GA 337b

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER DAS SOZIALE LEBEN UND
DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

Soziale Ideen
Soziale Wirklichkeit
Soziale Praxis

Diskussionsabende des Schweizer Bundes
für Dreigliederung des sozialen Organismus
sowie
weitere Seminar- und Frageabende zur Dreigliederung
in Dornach zwischen dem 6. April 1920
und 8. April 1921

GA 337b

1999

Inhaltsverzeichnis


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VORBEMERKUNG DER HERAUSGEBER

Verstanden wird ja vieles noch nicht an dieser Idee von der Dreigliederung.

(Diskussionsabend Dornach, 13. September 1920)


Es war in der Schweiz, wo Rudolf Steiner zuerst die Dreigliederungsidee in der Öffentlichkeit vertrat. Zwischen dem 3. und 12. Februar 1919 hielt er in Zürich eine vierteilige Vortragsreihe über die «Soziale Frage» (in GA 328), die er in den Städten Bern und Basel wiederholte. Und es war am Schluß des letzten Zürcher Vortrages, am 12. Februar 1919, als Rudolf Steiner zum ersten Mal in der Öffentlichkeit seinen Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt!» für eine Umgestaltung der Gesellschaft erwähnte und die Zuhörer zu aktivem Handeln aufrief (in GA 24):

«Nur dann gehen wir einer Gesundung des sozialen Organismus entgegen, wenn wir das Neue, das wir erwarten, wenn wir das Gesundende, das wir erhoffen, nicht begründen wollen auf die alten Gedanken, sondern wenn wir uns kühn und kraftvoll entschließen, zur Fortentwicklung der Mensch­heit unsere Kraft zu wenden an neue Gedanken, denn aus neuen Gedanken wird allein erblühen die Lebensmöglichkeit der neuen Generation.»

Diese neuen Gedanken bildeten die Grundlage für Rudolf Steiners Schrift «Die Kernpunkte der Sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Ge­genwart und Zukunft» (GA 23), mit deren Ausarbeitung er sich in dieseDie Dreigliederungsbewegung erreichte in der Schweiz aber nicht die gleiche Breitenwirkung wie in Deutschland. Es fehlte zunächst ein entspre­chender Initiativkreis, der die notwendige Organisationsarbeit in diesem Land getragen hätte. Erst mit der Rückkehr des jungen Schweizer Juristen Roman Boos nach Zürich auf Anfang Mai 1919 - er hatte die Dreigliederungsaktivi­täten in Stuttgart wesentlich mitgetragen - kam es zu einer eigenständigen Dreigliederungsarbeit in der Schweiz: Am 16. Mai 1919 wurde in Zürich der «Schweizer Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» gegründet;

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Roman Boos übernahm das Sekretariat des Bundes und leistete nun von Zürich aus die eigentliche Hauptarbeit für die Verbreitung der Dreigliede­rungsidee. Als es sich abzeichnete, daß neue Aufgaben seine Anwesenheit in Dornach notwendig machten - er war zum Beispiel einer der Hauptinitianten für die Gründung der Futurum A.G. - verlegte er ein Jahr später seinen persönlichen Wohnsitz und damit das Sekretariat des Schweizer Bundes nach Dornach. Von dort aus wurden nun auch größere Vortragsaktivitäten im Raume Basel organisiert.

So hielt Rudolf Steiner zwischen dem 4. und 6. Mai 1920 in Basel drei große öffentliche Vorträge zum Thema «Geisteswissenschaft (Anthroposophie) im Verhältnis zu Geist und Ungeist in der Gegenwart» (in GA 334). Um das Interesse der Menschen auch nach diesen Vorträgen wachzuhalten, veranstal­tete der «Schweizer Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» wo­chentliche Arbeitszusammenkünfte im Lokal der Anthroposophischen Gesell­schaft am Rümelinhachweg 10 in Basel. Laut Einladung sollten jeden Montag «wissenschaftliche, kulturell-künstlerische und ähnliche Fragen vom Gesichts­punkt der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft aus behandelt werden». Vorgesehen war jeweils ein Einleitungsreferat mit anschließendem Gespräch: «An allen Abenden ist möglichst allseitige Aussprache erwünscht.» Der erste solche Abend fand am 31. Mai 1920 statt. Rudolf Steiner nahm an diesen Zusammenkünften allerdings nicht persönlich teil - er befand sich die meiste Zeit in Stuttgart. Da die Abende meist gut besucht waren und auch erfolgreich verliefen, wurde beschlossen, sie während der Sommerferien in der Schreinerei in Dornach weiterzuführen - auch im Hinblick auf eine persönli­che Teilnahme Rudolf Steiners.

Der Entschluß zu einer Verlegung der Diskussionsabende nach Dornach muß recht kurzfristig gefallen sein; der erste Abend fand - wenn auch leicht verspätet und außerhalb des üblichen Wochenrhythmus - am Mittwoch, den 14. Juli, statt. Im Rundbrief des Schweizer Bundes vom 16. Juli 1920 konnte deshalb nur noch rückwirkend vermeldet werden: «Der erste Abend wurde letzten Mittwoch unter Mitwirkung von Dr. Steiner abgehalten.» Für die Veranstalter war es eine glückliche Fügung, daß Rudolf Steiner verhältnismä­ßig oft teilnehmen konnte: in den folgenden Wochen waren es insgesamt sieben Montagabende, an denen Rudolf Steiner in der Schreinerei persönlich anwesend war. Die Diskussionsabende waren jeweils einem bestimmten The­ma gewidmet, zu dem Fragen gestellt oder Meinungen vertreten wurden. Vor der eigentlichen Aussprache wurde aber meist ein einführender Vortrag gehal­ten. Für den Abend vom 16. August hatte Rudolf Steiner selber einen solchen Einführungsvortrag - zusammen mit Roman Boos - übernommen: sie spra­chen über »Die Bildung eines sozialen Urteils» in den drei Lebensgehieten,

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wobei Rudolf Steiner sich zum Geistes- und Wirtschaftsleben äußerte und Roman Boos zum Rechtsleben. Die Dornacher Studienarbeit wurde bis in den September weitergeführt; am 13. September 1920 fand der letzte Diskussion-abend in der Schreinerei statt. Ursprünglich war geplant, nach der Übergangs-zeit in Dornach die Montagszusammenkütnfte in Basel weiterzuführen. Dazu kam es aber - wegen Überlastung der Beteiligten - nicht mehr; entsprechende Veranstaltungen fanden erst wieder ein ganzes Jahr später statt.

Am 25. September 1920 wurde der Goetheanum-Bau eröffnet. Die erste größere Veranstaltung, die in seinen Räumen stattfand, war der erste anthro­posophische Hochschulkurs. Er dauerte drei Wochen, vom 26. September bis 16. Oktober 1920. Hauptinitiator dieser Hochschulkurse war Roman Boos; als nomineller Veranstalter trat unter anderem ein «Verein Goetheanismus» auf, der erst kurz vorher, am 9. April 1920, begründet worden war und als dessen Präsident Roman Boos wirkte. Während des ersten Hochsehulkurses sollte auch das Gebiet des Sozialen besprochen werden. Was Rudolf Steiner von den Mitwirkenden auf diesem Gebiet erwartete, war im Grunde genau das, was er schon von allem Anfang an in Zürich geäußert hatte und nun auch im ersten Vortrag seines Hauptzyklus über

Im Laufe der nächsten drei Wochen wurde eine ganze Anzahl von Vorträ­gen über Fragen des sozialen Lebens von bekannten Persönlichkeiten aus der anthroposophischen Bewegung gehalten: einmal Emil Molt, der sich zum Thema «Der Industrielle in Vergangenheit und Zukunft vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft» äußerte, dann Roman Boos, der über «Phänomenologische Sozialwissenschaft» sprach, weiter Arnold Ith über «Bankwesen und Preisgestaltung in ihrer heutigen und zukünftigen Bedetung für das Wirtschaftleben» und schließlich Emil Leinhas über «Licht und Schattenseiten des modernen Kapitalismus». Die Zuhörer waren aber von den Ausführungen nicht durchwegs befriedigt, so daß der Wunsch entstand, Rudolf Steiner möge doch selber einen Vortrag über die Dreigliederung und insbesondere über das Wirtschaftsleben halten - ein solcher war ursprünglich im Programm gar nicht vorgesehen. Rudolf Steiner wollte aber nicht einfach einen Vortrag im herkömmlichen Sinne halten; er bat deshalb die Teilnehmer am 9. Oktober (in diesem Band), «ihre Wünsche, ihre Fragen diesbezüglich zu formulieren, damit

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gerade dasjenige berücksichtigt und besprochen werden kann, was als unklar empfunden wird. So werde ich den Vortrag morgen abend so einrichten können, daß gerade dasjenige vorkommt, was von verschiedenen Seiten ge­wünscht wird zu wissen. » Es war eine Liste von insgesamt 39 Fragen, die am nächsten Tag Rudolf Steiner überreicht wurde. Um sie alle zu beantworten, sah er sich allerdings gezwungen, an zwei Abenden, am 10. und 12. Oktober, auf die verschiedenen Fragen einzugehen.

Abgesehen von diesen beiden Frageabenden beteiligte sich Rudolf Steiner auch an drei seminaristischen Zusammenkünften - sie fanden am 5., 7. und Ii. Oktober statt und waren vor allem Fragen der wirtschaftlichen Praxis gewid­met. Mit dieser Arbeit war die Hoffnung verbunden, daß sich geistig befruch­tete Erkenntnis in lebensvolles wirtschaftliches Tun umsetzen würde. Rudolf Steiner wünschte sich wirkliche Praktiker, die bereit waren, in die gegebenen Verhältnisse einzugreifen und sie gemäß den neuen Ideen umzugestalten. So betonte er am zweiten Seminarabend vom 7. Oktober 1920 (in diesem Band):

»Dasjenige, um was es sich heute handelt, ist nicht, daß wir in abstrakter Weise herumdiskutieren über Wahlgesetze und darüber, ob eine Assoziation verglichen werden kann mit einer Ko'poration und so weiter, sondern dasjenige, um was es sich heute handelt, ist, daß wir möglichst viele Menschen bekommen mit Initiative, denn heute handelt es sich nicht darum, wie wir wählen, sondern daß die richtigen Leute an die richtigen Plätze kommen.»

Die richtigen Leute an den richtigen Plätzen -: das war eines der haupt­sächlichen Probleme, mit denen die beiden 1920 begründeten Rudolf Steiner lag aber nicht nur eine wirklichkeitsgemäße Wirtschaftpra­xis am Herzen, sondern auch auf dem Gebiete des Geisteslebens erhoffte er sich neue Impulse durch die Schaffung eines «Weltschulvereins» - eine Idee, die er an diesem Hochschulkurs zum ersten Mal in dieser Form an eine größere Öffentlichkeit heranbrachte. So appellierte er an seine Zuhörer im Verlauf des Frageabends vom 12. Oktober 1920 (in diesem Band): »Was wir brauchen, ist ein Weitschulverein in allen Ländern der Zivilisation, daß so

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schnell wie möglich die größte Summe von Mitteln herbeigeschafft werde. Dann wird es möglich sein, auf Grundlage dieser Mittel dasjenige zu schaffen, was der Anfang ist eines freien Geisteslebens. » Der Schritt von der Idee zur Tat

- das war das, was Rudolf Steiner auf dem sozialen Gebiet erwartete.

Das zeigte sich deutlich auch während des zweiten Hochschulkurses, der wiederum vom

«Es handelt sich darum, daß positiver Geist, so wie er hier in dieser Woche vertreten sein wollte, wie versucht wurde, ihn zu vertreten, daß dieser freie Geist in das Geistesleben international hineingebracht werde. »

Mit diesen Sätzen wiederholte Rudolf Steiner im Grunde die Forderung nach der Gründung eines Weltschulvereins als Träger eines freien Geistesle­bens. Aber sein Anliegen wurde nicht gehört; es kam nie zur Gründung einer solchen internationalen Trägerschaft.

Für die beiden Hochsehulkurse gab es eine Art Vorläufer: die Vortragsrei­he In all diesen Diskussions- und Frageabenden und seminaristischen Veran­staltungen zeigte sich eines ganz klar: Die Menschen hatten Mühe, die Drei­gliederungsidee wirklich zu verstehen, selbst diejenigen, die sie bejahten. Sie fielen immer wieder in die alten Denkgewohnheiten zurück; es kam zu

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Unklarheiten und Mißverständnissen, so daß Rudolf Steiner im Studienabend vom 13. September 1920 (in diesem Band) zum Schluß kam: eser Idee den Zuhörern begreifbar zu machen. Aber nicht nur das: Er war ebenso sehr gezwungen, auf das unmit­telbar Praktische, Lebensvolle dieser Idee hinzuweisen, die nur darauf wartete, sofort und unmittelbar in die Praxis umgesetzt zu werden. Doch gerade damit hatten die Menschen die allergrößte Mühe.

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I DISKUSSIONSABENDE DES SCHWEIZER BUNDES FÜR DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

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ERSTER DISKUSSIONSABEND Dornach, 14. Juli 1920 Die Konsequenzen abstrakten Denkens im Sozialen

Im Verlaufe dieses Diskussionsabends wurden Fragen gestellt und auch verschiedene Anliegen vorgebracht, zum Beispiel:

Elisabeth Vreede liest eine Korrespondenzkarte aus Holland vor, in der zur sofortigen Einführung eines Rätesystems aufgerufen wird.

Rudolf Steiner: Ich möchte in Anknüpfung an das soeben Ge­sprochene etwas sagen. Ich Will dabei ausgehen von einem Buche von Professor Varga über die Proletarier-Bewegung in Ungarn. Professor Varga war Volkskommissar für die wirtschaftlichen An­gelegenheiten während der ungarischen Räterepublik. Er gehörte, mit einigen anderen Leuten, die Führer der ungarischen Räterepu­blik waren, zu denjenigen, die dann geflohen sind und jetzt auf Karlstein interniert sind. Da hat er nun sein Buch geschrieben, «Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur», das außerordentlich interessant ist, in dem er auseinandersetzt, wie er und seine Kollegen gedachten, innerhalb Ungarns diese Sowjet­republik zu verwirklichen. Dazwischen streut er Bemerkungen über die Erfahrungen, die während der kurzen Zeit des Bestandes der Räterepublik in Ungarn gemacht worden sind. Nun ist ja diese ganze Abhandlung darum sehr interessant, weil die ungarische Räterepublik gewissermaßen ein bedeutsames Experiment war, das deshalb so lehrreich war, weil sich die Folgen in dem verhältnis­mäßig kleinen Gebiete Ungarns besser überschauen lassen als in dem ungeheuer großen Rußland.

Es ist zunächst das eine merkwürdig an diesem Buch, daß man es bei ihm mit einer eminent professoralen Leistung zu tun hat, mit etwas ganz Lebensfremdem. Man hat durchaus das Gefühl: Da spricht jemand, der ein ganzes Land revolutioniert hat, der aber

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niemals hineingesehen hat in die realen Kräfte der Volkswirtschaft. Professor Varga steht ganz auf dem Boden von Lenin und Trotzki; nur hatten es Varga und seine Kollegen in Ungarn mit einem klei­neren Gebiete zu tun als Lenin und Trotzki in Rußland. Und dar­um ist in Ungarn vieles zutage getreten, was in Rußland erst nach späterer Zeit zutage treten wird. Selbstverständlich führt Professor Varga das Fiasko mit dem ungarischen Experiment nicht auf die innere Unmöglichkeit dieses ganzen abstrakten Strebens und Wir­kens zurück, sondern er behauptet, die Sache wäre verunglückt, weil man sie nicht zu Ende führen konnte, weil die rumanische Militärmacht in die Flanke fiel.

Nehmen Sie gleich einen der Hauptpunkte, der uns da entgegen­tritt. Dieses Beispiel ist darum besonders wertvoll, weil wir es hier nicht zu tun haben mit irgendeinem marxistischen Theoretiker, sondern mit einem Manne, der ein ganzes Land nach seinen Abstraktionen eingerichtet hat, der tun konnte, was er wollte. Er wollte Praktiker werden, und man muß fragen: Konnte er es auch? Professor Varga war ja genötigt, Einrichtungen zu treffen, die nun im sozialdemokratischen Sinne die ungarische Wirtschaft auf die Beine bringen sollten. Er mußte hervorheben, daß die eigentlichen Bannerträger seiner Reformen die städtischen Industriearbeiter sind, die selbstverständlich als treibendes Motiv die Verbesserung ihrer Lebenslage haben. Nun zeigt er aber, daß zunächst nichts anderes herauskommen kann, als daß diese eigentlichen Banner­träger für die erste Zeit, in der man die Räterepublik einführt, eine wesentliche Verschlechterung ihrer Lebenslage erfahren müssen; die einzigen, die dabei gewinnen, sind die Bauern auf dem Lande. Nun, was schließt Professor Varga daraus? Er schließt daraus, daß das Industrieproletariat, diejenigen, die also eigentlich das einzige Interesse an einer solchen Revolution gehabt haben, zunächst das nicht erreichen, was sie erreichen wollen, sondern daß es die Bau­ern auf dem Lande sind, die es erreichen. Aber er meint, daß sich diese Verhältnisse für das städtische Industrieproletariat später schon bessern würden - nämlich auf dem Umwege über das Land. Man hätte nur gebraucht, das städtische Industrieproletariat so zu

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bearbeiten, daß es einsieht, daß es schon eine zeitlang hungern und in Lumpen gehen muß, bis es besser wird.

Hier liegt schon ein Kapitalfehler, der die absoluteste Konse­quenz des gegenwärtigen abstrakten Denkens in sozialen Fragen ist. Nicht das wäre herausgekommen, daß durch den Umweg über das Land es besser geworden wäre, sondern das wäre herausge­kommen, daß die gesamte Industrie allmählich aufgerieben worden wäre. Die Städte wären allmählich aufgehoben worden, und alles wäre auf das Land gezogen; die Produktion hätte sich schließlich beschränkt auf die bloße Ausbeutung von Grund und Boden. Alles andere Leben wäre allmählich verschwunden, das heißt man wäre zurückgekehrt zu gewissen primitiven Zuständen der Menschheit. Wenn man konkret denkt, so muß das aus den Ausführungen von Professor Varga hervorgehen.

Ein Zweites ist interessant, was wir bei ihm finden in bezug auf die soziale Gliederung. Er ist durchaus Leninist, Trotzkist, Marxist, so sieht er in allem, was im sozialen Organismus tätig ist, nicht Men­schen, sondern zunächst nur Kategorien. Er sieht nicht Persönlich­keiten von Fleisch und Blut, sondern Kategorien. Er sieht in der bis­herigen sozialen Organisation Militär, Juristen, Beamte und eben die Proletarier als Kategorien von Menschen. Nun besteht seine Be­schränktheit noch darin, daß er im Grunde den ganzen bisherigen Staat in eine riesige Wirtschaftsgenossenschaft umgewandelt wissen will. Überhaupt ist es sehr interessant, wie er es mit den drei Gliedern des sozialen Organismus hält. So wird bei ihm begonnen mit der Behandlung des zweiten Gliedes, mit dem politischen Staat. Er schält dieses zweite Glied ganz fein heraus. Er führt die einzelnen Katego­rien hübsch an: Juristen, Beamte und so weiter und erklärt: die alle werden abgeschafft. - Also eigentlich der ganze politische Staat wird abgeschafft. Und das geistige Leben? Professor Varga kennt eigent­lich nur das Wirtschaftsleben. Er sagt: Das geistige Leben, das sind die Lehrer. - Bei denen tröstet er sich damit, daß sie sich im allgemei­nen fügen, und zwar aus wirtschaftlichen Gründen, während die er­ste Kategorie, die Kategorie der Juristen und Beamten, sich nicht fügt in das neue Regime und darum eben proletarische Arbeit leisten

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muß. Nun, auch in der Dreigliederungsbewegung haben wir ja die Erfahrung gemacht, daß die Lehrer immer fragten: Ja, wer bezahlt uns denn? - Also von den meisten findet Varga, daß sie sich fügen, daß sie aufgehen im Wirtschaftsleben. Die anderen schickt man fort. Es handelt sich bei ihm also gar nicht um das geistige Leben, sondern um das wirtschaftliche Leben der Lehrer; zurück bleibt nur das Wirtschaftsleben.

Nun ist es interessant, wie mit einer gewissen eisernen Energie die Einrichtung der Räterepublik in die Hand genommen worden ist. Man hat die Unternehmungen einfach enteignet; dabei hat man allerdings einige Rücksicht auf das Ausland genommen. Das heißt, man hat die Unternehmungen mit allen Aktiven und Passiven übernommen und hatte dadurch die Möglichkeit, die ausländischen Inhaber von Unternehmungen in anderer Weise zu behandeln als die inländischen. Es handelte sich darum, gewisse Betriebe zu kommunalisieren, andere zu verstaatlichen. Und da tritt nun etwas Interessantes auf. Es wurde die Wahl von Betriebsräten verfügt. In der Regel wurde verfügt, daß aus der proletarischen Arbeiterschaft ein Betriebsrat gewählt werden sollte. Diese Betriebsräte waren so, daß sie von nichts etwas verstanden. Und da sagt der Professor

Varga: Es trat als «Erfolg» das auf, daß die Leute, die von der Handarbeit aufgerückt waren zu Betriebsräten, den ganzen Tag nur herumsaßen und gar nichts taten, und die eigentliche Misere, das eigentliche Elend, das blieb. Er meint, das wäre allmählich schon besser geworden. Er sieht nicht ein, daß die Misere immer größer und größer geworden wäre; es geht auch gar nicht aus seinen Erfahrungen hervor, daß sie kleiner geworden wäre. Nun standen also an der Spitze der Betriebe die Betriebsräte, von denen sogar am Anfang eine starke Korruption sich bemerkbar machte. Nun sagt er: die Korruption war ja früher auch vorhanden - bei der Bourgeoisie war das auch so -, nur sind jetzt mehr da, die stehlen können, und dadurch sind die Ziffern selbstverständlich größer geworden. - Nach Professor Varga wäre es aber später schon bes­ser geworden, wenn man mehr hätte agitieren können. Weiter sagt er: Um das zentralisierte Wirtschaftsleben zu verwalten, mußte

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man Produktionskommissäre haben. Also aus den Betrieben heraus wählte man zunächst die Betriebsräte - nicht solche, wie wir sie in Stuttgart und Württemberg haben wollten, die in harter Arbeit sich in das Wirtschaftsleben hätten einarbeiten sollen und sich so zu einer Betriebsräteschaft zusammenschließen müssen. Das paßte den Leuten wie Varga aber nicht. Es wurde einfach darauflos gewählt

- was sollte man denn anderes tun, wenn man aus einer Utopie heraus die Sache regeln will? Aus den Betriebsräten wurden die Produktionskommissäre herausgezogen. Diese hatten zu tun mit den allgemeinen Anordnungen, mit dem Stillegen von Betrieben, mit dem Konzentrieren von Betriebszweigen und so weiter, aber auch mit der Disziplin der Arbeiter. Diese Produktionskommissäre waren die eigentlichen zentralen Beamten im Wirtschaftsleben.

Nun, es ist interessant: Das ganze Buch von Professor Varga ist von Anfang bis zu Ende ein marxistisches Gestrüpp abstraktester Art. Er schildert die Reformen, die dann wirklich werden sollen, mit einer solchen Selbstverständlichkeit, die den gleichen Eindruck macht, wie wenn sie zum Beispiel ein Mensch wie Lenin schildert. Und Varga weiß durchaus plausibel für die meisten heutigen Ver­stande diese Prinzipien auseinanderzulegen. Derjenige, der diese Dinge kennt, der weiß, wie gerade da, wo man heute Dinge prak­tisch in Szene setzen will, der furchtbarste utopistische Geist herrscht. Man kann sich nicht Utopistischeres denken, als was in Ungarn praktisch gemacht werden sollte. Überall, wo Varga von seinen Erfahrungen erzählt, da erzählt er von etwas Schlechtem und Ungutem. In Räte-Ungarn gingen durcheinander Korruption, Revolte der Arbeiter und so weiter, so daß man sich sagte, es ist gut für die Leute, daß die Rumänen gekommen sind, denn sie hätten sich sonst noch elender blamiert. Es wäre ein schreckliches Zugrunderichten von innen heraus gewesen.

Das ganze Buch von 140 Seiten ist ein marxistisches Gestrüpp, das hätte praktisch werden sollen. Mit einem solchem Gestrüpp wollte man ein ganzes Land als wirtschaftliche Genossenschaft ein­richten. Aber auf einigen wenigen Seiten, so in der Mitte darinnen, findet man plötzlich einen Satz, der ganz herausfällt aus der übrigen

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Darstellung und bei dem man das Gefühl hat: das ist gar nicht der gleiche Varga, sondern etwas Fremdes. So zum Beispiel redet er über den großen Nutzen der Produktionskommissare und bemerkt dazu in einem Nebensatz: ... wenn an ihrer Stelle die rechten Per­sonlichkeiten stehen. - Ebenso ist es mit dem Nebensatz, daß es ja überhaupt nicht gehen kann mit diesen Einrichtungen, bis sich geändert hat «die habgierige, egoistische Ideologie dieser Men­schen». Es wird von den Marxisten immer behauptet, daß aus den wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen heraus sich die Ideologie ergibt. Also, hätte Varga irgendwie ein gesundes, konsequentes Denken, so würde er sich sagen mussen: Wir Marxisten haben durch mehr als siebzig Jahre behauptet, daß sich aus den Produk­tionsverhältnissen heraus die Ideologie ergeben muß, daß die Ideo­logie aufsteigen muß als Überbau wie Rauch, der sich herausent­wickelt. Also wenn wir unser großes Wirtschaftshaus da in Ungarn einrichten, dann muß sich daraus die Ideologie ergeben, die ja ohnedies keine andere Bedeutung hat, als daß sie wie Rauch auf­steigt aus dem Wirtschaftsleben. - So sagt Varga aber nicht; son­dern überall, wo er von der Grundlage seiner Einrichtungen redet, kommt das zutage - wenn auch nur in Nebensätzen: Besser wird es erst, wenn sich die habgierige Ideologie der Menschen geändert hat. Das heißt, er wartet auf den Zeitpunkt, bis eine Gesinnungsweise bei den Menschen eintritt, die nicht auf das Habgierige, Egoistische gestimmt ist, er wartet auf die Umwandlung der habgierigen Ideo­logie in eine selbstlose. Nun, die kann doch nicht unmittelbar aus der wirtschaftlichen Produktionsweise folgen, denn er gibt ja zu, daß die überall zum Gegenteil führt. Also er wartet einfach darauf, bis diese Umwandlung von selber kommt. Man sieht: Wo es darauf ankam, dem neuen Aufbau eine Umänderung der geistigen Seelen-richtung zugrundezulegen, wo es darauf ankam, auf das konkrete Geistige zu stoßen, da steht bei Varga nichts als ein kleiner Neben­satz, der aber für die ganze Entwicklung im Räte-Ungarn bedeu­tungslos war. Das ist gerade das Traurige.

Wir stehen heute im weitesten Umfange vor der Meinung, daß man aus dem Abstrakten heraus zum Konkreten komme. Das geht

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hervor aus dem Aufruf, den Fräulein Vreede eben vorgelesen hat, der ja wohl aus Holland stammt. Da wird irgendeine Räteschaft vorgeschlagen, aber es steht nicht der Nebensatz da, der notwendig wäre: daß erst etwas dabei herauskommt, wenn an den entspre­chenden Stellen als Räte die geeigneten Persönlichkeiten wären. Das ist es, worauf es ja ankommt: daß man am konkreten Ende die Sache anfaßt. Man kann reden, soviel man will, es hilft alles nichts; helfen tut einzig und allein, was in die Persönlichkeiten hinein Geist und Seele bringt. Wir sind ganz und gar dazu gekommen, ausgepreßt zu sein, nicht mehr eine Ahnung davon zu haben, daß es darauf ankommt, in die Persönlichkeiten gerade Kraft, Geist und Seele hineinzubringen. Das ist es, was mit der Dreigliederung angestrebt wird.

Ich habe das ausgeführt von dem Manne in Ungarn, damit Sie sehen, aus welchem Geiste heraus diejenigen Dinge entstehen, die heute geschaffen werden, und aus welchen Gründen heraus sie zerbrechen müssen. Alles, was so auftritt wie dieses Buch und was dann solch merkwürdige Beichte ablegen muß, das zeigt uns, daß es nicht geht mit dem alten Geist. Das ist dasjenige, was man heute überall sehen kann: In der Theorie kann man alles behaupten; wenn aber ein Mensch wie Professor Varga, der in der Lage war, etwas Neues einzurichten, etwas nach seinen Ideen einrichtet - dann kann man eben sehen, wie das geht.

Ich sage das, damit man sieht, wie unsinnig solche Forderungen sind, wie die, die auf dieser Korrespondenzkarte stehen, die Fräu­lein Vreede eben vorgelesen hat.

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ZWEITER DISKUSSIONSABEND Dornach 19. Juli 1920 Wie ist die Verwirklichung der Dreigliederungsidee möglich?

Emil Leinhas leitet die Versammlung ein. Anschließend melden sich ver­schiedene Redner, unter anderm Emil Grosheintz, zu Wort. Am Schluß beantwortet Rudolf Steiner einige der gestellten Fragen.

Rudolf Steiner: Es sind also eine Anzahl von Fragen gestellt wor­den. Wir können ja die Diskussion nachher fortsetzen. Ich kann einiges von dem vornehmen, was hier an Fragen gestellt worden ist und möchte zunächst auf das letzte, das von Dr. Grosheintz Ge­äußerte zurückkommen.

Es ist ja begreiflich, daß gerade in den letzten Jahrzehnten aus den verschiedenen sozialen Ideen heraus immer wieder das Bestre­ben auftauchte dahinterzukommen, wie groß eigentlich die von der Menschheit [gesamthaft] aufzubringende Arbeitsmenge sein müsse, wenn die Menschheit eben bei dieser Arbeitsmenge fortkommen soll. Natürlich würde die Arbeit dann am besten ökonomisch aus­genützt werden, wenn nur soviel Arbeit geleistet würde als not­wendig ist für das, was die Menschheit konsumieren will. Und es ist ja sehr begreiflich, daß man über diese Dinge nur schätzungs­weise Angaben machen kann. Aber in verschiedenen Kreisen, in denen man sich bemüht hat, hinter diese Frage zu kommen - es ist eben nicht besonders leicht -, hat man sich doch Vorstellungen machen können, um wieviel zuviel Handarbeit, das heißt einfache Arbeitskraft des Menschen, in der Gegenwart verschleudert wird. So genau kann man es natürlich nicht wissen, wenn man sich mit dieser Frage nicht dilettantisch, sondern sachgemäß beschäftigt, aber wir können wenigstens für einen Teil der menschlichen Arbeitskraft, für die körperliche Arbeit, das folgende sagen. Wenn man annehmen kann, daß jedermann nach seinen körperlichen Fähigkeiten körperliche Arbeit verrichten würde, dann würde

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nötig sein, daß jeder Mensch innerhalb der zivilisierten Welt - die «Wilden» sind dabei nicht berücksichtigt - täglich etwa 2 1/2 bis 3 Stunden arbeitet. Das heißt also, wenn jeder Mensch täglich etwa 2 1/2 bis 3 Stunden körperlich arbeitet, so würde die für die Menschheit notwendige Arbeitskraft aufgebracht werden. Selbst-verständlich ist das eine Angabe, die eigentlich nur wie ein appro­ximatives Prinzip richtunggebend ist, denn in der Praxis stellt sich natürlich die Notwendigkeit heraus, daß der eine mehr, der andere weniger körperlich arbeitet, zum Beispiel daß der eine, der beson­dere geistige Arbeit zu leisten hat, vielleicht nicht belastet wird mit körperlicher Arbeit; dann wird ein anderer mehr aufbringen müs­sen. Aber wenn Sie dagegen nun dasjenige ansetzen, was heute an körperlicher Arbeit geleistet wird, so kann man doch sagen, daß der weitaus größte Teil der Menschheit solange arbeiten muß, daß eben viel mehr herauskommt an aufgewendeter Arbeitskraft, als eigentlich aufgewendet werden müßte, wahrscheinlich - das ist wiederum eine approximative Angabe -, das Fünf- bis Sechsfache an körperlicher Arbeit. So sehen Sie, wieviel menschliche Arbeits­kraft heute eigentlich verschwendet wird durch die Unökonomie, die besteht. Viel mehr als man glaubt, wird verschwendet. Das ist dasjenige, was heute herauskommen würde durch die [Verwirk­lichung der] Dreigliederung des sozialen Organismus und was diejenigen so wenig einsehen wollen, die eben keinen praktischen Sinn haben.

Wie wenig die Menschen heute praktischen Sinn haben, das zeigt sich auf Schritt und Tritt, insbesondere in den Beurteilungen, die dem Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus ent­gegengebracht werden. Was eben durchaus nicht begriffen werden will, das ist, daß heute gegenüber dem Zugrundegehenden es gilt, neue Geisteskräfte zu entwickeln; und deshalb, weil es nicht begrif­fen wird, müssen sich diese geistigen Kräfte heute, ich möchte sagen durch die Spalten der gesellschaftlichen Ordnung durchdrük­ken, wenn sie überhaupt zur Geltung kommen wollen. Denn aus dem, was ein Staat anordnen und organisieren kann, kann über­haupt keine Geistespflege hervorgehen. Es ist eine völlige Illusion,

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wenn man glaubt, daß durch Staatsverwaltung irgendeine Geistes-pflege hervorgehen könne. Alle Staatsverordnungen sind in bezug auf das Geistesleben zum Teil Geltungssucht, zum Teil Gschaftl­huberei, und dasjenige, was dann wirklich geistig geleistet wird, wird eben geleistet trotz dieser Verordnungen. Das heißt, grob gesprochen, wenn es heute noch Kinder gibt, die was lernen, so lernen sie nicht, weil der Staat da ist, sondern trotzdem der Staat da ist, weil noch immer eine ganze Menge in der Schule geschehen kann gegen die Schulgesetze. Und das, was im Sinne der Schulge-setze geschieht, das bringt die geistigen Kräfte nicht zur Entwick­lung, sondern das verhindert die geistige Entwicklung. [In einem freien Geistesleben dagegen], da würden erst die Kräfte der Men­schen bloßgelegt, vor allen Dingen dadurch, daß die Menschen, die in einem solchen freien Geistesleben herangebildet und dann ins Rechts- und Wirtschaftsleben hineingestellt werden, daß diese Menschen dann wirklich in den einzelnen Gebieten des Lebens Überblicke hätten, daß sie sich ökonomisch verhalten könnten und daß sie anordnen könnten dasjenige, was heute nicht angeordnet werden kann. Heute kann man ja tatsächlich verzweifeln, wenn man meinetwillen sieht, wie Geschäfte eingerichtet werden. Derje­nige, der nur ein bißchen denken kann und genötigt ist, einmal die Art und Weise zu verfolgen, wie Geschäfte eingerichtet werden, der sieht ja sogleich, daß in diesen Fällen eigentlich die zehnfache Kraft verschwendet wird, weil nirgends genügend Wille vorhanden ist, die Kräfte ökonomisch zusammenzuziehen, die Kräfte ökono­misch zu verbinden, sondern weil man sich so breit als möglich an die Dinge heranmacht. Es handelt sich vor allen Dingen darum, durch das assoziative Leben die Menschen, die zusammengehen, wirklich zu erkennen - man muß sie erst erkennen, wenn man das wirtschaftliche Leben einrichten will. Gerade durch die Dreigliede­rung des sozialen Organismus wird erst diese Ökonomie möglich, und es wird die Verschwendung der Kräfte allmählich aufhören.

