsein davon die Podien betreten, mit dem Bewußt­sein : Ich habe der Menschheit beizubringen, daß die Richtkräfte des Lebens aktiv im Innern erfaßt werden müssen, daß das Leben in der Zukunft so eingerichtet werden muß, daß der Mensch sich sagt : Ich muß es sein, der die Dinge macht.

Es war der letzte Aberglaube der Zivilisation, daß die Menschen den Glauben nicht hatten an sich selber, sondern daß sie den Glau­ben hatten, «die Produktionskräfte» richten das Leben ein. Und aus diesem Aberglauben entstand dann der furchtbare Afterdienst im Osten, wo der Versuch gemacht worden ist, was vom Willen nicht bestimmt ist, dennoch vom Willen durchtränken zu lassen. Die Per­sönlichkeit, die in idealer Weise zwei nicht zusammengehörige Din­ge, die innere Passivität in der Überzeugung und die Aktivität im Handeln vereinigt, wodurch das eine das andere zerstört, ist Lenin. Lenin ist die Persönlichkeit, welche dasjenige, was aus alten Zeiten herüberkommt, in neuen Zeiten am reinsten kristallisiert. Er kristal­lisiert am reinsten, was die real gewordene Unmöglichkeit, der real gewordene Zerstörungs-, der real gewordene Untergangstrieb ist.

Was zum Aufbau führt, was dazu führt, das soziale Leben mit wirklichen Lebenskräften wieder zu durchtränken, ist, wenn wir die Möglichkeit finden, zu erschaffen im Menschen aus dem Unglauben an den Menschen den Glauben an den Menschen, den Glauben, der sich zuletzt doch so ausspricht : Was ich erleben werde als Glück oder Unglück, oder als soziale Einrichtung, oder als etwas im äuße­ren Leben, werde ich selbst machen!

194

Das können Sie nicht in die Menschen hineinbringen, ohne sie mit Ihren Worten zu gleicher Zeit zu stählen. Sie müssen die Men­schen dazu bringen, daß sie Vertrauen, daß sie Glauben an ihre eige­ne Wesenheit haben. Und das ist dasjenige, was Sie im Grunde ge­nommen wenigstens in Ihrem Herzen anstreben müssen. Wie Sie es machen, das wird vielleicht heute noch von Ihren Fähigkeiten ab­hängen. Das wird aber, wenn Sie sich mit gutem Willen der Sache hingeben, bald nicht mehr von diesen Fähigkeiten abhängen, son­dern die Notwendigkeit der Zeit wird Ihre Fähigkeiten ergreifen. Und Sie werden über sich selbst hinauswachsen gerade in dem Hin­bringen dieses Glaubens an die Menschen, also daß an die Stelle des Unglaubens an den Menschen der Glaube an den Menschen treten musse.

Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte, bevor Sie hinausziehen, um Ihre Vorträge zu halten. Fühlen Sie die Stärke, die darin liegen kann, wenn man sich sagt : Ich habe das zu bewirken, daß der letzte Aber-und Unglaube an den Menschen in bezug auf den Menschen überge­führt werde in Glauben an den Menschen, in innere Aktivität des menschlichen Wesens! Denn auf diese kommt es an bei dem Anstre­ben eines wirklichen Aufstieges. Alles andere wird nur zur Fort­pflanzung desjenigen führen, was in der Dekadenz ist. Da sagen Sie sich : Was in der Zerstörung ist, halte man nicht aufrecht. - Sondern wenden Sie meinetwegen das Nietzsche-Wort an : Man stoße es noch, damit es schneller zugrunde gehe! Aber man liebe, was nicht von gestern und heute, sondern was von morgen ist!

Ich möchte, meine lieben Freunde, daß Sie als Menschen des Morgen hinausgehen und aus dem Bewußtsein des Menschen des Morgen heraus Ihre Worte prägen in den nächsten Wochen.

195

II SCHULUNGSKURS FÜR OBERSCHLESIER

196


197

ERSTER VORTRAG Stuttgart, 1. Januar 1921

Die Anregung zu unserer Zusammenkunft hängt ja zusammen mit einer Idee, die seit längerer Zeit zwischen uns hier im «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» besprochen worden ist. Eigentlich wäre es notwendig, daß wir uns auf die Agitation für die Dreigliederung des sozialen Organismus umfassend, also in einer längeren Instruktion und Auseinandersetzung vorbereiten. Die Dreigliederung war ja als Bewegung vom April 1919 an für eine viel schnellere Wirksamkeit berechnet als sie ihr dann zuteil geworden ist. Und deshalb ist schon im Beginne des nunmehr verflossenen Jahres von mir hier die Notwendigkeit betont worden, die Agita­tion für den Bund für Dreigliederung aufzugreifen nicht etwa durch irgendein formelles Behandeln von rednerischer Kunst oder derglei­chen, sondern durch ein Sich-Verständigen über die Notwendigkeit, wie heute in dieser unserer wirklich ernsten und aufgeregten Gegen­wart so etwas zu behandeln ist wie die Bewegung für die Dreigliede­rung des sozialen Organismus.

Wir sehen ja um uns herum allerlei politische, soziale und sonsti­ge Agitationen und überall sieht man, wie die ganze Art und Weise, in welcher solche Agitationen betrieben werden, im Grunde genom­men heute am Aussterben ist. Wir haben ja erst in der allerletzten Zeit die trübste Erfahrung wohl gemacht damit, wie gedacht wird und wie in Szene gesetzt werden die Dinge, wenn vom Gesichts­punkt des heutigen Lebens aus irgend etwas propagiert werden soll, was für die Weiterentwickelung dieser oder jener Verhältnisse not­wendig ist. Wir haben es gesehen bei der Völkerbundsversammlung in Genf, wo ja im Grunde genommen an allen Dingen, auf die es heute überhaupt ankommt, nur vorbeigeredet worden ist, wo man in Wirklichkeit gar nicht auf die in Frage kommende Materie einge­gangen ist und wovon man sagen kann, daß keine einzige von ihnen so gehandhabt wurde, daß das Handeln Hand und Fuß hatte wie bei denen, die weggelaufen sind, den Argentiniern.

198

Nun, ich sagte, daß unsere Bewegung für Dreigliederung auf ein schnelleres Fortschreiten berechnet war, als sie dann wirklich fort­geschritten ist. Das hängt natürlich damit zusammen, daß in der ge­genwärtigen Epoche der Menschheit, welche keine Zeit hat, es nicht möglich ist, eine solche Bewegung in einem langsamen Tempo zu betreiben, da sonst die Möglichkeit, irgend etwas zur Gesundung innerhalb Europas und namentlich Mitteleuropas herbeizuführen, einfach dahinschwinden wird. Es ist einmal durchaus notwendig, daß man sich klarmacht, daß wir in einer rasenden Geschwindigkeit in den Niedergang hineingehen, wenn auch immer wiederum peri­odenweise das eine oder andere über diesen Niedergang hinweg-trügen kann.

Vor allen Dingen müssen wir uns darüber verständigen - und wir wollen das jetzt tun anhand einer konkreten Frage -, welches die notwendigen Voraussetzungen einer heutigen, sagen wir Agitation, oder wie man es nennen will, sind. Sehen Sie, aus einer Idee, sagte ich, sind unsere Besprechungen hervorgegangen. Es ist eben die Idee gewesen, etwa fünfzig Persönlichkeiten hier zu versammeln, mit de­nen eine Verständigung erzielt wird über die Methoden und nament­lich über die Unterlagen einer entsprechenden Agitation. Denn ohne daß in einer durchgreifenden Weise in der nächsten Zeit über ein großes Territorium hin Agitation geleistet wird, kommen wir für eine so umfassende Sache, wie es die Dreigliederung werden muß, eben nicht vorwärts.

Nun steht ja gerade Ihnen die Abstimmung über das Schicksal der oberschlesischen Gebiete bevor und wir können manches, was ei­gentlich wirklich in der nächsten Zeit mit aller Intensität hier ge­schehen müßte, wir können es in den paar Tagen, die uns gegönnt sein werden für diese besondere Frage, nur prinzipiell erörtern.

Das erste, was heute notwendig ist - das wir nicht vor der Öffent­lichkeit, wenn wir wirken wollen, mit diesen Worten, mit denen ich es jetzt aussprechen will, aussprechen können, das wir aber im Hin­tergrund haben müssen bei der Wahl unserer Worte, bei der Wahl desjenigen, was wir als Materie vorbringen -, das ist die Überzeu­gung davon, daß an alte Konfigurationen des öffentlichen Lebens

199

eben nicht angeknüpft werden könne von demjenigen, der die Zivi­lisationsverhältnisse wirklich zur Gesundung bringen will. Wir müssen überzeugt sein davon, daß all die Fragen: könnte man viel­leicht mit dieser Partei, mit dieser Berufsgenossenschaft und derglei­chen einen Kompromiß schließen, indem man diese Partei, diese Genossenschaft bei ihren Ansichten, bei ihren Denk- und Empfin­dungsgewohnheiten läßt? - daß alle diese Fragen von uns mit Nein beantwortet werden sollten. Als die Anthroposophische Gesell­schaft ihre Arbeit begonnen hat, habe ich ja auch immer von den verschiedensten Seiten gehört: Ja, in München sind die Menschen so, da muß man so vorgehen; in Berlin sind die Menschen so, da muß man so vorgehen; in Hannover und anderswo, da muß man wiederum anders vorgehen. All das ist ja Unsinn, das hat wirklich gar keine Bedeutung, sondern es hat einzig und allein Bedeutung, daß wir uns klar darüber sind, was als Neues geschöpft und was neu gestaltet werden muß, und daß wir den Willen haben, dieses Neuzugestaltende an die Menschen heranzubringen, daß wir uns so verständlich machen, wie es möglich ist in bezug auf dieses Neuzu­gestaltende, nicht nur verstandesmäßig uns verständlich machen, sondern auch empfindungsgemäß.

Das zweite ist, ich möchte es so bezeichnen, daß ich sage: Wir brauchen heute Substanz in unserem Agitationsstoff, wirklichen In­halt. Womit haben denn eigentlich die Menschen, man kann schon sagen, seit Jahrhunderten gearbeitet, wenn sie politische oder sozi4e oder eine sonstige Agitation betrieben haben? Sie haben mit Schlag-worten gearbeitet, mit Redensarten und ein Name, den sie erfunden haben für diese Redensarten war: Ideale. - Sie haben da in ihrem Sinn mit Idealen gearbeitet. Nun, mit Idealen kann man, wenn das drinnen steckt, was in den letzten Jahrhunderten und namentlich im 19. und 20. Jahrhundert so bezeichnet wurde, mit Idealen kann man auf das augenblickliche Fühlen und Empfinden der Menschen Ein­druck machen, kann sie begeistern, kann sie dahin bringen, daß sie unter Umständen anfangen herumzuspringen und Gebärden ver­rückter Art zu äußern, aber man kann nicht sachlichere Resultate erzielen mit solcher, auf bloßen Worten aufgebauter Begeisterung.

200

Und Resultate zu erzielen, das ist es, worauf es heute ankommt. Resultate aber können wir nur erzielen, wenn wir sagen: Wir leben heute in einer gesellschaftlichen Ordnung, wo, ich möchte sagen, der Untergang auch dreigegliedert ist.

Der Untergang ist dreigegliedert und an den allerwichtigsten Stel­len zeigt sich auch die, ich möchte sagen, desorganisierte - ich kann nicht sagen: organisierte -, die desorganisierte Gliederung des Nie­derganges. Wir haben einen Niedergang eben unseres geistigen Le­bens, das zuletzt eingemündet ist auf der einen Seite in die kirchli­chen Bekenntnisse und auf der anderen Seite in das, was allmählich aus den kirchlichen Bekenntnissen herausgekommen ist, aber heute nicht recht weiß, worauf es steht und wohinein es rauchen will, wenn es brennt, das ist unser Schulleben. Diese beiden Dinge des Geisteslebens, unser Kirchen- und Schulleben, die sind das eine Ele­ment des Niederganges. Sie hängen innigst zusammen mit einem weiteren Element, aus dem im Grunde genommen sowohl das Kir­chen- als auch das Schulleben gespeist werden: sie hängen zusam­men mit dem nationalen Prinzip. Denn aus den Untergründen des Nationalen geht überall dasjenige hervor, was man in das Schul­mäßige hineintragen will, was in dem Schulmäßigen lebt. Und auf der anderen Seite richten sich die Bekenntnisse doch, wenn sie auch international sein wollen, für die verschiedensten Territorien der heutigen Welt spezifiziert nach den Nationen aus.

Ein Weiteres, das ist das Rechtlich-Staatliche, das Politische, das überall in den Niedergang hineinsegelt. Da handelt es sich darum, daß man nun endlich einmal verläßt jene, man möchte schon sagen, schädliche Bemäntelung der Verhältnisse, die heute wenigstens in den mittleren Gegenden Europas noch zurückgeblieben ist als alte Gewohnheit, gar nicht als dasjenige, was es vorher war. Aber man muß eine solche Sache wenigstens so klar ansehen, daß etwas Klares dabei herauskommt. Man macht sich heute gar keine Vorstellung, wie korrupt dieses politische Leben der modernen Zivilisation nach und nach eigentlich geworden war, bevor es die Katastrophe von 1914 hervorgerufen hat. Sehen Sie, dafür kann man viele Beispiele angeben. Sehen wir uns nur eines an. Innerhalb Deutschlands und

201

der angrenzenden Gebiete gibt es noch immer eine Anzahl von Leu­ten, die, wie Sie vielleicht wissen werden, ein gewisses Individuum, mit Namen Heliferich, nicht für etwas ansehen, das auf allen Gebie­ten, wo es tätig war, durch und durch ein Schädling war. Man braucht sich ja nur zum Beispiel daran zu erinnern, daß kurz vor Kriegsausbruch dieses Individuum Helfferich eine Rede gehalten hat, in der es gesagt hat: Was manche behaupten, daß Deutschland ausgehungert werden könnte in einem folgenden Kriege, das scheint mir eine bloße Theorie zu sein. Denn da werden, wenn so ein Krieg ausbricht, so viele Mächte hineinverwickelt sein, daß man schon ein großes Mißtrauen gegen die gesamte deutsche Diplomatie haben muß, wenn man sich vorstellt, daß man dann alle gegen sich hätte. Aber ein solches Mißtrauen, das widerspricht meinem Auffassungs­vermögen. - Das ungefähr hat dieses Individuum Helfferich kurz vor Ausbruch des Krieges 1914 gesagt. Nun, in solch einem Aus­spruch liegt so viel von intellektueller Niederträchtigkeit - ich sage Niederträchtigkeit, weil es zu gleicher Zeit vom Intellektuellen ins Moralische hineingeht -, daß gerade ein solcher Ausspruch, gehörig ins Auge gefaßt, uns klarmachen muß, in welcher Korruption die moderne Zivilisation drinnen steht.

Denken Sie sich doch, was damit gesagt ist, mit diesem Aus­spruch: Wenn das eintritt, was viele voraussagen, daß Deutschland blockiert wird von allen Seiten in einem kommenden Krieg, dann kann man kein Vertrauen zur deutschen Diplomatie haben. Nun muß man aber dieses Vertrauen haben! - Denken Sie sich, ein sol­cher Mensch sagt, man muß dieses Vertrauen haben, das heißt, man muß den Leuten Sand in die Augen streuen, denn er hat gewußt, daß dieses Vertrauen nicht möglich war. Heute muß man sich klar sein, daß, wenn man weiterarbeiten will mit lauter unrealen Dingen, daß man doch in keiner Weise wirklich vorwärtskommen kann. Selbst solche Worte wie «radikal» oder «nichtradikal» haben heute im Grunde genommen ihren Wert verloren, weil es darauf ankommt, daß man für gewisse Dinge radikaler als früher die Dinge ausspricht. Vor allem handelt es sich darum, daß man dasjenige, was zur Schädi­gung der Menschheit führt, in aller Konkretheit wirklich auch den

202

Menschen vorführt. Wir müssen zu ganz scharfen Charakteristiken nicht nur der bestehenden Verhältnisse, sondern auch der Persön­lichkeiten kommen, dann allein können wir durchgreifend wirken. Und wenn man von diesem Gesichtspunkte aus solch eine Frage ins Auge faßt wie die oberschlesische Abstimmungsfrage, dann wird man zunächst von einem Gedanken erfaßt werden müssen, von dem Gedanken: Wie soll man sich verhalten zu der Abstimmung als solcher: deutsch oder polnisch? - Das ist ja zunächst die Frage, die vorliegt: deutsch oder polnisch?

Heute muß man sich einmal dazu aufschwingen, solche Fragen auch von einem gewissen objektiven menschheitlichen Gesichts­punkt aus ins Auge zu fassen, nicht von einem Gesichtspunkt, der doch wiederum nur aus den alten Denkgewohnheiten - und seien es selbst diejenigen, die man als nationale bezeichnet - herausfließt; von einem objektiven menschheitlichen Standpunkt müssen solche Fragen betrachtet werden. Und in dem Maße, in dem das gelingen wird, in dem Maße werden wir vorwärtskommen.

Und da möchte ich Ihnen doch, soweit es möglich ist in dieser kurzen Zeit, die unserer Verständigung gewidmet sein kann, da möchte ich an einzelnen Dingen, aus denen man heute die Gründe, die Überzeugung hervorholen soll, Ihnen zeigen, daß von dem ob­jektiven menschlichen Standpunkt aus beides, ob deutsch oder pol­nisch, ein gleich großes Unglück ist; ein gleich großes Unglück für die oberschlesische Bevölkerung, ein gleich großes Unglück für Po­len, ein gleich großes Unglück für Deutschland, ein gleich großes Unglück für Europa, ein gleich großes Unglück für die ganze Welt. Ich möchte Ihnen eigentlich zeigen, daß objektiv die Frage: deutsch oder polnisch, für die oberschlesische Bevölkerung überhaupt nicht vorliegen kann und daß es sich darum handelt einzusehen, daß für einen kleinen Bevölkerungskomplex es sich heute um eine Lebens­frage handelt, zu einem Beurteilungsgesichtspunkt zu kommen, wie der der Dreigliederung des sozialen Organismus einer ist, nämlich, sich herauszuheben aus alledem, was bis jetzt Beurteilungsgesichts-punkte abgegeben hat.

Nicht wahr, wenn wir solche Fragen aufwerfen, so müssen wir

203

heute einmal die Grundempfindung haben können, daß in alledem, was sozial und politisch und wirtschaftlich unternommen wird, Ge­setze walten, daß nicht Willkürlichkeiten allein darinnen walten, daß diese Gesetze sich verwirklichen werden, daß man mit Abstim­mungen nur so vorgehen kann, daß man innerhalb dieser Gesetze vorgeht. Man kann darüber abstimmen, ob man ein Ofentürchen an dieser oder jener Seite des Ofens anbringen soll; und man wird gut tun, sich über solche Fragen mit Leuten zu verständigen, die etwas davon verstehen. Aber man kann doch nicht darüber abstimmen, ob, wenn man Holz in den Ofen hineingelegt hat, man nur mit ei­nem Zündhölzchen oder aber mit einem Stückchen Eis das Holz an­zündet. Nicht wahr, die Frage nach der Entfaltung des Willens muß in ein richtiges Verhältnis zu den Notwendigkeiten des Daseins ge­bracht werden. Daher kann man nicht aus der Bläue des Willens, aus dem Nebulosen, Unbestimmten heraus reden, auch nicht veranlas­sen, aus diesem heraus gerade ein exponiert gelegenes Völkchen sei­ne Abstimmung vornehmen zu lassen. Man sollte nicht davor zu­rückschrecken, heute, wo alles aus den alten Denkgewohnheiten heraus vorgenommen wird, auszusprechen, daß das ganz gewiß in den Untergang hineinführt. Man sollte heute nicht zurückschrecken davor, den Leuten, wenn es auch so scheint, als ob es wahnsinnig wäre, den Leuten doch eben das Richtige zu sagen. Denn darum kann es sich nur handeln, den Leuten doch eben das Richtige zu sa­gen. Man muß, wenn man über diese Frage reden will, doch wirk­lich von den Ausgangspunkten aus reden, von denen her die Kräfte gesehen werden können, die wirken.

Sehen Sie, gerade an dem Studium des polnischen Wesens läßt sich sehr gut beobachten, wie unmöglich es wäre, für ein solches ex­poniert gelegenes Territorium dafür zu stimmen, einfach in das pol­nische Element einzulaufen. Und wenn man das Verhältnis des oberschlesischen Territoriums zum polnischen Gebiet betrachtet, dann ergibt sich einem schon das andere Verhältnis, das Verhältnis zum preußisch-deutschen Gebiet.

Es genügt nicht, daß man das polnische Element als Volkswesen und innerhalb der europäischen Politik etwa nach den paar Beobachtungen

204

beurteilt, die man mit diesem oder jenem Polen gemacht hat, oder daß man es behandelt und betrachtet nach dem, wie sich die eine oder die andere Handlung, die von Polen ausgegangen ist, in der Geschichte ausgenommen hat. All das genügt nicht, sondern man muß sich klar darüber werden, welch bedeutsame Rolle gerade, wenn wir uns des Ausdruckes bedienen dürfen, das polnische Volk gespielt hat innerhalb eines immerhin ausgedehnten europäischen Territoriums. Diese Rolle, die das polnische Volk gespielt hat, die ist im Grunde genommen doch sehr charakteristisch für die Entwicke­lung auch anderer politischer Verhältnisse innerhalb Europas, und das polnische Element spielt in die politischen Verhältnisse Europas sehr, sehr intensiv hinein.

Wenn man Polen betrachtet, so liegt es für eine kulturpolitische Anschauung im Grunde genommen so recht exponiert, sowohl den westlichen Einflüssen wie den östlichen Einflüssen gegenüber, und es zeigt solche inneren Eigentümlichkeiten, dieses polnische Volk, daß man sagen kann: Dasjenige, was anderswo veranlagt war, auch veranlagt war, das ist seit dem 15., 16. Jahrhundert ganz besonders im polnischen Volk zum Ausdruck gekommen. Man kann dieses Polen nicht anders betrachten, als indem man sieht auf der einen Sei­te, wie in seinem Osten die alten kulturpolitischen und geistigen Traditionen des Orients sind, und wie in diesem Osten, während Polen alle möglichen Schicksale durchläuft, das moderne Russentum allmählich heraufkommt. Man kann dieses Polen nicht anders beur­teilen, als indem man Rücksicht darauf nimmt, wie in seinem Süden, aus mittelalterlichen Verhältnissen heraus, dieses jetzt auf dem Aus-sterbe-Etat stehende Österreich für die Zersetzung vorbereitet wird, und wie sich dann zuletzt das für kurzes Dasein bestimmte Deutsche Reich herausbildete in seinem Westen.

Sehen Sie, dasjenige, was innerhalb des europäischen Lebens Po­len darlebt, hängt eigentlich mit allen diesen Dingen zusammen. Wenn man auf die Anfänge des 16. Jahrhunderts, Ende des 15. Jahr­hunderts hinsieht, so zeigen sich auf dem Boden des späteren Deutschland Verhältnisse, welche eigentlich keine unmittelbare Fortsetzung gefunden haben. Man braucht sich nur an Namen zu

205

erinnern wie Götz von Ber/ichingen, Franz von Sickin gen, Ulrich von Hutten und so weiter, und man sieht hinein in Verhältnisse, die da­mals existiert haben und die keine Fortsetzung gefunden haben. Worauf waren diese Verhältnisse aufgebaut? Sie waren aufgebaut darauf, daß eine gewisse feudale Kaste da war, wenn auch diese feu­dale Kaste selbstverständlich auch solch starke, in gewisser Hinsicht bewundernswerte Persönlichkeiten hervorbringen konnte, wie die genannten, wenn auch diese feudale Kaste sich aufbaute an einer un­wissenden, mehr oder weniger unzivilisierten großen Bauernbevöl­kerung. Und daß diese feudale Kaste so wirkte, daß im Grunde ge­nommen der große Gutsherr immer mitten drinnen lebt neben den andern, die also unwissende Bauernbevölkerung sind, und daß der große Gutsherr auch ausübt die Verwaltung und im Grunde genom­men auf das geistige Leben seinen entsprechenden Druck ausübt, das hat dem sozialen Leben in Mitteleuropa seine Struktur gegeben. Aber diese Struktur ist eben gerade am Ende des 15., im Beginn des 16. Jahrhunderts beseitigt worden in Mitteleuropa, so beseitigt wor­den, daß man sagen kann: Innerhalb der deutschsprachigen Gegen­den ist diese Struktur bis in die Tiefen der Gesinnung hinein ausge­rottet worden und es trat an die Stelle dieser Struktur dasjenige, was zunächst sich durchgearbeitet hat in den Territorial-Fürstentümern, was man zuletzt zusammengeschweißt hat zum Deutschen Reich:

nämlich das militärische und beamtliche Organisieren des sozialen Organismus. Also aus dem feudal-aristokratischen Element, das sich nur aufbauen konnte auf der breiten Grundlage eines unzivilisierten Bauerntums, da breitete sich aus das Territorial-Fürstentum auf mili­tärischer und beamtlicher Grundlage. Und innerhalb dieses Mittel-europa, am stärksten ausgeprägt in Preußen, wurde das eben Gesin­nung; es wurde nicht etwas, was der gesellschaftlichen Ordnung bloß übergestülpt wurde, sondern es wurde Gesinnung.

Nicht wahr, man kann sich vielleicht zwei Gegensätze denken. Der eine Mensch wäre ein innerhalb der alten ritterlichen Götz-von­Berlichingen-Gesellschaft postierter kluger Mensch, der in irgend­einer Weise sich zu betätigen hat. Wie betätigt er sich? Er betätigt sich so, daß er aus seiner Menschenkenntnis heraus zum Beispiel

206

richtet, daß er aus demjenigen, was seine religiösen Vorstellungen geben, die Schule einrichtet, daß er sich denkt, daß man über einen gewissen Sprengel, der nicht zu groß ist, nach gesundem Menschen-verstand Recht spricht. So ist organisiert, was deutsch spricht, bis ins 16. Jahrhundert hinein; dann organisiert sich das um, dann kommt das Beamtentum und Militärische, und wenn man sich den Menschen denkt, den es bis in die Götz-von-Berlichingen-Zeit nicht hat geben können, dann ist es der preußische Reserve-Leutnant. Al­so, die seelische Existenzmöglichkeit für ihn ist erst seit dem 16. Jahrhundert geschaffen worden. Und nicht wahr, Reserve-Leutnant, das heißt vereinigend das beamtliche und militärische Wesen. Das wurde ja für Mitteleuropa nicht bloß etwa innerhalb derjenigen Ge­biete geltend gemacht, wo man es verstehen konnte, sondern auch innerhalb der Gebiete, wo man es nicht verstehen konnte. Unsere Historie zum Beispiel, unsere Geschichte ist so geschrieben, daß die­se Gesinnung darinnen lebt, und unsere Geschichte wird so gelehrt in den Schulen, daß diese Gesinnung darinnen liegt. Dadurch aber, daß wegen des deutschen Volkscharakters diese Umwandlung nicht das unterste, nicht das innerste Gefüge des Seelischen ergreifen konnte, dadurch sind im Grunde genommen Territorial-Fürsten­tümer entstanden, nicht ein völliger Cäsarismus, der erst im 19. Jahrhundert durch den Krieg, den siebziger Krieg, versucht worden ist, der aber nicht hat durchgeführt werden können.

Weil durch die verschiedensten historischen Verhältnisse, die heute zu erörtern zu weit gehen würden, eben die große Welle, alles Politische, Staatlich-Rechtliche militärisch anzusehen und das Wirt­schaftsleben in Fesseln zu schlagen durch das staatliche Element, weil diese Welle über Mitteleuropa ging, deshalb wurde es in Mittel­europa so.

Nun, wenn Sie Rußland ansehen, so haben Sie in seiner sozialen Struktur auch das enthalten, was plötzlich in Mitteleuropa abge­schafft wurde im Beginne des 16. Jahrhunderts. Sie haben den brei­ten, ungebildeten, unzivilisierten Bauernstand, der irgendwie ver­waltet werden soll, der irgendwie in einen sozialen Organismus ein­gefügt werden soll. Auch da ist die Anlage schon so vorhanden, wie

207

sie zum Beispiel in Mitteleuropa auch vorhanden ist bis ins 16. Jahr­hundert hinein; aber da ist nicht die Ablösung durch den Individua­lismus vorhanden. Da wird in rasendem Tempo alles in die zaristi­sche Zentralisation hineingebannt, so daß das, was als Mittelding in Europa zwischen dem Cäsarismus und dem unzivilisierten Volk in dem Territorial-Fürstentum vorhanden war, in Rußland nicht da ist, und alles dahin tendiert, den Menschen, ob er nun dazu determiniert ist oder nicht, einfach zum Beamten oder zum Militär zu machen, da die Zentralgewalt für ihn das Maßgebende ist. In verschiedener Wei­se wird, auf der einen Seite in Rußland, auf der anderen Seite im deutschen Mitteleuropa, dasjenige aufgehoben, was eigentlich Volks­organisation ist. Auf der einen Seite wird es in den Cäsarismus, auf der anderen Seite in das Territorial-Fürstentum hineingetrieben.

Und ein drittes ist Österreich, Österreich, das ganz aus patriar­chalischen Verhältnissen herauswächst, die als Familientradition in­nerhalb eines Fürstengeschlechts sich fortleben. Dieses Österreich wird allmählich gedrängt, die verschiedensten Völkerschaften zu­sammenzufassen rein unter dem Gesichtspunkt des römischen Zen­tralismus, der verwalten will, der dann etwas demokratische Allüren annimmt, aber der in mittelalterlich-spanischer Weise das Volk ver­walten will.

In diesen drei Strömungen haben Sie das polnische Element lie­gen, das sich im Grunde genommen gegen alle drei stemmt und das in einer recht merkwürdigen Weise sich gegen alle diese drei Strö­mungen entschieden wendet aus einer, ich möchte sagen, eben inne-ren Anlage heraus. Das polnische Element nimmt ja von Westen herüber alles das an, was in die modernen Abwege hinführt: den Parlamentarismus, das Schulwesen und dergleichen. Es nimmt, möchte ich sagen, alles das an, was zu einem gewissen analytischen Element im Leben wird, zu dem Element des Urteilens, des Unter­scheidens. Es nimmt vom Osten an das synthetische Element, das Leben in großen Begriffen und Ideen. Sehen Sie, die Analyse wird in gewisser Weise im polnischen Element zur Schlamperei und die öst­liche Synthese wird in gewisser Weise zur Phantastik. Gewiß, diese beiden Strömungen sind immer vorhanden: aus dem westlichen Element

208

heraus, aus der geordneten Analyse die Schlamperei und aus dem östlichen Element die Phantastik, die Schwärmerei und auch die Unwahrhaftigkeit; denn die Unwahrhaftigkeit ist nur die Schat­tenseite der orientalischen Synthese, und die Schlamperei ist nur die Schattenseite des Pedantischwerdens. Wenn der Pedantismus so weit kommt, daß man ihm nicht mehr nachkommen kann, dann verfällt er in sein entgegengesetztes Element, in die Schlamperei. In Öster­reich hat es nicht gefehlt an eindringlichen Bestimmungen für alle Angelegenheiten des Lebens; das Wesentliche war nur, daß keine einzige Bestimmung beachtet werden konnte, weil sich erstens alle widersprochen haben und zweitens, weil es so viele waren, daß sich niemand mit allen beschäftigen konnte.

Wodurch ist es gekommen, daß dieses Polentum in Europa ent­standen ist, wo doch ringsherum etwas ganz anderes war? Wie ist es gekommen, daß dieses Polentum doch mit Zähigkeit seine Eigenart fortentwickelt hat? Dies ist einfach dadurch gekommen, daß, als sich die große Welle des Russentums mit seinen naturgegebenen Er­oberungsplänen über Europa ergoß, es für die anderen, die auch in Betracht kommen - ich kann es im einzelnen jetzt nicht darstellen, aber es ließe sich darstellen -, notwendig war, in entsprechender Weise immer auf dieses Russentum zu reagieren. Vor allen Dingen für das preußische und das österreichische Reich war es im 18. Jahr­hundert notwendig, auf das russische Element zu reagieren. Man kann ja leicht von einem gewissen Standpunkt aus den Preußen und den Osterreichern vorwerfen, daß sie Polen geteilt haben mit Ruß­land; man bedenkt dabei aber nicht, daß, wenn sie nicht geteilt hät­ten, Rußland alles allein genommen hätte. Nicht wahr, die Dinge müssen objektiv betrachtet werden. Preußen und Österreich haben sich beteiligt an der Teilung Polens, weil sie nicht zulassen konnten, daß Rußland allein Polen nimmt, was sonst ganz bestimmt gekom­men wäre. Nun, so ist also dieses Polen aufgeteilt worden.

Aber es lebte in diesem aufgeteilten Volk im Grunde genommen das fort, stark fort, womit in Europa, im deutschen Element, im Be­ginne des 16. Jahrhunderts gebrochen worden ist: das feudale Adels-element mit der breiten Basis des unzivilisierten Bauerntums. Womit

209

auch in Rußland äußerlich gebrochen worden ist, das lebte alles im Polentum fort. Das Polentum bewahrte im Grunde genommen in seiner sozialen Struktur den Europäismus des 15. Jahrhunderts, der eigentlich immer noch ein antikes Element in sich hatte, Grie­chentum in sich hatte. Wir bewundern das Griechentum, aber die Größe des Griechentums beruht darauf, daß das sich bei ihm am höchsten entfaltete, von dem wir sagen, daß es Europa überwunden hat im 15. Jahrhundert. Würden wir klar sehen, so würden wir aller­dings uns sagen: Wir bewundern dieses Griechentum mit Recht in demjenigen, was die Geschichte von ihm heraufgebracht hat; aber auf der anderen Seite sagen wir, wo wir es nur immer tun können:

Wir haben in Europa einen größten Fortschritt dadurch erzielt, daß wir bestrebt waren, dasjenige, was sich nur aufbauen konnte auf der Grundlage eines Landproletariats, nach und nach zu überwinden. Die Entwickelung in Europa bis ins 15. Jahrhundert hinein war noch am Griechentum orientiert, so daß wir von diesem «griechi­schen Europa» sagen: das ist dasjenige, was kein menschenwürdiges Dasein gibt. Eine gewisse Oberschicht, auf die es in Polen angekom­men ist, die bewahrte sich aber auch innerlich diese griechische Ge­sinnung, nämlich zu leben in einer Adelsoberschicht mit einem nicht bis zum Bürgertum und zum Proletariat differenzierten, son­dern einfachen, unzivilisierten Bauerntum. Und so war seine Dispo­sition, als es aufgeteilt wurde, dieses polnische Volk. Denn nicht wahr, überhaupt denkend, so richtig denkend war ja nur diese Ober-schicht bei den Polen. Die fing an, Rußland, Preußen, Österreich furchtbar zu hassen. Aber nun gab es ja eben innerhalb dieses polni­schen Elementes die Leute, auf die es überhaupt nicht ankam, eben die ganz unzivilisierte Unterschicht mit keiner städtischen und so weiter Intelligenz. Und sehen Sie, von der kam jetzt auch ein Teil an Rußland, ein Teil an Österreich; also an Rußland, wo das Polentum war innerhalb russischer Verhältnisse, an Österreich, wo das Polen­tum war innerhalb Galiziens. Und ein Teil kam an Preußen, wo das Polentum war in Schlesien und Posen. Die polnische Oberschicht ist nicht anders geworden, sondern benahm sich so in den weiteren Verhältnissen, wie sie sich benehmen konnte, indem sie sich mög­lichst

210

wenig anpaßte an die Verhältnisse, die politischen nämlich. Dagegen hat sich schon die Unterschicht in einer höchst merkwür­digen Weise angepaßt. Natürlich, dasjenige, was aus der Unter­schicht aufgestiegen ist, das muß man in der Tat heute suchen als ein neues Ferment, also dasjenige, was da aus der Unterschicht, die un­ter der Oberfläche des polnischen Adelselementes war, aufgestiegen ist. Sehen Sie, es ist kurios, daß eigentlich diese Unterschicht unter den Verhältnissen, die aus der Teilung Polens hervorgegangen sind, erst eine bestimmte Struktur erhalten hat. Durch die Struktur, die in Russisch-Polen war, hat die Unterschicht im eminentesten Sinne ein geistiges Element aufgenommen, ein geistiges Element, das hinzielt auf eine Vertiefung des Denkens und eine Vertiefung des Wissen­schaftlichen durch ein gewisses religiöses Element. In Rußland hat man bis zur Revolution das religiöse Leben nicht vom wissenschaft­lichen unterschieden. Auslaufen lassen die wissenschaftlichen Ge­danken, die Erkenntnisse des Sinnenlebens, in große synthetische, umfassende Ideen ist dasjenige, was von Osten her durch das russi­sche Element in das polnische Element übergegangen ist. Ohne die­sen Einfluß von der geistigen Seite des sozialen Lebens her, sind, wie ich glaube, Menschen wie Slowacki, Dunajewski und so weiter gar nicht denkbar. Dagegen in dem Teil des polnischen Wesens, der übergegangen ist an Österreich, da hat diese Unterschicht aus Öster­reich wiederum aufgenommen das Staatlich-Rechtlich-Politische. Und das ist der Grund, warum aus dem österreichischen Galizier­tum, dem polnischen im Grunde genommen, dennoch die feinsten politischen Köpfe und Redner hervorgegangen sind wie Hausner und Wolski. Diese Leute hätten innerhalb des Polentums niemals entstehen können, wenn nicht dieses Polentum aufgesaugt worden wäre von den benachbarten Gebieten, wo man nehmen konnte aus dem Russentum das Synthetische und aus dem Osterreichischen die Anlage für verfassungsmäßiges, politisches Denken. So ein Mensch wie Hausner, der eine so große Rolle gespielt hat in den siebziger, achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts - er war Abgeordneter von einem polnisch-galizischen Orte -, solch eine Gestalt, oder sein Parlamentskollege Wolski, die sind ganz einseitig auf das hin orien­tiert,

211

was man nennen möchte «politische Köpfe», nicht Leute, die unbedingt verwalten können, aber die in wunderbarer Weise die Verhältnisse durchschauen.

Sehen Sie, das ist es, daß man heute überall redet über politische Verhältnisse, ohne Substanz in seinen Reden zu haben. Man muß sich beschäftigen mit dem, was geschehen ist. Bei dem Agitations­kurs habe ich mir nicht gedacht, daß einzelne im Reden ausgebildet werden, sondern daß Material geliefert werden soll zur Agitation, und von diesem Gesichtspunkt aus rede ich auch jetzt.

Dasjenige, was im Jahre 1918 geschehen ist, was geschehen ist durch die Ereignisse seit 1914, Sie können es im Grunde genommen prophetisch ausgesprochen finden Ende der siebziger Jahre des vori­gen Jahrhunderts im österreichischen Parlament. Es ist richtig, daß dazumal von solchen Leuten wie Hausner und Wolski vom Unter­gang Österreichs gesprochen worden ist, von der Unfähigkeit, die proletarische Frage und andere Fragen zu bewältigen, kurz, alles was Wirklichkeit geworden ist, ist dazumal ausgesprochen worden im österreichischen Parlament. Die Leute haben sich in fast gar nichts geirrt, außer in bezug auf zwei Dinge: in bezug auf die Zeit und in bezug auf die Gegenwartsmöglichkeiten. Sie haben die Zeit überall in phantastischer Weise verzerrt gesehen. Nehmen Sie einen Menschen wie Hausner. Er hat einmal in einer Rede grandios darge­legt, wie in dem Moment, wo Österreich in Bosnien einmarschiert, der Grund gelegt ist zum Niedergang. Das, was den anderen später aufgegangen ist, das hat der Hausner schon in den siebziger Jahren vorgebracht. Aber er hat sich in der Zeit geirrt. Er hat gemeint, daß das in zehn Jahren geschehen würde. Das rührt her von dem östli­chen Element; das ist selbst in dem nüchternen Hausner vorhanden, das Phantastische. Er sieht das Richtige, aber er sieht es in der Zeit verzerrt. Dasjenige, was noch zwei, drei, vier Jahrzehnte brauchte, sagte er für das nächste Jahrzehnt voraus. Und dann gab Hausner einmal eine Kritik des Deutschtums mit völliger Verkennung des Gegenwartsmomentes, denn wenn man diese Rede, die er gehalten hat etwa im Jahre 1880, wenn man die liest, so paßt das auf die Ver­hältnisse von damals gar nicht; es ist aber mit einer gewissen sensiti­ven

212

Grausamkeit dasjenige geschildert, was heute ist. Da irrten sich die Leute, aber es ist doch so, daß man sagen kann, daß Polen beson­ders angeregt worden ist von Osten her für das große, synthetische Denken, und besonders ist es angeregt worden für das politisch-staatliche Leben, das ja wirklich in großartiger Weise beherrscht worden ist von solchen Leuten wie Hausner und Wolski, von Öster­reich her. Und deshalb muß man auch glauben - es ist dieses unbe­dingt richtig und zeigt sich auch in der Wirklichkeit -, daß diejeni­gen Teile von Polen, die dazumal an Preußen gekommen sind, ihre besondere Anregung bekommen haben für die Entfaltung des Wirt­schaftslebens, und daß daher der Angelpunkt liegen muß für die Be­handlung der Teile der Zivilisation, die von Polen her an Preußen gekommen sind, in der Behandlung des Wirtschaftslebens. Die Po­len sind besonders begabt worden von Preußen her im Wirtschafts­leben, von Österreich für das Politische und von Rußland her für das religiös-geistige Leben.

Wir haben hier eine Dreigliederung, die sich so zeigt, daß die Po­len begabt worden sind von Rußland her für die großen geistigen Ideen. Studieren Sie einmal, was man polnischen Messianismus nennt, studieren Sie die Betrachtungen des Slowacki, studieren Sie aber auch dasjenige, was die Polen so alltäglich reden, so werden Sie finden, daß dieser Impuls aus dem Osten kommt. Studieren Sie aber dasjenige, was in den Polen lebt, was sie zu Politikern macht, im Grunde genommen sie überall dabei sein läßt, wo es sich darum han­delt, Verschwörungen anzuzetteln und dergleichen, so werden Sie finden, daß sie das aus Österreich haben. Und Sie werden finden, daß sie das Wirtschaftliche aus Preußen haben.

Aber mit all dem ist es nicht möglich, irgendein Polen wiederum aufzubauen, einen polnischen Staat aufzubauen. Es mußte Europa so zersplittern, daß eine bestimmte Bevölkerung sich von Rußland etwas anderes nahm als von Österreich, nämlich das Geistige, und von Osterreich her etwas anderes als von Preußen, nämlich das Poli­tische, und von Preußen her das Wirtschaftliche; es mußte aus der Zersplitterung das entstehen. Es ließen sich zwar die entsprechen­den Talente erringen für die drei Gebiete, aber es wird kein Einheits­staat

213

daraus entstehen. Man kann es aufbauen, aber es wird immer wieder zerfallen. Es wird niemals ein Polen in Wirklichkeit längere Zeit geben, weil es das nicht geben kann, weil im entscheidenden Moment Polen zerteilt werden muß, damit die Polen zur Ausbil­dung ihrer Talente kommen. Also, dieses Polen wird es nicht geben und heute zu sprechen von Polen, ist eine Illusion und man müßte alles tun, um solche Ideen, wie ich sie jetzt im Keime angedeutet ha­be bezüglich der Unmöglichkeit solcher staatlicher Gebilde, wie sie heute als Einheitsstaaten angestrebt werden, man müßte alles tun, um solche Dinge populär zu machen. Man müßte heute in die Ge­müter der Leute die Erkenntnis hineinverlegen, daß man ins Un­glück hineinrollt, wenn man sagt: Polnisch-sein. Es muß aus dem Polnischen heraus in das Allgemein-Menschliche kommen, dann werden diese Dinge, die sich in der Dreigliederung historisch ent­wickelt haben, fruchtbar werden. Nehmen Sie die Sache von der Ge­genseite: Die Polen haben von Rußland her die großen syntheti­schen Ideen bekommen; also müssen sie ihnen die Russen gegeben haben. Aber diese haben sie nicht mehr, sie sind in den Bolschewis­mus hineingesegelt. Sie waren nicht stark genug, einen Organismus aufzubauen. Sie leben in einem vollständig in die Zerstörung über­gehenden sozialen Organismus. Besonders charakteristisch war das in Österreich, in diesem merkwürdigsten Parlament der Welt der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, wo Menschen lebten wie Haus­ner, Dunajewski, Dzieduszycki und ähnliche. Da lebten auch zum Beispiel der alte tschechische Rieger und der Grégr. Da lebten aber auch Leute wie Herbst, Plener, Carneri - also Deutsche. Da lebten eminenteste Tschechen, eminenteste Polen, eminenteste Deutsche. Mit Bezug auf die Deutschen verhielt es sich ähnlich wie mit den Po­len. Da haben wir wiederum, wie sich die Unterschicht innerhalb des Tschechentums durch das Hineinleben in die österreichischen Verhältnisse zu feinen Politikern ausbildete. Man wird eben in Österreich feiner Politiker, kommt zu einem spitzfindigen Erfassen der politischen Verhältnisse. Das geht aber aus von den Deutschen in Österreich. Und solch ein Mensch wie Otto Hausner mit seinem spitzfindigen Erfassen der Politik, mit seinen treffsicheren Voraussagen

214

des Unterganges Österreichs, er sagte einmal: Wenn wir so fortwirtschaften, dann werden wir in fünf Jahren - er übertreibt na­türlich - überhaupt kein österreichisches Parlament mehr haben. Es hat sich dann erst später, als er gesagt hat, erfüllt, aber richtig vor­ausgesagt war es. Solche Leute wie diese sind nur möglich geworden neben den Deutschen Österreichs, die eigentlich diese Form des Par­lamentarismus vom Westen her annahmen, nach Mitteleuropa ver­pflanzten, das hat ja Schule gemacht. Aber die Deutschen in Öster­reich, sie sind diejenigen, von denen die anderen diese feine, spitz­findige Auffassung des politischen Lebens kennenlernten. Aber sie selber benehmen sich in dieser Auffassung so ungeschickt als mög­lich. Das ist charakteristisch, daß dasjenige, was die anderen von ih­nen lernen und das für sie bedeutsam wird, daß sie sich mit dem un­geschickt benehmen. In dem Augenblick, wo es in die Köpfe der an­deren hineingeht, wird es bedeutsam für das europäische Leben als Ferment. Die Deutschen waren darauf angewiesen, das Territorium, das sie bewohnten, festzuhalten. Das konnten sie nicht. Die Polen brauchten keines festzuhalten, denn sie hatten keines. Sie konnten die Ideen als solche entwickeln. Also diese Deutschen, sie konnten mit den Ideen nichts anfangen, sie gaben sie den anderen und da wirkten sie so, daß sie den eigenen sozialen Organismus untergraben haben.

Kommen wir nun zum dritten Element: In Deutschland entwik­kelte sich ja wirklich ein wirtschaftliches Leben. Man kann sagen, daß über alles das, was sonst an wirtschaftlichem Leben sich in der Welt entwickelt hat, das wirtschaftliche Leben im mitteleuropäi­schen Deutschland hinausgeschritten ist. Riesige wirtschaftliche Verhältnisse entwickelten sich da. Aber sie wuchsen in das Luftige hinein, konnten sich nicht halten. Polen konnte wiederum davon vieles lernen, aber die Deutschen konnten nicht so weiter wirtschaf­ten. Sie steuerten in die Katastrophe hinein. Dies wäre auch der Fall gewesen, wenn der Krieg nicht gekommen ware.

Wir haben also wiederum eine Dreigliederung des europäischen Unterganges: von der geistigen Seite in Rußland, von der rechtlich-politischen in Österreich, von der wirtschaftlichen in Deutschland.

215

Dem kann man wirklich nur entgegensetzen die Dreigliederung des Aufganges, das heißt das vollbewußte Erfassen des Dreigliederungs­gedankens.

Und nun soll man sich vorstellen: Es gibt ein Territorium, das heute entscheiden soll, ob es nun zu demjenigen gehören will, das also keinen Staat begründen kann, zu Polen; oder ob es zu einem Glied jenes dreigegliederten Europa werden soll, das alle Elemente zusammenbrachte, um in den Niedergang hineinzukommen, Öster­reich, Preußen-Deutschland und Rußland, es soll also entscheiden, ob es zu einem dieser drei Glieder, in diesem Falle zu Deutschland, gehören soll. Müßte nicht solch eine Entscheidung Anlaß sein, sich darauf zu besinnen, worin das Heil heute besteht, indem wir sagen:

Wir kümmern uns nicht darum, was heraufgekommen ist in Europa, sondern wir wollen dasjenige, was neu kommen muß, in die Ent­wickelungsmomente hineinlegen. Es mag möglich sein, klug zu re­den, und das, was ich hier ausgeführt habe, für unklug zu halten, aber es wird kein vernünftiges Europa hervorgehen können aus dem, was einfach so dahergeredet wird. Deshalb ist es notwendig, daß wir uns auf positive, reale Verhältnisse stützen. Das ist es, was ich Ihnen heute zunächst sagen wollte.

216

ZWEITER VORTRAG Stuttgart, 2. Januar 1921

Es tut mir leid, daß wir nicht längere Zeit verhandeln können. Ich kann Ihnen gerade für unser spezielles Problem nur einzelne Anre­gungen von den verschiedensten Gesichtspunkten her geben. Heute Nachmittag wollen wir dann an die einzelnen Fragen, die die Freun­de zu stellen haben, anknüpfen.

Ich habe gestern, mehr aus einem gewissen geschichtlichen Zu­sammenhang heraus, versucht, Ihnen die Aussichtslosigkeit klarzu­machen, die bei einer solchen Abstimmung, wie die bezüglich der oberschlesischen Frage, unter den heutigen Verhältnissen vorhan­den ist. Diese Aussichtslosigkeit kann uns aber noch von verschiede­nen anderen Seiten her vor Augen treten. Es ist nun schon einmal so, daß sich alle Menschen, die aus den alten Voraussetzungen her­aus heute denken, schlimmen Illusionen über die Zukunft des euro­päischen Lebens hingeben. Man lebt ja heute eigentlich nur von Illu­sionen. Und diejenigen unserer Freunde, die sich vornehmen, nun tatsächlich für eine Verbesserung der Verhältnisse zu wirken, die müssen es sich schon klar machen, daß wir nur in dem Maße vor­wärtskommen können, als es uns gelingt, verhältnismäßig schnell Aufklärung zu schaffen, und zwar nicht nur Aufklärung aus den kleinen Verhältnissen heraus, sondern Aufklärung aus den ganz um­fassenden Weltverhältnissen heraus, die eigentlich heute auch in die Verhältnisse des kleinsten Territoriums hineinspielen. Anknüpfen an Institutionen und dergleichen, die schon bestehen, werden wir kaum können. Wir werden nur an Menschen herankommen müs­sen, welche geneigt sind, unsere Ideen aufzunehmen, damit wir im­mer mehr und mehr solche Menschen haben und dann mit diesen Menschen etwas anfangen können. Und wir müssen versuchen, die­sen Menschen klarzumachen, daß sie sich auch innerhalb der jetzi­gen Verhältnisse schon in einer solchen Weise werden verhalten müssen, wie es im Sinne unserer Ideen liegt. Denn, sehen Sie, wenn wir gestern festgestellt haben, daß im Grunde genommen sowohl

217

die deutsche als auch die polnische Seite eigentlich keine Zukunft in­nerhalb der alten und auch der angestrebten staatlichen Verhältnisse hat, so können wir auf der anderen Seite aber uns auch klarmachen, daß auch aus anderen Untergründen heraus diese Aussichtslosigkeit durchaus besteht. Natürlich ist Oberschlesien hineingestellt in die ganzen europäischen Verhältnisse. Die besondere Lage ist nur diese, daß es in einer gewissen Weise heute über sein Schicksal zu entschei­den hat. Das muß berücksichtigt werden. Überall da, wo es Ent­scheidungen gibt, müssen heute die großen Gesichtspunkte ins Feld geführt werden.

Sehen wir uns heute für einen Augenblick die europäischen Ver­hältnisse von einem anderen Gesichtspunkte als gestern an. Sehen Sie, die Wirtschaftsverhältnisse Europas liegen ja so, daß Mittel- und Osteuropa in bezug auf alles das, was sich aus ihren alten Verhältnis­sen heraus entwickelt hat, einem raschen Verfall entgegengeht. Aus den alten wirtschaftlichen Untergründen heraus, vor allen Dingen aber auch aus den staatlichen und geistigen Untergründen heraus, läßt sich in Europa nicht weiterarbeiten. Die Menschen, die sich heute mit den öffentlichen Zuständen beschäftigen, machen sich zwar Vorstellungen über das Furchtbare dieses Niederganges, aber sie machen sich eben illusionäre Vorstellungen. Eine Hauptillusion müssen wir ja insbesondere bei den Menschen von Mitteleuropa -und bei denen Osteuropas ist es nicht anders - darinnen sehen, daß geglaubt wird, daß eine Verständigung mit dem Angelsachsentum oder mit den westlichen Ländern überhaupt unter den alten Verhält­nissen möglich sei. Eine solche Verständigung ist eben nicht mög­lich, und an der Unmöglichkeit einer solchen Verständigung muß auch eine solche Abstimmung, wie diejenige über die oberschlesi­sche Frage, stolpern. Sie muß über diese Unmöglichkeit stolpern. Man kann nicht in die Verhältnisse hinein, die jetzt doch durch, sa­gen wir, die Staatsmänner und Wirtschafter der ehemaligen Entente geschaffen werden, einfach abstimmen. Welche Vorstellungen kann sich ein Mensch, der im Grunde genommen halb denkt - ganz wird ja kaum gedacht -, welche Vorstellungen kann sich der über eine mögliche Wiederherstellung der wirtschaftlichen und sonstigen europäischen

218

Zustände machen? Er kann sagen: Das erste, was mög­lich ist, das wäre eine durch Amerika zu erlangende große Valuta­Anleihe, das wären große Vorschüsse. Sie wissen ja - solche Dinge werden besprochen heute -, große Vorschüsse, Kredite, die ja nur von Amerika ausgehen könnten, würden den Europäern, vielleicht garantiert durch die einzelnen Staaten, die sich so konsolidieren wollen, gegeben, und es würde durch eine solche Valuta-Anleihe das wirtschaftliche Leben gehoben werden können. Europa würde wie­derum mit Rohstoffen, mit Nahrungsmitteln versorgt werden kön­nen, und es könnte vielleicht im Verlaufe von 30, 40, 50 Jahren eine Hebung der europäischen wirtschaftlichen Verhältnisse stattfinden. Diese Vorstellung entspricht eben durchaus einem Halbdenken. Es wird keineswegs irgendeine Regierung in Amerika imstande sein, jene Widerstände zu beseitigen, die einfach in den europäischen Ver­hältnissen liegen. Die Staaten Europas sind nicht imstande, genügen­de Garantien zu bieten, auch wenn es zu kleinen Maßregeln kommt

- zu solchen Maßregeln kann es unter dieser Voraussetzung aber nicht kommen -, die nun wirklich dazu führten, daß eine Besserung der europäischen wirtschaftlichen Verhältnisse durch solche Valuta­Anleihen erreicht würde, wodurch die Verunmöglichung des Wirt­schaftslebens durch die Valuta-Differenzen in einer gewissen Weise differenziert würde. Aber so ist ausgeschlossen, daß auf diesem We­ge etwas erreicht würde. Man könnte sich da noch denken, daß in einem kleineren Maßstabe etwa herangetreten würde an einzelne Leute in den neutralen oder in den Ententeländern oder in Amerika, die aus dem Vertrauen heraus, wiederum zu einzelnen wirtschaften­den Persönlichkeiten in den europäischen Ländern, Einzelkredite gewährten. Allein eine solche Aktion würde sich nach den bestehen­den Verhältnissen nur in einem kleinen Rahmen bewegen können, denn die Leute, die in den neutralen oder in den Ententeländern auf­zutreiben wären, um solche Kredite zu gewähren, die Leute wären so wenig, daß an eine Verbesserung der europäischen Verhältnisse durch dieses kleinere der beiden Mittel erst recht nicht gedacht wer­den könnte. So verfallen die Leute dann in alle möglichen Illusio­nen. Sie überspringen gewissermaßen Mittelglieder und denken an

219

die Organisation einer Art von Weltwirtschaftsbund, der sich her­ausentwickeln soll aus der Idee des Völkerbundes. Sie denken daran, daß man in einer Art Weltstaat alles Wirtschaftsleben verstaatlichte, so daß dann eben nicht in Betracht kämen die einzelnen Passiva in den besiegten Ländern. Nun, das ist natürlich eine schreckliche Uto­pie, denn es ist ja selbstverständlich das, was sich mit Bezug auf die Wirksamkeit des Völkerbundes gezeigt hat, durch die Versammlung in Genf aufgedeckt worden. Und an einen solchen, eben nach der wirtschaftlichen Seite hin orientierten Völkerbund, Erwartungen zu knüpfen, ist heute durchaus etwas Utopisches. Um was es sich heute handelt, ist, daß man tiefer hineinschaut in das, was die Entwicke­lungskräfte der Menschheit sind, und daß man versucht, zu Maß-nahmen zu kommen, die nun wirklich helfen können und die wir­ken müssen. Solche Maßnahmen sind eben nur aus der Dreigliede­rung heraus zu gewinnen, und sobald man sich Illusionen darüber hingibt, daß ohne die Dreigliederung etwas zu machen sei, so arbei­tet man einfach an dem Niedergang mit. Bedenken Sie doch nur, was es bedeutet, wenn zum Beispiel die oberschlesische Bevölkerung abstimmt für den Anschluß an Preußen-Deutschland. Das bedeutet ja nichts anderes, als daß sich diese Bevölkerung mit ihrem Gebiet ausliefert an ein größeres Gebiet, das, wenn es so fortarbeitet, wie es bisher gearbeitet hat, unbedingt der Barbarei verfallen muß. Es kann sich nicht handeln um einen Anschluß an ein Gebiet, das nicht be­reits zeigt, daß es die alten Verhältnisse überwunden hat. Das zeigt sich ja bei den maßgebenden Kreisen in Preußen-Deutschland durchaus noch nicht, sondern das Gegenteil davon ist der Fall. So betrachten wir die Tatsachen einfach ganz objektiv: ein Anschluß an Preußen-Deutschland bedeutet durchaus ein Sich-Ausliefern an unmögliche Zustände.