Es zeigen manche Fragen - gerade diejenigen, die mir hier über­geben worden sind -, wie schwer es doch eigentlich den Menschen wird, sich ganz in eine wirklichkeitsgemäße Denkweise hineinzufinden,

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wie sie zugrundeliegt dem Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus. Sehen Sie, die Menschen sind ja heute eigent­lich so, wie wenn sie gar nicht mit ihren Füßen auf dem Boden stehen würden, sondern wie wenn sie immerfort über der Wirk­lichkeit schweben und die Köpfe hinaufrecken würden, damit sie möglichst wenig von der Wirklichkeit verspüren. Der Inder Rabin­dranath Tagore hat ein ganz niedliches Bild gebraucht für den heu­tigen westeuropäischen Kulturmenschen, indem er ihn verglich mit einer Giraffe, deren Kopf sich weit über ihren Körper streckt und sich loslöst von der übrigen Wirklichkeit des Menschen. Und so kommt es, daß man sich gar nicht vorstellen kann, wie aus einer wirklichen Lebenspraxis dieser Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus genommen ist und wie es niemals darauf ankommen kann, irgendwelche bloß theoretische Dummheiten zu machen auf diesen Gebieten.

Das möchte ich vorausschicken, wenn ich Ihnen nun die folgen­de Frage vorlese:

Ließe sich innerhalb des dreigegliederten sozialen Organismus eine Form denken, die geeignet wäre, als Inhalt in sich aufzunehmen die Gefühle des Teiles der Menschen, die aus ihrer Natur heraus einem monarchischen Prinzip freiwillig Unterordnung und Vertrauen entgegenbringen?

Wurden nicht die Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organis­mus erstmalig dem alten Regime angeboten?

Nun, ich müßte ja einen Vortrag halten, wenn ich die Frage ent­sprechend beantworten sollte. Ich will nur einiges andeuten: «Ließe sich innerhalb des dreigegliederten sozialen Organismus eine Form denken, die geeignet wäre, als Inhalt in sich aufzunehmen die Ge­fühle des Teiles der Menschen, die aus ihrer Natur heraus einem monarchischen Prinzip freiwillig Unterordnung und Vertrauen entgegenbringen?» Ich möchte wissen, wieviel von dem Inhalt dieses Satzes aus einem wahren, wirklichkeitsgemäßen Denken genommen ist! Wenn man sich auf den Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus stellen will, so muß man eben praktisch, das heißt wirklichkeitsgemäß denken. Nun muß man natürlich

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etwas Konkretes nehmen. Nehmen wir das ehemalige Deutsche Reich. Nehmen wir die letzten Jahrzehnte dieses ehemaligen Deut­schen Reiches, dieser Menschen, die «aus ihrem Gefühl heraus oder aus ihrer Natur heraus einem monarchischen Prinzip freiwillig Unterordnung und Vertrauen entgegenbringen». Da möchte ich Sie fragen: Wo hat's denn die gegeben? Gewiß, solche, die sich in dem Oberstübchen ihres Intellekts einigen Illusionen in dieser Bezie­hung hingegeben haben, die hat es ja gegeben. Aber nehmen Sie nun das «monarchische Prinzip» des ehemaligen Deutschen Rei­ches: Wer hat denn da regiert? Etwa Wilhelm II.? Der hat wahrhaf­tig nicht regieren können, sondern es hat sich gehandelt darum, daß eine gewisse Militärkaste da war, welche die Fiktion aufrechterhal­ten hat, daß dieser Wilhelm II. etwas bedeute - er war ja nur ein Figurant mit Theater- und Komödienallüren, der allerlei Zeug der Welt komödienhaft vormachte. Es war eine Art Theaterspiel, auf­rechterhalten durch eine Militärkaste, die nun nicht gerade aus blo­ßer «Natur» und aus «freiwilligem Unterordnen und Vertrauen» heraus, sondern aus ganz etwas anderem heraus handelte, aus allen möglichen alten Gewohnheiten, Bequemlichkeiten, aus der An­schauung, daß es eben so sein muß - eine Anschauung, die aber nicht sehr tief in der Menschenbrust wurzelte. So lag dieses Ganze, und es wurde mehr gehalten, als daß es wirklich regierte. Das hat sich ja gezeigt in der letzten Juliwoche 1914. Ich habe das in mei­nen «Kernpunkten» eben nur so angedeutet, daß ich sagte: es war da alles in die Nullität gekommen. Es ist aber durchaus tief aus den Tatsachen heraus begründet. Dann kam zu dem, was aus den Militärkasten heraus dieses Komödienspiel zusammenhielt, in den letzten Jahrzehnten das noch viel Widerlichere des Großindustriel­len- und des Großhändlertums, was sich also summierte und was so durchaus innerlich aus verlogenen Impulsen heraus ja dieses monarchische Prinzip aufrechterhielt.

Nun nehmen wir wiederum einen einzelnen konkreten Moment heraus, an dem man ersehen kann, was eigentlich in Wirklichkeit -abgesehen von den konventionellen Lügen, die aus dem Vorurteil der Menschen heraus so etwas aufrechterhalten - das «monarchische

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Prinzip» heißt. An einem bestimmten Tage des Jahres 1917 -Sie wissen es alle - wurde Theobald von Bethmann Hollweg abge­sägt als deutscher Reichskanzler. Wenn man dieses Absägen bis in die Einzelheiten verfolgt, dann findet man, wer diesen Mann abge­sägt hat - diesen Mann, der natürlich ziemlich lange vorher und ziemlich lange nachher auch noch eine fast monarchische Rolle in diesem unglückseligen Deutschland spielte. Wer hat denn nun eigentlich Theobald von Bethmann abgesägt? Sehen Sie, das war der dicke Erzberger - und nicht Wilhelm II., der hat dabei nicht die allergeringste Rolle gespielt. Das, was damals vorgegangen ist, was eigentlich der dicke Erzberger getrieben hat, wie der tatsächlich die monarchische Gewalt gerade in diesen Tagen ausgeübt hat, das wissen die allerwenigsten Menschen, weil die allerwenigsten Men­schen sich kümmern um das, was wirklich vorgeht, sondern sich alles mögliche vorduseln lassen.

Wenn man also über so etwas nachdenkt wie das «monarchische Prinzip», dann muß man ja erst auf die konkreten Tatsachen kom­men, dann muß man sich klar sein darüber, worinnen die Wirklich­keit besteht, ob es nun Monarchismus ist oder nicht. Glauben Sie, daß im heutigen England jene Persönlichkeit herrscht, die auf den Bildern, die wir zu sehen bekommen, wahrhaftig nicht einen sehr intelligenten Eindruck macht und die in den Regierungsverfügun­gen immer so genannt ist, daß es heißt: «Seiner Britischen Majestät Regierung»? Nein, schauen Sie sich heute an, wie ganz England hinter Lloyd George einherläuft und tatsächlich er die monarchi­sche Gewalt ausübt. Sehen Sie bitte an, wie in den sogenannten Republiken die Dinge sind, sehen Sie sich an, wie in Wirklichkeit die Dinge ganz anders sind, als sie nach Wortschablonen, nach Begriffskarikaturen von den Menschen geglaubt werden. Darauf aber kommt es an, daß, wenn einmal Wahrheit an die Stelle der Lüge gesetzt werden soll, man auch die Fragen vom Boden der Wirklichkeit aus stellen muß. Deshalb kann wahrhaftig nicht, wenn von der Dreigliederung des sozialen Organismus gesprochen wird, die Frage aufgeworfen werden: Wäre da irgendein Lloyd George mit monarchische Allüren denkbar? Die Dreigliederung des sozialen

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Organismus sagt ja etwas ganz Bestimmtes über ihre drei Glie­der, Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben. Da werden sich die Dinge schon ergeben; geradeso, wie die anderen Menschen drinnen in einem solchen Organismus die ihren Fähigkeiten an­gemessene Stellung bekommen, so werden es schon auch «Mon­archen».

Aber es scheint ja, als ob der Schwerpunkt dieser Frage in den letzten Zeilen liegen würde: «Wurden die Gedanken der Dreiglie­derung erstmalig dem alten Regime angeboten?» Ja - wem hätten sie denn angeboten werden sollen? Sie mußten doch denjenigen angeboten werden, welche irgend etwas machen konnten. Was dann herausgekommen wäre - das ist eine andere Sache. Es handel­te sich ja darum, überhaupt von überallher Leute zu suchen, welche bei dem, was sie als reale Dinge ausführen, den Impuls der Drei-gliederung zugrundelegen konnten. Ja, was hätte es denn genützt, als zum Beispiel der Friede von Brest-Litowsk in Aussicht war, irgendwie in die Welt hinauszuschreien in der damaligen Zeit: ab­straktes Prinzip! Was hätte es denn genützt; es wäre ja nicht einmal gegangen. Es hätte sich darum gehandelt, daß in die realen Taten des Friedens von Brest-Litowsk diese Dreigliederungsidee hinein­geflossen wäre; es hätte sich darum gehandelt, daß man diesen Frieden so geschlossen hätte, daß er unter dem Einfluß dieses Impulses geschlossen worden wäre.

Meine sehr verehrten Anwesenden, es war kurz nach dem Frie­den von Brest-Litowsk, da kam ich nach Berlin und sprach einen Herrn, der in vieler Beziehung Ludendorffs rechte Hand war. Dazumal war denjenigen, die so etwas wissen konnten, schon klar, welche Verheerungen anrichten mußte der ganze Friedensschluß von Brest-Litowsk. Außerdem war klar, daß im Frühling eine große Frühjahrsoffensive losgehen werde.

Und ich reiste nach Berlin über Karlsruhe. Es war im Januar. Man wußte dazumal ganz gut, daß wenn es im ehemaligen Deutschland zum Krache käme, würde der Prinz Max von Baden Reichskanzler werden. Ich sprach auf dieser Reise auch mit dem Prinzen Max von Baden schon im Januar über die Dreigliederung

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des sozialen Organismus, weil es sich darum gehandelt hätte, daß selbstverständlich in die unmittelbar konkreten, reellen Tatsachen hinein gewirkt hätte, was die Kraft der Impulse des dreigliedrigen sozialen Organismus ist. Vor dem Friedensschluß von Brest-Litowsk, längere Zeit vorher, als wahrhaftig noch genügend Zeit war, trug ich die ganzen Ideen von der Dreigliederung des sozialen Organismus Herrn von Kühlmann so vor, daß ich bemerklich machte: Von Amerika herüber kommen die verrückten Völker­bundsideen, die verrückten Vierzehn Punkte, die absolut abstrakt sind, die die Welt in Nullität führen werden, und das Einzige, was wirklich von europäischer Seite getan werden könnte, wäre, dem entgegenzusetzen dieses große Weltprogramm von der Dreigliede­rung des sozialen Organismus.

Ich möchte gesehen haben, meine sehr verehrten Anwesenden, was es dazumal bedeutet hätte, wenn von autoritativer Stelle aus jemand den Mut gehabt hätte, dem Nullprogramm des Westens entgegenzusetzen ein wirkliches inhaltsvolles, ein realpolitisches Programm, wie es die Impulse der Dreigliederung des sozialen Organismus sind! Und wenn manche Leute mir auch sagten, denen ich die Sache vortrug: Nun, schreiben Sie darüber eine Broschüre oder ein Buch! -, [so mußte ich darauf antworten:] Wahrhaftig, darauf kommt es nicht an, daß die Dinge veröffentlicht werden, sondern wie sie in die Welt der Tatsachen eintreten, darauf kommt es an.

Nun, das Gespräch, das ich mit Herrn von Kühlmann führte -das kann ja heute noch bewiesen werden, welches der Inhalt war, denn der Herr, der mit mir war, lebt ja Gottseidank noch und wird hoffentlich noch lange leben. Das Gespräch tönte aus darin, daß mir Herr von Kühlmann sagte auf seine Weise: Ich bin halt eine beschränkte Seele. - Herr von Kühlmann meinte selbstverständlich, daß er auch noch andere Staatsmänner um sich hat und daß er in seinen Entschließungen beschränkt ist; ich aber dachte in meiner Seele an eine andere Auslegung dieses Ausspruches.

Nun, ich kam also im Frühjahr nach Berlin, sprach dann mit einem Herrn, der, wie gesagt, Ludendorff sehr nahestand, und

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wollte klarmachen, was für ein Unding es ist, jene Frühlingsoffen­sive zu unternehmen, von der er dazumal selbstverständlich so sprach, wie man sprechen durfte. Ich sagte: Selbstverständlich kann und darf man ins Strategische nicht eingreifen, wenn man selber nicht Militär ist, aber ich gehe aus von all den Voraussetzungen, die gar nicht in die Strategie hineinspielen. Ich nehme an, Ludendorff erreiche alles, was er sich nur zu erreichen vorstellen kann, oder aber, wenn das alles nicht erreicht wird, was Ludendorff sich vor­stellt, wenn er das nicht erreicht, dann ist der Effekt des unglück­seligen Krieges doch ganz derselbe. - Man konnte dazumal klar zeigen, daß der Effekt ganz derselbe sein müßte; und das ist ja später auch so geworden; es ist ja jetzt auch so. Da sagte mir der Herr, wobei ich fortwährend Angst hatte, daß er überhaupt auf seinen Stuhl wieder zurückkäme, von dem er aufgesprungen war, so nervös war er: Was wollen Sie? Der Kühlmann hatte die Drei-gliederung in der Tasche, und mit ihr in der Tasche ist er nach Brest-Litowsk gefahren. Unsere Politiker sind gar nichts, unsere Politiker sind Nullen. Wir Militärs haben gar keine andere Ver­pflichtung, als zu kämpfen, zu kämpfen. Wir, wir kennen nichts anderes!

Sie sehen, die Dinge sind dazumal wirklich dem alten Regime zuerst angeboten worden - es handelt sich ja nicht darum, ins Blaue hinein Ideen in die Welt zu setzen, sondern wirklich die Wege zu suchen, auf denen sie sich realisieren können, die Ideen. Dann, meine sehr verehrten Anwesenden, kam die Zeit, in der mir ja nur Gebiete der Welt zur Verfügung standen, in der es nach und nach eine recht unpraktische Frage geworden ist zu fragen, wie man sich Monarchen gegenüber verhalten sollte und was man da tun könnte in bezug auf die Dreigliederung - andere Gebiete ste­hen mir ja zunächst nicht zur Verfügung; ich werde ja noch nicht in das pseudo-monarchische England gelassen, in das hyper-mon­archische Amerika und in das durch und durch republikanisch­monarchische Frankreich gelassen und so weiter. Derjenige, der auf dem Boden der Realität steht, der wird die höchst unpraktische Frage, wie man sich dem monarchischen Prinzip gegenüber verhalten

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sollte, ja wahrhaftig nicht weiter erörtern, denn dieses mon­archische Prinzip wird ja nun nicht irgendwie dominieren können, es wird in ganz undurchschaubaren Ecken sitzen und wird ganz gewiß eine ernsthafte Diskussion in der nächsten Zeit nicht nötig machen - im Gegenteil, heute sind ganz andere Dinge diskussions­notwendig.

Und ich bitte Sie nur, meine sehr verehrten Anwesenden, in der Dreigliederungszeitung meinen Aufsatz zu lesen über «Schatten-putsche», wo ich zu zeigen versuchte, wie unnötig das Echauffieren war der mehr links stehenden Seiten gegen die ganze Kapp-Komö­die. Denn schließlich, so wie die Dinge dazumal standen, war die Linke nicht besser als die Rechte, und es war schon ganz egal, von welcher Seite heraus das Absurde gemacht wurde. Jetzt handelt es sich darum, die Realität einzig und allein darinnen zu suchen, die Dreigliederung in möglichst viele Köpfe hineinzubringen, die dann die Dreigliederungsidee tragen können. Das ist die einzige Realität. Man braucht dazu vielleicht sehr lange Zeit, wenn die Not nicht diese Zeit verkürzt. Man wird aber mehr Sorgfalt darauf verwen­den müssen, in die fähigen Köpfe diese Dreigliederungsidee herein-zubringen. Daß sie jetzt noch nicht sehr in die führenden Köpfe hineingekommen ist, das bezeugt zum Beispiel die Tatsache, daß von deutscher Seite auch in Spa noch immer diejenigen als Führer figurieren, denen auch früher Führereigenschaften beigelegt wor­den sind und in deren Köpfe ja die Dreigliederungsidee ganz gewiß nicht hineingeht. Also Sie sehen, es handelt sich wirklich nicht darum, daß man jetzt die Gedanken dazu verschwendet, solche irreellen Fragen zu stellen, sondern es handelt sich wirklich darum, zu arbeiten im Sinne der Dreigliederungsidee, damit diese Dreiglie­derungsidee in möglichst viele Köpfe hineingeht. Es handelt sich heute nicht darum, daß darüber nachgedacht wird, wie die Men­schen sich freiwillig nicht einmal einem Monarchen, sondern einem monarchischen Prinzip unterordnen, ihm Vertrauen entgegenbrin­gen und so weiter; ob nun darüber nachgedacht wird oder nicht, das scheint mir höchst gleichgültig zu sein. Es ist ja völlig unnötig, sich solch irreellen Gedanken hinzugeben, wenn man es wirklich

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zu tun hat mit etwas, das ganz aus der Realität heraus arbeiten will.

Die anderen Fragen werde ich nur noch ganz kurz berühren, da das zweifellos schon zu lange gedauert hat mit diesem Schlußwort:

Wird es in Assoziationen möglich sein, ohne Geistesforschung zu sein? Ist zu erkennen, ob jemand nach Jahren eine Erfindung ausbauen wird oder oh er nur ein Pfuscher ist?

Nun, sehen Sie, es liegt diesen Fragen kein richtiges Hinschauen auf dasjenige zugrunde, was die Assoziationen sein werden. Gewiß, die Schwierigkeiten, die in der menschlichen Natur liegen, die werden ja immer da sein. Der pure Glaube, daß man irdische Paradiese errich­ten kann, ist irrig. Gewisse Schwierigkeiten werden selbstverständ­lich immer da sein. Aber entschieden werden, ob irgendwie eine Er­findung aussichtsvoll ist oder nicht - das muß ja heute ebenso wie in Zukunft vom einzelnen Menschen geschehen. Nur ist heute der ein­zelne Mensch auf sich selber angewiesen, oder er ist angewiesen auf irgendwelche Traditionen. Während er, wenn Assoziationen vor­handen sind, eben in Zusammenhang steht mit alle dem, was assozi­iert ist und sich an sein Urteil angliedert dasjenige, was aus den in den Assoziationen mit ihm in Verbindung stehenden Menschen heraus­kommen kann. Es wird also das Urteil, das zu fällen ist über solche Sachen, ja wesentlich unterstützt und getragen dadurch, daß die Menschen in Assoziationen drinnenstehen.

Ich habe in der letzten Zeit öfter an einem Beispiel gezeigt, wie man heute ein ganz gescheiter Mensch sein kann, ohne zu einem Urteil über die Tragkraft von diesem oder jenem zu kommen. Ich habe dann das Beispiel angeführt, daß es Leute gegeben hat in allen möglichen Parlamenten, an der Praxis Gebildete, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts an eingetreten sind für die Goldwährung, in­dem sie behauptet und es mit Gründen belegt haben, daß die Gold­währung zum Freihandel führen werde und damit zu einer solchen Konfiguration des Handels, die sie sich als besonders günstig für die internationalen Menschheitsverhältnisse vorgestellt haben. Das Gegenteil ist davon eingetreten: Die Goldwährung hat gerade über­all zu dem Schutzzollsystem geführt. Ich habe gesagt, ich behaupte

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damit nicht, daß die Menschen alle dumm waren, die nun voraus­gesagt haben, daß die Goldwährung zum Freihandel führen werde, trotzdem sie dann eben überall zum Schutzzoll geführt hat. Es waren zum größten Teil sehr, sehr gescheite Menschen. Lesen Sie die Parlamentsreden durch, die in großer Zahl in den verschieden­sten Parlamenten gehalten worden sind über die Goldwährung, dann werden Sie sehen, daß da sehr gescheite Dinge aufgefahren wurden über die Goldwährung. Aber das ganze Getriebe im öf­fentlichen Wirtschaftsleben war individualisiert, und der Einzelne war gar nicht in der Lage, größere Zusammenhänge zu überschau­en. Er konnte noch so gescheit sein, er war nicht in der Lage, eigene Erfahrung zu sammeln.

Diese Erfahrung, die kann eben nur dadurch kommen, daß man im ganzen Gewebe der Assoziationen drinnensteht, daß man weiß, wer über das, wer über jenes etwas weiß, ja, wer überhaupt etwas weiß als Individualität -, nicht bloß deshalb, weil der Betreffende von irgendeiner Stelle aus ernannt worden ist, sondern weil man in soundso vielen Fällen im Assoziationsgewebe drinnen mit ihm zu tun gehabt hat. Dieses Verbindende dieses Assoziationsgewebes, das ist etwas, was aus dem Vertrauen kommen muß. Und so kann man sagen: Ein Entweder-Oder gibt es überhaupt im Leben nicht. Aber dasjenige, was heute dem Menschen schwermacht zu er­kennen, ob irgend etwas, was erfunden wird, fruchtbar wird im menschlichen Leben, das wird ja zum großen Teil im assoziativen Leben wegfallen. Man muß die Dinge im Großen denken. Es ist wirklich trostlos, wenn einem jemand etwa in der folgenden Form sagt: Nun ja, ich bin einverstanden; alles muß neu werden, alles muß andere Formen annehmen, und du gibst an, wie diese anderen Formen werden sollen. Aber sage mir nunmehr, wie wird denn dann mein Kramladen ausschauen, wenn diese Neugestaltungen eintreten. - Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, es könnte viel­leicht notwendig sein, ihm zu sagen, daß ein solcher Kramladen dann überhaupt nicht mehr in dieser Form bestehen würde. Dann wäre er natürlich wirklich mit der Antwort recht unzufrieden. Bei der Dreigliederung handelt es sich überall um etwas, was unmittelbar

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jeden Tag in Angriff genommen werden kann und was so schnell vorwärtskommen wird, als eben die dazu fähigen Menschen da sein werden. Das könnte sehr schnell gehen.

Nur, wenn man es praktisch in Angriff nehmen will, kann man nicht fragen:

Wo fängt ein Gerät an Produktionsmittel zu sein, zum Beispiel eine Näh­maschine? Ist sie ein Produktionsmittel erst, wenn ich sie nicht mehr bloß zum eigenen Gebrauch benütze, und darf ich sie dann nicht mehr als etwas für mich gebrauchen?

Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, man kann, wenn es sich um so große Fragen wie in der Gegenwart handelt, wirklich nicht die Antwort aus einem ganz beschränkten Kreise nehmen; das ist unmöglich. Ich garantiere Ihnen, Sie werden schon, wenn die Drei-gliederung des sozialen Organismus durchgeführt ist, auch ein Verhältnis zu ihrer Nähmaschine haben, das befriedigend ist. Denn man bedenkt gewöhnlich gar nicht, daß die Nähmaschine und ähn­liches, meinetwillen auch zum Beispiel Haarkämme oder derglei­chen, ja auch Produktionsmittel sein können, denn Produktions­mittel ist ja alles dasjenige, was mich instandsetzt, meinen Beruf auszuführen. Also, man kann nicht den Begriff Produktionsmittel so einschränken. Dasjenige, um was es sich handelt, das ist, daß man überhaupt nicht so eng denken soll. Denken Sie doch einmal, hier ist eine Kirche, hier ist die zweite Kirche - ich wähle ein Bei­spiel, das im Katholizismus üblich ist. Nehmen wir an, hier lebe der Pfarrer N (Es wird an die Tafel gezeichnet). Dieser Pfarrer liest täglich eine Messe, sonntags seine Vesper und so weiter; da zieht er sich seine Meßgewänder an. Diese Gewänder, die er da als Meßge­wänder anzieht, die gehören alle der Kirche. Wenn jetzt der Pfarrer N. versetzt wird, etwa indem er sich verbessert von der Kirche A zu der Kirche B, dann nimmt er nichts von den Meßgewändern mit; das bleibt altes bei der Kirche A. Und dort, in der Kirche B, zieht er wieder die Meßgewänder an, die dieser Kirche gehören -wenn man da von «gehören» sprechen kann, aber Sie wissen ja. was ich damit meine.

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Bei den Meßgewändern haben Sie gleich ein ganz anderes Verhält­nis zu den Dingen vorliegen, die mit dem Berufe zusammenhängen, als Sie es haben bei einer Näh- oder Schreibmaschine, die Sie mit­nehmen, wenn Sie von einem Ort zum anderen wandern. Ich will nicht sagen, daß nun etwa für die Nähmaschine dieselbe Ordnung in der Zukunft eingeführt werden sollte, die für Meßgewänder gilt. Sie sehen, es gibt verschiedene Möglichkeiten, zu dem zu gelangen, was man braucht, um seine Arbeit auszuführen. Also man sollte wirklich nicht eng denken, wenn es sich heute um die großen Welteninhalte handelt. Man sollte nicht wegen der Sorge um seine Nähmaschine sein ganzes Denken über die Dreigliederung des sozialen Organismus in Verwirrung bringen.

Noch kurioser ist die dritte Frage:

Was geschieht, wenn einer nicht zurücktreten will, wenn er die Produk­tionsmittel nicht mehr selber verwalten kann? Oder, wenn er nicht zurück­treten will, wird man ihn zwingen? Wer wird es so durchschauen können und ihm beibringen können, daß er gehen soll?

Nun, nicht wahr, das sind ja so furchtbar abstrakte Fragen, daß sie sich für den gar nicht ergeben, der den Gang der Ereignisse in der Wirklichkeit der Dreigliederung des sozialen Organismus einsieht. Lesen Sie meine «Kernpunkte» durch; in der Wirklichkeit der Dreigliederung gibt es ja unzählige Mittel, um so jemanden zum Zurücktreten zu zwingen. Und außerdem, man muß nur bedenken, daß sich ja mit der Dreigliederung des sozialen Organismus - das ist das Wesentliche dabei - das ganze Verhältnis des Menschen zur

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Gesellschaft ändert. Man denkt, nicht wahr: Wie wird das über­haupt vor sich gehen, daß einer nun seinen Nachfolger ernennt? Man sollte sich solche aus der Wirklichkeit herausgerissene Fragen doch nicht so stellen. Man muß solche Fragen ganz im Konkreten stellen, aus dem Erleben der Tatsachen. Sagen wir einmal, einer wird unfähig, aus Schwachsinn unfähig, und er kommt aus Schwachsinn in die Lage, irgendeinen Betrieb nicht mehr leiten zu können. Nun, in den meisten Fällen wird, wer den Schwachsinn herankommen sieht und sich nicht mehr zurechtfindet, sich irgend jemanden anstellen, der ihm hilft. Dann wird aus diesem Verhältnis die Nachfolge schon hervorgehen. Wenn das nicht so da ist, was ich jetzt beschrieben habe, dann werden im konkreten Leben ganz andere, aber immer ganz bestimmte Verhältnisse sich gestalten. Also, wenn einer nicht gehen will, so wird ihm das Leben zeigen, daß er muß. Denn derjenige, der nicht fähig ist, wird eben nieman­den mehr finden, der mit ihm wird arbeiten wollen, und er wird dann seinen Betrieb nicht mehr fruchtbar leiten können.

Also die Dinge nehmen sich im realen Leben ganz anders aus als eine theoretische Frage. Und darum handelt es sich gerade, daß man an die Dinge herangeht mit einem wirklichkeitsgemäßen Den­ken, das sich hineinversetzt in das wirkliche, praktische Leben. Wenn Sie heute in einer sozialistischen Versammlung über irgend solche Dinge reden hören, so wird überall von allem Möglichen und Unmöglichen geredet, weil man nirgends in der Wirklichkeit steht. Wie sollte auch das Proletariat, das man in dieser Weise hat heranwachsen lassen, ohne sich um es zu kümmern, das man an die Maschine gestellt hat, das das wirkliche Leben, die wirklichen Zusammenhänge nicht kennengelernt hat, wie sollte das Proletariat für etwas anderes Verständnis haben, als für ganz weltfremde Theorien? Aber darum handelt es sich, daß durch solche welt-fremden Theorien eben die Welt zugrundegegangen ist und kein Neuaufbau entsteht. Darum handelt es sich, daß man mit allen möglichen Mitteln dazu kommt, auf die Wirklichkeit hinzudeuten und alles aus der Wirklichkeit zu erfassen. Das ist es, worauf es ankommt.

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DRITTER DISKUSSIONSABEND Dornach, 9. August 1920 Die Begründung der Dreigliederung aus den sozialen Gesetzmäßigkeiten

Richard Eriksen hält einen Vortrag über «Die philosophische Begründung der Dreigliederung des sozialen Organismus». Danach findet eine Ausspra­che statt, an deren Schluß sich Rudolf Steiner wieder zu verschiedenen Fragen äußert.

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden, die Fragen, die gestellt worden sind und auf die ich eingehen möchte, sind die folgenden. Zunächst die erste Frage:

Was soll geantwortet werden, wenn die Außenwelt an uns die praktische Frage stellt: Woraus soll der Arbeiter im dreigliedrigen sozialen Organis­mus sein Geld bekommen?

Nun, ich glaube, daß diese Frage in ihrer rein äußerlichen Natur aus den «Kernpunkten» klar zu beantworten ist. Es handelt sich darum, daß im Sinne der Kernpunkte - aus jenen Bedingungen, die dort angegeben sind - die Gliederung im sozialen Organismus sich so gestalten muß, daß ein Arbeitsleiter vorhanden ist für diejeni­gen, die einen solchen Arbeitsleiter brauchen und unter seiner Führung eben arbeiten, und daß der Arbeitsleiter im wesentlichen auch der Vermittler sein wird dafür, wie die nun gemeinschaftlich mit dem Arbeiter erzeugten Produkte in den Handel übergeführt werden. Dadurch wird ja selbstverständlich auch eine andere Ge­sinnung in die Verwaltung desjenigen kommen, was im dreiglied­rigen sozialen Organismus als Geld figuriert. Gemäß jenen Ver­tragsabmachungen, die ja auch in den «Kernpunkten» charakteri­siert sind, wird derjenige, der der Arbeiter ist, von dem Arbeitslei­ter sein Geld übermittelt bekommen. Das ist der rein äußerliche Vorgang, der sich ja - als äußerlicher Vorgang - kaum sehr viel

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unterscheiden wird von dem, was jetzt gebräuchlich ist. Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, um solche äußeren Vorgänge handelt es sich ja nicht, sondern es handelt sich darum, welche Funktionen das Geld im dreigegliederten sozialen Organismus spielen wird. Heute ist das Geld, wenn es Papiergeld ist, ja selbst eine zwischen die sonstigen Waren eingeschoben Ware. Diesen Charakter muß das Geld ja im dreigegliederten sozialen Organis­mus nach und nach verlieren. Und es kann selbstverständlich die Preisbestimmung dann nur innerhalb des wirtschaftlichen Gliedes des sozialen Organismus geschehen. Die Geldscheine mussen im­mer mehr werden ein Teil der großen Buchführung, welche zwi­schen allen Menschen [stattfindet], die eben am Wirtschaftsleben beteiligt sind - und das sind ja alle Leute in irgendeinem geschlos­senen Gebiete. Wenn diese große Buchführung von selbst eintritt, so hat man einfach in dem Geldscheine dasjenige, was man auf setner Aktivseite zu verzeichnen hat. Diejenigen, die abstrakt den­ken, die denken etwa so, wie man ja in bourgeoishaften Kreisen denkt, daß eine solche Buchführung wirklich schon vorhanden ist. Das ist natürlich ein Unsinn, weil sie so, wie sie ist, nicht wün­schenswert ist. Aber eine solche Buchführung, wie man sie brau­chen wird, sie bildet sich ganz von selbst, sie wird nicht abstrakt eine große Buchführung irgendwie sein, sondern sie ist dann ein­fach vorhanden in der Realität. Und darauf kommt es, daß eine bestimmte Beziehung sich ergibt zwischen dem Arbeitsleiter und demjenigen, der unter der Führung des Arbeitsleiters zu arbeiten hat. Und für eine solche Beziehung ist es bedeutungslos, wenn der Arbeiter vom Arbeitsleiter das Geld bekommt, ebenso, wie es etwa jetzt bedeutungslos ist, wenn man, sagen wir, irgendwo Beamter ist und aus der Kasse das Geld ausbezahlt bekommt. Diese Dinge mussen im Zusammenhang mit dem ganzen Fragenkomplex von Kapital und Menschenarbeit gesehen werden; erst dann bekommt sie, ich möchte sagen, die richtige Nuance.

Die zweite Frage:

Wie denkt man sich den Übergang von den heutigen sozialen und wirtschaft­lichen Zuständen zur praktischen Verwirklichung der Dreigliederung?

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Eigentlich liegt es gar nicht im Sinne der Grundgedanken meiner «Kernpunkte der sozialen Frage», daß eine solche Frage hier ge­stellt werden kann. Denn es handelt sich bei dem, was in den «Kernpunkten» vertreten wird, nicht um irgendeine Utopie, die an die Stelle desjenigen treten soll, was jetzt da ist und wo ein Über­gang geschaffen werden müßte zwischen den jetzigen Zuständen und den folgenden, sondern es handelt sich darum, daß diese Drei-gliederung entsteht, wenn nur einmal die Dreigliederungsidee von einer genügend großen Anzahl von Menschen verstanden wird und wenn dann aus diesem Verstehen heraus die Menschen ihre geisti­gen, ihre staatlichen und ihre wirtschaftlichen Zustände besorgen werden. Diese Dreigliederung des sozialen Organismus entsteht auf dieselbe Weise, wie etwa ein Rock entsteht, wenn man als Schneider gelernt hat, wie man einen Rock zu nähen hat; dann kann man ihn auch verwirklichen. Und so wird, weil sie als etwas durchaus Praktisches gedacht ist, die Dreigliederung des sozialen Organismus sich eben verwirklichen. Man braucht keinen Über­gang. Deshalb sagte ich in den Kernpunkten: Dasjenige, was da gemeint ist, kann jeden Augenblick in Angriff genommen werden, und man braucht sich gar nicht zu bekümmern um einen Über-gang. Es ist da ebensowenig notwendig, an einen Übergang zu denken, wie man nötig hat etwa nachzudenken über die Frage: Ja, da habe ich einen Menschen, der ist jetzt 17 Jahre, er will im näch­sten Jahre 18 Jahre sein; wie wird der Übergang sein zwischen dem 17. und dem 18. Jahr?

Es ist nicht nötig, daß man solche Fragen aufwirft, wenn man es mit einer praktischen Idee zu tun hat, die einfach hinschaut auf dasjenige, was jetzt ist, und sich fragt: Was fordern die gegenwär­tigen Verhältnisse? Wenn sie sich naturgemäß, nicht unnaturgemäß weiterentwickeln, fordern sie eben dasjenige, was die Dreigliede­rung gibt; und da braucht man nicht an einen besonderen Über­gang zu denken. Die heutigen sozialen und wirtschaftlichen Zu­stände sind solche, daß man entweder sie weiter unnatürlich behan­deln oder irgendwelche Utopien aufstellen kann, wie zum Beispiel den Leninismus und Trotzkismus, und sie von diesen aus gestalten

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will, oder aber daß man sie naturgemäß anfaßt - dann entsteht Dreigliederung. Und das ist es, um was es sich eigentlich handelt. Man kann also gar nicht fragen, wie der Übergang zur praktischen Verwirklichung geschieht, sondern man muß immer im Konkreten diese Dinge anfassen. Aber, sehen Sie, im Konkreten fassen die Leute die Dinge dann nicht gerne an.

So stellte man in der Zeit, als man mit der Dreigliederung des sozialen Organismus sich noch in einer kleineren Öffentlichkeit befand, diese Frage noch etwas anders als jetzt, weil man dazumal eine scheußliche Angst hatte, daß alles zerbrochen werden könnte. Da fragte man: Ja, was soll denn eigentlich die Regierung tun? Man mußte da einfach sagen, was für die Regierung [als Weg] praktisch ist: nämlich einfach als Regierung zu quittieren das geistige Leben und das wirtschaftliche Leben; diese Gebiete sollten freier werden. Als einmal ein Arbeitsminister mich fragte, was er tun solle, [da mußte ich ihm antworten]: Sehen Sie, [die Schwierigkeiten] kom­men daher, daß die drei Glieder des sozialen Organismus zusam­mengewürfelt worden sind; Sie stehen nun so da, daß Sie auf der einen Seite Mandate haben, die nur in den Rechtsstaat hineingehö-ren, auf der anderen Seite nur ins Wirtschaftsleben hinein. Und so möchte man eigentlich wünschen - was ich nicht gerade Ihnen persönlich gegenüber wünschen möchte -, so möchte man eigent­lich wünschen, daß Sie so wie der Türke von dem biederen Schwa­ben in der Mitte entzweigeschlagen würden. - Die Teilung müßte also schon bei dem betreffenden Arbeitsminister anfangen. Nun sehen Sie, das sind die Dinge, auf die immer wieder hingewiesen werden muß, daß eben die Dreigliederung als eine eminent prakti­sche Sache gedacht werden muß. Dann wird man nicht Fragen stel­len wie die nach dem Übergange von den heutigen Zuständen zur praktischen Verwirklichung der Dreigliederung.

Ein dritte Frage:

Ein Mitglied der Gruppe für Dreigliederung des sozialen Organismus ist angestellter Prokurist für eine große korporative Gesellschaft, deren Tätig­keit wie ein Netz über den Norden Englands sich erstreckt; sie zählt 10 Millionen Mitglieder. Er möchte gern wissen, inwieweit eine solche korporative

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Gesellschaft in Übereinstimmung steht mit dem Prinzip der Dreiglie­derung und wo sie davon abweicht.

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, das wird ja der Betreffen­de wahrscheinlich sich nur ganz persönlich beantworten können, denn er wird ja wohl sehr bald bemerken, daß diese Gesellschaft, für die er Prokurist ist, durchaus mit der Dreigliederung nicht viel zu tun hat; er wird entweder Prokurist für jene Gesellschaft sein können oder wirken wollen für die Dreigliederung des sozialen Organismus. Beides wird sich nicht leicht miteinander vertragen. Ob er aber innerhalb der korporativen Gesellschaft die Dreigliede­rung wird propagieren können, das wird lediglich davon abhängen, ob er imstande ist, durch die Kraft seines Geistes, durch alles das­jenige, was er zur Fundierung der Dreigliederungsidee zu sagen hat, die 10 Millionen Mitglieder für die Dreigliederungsidee zu gewinnen. Wenn er sie gewinnt, dann ist seine Tätigkeit als Proku­rist innerhalb dieser 10 Millionen ganz entschieden gerechtfertigt, und dann möchte man ihn als einen strammen Vertreter der Drei-gliederung außerordentlich beglückwünschen. Ich glaube aber, ver­einbar werden diese beiden Tätigkeiten kaum sein, also Vertreter der Dreigliederung und Prokurist bei der korporativen Gesell­schaft. Aber, nicht wahr, manchmal sind sie ja auch vereinbar; es kommt in der Dreigliederung des sozialen Organismus nur auf die Menschen an. Das haben wir in der Dreigliederung immer und immer wieder eingesehen und erfahren.

Nun noch ein paar Worte; es ist zu spät, um manche Dinge heute noch auszuführen, die ich gerne ausführen würde. Sehen sie, es ist ja tatsächlich so, daß heute gewisse Dinge immer aus der verkehrten Ecke heraus angefaßt werden.

Da ist zum Beispiel gefordert worden, daß gesprochen werden sollte zu dem Proletariat in einer gemeinverständlichen Weise. Ja, sehen Sie, die Art und Weise, wie vom April 1919 an in Stuttgart

zum Proletariat gesprochen worden ist, war so gemeinverständlich, daß sich sehr bald Tausende und Tausende von Arbeitern zusam­mengefunden haben und die Sprache durchaus nicht ungemeinver­ständlich gefunden haben. Dann sind die Leute aufgetreten, welche

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in den alten marxistischen Phrasen gesprochen haben. Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn ein, ich möchte sagen sozial jungfräuliches Publikum, ein Publikum, welches noch nicht vollge­pfropft gewesen wäre mit marxistischen Schlagworten, sich ange­hört hätte, was zuweilen diese Führer da zu ihren Schäflein gesagt haben an marxistischen Phrasen und dergleichen, dann würden diese Leute gesagt haben: total unverständlich. Sie haben es nur verständlich gefunden, weil sie manchmal ein Wort - Dieses Gemeinverständliche, ja, sehen sie, das muß man auch praktisch erlebt haben. Ich wurde einmal in Berlin eingeladen vor vielen Jahren, über Goethes «Faust» zu sprechen. Da fanden sich in einer Gesellschaft Leute ein, die nun wahrhaftig nicht aus Arbeitern bestanden, sondern es waren schon Portemonnaie-behaftete Bürger und manche andere noch, jedenfalls nicht Arbeiter. Da hatte ich damals versucht, in der Weise über Goethes «Faust» zu sprechen, wie man eben sprechen muß. Da fanden sich nun auch Leute, die hinterher sagten: Ja, Goethes «Faust», den kann man doch eigentlich abends im Theater nicht haben; das ist ja nicht ein Theaterstück, wie Blumenthal Theaterstücke macht; das ist ja eine Wissenschaft; das will man doch nicht abends noch haben, eine solche Wissenschaft. - Und wenn man sich erinnert, aus welchen Gesichtspunkten heraus manchmal Volkserziehung getrieben wird, getrieben wurde namentlich in den letzten Dezennien, sagen wir zum Beispiel von Theaterdichtern, die in Gemeinverständlichkeit

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machten - aber eigentlich nur für ihre Tasche -, dann bekommt man erst historisch einen Begriff von dem, was mit Gemein­verständlichkeit eben gemeint ist. Und man erkennt, wie in dieser Forderung nach Gemeinverständlichkeit eben etwas ist, was die Arbeiterschaft noch abzustreifen hat als einen Rest dessen, was sie vom Bürgertum, von diesem bequemen, schläfrigen Bürgertum, was nicht denken will, ererbt hat. Denn Gemeinverständlichkeit ist eigentlich die Forderung nach dem Hören von etwas, bei dem man nicht zu denken braucht. Dadurch aber sind wir gerade in die ka­tastrophale Zeit hineingekommen, daß die Leute nicht denken wollen. Und wir kommen nicht früher heraus, bis die Leute sich dazu entschließen zu denken.

Nun, im Grunde genommen leistete gerade das, was man heute Sozialismus nennt, doch das Alleräußerste an Abstraktheit. Nicht wahr, wie oft hört man schimpfen über die <-isten» und über die <-ismen». Nun haben wir zu , da ist noch das Wort Und nun zum Schluß noch etwas über dasjenige, was vorge­bracht worden ist über die zwei sozialen Gesetze, wie ich sie for­muliert habe, das des Individualismus und das des Sozialismus. Ich habe das eine Gesetz in Anknüpfung an das Buch von Ludwig Stein formuliert. Ich hatte dazumal ein Buch von Ludwig Stein zu

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besprechen, ein dickes Buch über die soziale Frage vom philoso­phischen Standpunkte. Es war einigermaßen nicht leicht, sich durch das Gedankengewinde des Ludwig Stein, dieses typischen Philosophen der Gegenwart, hindurchzuwinden. Es ist derselbe Ludwig Stein, der, weil er vieles geschrieben hat, so schnell schrei­ben mußte, daß ihm einmal das folgende passiert ist: Als er in einem Buch beweisen wollte, daß nur die Leute der gemäßigten Zone der Erde eine Kultur entwickeln können, da sagte er, das sei ganz natürlich, daß nur die Leute in der gemäßigten Zone eine wirkliche Kultur entwickeln können, denn auf dem Nordpol müß­ten sie erfrieren und auf dem Südpol müßten sie verbrennen. -Nun, sehen Sie, das ist die Enunziation eines Philosophen, der durch viele Jahre hindurch die Philosophische Fakultät Bern mit Philosophie versorgt hat. Und jener Philosoph genoß eine gewisses Ansehen.

Sehen Sie, wie grotesk eine solche Abstraktheit werden kann, das ging mir einmal in Weimar auf. Da arbeitete bei uns im Goethe- und Schiller-Archiv ein anderer Berner Professor, und dieser andere erzählte folgende Geschichte. Wir kamen nämlich ins Gespräch über die Erstlingswerke von Robert Saitschick. Sait­schick hat wirklich einige Erstlingswerke geliefert, die schon im­merhin etwas Respektables waren; erst später wurde er ein solcher «Kohler», wie er eben jetzt ist. Der Robert Saitschick war dazumal Privatdozent an der Universität Bern, der Ludwig Stein Professor. Robert Saitschick war ein armer Kerl; und der Ludwig Stein war, außerdem, daß er Professor an der Universität Bern war, Besitzer einer ganzen Häuserfront in der Köpenikerstraße in Berlin. Und daher kannte man auch in Berlin diesen Professor Ludwig Stein. Ich kriegte ihn zum Beispiel gar nicht los; wenn ich ab und zu in Berlin war, kam auch der Stein, der dann, wie ich diese Rezension geschrieben hatte, nachher zu mir sagte: Ich hätte wieder Lust, als ihr Positiv mit meinem Komparativ zu sprechen. - Das war der ständige Witz, den er machte. Nun, der Stein war Ordinarius in Bern, der Saitschick Privatdozent, und jener Professor, der es er­zählt hat - er war übrigens ein sehr biederer, lieber Herr, nur eben

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noch sehr in universitären Anschauungen drinnen -, der sagte: Dieser Robert Saitschick, das ist ein ganz unqualifizierbarer Kerl, über den kann man gar nicht reden. - Ich sagte: Er hat doch eigent­lich ganz nette Bücher geschrieben. - Ja, denken Sie, was der ge­macht hat, sagte der Professor. Er ist ein ganz armer Kerl, und er hat seinen Ordinarius angepumpt. Der Ordinarius hat ihm Geld gegeben, und als es ihm zu lange wurde, da hat er den Saitschick aufgefordert, das Geld zurückzugeben. Und das hat dieser in der Form getan, daß er sagte: Herr Professor, nachdem Sie das gesagt haben, bitte ich Sie, mir schriftlich auszustellen, daß Sie ein gemei­ner Kerl sind. Und - der Ordinarius hat dieses Dokument ausge­stellt! - Das sagte mir der Professor; ich erzähle nur wiederum, was er mir erzählt hat: Nun, denken Sie, ein Privatdozent, der seinen Ordinarius dazu zwingt, daß er ihm ein solches Dokument aus-stellt, das ist doch ein ganz gemeiner Kerl. - Das ist eben uni­versitäre Anschauung.

Ja nun, also ich hatte dieses Buch von Ludwig Stein zu rezensie­ren, und ich mußte dabei darauf hinweisen, daß der naturgemäße Gang der menschlichen Entwicklung in sozialer Beziehung der ist, daß die Menschen erst in Gebundenheit leben, in den Verbänden, der einzelne dann aus den Verbänden sich herausarbeitet zur Indi­vidualität. Von einer selbständigen Seite aus versuchte ich später zu formulieren das andere Gesetz, das Gesetz des sozialen Lebens, und stellte dar, daß die ganze soziale Konstitution sich nur bilden kann, wenn der einzelne im wirtschaftlichen Zusammenhange nicht lebt von demjenigen, was er selbst verdient, sondern wenn er das­jenige, was er selbst verdient, an die Gemeinschaft abgibt und wenn er wiederum aus der Gemeinschaft erhalten wird - auf welchem Wege das geschieht, zeigen ja gerade die «Kernpunkte», und ich habe das in Zürich einmal auseinandergesetzt. Nun, wer soziale Zusammenhänge heute durchschauen kann, der weiß - wenn es auch zunächst anders aussieht -, daß derjenige, der heute einen Rock für sich selber fabriziert, tatsächlich ihn nicht in Wirklichkeit produziert. Daß er ihn produziert - das ist auf einem Gebiet, wo wir heute eine so weitgehende Arbeitsteilung haben, nur eine

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Scheinvorstellung, weil das, was er produziert, von ihm selbst kon­sumiert wird. Aber dieses Gesetz des sozialen Lebens gilt durch­aus. Es liegen die Dinge ja so, daß dieses Gesetz bewußt nur ver­wirklicht werden kann von denjenigen, die sich aus den Verbänden herauslösen und zur Individualität werden. Diese beiden Dinge sind vielleicht abstrakt im Widerspruch; in der Realität fordern sie einander, gehören durchaus zusammen. Es müßte die Individualität sich aus den Verbänden erst herauslösen, damit aus der Individua­lität heraus sich das Soziale verwirklichen kann. Das ist des Rätsels Lösung in diesem Falle. Und so würden sich verschiedene schein­bare Widersprüche lösen, wenn man auf das eingehen wollte.

Es wäre natürlich heute an dasjenige, was gesagt worden ist, außerordentlich viel anzufügen; allein die Zeit ist so vorgerückt, und ich glaube, daß diese Dreigliederungsabende mit dem heutigen Abend nicht ihr Ende erreicht haben, so daß ja über derlei Dinge vielleicht ein nächstes Mal weiter wird gesprochen werden können.

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VIERTER DISKUSSIONSABEND Dornach, 16. August 1920 Die Bildung eines sozialen Urteils

Roman Boos: Sehr verehrte Anwesende, es soll heute Abend behandelt werden die Frage über die Art, wie das Urteil gebildet wird in dem dreigegliederten sozialen Organismus. Herr Dr. Steiner wird den einleitenden Vortrag halten. Ich möchte Sie schon jetzt bitten, dann an der Aussprache rege teilzunehmen, und besonders diejenigen, die zu den Problemen, die heute vorgebracht werden, etwas zu sagen haben, daß die sich dann zu Worte melden. Ich bitte nun Herrn Dr. Steiner, seinen Vortrag zu beginnen.

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Ich möchte die Diskussion des heutigen Abends einleiten durch einige Bemer­kungen über die Art und Weise, wie ein soziales Urteil, auf welches sich eine neue soziale Ordnung doch aufbauen muß, zustandekom­men kann. Ich bemerke von vornherein, daß es nicht leicht sein wird, in einer populären Weise gerade über diesen Gegenstand zu sprechen. Man sollte die Unmöglichkeit, über diesen Gegenstand in populärer Weise zu sprechen, aus den Tatsachen, innerhalb welchen wir nun schon einmal leben, eigentlich einsehen.

Sehen Sie, unsere Zeit ist im Grunde genommen in vielem ganz dagegen, daß sich der Mensch ein gesundes soziales Urteil bildet. Es ist ja richtig, daß viel heute gesprochen wird über den Menschen als soziales Wesen, über soziale Verhältnisse und soziale Forderun­gen überhaupt. Allein, dieses Reden über soziale Forderungen ist nicht gerade von einem tiefen Verständnis dessen getragen, was soziales Wesen eigentlich ist. Man braucht sich deshalb darüber nicht zu wundern, weil eigentlich erst in der Gegenwart der An­fang jener Zeit ist, in der die Menschheit reif werden soll, sich ein soziales Urteil zu bilden. Die Menschheit hat es ja in einem gewis­sen Sinn nicht nötig gehabt bis jetzt, sich ein soziales Urteil zu bilden. Warum? Der Mensch lebte natürlich immer in irgend­welchen sozialen Verhältnissen drinnen, aber er hat im Grunde

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genommen nicht - bis jetzt nicht - diese sozialen Verhältnisse aus seinem sozialen Bewußtsein heraus, aus einem wirklichen Ver­ständnis heraus geordnet. Er hat sie, wenn ich so sagen darf, geord­net erhalten durch eine Art Instinkttätigkeit. Die Menschen haben bis zu der Form des gegenwärtigen Staates, der ja für Europa im Grunde genommen nicht älter ist als drei bis vier Jahrhunderte, mehr aus ihren Instinkten heraus Zusammenhänge gebildet, und es ist eigentlich nicht dazu gekommen, aus dem Urteil, aus der Über­legung, aus dem Verständnis heraus die Gruppierung der Men­schen vorzunehmen. Aus diesem Verständnis heraus, aus einem wirklich klaren Urteil heraus will die Dreigliederung des sozialen Organismus die soziale Frage in Angriff nehmen. Damit tut sie im Grunde genommen etwas, was dem Menschen bis jetzt ganz unge­wohnt ist und was weitaus der größten Anzahl der gegenwärtigen Menschen sogar höchst unbequem ist.

Wozu ist es denn eigentlich bloß gekommen? Aus den Instink­ten der Menschen haben sich die früheren sozialen Verbände und der gegenwärtige Staatsverband heraus gebildet, und diesen Ver­band, der verquickt ist mit allerlei nationalen Instinkten noch, die­sen Verband nehmen die Menschen der Gegenwart einfach hin. Sie wachsen in diesen Verband hinein. Instinktiv wachsen sie in diesen Verband hinein und vermeiden es, darüber nachzudenken - oder wenigstens vermeiden sie es bis zu einem gewissen Grad, darüber nachzudenken. Man denkt höchstens darüber nach, wie weit man in den Angelegenheiten des Staates mitreden will, aber den Rahmen des Staates, den nimmt man hin. Man nimmt ihn hin, selbst beim radikalsten Flügel der Sozialisten; auch Lenin und Trotzki nehmen den Staat hin, den Staat, der zusammengebaut ist aus allem mög­lichen, aber instinktmäßig, an dem zuletzt der alte Zarismus gear­beitet hat. Sie nehmen ihn hin und fragen sich höchstens, wie sie innerhalb dieses Staates dasjenige ausgestalten sollen, was ihnen wünschenswert ist. Zu fragen, ob man diesen Staat so lassen soll oder ob man eine andere Gliederung vornehmen soll, die aus dem Verständnis herausgeholt ist, dazu kommt es nicht. Aber sehen Sie, gerade diese Frage: Wie kann umgewandelt werden das Instinktive

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des alten sozialen Lebens in ein aus der menschlichen Seele heraus­geborenes soziales Leben? -, das ist ja die Hauptfrage, die dem Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus zugrundeliegt. Diese Frage, sie kann gar nicht anders gelöst werden, als daß auf­taucht eine gründlichere Erkenntnis des Menschen, gründlicher als diejenige Erkenntnis des Menschen, die da war in den letzten Jahrhunderten und die da ist in der Gegenwart.

Man kann sagen, gerade aus der Frage: Wie soll der Mensch zu einem Urteil kommen darüber, wie er mit anderen Menschen zu­sammenleben soll? -, gerade aus dieser Frage ist der Impuls für die Dreigliederung des sozialen Organismus entstanden. Er ist entstanden aus einer richtigen Beobachtung desjenigen, was der Mensch in der Gegenwart fordern muß. Aber die meisten Men­schen möchten nicht im Ernste irgendwie auf die Forderungen der Gegenwart eingehen. Sie möchten dasjenige, was ist, mitneh­men und nur höchstens da oder dort mehr oder weniger radikale Verbesserungen vornehmen. Ein Beispiel: Man könnte wahr­scheinlich, sagen wir, mit einem Engländer über alles mögliche leichter reden als über die Dreigliederung des sozialen Organis­mus, wenn er, wie es ja zumeist der Fall ist, es als eine Selbstver­ständlichkeit betrachtet, daß der Einheitsstaat England ein Ideal ist, an dem als solchem nicht gerüttelt werden darf. Überall, wo man antippt, merkt man gerade dieses Vorurteil. Aber das ist nichts anderes als das Hereinragen der alten Menschheitsinstinkte in bezug auf das soziale Zusammenleben, und über die müssen wir hinauskommen. Zu einem bewußten Zusammenleben müssen wir kommen. Das ist den Menschen der Gegenwart höchst unbe­quem, denn sie wollen eigentlich nicht aus einer inneren Aktivität heraus, nicht aus einer inneren Betätigung heraus zu einem Urteil kommen. Sie möchten im Grunde genommen, wie ich schon sag­te, zwar mitreden bei dem, was schon da ist, aber sie möchten nicht wirklich durchgreifend denken, wie das, was da ist und was ja durch die letzten Katastrophen ins Absurde hineingeführt hat, wie das zurechtzubringen ist. Dieses absolut Neue der Dreiglie­derung, das will man eigentlich im Grunde genommen nicht einsehen.

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Man will sich eben eigentlich nicht herbeilassen dazu, ein soziales Urteil zu bilden.

Sehen Sie, die Frage: Wie kommt ein soziales Urteil zustan­de? -, zerfällt ja sogleich, wenn man ihr in der richtigen Weise geisteswissenschaftlich zu Leibe geht, in drei gesonderte Fragen. Und darauf beruhen eigentlich die Quellen, aus denen die Dreiglie­derung des sozialen Organismus fließt, daß diese Frage: Wie bildet man sich ein soziales Urteil? - sogleich in drei gesonderte Fragen sich spaltet. Es ist unmöglich, auf dieselbe Art im gemeinschaft­lichen Geistesleben, im sozialen Geistesleben, zu einem Urteil zu kommen wie im Rechts- oder Staatsleben oder im wirtschaftlichen Leben. Es ist neulich im «Berliner Tageblatt» ein Aufsatz erschie­nen: «Politische Scholastik». Da macht sich ein ganz gescheiter Herr - die Journalisten sind ja gewöhnlich gescheit -, er macht sich darüber lustig, wenn in der Gegenwart im öffentlichen Leben an­gestrebt wird, das Politische von dem Wirtschaftlichen zu trennen. Er würde sich selbstverständlich auch lustig machen und es eine scholastische Haarspalterei nennen, wenn man das öffentliche Le­ben in die drei Glieder, das geistige Glied, das Rechts- oder Staatsglied und das wirtschaftliche Glied trennen wollte, denn er hat einen ganz besonderen Grund, einen Grund, der dem Menschen der Gegenwart so unendlich leicht einleuchtet; er sagt: Ja, im wirk­lichen Leben ist doch das wirtschaftliche vom politischen und vom geistigen Leben nirgends getrennt; die fließen doch überall ineinan­der, also ist es scholastisch, wenn man sie trennt. Nun, meine ver­ehrten Anwesenden, ich denke, es könnte einer auch sagen, man solle den Kopf und den Rumpf und die Gliedmaßen des Menschen nicht getrennt empfinden, denn sie gehören im wirklichen Leben zusammen. Gewiß, die drei Glieder des sozialen Organismus gehö­ren auch zusammen, aber man kommt nicht zurecht, wenn man das eine mit dem anderen verwechselt - geradesowenig, wie die Natur zurechtkommen würde, wenn sie auf den Schultern [des Men­schenj einen Fuß oder eine Hand wachsen lassen würde statt eines Kopfes, wenn sie also den Kopf in Handform gestalten würde. Es ist schon einmal ein besonderes Kennzeichen dieser gescheiten

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Leute der Gegenwart, daß sie mit dem Allerdümmsten das größte Glück bei unseren Zeitgenommen haben, weil das Allerdümmste heute als das verstandesmäßig Gescheiteste der großen Menge erscheint.

Dasjenige, worauf es ankommt, ist, daß in dem Augenblick, wo die Menschheit nicht mehr instinktiv, sondern bewußter als früher eintreten soll in das öffentliche Leben, die ganze Art, wie der Mensch steht im geistigen Kulturleben drinnen, wie er steht im Rechts- und Staatsleben, wie er steht im Wirtschaftsleben, anders ist. Es ist geradeso anders, wie anders ist die Blutzirkulation im Kopfe, in den Füßen oder in den Beinen und anders ist im Herzen

- und dennoch wirken die drei gerade in der richtigen Weise zu­sammen, wenn sie in der richtigen Weise gesondert organisiert sind.

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Und auch wir müssen als Menschen in verschiedener Weise unser soziales Urteil bilden auf dem Gebiete des Geisteslebens, auf dem Gebiete des Rechts- oder Staatslebens und auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens. Aber da muß man die Wege finden, wie man zu einem wirklich gesunden Urteil auf den drei Gebieten kommt. Es ist im allgemeinen dieser Weg - im Grunde genommen sind es drei Wege - wirklich recht stark durch die Vorurteile der Zeit verlegt. Da müssen erst viele Hindernisse aus dem Wege geräumt werden.

Um zu einem gesunden sozialen Urteil zu kommen im geistigen Leben, muß man sich klar sein darüber, daß der heutige Mensch ganz und gar ungeeignet ist, sich die Frage auch nur vorzulegen:

Was bedeutet denn Soziales im geistigen Leben? Was bedeutet

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menschliches Zusammenleben in geistiger Beziehung? Wir haben noch keine Menschenkunde, die, ich möchte gar nicht einmal sagen, Antwort gibt auf solche Fragen, sondern ich möchte nur sagen, die anregt zu solchen Fragen. Diese Menschenkunde muß durch die Geisteswissenschaft erst geschaffen werden und in der Menschheit populär gemacht werden. Man muß ordentlich und vernünftig die Frage aufwerfen: Was ist es denn für ein Unter­schied, [ob ich einem Menschen gegenüberstehe oder] ob ich als einsamer Naturbetrachter nur die Natur mir gegenüber habe, also mir Erkenntnisse von dieser Natur so verschaffe, indem ich als Mensch direkt mich der Natur als Beobachter gegenüberstelle? -Ich trete in ein gewisses Wechselverhältnis zur Natur; ich lasse die Natur Eindrücke auf mich machen; ich verarbeite diese Eindrücke, bilde mir innerlich Vorstellungen über diese Eindrücke, indem ich in ein Wechselverhältnis zur Natur trete; ich nehme etwas auf von außen, verarbeite es innerlich. Das ist im Grunde genommen die einfache Tatsache. Äußerlich angesehen sieht es ebenso aus, wenn ich einem Menschen zuhöre, also zu ihm in eine geistige Beziehung trete, in seinen Worten den Sinn finde, den er in sie hineinlegt. Da machen die Worte des Menschen auf mich einen Eindruck; ich verarbeite sie wieder innerlich zu Vorstellungen. Ich trete in Wech­selwirkung zu anderen Menschen. Man könnte glauben: Ob ich nun zur Natur in Wechselwirkung trete oder ob ich zu anderen Menschen in Wechselwirkung trete, das ist im Grunde genommen einerlei. Das ist es eben nicht. Derjenige, der behauptet, das sei einerlei, der hat ja nicht einmal den Blick auf diese Sache in der richtigen Weise gelenkt. Man muß schon auf diese Dinge auch etwas Aufmerksamkeit wenden.

Sehen Sie, ich möchte nun ein konkretes Beispiel anführen. Es gibt im deutschen Geistesleben eine Tatsache, ohne die dieses deut­sche Geistesleben gar nicht denkbar ist. Wenn man das Geistesle­ben eines gewissen Gebietes schildert, dann schildert man gewöhn­lich - je nachdem man nun gerade eine Veranlassung hat -, man schildert entweder die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit, wo sich dieses Geistesleben herausentwickelt hat, oder man schildert

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einzelne große Persönlichkeiten, die aus ihren genialen Leistungen heraus dieses Geistesleben befruchtet haben. Aber ich meine jetzt eine Tatsache, die ganz anderer Natur ist und ohne die die beson­dere Art des deutschen Geisteslebens im 19. Jahrhundert gar nicht zu denken ist. Das ist, ich möchte sagen ein Urphänomen sozialen geistigen Zusammenlebens: es ist das zehnjährige, intime Verhältnis von Goethe und Schiller. Man kann nicht sagen, Goethe habe Schiller etwas gegeben oder Schiller habe Goethe etwas gegeben und sie hätten zusammengewirkt. Damit trifft man nicht die Tat­sache, die ich meine, sondern es ist etwas anderes. Schiller ist durch Goethe etwas geworden, was er allein niemals geworden wäre. Goethe ist durch Schiller etwas geworden, was er allein niemals geworden wäre. Und hat man bloß den Goethe, und hat man bloß den Schiller und denkt sich ihre Wirkung auf das deutsche Volk -es kommt nicht das heraus, was in Wirklichkeit geworden ist. Denn hat man bloß Goethe, hat man bloß Schiller, und bedenkt man die Wirkungen, die aus beiden ausströmen, so gibt es noch nicht das, was geworden ist, sondern es entsteht aus dem Zusam­menfluß der beiden ein Drittes, ganz Unsichtbares, das aber von ungeheuer starker Wirkung ist (Es wird an die Tafel gezeichnet). Sehen Sie, das ist ein Urphänomen sozialen Zusammenwirkens auf geistigem Gebiete.

Was liegt denn da eigentlich zugrunde? Solche Dinge studiert die heutige, grobe Wissenschaft nicht, weil die heutige Wissenschaft überhaupt nicht bis zum Menschen herandringt. Geisteswissen­schaft wird solche Dinge studieren und dadurch erst Licht bringen auch in das soziale geistige Zusammenleben der Menschen. Diejeni­gen von Ihnen, welche etwas von Geisteswissenschaft gehört haben, wissen dasjenige, was ich jetzt nur kurz andeuten will. Geisteswis­senschaft zeigt, daß die Entwicklung des Menschen eine wirkliche, reale Tatsache ist. Sie zeigt, daß ein Mensch, indem er sich ent­wickelt, immer reifer und reifer wird, immer anderes und anderes aus den Tiefen seines Wesens hervorbringt. Und wenn das soziale Leben dieses Hervorbringen unterdrückt, so ist dieses soziale Leben eben falsch und muß in andere Bahnen gebracht werden.

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Nun, Goethe und Schiller waren beide sozial im höchsten Sinne beglückte Individualitäten, Persönlichkeiten. Wann ist denn dasje­nige eingetreten, von dem man sagen kann, Schiller habe Goethe am besten verstanden, Goethe habe Schiller am besten verstanden? Sie haben sich am besten miteinander unterhalten können, am be­sten miteinander ihre Ideen austauschen können und etwas Ge­meinsames, eben dieses Unsichtbare, zustandegebracht, was dann wiederum fortgewirkt hat und was eine der bedeutendsten Tatsa­chen im deutschen Geistesleben ist. Ich habe mich viel bemüht, das Jahr des intimsten Zusammenlebens der beiden, da, wo die Ideen des einen, ich möchte sagen am gründlichsten in die Ideen des anderen eingedrungen sind, herauszubringen. Ich finde, es ist so um das Jahr 1795 oder 1796 (Es wird an die Tafel geschrieben). 1796, da ist wirklich in diesem Zusammenwirken von Goethe und Schiller etwas ganz Besonderes da.

Wenn man nun nachforscht, warum just Schiller in diesem Jahr Goethe am besten verstanden hat und warum Goethe sich am be­sten hat verstehen lassen können von Schiller just in diesem Jahre, so kommt man darauf. Nicht wahr, Schiller ist 1759 geboren; er war also im Jahre 1796 siebenunddreißig Jahre alt. Goethe war zehn Jahre älter; er war also siebenundvierzig Jahre alt. Nun zeigt uns die Geisteswissenschaft, daß es verschiedene Lebensknoten­punkte im menschlichen Leben gibt; sie werden heute gewöhnlich nicht berücksichtigt: der Zahnwechsel - der Mensch wird etwas anderes, indem er den Zahnwechsel übersteht, auch in geistig­seelischer Beziehung -, die Geschlechtsreife, spätere Übergänge -sie sind weniger bemerklich, aber sie sind doch da im 28. Jahre, wiederum im 35. und im 42. Jahr. Wenn man wirklich dieses innere menschliche Leben beobachten kann, so weiß man, daß der Anfang der 40er Jahre, ich möchte sagen im Durchschnitt das 42. Jahr, wenn der Mensch sich innerlich entwickelt, wenn er innerlich ein Geistesleben durchmacht, dieses 42. Jahr etwas ganz Besonderes ist. Zwischen dem 35. Jahr und dem 42. Jahr wird das reif im Menschen, was man die Bewußtseinsseele nennen kann. Und sie ist ganz reif geworden, diese urteilende Bewußtseinsseele, diese bewußte

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Seele, die ganz aus dem Ich heraus zur Welt in ein Verhältnis tritt - diese Bewußtseinsseele wird da reif. Schiller mit 37 Jahren war fünf Jahre jünger als 42, Goethe mit 47 Jahren war fünf Jahre älter als 42. Goethe hatte das 42. Jahr ebensoweit überschritten wie Schiller darunter war.