Denn sehen Sie, da kommen wir auf die andere Illusion, welche sich - und wir wollen auf dieses eingehen - die besten Menschen auf der Ententeseite machen. Es gibt ja solche Menschen wie Keynes, der einen gewissen Anhang hat, oder Norman Angell, der auch einen ge­wissen, sogar sehr großen Anhang hat. Wie denken diese Menschen? Diese Menschen denken, daß der Versailler Vertrag unbedingt revi­diert

220

werden muß, daß es auf der Grundlage des bestehenden Vertra­ges nicht weitergehen kann. Aber warum denken sie das? - Sie den­ken so: Europa war bisher im wirtschaftlichen Verkehr mit der übrigen Welt. Verfällt Europa der Barbarei, zerfällt sein Wirtschafts­leben, dann zerfällt damit - so meinen diese Leute, besonders Nor-man Angell -, dann zerfällt auch das Wirtschaftsleben nicht nur der Ententestaaten - das zerfällt selbstverständlich -, sondern auch das amerikanische Wirtschaftsleben, weil die europäischen Absatzorte dann nicht mehr da sind. Man brauche auf beiden Seiten der Entente und Amerikas die europäischen Länder, um mit ihnen in frucht­baren wirtschaftlichen Verkehr treten zu können. Sehen Sie, aus die­sen Untergründen heraus urteilen die besten Leute der Entente. Man kann schon sagen, daß eigentlich ganz Bedeutsames nach dieser Richtung hin in den letzten Monaten gesagt worden ist, und daß die Leute an Zahl zunehmen, welche von der Unmöglichkeit des Ver­sailler Vertrages und all dessen, was er in seinem Gefolge hat, über­zeugt sind. Aber sie haben Unrecht, sie leben in einer Illusion, sie urteilen eben auch aus den bestehenden Denkgewohnheiten und Empfindungsgewohnheiten heraus. Man muß sich vor grausamen Wahrheiten eben nicht sensibel zurückziehen. Es ist eben einfach nicht wahr, daß die angelsächsische Bevölkerung angewiesen ist dar­auf, im wirtschaftlichen Verkehr mit Mittel- und Osteuropa zu ste­hen. Sie ist höchstens nur darauf angewiesen, ihr gesamtes Wirt­schaftsleben umzuorganisieren, zu einem in sich geschlossenen Wirtschaftskörper zu machen und kann dann ganz gut weiterbeste­hen, auch wenn in Europa so und so viele Menschen Hungers ster­ben. Es sind gutgemeinte Dinge, die da gesagt werden, aber sie sind nicht wahr. Es würde ja vielleicht fünfzehn bis dreißig Jahre dauern, bis das Wirtschaftsleben in den Ländern außerhalb Mittel- und Ost-europas so umgeordnet werden kann, damit es in sich bestehen kann; die reale Möglichkeit liegt durchaus zu solcher Umordnung vor. Wenn man in der Lage wäre, so vorzugehen, wie es sich diese Leute vorstellen, so müßte das, was auch aus den alten Vorausset­zungen heraus irgend jemand in Mittel- oder Osteuropa tut, doch zuletzt dazu führen, daß auf dem Umwege der Barbarisierung die

221

westliche Welt gefördert würde. Anderes ist im Grunde genommen nicht zu sehen aus den alten Voraussetzungen heraus.

Man könnte sich vorstellen, daß eine Majorität, namentlich in Amerika, bestünde, die darauf hinarbeitete, Europa einfach seinem Schicksal zu überlassen und das westliche Erdgebiet zu einem ge­schlossenen Wirtschaftsgebiet zu machen. Diesem Zustand würde man sich aber unbedingt ausliefern, wenn man sich an die bestehen­den Zustände in Mitteleuropa durch Abstimmung anschlösse. In­dem man sich Polen anschließen würde, würde man ja auch nichts anderes tun. Es ist die Aussicht schon mit dem eben Gesagten vor­weggenommen. Man würde auch nichts anderes tun, als sich der Denkweise der Entente ausliefern. Polen ist zwar der Schützling der Entente, aber es würde ihm das in allen entscheidenden Fällen nichts helfen, es würde dem Ruin der europäischen Verhältnisse ausgelie­fert sein, oder es würde in die katastrophalen Ereignisse hineingezo­gen werden, die ich gleich jetzt andeuten will.

Also, eine Abstimmung nach beiden Seiten hin ist ein Unding. Wir müssen uns diesen Satz zunächst ganz klar vor die Seele halten:

es ist eine solche Abstimmung ein Unding. Unter welchen Voraus­setzungen sie für den einen oder anderen Fall doch stattfinden könn­te, wollen wir noch nachher besprechen. Wir müssen uns eben ganz klar darüber sein, daß man die Welt heute nicht halten kann mit denjenigen Gedanken, die man sich früher gemacht hat. Das zeigt sich besonders durch Dinge, welche ich gestern versuchte darzustel­len. Polen, sagte ich, hat ja das zurückbehalten, was das andere Eu­ropa in gewisser Weise überwunden hat: eine Art von Adelsherr­schaft. Unter dieser Adelsherrsc haft hat sich dann jene Unterschicht entwickelt, welche die Impulse für ihre Gescheitheit und ihre Tat-kraft gewonnen hat, ich möchte sagen, durch eine Dreigliederung:

nämlich von Rußland her das Geistige, von Preußen-Deutschland her das Wirtschaftliche, von Österreich her, auf dem Umwege durch Galizien, das Staatlich-Politische. Es hat sich diese Unter­schicht gewissermaßen hineingelebt in die bourgeoisen Strömungen, die für eine Zeitlang in Europa die Oberhand hatten, so daß sich das, was sich in Polen aus der Unterschicht mit demjenigen des übrigen

222

Europa herangebildet hat, in das Bourgeoistum hineingearbeitet hat. Aber es ist heute stumpf in seiner Wirksamkeit, wie das Bourgeois­tum überhaupt stumpf ist.

Nun, es gibt heute nämlich einfach den breiteren Untergrund und dieser breitere Untergrund tritt uns entgegen in einem Scheinbilde heute, in einem wirklichen Scheinbilde. Er tritt uns entgegen im Westen mehr als verbürgerlichte Arbeiterbewegung, in der Mitte Eu­ropas als mehr oder weniger so und so nuancierte Sozialdemokratie, und je weiter wir nach Osten kommen, tritt er uns in der Form des Bolschewismus entgegen. Die Lebensbedingungen des Bolschewis­mus in Rußland, die muß man sich einmal klarmachen. Übrigens liegt ja das schlesische Abstimmungsgebiet sehr nahe diesen Lebensbedin­gungen des Bolschewismus, und man muß sich über diese Lebensbe­dingungen des Bolschewismus vollständige Klarheit verschaffen.

Sehen Sie, der Bolschewismus rührt einmal davon her, daß die Oberschicht, sei es nun die Adelsschicht, sei es die Bourgeoisschicht, in der neueren Zeit keine Möglichkeit gefunden hat, das Denken auszudehnen über dieselben Gebiete, wohin die Arbeit ausgedehnt worden ist und wohin vor allen Dingen der menschliche Wille aus­gedehnt worden ist. Man hat mit den alten Gedanken fortgearbeitet, hat das Kommerzielle, das Wirtschaftliche ausgebaut, hat herangezo­gen die breite Masse der Bevölkerung, man hat aber keine Schritte getan, um irgendwie anders als aus den alten Staatsverhältnissen her­aus dieser breiten Masse der Menschheit irgendwie nachzukommen. Und es muß nun leider gesagt werden: es geschieht auch heute noch nicht, denn in der Weise, wie es einzig geschehen könnte, geschieht es eben noch nicht. Das muß unsere Hauptsorge sein. Denn es ist ein charakteristisches Beispiel, wie man führende Persönlichkeiten herangebracht hat an das, was sich in der breiten Masse der Mensch­heit eigentlich regt und rührt. Auf einem vernünftigen Wege ist es nicht geschehen. Der Ludendorff erzählt ja selber in seinen Erinne­rungen, daß er die Führer des Bolschewismus nach Rußland beför­dert hat; er sagt, es war für ihn eine militärische Notwendigkeit, und die Politiker wären dazu verpflichtet gewesen, die schlimmen Fol­gen dieser Notwendigkeit abzuwenden. Also er leugnet nicht, daß

223

er dem Bolschewismus in Rußland seine Führer gegeben hat, er sagt nur, die Politiker waren nicht gescheit genug, die große Torheit, die er begangen hat, wieder gutzumachen. Solche Dinge sind heute möglich und werden hingenommen. Also aus den urältesten staatli­chen Verhältnissen, aus denen heraus Ludendorff gedacht hat, sind dem Bolschewismus die führenden Persönlichkeiten zugeführt wor­den, nicht aus einem vernünftigen Zusammenwirken der Menschen, die etwas wissen über den Gang der Menschheit und derjenigen Menschen, die eben geführt sein wollen, aber nicht innerhalb der al­len Verhältnisse geführt sein wollen, sondern zu neuen Verhältnis­sen geführt sein wollen. Das ist etwas, was durchaus mit aller Gründlichkeit erkannt sein muß. Seit dem Weltkrieg ist es ja nicht mehr wahr, daß nur die alten Proletarier diese breite Unterschicht ausmachen. Zu dieser breiten Unterschicht gehören Mitglieder aller früheren Klassen. Und auch mit dieser Tatsache rechnet man heute noch nicht. Man rechnet noch nicht damit, daß auf diejenigen Men-schen, die sich noch etwas von Intelligenz aus der Vorkriegszeit mit­gebracht haben, vor allen Dingen mit vernünftigen Ideen gewirkt werden muß, so daß immer mehr und mehr eine führende Intelli­genz auf vernünftige Weise in die Welt hineinkommt. Das ist die al­lerwichtigste Frage heute, daß den Menschen, die sich noch etwas von Intelligenz bewahrt haben, die Augen aufgetan werden, damit sie zu den richtigen Führern werden. Ohne dieses kommen wir nicht vorwärts. Denn sehen Sie, zwei Dinge stehen bevor. Das eine ist schon angedeutet worden vorhin: der Aufbau innerhalb Mittel-und Osteuropas ist aus anderen Untergründen heraus als durch die Dreigliederung nicht möglich; er ist nicht möglich durch die Men­schen Mittel- und Osteuropas, aber auch nicht durch die Menschen der Entente. Die Menschen der Entente und Amerikas könnten nur unter einer Voraussetzung, sei es im Zusammenhang mit der Ge­währung von Anleihen im großen Stil oder kleineren Krediten, ir­gend etwas machen, sie könnten es nur unter der Voraussetzung, daß ein bedeutendes Lohndrücken in Europa stattfände gegenüber Amerika. Da würde sich aber sofort das amerikanische Proletariat dagegen wehren, das würde vielleicht auch das englische Proletariat

224

nicht zulassen. Es würde durch jede Maßregel, die nach dieser Rich tung hin ginge, die Revolution in den westlichen Ländern selber ge­fördert werden. Und das ist dasjenige, was man unbedingt der Menschheit in Aussicht zu stellen hat, daß aus der breitesten Unter­schicht heraus, jetzt nicht von auswärts, sondern aus der Unter­schicht gedacht, die bolschewistische Revolution auch die westliche Welt ergreift. Die führenden Persönlichkeiten im Westen von heute mögen noch so viele Blockaden aufrichten gegen die bolschewisti­sche Verseuchung des Westens, das, was vom Osten kommt durch Übertragung des Bolschewismus, das ist für diese westlichen Länder nicht die Hauptsache, sondern das ist die Hauptsache, was von unten nach oben steigt; das ist das Wesentliche.

Nun gibt es heute schon eine Anzahl von Leuten - und diese wird rasch wachsen -, welche einsieht, daß es ganz unmöglich ist, durch irgend etwas anderes als durch die Revolution hindurchzugehen, wenn man im alten Sinne weiterarbeitet. Und gerade so, wie man im alten Sinn den Leuten gesagt hat: wir mussen einen Krieg machen, damit wir die Revolution im eigenen Lande besiegen, heißt es nichts anderes, als daß hingearbeitet werden muß gerade unter den im alten Sinn verständigen Menschen des Westens auf den zweiten Weltkrieg. Es geht gar nicht anders, als daß zur Abwendung des inneren Bolschewismus im Westen auf den zweiten Weltkrieg hingearbei­tet werden muß. Dieser zweite Weltkrieg steht um so sicherer in Aussicht, als im Osten niemals ein Verständnis, sobald die Dinge auf die Spitze getrieben sein werden, gewonnen werden kann für die wirtschaftlichen Maßnahmen des Westens. Im Osten wird sich die­jenige Denkweise, die heute in Rußland zutage tritt, verbinden sogar mit den religiösen Vorstellungen des Ostens, und es wird über ganz Asien eine Stimmung entstehen, zu deren Führerschaft die japani­sche Bevölkerung und deren Machthaber außerordentlich taugen, so daß in die wirtschaftlichen Wirren der Zukunft hineinfallen wird die Ost-West-Spannung. Der zweite Weltkrieg, der sich zwischen Asien und Amerika, und was dazwischen liegt, entwickeln muß, er muß sich aus wirtschaftlichen Untergründen heraus ganz unbedingt entwickeln. Sie hören ja, wie aus den Unterschichten heraus der Ruf

225

ertönt: Weltrevolution! Dieser Weltrevolutionsgedanke, er wird mit einem Nebel allein dadurch zugehüllt werden können, daß diese zweite Weltkriegskatastrophe entfesselt wird. Das ist gar nicht an­ders denkbar.

Nun leben wir also einer solchen Zeit entgegen, in der der Kon­fliktstoff zwischen Amerika und Asien immer stärker und stärker wird. Selbstverständlich werden die Völker, die dazwischen liegen, in diesen Konflikt hineingezogen. Sie können ganz sicher sein, daß Asien mit den Japanern an der Spitze gegenüber dem, was von We­sten kommt, in derselben Lage sein wird, wie Mitteleuropa war ge­genüber der Entente. Man wird sich auf Seiten des Ostens vielleicht eine Zeitlang großen Siegeszuversichten hingeben, aber ebenso wie Amerika in Europa ausschlaggebend war, wird es auch in Asien aus­schlaggebend sein. Aber der Ludendorff wird sich finden im Osten, der die nötigen Führer nach dem Westen schicken wird, um den Westen bolschewistisch, das heißt, asiatisch in diesem Falle zu ver­seuchen. Der wird sich auch unter den Japanern finden. Und dann haben Sie dasjenige, wofür die Stimmung vorhanden ist aus den brei­testen Schichten heraus, das haben Sie durch den zweiten Weltkrieg einfach hingestellt. Das Amerika muß einem vor den Augen stehen, in dem ein Lenin wirtschaftet, wie jetzt der Lenin in Rußland wirt­schaftet. Man muß sich vor diesen Perspektiven nicht verschließen, muß sich klar sein, daß die Ursachen der gegenwärtigen Not im wirtschaftlichen Niedergang liegen, daß die Wirkungen in der Bar­barisierung der Menschheit liegen. Dem läßt sich nur eine einzige Tatsache gegenüberstellen, das ist diese, die vielleicht in unserem Zu­sammenhang hier ausgesprochen werden darf, die aber durchdrin­gen soll unser ganzes Wirken, die aber vielleicht nicht zu einem Agi­tationsstoff gemacht werden darf, denn in dem Augenblick, wo sie zu einem solchen gemacht wird, wird sie in diesem weltgeschicht­lichen Augenblick sofort totgemacht.

Sehen Sie, es gibt über die ganze Welt hin Leute, welche einfach, weil sie an ein Ende kommen mit dem gegenwärtigen wirtschaftli­chen, staatlichen und geistigen Denken, anfangen, ernsthaft diese Dreigliederung zu erwägen. Dasjenige, was zum Beispiel aufgetreten

226

ist als Reaktion auf die Übersetzung der «Kernpunkte der sozialen Frage» ins Englische, ist ein vollgültiger Beweis dafür. Und würden wir schon so stark sein, daß wir mit gehöriger Stoßkraft wirken könnten, dann würden wir, wenn wir den Umstand benützen könn­len, daß in den englischen Zeitungen die «Kernpunkte der sozialen Frage» besprochen worden sind, wir würden da, solange die Stim­mung warm ist, eine sehr wirksame Agitation entfalten können. Das aber, woran es uns fehlt, sind die Persönlichkeiten, ist eine genügend große Anzahl von Persönlichkeiten, die für unsere Sache durch­schlagend wirken könnten. Das hat dazu geführt, daß ich schon im Frühling 1920 darauf hingewiesen habe, daß wir zunächst hier in Stuttgart fünfzig Menschen haben müßten, die alles das unter sich und mit mir besprechen, was notwendig ist, damit es unter die Leute gebracht werden kann. Darum handelt es sich heute. Es gibt kein anderes Mittel, als eine genügend große Anzahl von Menschen auf­zuklären. Dazu ist aber eine genügend große Anzahl von Aufklären­den notwendig, die aus den Untergründen heraus sprechen. Denn Sie können sicher sein: Wenn Sie das ausbilden, was wir heute und gestern hier besprochen haben, das wirkt; es muß nur in genügend starkem Umfange an die Leute herangebracht werden. Es genügt nicht, wenn wir es mit einer Anzahl von zehn verbreiten, sondern wir müssen es mit hunderten von Agitatoren verbreiten können. Das ist notwendig, daß wir immer mehr und mehr Persönlichkeiten haben.

Also, wie gesagt, aus der Unterschicht steigt Verständnis auf über die ganze Welt, die der Barbarei entgegengeht; aber Führer müssen da sein, Führer, die durch ihre innere Qualität durch und durch ver­stehen können, was in der Dreigliederung steckt; diese Führer, die kann es nur geben in Mitteleuropa. Das ist das Paradoxon, das heute vor die Menschheit hingestellt ist, daß in denjenigen Gebieten, die am meisten gedrückt sind, am meisten besiegt sind, doch die Men­schen leben, die am meisten den Ausgang aus den Wirren der Menschheit verstehen können. In dieser Beziehung sind wir ja in Mitteleuropa stark genug geprüft. Bedenken Sie, aus den besten Qualitäten des deutschen Volkes ging seit der ersten Hälfte des 19.

227

Jahrhunderts der Gedanke einer zunächst ideellen Organisation die­ses deutschen Volkes hervor. Was sich geltend gemacht hat als Ein­heitsstreben, namentlich seit 1848, das ging aus den schönsten Qua­litäten des deutschen Volkes in Mitteleuropa hervor, das war durch­aus Edelmetall in der Kulturentwickelung der Menschheit. Und das hat eine bestimmte Qualität in sich, an die man appellieren muß, das hat die Qualität in sich, daß es von keinem Volk der Erde verachtet wird, gehaßt wird, sondern im Gegenteil von allen, auch von den Polen, angenommen wird, wenn es in der Qualität auftritt, wie es dazumal als eine politische Idee in Deutschland aufgetreten ist. Denn es sind im Grunde genommen unter jenen Menschen, die spä­ter im sogenannten realistischen Deutschland als die Achtundvier­ziger-Idealisten verhöhnt worden sind, einige, die gewisse Qualitä­ten am allerbesten zum Ausdruck gebracht haben. Dagegen steht dem all das gegenüber, was sich in den letzten Jahrzehnten innerhalb Mitteleuropas, sowohl in Österreich wie in Deutschland, zugetragen hat. Da haben sich diejenigen Dinge entwickelt, die im Grunde ge­nommen dem deutschen Wesen widersprechen, und die sind es, die in der ganzen Welt gehaßt werden, über die die ganze Welt schimpft. So lange innerhalb Mitteleuropas nicht eingesehen wird, daß Mittel­europa aus jenen Untergründen heraus zu arbeiten hat, die im Gei­stigen liegen, daß Mitteleuropa vermöge seiner ganzen historischen Mission nicht auf Machtverhältnisse sich stützen kann, sondern al­lein auf geistige, so lange ist noch nicht der Impuls für irgendein ent­wickeltes Mitteleuropa gegeben, sondern es ist lediglich der Impuls gegeben zum Untergang der ganzen zivilisierten Welt. In dieser Be­ziehung kann man doch eigentlich auf Fichte zurückblicken. Ich ma­che Sie nur auf zwei Punkte bei Fichte aufmerksam, auf die letzten Worte, die er ausgesprochen hat in seinen «Reden an die deutsche Nation», worin er die Deutschen auffordert, sich selbst ihrer eige­nen Qualitäten zu besinnen, aus ihrem Inneren heraus zu arbeiten, weil sie dadurch auf die Welt höher hinausblicken. Und auf der an­deren Seite hat er die Deutschen ermahnt, zu verzichten auf die See-herrschaft. Lesen Sie es in den «Reden an die deutsche Nation» nach, wie stark Fichte abgeraten hat. irgendeine Seeherrschaft anzustre­ben.

228

Fichte ist der Spötter auf die sogenannte Freiheit der Meere. Das war aus einem tiefen Instinkt heraus.

Und sehen Sie, in dem Augenblick, wo man diese Dinge berührt, muß man auch darauf hinweisen, daß hier der Hebel zur Umkehr liegt. Lesen Sie den wichtigen Hinweis, der damals nicht verstanden worden ist, wie die ganze Schrift nicht verstanden worden ist, den wichtigen Hinweis, den ich versucht habe zu geben in meinen «Ge­danken während der Zeit des Krieges», nämlich, daß das deutsche Volk unschuldig ist am Kriege. Lesen Sie diesen wichtigen Hinweis und lesen Sie die Überschrift auf dem Umschlag, daß die Schrift ge­richtet ist an Deutsche und an solche, die nicht glauben, sie hassen zu müssen; denn ich wußte ganz gut: nur bei solchen Menschen kann das verstanden werden. Aber solche Menschen haben sich da­zumal nicht gefunden, obwohl ich gedrängt worden bin, eine zweite Auflage dieser Schrift zu veranstalten. Ich habe es natürlich unterlas­sen, denn darauf eingegangen sind im Grunde genommen nur die Leute, die geglaubt haben, die Deutschen hassen zu müssen. In Deutschland hat man hübsch zu diesen Dingen geschwiegen. Das Buch hätte nur Bedeutung erlangt, wenn es voll genommen worden ware in seiner Tatsachengrundlage. Daher mußte es aus dem Buch­handel heraus. Ich wollte im Kreise derer, die Deutsche sind und die glauben, die Deutschen nicht hassen zu müssen, eine gewisse Stim­mung, die durchaus in den Untergründen der Seelen vorhanden war, hervorrufen. Wäre diese Stimmung, wie sie damals gemeint war, wirklich zur Erscheinung gekommen, würde sie damals eine Atmosphäre gebildet haben, das heißt, hätte man auswärts gesehen, daß es eine solche Stimmung gibt, dann wäre das zum Glück ausge­schlagen. Würde man eine solche Stimmung heute wahrnehmen, so würde das noch immer zum Glück ausschlagen. Lassen Sie mich noch folgendes sagen, wobei ich Sie bitte, die Worte, die ich Ihnen vorlesen will, gerade für den Zusammenhang, in dem wir jetzt stehen, berücksichtigen zu wollen: «Die Deutschen haben ihre Re­gierung nicht gedrängt, in den Krieg einzutreten. Sie haben nichts davon vorher gewußt und haben nicht zugestimmt. Wir wollen das deutsche Volk nicht zur Verantwortung ziehen, das selbst in

229

diesem Krieg all die Leiden durchgemacht hat, die es nicht selbst verursacht hat.»

Ich frage Sie, stimmt das nicht vollkommen überein mit demjeni­gen, was ich in dem Büchelchen «Gedanken während der Zeit des Krieges» ausgesprochen habe? Wer hat aber diese Worte unter dem Druck von gewissen Menschen am 14. Juni 1917 gesagt? - Das war Woodrow Wilson. Da liegt, wenn man die Sache so auffaßt, die Mög­lichkeit der Verständigung über die Erde hin. An diese Wendung muß man denken, auch heute noch denken, daß in dem Augenblick, wo sich irgend etwas geltend macht in Europa, was zeigt, daß es nur zu tun hat mit der sachlichen Entwickelung der Menschheit und nichts, aber auch gar nichts zu tun hat mit einem Zusammenhang mit alten Dingen, daß in dem Augenblick von Mitteleuropa aus eine Verständigung mit der Welt gefunden werden kann. In dem Augen­blick, wo, wenn auch nur in eingeschränktem Maße, in irgendeinem Punkte an die Selbstbestimmung der Menschen in Mitteleuropa ap­pelliert werden kann, muß sich zeigen, daß aus dem deutschen We­sen heraus das deutsche Wesen nichts zu tun haben will mit all den­jenigen, die einen Zusammenhang haben mit den alten Gewaltha­bern, gleichgültig, ob sie alte Staatsmänner sind oder ob sie Indu­strielle sind, die ihren Profit gesucht haben, ganz gleichgültig, ob sie auf der Seite von Heliferich oder Erzberger stehen oder auf der Seite der deutschen Demokratie. Alles das, was irgendeinen Zusammen­hang mit dem, was zunächst in das Wilhelminische Zeitalter hinein-gesegelt ist, hat, muß ausgeschaltet werden. Und aus dem wirklichen Untergrund des deutschen Wesens, zu dem auch das österreichische gehört, muß dasjenige gefunden werden, was gesagt werden kann. Denn dann stimmt das überein mit dem, was jene, die sich noch be­sinnen auf die Wahrheit, in der ganzen Welt sagen. Daher wird in der ganzen internationalen Welt der größte Eindruck hervorgerufen werden können, wenn irgendein Häuflein sagt: Wir wollen nichts zu tun haben mit dem Preußen, wie es sich herausgebildet hat, wir wollen nichts zu tun haben mit demjenigen, was unter der Protek. tion der Entente steht, wir wissen, daß aus den Untergründen ganz andere Kräfte aufsprossen können, wir wollen uns auf den Standpunkt

230

der Dreigliederung stellen, wir wollen nicht nur eine Schein-autonomie, wie sie doch hervortreten würde, wir wollen eine wirk­liche, wahre Autonomie und werden uns provisorisch innerhalb die­ser wahren wirklichen Autonomie einrichten, wir machen die Ab­stimmung zu einem Protest gegen die Tatsache der Abstimmung. -Das ist die notwendige Konsequenz, die sich aus den Tatsachen der Geschichte, wie auch aus denen der gegenwärtigen internationalen Verhältnisse, ergibt.

Gewiß kann man dagegen sagen: So etwas bewirkt heute, daß man sich zwischen zwei Stühle auf die Erde setzt. Das bewirkt es nicht, würde es nicht bewirken, wenn es genügend popularisiert werden könnte, und zwar so schnell, daß es wenigstens als etwas deutlich Vernehmbares bis zu der Abstimmung in Oberschlesien auftreten würde. Nur durch solche Dinge können wir mit unserer Bewegung vorwärtskommen. Das einzige, was uns gegenübersteht, ist, daß wir nicht in der Lage sind, bis zum Tage der Abstimmung so weit zu kommen, daß das, was da als Protest auftreten würde gegen die Tatsachen der Abstimmung als solche, daß das irgendwie reali­siert werden könnte. Dann würde überhaupt zunächst ein Arbeiten auf diesem Gebiete ja außerordentlich schwierig werden. Denn die­jenigen, die unsere Ideen propagieren, werden ebensowenig einen Rückhalt finden an Preußen-Deutschland wie an Polen. Also zu ver­lieren haben sie eigentlich nichts, was sie nicht ohnedies verlieren würden, ob nun das eine oder andere zustande kommt. Es ist nur möglich, daß die Sache gelingt, wenn eine genügend große Anzah] von Menschen diesen Protest in die Welt hinausschleudert. Dann wäre auch heute noch dieser Protest so wirksam, wie wenn einfach sich der Kühlmann zur rechten Zeit im Deutschen Reichstag hinge-stellt hätte und den ganzen Dreigliederungs-Prospekt gegen die Wil­sonschen Ideen vorgebracht hätte. Denn in Zukunft werden nicht Siegeskompromisse, sondern strammes Stehen auf etwas, was man aber aus der Sache selber hervorholt, von Bedeutung sein. Und wenn es nur gelingen würde, eben begünstigt durch die Abstim­mungstatsache, daß eine im Verhältnis kleine Anzahl von Menschen

- es müßten natürlich schon Tausende sein - in die Welt hinausrufen

231

würde: Wir, als Oberschlesier, sehen einen Unsinn im Anschluß an das eine und andere - das würde man in der ganzen Welt hören, das würde ein Faktor werden in der ganzen Welt, weil es eben be­günstigt würde dadurch, daß es im Zusammenhang mit der Abstim­mung geschieht. Wir müssen bestrebt sein, dasjenige, was wir zu sa­gen haben, nicht nur Woche für Woche etwa in der Dreigliederungs­Zeitung erscheinen zu lassen, wo es so geistvoll sein kann wie mög­lich, aber sich doch nur ausbreitet in nach außen hin abnehmenden Wellen, sondern wir müssen darauf sehen, daß da, wo Wichtiges in der Welt geschieht, die Dreigliederung eine Stimme hat, daß sie nicht bloß immer abseits von den Ereignissen steht, sondern daß sie wirklich die Momente aufsucht, durch die etwas getan werden kann, weil ja die Menschheit einfach hypnotisiert ist von den Dingen, die vorgehen. Glauben Sie denn, daß die Entente so ohne weiteres auf die Dreigliederung sieht, wenn wir hier theoretisch die Dreigliede­rung verbreiten? Nein, ihre Augen sind hypnotisiert von so etwas, wie es die schlesische Abstimmungsfrage ist. Was da einige tausend Menschen sagen, darin werden sie dasjenige sehen, was sie sonst übersehen.

Das sind die Dinge, die wir im gegenwärtigen Augenblick hier ganz besonders berücksichtigen müssen. Sollte es natürlich nicht möglich sein, eine genügend große Anzahl von Menschen zu gewin­nen, dann könnte ja unter Umständen für unsere Freunde nichts an­deres übrig bleiben, als zu sagen: Die Dreigliederung wird ja doch einmal so weit kommen, daß sie aus den Geburtswehen heraus zur Wirksamkeit kommt, und aus der Not heraus wird man innerhalb des deutschen Volkes vielleicht doch noch ein Verständnis für die Dreigliederung entwickeln; also stimmen wir provisorisch für die Angliederung an Preußen-Deutschland, in der Hoffnung aber, daß dieses Preußen versinkt. Aber das ist nur ein Surrogat, damit wür­den wir uns fügen demjenigen, worunter wir leiden. Worauf wir se­hen müssen, das ist, die Menschen zu gewinnen, die aktiv sein kön­nen in unserer Bewegung, die aktiv sein können im Sinne unserer Dreigliederung. Und nach. dieser Richtung - es darf nicht verschwie­gen werden - haben wir eben nicht schlagkräftig genug gewirkt.

232

Überall, wo wir Anhänger brauchen, die wirken können, fehlen sie uns heute. Diejenigen Menschen, die wir haben, sind durchaus energische Arbeiter; aber eigentlich müssen sie überall sein. Für sie müßte der Tag vielleicht nicht 36, sondern 64 Stunden haben oder noch mehr. Das wissen auch die paar Leute, die innerhalb unserer Reihen wirklich wirksam arbeiten. Wir brauchen immer mehr und mehr Persönlichkeiten, und wenn uns das gelingt, daß wir immer mehr und mehr Persönlichkeiten heranziehen können, dann wer­den wir ja doch wohl in Mitteleuropa zu einer Propagierung der Dreigliederung kommen, damit etwas gemacht werden kann. Aber wir sollten solch einen günstigen Augenblick, wo wir der Welt zei­gen könnten, was Dreigliederung bedeutet, nicht unbenützt vor­übergehen lassen. Die Welt würde sich dann damit beschäftigen. Wenn dasjenige, was der oberschlesische Aufruf von unserer Seite ist, bekannt würde, würde sich die Welt in unerhört großem Maße mit der Dreigliederung beschäftigen, und das müssen wir herbei­führen, ohne das geht es in der Gegenwart nicht weiter.

Das ist es, was wirklich ganz besonders betont werden muß, was diejenigen in ihre Herzen einschreiben müssen, die sich jetzt vorge­nommen haben, innerhalb der oberschlesischen Bevölkerung für die Propagierung unserer Sache zu wirken. Man kann nicht sagen, man solle die Dreigliederung im allgemeinen verbreiten, das ist von An­fang an nicht möglich gewesen. Sehen Sie, ich habe, die Dreigliede­rung im Hintergrund, es während des sogenannten Weltkrieges ein­mal dahin gebracht gehabt, daß sich jemand außerordentlich einge­setzt hat für die Begründung eines ordentlichen Pressedienstes in Zürich während des Weltkrieges. Ich konnte jemandem klarma­chen, daß man aus den alten Presseverhältnissen heraus überhaupt nichts erreichen kann. Die Sache war so weit gediehen, daß einmal an einem Dienstag - ich muß das immer wieder und wiederum er­zählen - man mir sagte: es ist alle Aussicht vorhanden, daß Sie in den nächsten Tagen nach Zürich übersiedeln können, um dort den Pressedienst einzurichten. - Am nächsten Tage kam die Absage vom großen Hauptquartier, das ja allmächtig war, mit der Auskunft, auf einen solchen Posten warten ja so viele Menschen innerhalb

233

Deutschlands, daß man einen Österreicher dazu nicht ausersehen kann. Nun, man braucht ja nur über solche Dinge nachzudenken, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie, da ja all die Worte, die frü­her geprägt worden sind vom Idealismus unserer Zeit, keine Bedeu­tung mehr haben, wie man auf die Dinge sehen muß, wenn sie einem aus der Dreigliederung heraus klarwerden. Wenn nur einmal irgend­wo der Ruf in der entsprechenden Weise ertönen kann, dann wird es gehen.

Sehen Sie, Sie müssen sich klar darüber sein: bisher bestanden die Hindernisse eines Menschheitsfortschrittes, der nun weitergeht, dar­in, daß man die eigentlich geistige Bewegung durch lange Jahrhun­derte hindurch an äußere Machtverhältnisse, an äußere Konstellatio­nen gebunden hatte. Denken Sie doch nur einmal, daß der ganze bourgeoise Fortschritt, und mit ihm hängt zusammen alles, was wir in Künsten und Wissenschaften leisten, daß der einfach mit den Städtebildungen zusammenhängt, also daß dadurch, daß die Städte führend wurden, der ganze Aufschwung der letzten Jahrhunderte gekommen ist. Zuletzt war man nicht mehr in der Lage, das führend zu haben, was aus den Städten kommt. Man wandte sich an den al­ten Staat, der sollte jetzt führend werden. Dieses wird immer schei­tern, gleichgültig, ob es unternommen wird von der Sozialdemokra­tie oder von Bolschewisten oder unternommen wird von irgendwel­chen intellektuellen Menschen, es wird immer scheitern an dem Bauerntum der Welt. In dieser Richtung lassen sich zum Beispiel in der Schweiz ganz besonders interessante Studien machen. Als in der Schweiz die Menschen einer Art Revolution sehr nahe waren, da war es das Bauerntum, das sich dagegen stemmte. Die Schweiz ver­dankt einzig und allein dem Bauerntum, daß die Revolution, die drohte, nicht ausbrach. Man hat hier deutlich diesen Gegensatz zwischen dem breiten Bauerntum und dem, was sich heraushebt in einzelnen Kulturschichten: das waren die Städte, das war der Staat und so weiter. Nur in Rußland war die Sache anders geworden. Die 600 000 Menschen, die nun wirklich in Rußland von bolschewisti­schen Wehen durchdrungen sind, die machen die Sache nicht aus; sondern dasjenige, was die Sache ausmacht, ist, daß die ganze breite

234

Masse des Bauerntums an Lenin hängt und daß diese ganze breite Masse glaubt, sie habe Aussicht, Land zu bekommen. Nur wenn Le­nin bleibt, glaubt das Bauerntum, könne es in solcher Weise abgefer­tigt werden. Stürzt Lenin, so würden sie das Land nicht bekommen.

Welches ist die einzige Lösung in der großen Kulturfrage der Mensch heitszukunft? Natürlich hängt diese Kultur davon ab, daß geistige Führer da sind. Diese geistigen Führer mußten sich, so kann man es formulieren, mußten sich bis jetzt durch besondere Macht­konstellationen zurückziehen, zurückziehen in die Burgen, zurück­ziehen dann in die Städte, mußten sich in das Staatswesen zurückzie­hen, weil keine Stimmung dafür da war, eine Organisation zu schaf­fen, die als solche durch ihre Anerkennung führend ist. Und das ist die einzige Möglichkeit, eine solche zu schaffen, die unabhängig ist von allen anderen sozialen Konstitutionen, daß die Quelle der höhe­ren Kulturen von selbst anerkannt wird. Und zwischen diesem gei­stigen Organismus und dem breiten wirtschaftlichen Organismus wird dann eben die staatlich-rechtliche Organisation drinnenstehen, wie zwischen Kopf- und Stoffwechselsystem das rhythmische Sy­stem drinnensteht. Die einzige Lösung der Zukunftsfragen ist eben eine Einrichtung des geistigen Lebens, die unmittelbar durch sie wirkt. Darauf sehen Sie hingearbeitet in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage». In dem Augenblick, wo man sich irgendwie zurück­stoßen läßt durch den Einwand, man wolle eine geistige Aristokra­tie schaffen, da versteht man schon die Sache nicht. Die Schaffung dieser geistigen Organisation führt allein weiter. Eine solche ist ja schließlich auch, wie es den alten Verhältnissen entspricht, die ka­tholische Kirche. Die ist unabhängig von Städtebildung und so wei­ter, aber die hat heute keine Mission mehr, die ist abgetan. Daß sie zu einer großen Scheinmacht organisiert werden kann, das liegt dar­an, daß sie eine solche Institution hat, die unabhängig ist von äuße­ren Machtverhältnissen. Daher muß eine solche geistige Organisa­tion geschaffen werden, die einfach nicht abhängig ist von etwas an­derem als von sich selbst. Dafür muß Verständnis geweckt werden. Und, wenn man die richtigen Wege findet, so läßt sich dieses Ver­ständnis erwecken; denn es ist nicht mehr das Vorkriegsproletariat,

235

das die breite Schicht ausmacht, sondern es sind andere Klassen be­reits hinuntergedrängt, und diese zu gewinnen, ohne Rücksicht auf ihre Klassenstellung, das ist heute unsere Aufgabe, aber nicht bloß, indem wir diese Ideen predigen, sondern, wenn es sich um konkrete Dinge handelt, nach ihnen handeln.

236

FRAGENBEANTWORTUNG Stuttgart, 2. Januar 1921

Nun sind mir zunächst einige Fragen vorgelegt worden, und ich denke, es wird sich ja weiteres in der Besprechung durch Vorbringen desjenigen, was Sie auf dem Herzen haben, ergeben. Hier ist zu-nächst die ja wichtige Frage gestellt: Wie soll man sich in der Agitation zu der katholischen Kirche verhalten?

Nicht wahr, es handelt sich darum, daß man zunächst, solange es geht, wird nötig haben, sich zur katholischen Kirche gar nicht zu verhalten, sondern, so lange es eben geht, möglichst sachlich zu blei­ben und zu vermeiden, auf das Feld zu kommen, das irgendwie die katholische Kirche berührt. Die Frage nimmt sich ja natürlich etwas anders aus in den Gegenden, die hier in Rechnung kommen, als in anderen Gegenden Europas. Darum wird man natürlich das Verhal­ten zur katholischen Kirche nicht überall so halten können, wie man es in den Gegenden zu halten hat, die in irgendeine Beziehung gebracht werden können zum Polentum. Sie müssen berücksichti­gen, daß für die Entwickelung Polens selber die römisch-katholische Kirche eine außerordentlich große Bedeutung hat. Das Polentum hat ja die westliche katholische Religion angenommen und sie in ei­nem sehr starken Maße verschmolzen mit der ganzen polnischen Kultur. Während das übrige Europa sich für sehr viele Zweige des menschlichen Lebens, namentlich des geistigen Lebens freigemacht hat von den kirchlichen Bekenntnissen überhaupt, spielt in das pol­nische Leben das katholische Bekenntnis in bedeutsamer Weise hin­ein. Nicht wahr, das Bildungsleben in Europa in den letzten Jahr­hunderten, das ist ja eigentlich unter der Emanzipation von dem kirchlichen Leben entstanden. Sie müssen natürlich berücksichti­gen, daß dieses Bildungsleben sich in einer gewissen Art hat freihal­ten können von dem Einflusse der katholischen Kirche dadurch, daß die Oberschicht zu gleicher Zeit es unterlassen hat, was ich eben

237

vormittags als besonders schlimm hinstellen mußte, auf die unteren Schichten des Volkes Einfluß zu gewinnen.

Sehen Sie, wir müssen da schon zum Vergleich anderes heranzie­hen als gerade die Gegend, die hier in Betracht kommt, damit wir das besser verstehen, um was es sich handelt. Ich möchte von einer konkreten Erscheinung ausgehen. Sehen Sie, für denjenigen, der zum Beispiel wie ich in der letzten Zeit, also Ende der achtziger, An­fang der neunziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts von Oster­reich nach Deutschland gekommen ist, für den stellte sich heraus, daß das deutsche Gymnasialwesen in seiner inneren Gliederung, na­mentlich in seiner Behandlung des Lehrstoffes, gegenüber dem österreichischen Schulwesen wesentlich zurück war. Das österrei­chische Mittelschulwesen, nicht das Volksschulwesen, das Gymna­sial- und Realschulwesen ist eigentlich aufgebaut worden in den fünfziger Jahren unter dem Einfluß der Unterrichtsverwaltung des Leo Thun. Der war ein erzklerikaler Mann, der die übrige Verwal­tung Österreichs am liebsten hätte einlaufen lassen in das Kirchen­tum. Als er an die Gymnasialreform ging, schuf er eine sachlich be­gründete, durchaus von dem Kirchentum unangefochtene Konstitu­tion, die dann erst unter dem pseudo-liberalen Regime ruiniert wor­den ist. Als ich dann Ende der achtziger Jahre gegen das pseudo-liberale Regime des Herrn von Gautsch einmal Front machte, sprach man mir gegenüber vielfach die Befürchtung aus, daß man wieder­um auf diese Weise zum Klerikalismus zurückgeführt würde. Die-selbe Erscheinung spricht sich noch in einer anderen Weise aus, nämlich darin, daß noch in meiner Jugend die gebräuchlichen Schul­bücher, gerade diejenigen für die mehr naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächer, von Benediktinermönchen geschrieben wa­ren. Und als die anderen Leute anfingen, die Bücher zu schreiben, wurden die Bücher abstrakt, verbürokratisiert, während jene Schul­bücher der Benediktinermönche außerordentlich gute Schulbücher gewesen waren. Dann hat man auch in politischer Beziehung dasje­nige, was Liberalismus war in Österreich, im wesentlichen auf die Emanzipation von der katholischen Kirche zurückzuführen. Das hat sich herausgegliedert aus der katholischen Kirche. Verhindert

238

worden ist ein gewisser Prozeß in Europa in bezug auf die Befreiung des Geisteslebens durch die Begründung des Protestantismus. Der Protestantismus hat nicht etwa befreiend auf das Geistesleben ge­wirkt, sondern hat einen Rückschlag bewirkt. Der Protestantismus ist in einer gewissen Weise zunächst volkstümlich geworden. Da­durch hat er in einer gewissen Weise einen Druck ausgeübt auf die Bildung, die genötigt war, immerfort Rücksicht zu nehmen auf die scheinbar fortgeschrittenere protestantische Religion, während man schon bei der Entstehung des Protestantismus gegenüber dem Ka. tholizismus so weit war, daß man das Gefühl hatte: Man muß her­aus aus ihm. Wäre der Protestantismus nicht begründet worden, so würde man längst in Europa über das katholische Prinzip herausge­kommen sein. Dann wissen Sie aber auch, daß der Protestantismus dazu beigetragen hat, daß sich der Katholizismus durch zum Beispiel die Gegenreformation konsolidiert hat. Der Jesuitismus ist als Reak­tion, als Gegenbildung gegen den Protestantismus geschaffen wor­den. Nun ist in einem hohen Grade ins weltliche gelehrte Leben der Protestantismus eingezogen. Nehmen Sie einmal diejenigen, die als Philosophen in Österreich gewirkt haben. Das sind zumeist Leute gewesen, welche durchaus nichts haben merken lassen von irgend-welchem Einfluß des Dogmas der katholischen Kirche und derglei­chen. Dagegen können Sie mit einer wirklich ernsthaften Begrün­dung nachweisen, wie der Kantianismus nichts anderes ist, als der ins Philosophische gewendete Protestantismus. Das ist durchaus festzuhalten, daß jene eigentümliche Stellung, die Kant eingenom­men hat in bezug auf Glauben und Wissen, nichts anderes ist als das ins Philosophische übersetzte protestantische Prinzip. Das zeigt uns, daß der Katholizismus auf der Bahn der Auflösung war, daß aber der Protestantismus zu seiner Konsolidierung beigetragen hat.

Dieses alles, das spielt ja noch mit bei all den Erscheinungen, die ich dann in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» geschildert habe in bezug auf das österreichische Geistesleben. Dieses österrei­chische Geistesleben ist nur möglich geworden, indem einfach von der Kirche keine Notiz genommen wurde. Eine Sache, die unmög­lich gewesen wäre in protestantischen Kreisen, wo alles durchkirchlicht

239

ist. Ich meine nicht, daß die Kirche im wörtlichen Sinn überall hineinspielt, aber es ist die ganze Denkweise durchkirchlicht. Es hat das ganze Schulwesen auch in protestantischen Ländern einen pieti­stischen, frömmelnden Zug bekommen, während das Schulwesen in Österreich zum Beispiel durchaus von diesem frömmelnden Zug ei­gentlich frei war bis auf dasjenige, was dann die entsprechenden Pfarrer hineingetragen haben in den ausgesparten Religionsstunden. Es werden zum Beispiel die Österreicher, die hier sind, nicht sagen können, obwohl die jüngeren Leute schon unter dem liberalen Regi­me aufgewachsen sind, sie werden nicht sagen können, daß sie in der Geschichtsstunde oder Geographiestunde so viel von dem reinen Bekenntnis-Christentum gemerkt haben, wie man es in deutschen Schulen durchaus merken konnte. Das alles ist durchaus zu berück­sichtigen. Sehen Sie, in einer gewissen Zeit haben sogar die Benedik­tiner einen großen Wert darauf gelegt, als durchaus liberal zu gelten und das Begriffefassen, was also auf die allgemeine Menschenbildung einen großen Einfluß hatte, das Begriffebilden ist besser gegangen unter dem formalen katholischen Einfluß als das spitzfindige, oft­mals aber eigentlich die Dinge nicht fassende Begriffebilden inner­halb des Protestantismus.

Nun, das gilt aber in bezug auf das Katholische in Gegenden, die mit dem Polentum nichts zu tun haben. Dagegen hat das Polentum den Katholizismus zu einer Zeit angenommen, in der er stark war, weshalb seine Eigenbildung mit dem Katholizismus sehr stark ver-schmolz. Aber es hat ein anderes geschaffen und das macht erst die Stärke des Polentums innerhalb des Katholizismus aus und hat we­sentlich das National-Polnische gestärkt: Das Polentum hat es ver­standen, den Klerus zu nationalisieren. Das hat kein anderes Volk verstanden. Der polnische Klerus ist polnisch-national und denkt, fühlt und empfindet durchaus polnisch-national. Nun, heute stehen wir aber vor einer Tatsache, die darin besteht, daß die katholische Kirche daran denkt, ihre Macht mit allen Mitteln, die ihr zur Verfü­gung stehen, zu vergrößern. Der Protestantismus als solcher ist ja auf dem Aussterbeetat. Ich meine, Sie sollen sich darüber keiner Täuschung hingeben: er ist weltgeschichtlich in seinen letzten Zü­gen,

240

er hat sich als Bekenntnisreligion dogmatisiert, ist ausgeartet in bloßes Predigeramt. Eine Kirche wird niemals bestehen können, wenn sie sich auf die bloße Predigt des Dogmas stützt. Kirchen kön­nen nur bestehen im Kultus, in demjenigen, was vom Dogma als sol­I chem absieht. Die katholische Kirche wird in ihrer eigentlichen Konstitution nicht das Wesentliche legen auf das Dogma, und da mache ich Sie aufmerksam auf etwas, was durchaus berücksichtigt werden muß.

Sehen Sie, es gibt ja unter Anthroposophen immer gutmeinende Leute, die aber einen gewissen Wert darauf legen, an den Tatsachen vorbei-zu-meinen. Es ist manchmal geradezu eine gewisse Sucht, an den Tatsachen vorbei-zu-meinen, und das äußert sich ja auf dem uns gerade interessierenden Gebiete darin, daß die Anthroposophen oft­mals gern betonen, man würde sich irgendein Bekenntnis, irgend­eine Bekenntnisgemeinschaft zu Freunden machen, wenn man sich ihr möglichst annähere. Bei der katholischen Kirche können Sie die Feindschaft in dem Maße vergrößern, als Sie versuchen, sich ihrem Dogma anzunähern. Die katholische Kirche wird eine andere Ge­meinschaft in dem Maße mehr hassen, indem sie Ähnlichkeit findet mit derselben oder indem sie überhaupt findet, daß die christliche Wahrheit gesucht wird. Denn die katholische Kirche hat das Ziel, die christliche Wahrheit sorgfältig zu vermeiden und die Macht der Kirche so groß als möglich zu machen. Das ist das Ziel der katholi­schen Kirche. Sie werden sie nicht rühren dadurch, daß Sie immer christlicher und christlicher werden. Sie konnen sie nur versöhnen, wenn Sie einfach ein Mensch sind, auf den die katholische Kirche als auf einen zu Rom gehörigen Menschen schwören kann. Und nicht anders können Sie sie versöhnen.

Nun, die Kirche fühlt sich heute gegenüber den Weltereignissen so, daß sie meint, ihre Macht noch wesentlich vergrößern zu kön­nen. Sie wußte ganz gut, daß ein Bauen auf die Dynastien ihr nicht, mehr viel helfen kann, weil sie gewöhnlich besser unterrichtet ist als die anderen. Sie weiß auch, daß diejenigen Dynastien auf dem Aus­sterbeetat sind, die heute noch die Krone innehaben. Also wird sie sich nicht gerne verbinden mit Untergehendem. Dagegen wird die

241

katholische Kirche gerade das Aufstreben der breiten Massen benüt­zen, um ihre Macht zu erhöhen. Und die katholische Kirche be­nützt alles, was ihr zur Verfügung stehen kann, benützt also jetzt auch in ihrer großen Weltpolitik, die manchmal einen genialen Zug hat - genial in die Richtung gehend, daß die Menschheit immer mehr und mehr in die Fesseln Roms geschlagen werden soll -, sie benützt so etwas wie die Nationalisierung des polnischen Klerus; und Polen wird in dem Spiele, welches die katholische Kirche treibt, ein Wesentliches sein. Also, die katholische Kirche wird, so meine ich, in der Nationalisierung etwas sehen, was sie ganz gut in ihr Spiel innerhalb der großen Weltenpolitik wird einbeziehen wollen. Da­her handelt es sich vor allen Dingen darum, überall bedacht zu sein auf dasjenige, was von der Kirche ausgeht, möglichst wenig gegen die Kirche zu gehen, wenn man nicht zur Abwehr gezwungen ist. Wir sind zum Beispiel jetzt in der Schweiz dazu gezwungen. Aber es handelt sich darum, daß wir aus der Sache heraus wirken und die Kirche ignorieren, sie beiseite lassen, so lange sie uns nicht angreift. Sie wird natürlich, weil es ihr darum zu tun ist, alles aus der Welt zu schaffen, was nicht katholisch ist, sie wird uns angreifen; aber wir sollten vermeiden, uns mit ihr einzulassen, solange wir das nur ir­gendwie können. Dann aber, wenn es nicht mehr gelingt, uns mit der Kirche so zu stellen, daß wir sie ignorieren können, dann geht es darum, daß wir uns nicht in irgendwelche Diskussionen mit der Dogmatik einlassen. In dem Augenblick, wo wir uns mit der Dog­matik einlassen, müssen wir notwendigerweise eigentlich verspielen; denn das Wesentliche ist nicht, daß man irgendwie die Dogmen der katholischen Kirche als falsch nachweist. Wenn man nämlich die Grunddogmen, abgesehen von denjenigen, die aus politischen Grün­den entstanden sind, nimmt, so führen sie alle in ein sehr graues Al­tertum zurück. Und fängt man an, sie zu verstehen, dann bekommt man auch Respekt vor ihnen. Es liegt ja die Schädlichkeit der katho­lischen Kirche nicht in ihren Dogmen, sondern darin, daß sie diese Dogmen mißbraucht und daß sie außerdem durch die außerordent­lich große Tradition, die sie hat, in einer haarscharfen Logik, die man zum Beispiel den deutschen Philosophen wünschen möchte -

242

die haben diese nicht -, daß sie in einer solchen Logik auch in der Lage ist, immer noch geistvoller die Dogmen zu verteidigen, als man sie angreifen kann. Es kann sich also nur darum handeln, die katho­lische Kirche vor der großen Welt in ihrer moralischen Schwäche hinzustellen. Wir beschränken uns zum Beispiel in der Schweiz dar­auf, nachzuweisen, daß die katholischen Vertreter gegen uns Lügen verbreiten. Es tun dies ja die protestantischen Vertreter in demsel­ben Maße. Sie verlegen sich alle überhaupt aufs Lügen und falsches Darstellen. Nun, es handelt sich also darum, daß Sie immer Gelegen­heit finden werden, die Leute als Lügner zu entlarven. Sie werden al­so nirgends so dick die Lüge finden wie gerade bei den Vertretern der Religionsbekenntnisse und daher ist es notwendig, sich gerade auf diese Seite zu verlegen und zu sehen, wie man den Leuten ihre Verlogenheit nachweisen kann.

Nicht wahr, es gibt eine gewisse Abstufung in bezug auf das Lü­gen. An erster Stelle kommen die Kirchen, an zweiter kommt erst die Presse und an dritter kommen dann die Politiker. Das ist ganz objektiv dargestellt und nicht etwa aus einer Emotion heraus. Der Enthusiasmus des Lügens wird durch die Dinge hervorgerufen, die man nur durch die Erziehung innerhalb der Kirche bekommen kann. Der Enthusiasmus der Lüge in der Presse wird durch die so­zialen Verhältnisse hervorgerufen, und in der Politik ist die Lüge ei­gentlich nur, ich möchte sagen, eine Fortsetzung im zivilen Leben dessen, was ja beim Militarismus - mit diesem hängt ja die Politik eng zusammen - ganz selbstverständlich ist. Wenn man einen Geg­ner besiegen will, so muß man ihn täuschen. Die ganze Strategie ist darauf angelegt; da muß man lernen zu täuschen. Das ist System. Das wird dann durch die Verwandtschaft zwischen Militarismus und Politik auch auf das zivile Leben übertragen. Aber da ist es Me­thode, während es bei den anderen beiden Klassen, bei der Presse und den Vertretern der Bekenntnisse, Enthusiasmus des Lügens ist., Diese Dinge sind auch nicht Radikalismus, wenn man sie so dar­stellt; es ist einfach eine objektive Tatsache. Das Schlimme liegt dar­in, daß durch das Vorurteil der Menschen ein großer Teil der Men­schen noch nicht einsieht, daß es eben unmöglich ist, innerhalb der

243

Bekenntnisse zu stehen und die Wahrheit zu sagen. Nicht wahr, man kann eine tragische Persönlichkeit werden innerhalb eines Be­kenntnisses; aber man kann nicht ein Amt innerhalb eines Bekennt­nisses haben und die Wahrheit sagen. - Das ist gar nicht möglich heute, so daß also das Verhalten gegenüber der katholischen Kirche, ich möchte sagen, so bezeichnet werden kann: so lange wie möglich die Aspirationen der Kirche ignorieren und sich dann daran ma­chen, die Verlogenheiten im einzelnen aufzuzeigen. Dann wird man wenigstens einen Weg einschlagen, der durch die Tatsachen geboten wird.

Frage: Zunächst ist ins Auge gefaßt, den Aufruf in deutscher Sprache an die Be völkerung heranzubringen; den polnischen Zeitungen sind aber Inserate gegeben worden. Empfiehlt es sich, den Aufruf auch in polnischer Sprache herauszugeben?