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Schiller stand in der Entwicklung der Bewußtseinsseele eben darinnen, Goethe war darüber hinaus; sie waren in gleichem Ab­stand davon. Was bedeutet denn das? Das bedeutet in bezug auf das Seelische wirklich einen ähnlichen Gegensatz - ich weiß, solche Vergleiche sind gewagt, aber unsere Sprache ist ja auch grob, und man kann deshalb nur gewagte Vergleiche gebrauchen, wenn man wichtige, fundamentale Tatsachen anzuführen hat -, das bedeutet für das Seelisch-Geistige einen ähnlichen Gegensatz wie das Männ­liche und Weibliche für das Physisch-Geschlechtliche. In bezug auf die physische Entwicklung sind eben die Sexualitäten von unglei­cher Entwicklung. Ich will jetzt aus Höflichkeit gegen die Damen, und um die Herren nicht hochmütig zu machen, nicht sagen, wel­che Sexualität eben eine spätere Entwicklung ist, welche Sexualität eine frühere Entwicklung ist, aber sie sind von einer verschiedenen zeitlichen Entwicklung. Es ist ja nicht der ganze Mensch, der Kopf nimmt nicht teil daran, also brauchen sich diejenigen ja nicht ge­kränkt zu fühlen, deren Sexualität in einer früheren Entwicklungs­stufe gedacht werden muß. Aber so ist es nicht in bezug auf das Seelische; da kann das Frühere mit dem Späteren zusammenkom­men, dann entsteht eine ganz besondere Befruchtung. Dann entsteht

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etwas, was eben nur durch diese verschiedene Artung zu verschiedenen Zeiten entstehen kann. Das ist natürlich ein beson­derer Fall; da wird im sozialen Zusammenleben das Wechselspiel von Seele zu Seele in einer besonderen Art gebildet. Immer, wenn Menschen aufeinander wirken, entsteht etwas, was niemals durch die bloße Wechselwirkung von Mensch und der betrachteten Na­tur entstehen kann. Sie sehen, man bekommt einen gewissen Be­griff, was das eigentlich heißt, dasjenige auf sich wirken zu lassen, was nicht von der Natur, sondern was von einem anderen Men­schen ausgeht.

Mir war das ein ganz besonderes Problem geworden, als ich mich zum Beispiel in Nietzsche vertiefte. Nietzsche hatte etwas, was jetzt schon eine ganze Anzahl von Menschen haben, die eine ähnliche Vorbildung haben, wie Nietzsche sie hatte; er hatte es eben nur in einem ganz besonders radikalen Sinn. Er hat zum Beispiel Philosophen betrachtet, die alten griechischen Philoso­phen, er hat Schopenhauer betrachtet, er hat Eduard von Hartmann betrachtet und so weiter. Man kann sagen, Nietzsche interessierte eigentlich niemals der Inhalt einer Philosophie. Dieser Inhalt der Philosophie, dieser Inhalt der Weltanschauung, der ist ihm eigent­lich höchst gleichgültig; aber ihn interessierte der Mensch. Was der Thales gerade gedacht hat als Inhalt seiner Weltanschauung, das ist ihm gleichgültig, aber wie dieser Mensch Thales zu seinen Begrif­fen sich heranlebt, das interessiert ihn. Das interessiert ihn bei Heraklit, nicht der Inhalt der Philosophie des Heraklit interessiert ihn. Gerade das, was vom Menschen kommt, das wirkt auf ihn, und dadurch zeigt sich Nietzsche als ein besonders moderner Charak­ter. Das wird aber allgemeine Konstitution des menschlichen See­lenlebens werden. Heute streiten sich die Menschen noch vielfach über Meinungen. Sie werden einmal aufhören müssen, über Mei­nungen zu streiten, aus dem einfachen Grunde, weil jeder seine eigene Meinung haben muß. Geradeso, wie wenn man einen Baum hat und den von verschiedenen Seiten fotografiert, so ist es immer noch derselbe Baum, aber die Fotografien sehen ganz verschieden aus; so kann jeder seine eigene Meinung haben, je nachdem - es

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kommt nur auf den Standpunkt an, auf den er sich stellt. Wenn er vernünftig ist im heutigen Sinne, so streitet er sich gar nicht mehr über Meinungen, sondern er findet höchstens manche Meinungen gesund und manche krank. Er streitet nicht mehr über Meinungen. Es wäre ebenso, wie wenn einer verschiedene Fotografien ansieht und dann sagte: Ja, die sind ja ganz verschieden, diese sind richtig, und diese sind falsch. - Es kann einen höchstens interessieren, wie einer zu seiner Meinung kommt: ob das nun besonders geistreich oder töricht ist, ob es niedrig ist und nichts fruchtet oder ob es hoch ist und für die Menschheit förderlich ist - das kann einen interessieren.

Es handelt sich heute darum, wirklich den Blick hell zu machen, wie Mensch zu Mensch steht im geistigen sozialen Zusammenle­ben, wie der Mensch dem Menschen etwas zu geben hat. Es tritt einem das ja ganz besonders dann entgegen, wenn man sieht, was der Mensch als aufwachsendes Kind empfangen muß von dem anderen Menschen, der seine Lehrerpersönlichkeit ist. Da sind noch ganz andere Kräfte im Spiel als zwischen Goethe und Schiller, wenn sie auch nicht in eine so hohe Lage hinaufversetzt sind, aber es sind kompliziertere Kräfte dabei im Spiel. Das, was ich jetzt hier entwickle, das gibt eine Möglichkeit, den Weg aufzufinden, wie man sich auf dem Gebiete des Geisteslebens zu einem wirklich sozialen Urteil aufschwingen kann.

Sehen Sie, ich sagte schon, ich kann heute, gerade heute, nicht besonders populär sprechen, weil ich ja, wenn ich diese Fragen erörtern will, vom Standpunkte einer heute noch unbekannten Menschenkunde, wenigstens in weiteren Kreisen noch unbekann­ten Menschenkunde, ausgehen muß. Ich habe in meinem Buche «Von Seelenrätseln» darauf aufmerksam gemacht, wie der Mensch ein dreigliedriges Wesen ist: er ist Kopfmensch oder Nervensinnes­mensch, rhythmischer Mensch, Stoffwechselmensch. Der Nerven­sinnesmensch umfaßt alles dasjenige, was die Sinne sind und was die Organe des Hauptes sind. Der rhythmische Mensch, der Rumpfmensch könnte man auch sagen, umfaßt dasjenige, was rhythmisch ist im Menschen, was Herzbewegung, Lungenbewegung

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ist und so weiter. Der dritte, der Stoffwechselmensch, umfaßt alles übrige.

Diese drei Glieder bestehen in der menschlichen Natur; sie sind in einem gewissen Sinne voneinander grundverschieden, aber man kommt schwer auf ihre eigentlichen Verschiedenheiten. Man kann da beim rhythmischen Menschen das folgende hervorheben. - Von dem Rhythmischen im Menschen werden Sie später noch allerlei hören am heutigen Abend, wenn Dr. Boos sprechen wird über die Bildung des sozialen Urteils im Rechts- oder Staatsleben, was dann den zweiten Teil der Einleitung ausmachen wird. Dr. Boos wird uber dasjenige, was ihm besonders naheliegt, über die Bildung des sozialen Urteils im zweiten Gliede des sozialen Organismus, Rechts- und Staatsleben, sprechen. - Jetzt möchte ich aber das folgende hervorheben: Dasjenige, was rhythmische Tätigkeit im Menschen ist, das tritt uns ja ganz besonders stark entgegen, wenn wir auffassen, wie der Mensch die äußere Luft einatmet, sie in sich verarbeitet, wie er Sauerstoff einatmet und Kohlensäure ausatmet. Einatmung - Ausatmung, Einatmung - Ausatmung: das ist zu­nächst einer der Rhythmen, die im Menschen tätig sind. Es ist ein verhältnismäßig leicht zu begreifender Vorgang: Einatmen - Aus­atmen = rhythmische Tätigkeit.

Zu den anderen beiden Tätigkeiten kommt man vielleicht nur, wenn man ausgeht von dieser rhythmischen Tätigkeit. In gewissem Sinne ist eigentlich der ganze Mensch zur rhythmischen Tätigkeit veranlagt. Aber man erkennt mit der gewöhnlichen Wissenschaft die Nervensinnestätigkeit, die eigentliche Hauptestätigkeit, ja gar nicht. Man kann sie nicht vergleichen mit der Lungen- und Herz­tätigkeit, mit der rhythmischen Tätigkeit. Ich kann nur etwas an­führen, was denjenigen, die mit Geisteswissenschaft, mit Anthro­posophie weniger bekannt sind, vielleicht paradox erscheint, was aber von einer wirklichen Wissenschaft erhärtet werden wird. Zu­künftig wird das, was ich jetzt sage, als eine ganz exakte wissen­schaftliche Tatsache in der Welt dastehen, wenn man die notwen­digen Verhältnisse durchschauen wird. Bei Ein- und Ausatmung, da ist ein gewisses Gleichgewicht zunächst vorhanden. Dieses

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Gleichgewicht, das da vorhanden ist, das könnte man bildhaft dar­stellen wie ein Pendel, das hin- und hergeht. Es geht auf der einen Seite ebenso hoch hinauf wie auf der anderen Seite. Es schwingt hin und her. So ist auch ein Gleichgewicht vorhanden zwischen Ein­atmung und Ausatmung, Einatmen und Ausatmen und so weiter.

#Bild s. 65

Wenn nun der Mensch nicht mit anderen Menschen geistig­seelisch zusammenleben würde, wenn der Mensch einsam wäre und nur die Natur beobachten könnte, also nur in ein Wechselver­hältnis zur Natur treten könnte, die Natur anschauen und sie in­nerlich zu Vorstellungen verarbeiten könnte, dann würde etwas ganz Besonderes mit dem Menschen geschehen. Wie gesagt, heute erscheint das den Menschen höchst paradox, aber es ist doch so: es würde nämlich sein Kopf zu leicht werden. Indem wir die Natur beobachten, ist ja eine Tätigkeit vorhanden. Wir tun nicht nichts, indem wir die Natur beobachten; da ist alles in uns in einer gewis­sen Tätigkeit. Diese Tätigkeit, die ist gewissermaßen eine am Men­schenhaupte saugende Tätigkeit - nicht am ganzen Organismus, aber am Menschenhaupt saugende Tätigkeit. Und diese saugende Tätigkeit muß ausgeglichen werden, sonst würde unser Kopf zu leicht werden; wir würden ohnmächtig werden. Sie wird dadurch ausgeglichen, daß gewissermaßen der zu leicht gewordene Kopf wiederum einen Stoffwechsel durchmacht, Blut - Ernährung, und das alles schießt zum Kopfe hin. Und so haben wir, indem wir die Natur beobachten, fortwährend ein Zuleichtwerden des Kopfes und ein wiederum Schwerwerden dadurch, daß die Verdauungs­tätigkeit in den Kopf hinaufgeht.

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Dieser Ausgleich muß stattfinden. Es ist eine höhere rhythmi­sche Tätigkeit. Aber diese Tätigkeit würde höchst einseitig werden, wenn der Mensch nur der Natur gegenüberstünde. Der Mensch würde in der Tat zu leicht werden in seinem Kopfe, wenn er nur außen der Natur gegenüberstünde; er würde nicht von innen e­nügend ausgleichende Stoffwechseltätigkeit in den Kopf hina f-senden. Das tut er in ausreichendem Maße, wenn er mit seinen Mitmenschen in ein Verhältnis tritt.

Daher, sehen Sie, kommt es, daß Sie ein gewisses Wohlgefallen fühlen, wenn Sie mit Ihren Mitmenschen in ein Verhältnis treten, in Gedanken- oder Ideenaustausch treten oder wenn sie belehrt werden von ihnen oder dergleichen. Es ist etwas anderes, ob man durch die kalte Natur geht oder ob man einem Menschen gegenübersteht, der einem seine Ideen äußert. Wenn man einem Menschen gegenüber­steht, der einem seine Ideen äußert - man soll das nur einmal in sorg­fältiger Selbstbeobachtung sich vorlegen -, dann hat man ein gewis­ses Wohlgefühl. Und der, der dieses Wohlgefühl analysieren kann, der findet eine Ähnlichkeit zwischen diesem Wohlgefühl und dem Gefühl, das er hat, wenn er verdaut. Es ist eine große Ähnlichkeit, nur geht das eine Gefühl nach dem Magen hin, das andere geht nach dem Kopf hinauf. Sehen Sie, das ist gerade das Eigentümliche des Materialismus: Diese feinen materiellen Vorgänge im Menschenleibe bleiben dem Materialismus verschlossen. Daß da eine verborgene Verdauungstätigkeit nach dem Kopfe gerade dadurch stattfindet, daß man einem Menschen gegenübersitzt, mit dem man redet, mit

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dem man Ideen austauscht, das merken die Menschen durch die heu­tige grobe Wissenschaft nicht. Daher können sie auch soziale Fragen, Fragen des Menschenzusammenhanges, selbst wenn sie ganz trivial sind, nicht beantworten.

Dem Geisteswissenschaftler, dem Anthroposophen, ist es ganz klar, warum die Kaffeeschwestern so furchtbar gern sich zusam­mensetzen. Dieses Sich-Zusammensetzen geschieht nicht bloß des­halb, weil ihnen der Kaffee schmeckt, sondern dieses Sich-Zusam­mensetzen geschieht aus dem Grunde, weil sie dann sich selber verdauen. Es geht die Verdauung nach dem Kopfe, und das fühlen sie als Wohlgefühl. Und indem so Kaffeeschwester neben Kaffee­schwester sitzt oder auch, ich kann nicht sagen Kaffeebruder, aber Skatbruder neben Skatbruder beim Dämmerschoppen und so wei­ter sitzt, da findet natürlich dasselbe unter Männern statt. Ich will niemanden beleidigen, aber indem die Leute sich so zusammenset­zen, ja, da fühlen sie diese nach dem Haupte gehende Verdauungs­tätigkeit, und das bedeutet ein gewisses Wohlgefühl. Das, was da geschieht, das ist für das Menschenleben wirklich notwendig. Das ist wirklich notwendig, nur kann man es zu höherer Betätigung verwenden als gerade just zum Dämmerschoppen- und zum Kaffeeschwesterntum. Geradeso, wie das Blut nicht stillstehen darf im Menschen, so darf dasjenige, was da im Haupte sich abspielt, nicht stillstehen. Es würde ein verkümmerter Rhythmus eintreten im Nervensinnessystem, wenn wir nicht in der richtigen Weise mit den Menschen draußen in geistigem Zusammenhange stünden. Unser richtiges Menschentum, daß wir richtig Menschen werden, das hängt davon ab, daß wir mit den anderen Menschen in einen vernünftigen Zusammenhang kommen.

Und so kann man sich erst ein soziales Urteil bilden, wenn man merkt, was für den Menschen notwendig ist - ebenso notwendig ist, wie daß er geboren wird. Wenn man merkt, daß der Mensch mit anderen Menschen in einen geistig-seelischen Zusammenhang kommen muß, dann erst kann man sich ein richtiges soziales Urteil bilden über die Art und Weise, wie das geistige Glied des sozialen Organismus gestaltet werden muß. Denn dann weiß man, daß dieses

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soziale Zusammenleben ja darauf beruht, daß in einen richtigen individuellen Zusammenhang Mensch mit Mensch kommen muß, daß da nicht eingreifen darf irgendein abstraktes Staatsleben, daß da nichts von oben organisiert werden darf, sondern daß alles davon abhängt, daß das Ursprüngliche im Menschen an das Ur­sprüngliche im anderen Menschen herantreten kann, daß also wirk­liche, echte Freiheit, unmittelbare Freiheit von Individuum zu In­dividuum da sei, sei es im sozialen Zusammenleben des Lehrers mit seinen Schülern, sei es im sozialen Zusammenleben überhaupt. Die Menschen verkümmern, wenn Schulverordnungen oder Verord­nungen über das geistige Zusammenleben unmöglich machen, daß das, was in dem einen Menschen ist, befruchtend hinüberwirkt auf das, was in dem anderen Menschen ist. Ein wirkliches soziales Urteil auf dem Gebiete des geistigen Lebens kann sich nur dann bilden, wenn das, was den Menschen über sich selbst erhebt, was im Menschen mehr ist als im andern Menschen, wenn das auf den anderen Menschen wirken kann und wenn das wiederum, was im andern Menschen mehr ist als in ihm selber, auf ihn zurückwirken kann. Man begreift nur die Notwendigkeit einer Freiheit des Gei­steslebens, wenn man einsieht, wie dieses menschliche Zusammen­leben sich in geistig-seelischer Beziehung nur gestalten kann, wenn das, was durch die Geburt mit uns ins Dasein tritt und was sich durch unsere Anlagen entwickelt, in freier Weise auf den anderen Menschen wirken kann. Daher muß das geistige Glied des sozialen Organismus auch nur innerhalb seiner selbst verwaltet werden. Derjenige, der tätig ist im geistigen Leben, muß zu gleicher Zeit die Verwaltung des geistigen Lebens in der Hand haben. Also: Selbst­verwaltung innerhalb dieses geistigen Gebietes. Sehen Sie, da hat man das ganz Besondere dieses Geisteslebens, was aus einer wirk­lichen Menschenkunde heraus sich ergibt.

Das Rechtsleben, das werden Sie dann von Dr. Boos genauer beschrieben hören von denselben Gesichtspunkten aus. Das Rechtsleben verläuft so: Wenn die Menschheit durch die Forderun­gen der Gegenwart immer mehr und mehr zusteuert zu einem demokratischen Staate, so daß gegenübersteht der mündig gewordene

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Mensch dem anderen mündig gewordenen Menschen, da hat man es noch nicht zu tun mit dem, was in einer solchen Weise hinüberwirkt von dem einen Menschen auf den anderen Menschen, wie ich das für das Geistesleben geschildert habe, wo die Verdau­ungstätigkeit in den Kopf hinaufschießt. Im Rechtsleben, wo Voll-mensch dem Vollmenschen gegenübersteht, geschehen in den Men­schen keine solchen Veränderungen wie im Geistesleben, sondern es geschehen nur Wechselwirkungen zwischen Mensch und Mensch; im Geistesleben aber fließt die Wirkung so hinüber, daß in dem anderen Menschen etwas Neues entsteht. Im Rechtsleben ist es so, daß gerade auf das Mittlere des Menschen gewirkt wird, auf dasjenige, was im eigentlichen Rhythmischen drinnensteht. Sie werden das aus den späteren Auseinandersetzungen begreifen.

Ich will jetzt, indem ich dieses Mittlere auslasse, übergehen auf das Wirtschaftsleben, auf das dritte Glied des sozialen Organismus. Dieses Wirtschaftsleben erfaßt man ja eigentlich heute auch nicht so, daß aus diesem Erfassen ein wirkliches soziales Urteil sich bilden kann. Was kann man denn eigentlich nur Wirtschaftsleben nennen? Sehen Sie, man kann das Wirtschaftsleben scharf abgren­zen, wenn man es im sozialen Organismus drinnen denkt. Nicht wahr, nehmen wir irgendeine Tiergattung. Man kann nicht sagen, daß sie in einer sozialen Gemeinschaft lebt, die menschlicher Art ist, denn die Tiergattung findet dasjenige, was sie begehrt, in der Natur selber. Sie nimmt das, was sie braucht, um weiterzuleben, von der äußeren Natur auf; was zunächst draußen in der Natur ist, geht in das Tier über, das Tier verarbeitet es, gibt es wieder ab -wiederum eine Art Wechselwirkung. Sie sehen: Da haben wir etwas, was, ich möchte sagen, in die Natur hineinorganisiert ist. Solch eine Tiergattung setzt gewissermaßen das Leben der Natur nur in sich selber fort. Da wird nicht irgend etwas in der Natur verändert. Das Tier nimmt das zu seiner Nahrung auf, was in der Natur ist - so, wie es in der Natur ist zunächst. Wir können da einen vollständigen Gegensatz finden, und dieser Gegensatz ist bei den Zootieren vorhanden, die alles, was sie an Nahrung bekom­men, durch die Menschen zugeführt bekommen, wo also menschliche

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Vernunft dem Tiere die Nahrung zuführt, wo die menschliche Organisation das erst beurteilt, was dann die Tiere bekommen. Dadurch werden die Tiere eigentlich ganz herausgerissen aus der Natur. Die Haustiere sind ja auch ganz herausgerissen aus der Natur; sie sind gewissermaßen so verändert, daß sie in ihr Inneres nicht nur bloß natürliche Nahrungsstoffe aufnehmen, sondern daß durch die menschliche Vernunft zubereitete Nahrung in sie hinein­gepfropft wird. Die Haustiere werden ein Ausdrucksmittel desje­nigen, was gewissermaßen geistig verarbeitet ist, aber sie tun selber nichts daran. Die Tiere sind also entweder so, daß sie das, was in der Natur ist, in ihre eigene Tätigkeit unverändert aufnehmen, oder, wenn die Menschen ihnen etwas zuführen, so können sie nichts dazu beitragen; sie arbeiten nicht mit an der Zubereitung desjenigen, was ihnen da zugeführt wird.

Mitten drinnen zwischen diesen zwei Extremen steht die menschliche wirtschaftliche Tätigkeit, insofern sie im sozialen Or­ganismus lebt, höchstens dann nicht, wenn der Mensch auf der niederen Stufe eines Jägervolkes ist, wenn er dasjenige, was in der Natur ist, noch unverändert nimmt, falls er es roh genießt, was er heute eigentlich schon nicht mehr tut. Aber in dem Augenblicke, wo menschliche Kultur in dieser Beziehung anfängt, führt sich der Mensch etwas zu, was er schon selber zubereitet, wo er die Natur verändert. Das tut das Tier nicht, und wenn es Haustier ist, wird ihm etwas Fremdes zugeführt. Das ist eigentlich wirtschaftliche Tätigkeit: das, was da der Mensch in Gemeinschaft mit der Natur vollführt, indem er sich die veränderte Natur zuführt. Man kann sagen, alle wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen liegt eigentlich zwischen diesen zwei Extremen: zwischen dem, was das Tier, das noch kein soziales Wesen ist, unverändert aus der Natur nimmt, und dem, was das Haustier aufnimmt, das nun ganz und gar im Stall gefüttert wird, nur durch das, was die Menschen ihm zuberei­ten. Und wenn der Mensch arbeitet, ist er mit seiner wirtschaft­lichen Tätigkeit zwischen seinem Inneren und der Natur drinnen. Und dieses Wirtschaftsleben, das wir im sozialen Organismus kennen: es ist eigentlich nur eine systematische Zusammenfassung

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desjenigen, was die einzelnen Menschen eben nach der Richtung tun, die ich charakterisiert habe.

Vergleichen wir einmal in sozialer Beziehung das wirtschaftliche Leben mit dem geistigen Leben, das wir ja gerade charakterisiert haben. Das geistige Leben beruht darauf, daß der einzelne Mensch gewissermaßen zuviel hat. Dasjenige, was die Menschen geistig besitzen, geben sie ja zumeist sehr gern ab; da sind sie freigebig, und sie überliefern das gern den anderen. Gegenüber demjenigen, was materieller Besitz ist, da sind die Menschen nicht im gleichen Sinne freigebig; den materiellen Besitz behalten sie lieber für sich selbst. Aber das, was sie geistig besitzen, das geben sie ganz gern ab, da sind sie freigebig. Das beruht aber auf einem guten Welt­gesetz. Der Mensch kann eben über sich hinausgehen in geistiger Beziehung; und in der Weise, wie ich es eben geschildert habe, ist es dem anderen förderlich, wenn der Mensch ihm etwas gibt, auch wenn er wiederum von dem anderen nichts entgegennimmt. Das heißt, indem der Mensch in geistiger Beziehung in das soziale Leben eintritt, hat er, ich möchte sagen, in seinem Innern zuviel an Urteil, zuviel an Vorstellungen; es drängt ihn abzugeben, er muß sich den anderen mitteilen.

Im Wirtschaftsleben ist es genau umgekehrt. Aber man kommt darauf nur, wenn man eben von Erfahrungen ausgeht, nicht von irgendeiner theoretisierenden Wissenschaft. Im Wirtschaftsleben kann man nämlich nicht auf dieselbe Weise wie im Geistesleben -also von Mensch zu Mensch - zu einem Urteil kommen, sondern im Wirtschaftsleben kann man nur zu einem Urteil kommen, wenn man als einzelner Mensch oder auch als in irgendeine Assoziation hineingestellter Mensch wiederum einer anderen Assoziation ge­genübersteht. Deshalb fordert der Impuls für die Dreigliederung des sozialen Organismus das Assoziative: Die Menschen müssen sich nach ihren Berufszweigen oder nach Produzenten, Konsumen­ten und so weiter assoziieren. Es wird im Wirtschaftsleben Asso­ziation der Assoziation gegenüberstehen. Vergleichen wir das mit dem einzelnen Menschen, der meinetwillen viel Geist im Kopfe hat; diesen Geist kann er vielen Menschen mitteilen. Der eine

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nimmt's besser, der andere schlechter auf, aber er kann diesen Geist, den er hat, vielen Menschen mitteilen. Da ist die Möglichkeit also vorhanden, daß der Mensch dasjenige, was er an Geist besitzt, an viele Menschen abgibt. Im Wirtschaftsleben ist das genau um­gekehrt.

Vom Wirtschaftsleben haben wir zunachst überhaupt nichts im Kopfe. Dasjenige, was ich zu einigen von Ihnen schon gestern ge­sagt habe, das ist durchaus wahr: Wenn man urteilen will über das, was im Wirtschaftsleben richtig oder unrichtig ist, gesund oder ungesund ist, und wenn man das nur herausspinnen will aus dem Inneren, dann gleicht man eben jenem Jean Paulschen Menschen, der mitten in der Nacht im finstern Zimmer aufwacht und nach­denkt, wieviel Uhr es ist, der also herauskriegen will im finsteren immer, wo er nichts sieht und nichts hört, wieviel Uhr es ist. Man kann nicht durch Nachdenken herauskriegen, wieviel Uhr es ist. Man kann ebensowenig durch Nachdenken oder durch innere Entwicklung zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen. Man kann nicht einmal zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen, wenn man mit einem anderen Menschen verhandelt. Goethe und Schiller haben gut dasjenige, was Geistig-Seelisches ist, miteinander austau­schen können. Zwei Menschen miteinander können nicht zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen. Zu einem wirtschaftlichen Urteile kann man nur kommen, wenn man einer Gruppe von Menschen gegenübersteht, die Erfahrungen gemacht haben, jeder auf seinem Gebiete, und wenn man das dann als Urteil aufnimmt, was sie als Assoziation, als Gruppe, herausgekriegt haben. Geradeso, wie man auf die Uhr schauen muß, wenn man wissen will, wieviel Uhr es ist, muß man, um zu einem wirtschaftlichen Urteil zu kommen, die Erfahrungen, die niedergelegten Erfahrungen einer Assoziation, aufnehmen. Und man kann sehr schöne Dinge über dasjenige hören, was die Pflicht des einen Menschen gegenüber dem anderen Menschen ist, was das Recht des einen Menschen gegenüber dem anderen Menschen ist, wenn er dem anderen gegenübersteht; aber man kann nicht zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen, wenn bloß ein Mensch dem anderen gegenübersteht, sondern man kann

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nur zu einem wirtschaftlichen Urteil kommen, wenn man das auf­faßt, was in Assoziationen, in Menschengruppen, im gegenseitigen wirtschaftlichen Verkehr als wirtschaftliche Erfahrung niedergelegt ist. Da muß das gerade Gegenteil von dem vorhanden sein, wie man sozial geistig-seelisch zusammenlebt. Im Geistig-Seelischen muß der einzelne Mensch das, was er in seinem Innern entwickelt, an die Menschen abgeben. Im Wirtschaftlichen muß der einzelne Mensch das, was die Erfahrungen der Assoziation sind, aufnehmen. Wenn ich mir ein wirtschaftliches Urteil bilden will, kann ich mir das nur bilden, wenn ich bei Assoziationen angefragt habe, was sie mit diesem oder jenem Artikel in der Produktion, im gegenseitigen Verkehr und so weiter für Erfahrungen gemacht haben. Und dar­auf wird es ankommen bei der Bildung eines sozialen Urteils auf wirtschaftlichem Gebiete, daß solche Assoziationen gerade den Wirtschaftskörper des dreigliedrigen sozialen Organismus ausma­chen und daß jeder einzelne solchen Assoziationen angehört. Um zu einem wirtschaftlichen Urteil zu kommen, aus dem heraus man wiederum handeln kann, müssen die wirtschaftlichen Erfahrungen der Assoziationen vorliegen. Was wir Wissenschaftliches, Erkennt­nismäßiges erfahren sollen, das müssen wir im freien Geistesleben durch die einzelnen individuellen Erfahrungen bekommen. Was uns anregen soll zum wirtschaftlichen Wollen, das muß der einzel­ne erfahren, indem er von Assoziationen die Erfahrungen über­liefert bekommt. Nur durch Zusammenschluß von Menschen, die in wirtschaftlicher Tätigkeit sind, können wir selber zu einem wirtschaftlichen Wollen kommen.

Radikal voneinander verschieden ist die Bildung des Urteiles im geistig-seelischen Gebiete und im wirtschaftlichen Gebiete. Und gedeihlich entwickeln kann sich ein Wirtschaftsleben neben einem Geistesleben nicht, wenn die beiden Gebiete Verordnungen von einer und derselben Stelle kriegen, sondern nur, wenn das Geistes­leben so gestellt ist, daß die einzelne Individualität darinnen völlig frei dasjenige, was sie hat, einer anderen überliefern kann. Und das wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn die Assoziationen so sind, daß die miteinander durch Produktion oder Komsumtion

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verwandten Wirtschaftszweige assoziativ zusammengeschlossen sind und dadurch das wirtschaftliche Urteil, welches wieder dem wirtschaftlichen Wollen zugrundeliegt, entsteht. Sonst macht man daraus ein Kuddelmuddel, und man bekommt dann dasjenige heraus, was so die reaktionären oder liberalen oder auch sozialen [deen der neueren Zeit sind, wo man nie einsieht, wie radikal von­einander verschieden die Betätigungen des Menschen sind auf gei­stigem, auf wirtschaftlichem und, in der Mitte drinnen, auf recht­lichem oder staatlichem Gebiet.

Im Grunde genommen ist es dem Menschen heute so schwer, zu einem gesunden Urteil auf diesem Gebiete zu kommen, weil er nun schon einmal durch die traditionellen Glaubensbekenntnisse davon abgebracht worden ist, die wirkliche Gliederung des Men­schen in Leib, Seele und Geist zu sehen. Der Mensch soll nur eine Zweiheit sein, nur Leib und Seele. Dadurch ist alles durcheinan­dergeworfen. Erst wenn man den Menschen gliedert in Geist, Seele und Leib, erst wenn man weiß, wie der Geist dasjenige ist, was wir uns durch die Geburt ins Dasein bringen, wie der Geist dasjenige ist, was in uns die Anlagen zur Entwicklung bringt, die wir eben ins Soziale hineinbringen müssen, dann werden wir einen Begriff bekommen, wie dieser geistige Teil des sozialen Organismus ein gesondertes Dasein haben muß. Wenn wir wis­sen, wie aus der Seele, die innig zusammenhängt mit unserem rhythmischen Leben, alles dasjenige quillt, was Zusammenleben der Menschen in Pflichtenkreisen, in Arbeitskreisen, in Liebes-kreisen ist, dann sieht man das ein, was im demokratischen Staate als Rechtsorganisation des dreigliedrigen Organismus da sein muß. Und wenn man einsieht, wie der Mensch wirklich nicht zu einem wirtschaftlichen Urteil und daher auch nicht zu einem wirtschaftlichen Tun kommen kann, ohne eingegliedert zu sein in ein Gewebe von Assoziationen im dreigliedrigen sozialen Orga­nismus, wenn man das einsieht, dann kommt man dazu, nun auch wirklich zu durchschauen, wie nur dasjenige, was eine besondere Art der Urteilsbildung ist auf wirtschaftlichem Gebiete, zur Hilfe in der Zukunft führen kann.

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Es ist schon einmal die Aufgabe der Gegenwart, daß man eine wirkliche Menschenkunde erlangt und von dieser wirklichen Men­schenkunde aus dann zum Verständnis desjenigen sich durchringt, was heute nach einer wirklichen Verständigung hinstrebt. Es ist ganz anders, wie der Mensch im sozialen Leben urteilt auf geisti­gem Gebiet als auf rechtlichem, und es ist wiederum ganz anders als auf wirtschaftlichem Gebiet. Daher müssen, wenn diese drei ganz verschieden gestalteten sozialen Zusammenhänge in gesunder Weise sich in die Zukunft hinein entwickeln sollen, sie auch geson­dert verwaltet werden und dann zusammenwirken. Geradeso, wie im einzelnen Organismus nicht da, wo der Kopf entstehen soll, eine andere Form als die Kopfesform gebildet werden kann, wie da nicht Hand oder Fuß oder Herz oder Leber entstehen kann, so darf der geistige Organismus nicht so systematisiert sein wie etwa der wirtschaftliche Organismus oder der rechtliche Organismus. Aber gerade wenn sie richtig organisiert sind an einem richtigen Orte, wirken sie zusammen zu einem Ganzen, wie Hand und Fuß und Rumpf und Kopf des Menschen zu einem Ganzen zusammen­wirken. Die richtige Einheit entsteht eben gerade dadurch, daß jedes nach seiner Art richtig organisiert ist.

Sie sehen daraus, meine sehr verehrten Anwesenden, daß es wahr­haftig keine leichtsinnige Idee ist, die mit der Dreigliederung des sozialen Organismus vor die Menschheit hingestellt ist, sondern diese Idee ist herausgeholt aus einer wirklichen Wissenschaft. Diese Wissenschaft muß allerdings selbst erst durchgekämpft werden ge­gen all jenes wissenschaftliche Chaos, welches heute das herrschende ist. Aber es ist, ich möchte sagen, nicht nur eine Wand, es ist ein dicker Wall von Vorurteilen, durch die man sich erst durchkämpfen muß, durchkämpfen muß zunächst mit dem, was als Wissenschaft vom Menschen zugrundeliegen muß, und dann mit dem, was aus dieser wahren Wissenschaft des Menschen hervorgeht als ein Impuls zu einem wirklichen sozialen Neuaufbau. Man kann sagen: Es blutet einem das Herz, wenn man heute in dieses Chaos von sozialem Miß-urteil, das überall herrschend ist, und auf die soziale Schläfrigkeit hinblickt. Und man muß sich sagen: Es ist ja nicht möglich, daß jeder

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aus dem, was seit drei bis vier Jahrhunderten diese europäische Menschheit von einer irregehenden Wissenschaft als Vorurteil auf­genommen hat, von dem aus nun heute eine soziale Neuordnung zu machen. Es ist etwas Furchtbares, wenn geredet wird von einer so­zialen Ordnung von einer Wissenschaft aus, die niemals ein soziales Urteil begründen kann, weil sie den Menschen nicht kennt. Jene Wissenschaft, meine sehr verehrten Anwesenden, betrachtet den Menschen nicht als Menschen, sondern sie betrachtet ihn nur als das höchste Glied in der Tierreihe. Sie fragt nicht: Was ist der Mensch? -, sondern: Was sind die Tiere? - Sie sagt nur: Wenn sich die Tiere am höchsten entwickeln, ist das eben der Mensch. - Da fragt man nicht, was der Mensch ist, sondern die Tiere sind da, und an die Tierreihe, da stückelt man den Menschen als letztes an, ohne daß man über den Menschen selber etwas anderes sagt, als was man über das Tierwesen sagt. Eine solche Wissenschaft wird niemals einen sozialen Neuaufbau schaffen.