Rudolf Steiner: Ich würde meinen, daß es gut wäre, selbst wenn der Aufruf nur in sehr geringem Maße verbreitet werden könnte, ihn auch in polnischer Sprache zu haben und ihn, soweit es geht eben, auch in polnischer Sprache zu verbreiten. Es scheint mir durchaus notwendig, daß man die Internationalität der ganzen Ak­tion auf diese Weise betont.

Herr M Bartsch: Die Oberschlesier stehen gegeneinander wie Hund und Katze und da wir uns zunächst nur an die Großstädte wenden, wo überhaupt 70 Prozent der Bevölkerung Deutsche sind, so glauben wir, daß diese Leute schon mit einem Vorurteil an uns herankommen werden, wenn sie hören, daß der Aufruf auch in polnischer Sprache veröffentlicht ist. Wir wollen sie erst gewinnen und dann auch den Aufruf in polnischer Sprache veröffentlichen. Aber wir können den Anregun­gen hier noch in letzter Stunde Folge leisten.

Rudolf Steiner: Bei einem zweiten und dritten Vorstoß würde es sich nicht ausschließlich um eine deutsche Majorität handeln. Auf dem Lande hat man es wohl mit ausgesprochen polnischer Majorität zu tun und es wäre schon nötig, daß es auch gelänge, die Landbevöl­kerung irgendwie gerade mit dieser Frage zu bearbeiten. Dann müß­ten wir einen polnischen Aufruf haben.

244

Einwurf: Der schlesische Pole kann leider das Hochpolnische nicht lesen, ver­steht nur das sogenannte Wasserpolnisch. Wir können uns also nur an führende Kreise wenden.

Rudolf Steiner: Es ist natürlich nicht nötig, den Aufruf in polni­scher Sprache zu haben, wenn man sich bei der Agitation in einer Gesellschaft befindet, wo alle Deutsch verstehen, wo auch die Polen Deutsch verstehen. Aber man müßte ihn in jedem Falle haben, so daß man ihn, wenn es nötig ist, auch zur Verfügung hat. Man sollte ihn haben auch so, daß die Landbevölkerung ihn lesen kann.

Einwuif: Die können überhaupt nicht Polnisch lesen, auch nicht das Wasser­polackisch. Es sprechen sogar Redner Deutsch zu ihnen, weil sie sich mit ihrem Kochpolnisch nicht verständlich machen können.

Rudolf Steiner: Aber im Prinzip müßte man den Aufruf in Pol­nisch haben. Man könnte vorsichtig im Weitergeben sein. Es ist eine

gewisse Empfindlichkeit vorhanden. Von dieser hat man insbeson­dere in Österreich einen sehr guten Begriff bekommen, daß man so­gar perhorresziert die anderen und dann kommt man nicht weiter. Die Tschechen zum Beispiel haben sich vielfach in deutscher Spra­che verständigt. Das ist in Böhmen der Fall, was Sie für die Polen in Schlesien anführen. Dennoch hat man das Schlimmste angerichtet dadurch, daß man die Tschechen unberücksichtigt gelassen hat. Also, man müßte den Aufruf in polnischer Sprache haben.

Frage: Wo kommt es bei den Polen zum Ausdruck, daß sie von den Deutschen in wirtschaftlicher Beziehung Anregungen bekommen haben?

Rudolf Steiner: Ich meine, das müßten die Freunde unmittelbar aus dem Leben wissen. Denn ein gewisser geschäftlicher Zug herrscht gerade bei denjenigen vor, die sich aus dem Polentum all­mählich hereingefunden haben ins Deutschtum und die gerade durch diese Wendung geschäftlichen Sinn bekommen haben. Die leichte Beweglichkeit des polnischen Seelenlebens, die hat das be­wirkt, und ich glaube, man könnte es einfach durch das Studium des

245

Geschäftslebens nachweisen, wie stark in den polnisch-deutsch ge­mischt sprechenden Gegenden das polnische Element auf das Ge­schäftsleben wirkt, und zwar so, daß man sieht, daß diejenigen, die als Polen deutsch gelernt haben, die gewiefteren Geschäftsleute sind als die Deutschen selber. Das werden Sie nachweisen können. Und sie sind vor allen Dingen Geschäftsleute, die sie nicht hätten werden können in der polnischen Gemeinschaft selbst. Versuchen Sie zu vergleichen, wie unwirtschaftlich ein Pole ist, solange er Pole bleibt. Versuchen sie festzustellen, was aus ihm wird, wenn er einen deut­schen Einschlag bekommt. Das muß man natürlich aus dem unmit­telbaren Leben nachweisen, das kann aber nachgewiesen werden.

Frage: Empfiehlt es sich, eine einheitliche Resolution bei den Versammlungen, et­wa indem man der Öffentlichkeit die Dreigliederung als die neue Möglichkeit hin-stellt, zu fassen, oder der Ententekommission die Resolution zuzuschicken?

Rudolf Steiner: Bei dieser Aktion wäre es am allerbesten, wenn spontan so etwas aus der Versammlung selbst kommen würde und nicht künstlich erzeugt würde. Das wäre das beste, wenn man gar nicht nötig hätte, eine Resolution künstlich zu machen, sondern wenn sie aus der Versammlung heraus kommen würde. Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, ob dazu eine Neigung vorhanden ist oder nicht. Ich glaube ja nicht, daß es ein großer Verlust ist, wenn solche Resolutionen nicht wortwörtlich gefaßt werden. Dagegen wäre es doch von einem gewissen starken Eindruck, wenn man, ab­gesehen von der Fassung, es dahin bringen könnte, eine Meinungs-äußerung zu haben bloß dadurch, daß man etwa die Leute dazu ver­anlaßt, in einer Art von Abstimmung zuletzt sich zu äußern zu dem, um was es sich handelt. Also etwa, wenn man es so vorsichtig wie möglich dahin bringen würde, daß die Leute sagen, sie wollen den Gedanken des Protestes gegen die Abstimmung in Erwägung ziehen. Dann müßte natürlich hinterher, da die Aktion erst voll­ständig würde dadurch, daß es gelingt, eine größere Anzahl von Menschen zu haben, eine Registratur der Protestler zustande gebracht werden. Das müßte erst nach der Abstimmung zustande gebracht werden.

246

Frage: Soll man an die Telegraphen-Union Nachrichten heranbringen?

Rudolf Steiner: Ich glaube nicht, daß etwas dagegen spricht. Das sollte man auf jeden Fall tun. Aber vielleicht weiß jemand noch etwas Besseres.

Einwurf: Es ist neulich darauf aufmerksam gemacht worden, daß die Telegraphen-Union engere Beziehungen zu Stinnes hätte, und es wurden Bedenken geäußert, mit der Telegraphen-Union überhaupt Beziehungen anzuknüpfen.

Rudolf Steiner: Die Telegraphen-Union wird sich vielleicht wei­gern. Es muß gesonnen werden, Mittel und Wege zu finden, um die Dinge in die Tagespresse hinein zu lancieren.

Einwuif: Keine Bedenken.

RudolfSteiner: Zugegeben, auch wenn ein Verhältnis besteht zwi­schen der Telegraphen-Union und den Stinnes-Unternehmungen, so sehe ich nicht ein, worin die Bedenken bestehen sollen, der Tele­graphen-Union die Nachrichten zu übergeben, die von uns dazu be­stimmt sind, daß sie verbreitet werden. Wenn sich zum Beispiel eine Jesuiteneinrichtung dazu hergibt, unsere Nachrichten hinauszutra-gen, würden wir Veranlassung haben, diese Nachrichten nicht den Jesuiten zu geben?

Einwurf: Stinnes hat selbst einmal gesprochen über eine Organisation, die unge­fähr den Assoziationen gleichkommen würde, und das ist in den proletarischen Kreisen bekannt. Wenn nun in dieser Presse der Dreigliederungsgedanke käme, dann würden sie vielleicht mit Mißtrauen erfüllt werden.

Rudolf Steiner: Wenn man auf solche Dinge Rücksicht nimmt, dann ist heute kaum etwas zu machen in der Welt. Man kann bei je­der Aktion dadurch, daß man nach dieser oder jener Beziehung ir­gendwelche Usancen benützen muß - das ist ja bloß eine Usance, wenn man die Telegraphen-Union benützen will -, Bedenken ha­ben. Also ich sehe nicht ein, wie man das vermeiden will, daß einem da die Leute mit Mißtrauen entgegenkommen. Man müßte ja einen eigenen Telegraphendienst einrichten. Es ist kaum zusammenhängend

247

die Verbindung der Telegraphen-Union mit demjenigen, was wir wollen von ihr, und was ihre Verbindung mit dem Stinnes­Konzern betrifft.

Frage: Wie soll man sich überhaupt zur Ententekommission verhalten?

Rudolf Steiner: Die Sache liegt natürlich da so, daß man sagen kann: wie man sich auch zu ihr verhält, es wird zunächst dieses di­rekte Verhältnis zu ihr keine große Bedeutung haben. Denn diese Kommission hat alle Veranlassung, vorläufig scheinbar ganz neutral zu sein, und wird sich nicht mit irgend etwas vorläufig befassen, was ihren Intentionen entgegensteht. Es wäre tatsächlich eine Naivität, wenn man glauben wollte, daß man irgend etwas bei der Entente­kommission wirklich erreichen könnte. Das einzige, was man tun könnte, wäre, was wir schon sagten, der Ententekommission ein­fach, wenn man will, die Sache zu übermitteln, also es ihr einfach zu sagen: das legen wir vor. Das wäre das einzige, was in Betracht kom­men könnte; aber irgendwie ein Zählen auf die Ententekommission ist nicht möglich. Soll man an sie herantreten? In welcher Form? Wann? Ich halte dafür, daß man, bloß wenn man sie informieren will, an sie herantritt. Wenn man natürlich so stark wäre, daß man für sie verhandlungskräftig wäre, dann ließe sich darüber reden. Wir werden es aber kaum zu mehr bringen als zu einer vielleicht sehr stark in den Willen der Menschheit einschlagenden Demonstration. Und damit müssen wir uns zufrieden erklären. Aber wir können nicht einmal wünschen, daß die Ententekommission einen Einfluß bekomme. Wir wollen unabhängig von ihr bleiben.

Frage: In welcher zugänglichen Literatur kann man sich Unterlagen für das im ersten Vortrag Gesagte beschaffen?

Rudolf Steiner: Das ist die allgemeine Frage, die sich auf alles Ge­schichtliche beziehen kann. Es ist heute nur möglich, sich über den wahren Hergang der europäischen Geschichte dadurch Aufklärung zu verschaffen, daß man versucht, sich die Dinge zusammenzusu­chen ohne Rücksicht auf die entsprechende Darstellung der Histo­rie.

248

Da muß ich sagen, wenn Sie sich über das, was ich vorgebracht habe, die Literatur verschaffen wollen: ja, es ist fast alles, was die Ge­schichte an Literatur darbietet, ein Beweis dafür, man muß nur zwi­schen den Zeilen lesen können. Es gibt keine spezielle Literatur da­für, aber alle historische Literatur weist darauf hin. Man braucht nur die Tatsachen im richtigen Licht zu sehen. Wenn man sich darauf beschränkt, einen Menschen wie Lamprecht oder ähnliche, nicht wahr, wörtlich zu nehmen, dann hat man kein Material dazu. Aber wenn man dasjenige, was zwischen den Zeilen zu lesen ist, nimmt, so kann man überall die Belege für diese Sache finden. Auf spezielle Literatur hinzuweisen, ist gar nicht nötig.

Frage: Wie wird die Propaganda im Reiche außerhalb Oberschlesiens zu gestalten sein? Sondernummer der Zeitung? Broschüre und so weiter?

Rudolf Steiner: Es muß da ja natürlich außerordentliche Vorsicht walten. Man könnte ja durchaus irgendwie von außen her Stellung dazu nehmen, wie sich die oberschlesische Frage entscheiden soll. Doch meine ich, daß ein entschiedenes Eintreten außerhalb der Ak­tion selber außerordentlich stören könnte. Also, etwa ein Eintreten in der Dreigliederungszeitung, ein direkt agitatorisches Eintreten, könnte unter Umständen die Aktion außerordentlich stören. Dage­gen würde ich es für nützlich halten, wenn, nachdem unsere Freun­de begonnen haben, energisch zu arbeiten, die Welt aufgeklärt wür­de über das, was geschieht und zwar so, daß man nicht glaubt, daß die Aktion geradezu von außen getragen wird, denn das wäre der größte Verderb, wenn man glauben würde, daß von außen die Sache nach Schlesien hineingetragen würde. Das würden die Schlesier nicht vertragen und die Welt würde sagen: da sollen sich die Leute von auswärts nicht hineinmischen.

Frage: Schlesien spielt in wirtschaftlicher Beziehung eine große Rolle. Ist nicht eine gegenseitige Unterstützung durch richtige Benachrichtung dessen, was in Ober-schlesien vorgeht, möglich?

RudolfSteiner: Da können wir alles mögliche tun. In eine Bericht­erstattung können wir hineinbringen die wirtschaftlichen Folgen

249

für die Welt und das ist ja etwas, was leider bei der Kürze der Zeit nicht so ausführlich hat besprochen werden können, wie es wün­schenswert gewesen wäre. Es ist ja durchaus so, daß man zeigen kön­nen wird, was für wirtschaftliche Folgen es für die Welt hat, wenn sich nun wirklich Oberschlesien in unserem Sinne unter Protest weder Polen noch Preußen anschließt. Dadurch wird das wirtschaft­liche Leben Oberschlesiens befreit. Es ist erstens meine Meinung, daß dadurch die Sympathien der Welt gewonnen wären, was auch im Hinblick auf das Wirtschaftliche eine starke Unterstützung der Welt haben würde. Aber außerdem wären ja zu erörtern die di­rekten wirtschaftlichen Folgen. Man würde ja nur dadurch, daß das realisiert würde, was wir wollen, wirtschaftlich freie Hand bekommen. Außerdem würde die Politik auf der oberschlesischen Wirtschaft lasten. In dieser Richtung kann man natürlich Artikel schreiben, um zu zeigen, was die Welt von der Befreiung Oberschle­siens haben würde. Aber ich würde nicht meinen, man solle direkt mit dem Tenor schreiben: es solle das oder jenes eintreten. Wenn Sie jetzt auftreten, wenn die Agitation in Oberschlesien beginnt, dann muß es Schlag auf Schlag gehen, sonst hat es überhaupt kei­nen Zweck. Dann wird es natürlich sein, daß man sehr bald eben mit Artikeln erscheinen kann, die die Frage erörtern so, daß man auf Ihre Agitation baut, also diese Agitation als Ausgangspunkt nimmt. Daß man uns vorwerfen wird, daß die Sache vom Bund für Dreigliederung ausgeht, das ist nicht zu umgehen. Aber in dem Augenblick, wo eingesehen wird, und man muß davon der Welt eine Einsicht geben, daß die Dreigliederung ja nichts Stutt­garterisches ist, sondern etwas, was ebensogut für irgend etwas anderes gilt - das ist eben ein menschlicher Impuls -, in dem Augen­blick kann man nicht sagen, daß die Leute, die in Oberschlesien agi­tieren, nicht von selbst die Einsicht hätten. Die Dreigliederung ist ja nicht etwas, was man importiert, sondern eine ganz allgemein menschliche Sache.

Einwurf: Man kann in Deutschland vielleicht das tun, wenn man die Abstim­mungsfrage mit großer Vorsicht behandelt, daß man sie bei Vorträgen als Schulbei­spiel benützt?

250

RudolfSteiner: Das steht aber sogar im Aufruf darinnen. Diese Seite der Frage, die läßt sich natürlich überall erörtern, denn die ist nicht auf Oberschlesien beschränkt. Es könnte jemand, der in die Verhält­riisse ordentlich eingeweiht ist, die Tschechoslowakei zum Beispiel unter diesem Gesichtspunkt behandeln oder andere Gebiete, nur nicht das Elsaß. Während des Krieges hat es, dieses Elsaß, ein Schulbeispiel abgegeben; aber jetzt könnte es dies nicht, weil es darauf ankam, daß die Elsässer gar nicht dazu Stellung nehmen würden gegenwärtig. Da würde man nur auswärts diese Meinung haben. Im Elsaß ist das zu­nächst gar keine Diskussion. Die Elsässer finden sich ab, zu Frank­reich zu gehören, wie sie sich abgefunden haben, zu Deutschland zu gehören. Vor dem Kriegsausgang hätte die Sache erörtert werden müs­sen, da war die Möglichkeit vorhanden, da bildete das elsässische Pro­blem ein Schulbeispiel. Heute ist es die Tschechoslowakei, ist esJugo­siawien, wären es auch die sogenannten russischen Randstaaten und vor allem Rußland selbst. Rußland ist das große Schulbeispiel. Wenn die Dreigliederung da bekannt würde, würde sogleich eine sehr starke Bewegung einsetzen. Aber da kennt niemand die Dreigliederung.

Frage: Wir hatten die Absicht, in den Vorträgen auf den «Kommenden Tag» hinzuweisen.

Rudolf Steiner: Wenn Sie es machen, dann wird es natürlich gut sein, das ist etwas ganz anderes. Sie können frei von sich aus sagen:

wir wollen die Frage so entschieden haben und weisen darauf hin. -Nur handelt es sich darum, daß man den Vorwurf, der in dieser Wei­se berechtigt wäre, nicht zu hören bekommt, daß die andere Welt über die oberschlesische Frage entscheidet. In gewissem Sinn wird sie ja sogar, wenn wir wirklich nichts erreichen, von auswärts ent­schieden, selbst wenn abgestimmt wird; denn die Abstimmung ist nur eine dekorative Sache. Denn entscheidet die Abstimmung für Preußen-Deutschland, dann ist es noch gar nicht klar, was die En­tente dazu sagt; zweitens, tritt das ein, was ich vorhin charakterisiert habe und entscheidet die Abstimmung für Polen, was ja auch wohl für Sie die kleinere Wahrscheinlichkeit ist, dann ist selbstverständ­lich das Schicksal Oberschlesiens von außen entschieden.

251

Frage: Können wir in den übrigen Orten Deutschlands Vorträge halten etwa mit dem Titel «Dreigliederung und oberschlesische Frage»?

Rudolf Steiner: Wenn sie mit dem Tenor, den wir angeführt ha­ben, gehalten werden. Wenn sie erhärtet wird an dem Beispiel von Oberschlesien.

Frage: Es gibt einen Verein «Verein heimattreuer Oberschlesier». Die Vereine müßte man vielleicht unterrichten, die werden sich wahrscheinlich rasch für die Sache interessieren.

Rudolf Steiner: Das kann wohl in der Form geschehen, daß es nominell ausgeht von dem Komitee, das sich in Oberschlesien gebil­det hat. Die Verbreitung kann die Dreigliederungsbewegung über­nehmen.

Einwurf: Viele Veranstaltungen in der oberschlesischen Abstimmungssache sind zum Teil von deutschnationalen Verbänden gemacht worden.

Rudolf Steiner: So etwas wie das, was mir da Herr Molt gegeben hat, ist nicht von Schlesiern selber. Das ist nicht etwas, was auf ir­gendeiner inneren Wahrheit beruht: «Es ist Brand geworfen ins deutsche Haus, der Feuerreiter reitet, sein Nothorn schreit durchs Reich» - und so weiter. Solch eine Sache ist natürlich nichts als eine alldeutsche Mache. Da handelt es sich nur um eine ideelle Eroberung von Oberschlesien.

Einwuif: Dieser Mache gegenüber ist das oberschlesische Volk schon unempfin& lich geworden. Es kommt in gar keine Versammlungen mehr und wir hoffen, daß Gedanken aufkommen, an die es sich halten kann.

Einwurf: Von den Kreisen, von denen jene Flugblätter ausgehen, werden Angriffe auf die Dreigliederungsbewegung im allgemeinen erfolgen und das könnte eine Veranlassung geben, die Dreigliederung zu diskutieren.

Rudolf Steiner: Da würden wir wiederum in die Abwehr versetzt werden. Da dürfen wir ja nicht eben mit irgend welchen konzilian­ten Dingen kommen, sondern müssen so energisch sein wie irgend möglich. Für die Leute, von denen solche Dinge kommen wie dieser Aufruf da, ist die Bekämpfung der Dreigliederung schon eine fertige

252

Sache. Die werden alles bekämpfen, was von der Dreigliederung kommt; denn das geht natürlich durchaus schon sehr weit. Diese Leute, die werden noch immer in bezug auf ihren Wahrheitssinn wirklich überschätzt. Da herrscht schon eine furchtbare Verlogen­heit.

Herr Bartsch sen.: Wir wären dankbar, wenn wir durch Redner vom übrigen Deutschland unterstützt würden.

RudolfSteiner: Das kann später geschehen. Wenn Sie sie selber ru­fen, werden wir dafür sorgen, daß Redner da sind. Da würde es sich darum handeln, daß unsere Redner die Aufgabe haben, die Dreiglie-derung zu interpretieren. Das kann jederzeit geschehen. Das kann auch schon morgen geschehen.

Frage: Was ist von Dornach aus in der Sache geschehen? Was ist in Aussicht genommen?

Rudolf Steiner: Ich glaube, daß alles, was direkt von Dornach aus geschehen würde, so lange wir nicht eine sichtbare Agitation in Oberschlesien selber haben, der Sache nur schaden würde. Denn von uns aus dürfte in dieser Frage von Dornach aus überhaupt nichts geschehen, es müßte von neutraler Seite oder von der Entente­seite aus geschehen. Da die Leute irgendwie zu gewinnen, könnte erst geschehen, wenn schon eine Agitation in Schlesien eingeleitet ist, sichtbar geworden ist. Ich kann weder darauf hinweisen, daß von Dornach irgend etwas geschehen ist - ich könnte keine Vorstel­lung haben darüber, was geschehen sollte -, noch könnte ich dazu raten, daß von dort irgend etwas geschieht, bevor die Agitation in Oberschlesien eingesetzt hat. Dann aber kann von Dornach aus ge­schehen, was in Deutschland geschehen muß.

Frage: Ist es nicht angebracht, wirklich den Hauptakzent auf die Darstellung der großen umfassenden Ideen selbst zu legen, auch in Schlesien?

Rudolf Steiner: Diese Dinge muß man schon in die Sache einflie­ßen lassen. Aber wir dürfen den Dreigliederungsgedanken als sol­chen bei keiner Gelegenheit, die sich uns bietet, versäumen, ins

253

rechte Licht zu stellen, denn auf das Populärmachen des Dreigliede­rungsgedankens kommt doch alles an. Und so sehr es nötig ist, auf die konkreten Verhältnisse einzugehen, so dringend geboten ist es doch, den Dreigliederungsgedanken immer und immer wieder zu bringen in den allerverschiedensten Formen; also ihn jedenfalls nicht zu unterdrücken.

Einwurf: Ich meine nur, nicht auf Detailfragen eingehen, sondern nur auf die Größe der Sache eingehen. Ich kann mir denken, daß man, wenn man spricht über die Lohnfrage zum Beispiel, keinen Durchschlag haben würde, sondern man muß das Geschichtliche in den Vordergrund rücken. Das meinte ich.

Rudolf Steiner: Dazu gehört, daß die Dreigliederung ganz leben­dig in einem lebt. Die schiefe Ebene, auf die wir sehr häufig kom­men, liegt darinnen, daß, kaum wird irgendwo über die Dreigliede­rung verhandelt, die Sache einfach durch Mißverständnisse einen utopistischen Charakter annimmt. Die Dreigliederung ist nicht uto­pistisch! Aber die Diskussionen nehmen manchmal einen furchtbar utopistischen Charakter an. Denn es hat keinen Sinn, darüber zu verhandeln: Wie wird es der Näherin im dreigegliederten sozialen Organismus gehen oder dem Maler? - Alle diese Dinge nehmen ei­nen durchaus utopistischen Charakter an. Ünd wenn Sie heute in Oberschlesien agitieren wollen und Sie reden in diesem utopisti­schen Stile, dann werden Ihnen die Leute sagen: Ja, wir haben uns jetzt wahrhaftig mit anderen Gedanken zu befassen, als damit, wie es im zukünftigen Staate aussehen wird. - Zu einer Utopie wird et­was nicht dadurch, daß es an sich phantastisch und töricht ist, son­dern daß es vernünftigerweise jetzt nicht auf der Tagesordnung ste­hen kann. Daher habe ich diese Dinge immer nur als Beispiel ange­führt und so möchte ich auch, daß es überhaupt gehalten würde. Die Hauptsache ist, die Dreigliederung als solche durch und durch zu verstehen. Ich habe gerade den gestrigen Vortrag daraufhin angelegt, um zu zeigen, wie es aus der Dreigliederung heraus verständlich ist, daß die Polen so geworden sind, wie sie sind. Dieses Eindringen mit dem Dreigliederungsgedanken in alle Lebensverhältnisse, das ist es, worauf es ankommt; dadurch wird ein Verständnis für ihn emporgerufen.

254

Es kommt nicht auf Einzelheiten an, in die man sich verbei­ßen würde. Wenn man gefragt würde, könnte man ja dem nicht ent­kommen; aber es wäre falsch, gerade in einem solchen Zusammen-hange, gerade von solchen Einzelheiten zu sprechen.

Frage: Wäre es nicht gut, daß die Gesichtspunkte, die uns in diesen Tagen gegeben wurden, in einer kleinen Broschüre verbreitet würden?

Rudolf Steiner: Das könnte unter Umständen, wenn die Broschü­re in Oberschlesien verbreitet würde, von großem Nutzen sein. Es wären durchaus Gesichtspunkte, die wir hier erörtert haben, die durchaus verbreitet werden könnten. Wenn sie also jemand schnell machen könnte und mir die Sache vorgelegt werden könnte!

Frage: Die Dreigliederungsidee empfinde ich immer herausgeboren aus den tief­sten und reinsten Impulsen, die in der Menschennatur leben. Nun ist es klar, daß die Gegenimpulse auftreten, die dann eine instinktive Opposition entwickeln. Wie soll man sich bei den entsprechenden Kontroversen verhalten?

RudolfSteiner: Man wird diese Frage von Fall zu Fall in ganz ver­schiedener Weise zu behandeln haben. Im allgemeinen wird viel da­von abhängen, ob es uns gelingt, die Dreigliederung als solche, abge­sehen von allen mehr sentimentalen Anwandlungen, populär zu ma­chen. Sehen Sie, in bezug auf gutgemeinte sentimentale Reformge­danken ist ja die Welt nicht gerade arm. Wenn man mit solchen Dingen, die an das Edelste in der Menschennatur appellieren, ohne weiteres die Welt bessern könnte, dann würde man wirklich die Welt schon längst sehr gebessert haben. Ich kann dem doch immer nur entgegenstellen, was ich seit Jahrzehnten den Leuten sage: mit abstrakt ethischen Prinzipien kommt man ebensowenig vorwärts als bei einem Ofen, zu dem man sagt den kategorischen Imperativ:

Du mußt das Zimmer warm machen. - Das hilft gar nichts. Man kann die Predigt noch so schön ausstaffieren mit ethischen Worten, aber es hilft nichts. Aber es hilft, wenn man einheizt, wenn man das tut, was die Sache hervorruft als Sache. So ist es auch bei der Drei­gliederung. Man muß sie vertreten, so gut es geht, und die Men­schen,

255

die heute eine innere Opposition gegen die Dreigliederung haben, wie Sie meinen aus Anti-Ethik ...

Einwurf: Ich will sagen, in demselben Moment die geisteswissenschaftliche Be­trachtungsweise anzunehmen ...

RudolfSteiner: Da wird man ja, sobald die geisteswissenschaftliche Grundlage als solche angegriffen wird, nicht anders können, als sie zu verteidigen. Was ich sage, bezieht sich auch auf die Grundlagen der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Ohne die kommen wir ja nicht weiter, denn das eine bedingt das andere. Eine Dreiglie­derung mit einem ausgesprochen freien Geistesleben ist nur denkbar aus den anthroposophischen Voraussetzungen heraus. Also, wie das Geistesleben niemals frei werden kann ohne die Dreigliederung, so würde die Dreigliederung leer bleiben ohne die Befruchtung durch die Anthroposophie. Das müssen wir immer geltend machen. Daher dürfen wir nicht sparen,dieAnthroposophieebensotapferzuver- ( teidigen wie die Dreigliederung. Wir müssen vollauf auf anthroposo­phischem Boden stehen und alles zur Geltung bringen, um sie zur Geltung zu bringen. Es gibt unter uns Leute, die sagen: Anthropo­sophie ist tot, Dreigliederung lebt! Ja, das ist mir vielfach entgegen­gebracht worden. Das, glaube ich, ist das aller Unbegründetste, was es geben kann. Die Dreigliederung schwebt in der Luft ohne die Anthroposophie.

Einwurf: Ich wollte darauf hinweisen, daß ich von vielen Seiten höre, daß ein besonderes Bedürfnis nach Anthroposophie vorhanden ist.