Das ist dasjenige, was einen mit solchem Schmerz erfüllt, daß die Menschen heute nicht radikal genug sind, sich zu sagen: Wir müs­sen erst eine wirkliche Erkenntnis, eine wirkliche Wissenschaft fordern -, sondern daß sie heute gläubiger sind in bezug auf die äußere wissenschaftliche Autorität, als jemals in früheren Zeiten die Katholiken waren gegenüber der päpstlichen Autorität. Damals haben sich doch wenigstens manche noch aufgelehnt gegen diese päpstliche Autoritat. Heute aber taucht alles unter unter die wissenschaftliche Autorität, selbst so radikale Sozialisten wie Lu­natscharski; in dem Augenblick, wo es darauf ankommt, die alte Wissenschaft zu verteidigen gegen eine Erneuerung der Wissen­schaft, da kriecht er unter unter die wissenschaftliche Autorität, weil er sich gar nicht denken kann, daß die Wissenschaft selber einer Umwandlung bedarf, wenn wir weiterkommen wollen. Diese Dinge müssen durchaus ernst betrachtet werden, und sie mussen gesagt werden. Und wenn sich die Menschen zusammentun in noch so vielen sozialen Klubs und in noch so vielen liberalen Ge­meinschaften, in noch so vielen Aufbaugemeinschaften und in noch so vielen Frauenzusammenrottungen und Frauenklubs - es wird

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nie etwas herauskommen, wenn man die Sache nicht radikal anfaßt, wenn man nicht ausgeht von demjenigen, was einen zu einem wirk­lichen sozialen Urteil kommen läßt: Und das ist nur eine soziale Menschenerkenntnis, die das geben kann, was die heutige Wissen­schaft nicht geben kann. Und eine Erneuerung der Wissenschaft geben, das kann nur eine wirkliche Geisteswissenschaft.

Das ist das, was ich zur Einleitung des heutigen Abends sagen wollte. Ich bitte nun Herrn Dr. Boos, über den zweiten Teil des sozialen Organismus, über das Rechtsleben zu sprechen.

Roman Boos spricht über »Die Urtejisbildung im Rechtsglied des sozialen Organismus». Anschließend findet eine Diskussion statt.

Roman Boos: Vielleicht hat jemand noch eine Frage zu stellen, vielleicht möchte irgend jemand noch etwas anfügen? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich weiß nicht, ob Herr Dr. Steiner noch um ei Schlußwort gebeten werden könnte. Es ist ja sehr spät, und ich wei nicht, ob sonst noch Fragen da sind, die von Herrn Dr. Steiner zu be ndeln wären.

Rudolf Steiner: Die Späte des Tages berüc ichtigend, möchte ich nur noch ein paar Wort anfügen, weil nu schon einmal bei einer Diskussion ein Schlußwort lich ist iese zwei Dinge des heu­tigen Abends, die Forderung nach einer sozialen Neugestaltung auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Notwendigkeit, zu den Quellen der Geisteswissenschaft vorzudringen, weil nur da die Kräfte zu holen sind, um den Forderungen des Tages gerecht zu werden, diese zwei Dinge müssen ja immer wiederum in ihrem vollen Ernste gerade von dieser Stelle aus betont werden. Das ist oft gesagt worden, aber es kann nicht zu oft gesagt werden.

Ich habe heute damit begonnen zu sagen, daß die Menschen instinktiv hineingewachsen sind in die gegenwärtigen sozialen Ordnungen, und eigentlich möchten die Materialisten instinktiv auch darinnen bleiben. Sie möchten nicht berücksichtigen, daß heute die Zeit gekommen ist, zur Aktivität des Urteils, das heißt zur Bewußtheit, überzugehen und aus der Bewußtheit heraus auch eine neue soziale Welt zu schaffen. Zu dieser Bewußtheit müssen wir aber vordringen, wenn wir nicht einfach die katastrophale

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Politik der letzten Jahre fortsetzen wollen, die Platz gegriffen hat in so furchtbarer Art und die sich nun fortsetzt innerhalb des europäischen zivilisatorischen Lebens und seines Anhanges. Ich habe ja auch hier schon darauf aufmerksam gemacht, wie ein auf der einen Seite immerhin genialer, auf der anderen Seite kranker Geist wie Oswald Spengler darauf kommt, ernstlich wissenschaft­lich zu beweisen, daß das Abendland im Beginne des dritten Jahr­tausends bei der Barbarei, dem vollständigen, vollendeten Nieder­gang angekommen sein müsse. Man bekommt eben jenen Schmerz, von dem ich heute am Schluß meiner einleitenden Worte sprach, wenn man sieht, wie außerordentlich schwer es ist, in die gegen­wärtigen Gemüter die Empfindung hineinzubringen von dem Ernste der Zeit, und wie noch viel schwerer es ist, hineinzubringen die Empfindung von der Notwendigkeit, eine wirkliche Umwand­lung mit dem Wissen der Gegenwart zu vollziehen.

Meine sehr verehrten Anwesenden, sagen Sie nicht, dieses Wis­sen der Gegenwart sei nur bei ein paar Gelehrten oder bei irgend­welchen Gegenwartsanschauungen der Menschen. Nein, dieses Wissen ist überall, nur gestehen es die Menschen sich nicht. Es kommt ja nicht darauf an, ob man nun diese oder jene Hypothese, diese oder jene wissenschaftliche Theorie vertritt, sondern es kommt darauf an, ob man mit seinem ganzen Vorstellungs- und Empfindungsleben in einer gewissen Richtung sich bewegt, die zuletzt doch hinausläuft auf dieses den Menschen verarmende, den Menschen ausleerende wissenschaftliche Leben der Gegenwart. Gewiß, es mag sich mancher nicht beschäftigen damit, daß es in der Konsequenz der gegenwärtigen Wissenschaft liegt, die Erde sei ausgegangen von einem Weltennebel und würde in irgendeinen Wärme-Endzustand kommen, in welchem alles Leben vernichtet wird. Vielleicht gibt es sogar manche, die sagen: Das mag sein wie auch immer, darum kümmere ich mich nicht. - Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, darauf kommt es nicht an. Schlagen Sie heute irgendeine Chemie, irgendeine Physiologie, irgendeine Zoo­logie oder irgendeine Anthropologie auf, lesen Sie darin fünf Zeilen und nehmen Sie diese fünf Zeilen - es steht etwas in der Richtung

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drinnen. Gleichgültig, ob Sie dies oder das aufschlagen und dies oder das übernehmen, Sie sind in der Richtung drinnen, die zu diesen Anschauungen führt. Es ist ja selbstverständlich heute be­quem, wenn man über dies oder jenes etwas wissen will, zu den gebräuchlichen Dingen zu greifen und nicht daran zu denken, daß selbst so etwas einer gründlichen Umwandlung bedarf. Es ist heute bequem, wenn man über den Malachit etwas erfahren will, ans Konversationslexikon zu gehen, den Band mit «M» herauszuneh­men, «Malachit» aufzuschlagen und nachzulesen, was da drinnen-steht. Nimmt man es ungeprüft hin, was da drinnensteht, gleich­gültig, was man sonst dabei denkt, und wird man sich nicht be­wußt, daß man heute in einer ernsten Zeit der Umwandlung lebt, dann schläft man, dann ist man nicht bedacht für dasjenige, was der heutigen Zeit notwendig ist. Heute handelt es sich darum, daß man nicht bloß zu irgendwelchen Zeiten, wenn man über die letzten Weltanschauungsprobleme nachdenkt, sich des Ernstes bewußt wird, sondern heute handelt es sich darum, daß man in jeder Mi­nute des Tages sich bewußt ist, daß es Pflicht ist, an der Umwand­lung mitzuarbeiten, denn wir leben in einer durch und durch ern­sten Zeit. Und gerade in diesen Tagen erleben wir wiederum das Tragische, daß die wichtigsten Probleme sich abspielen, vielleicht noch wichtigere als während der äußeren Kriegsjahre, und daß die Menschen sich bemühen, soviel als möglich zu schlafen, nicht ein­mal mit ihrem Bewußtsein teilzunehmen an demjenigen, was sich eigentlich vollzieht.

Anthroposophie als ein Bekenntnis annehmen heißt nicht, das oder jenes bloß theoretisch zu vertreten, von Ätherleib und Astral­leib, von Reinkarnation und Karma zu sprechen. Anthroposophie annehmen heißt, in seinen Empfindungen, mit seinem ganzen Men­schen verbunden zu sein mit demjenigen, was sich jetzt im Tag und jetzt in der großen Zeitepoche als der Impuls einer bedeutsamen Umwandlung vollzieht. Und sieht man heute hinein in das Schlafen der Menschen, dann blutet einem eben das Herz. Denn heute kommt es auf das Wachen an. Und immer wiederum möchte ich sagen, und jede Auseinandersetzung möchte ich damit schließen:

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Man versuche, zu den Quellen eines geistigen Erkennens vor­zudringen; denn mit dem Wasser, das aus diesen Quellen kommt, bespritzt man sich aus einem wirklichen Bewußtseinsquell. Dieses Erkennen berührt die eigene Persönlichkeit so, daß man, möchte ich sagen, aus den tiefsten Tiefen des Erdenwesens herauf es in das menschliche Innere hineinnimmt: Wache auf, und erfülle deine Aufgaben gegenüber den großen Forderungen der Zeit.

Roman Boos: Es wird noch bekanntgegeben werden, was heute in acht Tagen hier besprochen werden wird. Damit ist die heutige Veranstaltung zu Ende.

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FÜNFTER DISKUSSIONSABEND Dornach, 23. August 1920 Das Testament Peters des Großen

Ludwig Polzer-Hoditz hält einen Vortrag über «Das Testament Peters des Großen». Anschließend an die Diskussion spricht RudolfSteiner ein Schlußwort.

Rudolf Steiner: Meine verehrten Anwesenden! Es wäre natürlich außerordentlich viel zu sagen in Anknüpfung an die ja sehr an regenden Ausführungen des Grafen Polzer und an verschiedene Fragen, die das oder jenes angeregt haben in der Diskussion. Der vorgerückten Zeit halber wird man sich aber wohl auf einiges beschränken müssen.

Ich möchte zunächst darauf aufmerksam machen, daß ja offen­bar Graf Polzer mehr die Bedeutung jenes Impulses, der im Testa­ment Peters des Großen für die europäische Politik lag, hervor-heben wollte als etwa Einzelheiten, die sich auf die Wirksamkeit dieses Testamentes Peters des Großen beziehen. Und gerade mit Bezug darauf möchte ich sagen: Solche Dinge wie dieses Testament Peters des Großen lassen sich eigentlich nur beurteilen aus dem ganzen Zusammenhang der Ereignisse heraus, in denen sie irgend­wie zum Vorschein gekommen sind. Es ist nun einmal so, daß gerade in den Jahren, auf die Graf Polzer hingewiesen hat, in den siebziger Jahren, in den Jahren, die folgten auf den Preußisch-Österreichischen Krieg vom Jahre 1866, und dann in den Jahren der Regierung des Grafen Taaffe in Österreich, daß da gerade vieles sich in Österreich abspielte, was in der Richtung lag, in der das Testament Peters des Großen wirkte. Man könnte verschiedenes herausheben aus der reichen Fülle dieser Ereignisse, eines würde ungefähr ebensogut wie das andere vielleicht illustrieren können, was man sagen will. Ich will nur einiges hervorheben, Ereignisse, die scheinbar zunächst mit dem Testament Peters des Großen

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nichts zu tun haben, in denen aber doch dieses Testament durchaus wirksam ist.

Nehmen wir einmal das Ende der Zeit, auf die Graf Polzer be­sonders hingewiesen hat, die Zeit, in der Österreich vom Berliner Vertrag das Mandat erhalten hatte, Bosnien und die Herzegowina zu okkupieren. Über die Okkupation Bosniens und der Herzego­wina entwickelte sich ja innerhalb der österreichischen Politik ein sehr bedeutsamer Streit. Es gab, wie schon Graf Polzer hervor­gehoben hat, heftige Gegner dieser Verlegung des Schwerpunktes, der Osterreich nach dem Osten hinüberschob, und es gab in Öster­reich Anhänger dieser Okkupation, dieser Verlegung des Schwer­punktes nach dem Osten hinüber. Anhänger waren eigentlich im wesentlichen diejenigen, die in irgendeiner Weise ganz besondere Gründe hatte, sich zu Dienern der habsburgischen Hauspolitik zu machen. Man muß eben nur bedenken, daß diese habsburgische Hauspolitik damals schon auf einen solchen Punkt der Dekadenz heruntergesunken war, daß sie im Griinde schon dazumal eine blo­ße Prestigepolitik war. Dasjenige, was seit einem Jahrhundert sich vorbereitet hatte, das hatte sich ja mit dem Preußisch-Österreichi­schen Krieg erfüllt, und die Habsburger brauchten eine Art Aus­gleich dafür. Sie nahmen daher Zuflucht zu dem, was nun Öster­reich hingeworfen wurde. Nun kann man aber in vollem Bedacht alles dasjenige in Betracht ziehen, was im Grunde genommen lag in jenem Punkte des Testamentes Peters des Großen, der darauf hin­weist, wie man immer mehr Zwist und Zank nach Österreich brin­gen soll, indem man scheinbar ihm etwas zuschanzt, indem man ihm etwas gibt. Es war ja ein richtiger Zankapfel, diese Okkupation von Bosnien und der Herzegowina, und gerettet wurde sie im Grunde genommen nur dadurch, daß sich von der damals immer­hin noch in Betracht kommenden sogenannten deutschen Linken im österreichischen Reichsrat die sogenannte bosnische Linke abspaltete.

Sehen Sie, der Führer der deutschen linken Partei im österreichi­schen Reichsrat war der Abgeordnete Herbst. Die Herbstsche Politik entwickelte sich heraus aus der Politik nach 1866; sie war

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eine Politik, welche zusammengeschweißt war aus einem gewissen Bestreben, Österreich doch eine Art deutschen Charakters zu las­sen, aber zu gleicher Zeit ihm eine Art abstrakt-liberalistischen Charakters zu geben. Diese Politik sträubte sich gegen die Okku­pation von Bosnien, insbesondere in der Person des Abgeordneten Herbst, weil sich die Herbst-Leute sagten: Wenn Österreich noch mehr Slawen bekommt - es war ja eine Zugabe von Slawen, die man da bekam mit Bosnien und der Herzegowina, mit Ausnahme des türkischen Elementes, das da auch zu finden war -, wenn Österreich noch mehr Slawen bekommt, so wird es umso weniger möglich sein, daß in der Zukunft in Österreich irgendwie das deut­sche Element zum besonderen Vorrang gebracht werden könnte. Nun, dieser Herbst hat ja eine epigrammatische Abfertigung gefun­den durch Bismarck. Bismarck war alles daran gelegen, daß Öster­reich in eine Art von Verwirrung hineingebracht werde, daß Öster­reich seinen Schwerpunkt nach dem Osten verlege, damit auch niemals mehr irgendwelche Aspirationen von seiten der Habsbur­ger Hausmacht aufkommen könnten gegen die Bestrebungen der Hohenzollern. Denn ein Großteil der mitteleuropäischen Politik im 19. Jahrhundert, namentlich im mittleren 19. Jahrhundert und in der zweiten Hälfte, war ja eigentlich ein Streit zwischen den beiden Hausmächten, der habsburgischen und der hohenzollernschen Hausmacht. Bismarck, der die Hohenzollern-Hausmacht groß ha­ben wollte, wollte Österreich abschieben nach dem Siawentum hin, nach dem Osten, und da kam es ihm sehr wenig zurecht, daß diese Herbst-Leute in Österreich ihm entgegenarbeiteten. Bismarck hat denn auch, wie es seine Art war, ein witziges Epigramm geprägt, das eines von den Epigrammen des politischen Lebens war, die denjenigen töteten, den sie trafen. Er hat ja die Herbst-Leute die «Herbstzeitlosen» genannt, indem er hinstellte, daß einfach die Zeit es fordere, daß Österreichs Schwerpunkt außerhalb Österreichs nach dem Osten verlegt werde, und derjenige, der sich dieser Zeit-forderung nicht anzupassen wisse, sei eben eine «Herbstzeitlose», weil der Führer dieser österreichischen deutschliberalen Partei eben der Herbst war. Nun, gerettet wurde diese ganze Sache dadurch,

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daß dazumal der jüngere Plener, während er vorher gerade voll drinnenstand innerhalb der Partei der Herbst-Leute, sich mit einem gewissen Anhang herausschälte, wodurch eine Majorität gebildet werden konnte im österreichischen Reichsrate für die Okkupation von Bosnien und der Herzegowina; Plener bildete dazumal die bosnische Linke.

Ernst von Plener ist nun gerade eine charakteristische Persön­lichkeit für dasjenige, was Graf Polzer heute ausführen wollte. Plener war in österreichischen Parlament ein Redner so ganz nach Art der liberalistischen Durchschnittsredner, ein Mann, der im osterreichischen Reichsrat so sprach, daß er das, was er vorbrachte, durchaus richtiger in England vorgebracht hätte. Plener war ja auch lange Jahre Gesandtschafts-Attaché bei der österreichischen Bot­schaft in London gewesen und hatte sich sehr eingelebt in das, was man englischen Parlamentarismus nennt. Dieser englische Parla­mentarismus, der aus dem englischen Element sehr gut herausge­wachsen ist und dort gut paßt, der wurde nun eigentlich mehr oder weniger glücklich auf ganz Europa übertragen, und er ist einer von denjenigen Faktoren, welche beweisen, wie sehr die westlichen Impulse über Europa nach und nach Einfluß gewannen. Ich möch­te sagen: Wenn Plener im Wiener Parlamente sprach, so sprach eigentlich der durch und durch nach englisch-politischer Schablone geschulte Politiker. Das hatte natürlich für Österreich, worauf es gar nicht paßte, etwas außerordentlich Abstraktes. Man muß nur bedenken, was in diesem Osterreich da zusammengewürfelt war von verschiedensten Nationalitäten, aber zusammengehalten wurde durch den Klerikalismus der habsburgischen Hausmacht. Dahinein stellte sich die englische Meinungsschablone mit dem Pendelsystem von Links und Rechts eigentlich wie ein ganz abstraktes Element. Und solch einem Abstraktling wie Plener kam es eigentlich niemals darauf an, aus den konkreten wirksamen Kräften heraus zu denken, sondern er konnte immer auch anders. Und Herbst, der starrsinnig, stierhaft in gewisser Beziehung war, er blieb auf seinem deutsch-liberalen Standpunkt stehen. Dagegen Plener, der eine Art Welt-mann war - ich sehe ihn heute noch vor mir: er kam niemals anders

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ins Parlament als in hellen Beinkleidern, die immer unten etwas aufgestülpt waren, und mit einer Art Bart, der so die Mitte hielt zwischen Stutzertum und Diplomatenbart -, Plener konnte eben immer auch anders. Er bildete die bosnische Linke, um dem Kaiser Franz Joseph respektive der habsburgischen Hausmacht einen Dienst zu erweisen, der später honoriert werden könnte. Ich muß sagen, es schien mir immer ein gewisser Zusammenhang zu sein zwischen zwei Ereignissen, zwischen der Bildung der bosnischen Linken im österreichischen Parlament durch Ernst von Plener ge­legentlich der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina und einem späteren Ereignis, das scheinbar unbedeutend ist, das aber als symptomatisch berücksichtigt werden muß. Plener ist dann, als an Stelle des Ministeriums Taaffe das Koalitionsministerium Win­dischgrätz trat, für kurze Zeit Finanzminister geworden; das hat er immer erstrebt. Aber die Herrlichkeit dauerte nicht lange. Dann geschah etwas, was eigentlich ja immer darauf hinweist, daß da unterirdische Kräfte spielen. Plener wurde Präsident des Obersten Rechnungshofes und zog sich dann, als er das geworden war, merkwürdigerweise von der Politik zurück, trotzdem er immer eine hervorragende Rolle in seiner Partei gespielt hatte. Und als er dann einmal interviewt wurde, warum er sich denn zurückgezo­gen habe, da antwortete er: «Das ist etwas, was nur mich und meinen Kaiser angeht, das ist ein Geheimnis, über das ich nicht sprechen will.»

Ich habe immer einen gewissen Zusammenhang erkennen müs­sen zwischen den Ereignissen, die sich abgespielt haben bei der Bildung der bosnischen Linken in den siebziger Jahren, und diesem Ereignis, das erst in den neunziger Jahren stattgefunden hat. Sehen wir uns einmal an, was nun geworden ist nach dieser bosnischen Okkupation. Es kam eben in Österreich das zweite Ministerium des Grafen Taaffe zustande, nachdem die letzten Phasen sich abge­spielt hatten jenes Konzessions-Regierungssystems, das zustande­gekommen war, eben weil man probierte nach dem Preußisch-Österreichischen Kriege, ob man mit dem deutschen Elemente in Österreich zurechtkomme oder nicht. Das ist mit dem sogenannten

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Bürgerministerium von 1867 bis 1870 versucht worden, zunächst mit dem Fürsten Carlos Auersperg, dann kam die Episode unter Potocki und Hohenwart, wo das slawische Element sich geltend machte. Dann kam aber 1871 bis zum Ende der siebziger Jahre das Ministerium unter Adolf Fürst Auersperg, wiederum eine Art Bürgerministerium, das eben, wie gesagt, die letzte Phase bildete desjenigen, was man da versuchte. Dann kam dieses Ministerium des Grafen Taaffe. Dieses Ministerium Taaffe sehen wir uns einmal an. Es besorgte ja die Regierungsgeschäfte in Österreich durch mehr als ein Jahrzehnt kann man sagen, in den achtziger Jahren, und da spielte sich, ich möchte sagen im Tableau alles dasjenige ab, was ein Kompendium europäischer Politik ist. Taaffe ist Minister­präsident; er hält sich an der Spitze des Ministeriums, trotzdem er wohl ein ganz unfähiger Kopf ist. Er hält sich hauptsächlich dadurch im Ministerium, daß er besonders gut versteht, abends bei den Unterhaltungen bei Hofe mit dem Taschentuch und den Fin­gern Häschen an die Wand zu projizieren. Das gefiel den Damen bei Hofe so außerordentlich gut, wenn der Graf Taaffe Häschen machte und andere ähnliche Künste, und dadurch hielt er sich so­lange in der österreichischen Regierung. Nun kann man sagen, in diesen achtziger Jahren, da war also das Deutschtum zurück­gedrängt in Österreich. Die Länder diesseits der Leitha - ja, einen Namen hatte dieses Gebiet eigentlich nicht, man nannte dieses Gebiet, was diesseits der Leitha war, «die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder», und die Länder drüben, jenseits der Leitha, die hatten wenigstens einen zusammenfassenden Namen, man nannte sie «die Länder der Heiligen Stephanskrone» -, die Länder diesseits der Leitha, also «die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder», die wurden regiert damals von dem Ministerium, an dessen Spitze Taaffe stand. Gewisse Witzblätter schrieben Taaffe sehr merkwürdig: Ta - affe (es wird an die Tafel geschrieben).

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Nun, es war auch schwer, einen gemeinsamen Namen zu finden für diese Länder, denn was umfaßte dieses Gebiet «der im Reichs­rat vertretenen Königreiche und Länder»? Da war zunächst die Bukowina, dann kam anstoßend daran das Königreich Galizien mit Ruthenien mit Lemberg als Hauptstadt; da würde etwa Krakau sein (es wird an die Tafel gezeichnet). Dieses Galizien war haupt­sächlich vom polnischen Element bewohnt (schraffiert, links), hier aber bewohnt vom ruthenischen Element (schraffiert, rechts) - die Ruthenen eine Art Slawen, die Polen eine Art Slawen. Weiter war dann hier das schlesische Gebiet, das mährischen und das böhmi­sche Gebiet - überall Slawen und Deutsche zusammengewürfelt. Dann kommt Nieder- und Oberösterreich, Salzburg, Vorarlberg, Tirol, Steiermark bis herunter zu Brunn - zum größten Teil deutsch; dann südslawisch, slowenisch bei Kärnten und Krain; hier unten Istrien und Dalmatien. Hier herüber, jenseits der Leitha, waren die Länder der Heiligen Stephanskrone: hier Ungarn mit Siebenbürgen, dann Kroatien mit Slawonien. Hier würden wir irgendwo die Leitha zu suchen haben; alles das, was hier herüber war, all diese zusammengewürfelten Völkerschaften, die bildeten die im «Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder».

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Nun, wie war die Vertretung der «im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder» in Wien? Sie war im Grunde genommen denkwürdig genug. Sehen Sie, wenn man sich die Ministerbank anschaute: In der Mitte saß der mit der zurückfliehenden Stirn behaftete Häschenfabrikant Taaffe, an seiner Seite rechts Duna­jewski, der Finanzminister, ein Urpole, dann war da eine markan­te Persönlichkeit, Minister Prazäk, ein Tscheche, ferner Smolka, ein Urpole, einer derjenigen Polen, welche einmal in effigie geköpft worden sind in Österreich, weil sie Staatsverräter waren, der sich aber dann [politisch wieder] aufgeschwungen hatte. Man kann sagen: Wenn da von diesen Persönlichkeiten gesprochen wurde, so war es ja in einem gewissen Sinn außerordentlich interessant.

Auf der ersten Abgeordnetenbank der Linken - sagen wir zum Beispiel, es wäre eine Budgetdebatte gewesen - saß ein guter Deut­scher, Carneri; Sie kennen die Gestalt von Carneri aus meinem Buche «Vom Menschenrätsel». Er fing die Debatte an in mitteleu­ropäischem Sinne; er schleuderte in der Regel diesem Ministerium Taaffe die furchtbarsten Anklagen entgegen. Eine seiner wirk­samsten Reden schloß mit den Worten - es war vielleicht im Jahre 1883 -: Armes Osterreich! - Dann etwas weiter von ihm saßen Herbst, Plener und so weiter. Aber alles, was da redete in Öster­reich, redete eigentlich so, wie Leute einer untergegangenen Strö­mung reden. Was zum Beispiel Carneri redete, war schön, geistvoll, groß, aber es war nicht etwas, was leben konnte. Aber: etwas an­deres lebte dazumal in Österreich; es lebte wirklich etwas in Öster­reich, wenn zum Beispiel der polnische Abgeordnete Otto Hausner sprach. Es kam in Österreich nicht so darauf an, ob ein Abgeord­neter einen deutschen Namen hatte; denn wenn man zum Beispiel Grégr hieß und jungtschechisch-liberaler Abgeordneter war, also so einen Namen mit einem Haken hatte, so hat man, bevor man Tscheche geworden war, Gröger geheißen; es gibt solche Metamor­phosen. Wenn Otto Hausner sprach, dann betonte er zu gleicher Zeit, daß er doch durchaus aus dem polnischen Element heraus spräche, und das tat er auch, obwohl er betonte, er hätte rätischalemannische

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Blutkügelchen in seinen Adern - ich weiß zwar nicht, was das sind, rätisch-alemannische Blutkügelchen. Er ist mir keine sympathische Person gewesen. Ich erinnere mich noch lebhaft:

Wenn man durch die Wiener Herrengasse ging und der alte Haus­ner daherkam, dieser alte Geck mit seinem Monokel, der sich noch putzte, trotzdem er eigentlich ein gar nicht niedlich aussehender alter Mann war; er ist nicht gerade eine eigentlich sympathische Persönlichkeit gewesen. Man muß sagen: Wenn in diesen Jahren, auf die es gerade ankam, Hausner sprach, dann sprach er so, daß die Weltgeschichte durch ihn rollte. Und ich möchte sagen, wenn der Otto Hausner sprach, dann hörte man rollen die Worte des Testamentes Peters des Großen. Man hörte sie rollen dann, wenn er davon sprach, daß sich die Menschen in Österreich nicht dürften düpieren lassen durch Berlin, durch Bismarck, daß sie nicht dürften den Berliner Vertrag annehmen. Es sprach die Zeit, die rollende Zeit, wenn Otto Hausner über die Arlbergbahn sprach, als strate­gische Bahn sie auffaßte, um ein Bündnis zwischen Österreich und Frankreich möglich zu machen gegen die deutsche Politik. Und man möchte sagen, in den Reden von Otto Hausner von dazumal war etwas, was wie prophetisch all das voraussagte, was später geworden ist. Insbesondere aber war wirksam eine Rede, die Haus­ner gehalten hat über «Deutschtum und Deutsches Reich», worin­nen er rhetorisch in einer ganz wunderbaren Charakteristik alle Schattenseiten, vorzüglich die Schattenseiten des Deutschtums und des deutschen Wesens gegeben hat, niemals die Lichtseiten. All das, was in Mitteleuropa eigentlich auf den Untergang hinwirkte, das hat gerade dieser polnische Abgeordnete Otto Hausner dazumal in seine Rede in einer wunderbaren Weise hineinzugeheimnissen ge­wußt. Außer ihm sprach dann öfter eine merkwürdige Gestalt, Dzieduszycki hieß er. Es war außerordentlich merkwürdig, denn wenn er sprach, hatte man das Gefühl, daß er nicht nur einen Kloß, sondern zwei Klöße im Munde habe, die einander nachlaufen und wieder zurücklaufen. Aber dennoch, wenn er sprach, rollte Welt­geschichte durch das, was er sprach. Es war Weltgeschichte, die da sprach - und so noch bei manchem anderen, der da saß. Und

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wiederum, wenn diese Leute nur aus ihrer Persönlichkeit heraus sprachen, dann war das gar nicht Weltgeschichte.

In der Zeit, als in Österreich das von den Liberalen schon rui­nierte Schulgesetz vollends ruiniert werden sollte - wie kam da die Mehrheit zustande? Ich will Ihnen ein großes Geheimnis verraten:

Trotz der österreichischen Politik hat Österreich tatsächlich die besten Gymnasien gehabt hat bis in die siebziger Jahre hinein; und es ist dem späteren Unterrichtsminister Gautsch nur sehr schwer gelungen, diese von einem gewissen Gesichtspunkt guten Gymna­sien durchaus kaputtzumachen. Und wissen Sie, wer schuld daran war, daß diese guten Gymnasien in Österreich - gut für die dama­lige Zeit - begründet worden waren? Es war der Urklerikale Leo Graf Thun, der diese Gymnasien in Österreich eingeführt hat. Es war eben in Österreich so, daß merkwürdigerweise zuweilen Sach­liches zusammenwirkte mit ganz stierhafter Politik. Dieser nach vieler Richtung hin ganz schwarze Klerikale, Leo Graf Thun, er hat ein glänzendes Schulsystem in Österreich zum Durchbruch ge­bracht, das aber dann durch die Liberalen wiederum zum Abbruch gebracht worden ist, und was die Liberalen übrig gelassen haben, das sollte dann später noch mehr ruiniert werden. Wie bildete sich nun die Majorität im Reichsrat bei diesen Dingen heraus? Ja, diese Majoritäten kamen auf merkwürdige Weise zustande. Da waren die Ruthenen, und da waren die Polen. Wenn man nun gewisse Dinge durchsetzen wollte, die sich leichter mit den Polen durchsetzen ließen, dann bildete man ein Ministerium, das aus Deutschen und Polen bestand. Und wenn man etwas von anderer Art durchsetzen wollte, dann schaltete man die Polen aus und bildete eine Majorität aus Deutschen und Ruthenen. Die Ruthenen und die Polen, die sich dann furchtbar bekämpften, gebrauchte man als Zünglein an der Waage. Und je nachdem, was in die Waagschale zum Schlusse geworfen wurde, kam das Entgegengesetzte heraus. Nun, dazumal, als das Schulgesetz ganz kaputtgemacht werden sollte, da waren gerade die Polen das Zünglein an der Waage; es sollte also etwas ausgehandelt werden zwischen den Klerikalen und den Polen. Wenn die Klerikalen mit den Polen zusammengingen, so sagte man

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sich, dann könne das Schulgesetz kaputtgemacht werden. Aber die Polen waren immerhin so intelligent einzuwenden, daß man das doch nicht Galizien antun könne, ihrem Land ein solches [neues] Schulgesetz hinzustellen. Und da haben sie dann zu einem Ausweg gegriffen und gesagt: Ja, wir gehen mit euch zusammen, wir besei­tigen das [alte] Schulgesetz, nur Galizien wird ausgenommen. - Es trat damit das Merkwürdige zutage, daß ein slawisches Element zur Tarnung diente, aber dieses slawische Element nahm sich selbst aus für das, wovon es ganz deutlich zugab, daß es sein eigenes Land davon ausnehmen wolle. So waren eben damals die besonderen Verhältnisse in Österreich.

Da saß auch noch die charakteristische Gestalt des Alttschechen Rieger. Während die Deutschen liberalistisch, formalistisch, ab­strakt regierten, kamen die Tschechen nicht ins Wiener Parlament; sie absentierten sich. Graf Taaffe hatte nun das äußerlich große Verdienst sich erworben, daß der tschechische Club wieder hinein-kam. So war also jetzt Rieger auch unter diesen Wiener Parlamen­taristen: Eine außerordentlich charakteristische Figur voll inneren Feuers, eine etwas schlotterige, kleine Gestalt, aber mit einem mächtigen Kopf, mit Augen, aus denen man glaubte, daß am Ende nicht bloß ein Teufel, sondern mehrere Teufel herauskämen, die Feuer sprühten. Es war tatsächlich etwas außerordentlich Leben­diges in ihm.

Sehen Sie, das war so die Situation. Man könnte sagen, man wußte, es gibt da ein Element, das man nicht greifen konnte, aber es war zu schauen: Es wirkte durch diese eigentümliche Konfigu­ration in Österreich wirklich dieses Testament Peters des Großen durch. Wenn man diese konkreten Verhältnisse vor sich hatte, da wußte man, daß es so etwas gibt. Tatsächlich, man wußte genau, warum sich zum Beispiel die Politik des Grafen Andrássy - der, trotzdem er Ungar war, eine zeitlang österreichischer Außenmini­ster war -, schwer durchsetzte: weil die Leute sich nicht vorstellen konnten, daß Österreich seinen Schwerpunkt nach Osten, nach den slawischen Ländern hin nehmen sollte. Man konnte sehen, es machte sich das slawische Element geltend, aber man konnte sich

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nichts anderes sagen als: Ja, was wird denn nun eigentlich aus dem Ganzen? Was will denn da werden? Was ist es denn, das Ganze? -Und man sah eigentlich im Grunde genommen gerade unter diesem Taaffe, dem unfähigen Taaffe - er hatte ja unter seinen Ministern einzelne sehr befähigte slawische Köpfe eben wie zum Beispiel Dunajewski, den polnischen Finanzminister, oder auch Prazák -, das slawische Element wirken. Aber durch das slawische Element wirkte die Verwirrung; fähige Köpfe, ganz ausgezeichnete Köpfe zum Teil, aber durch das ganze wirkte doch die Verwirrung durch. Und erst recht mit dem deutschen Element zusammen wirkte die Verwirrung.