RudolfSteiner: Es ist ein sehr starkes Bedürfnis nach Anthroposo­phie, aber wir müssen auch wiederum gegenüber diesem Bedürfnis die praktische Seite der Anthroposophie betonen. Denn sobald das Bedürfnis das ist, das nach Weltflüchtigkeit hinneigt, sobald schaden wir, wenn wir dieses Bedürfnis zu stark betonen. Das weltflüchtige Bedürfnis, das die Neigung hat zu Sektenmäßigem, das dürfen wir nicht versäumen zu bekämpfen. Wir müssen zeigen, wie Anthropo­sophie der Weg in die höchsten geistigen Regionen und auf der ande­ren Seite zur Beherrschung der Materie ist. Das müssen wir scharf betonen, sonst kommt es sehr leicht vor, daß wiederum die Passivität

256

der gegenwärtigen Menschheit zu stark angesprochen wird. Nicht wahr, die Leute wollen Anthroposophie aus einem durchaus sentimentalen Zug heraus, weil sie lieber auf das Außerweltliche ver­wiesen sein wollen.

Einwurf: Ich dachte, daß die entgegengesetzte Richtung, dieser negative Impuls, daß dieser oft, praktisch genommen, viel aktiver ist als der anthroposophische Im­puls bei vielen Menschen.

RudolfSteiner: Das muß sich in der Richtung bewegen, wie wir es angegeben haben.

Frage: Ich weiß nicht, inwieweit die Frage inzwischen besprochen worden ist, wie die Aktion weitergehen soll nach dem auf etwa acht Tage berechneten Ver­suchsstadium. Es wäre gut, wenn man heute schon ins Auge faßt, wie eventuell, je nach dem Erfolg, die Sache weitergehen soll.

Herr Bartsch sen.: Wenn sich das Bedürfnis nach weiteren Auseinandersetzungen einstellen würde, dann würden wir weitere Versammlungen inszenieren. Wir wür­den uns sofort mit den Herren hier in Verbindung setzen, damit die Aktion weiter unterstützt wird. Wir würden dafür sorgen, daß noch in kleineren Orten geredet würde, in größeren vielleicht noch einmal. Es wäre sehr gut, wenn wir auswärtige Redner hätten, die dort sprechen.

RudolfSteiner: Es handelt sich darum, daß sowohl in öffentlichen Vorträgen als auch durch das Wirken in kleineren Zirkeln die Agita­tion in Gang gebracht wird. Ich stelle mir vor, daß die Sache von den Versuchen nur so gemeint sein kann, daß man eventuell die be­ste Methode des weiteren Vorgehens ausfindig wird machen kön­nen. Ich stelle mir auch vor, daß, bevor die Abstimmung nicht da war, überhaupt nicht aufgehört wird mit dem wackeren, tapferen Arbeiten. Es gibt da nur ein Entweder-Oder: Sie stürzen sich hinein mit der Absicht, bis ans Äußerste zu gehen, oder Sie unterlassen die Sache ganz. Denn es hängt sehr, sehr viel von der Sache ab, zum Bei­spiel gerade die Frage: Wie bringen wir die Agitation für die Drei-gliederung aufs Land hinaus, was bis jetzt für uns eine Art von Crux war; denn da hinaus kann man nicht so leicht kommen, denn man muß Veranlassung haben. Die Frage, die würde sich für Oberschle­sien, wenn es glückt, die würde sich da sofort entscheiden. Denn,

257

gehen Sie für das Abstimmungsresultat aufs Land hinaus, so können Sie Teile der Landbevölkerung gewinnen. Dann sind Sie einmal drinnen und haben für die ganze Zukunft Fuß gefaßt. Wodurch wir in bestimmte Kreise eindringen können, auf solche Dinge lauern wir. Wir haben es in großem Maßstabe versucht mit der Betriebs­rätefrage. Es ist nur dadurch, daß auf der einen Seite uns so stark die sozialdemokratischen Führer in die Flanke gefallen sind, und auf der anderen Seite dadurch, daß wir selber praktische Fehler gemacht ha­ben, dadurch ist uns die Sache untergraben worden; aber da muß versucht werden, Fuß zu fassen und wir kriegen sie nur, wenn wir mit konkreten Fragen kommen können; denn die lassen sich ohne weiteres diskutieren.

Frage: Welche Gesichtspunkte sind für die Behandlung der Magnaten, die sehr stark mit der katholischen Kirche liiert sind, maßgebend?

Rudolf Steiner: Das ist eine Sache, die derjenige, der sie in die Hand nimmt, von Fall zu Fall, im Grunde genommen von Magnat zu Magnat, entscheiden muß. Es wäre natürlich durchaus wün­schenswert, daß solch eine Aktion auch in die Hände genommen wird. Aber da handelt es sich um die Ausnützung von persönlichen Einflüssen und Vorsichten, so daß man eine Direktive nach dieser Richtung kaum angeben kann. Denn man muß gerade unter den Magnaten immer sehen, im rechten Augenblick das Richtige zu tref­fen. Wenn sie sich einmal engagiert haben, dann hat man einen Stein im Brett, aber man muß im rechten Augenblick das Richtige treffen. Da wird es sich darum handeln, ob sie mehr polnisch oder deutsch gesinnt sind. Sie sind ja gerade dort grundverschieden voneinander. So wie die übrige Bevölkerung verschieden ist, so, in einem noch hö­heren Maße, ist wohl der polnische von dem deutschen Adel durch und durch verschieden. Die verstehen sich untereinander noch viel weniger als die übrige Bevölkerung, weil sie ganz verschiedene Le­bensgewohnheiten haben. Und für denjenigen, der wiederum außen steht und die Sache betrachtet, für den ist es doch wiederum ein merkwürdiges Abfärben des polnischen Magnatentums auf das übri­ge Adeltum. Ich weiß nicht, was die Freunde aus Schlesien dazu

258

sagen. Aber meiner Meinung nach ist im schlesischen Magnatentum ein besonderer Zug, und in dem ist ein starkes Abfärben des Polen­tums zu bemerken. Dieses, was also ein zu unterscheidender Zug ist zwischen dem pommerschen und dem schlesischen Magnaten, das ist vielfach auf die Nähe des polnischen Elementes zurückzuführen. Also, manchmal spielt ja die Selektion eine Rolle; aber Sie können ganz sicher sein - man braucht dabei nicht persönlich zu werden -, solch ein Adeliger im Wirtschaftsleben wie Graf Keyserlingk ist wohl in Schlesien möglich, aber nicht unter dem pommerschen Adel. Das färbt sofort ab. Weil die Polen so stark das Wirtschaft­liche aufnehmen, so färbt es wiederum ab. Dieses furchtbar zähe, absolute Überzeugtsein von ihrer eigenen Wesenheit, das ist in den Polen, und das wirkt suggestiv auf die ganze Umgebung. Wem hätte es zum Beispiel gelingen können, innerhalb des österreichi­schen Parlaments dasselbe zu machen, was die Polen gemacht ha­ben? Es kam eine reaktionäre Bewegung im Schulwesen. Die frühe­re Reihe der Volksschulgesetzgebung sollte umreformiert werden im reaktionären Sinn. Unter dem Ministerium, das die Witzblät­ter so geschrieben haben: Ta-affe, - da kam eine reaktionäre Schul-gesetzgebung, da handelte es sich darum, diesem unmöglichen Kon­glomerat von Parteien, die damals im österreichischen Parlament saßen, eine Majorität für die Umreformierung der Volksschulge­setzgebung zu verschaffen. Zu dieser Majorität waren die polni­schen Abgeordneten notwendig. Sie haben nun gestimmt für dieses reaktionäre Schulgesetz, haben aber Galizien ausgenommen; da haben sie das Alte gelassen. Denken Sie sich: man beschließt für alle Gegenden Österreichs außerhalb Galiziens das reaktionäre Schulgesetz, nimmt aber Galizien aus. Man beweist damit, daß man es als etwas sehr Schlechtes anerkennt und zwingt es den an­deren Osterreichern auf. Das ist schließlich nur in Polen möglich. Das wirkt natürlich furchtbar stark ein auch da, wo es seine guten Seiten hat.

Frage: Was ist dem Verbot des Papstes, daß sich die Priesterschaft nicht an der Abstimmung in Oberschlesien beteiligen soll, für eine Bedeutung beizumessen?

259

Rudolf Steiner: Das ist letzten Endes nur in Rom zu erfragen, denn die katholische Kirche hat eben das, was ich vorhin betont ha­be. Sie hat heute tatsächlich eine ausgesprochene Weltpolitik und da spielt jede einzelne Tatsache darinnen eine ausgesprochene Rolle. Sie können aber ganz sicher sein: Wenn die katholische Kirche wirklich solch ein Verbot erläßt, dann ist das im Sinne der Kirche selber von einer großen Bedeutung. Was sie gerade in diesem Augen­blick damit will, das wäre nur in Rom zu erfragen. Aber es ist für uns unmaßgeblich, denn wir stimmen in diesem Falle mit der katho­lischen Kirche überein. Also, ich meine, es ist fur uns unmaßgeblich, wir können deshalb nicht unsere Stellung ändern, weil die katholi­sche Kirche es für ihren Klerus vorhat.

Es wäre viel zu weitgehend, wenn man einen Zusammenhang konstruierte von Seiten der katholischen Kirche. Diese hat ganz an­dere Absichten dabei, und die Kirche, die entscheidet einfach nach den Wahrscheinlichkeiten. Was sie will, die Kirche, ist im großen und ganzen leicht zu durchschauen. Sie will ihren Einfluß gewinnen in Schlesien, gleichgültig, wie die Abstimmung ausfällt; wenn sie verbietet, dann weiß sie, daß das Resultat der Abstimmung nicht ganz sicher ist. Würde die Abstimmung für Polen sicher sein, dann würde der Klerus ganz sicher mitstimmen. Nur von dieser Seite kann uns die Sache interessieren. Sonst aber kann es natürlich Fol­gen haben. Also, die katholische Kirche kann, wenn sie sieht, daß die Dreigliederer auch neutral bleiben, sich freundschaftlich stellen. Das bitte ich aber als Katzenfreundlichkeit zu betrachten. Sie wür­den furchtbar hereinfallen, wenn Sie sie ernst nehmen würden.

Ja, meine lieben Freunde, wir sind wohl am Ende unserer Be­trachtungen angelangt, und ich möchte noch einmal betonen, daß durch das, was Sie in dieser einen Frage tun werden - nicht so sehr, was Sie erreichen wollen, sondern was Sie tun werden -, also ob Sie bemerkbar machen können vor der Welt, was wir wollen, daß da­durch für unsere Dreigliederungsbewegung im großen und ganzen außerordentlich viel abhängen wird. Es könnte ja natürlich für die Energie in der Ausführung der Dreigliederungsbewegung eine Rolle spielen, ob in dem einen Gebiet das oder jenes getan wird. Aber

260

wenn eine solche Frage überhaupt in Erwägung gezogen werden soll, dann handelt es sich darum, daß man gerade bei demjenigen, was Sie zu tun haben werden, darauf hinweisen muß, daß sehr viel für unsere ganze Dreigliederungsbewegung davon abhängt, und wir werden ganz sicher alle Ursache haben, daß wir uns für die Dreiglie­derung einsetzen mit den allerlebendigsten, energischsten Gedanken und, wie ich hoffe, auch mit tatkräftiger Hilfeleistung das zu verfol­gen, was Sie dort in diesem, in den nächsten Wochen außerordent­lich wichtigen Winkel der Welt unternehmen werden. Man muß nur bedenken, was es bedeuten würde, wenn die Sache in Ober-schlesien eine solche Entwickelung nehmen würde, wie es im Auf­ruf angedeutet ist. Wir können uns diesen Gedanken gar nicht hin­geben; aber wenn es dazu kommen würde, daß nur einmal der reale Versuch gemacht würde, auf irgendeinem Gebiet mit der Dreigliede­rung zu beginnen, auch nur provisorisch zu beginnen, dann würde das ein ungeheurer Fortschritt sein; denn in der intensivsten Weise wird für die Dreigliederung gerade das wirken, was auf irgendeinem Gebiet ein Vorbild sein kann. Denn bedenken Sie nur, daß wir ja auf den praktischen Gebieten immer außerordentlich eingeschränkt sind, wenn wir die Dreigliederung in ihrer praktischen Seite zeigen wollen. Wir können agitieren dafür - das ist auch heute das Aller­wichtigste, das Allerallerwichtigste, denn nur dann kann etwas Durchgreifendes geschehen, wenn die Dreigliederung in möglichst vielen Menschenköpfen drinnen ist -, aber man muß damit begin­nen, eine praktische Tätigkeit zu entfalten. Nun, Reinkultur im Sin­ne der Dreigliederung ist ja bis jetzt im Grunde genommen nur die Waldorfschule. Sie ist ja wirklich etwas, welches durch ihre Konsti-tutionen innerhalb des Pädagogischen im Sinne der Dreigliederung wirkt, weil wir sorgfältig vor den Türen Wache halten, daß nichts von der äußeren Pädagogik und Didaktik hineinkomme. Mit so et­was, wie mit dem «Kommenden Tag» können wir nicht vorbildlich im Sinne seiner Reinkultur wirken. Der «Kommende Tag» ist auch da, um die Dreigliederung von dieser Seite aus zu propagieren, so daß die Leute sehen können: Diejenigen, die Dreigliederer sind, sind auch Leute, die Finanzielles gut leiten können. Nun, wie wenig aber

261

die Welt geneigt ist, zunächst auf den Gedanken der Dreigliederung, namentlich auf dem praktischen Gebiet einzugehen, das hat sich uns von Anfang an dadurch gezeigt, daß gerade da, wo sofort die Mög­lichkeit vorhanden gewesen wäre, mit der Dreigliederung einzuset­zen, man uns die schärfste Opposition entgegengesetzt hat. Den württembergischen Ministern konnte man eine sehr praktische Aus­kunft liefern. Sie hätten seit dem Frühjahr 1919, wo der Landtag sehr leicht zu überzeugen gewesen wäre, etwas tun können. Sie hät­ten das ausführen können, was ich gesagt habe: Man liquidiere links das Geistesleben, man liquidiere rechts das Wirtschaftsleben und halte nur noch das übrige zurück. Dann wäre es absolut leicht ge­gangen, denn das ist es: daß das Geistesleben nach Selbstverwaltung suche und das Wirtschaftsleben nach Selbstverwaltung trachte. Die­ses Wirtschaftsleben würde damals die Sache sogar mit außerordent­licher Begeisterung entgegengenommen haben. Die Vertreter des deutschen Geisteslebens, na, des offiziellen deutschen Geisteslebens, meine lieben Freunde, die bringen zwar solche Taten zusammen, daß die sämtlichen Fakultäten Deutschlands den Hindenburg zum Ehrendoktor gemacht haben; aber Taten von realer Bedeutung, die dürfen wir heute um so weniger suchen, je höher wir in die Hierar­chie des irdischen Geisteslebens hinaufsteigen. Es ist übrigens in der Schweiz nicht anders. Die Schweiz hat in den Volksschullehrern un­sere Bewegung gut aufgenommen. Sofort, wenn man in die höheren Schulen hineinkommt, nimmt, man kann nicht einmal sagen, daß die prinzipielle Ablehnung da ist, je höher man hinaufkommt, der Blödsinn in der Auffassung zu. Bei den Gymnasiallehrern ist er schon sehr groß, bei den Universitätslehrern ist er gar unermeßlich. Ich meine die Auffassung, wie sie die Sache auffassen. Wir sind also durchaus gehemmt in demjenigen, was uns das Wichtigste wäre; in dem Zeigen, wie das im praktischen Leben wirkt. Hier würden Sie ungeheuer viel tun für die Dreigliederung, wenn Sie es möglichst weit unter den gegebenen Verhältnissen bringen würden. Würden Sie es nur dahin bringen, daß Sie einer sehr großen Anzahl von Menschen, so daß es eine Weltdemonstration wäre, in die Köpfe bringen: Oberschlesien muß die Dreigliederung provisorisch anstre­ben,

262

und würden Sie nur die Möglichkeit haben, die Leute dahin zu bringen, treu bei der Stange der Dreigliederung zu bleiben und mit ungeheuerem Bedauern das Schicksal Oberschlesiens anzuschauen, komme es zu Polen oder zu Preußen-Deutschland, dann würden Sie diesen Leuten vielleicht etwas gegeben haben, was der Dreigliede­rung ungeheuer nützen könnte. Wir brauchen durchaus Leute, die verstehen, daß die Sache noch ganz anders liegt als so, daß man mit der Dreigliederung sympathisiert, wir brauchen Leute, die sagen:

das Schicksal der Zukunft hängt von der Dreigliederung ab. Wir ste­hen vor einem aut-aut: Entweder die Welt begreift die Dreigliede­rung, oder die Welt geht den Gang, den Spengler vorgezeigt hat. Zwischen diesen zwei Dingen schwebt die Welt.

Gehen Sie, meine lieben Freunde, nach Oberschlesien, wirken Sie auch im Herzen mit den Gedanken, auf die ich eben hingewiesen habe und seien Sie versichert: Von solchen Gedanken ausgehend, werden wir Ihre Tätigkeit begleiten. Wir reichen Ihnen bei Ihrer Aktion treulichst die Hand, in diesem Sinne bewußt, daß wir, indem wir so heute auseinandergehen zu einer wichtigen Sache, uns bewußt sind des Umstandes, daß wir für unsere Dreigliederung und damit für die Menschheitszukunft etwas außerordentlich Wichtiges be­sprochen und beschlossen haben. In diesem Sinne wollen wir zu dieser Aktion auseinandergehen.

263

ANHANG

264

#Bild s. 265-266

Aufzeichnungen

zum

Schulungskurs für Redner

Aus dem Notizbuch Archiv-Nr. 50

269

-299

#Bild s. 269-299

Aufzeichnungen

zum

Schulungskurs für Oberschlesier

Aus dem Notizbuch Archiv-Nr. 58

303

-313

#Bild s. 303-313

315

HINWEISE

Die beiden in diesen Band aufgenommenen Kurse, der sogenannte «Rednerkurs», und der Kurs für Oberschlesier, auch «Agitationskurs» genannt, dienten der Schulung von Rednern sm Rahmen der Aktivitäten des «Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus». Dieser hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die von Rudolf Steiner insbesondere in seiner Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage« (1919) ausgeführten Gedanken zu einer Neugestaltung des sozialen Lebens einer breiteren Öffentlichkeit zuginglich zu machen.

Mit der Verbreitung des von Rudolf Steiner verfaßten Aufrufs «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt» im Frühjahr 1919 war der Grundstein einer öffentlichen Wirksamkeit für den Dreigliederungagedanken gelegt worden. Am 22. April 1919 wurde in Stuttgart der «Bund für Dreigliederung« gegründet. Zwei Tage später, anläßlich einer Zusammenkunft mit den auswärtigen Vertretern des Aufrufes, stellte Maz Benziger, ein Vertreter der Arbeiter­schaft, die Frage nach einer rednerischen Ausbildung, die jedoch kein Echo fand. Etwa ein Jahr später wurde die Frage nach einer Rednerschulung in Hinblick auf eine Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit immer akuter, so daß man mit einer entsprechenden Bitte an Rudolf Steiner herantrat. Wie Emil Leinhas, damals Direktor der aus dem Dreigliederungsgedanken hervorgegangenen Initiative «Der Kommende Tag. Aktiengesellschaft zur Förderung wirt­schaftlicher und geistiger Werte«, berichtet, stellte Rudolf Steiner einen solchen Kurs in Aus-sicht, verband dies jedoch mit folgender Voraussetzung: »Wenn sich hundert Menschen zur Verfügung stellen, damit wir in allen größeren Städten Deutschlands vier Wochen lang in großen Sälen öffentliche Vorträge veranstalten können, will ich diese Redner in einem Kursus über die Dreigliederung und die Art, wie sie jetzt öffentlich vertreten werden muß, instruie­ren.« (Vgl. Emil Leinhas, «Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner«, Basel 1950, S. 90) Eine baldige Realisierung des Vorhabens schien gesichert, denn am 22. April 1920 konnte Ernst Uehli, Schriftleiter der Wochenschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus», Rudolf Steiner mitteilen, «daß sich zur Teilnahme an dem Rednerkurs bereits 80 Persönlichkeiten gemeldet haben und immer noch weitere Anmeldungen einlaufen, so daß wir wohl in der Lage sein werden, eine entsprechende Auswahl treffen zu können.» So hieß es dann auch im Rund­schreiben Nr.51 vom 24. April 1920 des «Bundes für Dreigliederung», daß der Kurs mögli-cherweise Ende Mai oder Anfang Juni stattfinden könne. Jedoch die außerordentliche Inan­spruchnahme Rudolf Steiners durch Vorträge, Kurse, Besprechungen u.a. ließ das Vorhaben zunächst noch nicht Wirklichkeit werden. Vielleicht waren aber auch die Angaben Uehlis zu optimistisch, denn Leinhas berichtet, daß sich zunächst nur 50 Personen zur Teilnahme be­reit erklärt haben, und «von diesen fünfzig konnten, wie zu erwarten war, die meisten wegen ihrer sonstigen Verpflichtungen nur einige wenige Vorträge übernehmen.« (a. a.O., S. 91) Trotz mancher Hindernisse kam es dann doch im Februar 1921 zu diesem Kurs, der einerseits wertvolle Anregungen für den Aufbau einer öffentlich zu haltenden Rede enthält, schwer­punktsmäßig aber eine grundlegende Einführung in die Problematik der Dreigliederung des sozialen Organismus beinhaltet. Im zweiten Teil des Bandes folgt die Wiedergabe des Schu­lungikurses für Oberschlesier, der wenige Wochen vor dem «Rednerkurs» stattgefunden hat, hier jedoch aus editorischen Gründen an zweiter Stelle erscheint.

316

Angeregt wurde er von einigen aktiven Vertretern des Dreigliederungsgedankens in Ober­schlesien. Ausgangspunkt war die für den 20. März 1921 angesetzte Abstimmung darüber, ob Oberschlesien in Zukunft zu Polen oder zu Deutschland gehören solle. Für die dortigen «Dreigliederer» haue sich die Frage gestellt, ob nicht aus der Idee der Dreigliederung heraus ganz andere Aspekte in die Auseinandersetzung um die zukünftige Nationenzugehörigkeit hineingetragen werden körmen und müssen, beinftaltet doch der Dreigliederungigedanke, daß es in Zukunft nicht um eine Fortführung des traditionellen Nationalstaatsprinzips, son­dern um die Schaffung neuer sozialer Territorien geht, die ihrerseits getragen werden von einem assoziativ gestalteten Wirtschaftsleben, von einem demoltr«tischen Rechtsleben und einem sich selbst verwaltenden, freien Geistesleben.

Die Breslauer hatten sich im November 1920 an den «Bund für Dreigliederung« in Stutt­gart mit der Bitte um Mithilfe bei entsprechenden Aufklärungsaktionen in Oberschlesien ge­wandt. Als Rudolf Steiner von diesem Ersuchen in Kenntnis gesetzt worden war, veranlaßte er umgehend, daß ein «Aufruf zur Rettung Oberschlesiens» entworfen wird, in dem die Grundgedanken der Dreigliederung zum Ausdruck kommen sollten. Die damit beauftragten Mitarbeiter legten diesen wenig später Rudolf Steiner vor, der daraufhin eine Neukonzipie­rung vornahm, die sofort in Druck ging (siehe Anhang). Um die in Oberschlesien Tätigen auf ihre zukünftige Aufgabe als Redner vorzubereiten, lud Rudolf Steiner sie für Anfang Januar 1921 ein, nach Stuttgart zu kommen. Ursprünglich war eine auf mehrere Tage sich erstrek­kende Schulung vorgesehen. Da die Gruppe aus Oberschlesien jedoch aufgrund des bevor­stehenden Abstimmungstermines unter Zeitdruck stand, mußte der Kurs auf zwei Vorträge und eine Fragestunde verkürzt werden.

Über die nach dem Kurs von den Mitarbeitern des Bundes für Dreigliederung in Ober-schlesien ergriffenen Aktivitäten siehe die Dokumentation in Heft Nr.93 der Schriftenreihe «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe».

Textunterlagen: Der hier vorliegende Wortlaut basiert auf den maschinenichriftlichen Aus-schriften der ursprünglichen Stenogrammtexte. Die Originalitenogramme liegen nicht mehr vor. Auch läßt sich nicht mehr feststellen, wer mitstenographiert bzw. den maschinenschrift­lichen Text erstellt hat.

Der Titel des Bandes stammt vermutlich von Roman Boos, der den Rednerkurs in Buch­form erstmals 1952 unter diesem Titel herausgegeben hat.

Zeitschriftveröffentlichungen: Die Vorträge vom 12. - 17. Februar 1921 («Rednerkurs») waren abgedruckt in der Zeitschrift »Gegenwart», 13. Jg. Heft 1-7, 10-12; 14. Jg. Heft 1

Werke Rulolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

Zu Seite

23 »Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» (1919), GA Bibl.-Nr. 23.

Ich hahe zum Beispiel neulieh einmal in Barn: Auf Einladung der «Volkswirtschaftlichen

Gesellschaft des Kantons Bern» hat Rudolf Steiner am 4. Februar 1921 in Bern einen Vortrag

317

über «Die Gestaltung des Wirtschaftslebens unter dem Einfluß der Dreigliederung des sozialen Organismus» gehalten. Eine Nachichrift dieses Vortrages liegt nicht vor.

28 in jener Artikelserie: Die Aufsatzfolge erschien 1905/06 unter dem Titel «Theosophie und soziale Frage» in der von Rudolf Steiner herausgegebenen Zeitschrift «Luzifer-Gnosis». Innerhalb der Gesamtausgabe ist sie enthalten in dem Band «Luzifer-Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus der Zeitschrift

29 Lenin und Trotzki: Führende Persönlichkeiten der bolschewistischen Bewegung in Rußland. Zu den von Rudolf Steiner angeführten Gesichtspunkten siehe insbesondere Lenins Schrift «Staat und Revolution«, BelpiBern 1918.

Sie getrauen sich nieht: E. A. Karl Stockmeyer notierte an dieser Stelle in seinen Auf­zeichnungen: «Die Menschen getrauen sich heute nicht, die Anfänge des geistigen Le­bens in der Seele zu suchen.» - Aus: Handschriftliche Aufzeichnungen E. A. Karl Stockmeyers vom Vortrag vom 12.2.1921, Archiv/Dornach.

30 Arthur Sthopenhaue»< 1788 - 1860, Philosoph. Wörtlich: »Da ergibt sich, daß Moral­Predigen leicht, Moral-Begründen schwer ist.» Siehe Arthur Schopenhauer, «Sämtliche

Werke» in 12 Bänden mit Einleitung von Rudolf Steiner, J. G. Cottasche Buchhandlung

Nachfolger, Stuttgart und Berlin o.J. (1894), 6. Band, S.361 (Motto zu der Preisichrift

über die Grundlage der Moral).

31 Ernst Michel> »Anthroposophie und Christentum», Aufsatz in «Die Tat», Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur, verlegt bei Eugen Diederichi in Jena; Februar-Heft 1921. Rudolf Steiner zitiert aus diesem Aufsatz in seinem Vortrag vom 8. Februar 1921, veröffentlicht in «Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung», GA Bibl.-Nr. 203, S.203 und 206.

32 daß von mir Vorträge gehalten worden sind seit de,n April 1919: Siehe innerhalb der Ru­dolf Steiner-Gesamtausgabe die Bände GA Bibl.-Nrn. 189-199 und 329-334.

33 als wir 1919 mit unserer Dreigliederungshetegung begannen: In seiner Schrift «Die Kern­punkte der sozialen Frage», a. a.O., entwickelte Rudolf Steiner die Idee einer (Drei-) Gliederung des sozialen Organismus als Alternative zum bestehenden Einheitsstaat. Zur Verbreitung dieser Idee wurde am 22. April 1919 in Stuttgart der «Bund für Drei-gliederung des sozialen Organismus» gegründet. Zur Geschichte der Dreigliederungsbe­wegung siehe die Schriftenreihe »Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» (vormals «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung») Heft 24/25 und 27/28 (1969); ferner: Walter Kugler, «Rudolf Steiner und die Anthroposophie», DuMont-Dokumen­te, Köln 1978, 3. Kapitel.

34 Karl Mar> 1818 - 1883, Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und des dialekti­schen Materialismus.

Johann Karl Rodbertus, 1805 - 1875, Nationalökonom und Politiker, Hauptvertreter des

wissenschaftlichen Sozialismus im idealistisch-monarchischen Sinn (Staatssozialist).

318

35 Paul Singe», 1844 - 1911, sozialdemoktatischer Politiker. In welchem Zusammenhang Rudolf Steiner Paul Singer gehört hat, ließ sich nicht feststellen. Vermutlich war es in Berlin um die Jahrhundertwende, als Rudolf Steiner innerhalb der Arbeiterbewegung zahfreiche Vorträge hielt und an der Arbeiterbildungsschule in Berlin von 1899 - 1904 als Lehrer tätig war.