Nun bitte, stellen Sie sich das mit etwas anderem zusammen, stellen Sie das zusammen damit, daß Peter der Große diejenige Persönlichkeit ist, welche in ihrer Jugend nach dem Westen geht, nach dem Haag, aus dem Westen zurückkommt nach St. Peters­burg, daß er diejenige Persönlichkeit ist, die bestrebt ist, westlän­disches Wesen in Rußland einzuführen gegen die Bestrebungen vieler, die glaubten, echt russische, orthodox-russische Leute zu sein. Versuchen Sie es sich klarzumachen, wie da in der Geschichte die Verhältnisse sind zwischen dem, was Russentum ist und dem, was Peter der Große nach Rußland hineingetragen hat. Was er da hineingetragen hat, Peter der Große, das war ja tatsächlich nicht etwas, das bloß für morgen oder übermorgen wirkte, sondern es war schon etwas, das einen Impuls über die Jahrhunderte hinaus gab. Man könnte sagen, man weiß, was das in Rußland wurzelnde Slawentum will, man weiß, wie es zusammenwirkt mit dem diffe­renzierten Slawentum, aber da steckt doch noch darinnen dasjeni­ge, was vom Westen her Peter der Große gebracht hat. Nun, Peter der Große hat eben nichts aufgeschrieben, aber er hat in einer gewissen Richtung seine Regierungshandlungen getrieben; was er getan hat, das ist in einer gewissen Richtung, in einem gewissen Stil gehalten. Und so rollt dasjenige, was aus dem Slawentum allein kommt, es rollt parallel und verwebt sich mit dem anderen, was aus dem Westen durch den dort seelisch mächtig gewordenen Peter den Großen gebracht worden ist. Versetzen Sie sich nun einmal in

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irgendeine Zeit nach Peter dem Großen und schauen Sie sich die europäische Politik an - können Sie da nicht sagen: Ja, in dem, was da fortwirkt von Peter dem Großen her, da sind konkrete Faktoren drinnen, die wirken? - Wer solche Dinge gesehen hat, wie ich sie Ihnen jetzt geschildert habe, der weiß: sie sind da.

Nun kommt so ein Sokolnicki, und über die Verhältnisse, unter denen er gelebt hat, meditiert er. Da geht im Innern seiner Seele auf dasjenige, was man nennt das «Testament Peters des Großen». Er fragt sich: Was liegen denn für Kräfte in dem, was von Peter dem Großen ausgeht? Was wird, wenn das sich vollzieht? Wie wäre das, wenn man das ungeschriebene Testament Peters des Großen nie­derschriebe, wenn man es niedergeschrieben dächte aus dem, was sich zum Teil aus Eingebungen ergibt, zum Teil aus Staatspapieren und dergleichen? - Muß man denn danach fragen, wie derjenige die Feder in die Tinte getaucht hat oder welche Tinte er benützt hat oder wie er die Feder geführt hat, wenn man nach der Entstehung von einem Schriftstück fragt? In der Weltgeschichte ist es nicht so.

Ich habe öfter eine kleine Sache hier erzählt, Jie mir selbst ein­mal passierte. Ich habe versucht nachzuweisen, wie der Goethesche Aufsatz über die Natur, die Hymne an die Natur, entstanden ist. Ich habe nachgewiesen, daß Goethe mit dem Schweizer Tobler an der Ilm spazieren ging und diesen Aufsatz vor sich hin sprach. Tobler hatte nun ein so ausgezeichnetes Gedächtnis, daß er hinter­her nach Hause ging und aufschrieb, was er von Goethe gehört hatte und es im «Tiefurter Journal» - das gerade aufgefunden wor­den ist zu der Zeit, als ich in Weimar war - erscheinen ließ. Ich habe nun im 7. Band der Goethe-Jahrbücher nachzuweisen ver­sucht, aus innerlichem und geistigem Grunde nachzuweisen ver­sucht, daß dieser Aufsatz im Tiefurter Journal von Goethe war, trotzdem dieser Aufsatz «Die Natur» nach Toblers Handschrift so wörtlich wie möglich im Journal steht.

Es handelt sich darum, daß man geschichtlich nicht zurecht­kommt, wenn man gerade bei den wichtigsten Dingen in einer, ich möchte sagen prosaisch-philiströs wortwörtlichen, philologischen Weise fragt nach dem Ursprung. Gewiß, in bezug auf das Schreiben

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ist das Testament eine Fälschung - aber es ist eine wahrhaftige Realität. Und wir haben den wirklichen Ursprung des Testamentes, gerade jenen Ursprung, den Graf Polzer nachzuweisen versuchte, wenn wir uns sagen: Der Sokolnicki hat in einer Art von Medita­tion und innerer Versenkung in Anknüpfung an das, was da war, also an das, was geschah, diese Sache aufgeschrieben. Aber er hat sie sich ja nicht aus den Fingern gesogen oder durch eine bloße innere Mystik erfahren, sondern er hat sie im ganzen Zusammen­hang mit den Weltereignissen gesehen. Und man könnte sagen: Er hat gerade das treffen wollen, was von Peter dem Großen inaugu­riert war, was er aus dem Westen gebracht hat. was aber noch nicht geschehen war.

Und nun sehen wir uns einmal an diesen babylonischen Turm des österreichischen Reichsrates unter dem Ministerium Taaffe, wie ich ihn nun geschildert habe. Sehen wir uns an, wie das siawische Ele­ment dasitzt, wie es gerade das begabte Element ist, aber eben nur Verwirrung bringen kann. Und geht man dem auf den Grund, so findet man in dem, was da zum Ausdruck kommt, eben etwas wie ein Fortwirken dieses Testaments Peter des Großen. So kann man sagen: Ja, dieses Testament Peters des Großen, es wirkt als eine historische Macht, aber es wirkt zu gleicher Zeit, wenn man die konkreten Tat­sachen ins Auge faßt, so, daß es verwirrt. Nun, nehmen Sie das dazu, was ich oftmals bei anderen Gelegenheiten ausgeführt habe, wie vom Westen inauguriert worden ist die spätere Politik, von der ich gesagt habe, sie läßt sich bis in die sechziger Jahre ganz gut zurückführen. Diese Politik besteht darin, daß angestrebt worden ist, im Osten dasjenige hervorzurufen, was sich ja dann auch hinlänglich erfüllt hat bis in alle Einzelheiten, was dann im Grunde genommen die Welt­kriegskatastrophe hervorgebracht hat. Dann kann man sich ja sagen, wenn man jetzt ordentlich geschichtlich, innerlich geschichtlich zu denken vermag: Ja, ist denn nicht die ganze Sache mit Peter dem Großen ein wunderbares Vorspiel, ein grandioses Vorspiel desjeni­gen, was später gekommen ist? - Ich möchte sagen, wenn irgendein Geist dasjenige hätte erzeugen wollen, was dann später gekommen ist im 20. Jahrhundert, er hätte nicht besser die Verwirrung, die vom

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Osten ausgeht, anrichten können als dadurch, daß er sich hätte kom­men lassen den Peter den Großen nach dem Haag, wo immer ver­schiedenes gebraut worden ist in bezug auf die Zusammenhänge der europäischen Politik, denn da gibt es einen kurzen Weg nach dem Anglo-Amerikanischen hinüber. Aber es ist Peter der Große dann zurückgegangen nach Petersburg, und er hat dort dasjenige inaugu­riert, was fortwirkte als «Testament Peters des Großen», womit man in einer wunderbaren Weise das eingeleitet hat, was eben jene Zu­stände geschaffen hat, die man brauchte, um dann das Spätere herbei­zuführen.

Es klingt, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn man so et­was sagt, natürlich immer so, als würden die Dinge geradezu ab­sichtlich ins Paradoxe gezerrt; aber wenn man etwas kurz darstel­len muß, kann man es nicht anders, als daß man manches in schär­ferer Weise darstellt. Aber ich wollte eben darstellen - wollte man es ganz genau schildern, so müßte man eben manches anders sa­gen -, wie tatsächlich das Testament Peters des Großen eine reale historische Macht ist, trotzdem es in dem Sinne, wie Graf Polzür gesagt hat, eine Fälschung ist und Peter der Große niemals so etwas geschrieben hat wie dieses Testament oder dergleichen. Ich habe Ihnen gezeigt, wie es Kreise gezogen hat, wie man sehen kann am Beispiel der im österreichischen Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder. Ich habe Ihnen gezeigt, wie man sagen kann, daß es da durchzittert, wenn man die Hausnerschen Reden über die Zivilisa­tion nimmt und alle die Reden liest, die da gehalten wurden von Prazák und anderen - man spürt, ich möchte sagen den Wind, der von diesem Peter dem Großen kommt. Man spürt in alle den Reden, die gegen und für die Okkupation von Bosnien und der Herzegovina gehalten worden sind, man spürt da in diesen Kämp­fen, die sich damals abgespielt haben, wie irgend etwas werden sollte. Man versuchte, einen Sinn hineinzubringen in die österrei­chische Politik: Es konnte kein Sinn hineingebracht werden, weil dasjenige wirkte, was den Sinn herausnehmen sollte, was zunächst Verwirrung stiften sollte, um dasjenige bewirken zu können, was dann im 19. Jahrhundert und später gekommen ist.

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Es ist leider die Zeit natürlich zu kurz gewesen, um so genau diese Dinge auszuführen, wie sie ausgeführt werden müßten, wenn man sie etwa beweisend darstellen wollte. Aber es liegt die Sache so, daß man durchaus sehen kann, wie das Testament Peters des Großen wirkte und wie es eigentlich darauf ankommt, die Wirk­samkeit dieses Testamentes zu verstehen. Denn dieses Testament -ich sage das jetzt nicht mit einer moralisierenden Nuance, sondern rein als Tatsache, ohne Emotion -, dieses Testament Peters des Großen hat eigentlich Österreich kaputtgemacht, natürlich neben der Unfähigkeit der Deutschen in Österreich, dieses Testament zu verstehen.

Und daher kann man schon sagen: Wer nun wirklich etwas Aussichtsvolles will, der muß eben ein anderes Dokument an die Stelle des Testamentes Peters des Großen setzen. Und da ist es schon notwendig, die Kräfte aufzusuchen, die eben dargestellt wurden durch jene Thesen, auf die Graf Polzer ja hingewiesen hat. Auf diese Sache will ich jetzt nicht eingehen. Ich wollte nur mit ein paar Strichen angeben, wie man sich vorzustellen hat, wie eben das Testament Peters des Großen eine Realität ist, die Kreise gezogen hat, und wie diese Kreise durchaus auch politisch-historische Realitäten sind.

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SECHSTER DISKUSSIONSABEND Dornach, 30. August 1920 Der Künstler im dreigliedrigen sozialen Organismus

Ernst Uehli spricht einleitend über das Thema «Der Künstler im dreiglied­rigen sozialen Organismus». Anschließend findet eine Diskussion statt, in deren Verlauf Paul Baumann an Rudolf Steiner die Frage stellt:

Paul Baumann: In welchem Verhältnis steht der Künstler beziehungswei­se seine Arbeitsleistung zur sozialen Urzelle? Hat er nicht auch Arbeits­leistungen zu erbringen in Zeiten der Vorbereitung?

Rudolf Steiner: Wenn es sich um Kunst und soziales Leben han­delt, so habe ich eigentlich immer ein gewisses unbefriedigendes Gefühl bei einer diese beiden Dinge betreffenden Diskussion, aus dem einfachen Grunde, weil schon die ganze Art der Gedanken-einstellung, der Seeleneinstellung, die in Frage kommt, wenn man von sozialer Gestaltung, von sozialer Struktur spricht, eine etwas andere sein muß als diejenige, die man haben muß, wenn man von Kunst, von ihrem richtigen Hervorgehen aus der Menschen-natur und ihrer Geltendmachung im Leben, vor den Menschen reden soll.

In einer gewissen Beziehung sind die beiden Gebiete miteinan­der nicht recht vergleichbar. Und gerade weil sie das nicht sind -nicht, weil sie es sind, sondern weil sie es nicht sind - scheint mir, daß man gerade vom Gesichtspunkte der Dreigliederung des sozia­len Organismus die ganze Stellung der Kunst zum Künstler und zur Menschheit beleuchten kann. Wenn man allerdings von der Kunst im sozialen Organismus spricht, so sollte man keinen Augenblick vergessen, daß die Kunst zu den höchsten Blüten des menschlichen Lebens gehört und daß der Kunst alles schädlich ist, was an ihr so ist, daß man es nicht zu den höchsten Blüten der Ausgestaltung des menschlichen Lebens rechnen kann. Und so muß man sagen: Wird es einem dreigliedrigen sozialen Organismus

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möglich sein, das Leben im allgemeinen so zu gestalten, daß Künst­ler und Kunst aus diesem Leben hervorgehen können, so wird dies eine gewisse Probe für die Richtigkeit, auch für die innerliche Be­rechtigung der Dreigliederung des sozialen Organismus sein. Aber es wird sich nicht gut die Frage stellen lassen: Wie muß man das eine oder andere einrichten im dreigliedrigen sozialen Organismus, um zu einer richtigen Kunstpflege oder zu einem richtigen Gel­tendmachen des Künstlers zu kommen? Vor allen Dingen wird ja die Frage sein: Wie werden die Menschen leben im dreigliedrigen sozialen Organismus? Man kann sagen: Wäre die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus irgendeine utopistische Idee, so würde man natürlich sagen können, was man von Utopien sagt: Die Menschen werden glücklich leben - so glücklich, als es nur sein kann. - Nun geht ja die Idee der Dreigliederung des so­zialen Organismus gar nicht von solchen utopistischen Bedingun­gen aus, sondern sie fragt einfach: Wie ist die naturgemäße Struk­tur, die selbstverständliche Struktur des sozialen Organismus?

Man könnte sich ja gut vorstellen, daß irgendein Mensch die Idee hätte, der Mensch als solcher könnte ja viel schöner sein, als er ist, und die Natur habe eigentlich nicht alles getan, um den Menschen schön genug zu machen. Ja aber, so wie einmal die Welt im ganzen ist, so mußte der Mensch so werden, wie er ist. Es kann natürlich sein, daß irgendein Lenin oder Trotzki sagt: Der soziale Organismus muß so und so sein. - Darauf kommt es aber gar nicht an. Ebensowenig kommt es darauf an, ob sich irgend jemand ein anderes Wesen des Menschen vorstellt, als aus dem Ganzen der Natur heraus entstehen kann. Es kommt darauf an, welche inneren Gesetzmäßigkeiten der soziale Organismus haben muß. Und ver­steht man von diesem ganz durch und durch praktischen Gesichts­punkte aus den dreigliedrigen sozialen Organismus, so kann man dann auch schon Vorstellungen gewinnen darüber, was in diesem dreigliedrigen sozialen Organismus möglich sein wird. Vor allen Dingen wird eine gewisse ökonomische Ausnutzung der Zeit mög­lich sein im dreigliedrigen sozialen Organismus, ohne daß man Arbeitszwang oder dergleichen schöne Dinge brauchen wird, die

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alle Freiheit gründlich ausrotten würden. Es wird einfach unmög­lich sein durch die Dinge, wie sie sich im dreigliedrigen sozialen Organismus ergeben, daß so viele Menschen wie jetzt unnütz her­umlungern. Ich weiß, daß man mit diesen Worten «unnütz herum­lungern» Mißverständnisse hervorruft; denn die Leute werden sa­gen: Ja, die eigentlichen Herumlungerer, die eigentlichen Lebens-bummler, das sind nur sehr wenige. - Darauf kommt es aber nicht an, sondern es kommt darauf an, ob diejenigen Menschen, die viel tun, etwas tun, was unbedingt für das Leben notwendig ist, ob sie etwas tun, was sich rationell, fruchtbar in das Leben hineinstellt.

Wenn Sie heute irgendeinen Zweig des Lebens ins Auge fassen

- ich will gleich denjenigen herausheben, der ja am brüchigsten ist in diesem heutigen Leben -, wenn Sie zum Beispiel den Journalis­mus ins Auge fassen und sehen, wieviel menschliche Arbeitskraft notwendig ist, vom Setzergesellen an bis zu all den anderen, die damit beschäftigt sind, daß Zeitungen zustandekommen. Nehmen Sie all das zusammen, was da an Arbeit geleistet wird - der größte Teil dieser Arbeit wird von Lebensbummlern geleistet, denn der größte Teil dieser Arbeit ist eigentlich unnötige Arbeit. Man kann das alles rationeller machen, ohne so viele Menschen dabei zu be­schäftigen. Nicht darum handelt es sich, daß man möglichst viele Menschen mit etwas sich befassen läßt, damit sie leben können, sondern darum, daß im Sinne eines wirklichen sozialen Lebens-kreislaufes diejenigen Beschäftigungen verrichtet werden, die zu einem gedeihlichen Entfalten dieses Lebens, dieses sozialen Kreis­laufs, nötig sind. Das alles, was heute an Chaotischem entsteht in bezug auf die Verwertung der menschlichen Arbeitskraft, das hängt ja damit zusammen, daß wir eigentlich gar keinen sozialen Orga­nismus haben, sondern wir haben eigentlich ein durch die Ver­götterung des Einheitsstaates hervorgerufenes soziales Chaos. Ich habe oftmals Beispiele hervorgehoben von diesem sozialen Chaos. Nehmen Sie nur einmal an, wie viele Bücher heute gedruckt wer­den, von denen keine fünfzig Exemplare verkauft werden. Nun, nehmen Sie solch ein Buch - wie viele Menschen sind damit be­schäftigt, bis es fertig ist! Die haben ihr Auskommen, aber sie

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machen ganz unnötige Arbeit. Wenn sie etwas anderes täten, wäre es gescheiter, und es würden dadurch unzählige andere Menschen nach einer gewissen Seite hin entlastet. So aber arbeiten unzählige Setzer, arbeiten unzählige Buchbinder, sie machen Stöße von Bü­chern - meistens sind es lyrische Gedichte, es kommen aber auch noch andere Dinge in Betracht -, Stöße von Büchern werden fabri­ziert; fast alle müssen wieder eingestampft werden. Aber solche unnötigen Dinge gibt es viele im heutigen Leben; unzähliges ist absolut unnötig.

Was bedeutet das? Denken Sie sich einmal, unser menschlicher Organismus wäre nicht ordentlich gegliedert in das Nerven-Sinnes-System, das seine Lokalisierung im Kopf hat, in das rhythmische und in das Gliedmaßensystem, die in regulärer Weise zusammen­wirken und dadurch ökonomisch wirken. Denken Sie sich einmal, wir waren so ein Einheitswesen, das überall durcheinandergeht, wo überall Unnützes fabriziert wird, das alles schnell wieder ablaufen muß: es würde gar nicht genügend sein, was der Mensch heute an Abflußorganen hätte für unnütze Dinge. Das müssen wir beden­ken. Wir müssen uns klar darüber sein, daß es darauf ankommt, daß dieser soziale Organismus gegliedert, daß er tatsächlich inner­lich gesetzmäßig gestaltet sein muß; dann wird er auch ökonomisch sein. Dann wird die menschliche Arbeit an ihrem richtigen Platze überall stehen, und vor allen Dinge, es wird nicht unnütze Arbeit verrichtet werden.

Was folgt daraus? Die Menschen werden Zeit haben. Und dann, meine sehr verehrten Anwesenden, dann ist die Grundlage erst gegeben für solche freie Betätigungen, wie es die Kunst und ähn­liche Dinge sind. Dazu gehört Zeit. Und aus der Zeit heraus wird dasjenige kommen, was da sein muß zur Kunst, und die Kunst wird dann mit etwas anderem zusammen wirken, sie wird wirken zusammen mit dem freien Geistesleben. Dieses freie Geistesleben geht darauf hinaus, mit der im dreigliedrigen sozialen Organismus vorhandenen Zeit zusammen die Begabungen zu entwickeln -nicht in dieser perversen Weise, wie es heute der Fall ist, sondern in einer naturgemäßen Weise. Wenn der freie geistige Organismus

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wirklich von den anderen Organismen abgesondert wird, dann wird die Zahl der verkannten Genies wesentlich abnehmen, denn es wird eine viel naturgemäßere Entwicklung da sein. Man wird viel weniger Träumereien von irgendwelchem Künstlertum und der­gleichen nachgehen. Also, es wird die Entfaltung der Talente ein­fach durch die Entfaltung des freien Geisteslebens auf naturgemä­ßeren Boden gestellt. Und noch etwas anderes ist notwendig, wenn die Kunst sich entfalten soll: es ist künstlerischer Sinn, künstleri­sches Bedürfnis, naturgemäßes Verlangen und Begehren der Men­schen nach der Kunst notwendig. Das alles muß sich ergeben aus dem dreigliedrigen sozialen Organismus heraus als dasjenige, was eben entsteht, wenn ein organisiertes gesellschaftliches Zusammen­leben da ist, nicht ein chaotisches wie heute. Sehen Sie, vor allen Dingen sind wir ja in der neueren Zeit in das Chaos des künst­lerischen Empfindens hineingekommen. Das ursprüngliche künst­lerische Empfinden, das mit elementarer Kraft aus der mensch­lichen Erkenntnis herausquillt, das ist ja unter der modernen Bil­dung ganz und gar verschwunden. Das würde wieder kommen, wenn wir uns im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organis­mus entwickeln würden. Und so muß man sich das Ganze, was da entsteht, nun denken.

Man muß ja, wenn man vom Gesichtspunkte des dreigliedrigen sozialen Organismus aus spricht, nur als Praktiker sprechen und nicht als Theoretiker, man darf nicht nach Prinzipien fragen, son­dern man muß nach Tatsachen fragen, und da muß man sagen, das, was ich jetzt angedeutet habe, kann viel schneller kommen, als man denkt. Und was entsteht dann? Dann entstehen für die mannigfal­tigsten Dinge - zum Teil aus dem Geistesleben, zum Teil aus dem Wirtschaftsleben heraus - Assoziationen. Und man sollte eigentlich nicht irgendwie eingeschachtelt in Paragraphen und in Prinzipien sich das vorstellen, was diese Assoziationen tun werden. In diesen Assoziationen werden wiederum Menschen sein, die aus der gan­zen Wärme des menschlichen Empfindens und Erlebens heraus werden Urteile fällen können. Es werden aus den Assoziationen Menschen hervorgehen, welche sich durch dasjenige, was sie sonst

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im Leben tun, eine gewisse Geltung im Leben verschaffen werden, die ihnen nicht durch den Staat, die ihnen nicht durch einen Rats­titel garantiert wird. Ob da nun die Leute Geheime Hofräte oder Betriebsräte oder Sanitätsräte und dergleichen sind: es werden die Leute aus dem dreigliedrigen sozialen Organismus heraus nicht eine Geltung haben durch diesen abstrakten Dinge, sondern durch dasjenige, was sie tun, was fortwährend lebt. Durch die Assoziatio­nen werden die Dinge leben; es werden nicht Paragraphen leben, sondern es wird sich das ergeben, was die in den Assoziationen mit Recht Geltung habenden Menschen miteinander verhandeln; es wird sich das ergeben, was jetzt in Karikatur vorhanden ist als sogenannte öffentliche Meinung. Man muß sich das nur ganz kon­kret vorstellen, was durch das lebendige Wechselwirken der Asso­ziationen zustandekommen kann.

Zu den Assoziationen gehören ja auch diejenigen, die aus dem freien Geistesleben kommen. Ja, da wird tatsächlich wiederum et­was gegeben werden auf die Lebenserfahrung in einem Menschen, die als berechtigtes Urteilen die Dinge festsetzen kann. Und wenn Sie das nur in der ganzen konkreten Bedeutung nehmen, da wird sich folgendes herausbilden: es wird einfach der Künstler wirklich auch materiell für sein Kunstwerk das erringen können aus diesem offentlichen Urteilen heraus, was aber aus den Assoziationen her­aus zur Geltung kommen wird. Es wird sich aus diesen Verhältnis­sen heraus wirklich das entwickeln können, was möglich machen wird, daß ein Künstler, auch wenn er 30 Jahre lang zu einem Kunstwerke brauchen sollte, dennoch für dieses Kunstwerk soviel bekommen kann, daß er seine Bedürfnisse für die 30 Jahre, die er zu einem neuen Kunstwerke braucht, befriedigen kann - was ja ohnehin, wenn er schon 60 oder 70 Jahre alt ist, vielleicht nicht mehr in Betracht kommt. Das wird sich ergeben. Es wird sich tat­sächlich ergeben - wenn man die ganze Sache unbanausisch nimmt -, daß der Künstler aus einem solchen dreigegliederten sozialen Organismus heraus im Sinne der wirtschaftlichen Urzelle für sein Kunstwerk entschädigt werden kann. Er kann heute aus dem Grunde nicht entschädigt werden, weil da so unnatürliche Preislagen

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vorhanden sind. Eigentlich können die Menschen heute dem Künstler gar nicht das zahlen, was er eigentlich verlangen müßte, wenn er nur etwas kurz über sich denkt. Heute denkt er aber: Ich habe irgendein Bild zustandegebracht, und ja, wenn ich auch nur so viel kriege, daß ich für die nächsten drei Monate genug habe, dann nehme ich das - ich kriege natürlich in drei Monaten kein ordent­liches Werk fertig, die Leute verstehen aber auch nichts davon -, und da pumpe ich eben in drei Monaten wieder.

Nun, diese Dinge werden sich, ich möchte sagen als der höchste Extrakt erst ergeben; deshalb kann man eigentlich nicht gut über diese Dinge von vornherein diskutieren. Ich empfinde es immer als etwas Mißliches, über diese Dinge zu diskutieren - nicht wahr, nach dem pythagoräischen Lehrsatz ist das Quadrat über der Hy­pothenuse halt einmal unter allen Umständen gleich den Quadra­ten über den beiden Katheten, aber es ist unmöglich, wenn man diesen Lehrsatz nun hat, zum vornherein über alle möglichen Gra­de der Anwendung zu reden, aber er wird überall gelten. So ist es auch mit dem dreigliedrigen sozialen Organismus. Es läßt sich das nicht spezifizieren, was sich nun als die höchste Blüte des sozialen Lebens ergeben soll. Deshalb ist eine Diskussion über diese Dinge eigentlich mißlich, denn es sind zu disparate Gebiete - das soziale Leben und das künstlerische Leben. Aber wenn wir nun die Dinge im einzelnen nehmen, so müssen wir sagen: So etwas wie dieser Dornacher Bau, der mußte ja entstehen, er mußte entstehen aus einer gewissen Kultur- und Zivilisationsaufgabe der Gegenwart heraus, aus dem Erkennen dieser Aufgabe. Und ich möchte sagen:

Wenn es noch weniger Menschen gäbe, die einen blauen Dunst haben von dem, was hier eigentlich gebaut und gemeißelt und ge­malt worden ist, er hätte doch entstehen müssen in irgendeiner Weise. Dieser Bau hat aber natürlich nur entstehen können, weil die materiellen Mittel da waren, aber er wird nur fertig gemacht werden können, wenn dazu noch weitere materielle Mittel da sein werden. Es läßt sich über diese Fragen nicht so reden, daß man sagt: Ja, irgend etwas muß werden -, denn das Muß hat, wenn man von diesen Dingen redet, im Grunde genommen doch eine ganz

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andere Bedeutung. Und so meine ich: Man sollte vor allen Dingen sich ganz klar darüber sein, daß jene Freiheit der menschlichen Bewegung, die notwendig ist, um der Kunst ihre richtige Grund­lage zu geben, hervorgerufen werden wird durch den dreigliedrigen sozialen Organismus. Und erst, wenn naturgemäße Grundlagen da sind für das soziale Leben, wird jeder Mensch richtig wurzeln konnen in diesem sozialen Leben. Schließlich handelt es sich da wirklich mehr um die Sache als um die Worte.

Sehen Sie, ich erinnere mich zum Beispiel an die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Wir hatten gerade diejenige Zeit in der außeren bourgeoisen Kunstentwicklung, wo das Theater be­herrscht wurde von den Lustspielen eines Paul Lindau, eines Blu­menthal, von denjenigen also, die alle so ziemlich lustspiel- oder trauerspiel- oder schauspielmäßiges Stroh auf die Bühne hinsetz­ten; wir hatten die letzte Phase, nicht wahr, der konventionellen Malerei und so weiter. Dazumal erschien ein Buch von einem gren­zenlos bornierten Menschen - einem Menschen, von dem man nun wirklich schon, wenn man ihn äußerlich sah, nicht anders sagen konnte als: der kann nur borniert sein. - Und dieses Buch, was forderte es denn? Es forderte nichts Dringlicheres als, ja, als eben diese Kunst, die wir da gehabt haben, diese Theaterkunst, diese Bildhauerkunst, diese musikalische Kunst und so weiter. - Alles das hat keinen sozialen Grund und Boden, das ist entwurzelt, und es muß alles wiederum aus dem Sozialen heraus gebildet werden. Es waren furchtbar schöne Phrasen, aber es war eigentlich furcht­bar trostloses Zeug, denn es wurzelte nirgends im Leben. Und deshalb möchte ich schon sagen: es kommt heute nicht darauf an, daß man über solche Dinge Richtiges sagt, sondern daß man in der richtigen Weise aus der wirklichen Lebensnotwendigkeit heraus empfindet, und das heißt: Man muß empfinden die Notwendigkeit der Umwandlung, der Neubildung des Lebens. Das macht es gera­de auf diesem Gebiete notwendig, den Blick darauf zu lenken, daß wir vor allen Dingen aus der Phrase heraus müssen. Und so handelt es sich darum, daß, wenn man von der Dreigliederung des sozialen Organismus spricht, man diese Dreigliederung des sozialen Organismus

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zunächst selbst versteht; die anderen Dinge, die werden sich dann ergeben.

Ich glaube, daß man im Grunde genommen von der Kunst schon unrichtig redet, wenn man überhaupt viel über sie redet. In der Kunst sollte man malen, in der Kunst sollte man meißeln, in der Kunst sollte man bauen, aber man sollte eigentlich über die Kunst möglichst wenig reden. Sicher, es gibt gewisse Arten, über die Kunst zu reden, aber das muß dann selbst wiederum etwas Künstlerisches sein. Es gibt ja natürlich auch eine Gedankenkunst. Es wird also in Gedankenkunstwerken irgend etwas ebenso Berechtigtes aufgebaut wie in den anderen Künsten, der Kunst der Malerei und so weiter. Aber dasjenige, was künstlerisch hervorgebracht wird, ist denn doch - wenn man das Schöpferische ansieht - etwas, wovon man nicht sagen kann, es solle so oder so hervorgebracht werden oder es solle so oder so entgegengenommen werden, sondern da muß alle Not­wendigkeit des Lebens sich in eine Art von Selbstverständlichkeit verwandeln. Es ist schon notwendig, daß man sich eben auch ver­traut macht zum Beispiel mit dem Gedanken: Wenn halt kein Genie da ist, so kann es keine ordentliche Kunst geben. - Da nützt dann alles Diskutieren darüber, wie der soziale Organismus gestaltet sein soll, damit der Künstler in der richtigen Weise zu Geltung komme, nichts. Man kann dann höchstens sagen: In einem sonst doch or­dentlich gehenden sozialen Organismus wird eine entsprechende Kunst da sein, wenn möglichst viele Genies da sind; dann wird schon die richtige Kunst da sein. - Die müssen aber erst da sein, diese Genies. Und wie sie zur Geltung kommen sollen - nun, ganz gewiß, es ist das Leben mancher genialischen Menschen außeror­dentlich tragisch, aber daß Genies nun wirklich in die Welt werden hineinwirken können, daß Genies gemäß ihren durch die Geburt mitbekommenen Anlagen zur Geltung kommen können, das kann nur in einem freien Geistesleben sich begeben, denn nur da wird wirkliches Geistesleben sein.

Da wird man dann auch hinauskommen über dasjenige, was heute ja im eminentesten Sinne unkünstlerisch ist. Nicht wahr, so etwas wie Renaissance und Gotik, das waren Kategorien, die im

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Grund genommen aus einer voll lebendigen Wirklichkeit gefaßt waren. Es war Leben, und Leben ist immer etwas Universales. Und daher hatte Herr Uehli vollständig recht, wenn er davon sprach, daß so etwas wie Gotik und Renaissance herausgeboren war aus dem ganzen sozialen Zusammenhang der damaligen Zeit. Die Spal­tungen, die wir neuerdings auf künstlerischem Gebiet haben, sind ja eigentlich, ich möchte sagen immer mehr und mehr rein künst­lich entstanden, und sie sind deshalb entstanden, weil das Prinzip des bourgeoisen Lebens sich in das geistige Leben hinein fortge­setzt hat. Nicht wahr, das bourgeoise Leben hat Rentiers, das heißt Nichtstuer hervorgebracht, die von ihren Vermögensrenten leben. Ich meine so: Wenn die gerade genug Ehrgeiz hatten, wurden sie Künstler. Aber dabei handelt es sich ja nicht darum, etwas zu schaffen, was eine irgendwie geartete menschliche Notwendigkeit ist, sondern es handelt sich darum, etwas aus dem menschlichen Ehrgeiz zu schaffen, der, wenn er auch gewöhnlich abgeleugnet wird, dann doch vorhanden ist. Und da entwurzelt sich dann - wie von Herrn Uehli ganz richtig gesagt wurde - das eigentliche künst­lerische Streben.

Das innere künstlerische Streben, das ganz ehrlich und wahr ist, kann sich im Grunde genommen gar nicht entwurzeln, aber aus allem Abstrakten im Leben kann sich das künstlerische Leben na­türlich entwurzeln - wenn sich das Leben überhaupt entwurzelt. Und in einem solchen entwurzelten künstlerischen Leben, da kom­men dann Dinge, die in den Ranken des Lebens ihre Begründung haben, nicht mehr im Leben selbst, es kommen dann die Schlag­worte «Impressionismus», «Expressionismus» und dergleichen. Das sind Dinge, bei denen man immer die Notwendigkeit hat, sie erst wiederum - weil sie so auseinandergeschnitzelt sind - zusam­menzubringen. Wenn man von Impressionismus und Expressionis­mus redet - das sind ja alles nur Schablonen, Worte. Aber wenn wir von unserer Eurythmie reden, dann müssen wir - nicht wahr, weil diese Dinge nun da sind -, dann müssen wir in der Eurythmie die Expressionen wieder zu Impressionen und die Impressionen wieder zu Expressionen machen. Das ist außerordentlich wichtig,

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daß man sich klar darüber wird, daß solche Schlagworte, solche lehrhaften Abstraktionen wie «Impressionismus» und «Expressio­nismus», eigentlich immer dann auftreten, wenn das ursprüngliche Leben nicht da ist. Denn solche Worte - man kann sie auf alles anwenden. Was ist denn keine Expression? Wenn irgend jemand ein schlechtes Gedicht macht, so ist es auch eine Expression, wenn irgend jemand niest, so ist es auch eine Expression. Und so kann man schließlich alles, auch den Dornacher Bau, als eine Expression bezeichnen. Aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, daß man die Dinge aus einer konkreten Lebensunter­lage heraus charakterisiert. Dann wird man nicht zu Schlagworten greifen, sondern zu Dingen kommen, die irgendwie ernsthaftig gemeint sein können.

Ich will einmal vergleichen: In der Theosophischen Gesellschaft wird von der «Gleichheit der Religionen» geredet. Wenn nun je­mand zu solchen Abstraktionen kommt wie Gleichheit oder Ein­heit der Religionen, dann kommt man auch auf anderen Gebieten zu solchen furchtbaren Abstraktionen, so daß man zum Beispiel sagen könnte: Nun ja, alles, was auf dem Tisch steht, das ist «Spei­sezutat». - So wie man im Indertum, im Persertum, im Theoso­phentum, im Judentum überall ein Gleiches herausschälen kann, so kann man nämlich auch bei Pfeffer, Salz, Paprika und noch bei anderen Dingen das Gleiche zugrundelegen, nämlich «Speisezutat». Aber da sieht man bald, daß es auf das Konkrete ankommt, sonst könnte es einem passieren, daß man den Kaffee salzt und die Suppe zuckert. Es handelt sich darum, daß man den Willen hat, auf das Konkrete einzugehen. Dann ist es aber auch wiederum so, daß man gerade beim Künstlerischen die Kategorien, die in der neuesten Zeit aufgetreten sind, im Grunde genommen als etwas ganz beson­ders Rankenhaftes empfindet. Ich bin durchaus nicht auf dem Standpunkt, nun das alles, was die Einzelnen leisten, die sich Ex­pressionisten nennen - weil es schon einmal solche Namen geben muß -, das alles zu verdammen. Im Gegenteil, ich glaube sogar, daß ich ein sehr weites Herz haben kann und daß ich sogar ein Herz haben kann für solche expressionistische Leistungen, die andere

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Menschen als etwas Zusammengekleistertes ansehen. Aber das Theoretisieren, das angeknüpft wird an solche Dinge, das scheint mir wirklich die Menschen von einer gesunden Lebensgrundlage wegzuführen. Und es ist ja heute tatsächlich auch so, daß viele Menschen das Leben eigentlich nur noch aus den abgeleiteten Quellen kennen. Es gibt Menschen, die nicht das Leben kennen, sondern Ibsen kennen oder Tolstoi kennen oder Rabindranath Tagore kennen, der jetzt in den Kreisen, die kein eigenes Urteil sich aneignen können, eine Art von Mode zu werden beginnt. Und wenn man heute auf alle diese Dinge sieht, wenn man sieht, wie die Leute in den Ranken des Lebens sich herumtreiben, dann emp­findet man es schon als eine Notwendigkeit, daß einmal wiederum betont werde, wie in einem gesunden sozialen Organismus - und das soll der dreigliedrige sein - wie da eben dieses Entwurzeltsein aufhören muß. Von diesem Gesichtspunkte aus schien mir manche Bemerkung von Herrn Uehli von einer ganz besonderen Be­deutung.

Ich habe leider, trotzdem ich lange genug gesprochen habe, im Konkreten nicht viel hinzufügen können, denn wer mit künstleri­schem Sinn über diese Dinge spricht - das hat sich auch in der Rede des Herrn Baumann ergeben -, der muß eben so reden, daß das Reden über alle die Fragen, die heute so herumschwirren über die Stellung des Künstlers - zum Beispiel, ob man ausstellen soll oder nicht oder ob Genies versagen oder nicht -, eigentlich im Grunde genommen ziemlich zwecklos ist. Ich meine, man sollte das viel mehr einsehen; dann wird es schon zum Richtigen führen. Ist einer ein Künstler, dann kann er auch hungern, dann kann er auch einen ihn vom Morgen bis zum Abend beschäftigenden Beruf haben; er wird noch in der Nacht seine künstlerische Genialität entfalten. Das läßt sich nicht unterdrücken. Ist einer ein Künstler, dann wird er sein künstlerisches Leben ausleben, auch wenn er sonst Holz hacken oder Stiefel putzen muß - er wird sein künstlerisches Leben ausleben, und wenn er es für nichts anderes auslebt als für sein eigenes Zimmer, für seinen eigenen Schrank. Es sind das Dinge, die durchaus eben nicht rational behandelt werden können, die selber,

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ich möchte sagen auch ein bißchen künstlerisch behandelt werden sollten. Und das Künstlerisch-behandelt-Werden schließt im Grunde genommen das Banausentum aus, das läßt sich nicht ver­philistern. Und nun ist es ja eigentlich so, nicht wahr, wenn man die allgemeine Menschheit in eine soziale Ordnung bringen soll, dann kann man nicht das, was eben nur an der persönlichen Genia­lität hängt, paragraphenmäßig oder prinzipienmäßig eingliedern. Man muß eigentlich immer, auch wenn man von der Stellung der Kunst im Leben redet, irgend etwas von einem künstlerischen Fühlen haben, und dann werden die Dinge eigentlich immer ins freie Reden, ins freie Schaffen übergehen; man kann da nicht ab­zirkeln. Da dürfen sich die Dinge, die für das Leben so notwendig sind, nicht abzirkeln.

Ich möchte sagen, es ist notwendig, daß man von der künstleri­schen Empfindung aus über die Kunst redet und daß man da schon einmal ein klein wenig von Philistrosität in seinen Adern hat - man braucht das ja nicht gleich zu schlimm zu machen -, wenn man von dem, was allgemein-menschlich ist, reden soll. Denn, meine sehr verehrten Anwesenden, schlimm wäre es im Leben, wenn es nur solche Menschen gäbe, die Künstler wären, oder wenn alle diejeni­gen, die glauben, daß sie als Künstler zu Anerkennung kommen sollten, wenn die wirklich zu Anerkennung kämen. Ich möchte wissen, was dann aus dem Leben werden sollte. Notwendig ist für das Leben allerdings die Genialität, aber notwendig ist für das Leben auch schon die Philistrosität. Und gäbe es keine Philistrosi­tät, so gäbe es wahrscheinlich sehr bald auch keine Genialität mehr. Es lassen sich die Kategorien «gut» und «schlecht» nicht so ohne weiteres auf das Leben anwenden, sondern das Leben ist vielgestal­tig. Reden kann man viel, aber man sollte eigentlich nichts anderes reden, als was aus dem Leben selber heraus genommen ist.

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SIEBENTER DISKUSSIONSABEND Dornach, 6. September 1920 Soziale Erkrankung und Sozialismus

Paul Baumann leitet den Diskussionsabend durch einen Vortrag von «So­ziale Erkrankung und Sozialismus» ein. Im Anschluß an diesen Vortrag führt Rudolf Steiner aus:

Rudolf Steiner: Es ist nur ein Stimmungsbild, das geschaffen wer­den soll, aber auch zugleich etwas, woraus Sie sehen, wie weit bereits die Schamlosigkeit geht in bezug auf die Bekämpfung alles desjenigen, was von mir ausgeht, und wie diese Schamlosigkeit bereits in solche Schmierageblätter wie die Lorcher Nachrichten übergeht. Es ist das in Lorch, in Württemberg, erscheinende Blatt, «Der Leuchtturm», in dem ein Artikel erschienen ist, der heißt:

«Die gestohlene Dreigliederung». Würde ein solches Blatt durch nichts anderes als durch einen solchen Artikel sich in seiner Scham-losigkeit enthüllen, so würde es sich gerade dadurch als ein scham­loses Schmierblatt charakterisieren. Ich erwähne das, damit einiges von dem, was öfters gesagt worden ist, auch gerade in Anknüpfung an unsere Anhängerschaft, seine Beleuchtung findet, denn dieser «Leuchtturm», der neben anderem «den Kampf gegen Dr. Steiner und die Theosophie führt», ist von zahlreichen unserer Anthropo­sophen abonniert. Den Herausgeber dieses Blattes, der in Wirk­lichkeit Rohm heißt, habe ich öffentlich in einem Vortrag in Stutt­gart in einer Art Vergleich als ein «Schwein» bezeichnen müssen. Ich möchte das hier ausdrücklich hervorheben, aber es stehen einem heute gegen das, was aus den übelsten Lügegründen heraus heute zusammengelogen wird, eben keine anderen Mittel zur Ver­fügung als Mittel dieser Art.

Und dieser Rohm schreibt im «Leuchtturm» vom 1. Juni 1920 unter dem Stichwort «Die gestohlene Dreigliederung»:

Frau Elisabeth Mathilde Merzdorff-Teschner in Sooden an der Werra tritt

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mit einer kleinen Broschure (Das Buchlein hat den Titel. «3.5, 5.8 - 21.34. Das Geheimnis, die Schuldenlasten in absehbarer Zeit tilgen zu können») an die Öffentlichkeit, die in ihrem Selbstverlag erschienen ist. Die Frau hat etwas zu sagen. Das Büchlein behandelt ideell die göttliche Proportion des Goldenen Schnittes und leitet aus demselben eine morphologische Drei-gliederung ab, deren praktische Auswirkung die Möglichkeit der Tilgung der Kriegsschulden des deutschen Volkes in absehbarer Zeit sein soll. Auf den wenigen Blättern dieser Schrift ist eine überraschende Fülle von Ge­danken untergebracht; man hat den Eindruck: die Frau hat die besten Stük­ke ihres Wissens hervorgeholt und in Extraktform dargeboten, um gehört zu werden, um den Beweis zu liefern, daß sie das Recht hat, gehört zu werden.

Das Schriftchen, das ich vor acht Tagen durch Herrn Uehli überreicht bekommen habe, macht durchaus den Eindruck eines absoluten Blödsinns - eines absoluten Blödsinns! Und wenn «Dreigliederung» dadurch gestohlen werden kann, daß man die Zahl «Drei» stiehlt, so kann Dreigliederung natürlich vielfach ge­stohlen werden. Eine Art von Dreigliederung ist allerdings auch in jenem Büchelchen, und sie heißt: Staat, Kulturreich, Kirche. So heißt dort die Dreigliederung, und die Sache mit dem Goldenen Schnitt läuft darauf hinaus - Sie wissen, der Goldene Schnitt be­steht darin, daß sich das Ganze zum Großen verhält wie das Große zum Kleinen -, daß also der Staat als das Ganze zum Großen, zum Kulturreich, sich so zu verhalten hat wie das Kulturreich zur Kir­che. Wir haben also wiederum den Einheitsstaat drinnen in dieser ganz blödsinnigen «Dreigliederung».

#Bild s. 111

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Weiter heißt es in dem Leuchtturm-Artikel:

Wir erfahren folgendes: Es besteht ein internationaler Orden für Ethik und Kultur, den Alfred Knapp, ein deutscher Pfarrerssohn gründete und dessen Vorsitz heute Professor August Forel führt.

- jener Knapp, ein Individuum, das so ziemlich den übelsten Parteischattierungen der Gegenwart angehört, der sich, wie ich glaube, in Zürich aufhält. Und weiter:

Frau Metzdorff-Teschner arbeitete im Münchner Heim dieses Ordens an der Enthüllung der «morphologischen Dreigliederung» nach dem Gesetz des Goldenen Schnitts. Mit den Resultaten ihres Forschens trat sie an ver­schiedene Stellen heran, die ihr geeignet schienen, ihre Entdeckung zum Nutzen des deutschen Volkes zu verwerten; unter anderem an das Presse-amt des Kriegsministeriums in München, an den Verfasser der «Fürsten ohne Krone», den Freybund Nienkamp, und an - eine «philanthropische Gesellschaft», deren Hauptsitz in Stuttgart ist und die sich als die - Steiner-Gesellschaft entpuppte. Diese famose «philanthropische Gesellschaft» er­hielt das Manuskript der Frau Metzdorff-Teschner leihweise auf acht Tage; erbat es sich dann auf mindestens vierzehn Tage, «da das Haupt der Gesell­schaft nicht immer anwesend sei»; «die Forderung der Namensnennung dieses Hauptes wurde mit der dringenden Bitte um Vertrauen verneint»; statt der zugestandenen vierzehn Tage wurde das Manuskript vier Wochen behalten. Und bald darauf trat das geheimgehaltene Haupt der fraglichen «philanthropischen Gesellschaft», nämlich Dr. Rudolf Steiner von der «an­throposophischen Gesellschaft», mit einer nagelneuen Idee, der Dreigliede­rung des sozialen Organismus, vor die Öffentlichkeit.

Kurz und gut: das ist alles erstunken und erlogen, kein wahres Wort ist daran.

Es ist alles absoluter Unsinn. Denn es kann ja sein, daß irgend­ein Schwarmgeist, der selbst vielleicht Mitglied unserer Gesell­schaft ist, dazumal das blödsinnige Manuskript in Stuttgart gezeigt bekommen hat; ich habe es jedenfalls nie gesehen, habe mich auch niemals darum gekümmert. Und es soll dann dieses blödsinnige Manuskript durch irgendeinen Schwarmgeist - so schreibt Frau

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Metzdorff-Teschner - nach Hamburg befördert worden sein. Nun, in Hamburg ist allerlei Schwarmgeisterei auch der Anthroposophi­schen Gesellschaft nicht ganz fremd. Das geht mich aber alles nichts an, und es ist auch ganz gleichgültig.

Bis jetzt haben Sie also gehört, daß die Dreigliederung, wie sie hier gepflegt wird, von der Frau Metzdorff-Teschner stammen soll. Der letzte Abschnitt im Leuchtturm-Artikel sagt noch folgendes:

Frau Metzdorff-Teschner beschuldigt also den Dr. Steiner des Diebstahls der Dreigliederungsidee; ihr Büchlein ist eine Streitschrift für die Priorität des Dreigliederungsgedankens, und das Beachtenswerteste dabei ist, daß Frau Metzdorff-Teschner dem Sinne nach sagt: «Nicht nur gestohlen hat Dr. Steiner meine Dreigliederungsidee, er hat sie nicht einmal richtig erfaßt und hat sie verpfuscht, er hat aus einer brauchbaren Idee eine unbrauchbare gemacht, die nicht geeignet ist, unserem Volk aus seiner Not zu helfen, sondern nur seinen und seiner Gesellschaft Beutel zu füllen.»

Also Sie sehen, hier wird die grandiose, geniale Idee aufge­wärmt: Der hat mir meine Uhr genommen - aber er hat dann eine ganz andere gehabt. Also Sie sehen, in dieser Weise wird heute gekämpft. Es ist natürlich schon notwendig, daß unsere Freunde in weitesten Kreisen wissen, mit welchen Mitteln heute in der Welt gekämpft wird. Es ist ja nicht einmal so interessant, daß es gerade gegen uns geht, sondern das Interessante ist schließlich, in welchem Sumpfe von Lügereien wir heute in der Welt drinnenstecken. Und Sie sehen, wie notwendig es ist, daß gegen diesen Sumpf von Lü­gereien wirklich ganz ernsthaft gekämpft werde. Vorläufig habe ich nur konstatieren können, daß es eine ganze Reihe von Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft in Stuttgart gibt, die jedes­mal, wenn derartige Blätter mich mit Dreck bewerfen, sie allemal brav abonnieren.

Ich möchte nun übergehen auf die Beantwortung der Fragen, die noch gestellt wurden. Zunächst die Frage:

Man hört von sozialistischer Seite immer wieder: Nur Gewalt kann die Menschheit retten. - Scheint es nicht fast, daß das richtig ist?

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Meine sehr verehrten Anwesenden, über den Punkt der Gewalt, der bloßen Machtentfaltung, möchte ich ein paar Worte sprechen. Es ist vielleicht nicht ohne Bedeutung, sich gerade heute auf dasje­nige zu besinnen, was aus verschiedenen menschlichen Instinkten heraus an dieses Mittel der Gewalt zur Herstellung eines men­schenwürdigen Zustandes appelliert. Denn es ist eigentlich ganz besonders interessant, sozialpsychologisch dieses Streben nach Lösung wichtiger Fragen durch die Gewalt zu verfolgen. Es ist namentlich ein fruchtbarer Gedanke, der leider nur viel zu wenig verfolgt wird, sich zu fragen: Woher kommen denn die schlimm­sten Erscheinungen und Auswüchse gerade der unmittelbaren Ge­genwart? - Diese Erscheinungen haben gelebt bis in unsere kata­strophale Zeit herein, aber unter der Oberfläche, sie waren latente Leidenschaften, sie waren zurückgehaltene Sehnsuchten nach Ge­walt. Sie waren niedergehalten, und der gesellschaftliche Zustand, der soziale Zustand, war etwas wie eine gewaltige Lüge. Diese Lüge, die durch die ganze zivilisierte Welt ging, die in den Unter­gründen niedergehalten war, die konnte nicht mehr zurückgehalten werden im Jahre 1914. Es brach das ganze Lügensystem, das unter einer dünnen Schicht vorhanden war, da hervor. Die schlafenden Menschen, ich meine die seelisch schlafenden Menschen, sie haben sich an diese obere Schicht gehalten; sie haben die für die Welt gehalten, für das Menschenleben gehalten, und sie haben denjeni­gen nicht geglaubt, die von dem sprachen, was eigentlich unter dieser Schicht verborgen war. Es ist ja heute auch wieder so. Wenn man heute von irgend etwas redet, was notwendig ist zu bespre­chen, dann kommen die Lügengeister und entladen ihre schlimm­sten, schmützigsten Lügengewebe auf dasjenige ab, was sich als Wahrheit in die Welt hineinstellen möchte. Es nützt aber nichts -die Menschheit, die ernsthaftig teilnehmen will an irgend etwas, was zur Gesundung der sozialen Zustände geschaffen werden soll, muß mit offenen Augen hinsehen auf dasjenige, was sich eigentlich heute an die Oberfläche begibt.

Und da möchte ich Ihnen ein kleines Beispiel aus der allerjüng­sten Zeit mitteilen, aus dem Sie sehen können, was jetzt, wo die

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Geister gewissermaßen losgelassen sind, wo die Geister da, wo es geht, an die Macht appellieren, was da geschieht.

Rudolf Steiner verliest einen Zeitungsartikel aus dem hervorgeht, wie unter General Lüttwitz mit Prügelstrafen und anderen Gewaltmaßregeln gegen die deutschen Mitbürger vorgegangen wurde. Es wird der Fall eines Mannes erzählt, der wegen Betretens eines kurz vorher verbotenen Weges angeru­fen, zu Boden geworfen, schließlich verhaftet und ve'prügelt wurde. Als zur Bestrafung der rohen Soldateska die höheren Instanzen angerufen wurden, bekam der Klager die Antwort, daß die Soldaten die Erlaubnis hätten, gegen Personen, die sich ihnen widersetzen würden, so vorzugehen. Diese Antwort war vom Kommandeur selbst unterschrieben worden.

Rudolf Steiner: Sehen Sie, meine verehrten Anwesenden, so weit hat es die moderne Zivilisation gebracht. Sie wissen ja, daß in Ungarn die Prügelstrafe eingeführt worden ist, daß Polen die Prü­gelstrafe eingeführt hat. Sie sehen also, die Prügelstrafe wandert von Osten nach Westen. Und wenn die Menschheit so weiter schläft und sich weiter so verhält, wie sie sich gegenwärtig verhält, dann wird eben nicht zu verwundern sein, was wir alles noch werden erleben können.

Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, wir leben auch in einer Zeit, die sehr merkwürdige Diskussionen führt. Ich werde Ihnen eine kleine Probe von dieser Diskussionsart, in der wir heute drin­nenleben, mitteilen. Es handelt sich darum, wie ein Publizist seine Regierung kritisiert. Sie wissen vielleicht aus jenen Zeiten, die das Schlafen großgezüchtet haben, wie man mit scharfen Ausdrücken aufgefahren ist, wenn man als Oppositionsmann die Regierung angegriffen hat. Nicht jede Opposition hat ja in so höflicher Weise die Regierung angegriffen wie zum Beispiel in gewissen Zeiten die österreichische radikale Opposition, die, wenn sie heftige Vorwürfe gegen die Regierung schleuderte, diese unterzeichnete mit der Unterschrift «Euer Majestät allergetreueste Opposition». (Heiter­keit!) Aber seit einigen Jahrzehnten sind die Dinge anders gewor­den, und heute, in der Zeit, in der sich sehr viele Menschen nach der Gewalt, nach der Macht sehnen, diskutiert man öffentlich so,

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daß man die Leute, die in der Regierung sitzen, mit den schönen Namen bezeichnet: Mörder, Gauner, Schieber, Rechtsbrecher.

Ein Zeitungsausschnitt über Gustav Noske, Oberpräsident von Hannover, wird von Rudolf Steiner verlesen.

Das sind heute die oppositionellen Worte, mit denen man die Re­gierung belegt in öffentlichen Blättern, und nichts regt sich, daß jene Regierenden irgendwie etwas dagegen tun können. Also ma­chen wir uns bekannt mit dem Ton, der heute angeschlagen wird, wenn die Regierenden bezeichnet werden als Mörder, Gauner, Schieber, Rechtsbrecher aller Art.

Ich meine, die Tatsachen, die da und dort auftreten, sprechen nicht gegen das, was hier von dieser Stelle oftmals gesagt wurde, nämlich: daß wir mit einer recht starken Eile in den Niedergang hineingehen und daß im Grunde genommen die Zeit zum Schlafen für die Seelen nicht da sein sollte. Was die Instinkte, die nach Macht sich sehnen, zuwegebringen - das drückt sich in diesen Dingen aus, und das drückt sich zum Beispiel in dem durchaus nicht vereinzelten Falle Hesterberg aus, den ich vorhin verlesen habe. Und das drückt sich auch in manchem anderen aus, in Din­gen, die heute aus allen Teilen der «gebildeten» Welt - «gebildet» setze ich in Gänsefüßchen -, aus allen Teilen der «gebildeten» Welt gemeldet werden. Und ich frage: Wer wagt da noch zu glauben, daß irgend etwas zu schwarz gefärbt sein könnte, was heute vom Niedergang spricht, nicht nur unseres wirtschaftlichen, sondern vor allen Dingen unseres moralischen Lebens. - Aber diese Dinge sprechen es eben durchaus aus, wie das Walten solcher Kräfte in jene ungesunden Zustände hineinführt, die Ihnen heute von Herrn Baumann so trefflich geschildert worden sind. Denn diese unge­sünden Zustände drücken sich zum Beispiel in so etwas aus wie der Enqüete, die in einer Volksschule Berlins angestellt worden ist, die von 650 Kindern besucht wird. Dabei haben sich die folgenden Verhältnisse ergeben: 161 von diesen 650 Kindern haben weder Schuhe noch Sandalen; 142 Kinder haben keine warmen Kleider; 305 Kinder haben gar keine Wäsche oder nur Fetzen; 379 leben in

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Wohnungen, wo kein einziges Zimmer geheizt wird; 106 stammen aus Familien, die nicht einmal das nötige Geld haben, um nur die rationierten Lebensmittel einzukaufen. 341 von 650 Kindern haben nie einen Tropfen Milch gehabt; 118 sind tuberkulös; 48 sind im Rückstand infolge Unterernährung. Von den 650 Kindern sind im Laufe eines Jahres 85 gestorben infolge von Entbehrungen und von Unterernährung. Da haben Sie das Hineinströmen desjenigen, was heutige Gesinnung ist, was heutiger Glaube ist in die physischen Gesundheitszustände, das heißt in die physischen Krankheitszu­stände. Da ist es wohl an der Zeit hinzuhorchen, wenn jemand davon spricht, daß ein Gefühl notwendig ist für das Gesunde, für dasjenige, was in sich den gesunden Atem des Lebens in physi­scher, in seelischer, in geistiger Beziehung hat. Und darauf kommt es an, daß wir uns wirklich einlassen auf dieses Erfühlen der Ge­sundheit und nicht irgendwelchen Dingen nachjagen wie der Sehn­sucht nach Macht, die nun wahrhaftig da, wo die Menschen, die die ungesunden Instinkte heute in ihrem Innern tragen, losgelassen werden - gleichgültig, ob sie losgelassen werden als Diebe und Straßenräuber oder ob sie losgelassen werden als Beamte und Mi­nister, die auch aus diesen Instinkten heraus nach Macht lechzen. Und aus diesen Instinkten nach Macht sind die ungesunden Zu­stände entstanden. Man muß eben erkennen, wie die Verfassung der Menschen heute ist und wie es notwendig ist, nicht nach Macht und dergleichen Dingen zu rufen, sondern lediglich nach den Vor­aussetzungen, in denen ein wirkliches Gefühl für Gesundung ist -nach dem Geiste.

Zu den Ausführungen von Rudolf Stein er äußern sich unter andern Roman Boos und Paul Baumann.

Rudolf Steiner: Es liegt noch die Frage vor:

Was ist die Mission der kleinen Zwischenvölker wie Livländer, Estländer, Litauer und so weiter?

Wenn man heute von den zunächst die Menschheit betreffenden Aufgaben spricht, so hat man eigentlich notwendig zu sprechen

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von Aufgaben, die die ganze Menschheit angehen. Denn wir stehen unmittelbar in dem Zeitpunkt, wo es notwendig ist, über die engen Landesgrenzen, über die Volksgrenzen hinwegzusehen auf die gro­ßen Aufgaben der Menschheit. Und wenn ich gesprochen habe von den verschiedenen Differenzierungen der Menschen über die zivi­lisierte Erde hin und gesagt habe, im Östlichen, was ich aber bis­weilen bis nach Asien hinein meine, da sei vor allen Dingen die Heimat des Geisteslebens - jenes Geisteslebens, das allerdings in seiner Reinheit in alten Zeiten der Menschheitsentwicklung da zum Vorschein, zur Offenbarung gekommen ist und das dann in die Dekadenz gekommen ist und heute in der Dekadenz drinnen ist, das aber als Erbschaft eigentlich ebenso lebt in Mitteleuropa und in den westlichen Gegenden -, wenn ich gesagt habe, in mitteleuro­päischen Gegenden seien vorzugsweise die Volksfähigkeiten des Juristischen, des Staatlichen seit dem alten Griechentum vorhan­den -, wenn ich gesagt habe, in westlichen Gegenden seien seit dem Beginne der neuen Zeit vorzugsweise die Talente des wirtschaft­lichen Denkens vorhanden -, so meine ich damit, daß aus der Natur dieser über die betreffenden Gebiete hin ausgebreiteten Völker herauskommt die besondere Veranlagung für das eine oder für das andere.

Heute aber haben wir die Aufgabe, zu appellieren an die Gei­steswissenschaft, die ja dann hervorruft aus dem Menschen die uni­verselleren Fähigkeiten, die dreifachen Fähigkeiten, zu appellieren an die Geisteswissenschaft, um nicht weiter die Dinge in dieser Einseitigkeit zu pflegen. Wir müssen uns heute erinnern, was statt­findet, wenn der Orientale einseitig bleibt, wir müssen uns er­innern, was stattfindet, wenn der Mensch der Mittelländer einseitig bleibt, und wir müssen uns erinnern, was stattfindet, wenn der Mensch der Westländer einseitig bleibt. Es kann eben die Entwick­lung nicht vorwärtsgehen, wenn die Einseitigkeit fortbesteht. Da­her sollte eigentlich nicht gefragt werden, was für eine Aufgabe die einzelnen Völker in der Zukunft haben. Nicht die Völker werden Aufgaben haben - die Menschheit wird Aufgaben haben! Nur um diese Aufgaben besser zu verstehen, nur um zu verstehen, wie diese

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Aufgaben sich vorbereitet haben im Laufe der Geschichte und wie das, was da oder dort besonders stark aufgetreten ist, jetzt vereinigt werden muß mit anderen Fähigkeiten der Menschen, nur um zu verstehen, wie das Heutige mehr universell aus dem Differenzier­ten der Menschheitsentwicklung herausgestaltet werden soll, ist es notwendig, sich einzulassen auf die besonderen Aufgaben der einzelnen Völker. Es ist im höchsten Grade wichtig, sich darauf einzulassen, denn gerade dasjenige, was in dieser Weise da ist und was überwunden werden muß, das muß man gründlich und genau kennenlernen.

Nun sind eben geblieben, ich möchte sagen «Volkssplitter» von mannigfaltiger Wesenheit zwischen denjenigen Völkern, die eigent­lich sozusagen die Grundwesenheit eines der drei Weltterritorien ausmachen.

Es ist überhaupt nicht so ganz leicht, in anthropologischer Weise von dieser Grundwesenheit zu sprechen; erst die anthropo­sophische Betrachtung gibt in richtiger Weise die Kategorien her. Erst durch die anthroposophische Betrachtung können wir richtig sagen: Was sich im Osten entwickelt, hat diese Fähigkeiten; was sich im Westen entwickelt, hat diese Fähigkeiten; was sich in der Mitte entwickelt, hat diese Fähigkeiten. Gehen wir anthropologisch vor, das heißt schauen wir mehr auf das Blutsmäßige, dann kom­men wir ja sogleich in Fragen hinein, die durchaus unpraktisch sind, die mit keiner besonderen Deutlichkeit irgend etwas Lebens­praktisches erkennen lassen. Wenn man etwa den Ausdruck «euro­päischer Osten» ersetzen wollte dadurch, daß man sagt «das russi­sche Volk», so sagt man ja im Grunde genommen gerade etwas, was eigentlich wirklich gar keine lebenspraktische Bedeutung hat. Es handelt sich eben darum, daß man von ganz anderen Kategorien ausgehen muß als von diesen rein anthropologischen oder ethno­graphischen Kategorien.

Die kleinen Volkssplitter nun, sie haben natürlich die mannigfal­tigsten Anlagen gerade aus der Art und Weise, wie sie entstanden sind. Beachten Sie einmal, sagen wir ein solches kleines Volk, wie es die Magyaren sind, die eine Art turanische Rassenwesenheit

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haben, die aber das Mannigfaltigste durchgemacht haben, die wie ein geographisches Dreieck an der Donau zusammengeschoben sind. Natürlich könnte man, wenn man eingehen wollte auf die Mission eines solchen Volkssplitters, alle möglichen schönen Mis­sionen aufstellen. Aber man wurde wiederum von ganz anderen Gesichtspunkten ausgehen müssen, wenn man zum Beispiel von den in einer gewissen Weise mit den Magyaren verwandten Bulga­ren sprechen wollte. Die Bulgaren haben eine Slawisierungsmeta­morphose durchgemacht; dem Blute nach sind sie verwandt den Magyaren, aber der Sprache und Ethnographie nach sind sie nicht verwandt mit den Magyaren, so daß da gewissermaßen das slawi­sche Element seelisch auch der Sprache nach eingeimpft worden ist dem turanischen Blute. Da kommen wir natürlich in Gebiete, die von ganz anderen Gesichtspunkten aus betrachtet werden müssen, wenn wir auf diese nicht-anthroposophischen, anthropologischen Elemente eingehen.

Das einzige, was sich anthroposophischer Betrachtung in richti­ger Weise ergibt, ist etwa dieses: Ganz abgesehen von gewissen durch die Geschichte nicht herbeigeführten Dingen, die bei solchen Volkssplittern mehr leben als bei den großen Völkern, lebt in sol­chen Volkssplittern sehr stark etwas von einem internationalen Element, wenigstens der Anlage nach. Und das kann man schon sagen: Wenn diese einzelnen Völker, diese kleinen Völker - vielfach sind es Randvölker und dergleichen -, wenn die nun verstehen würden, sich bekanntzumachen mit den großen Aufgaben der Menschheit, so würden sie das am allerleichtesten haben. Zum Beispiel wäre es etwas außerordentlich Schönes, wenn die Balten sich darauf einlassen würden, manche Fähigkeiten, die in ihnen liegen, gerade als internationale Aufgabe wirklich zur Entfaltung zu bringen. Sie haben stattdessen vielfach vorgezogen, die äußerste Reaktion bei sich zu kultivieren. Und sie haben es ja glücklich dahin gebracht, daß zum Beispiel in verhältnismäßig neuerer Zeit in einem baltischen Parlament noch der Antrag gestellt worden ist, die Sklaverei in vollem Umfange wieder einzuführen. Aber wie gesagt, gerade für ein Kosmopolitisches, alles Chauvinistische Abstreifende

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wären bei diesen Randvölkern, wenn sie nur diese Talen­te ausbilden würden, alle Vorbedingungen vorhanden. Nur leben wir heute in einer Zeit, wo sich der Mensch furchtbar gern um­nebelt, wo sich der Mensch mit einer großen Sehnsucht, einer unbewußten, ungesunden Sehnsucht in eine nebulose Atmosphäre begeben möchte und wo er sich allerlei Illusionen vorzumachen beliebt. Da wird dann von der oder jener Mission gesprochen, die gerade nun dieses oder jenes kleine Volk haben soll. Nun, nicht wahr, es ist schon durchaus möglich, daß man, wenn man anthro­pologisch vorgeht, aus den Untergründen der Volksseele da man­ches findet. Aber es sollte gerade bei den kleinen Völkern dieses Talent zum Ausdruck kommen: zusammenfließen zu lassen die Begabungen, die vorhanden sind, für einen großen kosmopoliti­schen Stil, den wir so notwendig haben.

Ich muß immer daran denken - vielleicht darf ich das hier sagen, es ist von mir öfter seit dem Anfang der Kriegskatastrophe ausge­sprochen worden zu den verschiedensten Menschen -, ich muß immer denken, was es bedeutet hätte, wenn eine große, internatio­nale, kosmopolitische Aufgabe vom Schweizer Volk von 1914 an ergriffen worden wäre. Dieses Ergreifen einer solchen großen Auf­gabe in einem verhältnismäßig kleinen Lande, das würde in der geistigen Weltenentwicklung ungefähr so darinnenstehen können wie [ein Mittelpunkt], um den sich manches dreht, so wie sich heute die europäischen Valuten um die Schweizer Valuta drehen. Aber heute ist alles wie mit einem Nebel bedeckt, und die Leute lassen sich auf die Dinge nicht ein, die durchaus realen Wert in dem Augenblick haben, wo der Mensch sich darauf einläßt. Aber leider ist heute noch immer viel zu sehr die Gesinnung vorhanden, die da sagt: Welches ist die Aufgabe, die ich habe, weil ich diesem oder jenem Volke angehöre, weil ich in Hamburg oder in Breslau oder in Berlin oder in Wien oder in Rom geboren bin? Welche Mission ist mir gerade durch dieses zuteil geworden? - Wichtiger ist das andere: Welche Kräfte gibt mir das, daß ich da oder dort geboren bin, welche Kräfte gibt mir das zu der heute so notwendigen ge­meinsamen, internationalen, kosmopolitischen Mission der ganzen

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Menschheit? Die Menschen möchten sich eben gerade etwas vormachen und sich so etwas fragen wie: Was habe ich für eine Mission? - Dann warten sie. Ungefähr so warten sie, ja, wie der Mann, der den Mund aufgemacht und gewartet hat, daß ihm die gebratenen Tauben hineinfliegen.