36 wie sie in den «Kernpunkten» enthalten sind: Siehe Hinweis zu S. 23 und den Hinweis zu S. 33.

37 Fritz Terhalle, 1889 - 1962, Nationalökonom. Siehe seine Schrift «Freie oder gebundene Preisbildung? Ein Beitrag zu unserer Preispolitik seit Beginn des Weltkrieges», Jena 1920, S. 121. Dort zitiert Terhalle aus Ludwig Pohle, «Die gegenwärtige Krisis in der Deutschen Volkswirtschaftslehre, Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Politik und nationalökonomischer Wissenschaft», Leipzig 1910, S. 114, folgende Stelle: »Sie (die Zwangsmaßnahmen) sollen dazu dienen, die öffentliche Meinung, die über die Auf­deckung gewisser als empfundenen Erscheinungen erregt ist, dadurch zu­frieden zu stellen, daß sie sieht, daß von der Regierung Gegenmaßregeln ergriffen wer­den. Die öffentliche Meinung, die nach einem treffenden Worte von G. Brandes weit mehr von der Phantasie als von der Vernunft geleitet wird, fragt ja nicht danach und vermag nicht zu beurteilen, ob die Maßregeln, die getroffen sind, wirklich etwas Erheb­liches zu bessern vermögen, wenn auch die eingeführte Reform vielleicht nur den Schein für die Wirklichkeit bietet und im Grund alles beim alten läßt.» - Dazu bemerkt Terhalle: »Nur für die Zukunft auch des Friedens würde sich freilich die wichtige Auf­gabe ergeben, die Erkenntnis der wirtschaftlichen Notwendigkeiten in den breiten Volksschichten mehr als bisher zu pflegen, diese letzteren zu wirtschaftlichem Denken zu erziehen.«

Georg Brandes, 1842 - 1927, dänischer Literaturkritiker; siehe auch den vorangehenden Hinweis zu F. Terhalle.

38 seit dem April 1919: In diesem Monat erschien die Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage». Siehe Hinweise zu S. 23 und 33.

41 Friede von Nystad: In der am Bottnischen Meerbusen gelegenen kleinen finnischen Ha­fenstadt Nystadt (finnisch: Uusikaupunki) wurde am 10. September 1721 der Frieden zwischen Schweden und Rußland geschlossen, der den sogenannten Nordischen Krieg beendete. Damit verlor Schweden seine Großmachtstellung, Rußlands Zugang zur Ost­see ist nun auf Dauer gesichert. Die Ostsee wird künftig beherrscht durch den britisch-russischen Gegensatz.

Friede von Paris: Nach dem Vorfrieden von Fontainebleau (1762) schließen Großbri­tannien und Portugal mit Frankreich und Spanien am 10. Februar 1763 den Frieden von Paris. Frankreich überläßt Großbritannien seine nordamerikanischen Besitzungen (Neuschottland, Kanada, Louisiana östlich des Mississippi). Spanien erhält von Frank­reich Louisiana westlich des Mississippi als Kompensation für Florida, welches an Großbritannien abzutreten ist. Die indischen Besitzungen Frankreichs verbleiben (au­ßer fünf Handelsplätzen) bei Großbritannien, das auch die afrikanischen Eroberungen (Senegambien) behält und nun die unbestritten führende See- und Kolonialmacht der Welt ist.

319

42 ob Rußland ,>arh Konstantinopel kommen soll ,sdir nicht: Möglicherweise hat Itier der Stenograph den Wortlaut Rudolf Steiners nicht ganz wörtlich bzw. exakt wiedergege­ben. Zur Verdeutlichung seien hier einige wesentliche historische Begebenheiten im Zusammenhang mit dem Verhältnis Rußland-Konstantinopel angeführt: Am 29. Mai 1453 fällt Konstantinopel in die Hand der Osmanen. Die griechisch orthodoxe Kirche bleibt unter der Türkenherrichaft bestehen. Politiseh geht die Führerrolle in der Oe­thodoxie an das Großfürstentum Moskau, das das »Dritte Rom« sein will. - Im Frieden von Konstantinopel 1700 muß Asow (im Mündungadelta des Don) Rußland überlassen werden und diesem damit ein erster Stützpunkt am Schwarzen Meer gewährt werden. -Die unter Zar Peter dem Großen (1672 - 1725) vollzogene Stärkung der Macht Ruß lands bedeutet eine Annäherung Rußlands an den Westen und damit auch einen zuneh­menden politischen Einfluß Rußlands auf das politische Leben Mitteleuropas.

47 Ossss(d Spengler> 1880 - 1936, Geschichtsphilosoph. «Der Untergang des Abendlandes«, Band 1 «Gestalt und Wirklichkeit«, München 1920, Band II «Weltbistorische Perspekti­ven», München 1922.

51 Herbert Spencer, 1820 - 1903, englischer Philosoph. «System der synthetischen Philoso­phie«, 10 Bände 1862-1896.

Thomas Henry Huxley, 1825 - 1895, englischer Zoologe und Philosoph. «Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur», übersetzt von J. Victor Carus, 1863.

Ralph Waldo Emerson, 1803 - 1882, amerikanischer Philosoph und Schriftsteller. »Re­presentative men«, 1850.

Walt Whitman, 1819 - 1892, amerikanischer Schriftsteller. «Gesammelte Werke« in zwei Bänden, Philadelphia 1892.

Österreich... «ar das Experimentierland: Siehe hierzu auch Rudolf Steiners Aufsätze über Österreich in der Wiener «Deutschen Wochenschrift«, VI. Jal'rgang 1888, inner­halb der Rudolf Steiner-Gesamtausgabe in dem Band «Gesammelte Aufsätze zur Kultur-und Zeitgeschichte 1887 - 1901», GA Bibl.-Nr. 31.

52 Woodrow Wilson: Siehe Hinweise zu S. 58 und 229.

56 die Rurik-Herrschaften: Durch innere Wirren veranlaßt, haben, nach sagenhaften Be-richten, die Russen im Jahre 850 die drei normannischen Brüder Rurik, Sineus und Truwor gerufen, um Ordnung zu schaffen. Rurik starb 879.

Viadimir Solovjev, 1853 - 1900.

Let> Tolstoj, 1828-1910.

Fedor Michailovit,:h Dostojevskij, 1821 - 1881.

58 6n dickes Buch ..., das Wilson ... geschrieben hat: Woodrow Wilson, 1856 - 1924, ameri­kanischer Präsident 1912 bis 1920. «The State», 1889, deutsch: «Der Staat», Berlin 1913.

60 daß ich im Mai 1914 in Paris eine" dentichen Vortrag halten konnte: Rudolf Steiner sprach in Paris am 25., 26. und 27. Mai 1914. Die ersten beiden Vorträge, «Das Herein-wirken der geistigen Welt in unser Dasein» und «Die Geisteswissenschaft ala Zusam­menfassung von Wissenschaft, Intelligenz und hellsichtiger Forschung» sind enthalten in dem Band «Wie erwirbt man sich Verständnis für die geistige Welt?», GA Bibl.-Nr.

320

154; der Vortrag vom 27. Mai «Der Fortschritt in der Erkenntnis des Christus. Das Fünfte Evangelium» ist enthalten in dem Band «Vorstufen zum Mysterium von Gol­gatha», GA Bibl.-Nr. 152. Vermutlich meint Rudolf Steiner den öffentlich gehaltenen Vortrag vom 26. Mai. Der Stenograph hatte am Anfang des Vortrages vermerkt, daß Rudolf Steiner sich dafür entschuldigte, daß er den Vortrag in deutscher Sprache halten wird.

61 Anatol Wauiljew>tsch Lunancharikij, 1875 - 1933; 1917 bis 1929 russischer Volkskom­missar für Volksaufklärung; 1930 Präsident der Moskauer Akademie der Künste.

daß nun der geistigen Feuerfunken genug entzündet sind: Wörtlich heißt es in «Der Leuchtturm», hrg. von Karl Rohm, 15. Jg., 4. Blatt, Lorch, Oktober 1920: «Geistige Feuerfunken, die Blitzen gleich nach der hölzernen Mausefalle zischen, sind also genü­gend vorhanden, und es wird schon einiger Klugheit Steiners bedürfen, >versöhnend> zu wirken, damit nicht eines Tages ein richtiger Feuerfünke der Dornacher Herrlich­keit ein unrühmliches Ende bereitet.» - Siehe auch die Schrift von Elsbeth Ebertin, «Ein Blick in die Zukunft», Freiburg i.Br., 1921, S. 63.

62 in unserer Dreiglicderungszeitung: Wochensehrift «Dreigliederung des sozialen Organis­mus«, herausgegeben vom Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus, verant­wortlicher Schriftleiter Ernst Uehli. Sie erschien von Juli 1919 bis Juni 1922. Dann wurde sie umbenannt in «Anthroposophie, Wochenschrift für freies Geistesleben». Diese wurde 1931 mit der Zeitschrift «Die Drei« vereinigt und als Monatsschrift heraus-gegeben. - Wie aus einer Äußerung Rudolf Steiners in seinem Vortrag vom 16. Februar 1921 (in diesem Band) hervorgeht, sah er die Notwendigkeit, daß «die Dreigliederungs­zeitung eine Tageszeitung wird«. Die in der Zeitschrift «Dreigliederung des sozialen Or­ganismus» erschienenen Aufsätze Rudolf Steiners sind innerhalb der Gesamtausgabe enthalten in dem Band «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915 - 1921«, GA Bibl.-Nr. 24.

65 in dic Ware hereingeronnen ist: Siehe Karl Marz, «Das Kapital», 1. Abschn., 1. Kap. «Die Ware». Dort heißt es u.a.: «Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeron­nener Arbeitszeit.»

67 Konkret dargestellt finden Sit dics in den «Kernpunkten»: Siehe Rudolf Steiner, «Die Kernpunkte der sozialen Frage», GA Bibl.-Nr. 23, Kapitel ffi, «Kapitalismus und soziale Ideen».

Herbert Spencer: Siehe Hinweis zu S. 51.

68 Rudolf Stammler, 1856 - 1938, »Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Ge­ichichtsauffassung» (1896).

69 Olii'er Cromwell, 1599 - 1658, Lord-Protektor von England. Im Dezember 1648 wur­den auf seine Weisung hin die presbyterianischen Mitglieder aus dem Parlament ausge­schlossen.

Wilhelm von Humholdt, 1767 - 1835, deutscher Staatsmann, «Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen», Leipzig 1851.

71 Friedrich Wilhelm Förster, 1869 - 1966, Ethiker, Erziehungswissenschaftler und Pazifist.

321

72 in dem Feldzug des «Berliner Tagehlatti>: Gemeint ist hier der Bericht von Christian Bouchholtz unter dem Titel «Das abergläubische Berlin. Okkulte Volksschulen und spiritistische Laboratorien«, erschienen in Nr.39 vom Dienstag, den 25. Januar 1921, des «Berliner Tageblatts». Schon am 26. Januar erschien ein Auszug davon im engli­schen «Daily Telegraph«.

73 in englischen> Zeitungen: Siehe den vorangehenden Hinweis.

74 Der Kommende Tag. Aktiengesellschaft zur Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte. - Stuttgart 1920 - 1925. Versuch einer assoziativen Unternehmung im Sinne der Dreigliederungsidee Rudolf Steiners, der bis zum Jahre 1923 Vorsitzender des Auf­sichtsrates war. Dem Unternehmen gehörten bis zu zwanzig wirtschaltliche Betriebe und kulturelle Institutionen an. Infolge der allgemeinen Wirtschaftskrise mußte das Unternehmen 1925 liquidiert werden. Siehe dazu auch die Darstellung von Fritz Piston in der Schriftenreihe «Beiträge zur Rudolf Steiner-Gesamtausgabe», Heft 88, Dornach, Johanni 1985.

84 Rudolf Wissel, 1869 - 1962. Reichswirtschaftsminister 1919. Er vertrat den Gedanken einer nationalen Gemeinwirtschaft.

85 Konzil zu Konstantinopel: Das achte ökumenische Konzil von Konstantinopel 869 de­kretierte unter Papst Hadrian II. gegen Photius> daß der Mensch eine vernünftige und erkennende Seele habe, »unam animam rationabilem et intellectualem», so daß von einem besonderen Geistprinzip im Menschen nicht mehr gesprochen werden durfte. Das Geistige wurde fortan nur mehr als Eigenschaft der Seele angesehen. Vergleiche hierzu den von Rudolf Steiner sehr geschätzten katholischen Philosophen Otto Will-mann in seinem dreibändigen Werk «Geschichte des Idealismus», 1. Auflage Braun­schweig 1894. Im § 54: Der christliche Idealismus als Vollendung des antiken (Band II, Seite 111) heißt ei: «Der Mißbrauch, den die Gnostiker mit der paulinischen Unter­scheidung des pneumatischen und des psychischen Menschen trieben, indem sie jenen als den Ausdruck ihrer Vollkommenheit ausgaben, diesen als den Vertreter der im Ge­setze der Kirche befangenen Christen erklärten, bestimmte die Kirche zur ausdrückli­chen Verwerfung der Trichotomie.»

Wilhelm Wundt, 1832 - 1920, Philosoph und Psychologe.

87 fortfretten = fretten: in der österreichischen Umgangssprache gebräuchlich für »sich einschränken, sich kümmerlich forthelfen».

88/89 in den Üngetümen, die man Friedensschlüsse ... nennt: Nach Brest-Litowsk (3. März

1918) und Versailles (28. Juni 1919) wurden Friedensverträge in Saint-Germain-en-Laye

(10. September 1919), Neuilly (27. November 1919), Trianon (4. Juni 1920) und Sévres

(10. August 1920) unterzeichnet.

89 Sisfiriden ja unter meinen Vorträgen ... einen: Vermutlich handelt es sich hier um den öffentlich gehaltenen Stuttgarter Vortrag vom 18. Juni 1919 über das Thema: «Freiheit für den Geist, Gleichheit für das Recht, Brüderlichkeit für das Wirtschaftsleben», inner­halb der Gesamtausgabe in dem Band «Neugestaltung des sozialen Organismus», GA Bibl.-Nr. 330.

97 Maz Det>oir, 1867-1947, Professor für Philosophie in Berlin; Herausgeber der «Zeit­schrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft». In seiner Schrift »Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung», Stuttgart 1917, handelt er die Anthroposophie kritisch-polemisch ab. Siehe auch den nachfolgenden Hinweis.

322

97 «Von Seelenrätsel In> (1917), GA Bibl.-Nr. 21. Im zweiten Kspitel setzt sich Rudolf Stei­ner ausführlich mit der Kritik Dessoirs (siehe vorangehenden Hinweis) auseinander.

Brüf eines Freundes: Dr. Jakob Mühlethaler (1883 - 1972). Er schrieb an Rudolf Steiner am 29. November 1920: »Warum ich dazu komme, in diesem Momente Ihnen zu schreiben, erltlärt sich so, daß ich gerade Ihr Buch >Von Seelenrätseln> studiere und da auf die Stelle stoße (S. 98), wo Sie von Dessoirs seltsamen Denkdefekten reden. Da kann ich Ihre Kritik durch eine selbsterlebte Tatsache noch erhärten. Im Wintersemester 1904/05 hörte ich bei Dessoir ein Kolleg über Logik und Erkenntnistheorie. Da passier­te es eines Tages dem schönen Max (er trat nämlich allwöchentlich in einer andersfarbi­gen Weste auf), daß ihm bei seinem freien Vortrag plötzlich zum großen Staunen des Kollegiums. Zum Unglück hstte ein Student gerade eine Zeitung vor sich liegen; der wurde nun als der Sündenbock abgekamtelt, und darauf erbat sich der Herr Professor einige Minuten Bedenkzeit, um den Faden seines Vortrages wieder zu finden. Er hat ihn nach langen, bangen Minuten endlich gefunden ...» (Quelle:

Archiv der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz).

98 Kuno Fische>, 1824 - 1907, Philosoph; zuletzt als Professor in Heidelberg; er führte die philosophisch-ästhetische Analyse klassischer Dichtungen ein.

Ich kannte ja selbst ... einen> Cl»>niker: Vermutlich handelt es sich um Hugo von Gilm

(1831 - 1906). Siehe auch Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28, S. 43;

ferner Schriftenreihe «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Heft 49/50, Ostern

1975, S. 45-47.

99 Justus von Liebig, 1803-1873.

Eugen von Gorup-Besanez, 1817-1878.

103 He'uriann Helmholtz, 1821 - 1894. Es handelt sich hier um den von dem Physiker Helm-holtz im Jahre 1892 bei der Generalversammlung der Goethegesellschaft zu Weimar gehaltenen Vortrag über «Goethes Vorahnung kommender naturwissenschaftlicher Ideen«. Siehe dazu «Berichte des Freien Deutschen Hochstiftes», 1893, S. 225.

107 in eirrer süddeutschen Stadt, dis heute keine süddeutsche Stadt mehr ist: Es handelt sich hier um den Vortrag vom 21. November 1905 in Kolmar mit dem Thema »Die Weisheits-lehren des Christentums im Lichte der Theosophie». Eine Nachschrift liegt nicht vor.

113 «Die Geheimwissenschaft im Umriß> (1910), GA Bibl.-Nr. 13.

115 Adam Smith, 1723 - 1790, englischer Philosoph und Volkswirtschaftler. Man nennt ihn den Begründer der «klassischen Nationalökonomie«. Er hat als erster die individualisti­schen und liberalen Wirtschaftitheorien des 18. Jahrhunderts geschlossen zur Darstel­lung gebracht. Hauptwerk: «An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« (1776), 4 Bde., deutsch von Stirner 1846/47.

119 Karl Heinemann, «Goethe«, 2 Bde., 1895.

Albert Biclschowsky, «Goethe», 2 Bde., 1895/1904.

Richard Meyex> «Goethe«> 3 Bde., 1895.

Friedrich Gundolf(Gundelfinger), «Goethe», 1916.

Emil Ludwig, «Goethe, Geschichte eines Menschen», 3 Bde., 1920.

323

119 Alniander Baumgartner, «Goethe», 2 Bde., 1895.

125 Waldorfschule: Als einheitliche Volks- und höhere Schule von Emil Molt, Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfsbrik, und Rudolf Steiner> der die Leitung bis zu seinem Tod im März 1925 innehatte, im Jahre 1919 in Stuttgart gegründet. Auf der Grundlage der von Rudolf Steiner entwickelten Menschenkunde und Erziehungikunit existieren heute über 300 Schulen in Europa und in Übersee. Siehe Rudolf Steiners Vorträge über Erziehungikunit, innerhalb der Gesamtausgabe erschienen in den Bänden Bibl.-Nrn.

293-311.

127 Eisenacher Programm: aufgestellt im August 1869 anläßlich der Gründung der «Sozial­demokratischen Arbeiterpartei« durch Wilhelm Liebknecht und August Bebel.

Gothaer Programm: vom Mai 1875 anläßlich des Zusammenschlusses dieser «Arbeiter-partei» mit dem im Mai 1863 von Ferdinand Lassalle begründeten «Allgemeinen deut­schen Arbeiterverein».

Efurter Programm: vom Oktober 1891, durch Karl Kautsky bearbeitet, anläßlich der

Neuorganisation der «Sozialdemokratischen Partei Deutschlands» als Glied der zwei

Jahre zuvor errichteten «Zweiten Internationale».

128 «Staat und Revolution», von W. I. Lenin (N. Lenin), Belp/Bern 1918. Wörtlich heißt es dort (S.146 f.): «Der Staat wird denn völlig abgestorben sein können, wenn die Gesell­schaft die Regel verwirklicht haben wird: , der einen mit der Hartherzigkeit eines Shylock berech­nen läßt, ob man am Ende nicht eine halbe Stunde länger gearbeitet oder etwas weniger bezahlt bekommen hat als der andere - dieser enge Horizont wird dann überschritten sein. Die Verteilung der Produkte wird keine Regelung des jeder Person zu erteilenden Quantums von seiten der Gesellschaft erfordern, denn jeder wird frei >nach seinen Be­dürfnissen verspre­chen>, daß die höhere Entwicklungsphase des Kommunismus eintreten muß, die Vor­aussicht der großen Sozialisten eines solchen Zeitalters setzt auch eine Produktivität der Arbeit und einen Menschenschlag voraus, der von dem heutigen> weit entfernt ist ...».

130 Es gilt Leute, sogar Bis>narck gehörte zu ihnen: Siehe Georg Brodnitz, «Bismarcks natio nalökonomische Anschauungen«, Jena 1902, Seite 39: Er (Biimarck) tritt ein für die bei­den großen Schlagadern unseres gesellschaftlichen Organismus: Für die Landwirtschaft und die Industrie. Sie allein repräsentieren den produktiven Teil der Bevölkerung, deren Rest, abgesehen von denen, die überhaupt nur «mit der Couponschere ihre Tätig­keit abschließen«, entweder den «unproduktiven Klassen der Gelehrten und Ungelehr­ten, die von ihrem Gelde, vom Honorar oder Gehalt leben« (Reichstag, 10. Febr. 1885), oder dem Handel angehören, der ein zwar vornehmes, aber ebenfalls unproduktives Gewerbe ist (Reichstag, 9. Mai 1884). - Hierin liegt eine entschiedene Einseitigkeit ... »Wer Schweine erzieht, ist nach dieser Schule ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft. Ein Newton, ein Watt, ein Keppler sind nicht so produktiv, als ein Esel, ein Pferd oder ein Pflugstier.» (Friedrich List.)

Waldorfschule: Siehe Hinweis zu S. 125.

137 Eurythmie: Eine von Rudolf Steiner (ab 1912) entwickelte Bewegungskunst, in der Sprache und Musik «sichtbar» gemacht werden. Siehe Rudolf Steiner, »Die Entstehung und Entwickelung der Eurythmie», GA Bibl.-Nr. 277a; »Eurythmie. Die Offenbarung der sprechenden Seele» (Ansprachen zu Eurythmie-Aufführungen), GA Bibl.-Nr. 277. «Eurythmie - Die neue Bewegungskunst der Gegenwart» (Eine Zusammenstellung von einfuhrenden Ansprachen und Vortrigen), Taschenbuchausgabe tb 642.

Hochschulkurse: Mit dem Ersten anthroposophischen Rochschulkurs vom 27. Septem­ber bis 16. Oktober 1920 wurde zugleich der Goetheanum-Bau eröffnet. Etwa 100 Vor­träge und künstlerische Veranstaltungen prägten das Tagungsgeschehen. Rudolf Stei­ners Vorträge sind innerhalb der Gesamtausgabe erschienen in dem Band «Grenzen der Naturerkenntnis«, GA Bibl.-Nr. 322. - Der Zweite anthroposcphische Hochschulkurs fand statt vom 3. bis 10. April 1921, ebenfalls in Dornach. Im Miuelpunkt dieser, von über 600 Teilnehmern besuchten Veranstaltung standen die fünf Vorträge Rudolf Stei­ners, die innerhalb der Gesamtausgabe erschienen sind in dem Band »Die befruchtende Wirkung der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften», GA Bibl.-Nr. 76.

137/138 Der Kommende Tag: Siehe Hinweis zu S.74.

142 Medizinisch- Therapeutisches Institut: Das «Klinisch-Therapeutische Institut« in Stuttgart wurde gegründet nach dem ersten Arztekurs Rudolf Steiner« (Ostern 1920) von den Arzten Dr. Ludwig Noll, Dr. Otto Palmer, Dr. Felix Peipers und Dr. Friedrich Huse-mann. Bis 1924 war das Institut eine Abteilung des «Kommenden Tages» (s. o.), danach, bis 1935 Privatunternehmen Dr. Otto Palmers.

143 D. Lic. Wilhelm Bruhn, «Theosophierende Anthroposophie«, in »Aus Natur und Gei­steswelt«, Bd. 775, Leipzig und Berlin 1921.

144 der Grazer juristische Lehrer: Konnte bislang nicht ermittelt werden.

145 wie ich die Verlogenheit des Frohnmeyer öffentlich charakterisiert hahe: Am 3. Dezember

1920 in Basel, wo er über «Anthroposophische Geisteswissenschaft, ihr Wert für den Menschen und ihr Verhältnis zu Kunst und Religion« (bisher unvenöffentlicht) gespro chen hat. D. Lic. Joh. Frohnmeyer (1850 - 1921) hatte in seiner Broschüre «Die theoso­phische Bewegung, ihre Geschichte, Darstellung und Beurteilung», Stuttgart und Basel 1920, unter anderem folgendes geschrieben (S. 107): «Es wird gegenwärtig in Dornach eine 9 m hohe Statue des Idealmenschen gemeißelt: nach oben mit Zü­gen, nach unten mit tierischen Merkmalen.« (In der 2. Auflage wurde diese Angabe weggelassen.) - Frohnmeyer hat diese völlig unzutreffende Angabe aus einem Artikel des Pfarrers Heinrich Nydecker-Roos «Ein Besuch im der Anthroposo phen in Dornach bei Basel« im «Christlichen Vorboten aus Basel», 1920, 88. Jg. Nr.23, 9. Juni, S.178 f., ungeprüft (mit einigen geringfügigen Anderungen) übernommen.

Und dieser Jemand: Prof. D. Gerhard Heinzelmann, Basel, laut seiner Besprechung der Schrift «Die Hetze gegen das Goetheanum«, Dornach 1920 in «Evangelisches Missions­magazin», Basel 1921, Bd. 65, 2. Heft, Februar, S. 64.

148 Karl Giskra- 1820 - 1879, war von 1867 bis 1870 österreichischer Minister des Innern.

Graf Hermann Keyserling, 1880 - 1946, gründete 1920 in Darmstadt die »Schule der Weisheit».

325

149 «Der Weg zur Vollendung», Mitteilungen der Gesellschaft für Freie Philosophie, Schule der Weisheit, Darmstadt, hrg. von Graf Hermann von Keyserling, 1. Heft, Darmstadt 1920.

«Philosophie als Kunst», Darmstadt 1920.

150 Abhängigkeit von Haeckel, die er hehauptet hat: Siehe Graf Hermann Keyserling, «Philo­sophie als Kunst» (1920), S. 241. Dort schreibt er über Rudolf Steiner, daß »es ... jeden­falls für sein Wesen symbolisch ist, daß seine geistige Laufbahn in gewissen Hinsichten von Haeckel ausging.»

im öffentlichen Vortrag: Im Vortrag vom 16. November 1920 »Die Wahrheit der Gei­steswissenschaft und die praktischen Lebensforderungen der Gegenwart. Zugleich eine Verteidigung der anthroposophischen Geisteswissenschaft wider ihre Ankläger« (bisher unveröffentlicht, vorgesehen für Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 335), hat Rudolf Steiner die Äußerung von Keyserling (siehe vorangehenden Hinweis) richtiggestellt: »Wahr ist es nicht, daß ich irgendeine Anknüpfung an Haeckel gesucht habe. Haeckel ist an mich, an die Art und Weise der Bestrebungen, die ich gepflegt habe, von sich aus herangekom­men.» Siehe auch Rudolf Steiners Darstellung in »Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28, Kap. XV.

151 Professor Heinzelmann: Siehe Hinweis zu S. 145.

Roman Boos, 1889 - 1952, Jurist, Autor diverser Fachbücher, Vortragsredner; war aktiv innerhalb der Dreigliederungsbewegung, insbesondere in der Schweiz, tätig.

die Akasha-Chronik: Siehe Rudolf Steiners Schrift »Aus der Akasha-Chronik» (1904), GA Bibl.-Nr. 11. Zu den hier im Vortrag angeführten Problemen siehe Rudolf Steiners Ausführungen über den Begriff «Akasha-Chronik» in dem Vorwort des genannten Buches.

6ne »ganz neuartige Definitien von wissenschaftlicher Unwahrheit»: Pfarrer Max Kully, Arlesheim, hatte in einem seiner Hetzartikel gegen das Goetheanum und die Anthropo­sophie (»Katholisches Sonntagsblatt», Beilage zu Nr.20 vom 16. Mai 1920) unter dem Pseudonym «Spektator« von der »Akasha-Chronik» - eine von Rudolf Steiner verwen­dete Bezeichnung - im Sinne eines physischen Buches geschrieben, während sie ein rein geistiges Bild der Vorgänge in der Menschheitsentwicklung und im Kosmos ist. -Dr. Roman Boos, Dornach, hatte darauf erwidert («Tagblatt für das Birseck, Birsig- und Leimental», Arlesheim, 20. Mai 1920). - Kully erwiderte wiederum darauf im «Katholi­schen Sonntagsblatt» (Nr.22 vom 30. Mai) und bestätigte dort erneut, daß er die «Akasha-Chronik» als ein physisches Buch ansah. - Rudolf Steiner nahm in seinem Vortrag vom 5. Juni 1920 in Dornach (abgedruckt in »Die Hetze gegen des Goetheanum», Dornach 1920, S. 19ff.) zu diesen Vorgängen Stellung. - In einer Rezension dieser Bro­schüre (»Evangelisches Missionsmagazin«, Basel 1921, Bd. 65, 2. Heft, S. 63 f.) machte der Professor der Theologie D. Gerhard Heinzelmann, Basel, die hier vom Vortragen­den zurückgewiesenen Einwände.

153 Diese ... wird held eine,,, solchen Machtfaktor hedeuten: Siehe Graf Hermann Keyserling, »Der Weg zur Vollendung», Darmstadt 1920, im Eröffnungsartikel «Die Schule der Weisheit», S. 14. Auch die folgenden Zitate sind dieser Schrift (S.14/15 und 17) ent­nommen. Siehe auch die Hinweise zu S. 148 und 149.

326

158 tringt er dann des Folge"de zustande: Siehe Graf Hermann Keyserling, «Der Weg zur Vollendung», Darmstadt 1920, S. 47/48.

159 Professor Rein, Jena, schrieb in seinem Artikel «Ethische frrlehren« in »Der Tag» (23. November 1920) u. a.: ... Diese freien Menschen des Dr. Steiner sind aber bereits keine Menschen mehr. Sie sind in die Welt der Engel schon auf Erden eingetreten. Die An­throposophie hat ihnen dazu verholfen. Müßte es nicht eine unsagbare Wohltat mitten in den mannigfachen Wirrnissen des Erdenlebens sein, sich in solche Umgebung ver­setzen zu lassen?«

160 in jenem Vortrag hier: Siehe Hinweis zu S. 150.

161 Oscar Hertwig, 1849 - 1922. «Das Werden der Organismen. Eine Widerlegung von Dar­wins Zufallstheorie«, Jena 1916.

hat Hertwig auch ein Buch über soziale Fragen erscheinen Lassen: »Zur Abwehr des ethi­schen, des sozialen, des politischen Darwinismus», Jena 1918.

162 Lunatscharskij: Siehe Hinweis zu S. 61.

171 die Grund- und Bodenfrage ... ,n mesnen »Kempunkten»: Siehe »Die Kernpunkte der sozialen Frage« (1919), GA Bibl.-Nr. 23, Kap. III, S. 115. Siehe auch Rudolf Steiners Vortrag vom 16. Juni 1920 (vorgesehen für Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 335) »Die Konse­quenzen der Dreigliederung für Grund und Boden«.

173 Henri Poincaré, 1854 - 1912, französischer Mathematiker, Physiker und Astronom.

Ernst Mach, 1838 - 1916, Professor für Physik in Graz und Prag, Professor für Philoso­phie in Wien.

174 Lujo Breniano, 1844 - 1931, Professor für Nationalökonomie. Setzte sich besonders für das Gewerkschaftswesen und für den freien Handel ein.

Fritz Terhalle, 1889 - 1962, Nationalökonom. In seinem Buch »Freie oder gebundene Preisbildung?», Jena 1920, heißt es in i 11 »Der Erfolg der Kriegswucherbekämpfung» (S.113 f.): «Will man sich ein Gesamturteil über den Erfolg der Preiswucherverfolgung machen, so kann man es vielleicht dahin zusammenfassen: 1. Die meiste Zeit war in den interessierten und maßgehlichen Kreisen eine falsche Auffassung von dem überwiegend, was erstreht werden sollte. 2. Die dadurch, sowie durch die einer Anwendung auf die Praxis und durch die Praxis durchaus widerstrebenden theoretischen Konstruktionen, sowie endlich durch die verschiedenartigste Rechtsprechung bedingte Unsicherheit hrachte die he­teiligten Er'werhekreise in sehr unerwünschte Verwirrung und Erregung. 3. Die Bekümp­fung des Preiswuchers gelang auf manchen Geheten so gut ,usiegar nicht, insbesondere bei der Urproduktion, auf anderen nur teilweise und da oft in übertriebenem Umfange, so namentlich in manchen Zweigen des Kleinhandels. 4. Alles das wirkte zusammen, des reelle Geschäft zugunsten des Schiebertums zu schädigen.»

Siehe auch den Hinweis zu S. 37.

177 die Dreigliederungszeitung: Siehe Hinweis zu S. 62.

182 Karl der Große, 742-814, im Jahre 800 wurde er von Papst Leo III. in Rom zum Kaiser gekrönt.

185 des kleine volkswirtschaftliche Büchelchen: Weder Titel noch Autor ließen sich bisher ermitteln.

327

194 das Nietzsche- Wort: Die Quelle des von Steiner angeführten Wortlautes ließ sich nicht ermitteln. Eine dem hier Gemeinten nahekommende Formulierung findet sich in den nachgelassenen Schriften Nietzsches der achtziger Jahre: »Die Periode der Klarheit: man begreift, daß Altes und Neues Grundgegensätze sind: die alten Werte aus dem nieder-gehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben geboren -, daß alle alten Ideale le­bensfeindliche Ideale sind (aus der decadence geboren und die decadence bestimmend, wie sehr auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral). Wir ,uerstehen das Alte und sind lange nicht stark genug zu einem Neuen.» - Aus: «Friedrich Nietasche», Wer­ke in drei Bänden, hrg. von Karl Schlechta, München 1956, 3. Bd. S. 666.

197 im «Bund für Dreigliederung des sozialen Otganismus»: Siehe Hinweis zu S. 33.

schon im Beginne des nunmehr verflossenen Jabres: So z. B. innerhalb der Konferenz mit den Vorstehern der Arbeitsgruppen für Dreigliederung vom 3. März 1920 in Stuttgart (bisher unveröffentlicht), wo er über die Notwendigkeit spricht, aus der Dreiglie­derungibewegung heraus praktische Einrichtungen etwa des Wirtschaftslebens zu be­gründen.

Völkerbundversammlung in Genf- Vom 15. November bis 18. Dezember 1920. Die USA haben den Eintritt in den Völkerbund abgelehnt. Argentinien schied wieder aus. Österreich und Bulgarien wurden als Mitglieder aufgenommen. Die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes wurde beschlossen. - Siehe auch Rudolf Steiner, «Die wirklichen Grundlagen eines Völkerbundes in den wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Kräften der Völker» in »Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung», GA Bibl.-Nr. 329.

198 etwa fünfrig Persönlichkeiten hier zu versammeln: Emil Leinhas, ein enger Mitärbeiter Rudolf Steiners, berichtet, daß Rudolf Steiner sich zu einer Schulung für Redner zur Verfügung stellen würde, wenn sich hundert Interessenten dafür finden würden. Ob gleich sich dann nur fünfzig Persönlichkeiten meldeten, war Rudolf Steiner bereit, einen solchen Kurs abzuhalten. Vgl. Emil Leinhas, «Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner», Basel 1950, S. 90 f. Siehe die ersten 10 Vorträge in diesem Band.

201 Karl Helfferich, 1872 - 1924, wurde 1906 Direktor der Bagdadhahn, 1908 Direktor der Deutschen Bank. 1915 bis 1917 hatte er, zunächst als Stastisekretär des Reichsschatz­amtes, dann als Staatssekretär des Inneren und Stellvertreter des Reichskanzlers die Ver­antwortung für die Finanzierung des Krieges und für die wirtschaftliche Kriegsführung. Am 23.4.1924 kam er, kurz vor einem großen Wahlsieg seiner Partei, durch das Eisen­bahnunglück bei Bellinzona ums Leben. Schriften: »Die Entstehung des Weltkrieges im Lichte der Veröffentlichungen der Dreiverbandmächte», Berlin 1915; «Die Vorge­schichte des Weltkrieges», Berlin 1919. - Die von Rudolf Steiner angeführte Äußerung Helfferichs konnte nicht näher ermittelt werden.

205 Götz von Berlichingen, 1480 - 1562, deutscher Ritter, verlor bei der Belagerung von Landshut eine Hand, die er durch eine eiserne ersetzen ließ. War zeitweise Führer der aufständischen Bauern, des «Odenwälder Haufen««.

Franz von Sickingen, 1481 - 1523, Führer eines Bundes schwäbischer und rheinischer Ritter. Als solcher inszenierte er einige Aufstände mit dem Ziel religiöser und politi­scher Reformen.

Ulrich von Hutten, 1488 - 1523, Humanist, verband sich mit Fraiiz von Sickingen zur Umgestaltung der politischen Verhältnisse.

328

206 Sprengel: Amtsgebiet eines Bischofs, eines Pfarrers.

208 Teilung Polens: Die erste Teilung wurde im August 1772 vollzogen. Preußen erhielt Westpreußen ohne Danzig und Thorn sowie Ermland und das nördliche Großpolen, & h. ca. 34900 qkm mit etwa 356000 Einwohnern; Rußland annektierte Polnisch­Livland und Weißruthenien; an Österreich fiel Kleinpolen südlich der Weichsel, Rot-rußland, Wolhynien, Podolien und wird als Königreich »Galizien und Lodomerien» inkorporiert. Die zweite Teilung Polens wurde 1793, die dritte 1795 vollzogen.

210 Juliusz Slowacki Kremenez (Wolhynien) 1809 - 1849 Paris, polnischer Dichter; in sei­nem Epos und Drama von der Barer Konföderation, die von dem ersten Aufstand gegen Rußland handelte, versuchte er das polnische Nationalgefühl anzusprechen.

Julian Dunajew>k, 1822 - 1907, Professor der politischen Wissenschaften in Preßburg, Lemberg und Krakau. 1880 bis 1891 österreichischer Finanzminister. - Siehe auch Rudolf Steiner, »Mein Lebensgg», GA Bibl.-Nr. 28, S.87 und «Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901», GA Bibl.-Nr. 31, S. 36, 139 f.

Otto Hassner, Brody in Galizien 1827-1890 Lemberg. Abgeordneter im österreichi­schen Parlament. Er versuchte sowohl als guter Europäer wie auch als Pole sein Vater­land vor der russischen Gefahr zu schützen. Als Redner beschrieb ihn Rudolf Steiner in «Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28, S. 88; siehe auch seinen 1. Vortrag in »Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge«, GA Bibl.-Nr. 236.

Ludwig Wolski, polnischer Abgeordneter im österreichischen Parlament, mit Otto Hausner politisch verbunden.

212 was ,nan polnischen Messianismus nennt: Dieser geht zurück auf die Schrift «Bücher der polnischen Nation und der polnischen Pilgerschaft» des größten polnischen Dichters Adam Mickiewicz (1798 - 1855). Dort heißt es u. a.: «Und so wie aufhörten mit der Auferstehung Christi auf der ganzen Erde die blutigen Opfer, so mit der Auferstehung des Polnischen Volkes werden aufhören in der Christenheit alle Kriege« (S. 24/25).

213 Graf Wojciech Dzieduszycki, 1845 - 1909, Philosoph und Dichter, war 1879 bis 1886 Mitglied des Wiener Abgeordnetenhauses.

Franz Ladislaus Rieger, Semil 1818 - 1903 Prag, österreichischer Abgeordneter, Alt­tscheche.

Eduard Grég', Steyr 1827 - 1907 Lschtën bei Prag, österreichischer Abgeordneter, Jung-tscheche.

Eduard Herhet, 1820 - 1892, Professor für Rechtsphilosophie und Staatsrecht in Lem­berg, später in Prag; 1867 bis 1870 Justizminister, führender Politiker der liberalen deutschen Linken im österreichischen Reichsrat.

Ernst Edler von Plener, Eger 1841 - 1923 Wien, Führer der freisinnigen Deutschen.

Bartholomains Ritter von Garner, Trient 1821 - 1909 Marburg, Philosoph und Schrift­steller; 1870 bis 1891 Mitglied des österreichischen Abgeordnetenhauses.

218 große Valuta-Anleihe: Siehe dazu die Ausführungen von J. M. Keynes »Die wirtschaftli­chen Folgen des Friedensvertrages», deutsch von M. J. Bonn und C. Brinkmann, München und Leipzig 1920, S. 232.

329

219 John Maynard Key,,es, 1883 - 1946; englischer Nationalökon6m, Professor an der Uni­versität Cambridge. Während des Krieges trat er in da> englische Schatzamt ein. Er hat in dieser Eigenschaft an den mit der Finanzierung des Krieges verknüpften Fiagen an einflußreicher Stelle mitgearbeitet und schließlich als britischer Finanzvertreter und als Vertreter des englischen Schatzkanzlers beim obersten Wirschaftsrat an der Pariser Konferenz teilgenommen. Am 7. Juni 1919 legte er seine Ämter nieder, nachdem er er­kannt hatte, daß wesentliche Änderungen der Friedenabedingungen nicht zu erreichen sein würden. - Siehe auch den Hinweis zu S. 218.

Norman Angell, »Der Friedensvertrag und das wirtschaftliche Chaos in Europa«, Char­lottenburg 1920.

222 Erich Ludendorff, 1865 - 1937, im ersten Weltkrieg Generalstabschef Hindenburgs, 1916 Erster Generalquartiersmeister, 1918 wegen seines Willens zur Forsetzung des Krieges entlassen. 1926 begründete er mit seiner Frau Mathilde den «Völkisch-ehristlichen Tan­nenbergbund». Über die politische Notwendigkeit, Lenin nach Rußland zu »beför­dern«, schreibt Ludendorff in «Meine Kriegserinnerungen 1914-1918«, Berlin 1919, S. 407: «Durch die Entsendung Lenins nach Rußland hatte unsere Regierung auch eine be­sondere Verantwortung auf sich genommen. Militärisch war die Reise gerechtfertigt, Rußland mußte fallen. Unsere Regierung aber hatte darauf zu achten, daß nicht auch wir fielen ...»

225 Lenin: Siehe Hinweis zu S. 29 und 128.

226 Reaktion aufdie Übertetzung der «Kernpunkte...»: Siehe die Besprechung von H. Wilson Harris in den «Daily News« vom 16.9.1920 unter dem Titel »Wie Kapital behandelt werden soll (Ein Buch über das in Europa diskutiert wird).« Wiederabdruck in «Beiträ­ge zur Rudolf Steiner-Gesamtausgabe» (vormals «Nachrichten der Rudolf Steiner­Nachlaßverwaltung»), Heft 27/28, Dornach 1969, S. 10 f.

daß ich schon im Frühling 1920 darauf hingewiesen hahe: Siehe Hinweis zu S. 198.

227 Einheitsstrehen ... seit 1848: Für kurze Zeit verschmelzen in der Revolution von 1848 verschiedene Strömungen wie die konstitutionell4iberale, die radikal-demokratische, die sozialrevolutionäre und die national-idealistische, die sich aber bald wieder trennen und dadurch die Stoßkraft der Revolution zunichte machen. Das Ende der revolutionä­ren Bewegungen kommt 1849 mit der Wiederherstellung der vorrevolutionären Ord­nung in Österreich-Ungarn und Preußen. Die Forderungen nach Einheit und Freiheit bleiben unerfüllt.

Johann Gottlieh Fichte, 1762 - 1814, Professor für Philosophie inJena, Erlangen, Königs-berg und Berlin. In der letzten (14.) seiner «Reden an die deutsche Nation» heißt es u. a.:

»Euch ist das größere Geschick zuteil geworden, überhaupt das Reich des Geistes und der Vernunft zu begründen, und die rohe körperliche Gewalt insgesamt, als Beherr­schendes der Welt, zu vernichten.» - Über die Seeherrschaft sagt er in seiner 13. Rede:

«Ebenso fremd ist dem Deutschen die in unsern Tagen so häufig gepredigte Freiheit der Meere; ob nun wirklich diese Freiheit oder ob bloß das Vermögen, daß man selbst alle andern von derselben ausschließen könne, beabsichtigt werde. Jahrhunderte hindurch, während des Wetteifers aller andern Nationen, hat der Deutsche wenig Begierde ge­zeigt, an derselben in einem ausgedel'nten Maße teilzunehmen, und er wird es nie.» (zitiert nach Reclam-Ausgabe, Leipzig o.J., S. 250 u. 218 f.)

330

228 «Gedanken während der Zeit des Krieges. Für Deutsche und solche, die nicht glauben, sie hassen zu müssen« (1915), innerhalb der Gesamtausgabe in dem Band «Aufsätze zur Dreigliederung des sozialen Org'inismus und zur Zeitlage 1915-1921», GA Bibl.­Nr. 24, S. 279-332.

229 Woodrow Wilson, 1856 - 1924, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 1913 bss

1921. Wörtlich heißt es in Wilsons Ansprache am Flaggentage in Washington am 14. Juni 1917: «Das deutsche Volk hat diesen entsetzlichen Krieg nicht angestiftet oder ge­wollt, noch auch gewünscht, daß wir in ihn verwickelt werden sollten ... Das deutsche Volk befindet sich selbst in den Klauen der finsteren Macht ...» Anläßlich einer gemein­samen Sitzung beider Häuser des Kongresses am 2. April 1917 sagte Wilson: »Mit dem deutschen Volke haben wir keinen Streit. Wir hegen kein anderes Gefühl ihm gegen­über als das der Sympathie und Freundschaft. Nicht auf seinen Antrieb hat die deutsche Regierung diesen Krieg unternommen. Auch nicht mit seinem Vorwissen oder mit sei­ner Billigung ...» - Aus: «Die Reden Woodrow Wilsons«, herausgegeben vom Commit­tee on Public Information of the United States of America, Bern 1919. S. 49 und 35.

Karl Helfferich, siehe Hinweis zu S. 201.

Mathias Erzberter, 1875 - 1921, Zentrumsabgeordneter, Oktober 1918 Waffenstill­standibevollmächtigter, 1919 - 1921 Reichsfinanzminister, 1921 von Nationalisten er­mordet. Gegner und Rivale von Karl Helfferich.

230 Richard von Kuhlmann, 1873 - 1948, deutscher Staatssekretär des Auswärtigen 1917 bis

1918. Kühlmann kannte den Wortlaut der von Rudolf Steiner im Sommer 1917 veifaß­ten Memoranden, in denen er die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus dar-gestellt hat. Siehe Rudolf Steiner, »Soziale Zukunft», GA Bibl.-Nr. 332a, S. 69.

231 in der Dreigliederungszeitung: Siehe Hinweis zu S. 62.

232 daß sich jemand außerordentlich eingesetzt hat für die Begründung eines ordentlichen Pres­sedi'nates in Zürich: Vermutlich handelt es sich hier um Oberst Haeften, einem engen Vertrauten Helmuth von Moltkes. Die deutsche Reichsleitung plante im Herbst 1916, in Zürich eine zentrale Nachrichten- bzw. Pressestelle einzurichten, durch die die Welt­öffentlichkeit über Kriegs- und Friedensziele der Mittelmächte aufgeltlärt werden sollte.

233 Als in der Schweiz die Menschen einer Art Revolution sehr «>ihe waren: Rudolf Steiner meint hier den von der Sozialdemokratie im November 1918 angeführten General-streik. Neben den von der Regierung aufgebotenen Truppen und den bürgerlichen Kreisen waren es insbesondere die Bauern, die dem Streik gegenüber feindlich gestimmt waren, da sie kein Bedürfnis nach Umsturz und Revolution hatten. Vgl. Schmid­Ammann, »Die Wahrheit über den Generalstreik 1918», Morgarten Verlag 1967.

234 in meinen «Kempunkten der sozialen Frage (1919), GA Bibl.-Nr. 23, Kap. II, «Die vom Leben geforderten wirklichkeitsgemäßen Lösungsversuche für die sozialen Fragen und Notwendigkeiten».

237 Leo, Graf von Thun und Hohenstein, Tetschen 1811 - 1888 Wien, war 1849 bis 1860 österreichischer Unterrichtsminister, führte eine Unterrichtsreform durch, reorgani­sierte Gymnasien und Hochschulen und berief während seiner Amtszeit zahlreiche Künstler und Gelehrte, die später Weltruf erlangten, an die Wiener Hochschulen. Siehe Rudolf Steiners Aufsatz «Das deutsche Unterrichtswesen (in Österreich) und Herr von Gautsch», in «Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887 - 1901», GA Bibl.-Nr. 31, S. 121 ff.

331

237 Paul, Freiherr Gautsch von Frankenthurn, Wien 1851 - 1918, österreichischer Staats­mann. Von 1885 bis 1893 Minister für Kultur und Unterricht im Kabinett Taaffe. Siehe auch den vorangehenden Hinweis.

sprach man mir gegenüber vielfach die Befürchtung aus: So unter anderen auch Karl Julius Schröer. In seiner Autobiographie »Mein Lebensgang» (GA Bibl.-Nr. 28, S. 146 f.) schreibt Rudolf Steiner: »Ich lobte die sachgemäßen Einrichtungen, die der katholisch-klerikale Minister Len Thun schon in den fünfziger Jahren für die österreichischen Gymnasien getroffen hatte, gegenüber den unpädagogischen Maßnahmen von Gautsch. Als Schröer meinen Artikel gelesen hatte, sagte er: Wollen Sie denn wieder eine klerika­le Unterrichtspolitik in Österreich?«

238 in meinem Buche: »Vom Menschenrätsel. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten« (1916), GA Bibl.-Nr. 20.

241 Wir sind zum Beist>iel jetzt in der Schweiz dazu gezwungen: Insbesondere der schweizeri­sche Pfarrer Maz Kully (Arlesheim) hat in Predigten und Zeitungsartikeln gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie polemisiert, wodurch ein völlig verzerrtes Bild der Anthroposophie in der Öffentlichkeit hervorgerufen werden sollte. Rudolf Steiner und einige Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft haben daraufhin verschiedent­lich Gegendarstellungen in Zeitschriften publiziert bzw. in Vorträgen gegeben.

243 Moritz Bartsch, 1869 - 1944, in den neunziger Jahren Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. Unter Rudolf Steiner Mitglied seit 1908; aktiver Vertreter der anthropo­sophischen Arbeit in Schlesien. Sein Sohn, Erhard Bartsch, war ebenfalls unter den Kursteilnehmern.

246 Telegraphen-Union: Neben dem Wolffschen Telegraphenbüro das größte deutsche tele­graphische Nachrichtenbüro (deutschnational), gegründet 1862.

Stinnes: Von Hugo Stinnes (1870-1924) begründeter Industriekonzern (u. a. Bergbau, Seeschiffahrt).

248 Karl Lamprecht, 1856 - 1915, Historiker, Professor in Bonn, Marburg und Leipzig. Hauptwerk: «Deutsche Geschichte», 12 Bände, Freiburg. Wie den zahlreichen Anstrei­chungen und Randbemerkungen zu entnehmen ist, hat sich Rudolf Steiner eingehend mit Lamprechts «Moderne Geschichtswissenschaft«, Freiburg 1905, auseinandergesetzt. Zur Geschichte Polens befindet sich in Rudolf Steiners Bibliothek das von W. Feld-man verfaßte Werk «Geschichte der politischen Ideen in Polen seit dessen Teilungen (1795-1914)», München und Berlin 1917.

250 »Kommender Tag»: Siehe Hinweis zu S. 74.

251 Emil Molt, 1876 - 1936, Kommerzienrat, Industrieller, Direktor der Waldorf-Astoria

Zigarettenfabrik in Stuttgart. Aktiv beteiligt am Zustandekommen der Dreigliede

rungsbewegung und in diesem Zusammenhang Gründer der Freien Waldorfschule in

Stuttgart (1919). Mitbegründer der Kommenden Tag AG, Stuttgart, und der Futurum

AG, Dornach.

257 Wir hahen es in großem Maßsthhe versucht mit der Betriebsräteftage: Im Sommer 1919 hielt Rudolf Steiner in Stuttgart mehrere Vorträge und leitete Versammlungen mit Ar­beitern aus Stuttgarter Industriebetrieben zur Vorbereitung der Gründung von Be­triebsräten. Die Herausgabe dieser Vorträge innerhalb der Gesamtausgabe wird zur Zeit vorbereitet.

332

258 Edus'rd Graf Taaffe, 1833 - 1895, österreichischer Staatsmann, 1867 Innen- und Unter­richtsminister, 1879 bis 1893 Ministerpräsident. Aus seiner föderalistischen Gesinnung heraus versuchte er eine Versöhnung der Nationalitäten. Als er das Übermaß der For­derungen der Deutschklerikalen, Polen und Tschechen und die dadurch entstandenen Schwierigkeiten durch eine Wahlreform (Oktober 1893) beheben wollte, wurde er zum Rücktritt veranlaßt.

260 Waldorfschule: Siehe Hinweis zu S. 125.

261 Paul Hindenhurg, 1847 - 1934, deutscher Feldmarschall, 1925 bis 1934 Reichspräsident.

262 Oswald Spengler: Siehe Hinweis zu S. 47.

333

PERSONENREGISTER

(H - Hinweis)

Angell, Norman: 219 H
Bartsch, Moritz: 243 H, 252
Baumgartner, Alexander: 119 H
Beethoven, Ludwig van: 59
Bielschowsky, Albert: 119 H
Bismarck, Otto von: 130 H
Boos, Roman: 151 H
Brandes, Georg: 37 H
Brentano, Lujo: 174 H
Bruhn, Wilhelm: 143 H
Carneri, Bartholomäus Ritter von: 213 H
Cromwell, Oliver: 69 H
Dessoir, Max: 97f. H
Dostojevskij, Fedor M.: 56 H
Dunajewski, Julian: 210 H , 213
Dzieduszycki, Wojciech Graf: 213 H
Emerson, Ralph Waldo: 51 H
Erzberger, Mathias: 229 H
Fichte, Johann Gottlieb: 227 H
Fischer, Kuno: 98 H
Förster, Friedrich Wilhelm: 71 H
Frohnmeyer, Johannes: 145 H
Gautsch, Paul Freiherr von: 237 H
Giskra, Karl: 148 H
Goethe, Johann Wolfgang von: 119
Götz von Berlichingen: 205 H
Gorup-Besanez, Eugen von: 99 H
Gregr, Eduard: 213 H
Gundolf, Friedrich: 119 H
Haeckel, Ernst: 150 H, 161
Hausner, O t t o : 210ff. H
Heinemann, Karl: 119 H
Heinzelmann, Gerhard: 151 H
Helfferich, Karl: 201 H, 229
Helmholtz, Hermann: 103 H
Herbst, Eduard: 213 H
Hertwig, Oscar: 161 H

Hindenburg, Paul: 261 H
Humboldt, Wilhelm von: 69f. H
Hütten, Ulrich von: 205 H
Huxley, Thomas Henry: 51 H
Kant, Immanuel: 30
Karl der Große: 182 H
Keynes, John Maynard: 219 H
Keyserling, Hermann Graf: 148 ff. H, 152,
156 ff.
Keyserlingk, Graf: 258
Kühlmann, Richard von: 230
Lamprecht, Karl: 248 H
Lenin, Wladimir Iljitsch: 29 H, 128 H, 193,
225
Liebig, Justus von: 99
Ludendorff, Erich: 222, 225
Ludwig, Emil: 119 H
Lunatscharskij, Anatol W.: 61 H , 162
Mach, Ernst: 173 H
Marx, Karl: 34 H , 50, 118, 130, 133, 187
Meyer, Richard: 119 H
Michel, Ernst: 31 f. H
Molt, Emil: 251 H
Mozart, Wolfgang Amadeus: 59
Nietzsche, Friedrich: 194 H
Peter der Große: 42 H
Plener, Ernst Edler von: 213 H
Poincare, Henri: 173 H
Rein, Wilhelm: 159 H
Rieger, Franz L.: 213 H
Rodbertus, Johann Karl: 34 H , 49f., 118
Schopenhauer, Arthur: 30 H
Sickingen, Franz von: 205 H
Singer, Paul: 35 H
Smith, Adam: 115 H
Slowacki, Juliusz: 210 H, 212
Solovjev, Vladimir: 56f. H

334

Spencer, Herbert: 51 H, 67
Spengler, Oswald: 47 H, 262
Stammler, Rudolf: 68 H, 70
Steiner, Rudolf:
Aus der Akasha-Chronik (GA 11)
151 H
Die Geheimwissenschaft im Umriß
(GA 13) 113 f.
Vom Menschenrätsel (GA 20)
238 H
Von Seelenrätseln (GA 21)
97 H
Die Kernpunkte der sozialen Frage
(GA 23) 23 H, 26, 36, 67 H, 117f„
169, 171 H, 226 H, 234 H
Gedanken während der Zeit des Krieges
(in: GA 24) 228 H

Theosophie und soziale Frage (in GA 34)
28 H
Stinnes, Hugo: 246 H
Taaffe, Eduard Graf: 258 H
Terhalle, Fritz: 37 H, 174 H
Thun, Leo Graf von: 237 H
Tolstoj, Lev: 56 H
Trotzki, Lew: 29 H
Wagner, Richard: 59
Whitman, Walt: 51 H
Wilhelm IL: 161
Wilson, Woodrow: 52 H, 58 H, 229 H
Wissel, Rudolf: 84 H
Wolski, Ludwig: 210ff. H
Wundt, Wilhelm: 85

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.