Darum handelt es sich aber heute nicht, daß wir auf unsere Mission warten, sondern klar müssen wir uns sein: Wir stehen an einem Punkte der Menschheitsentwicklung, wo das Schicksal der Welt aus dem Menschen heraus geboren werden muß, wo aufhören muß die alte Rederei von der Mission desjenigen, was nicht unmit­telbar elementar im Menschen geboren wird. Wir stehen an einem Punkt der Menschheitsentwicklung, wo der Mensch dazu berufen ist, aus sich heraus dem Schicksal einen Inhalt zu geben. Wenn wir nicht anfangen, heute diese passiven Redereien über dasjenige, was uns als Mission vorliegt, aufzugeben, oder wenn wir nicht aufge­ben, immerfort zu appellieren: Ja, aber es müssen doch die Götter helfen, es kann doch nicht so gehen, es ist doch das oder jenes ungerecht, da müssen doch die Götter helfen -, wenn wir das nicht aufgeben, dann kommen wir im gegenwärtigen Entwicklungsmo­ment der Menschheit nicht weiter. Heute handelt es sich darum, daß wir uns klar sind, daß wir die Götter durch das Innere des Menschen - ich sage nicht im Innern des Menschen, sondern durch das Innere des Menschen - zu suchen haben und daß die Götter auf uns zählen, mitschicksalsbestimmend zu sein.

Heute haben wir die Fragen nicht aus der Beobachtung von dem oder jenem, das da oder dort wurzelt, zu beantworten, sondern heute haben wir die Fragen vom Standpunkte des Willens zu be­antworten. Die früheren Kontemplativfragen sind heute Willens-fragen. Ist man früher zur Kontemplation gelangt, indem man sich vertieft hat in das, was dem Nachdenken sich ergeben hat, so haben wir heute okkult die Aufgabe: in unseren Willen jenen unsichtba­ren und übersinnlichen Geist aufzunehmen, damit dasjenige in der Menschheit geboren werde, was über alle einzelnen Schranken hin­ausgeht. Die äußeren Staatsgebilde haben es dahin gebracht, daß man heute schon kaum die Grenzen überschreiten kann. Wenn wir

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immer und immer wiederum fortreden: Was hat dieser oder jener Volksteil für eine Aufgabe? -, dann errichten wir in unserem Geiste solche Grenzen und kommen nicht über diese Grenzen hinweg zum Ergreifen der Gesamtaufgabe der Menschheit.

Es ist im Grunde genommen - trotzdem es furchtbar ist - sogar weniger bedeutsam, wenn hier die Grenzen sind, die nun so schwer zu überschreiten sind, die Grenzen, um die so blutig gekämpft worden ist in der äußeren Räumlichkeit. Es ist furchtbar, aber es ist schlimmer für die Entwicklung der Menschheit, wenn wir uns unsere Köpfe so gestalten, daß wir fragen: Was hat dieser Volks-splitter für eine Mission? Was hat jener Volkssplitter für eine Mis­sion? - Wir müssen hinauskommen über die Grenzen. Wir müssen sie auslöschen. Wir müssen das gemeinsame Menschliche finden. Darum handelt es sich, daß wir uns vor allen Dingen willentlich auf diesen Boden des Gemeinsam-Menschlichen stellen. Da kann dann gesagt werden: Diejenigen, die nicht einem großen Volke ange­hören, die haben es besser, denn wenn sie sich besinnen auf die tiefsten Kräfte, dann werden sie vieles beitragen können zur Inter­nationalisierung und Kosmopolitisierung der Menschheit.

Das ist vor allen Dingen die Aufgabe derjenigen, die man gewis­sermaßen die kleinen Staaten oder Randstaaten oder dergleichen nennen kann.

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ACHTER DISKUSSIONSABEND Dornach, 13. September 1920 Wirtschaftliche Konjunkturen und Krisen

Ernst Schaller hält einen Vortrag über «Wirtschaftliche Konjunkturen und Krisen». Anschließend geht Rudolf Steiner auf Fragen ein, die in der Dis­kussion gestellt worden sind:

Rudolf Steiner: Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, es ist hier [von Herrn Dr. Schalle] eine außerordentlich wichtige Angelegen­heit zur Tagesordnung gebracht worden. Er hat aus ganz bestimm­ten wirtschaftlichen Fragen heraus darauf hingewiesen, wie das wirtschaftliche Leben durch die Dreigliederung des sozialen Orga­nismus gesunden soll. Und ich möchte sagen: Diesen allgemeinen Gesichtspunkt des Herrn Dr. Schaller betrachte ich für den heuti­gen Abend eigentlich als das allerwichtigste. Ich habe oftmals er­wähnt: Gerade, wenn man auf die einzelnen wirklichen Erschei­nungen sehen wird - sei es im Wirtschaftsleben, sei es auf einem anderen Gebiete des sozialen Lebens -, dann wird sich zeigen, was eigentlich diese Dreigliederung für die Gesundung des mensch­lichen Lebens bedeutet. Es gibt heute Leute, die aus jener Erzie­hung und jenen Denkgewohnheiten heraus, welche nun einmal in den letzten Jahren groß geworden sind, die die «Kernpunkte» als ein utopistisches Buch bezeichnet haben. Da kann man nur sagen, es ist eben bloß das durch und durch dilettantische, kurzsichtige, unpraktische Denken, welches sich in einem solchen Urteil äußert. Und deshalb wäre es schon von einer ganz besonderen Wichtigkeit, wenn sich Leute immer mehr und mehr darauf einließen, nament­lich die wirtschaftlichen Fragen - die ja für die meisten wirklich einer Erörterung bedürfen, weil man das wirtschaftliche Leben ja allzuwenig in breiteren Bevölkerungskreisen kennt -, in der Weise [zu behandeln], wie es Dr. Schaller heute getan hat, wenn sie sich darauf einließen, die Dinge nun zu nehmen, wie sie wirklich sind,

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und eben vom fachmännischen Standpunkt aus zu zeigen, wie diese Dreigliederung des sozialen Organismus aus der vollen Lebens-praxis heraus gedacht ist.

Verstanden wird ja vieles noch nicht an dieser Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus. Das zeigt mir zum Bei­spiel eine Frage, die hier eben verlesen worden ist und die ich noch einleitungsweise zu dem, was ich eigentlich sagen will, erwähnen möchte. Es ist zum Beispiel gefragt worden:

Warum sollen sich Assoziationen nur im dreigliedrigen sozialen Organis­men bilden?

Niemand hat jemals behauptet, daß sich Assoziationen, auch wirt­schaftliche Assoziationen, nur im dreigliedrigen sozialen Organis­mus bilden sollen oder bilden könnten. Assoziationen hat es ja immer gegeben; Assoziationen hat es natürlich auch im Einheits­staat gegeben. In der Dreigliederung handelt es sich aber darum, daß erst der soziale Organismus dreigegliedert wird und daß dann das wirtschaftliche Leben auf assoziativem Wege wirken wird. Also das, was man sonst vom assoziativen Leben bisher kennt, vorzugs­weise im wirtschaftlichen Leben, und auch das, was Walther Rathe­nau über Assoziationen spricht, das bezeugt ja nichts anderes, als daß man solche wirtschaftlichen Dinge nur abstrakt nimmt. Vor allem: Rathenau ist ein Abstraktling furchtbarster Art, und man hat auch nicht Neigung, [die Dinge wirklichkeitsgemäß aufzufassen], wenn man solch ein abstrakter Salon-Sozialist ist wie Rathenau -solche Abstraktlinge nehmen alles abstrakt, auch soziale Ideen -; da wird von Assoziationen nur geredet. Ich könnte Ihnen noch weitere Menschen nennen, die auch von Assoziationen geredet haben. Da ist zum Beispiel ein Theologe des 19. Jahrhunderts an­zugeben: Anton Günther. Und so könnte man natürlich überall Leute finden, die von Assoziationen sprechen. Assoziationen sind

- zum Beispiel auf dem Gebiet der Wissenschaften - zum Schluß auch die Universitäten. Dieses Glauben an Worte, dieses Pochen auf Worte, und dieses Deduzieren aus Worten, das ist dasjenige, über das wir nun endlich einmal hinauskommen müssen. Wir

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müssen die Dinge im praktischen Leben erfassen, müssen uns klar sein darüber, daß etwas anderes nötig ist. Wenn jemand klar und scharf umrissen zeigt, wie sich die Dreigliederung des sozialen Organismus zu gestalten habe, und dann zeigt, daß die Assoziatio­nen gerade durch das wirtschaftlichen Leben bedingt sind, während das geistige und das rechtliche Leben für sich, ohne solche Assozia­tionen, wirken, dann ist das was anderes, als wenn man im Stile des Walther Rathenau in Abstraktionen von Assoziationen spricht. Wie wenig diese «Kernpunkte der Sozialen Frage» abstrakt ge­meint sind, wie wenig sie abstrakt sind in jeder Zeile, das sollte erst einmal studiert werden. Dann ergibt sich jene Theoretisierung, wie sie sich zum Beispiel in dieser Frage ausdrückt, als eine völlige Unmöglichkeit.

Nun würde es ja weit über das hinausgehen, was im Rahmen einer so kurzen Zeit gesagt werden kann, wenn ich die an mich gestellte Frage betrachten würde im Zusammenhange mit dem Vortrage von Dr. Schaller. Da ist vor allen Dingen das zu erwäh­nen: Dr. Schaller hat in sehr dankenswerter Weise die verschiede­nen Zahlenzusammenstellungen gegeben, welche zeigen, wie eben die Wirtschaftskurve, die er selbst gezeichnet hat, auf- und absteigt, wie auf Konjunkturen Krisen folgen und wie dann wiederum gün­stige Konjunkturen nach Depressionen eintreten können und so weiter. Nun, man kann die Sache in einer gewissen Weise schon so darstellen, als ob die Krise gewissermaßen sich aus den günstigen Konjunkturen herauslösen würde, sich dann die Depressionen er­geben würden und dann die Sache sich wieder erholen würde - so, wie das Dr. Schaller eben dargestellt hat. Allein man wird, wenn man allzu stark diesen Kausalitätsfaden verfolgt, gerade aus dem herausgerissen, was doch die tiefere, reale Grundlage der Sache ist. Sehen Sie, es hat den Anschein, als ob es sich bedingen würde, daß die Krisen herauswachsen aus den günstigen Konjunkturen und dann die Depression kommt und dann wieder die aufsteigende Entwicklung und so weiter. Es hat so den Anschein, weil wir seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, seit 1810 etwa, eine beson­dere Wirtschaftsmetamorphose dadurch haben, daß das Geld, also

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der Geldverkehr und das Geldleihen und der damit im Zusammen­hang stehende Kredit zum wirtschaftliche Herrschenden wurde, während früher, also vor dem Jahre 1810, in Wirklichkeit das wirt­schaftliche Leben in bezug auf seine Produktion das Herrschende war. Wenn man studiert dasjenige, was sich in dem Jahre 1810 abgespielt hat mit Bezug auf den Verkehr des Geldes, mit Bezug auf das Kreditwesen, so zeigt sich denn doch, daß der Schein, als ob man aus diesen Zahlen eine solche gewissermaßen automatisch ablaufende Kurve ableiten könnte, eigentlich nur für diese Wirt­schaftsepoche seit 1810 gilt. Für frühere Wirtschaftsepochen würde er sich nicht aufrechterhalten lassen. Aber auch für diese Wirt­schaftsepoche ist ja wohl nötig, daß man mehr eingeht auf die konkreten Tatsachen während einer günstigen Konjunkturperiode und während einer Krisenperiode als auf dieses bloße Steigen und Fallen in den Zahlen.

Und da weise ich vor allen Dingen auf die Krise von 1907 hin - ich könnte ebensogut ein anderes Beispiel herausgreifen -; sie ist außerordentlich interessant zu studieren. Gerade diese Krise ist außerordentlich interessant zu studieren, weil man an ihr sehen kann, wie im Grunde genommen Krisen eigentlich durchaus - ich will es ganz radikal sagen - durch den menschlichen Willen ge­macht werden. Wie gesagt, es würde das auch gelten für andere solche Angelegenheiten; finanzielle Vorgänge dieser Art kann man nicht beurteilen, wenn man nicht jene gewaltsamen Hausse-Speku-lationen einiger amerikanischer Kapitalmagnaten und ihren Zusam­menhang mit dem Geldmarkt in Europa studiert. Da kommt in Betracht ein Hinauftreiben eines ganz bestimmten Aktientypus, und dadurch eine ungeheure Lust, diese Aktien zu erwerben. Da­durch sind die Kapitalmagnaten, die diese Hausse gemacht haben, in die Lage gekommen, das Geld an sich zu ziehen und die Leute, die das Geld eigentlich gebraucht hätten, geldarm zu machen. Da­durch wurde hervorgerufen dieses Hinaufschnellen des Diskonts. Dr. Schaller hat den Privatdiskont angeführt - ich glaube, die Deutsche Reichsbank ist dazumal bis zu 7% hinaufgegangen. Also, es wurde geradezu von einem amerikanischen Geldmagnaten-Konsortium

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auf ein solches Hinaufschieben des Diskonts gearbeitet. Natürlich, allen diesen Dingen stehen dann wiederum andere ge­genüber. Aber sobald man ins Praktische hineingeht, sobald man die Tatsachen ins Auge faßt, dann sind das eben diese einzelnen Tatsachen, [die in Betracht kommen], und selbst die anderen Tat­sachen würden nach derselben Richtung hin gehen. So [wie diese Kapitalmagnaten] kann man nicht arbeiten, wenn man im reinen Wirtschaftsleben steht und das Geld mit den Krediten gewisser­maßen bloß der äußerliche Ausdruck für die Wirtschaftszirkulation als solche ist. So, wie gearbeitet wurde in diesen Jahren 1906, 1907, 1908, kann man nur arbeiten, wenn auf der einen Seite das Wirt­schaftsleben verläuft und auf der anderen Seite der Geldmarkt als solcher, die Vorgänge innerhalb der Geldzirkulation, emanzipiert ist. Das heißt, daß mit Geld und den entsprechenden Krediten, seien diese in Aktien oder Obligationen oder in irgendwas anderem liegend, eine eigene Zirkulation am Geld- und Kreditmarkt ge­macht werden kann, die sich gewissermaßen [losgelöst von den wirklichen Wirtschaftsvorgängen] bewegt.

Sehen Sie, aus diesem Grunde entsteht allmählich der Schein, daß in unserem Wirtschaftsleben unmöglich werden partielle gün­stige Konjunkturen und partielle Krisen; es entsteht der Schein, als ob also nur allgemeine Konjunkturen und allgemeine Krisen ent­stehen könnten. Dazu ist die Voraussetzung nämlich, daß gewisser­maßen ein allgemeines Medium [wie der Geldmarkt als solcher] da ist, das sich nicht kümmert um die Krisen im [realen] Wirtschafts­leben. Im [realen] Wirtschaftsleben ist die Krise reguliert. Es ist etwas anderes, ob ich Stiefel auf den Markt bringe oder Uhren auf den Markt bringe oder Öl fabriziere; das ist etwas anderes. Wenn man es mit Waren zu tun hat, hat man es mit Konkretem zu tun; da ergeben sich Konjunkturen aus der Produktion heraus. Wenn man es aber nur mit Geld und Krediten zu tun hat, da kommt das nicht in Betracht - in Geld und Krediten, da spekuliert man nur. Um allerlei künstliche Konjunkturen hervorzurufen, dazu ist eben notwendig, daß der Geldmarkt emanzipiert ist vom übrigen Wirtschaftsmarkt.

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Das sind natürlich nur einzelne Dinge. Ich könnte die ganze Nacht in diesem Stile fortsprechen. Allein, Sie können immer, wenn Sie gerade Krisenjahre vorliegen haben, Sie können immer sich fragen: Wo muß ich suchen den unmittelbaren wirtschaftlichen Willen, der sich so geltend macht auf dem Kapitalmarkt? In gewis­ser Beziehung ist es eben richtig, daß diese ganze Geschichte mit dem Kapitalismus zusammenhängt, weil ein solcher Krisenverlauf nur möglich ist, wenn man in Geld und Krediten spekulieren kann respektive Geld und Kredite auf den Markt werfen kann. Sie könn­ten ebensogut das Jahr 1912 und so weiter studieren, Sie würden überall da auch ganz bestimmte Tatsachen finden, Tatsachen, die ausgehen von dem Willen derjenigen, die im wirtschaftlichen Le­ben etwas zu sagen haben. Aber solche allgemeinen Krisen oder auch nur weit ausgedehnte Krisen können gar nicht anders hervor­gerufen werden als durch die Emanzipation des Geldmarktes.

Das sind solche Gesichtspunkte, die ich namentlich deshalb hervorhebe, weil es heute nun wirklich an der Zeit ist, daß man sich ganz klar ist darüber: Es geht nicht an zu theoretisieren; es geht nicht an, so im allgemeinen nach der Statistik sich Vorstellungen zu bilden, wie das eine aus dem anderen folgt. Fruchtbar ist im Grun­de genommen wirklich nur das Hinschauen auf die Tatsachen. Und es ist von viel größerer Bedeutung für das Verstehen der Krisis, die gegen das Jahr 1907 sich zeigte, es ist viel wichtiger, zu studieren die Machinationen gewisser Kapitalismus-Magnaten, als in allge­meinen wirtschaftlichen Kategorien zu verbleiben. Dann möchte ich auch noch das bemerken, daß es eben doch nicht ganz richtig ist zu meinen, daß die partiellen Konjunkturen in der neueren Zeit keine Rolle spielen würden; im eigentlichen Wirtschaftsleben spielen sie schon eine Rolle, aber die Rolle, die sie spielen, wird verdeckt durch die Kapitalwirtschaft beziehungsweise durch die Geld- und Kreditwirtschaft. Alle diese Fragen sind ja - selbstver­ständlich vom allgemeineren Gesichtspunkte aus, weil man nicht immer gleich ins einzelne eingehen kann - in meinem Aufsatz über das Kreditwesen im vierten Heft der «Sozialen Zukunft» inhaltlich behandelt.

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Es kommt tatsächlich überall darauf an, namentlich im Volks­wirtschaftlichen, daß man sich klar darüber ist, daß nur ein wirk­liches Eingehen auf die Tatsachen zu einem Erkennen führt, zu einem solchen Erkennen, das sozial fruchtbar ist, das uns heraus­führen kann aus der größten Krise, in der wir drinnen sind - das ist die soziale Krise -, während eben gerade in den letzten Dezen­nien in der Nationalökonomie als Wissenschaft das Theoretisieren eigentlich eine sogar sehr schlimme Rolle gespielt hat. Im Grunde genommen ist aus der Universitäts-Nationalökonomie nicht viel zu gewinnen für ein wirkliches Verständnis des wirtschaftlichen Le­bens. Heute ist es aber wirklich an der Zeit, auch hinzuschauen auf dasjenige, was aus dem Willen der Menschen folgt. Gewiß, es ist ja so, daß die Menschen in der breiten Masse sich unter gewissen typischen Erscheinungen gleich benehmen. Und so kommt es, daß, wenn die Resultate, die Ergebnisse einer günstigen Konjunktur für das Leben der Menschen sich eingestellt haben, dann kommen die Gelüste; und aus diesen Gelüsten heraus machen die Menschen so etwas wie Warenspekulationen, und dann entsteht die Krisis - aber sie entsteht aus dem Menschenwillen heraus. Und wiederum, wenn das nach einer bestimmten Zeit dazu geführt hat, daß das Geld gewisse Wege genommen hat, dann kann wiederum ein Aufstieg erfolgen - aber auch dieser immer aus dem Willen der Menschen heraus

Diese Dinge, günstige Konjunkturen, Krisen, Depressionen und so weiter, sie stellen sich doch, wenn man die Tatsachen studiert, auch nicht viel anders heraus, als, sagen wir die Dinge der Selbst-mordstatistik. Man kann, wenn man ein genügend großes Territo­rium nimmt, sagen, daß auf diesem Territorium in einer bestimm­ten Anzahl von Jahren eine bestimmte Menge von Selbstmorden vorkommen und daß die sich dann in einem bestimmten Zeitraum wiederholen. Nicht wahr, das beweist natürlich nicht, daß ein Naturgesetz besteht, daß soundso viele Selbstmorde in soundso vielen Jahren stattfinden müssen, sondern es beweist nur, daß auf einem bestimmten Territorium in manchen Jahren soundso viele Freignisse geschehen, die in ihrer typischen Form immer wieder

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und wieder die Leute dazu verleiten, Selbstmord zu begehen. Die einfachste Statistik, die man schließlich machen kann, ist diese, daß man sagt: Wenn einem Hund fünfmal ein Stück Fleisch hingehalten wird, so schnappt er fünfmal darnach; er macht unter dem Einfluß derselben Tatsachen fünfmal dasselbe. Unter dem Einfluß dersel­ben Tatsachen, die sich wiederholen, machen die Leute ja selbstver­ständlich auch dasselbe. Aber das bedingt nicht, daß man den Menschen herauslassen kann aus dem Ganzen; das heißt, man muß rechnen mit dem, was der menschliche Wille ist. Und wenn Sie eingehen auf «Die Kernpunkte der Sozialen Frage», so werden Sie gerade sehen, daß mit dieser schwierigst zu behandelnden Materie, dem menschlichen Willen, im Wirtschaftsleben wohl gerechnet wird, daß darauf Rücksicht genommen wird und daß gerade von diesem Gesichtspunkte aus in den «Kernpunkten» manches zu finden ist.

Nun möchte ich jetzt etwas ganz anderes erwähnen; ich will es nur einfügen, weil wir ja auch hier immer dasselbe Problem so ziemlich haben.

Ich mußte das letzte Mal erwähnen, daß sich in einem öffentli­chen Blatt die blödsinnige Behauptung von der «gestohlenen Drei-gliederung» gefunden hat. Selbstverständlich hat das Blatt, das die Schmutzartikel des Herrn Pfarrer Kully abgedruckt hat - ich meine das «Katholische Volksblatt» - sich auch zum Abdrucker dieser Schmutzerei gemacht, dieser ganz knüppeldicken, schmutzigen Lügen. Und deshalb rate ich so vielen Leuten, als es nur können, die im Jahre 1920 erschienene Broschüre der Frau Elisabeth Mat­hilde Metzdorff-Teschner zu lesen. Aus dieser Broschüre stammen nämlich die Schmutzereien des Herrn Rohm in Lorch, aus dieser Broschüre stammen alle die blödsinnigen Dinge. Ich möchte Ihnen den Titel genauer aufschreiben : «3:5, 5:8 21:34. Das Geheimnis, die Schuldenlasten in absehbarer Zeit tilgen zu können». Sie wer­den aus dem Titel «3:5, 5:8 etc.» einen etwas mystischen Eindruck bekommen; die Broschüre in ihrer Gesamtheit ist nicht weniger mystisch geschrieben als dieser Titel; Sie können sie aufschlagen, wo Sie wollen, irgendwo, zum Beispiel:

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«Haeckel schließt das V. Kapitel der Lösung der Welträtsel mit den Wor­ten:

Die Versuche des Frey-Bundes, der anthroposophischen Dreigliede­rung, stellen das Hinaufarbeiten zur 7. Stufe vor wie die unsere. Ihr Kul­turreich bleibt am Mammon haften, den ihre Propheten oder Fürsten nicht entbehren können und wollen.»

Und so geht das fort. Sie glauben, daß Sie direkt in ein Narren­haus gekommen sind und darinnen die unzusammenhängenden Narreteien von lauter Wahnsinnigen hören würden. So gibt die Broschüre an, daß in einem Verhältnis von sogenannten göttlichen Proportionen, die irgend etwas - was, das kann man nicht heraus­kriegen, weil die ganze Broschüre blödsinnig ist -, irgend etwas mit dem Verhältnis von 3:5, 5:8 = 21:34 zu tun haben, das menschliche Gehirn geteilt werden solle; dadurch bestehe die Möglichkeit, das ganze deutsche Volk von der ungeheuren Schuldenlast zu befreien. Dann sei alles in Ordnung, dann würden alle Schulden, welche das Deutsche Reich hat, getilgt sein. Es ist also tatsächlich ein absoluter Wahnsinn. Von diesem Wahnsinn behauptet die «edle» Dame:


Nun, welchen Anthroposophen dazumal der Vortrag mit dem «einschneidenden Ereignis aus dem Frauenleben» und mit all dem

Kohl vorgelegt worden ist - ich weiß es nicht; ich weiß nicht, welche Anthroposophen so glücklich gewesen sind. Nun sehen Sie

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diese Schrift, dieses Exemplar von einem «Presseereignis» an; das figuriert heute in der Welt. In Lorch sitzt einer - ich habe ihn in einem öffentlichen Vortrag ein «Schwein» genannt -, sitzt also ein Gedrucktes lesen könnendes Schwein und fabriziert daraus den Artikel «Die gestohlene Dreigliederung». Und hier in der Schweiz finden sich tatsächlich Leute, unter der Ägide der Seelenhirten, die so etwas nachdrucken. Diese Artikel werden gelesen - das sind die Tatsachen. Das lesen die Menschen, und sie haben keine Ahnung, welcher Wahnsinn da dahintersteckt. Aber es gibt genügend un­moralische Menschen, die es nicht verabscheuen, den Leuten so Sand in die Augen zu streuen, daß sie dergleichen Dinge drucken für ein Publikum, das selbstverständlich das nicht kontrollieren kann, das gar nicht weiß, wie blödsinnig die Sache ist. Bis zu die­sem Grad der Verblödung des öffentlichen Lebens haben wir es heute gebracht; und der Gipfel der Verblödung steht unter der Ägide von Seelenhirten. Das ist etwas, was tatsächlich für hier in Betracht kommt. Es ist das durchaus etwas, auf das man einmal hinblicken müßte.

Und ich bitte, machen Sie sich bekannt mit dem Elaborat. Da steht unter anderem auch noch die schöne Sache drinnen, daß die betreffende Dame auch anderen Leuten ihr Geheimnis von den göttlichen Proportionen, von der «Dreigliederung», mitgeteilt habe. Sie sagt, sie sei bis in die letzte Phase hinein von der Über-zeugung durchdrungen, daß die Schuldentilgung in absehbarer Zeit durch das «morphologische Kulturreich (Staat-Kulturreich-Kir­che)» möglich sei. Wie sie sagt, habe sie den Vortrag auch «anderen Leuten» geschickt, aber keiner habe sich darum bekümmert - ich kann mir auch nicht vorstellen, wie sich da jemand durchwinden sollte, höchstens als Psychiater. Also «nur die Anthroposophen» hätten darauf reagiert, aber die hätten etwas ganz anderes daraus gemacht. Und nun findet diese Dame, etwas besser noch seien diese Anthroposophen als die anderen Leute, denn sie hätten wenigstens von der «Dreigliederung» geredet - meint sie. Jetzt ist für diese Dame, also für Frau Elisabeth Metzdorff-Teschner, wenigstens auf diese Weise Reklame gemacht worden; also die Anthroposophen

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haben sich wenigstens herbeigelassen, auf diese Weise Reklame zu machen für diese Dame. Es sei jetzt nur noch die Kleinigkeit nötig, daß das deutsche Volk anerkenne durch einen Volksbeschluß das «morphologische Kulturreich» - die Anerkennung durch einen Volksbeschluß, das soll eigentlich herbeigeführt werden durch Frau Metzdorff-Teschner. Und es sei nötig, daß öffentlich überall verkündigt werde das Prinzip 3:5, 5:8 = 21:34, das sie gefunden habe; sie habe damit eine Art sozialen Goldenen Schnitt in die Welt gebracht. Notabene beschuldigt sie diejenigen Leute, die über den Goldenen Schnitt geschrieben haben, auch des Plagiats, also des

geistigen Diebstahls.

Und nun kommt gerade durch diese Broschüre auch ein merk­würdiges Dokument an die Öffentlichkeit, von dem ich sonst wahrscheinlich wohl kaum jemals Kunde erhalten hätte. Denn die Dame hat sich, wie es scheint - es ist sehr schwer herauszukrie­gen -, an einen Münchner Arzt gewendet. Dieser Mann schreibt dann, daß er den Brief der Dame einem Münchner Professor über­geben habe, und er schreibt dann dieser Dame zurück:

«Herr Professor übergab mir das ihm übersandte Material gegen Steiner zur Kenntnisnahme und zur Beantwortung Ihres Briefes. Nun gehöre ich aber ausgerechnet zu den Menschen, die weder die Jesuiten noch die Juden der Schuld am deutschen Zusammenbruch bezichtigen können, ohne ein sacrificium intelleetus zu begehen. (Wir Deutsche haben uns in echt deut­scher Weise selbst das Genick gebrochen.)

Und überdies - ich muß es ehrlicherweise bekennen - bin ich selbst Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. (Und ich wurde es erst vor kurzem, nachdem ich alles Erreichbare an Schriften gegen Steiner gelesen hatte.) Mir war das nicht unbekannt, was ihm der von mir sonst verehrte M. Seiling vorwirft. Ich bin übrigens der letzte, der Steiner ganz reinwa­sehen möchte. Er hat ein vollgerüttelt Maß menschlicher Unzulänglichkeit. Und ist dennoch ein Lehrer, dem ich und bessere als ich Großes verdanken.

- Das wird Sie nicht befriedigen, aber mehr kann ich nicht sagen.»

Also Sie sehen, es kommen durch diese Dame ganz sonderbare Dinge an den Tag.

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Aber Sie sehen auch, daß die verehrte Geistlichkeit, die katho­lische Geistlichkeit der hiesigen Umgebung, all diese Dinge sich nicht entgehen läßt. Auf solchem Boden stehen wir heute. Würdi­gen sie nur einmal die ganze moralische Versumpftheit dieses Bo­dens, und überlegen Sie sich dann, ob irgendein Wörtchen zuviel gesagt worden ist von dem und jenem, was von diesem Platze aus oftmals gesagt worden ist.

Also: Elisabeth Mathilde Metzdorff-Teschner, «3:5, 5:8 = 21:34. Das Geheimnis, die Schuldenlasten in absehbarer Zeit tilgen zu können.» Ich möchte auch noch angeben, daß diese Broschüre 1920 in dem «berühmten» Selbstverlag Sooden an der Werra er­schienen ist.

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II SEMINAR- UND FRAGEABENDE ZUR DREIGLIEDERUNG IM ZUSAMMENHANG MIT WISSENSCHAFTLICHEN FACHKURSEN

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FRAGEBEANTWORTUNG, Dornach, 6. April 1920 anläßlich des Kurses «Anthroposophie und Fachwissenschaften». Anthroposophie und Rechtswissenschaft

Roman Boos hält im Rahmen des Kurses «Anthroposophie und Fachwissen­schaften» einen Vortrag zum Thema «Anthroposophie und Rechtswissen­schaft». Im Zusammenhang mit seinem Vortrag stellt er an Rudolf Steiner die Frage.

Roman Boos: Wie kann in der Zukunft das Prinzip der Festlegung von rechtlichen Normen durch Kodifikation sich ausnehmen? Wie kann also von den parlamentarischen Zentren aus die Rechtswirkung ausgeübt wer­den, ohne daß ein Lähmen oder Absterben des Kodifikationsprinzips sich ergibt, wie es heute der Fall ist?

Rudolf Steiner: Die Verlebendigung des Rechtslebens, von der Herr Dr. Boos gesprochen hat, die wird, wie mir scheint, auf eine ganz selbstverständliche Weise im dreigegliederten sozialen Orga­nismus allmählich herbeigeführt werden. Wie hat man sich denn im konkreten diese Gestaltung des dreigliedrigen sozialen Organismus zu denken? - Wirklich in einer ähnlichen Weise - es soll damit keine bloße Analogie ausgesprochen werden -, wirklich in einer ähnlichen Weise, wie man sich die organische Dreigliederung im natürlichen menschlichen Organismus selbst zu denken hat.

Die Anschauung, die ja auch heute von Herrn Dr. Boos gerügt worden ist, daß man es bei dem Herzen zu tun habe mit einer Art Pumpe, die die Blutflüssigkeit nach allen möglichen Orten des Organismus treibt, diese Anschauung, die muß für die Physiologie überwunden werden. Es muß erkannt werden, daß man in der Herztätigkeit das ausgleichende Zusammenwirken der beiden an­deren Tätigkeiten des menschlichen Organismus zu sehen hat: der Stoffwechseltätigkeit und der Nerven-Sinnes-Tätigkeit. Will man nun als Physiologe, der in der Wirklichkeit drinnensteht, diesen

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menschlichen Organismus schildern, sein Funktionieren darstellen, dann hat man im allgemeinen nur nötig, wirklich selbstlos zu schil­dern die Stoffwechseltätigkeit auf der einen Seite und die Nerven-Sinnes-Tätigkeit auf der anderen Seite, denn durch deren polari­sches Aufeinander- und Ineinanderwirken ergibt sich eben die aus­gleichende rhythmische Tätigkeit; man hat diese schon förmlich drinnen. Das ist etwas, was auch berücksichtigt werden muß, wenn man sich das Leben im dreigliedrigen sozialen Organismus vor­stellen will. Dieses Leben im dreigliedrigen sozialen Organismus ist wirklich nur dann recht vorstellbar, wenn man noch Sinn für Lebenspraxis hat.

Als ich einiges veröffentlicht und in der verschiedensten Weise über Dreigliederung gesprochen hatte, da kam unter anderen auch der Einwand, daß ja man sich nicht recht vorstellen könne, wie das Recht zu einem Inhalt komme, wenn es abgesondert werden solle im Leben von dem geistigen Teil des sozialen Organismus auf der einen Seite und dem wirtschaftlichen Teil auf der anderen Seite. Gerade solche Leute wie zum Beispiel der heute öfters erwähnte Stammler, sie fassen gewissermaßen das Recht so auf, daß sie auf der einen Seite nur eine Art Formalismus anerkennen. Dieses [for­melle System] würde dann auf der anderen Seite, wie sie meinen, seinen materiellen Inhalt durch die Wirtschaftserfordernisse des sozialen Organismus bekommen. Aus solchen Anschauungen her­aus wurde mir erwidert, daß ja das Recht nicht abgesondert werden könne vom Wirtschaftsleben, aus dem einfachen Grunde, weil die Kräfte des Wirtschaftslebens aus sich heraus die Rechtssatzungen ja ergeben müßten. Indem man so etwas in seine Begriffe aufnimmt, denkt man fortwährend an etwas Unlebendiges, an etwas, was eben darauf hinausläuft, daß man zum Beispiel aus den wirtschaftlichen Kräften heraus Feststellungen vornimmt, die dann kodifiziert werden und nach denen man sich richten kann. Man denkt haupt-sachlich daran, daß solche kodifizierten Feststellungen da sind und daß man nachschauen kann, wie sie lauten.

Im naturgemäßen, lebendigen dreigliedrigen Organismus hat man es nun zu tun, ich möchte sagen mit den zwei polarischen

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Gegensätzen: auf der einen Seite mit dem geistigen Leben und auf der anderen Seite mit dem wirtschaftlichen Leben. Das geistige Leben, das sich, wenn es nur frei wird, aus denjenigen Kräftewir­kungen ergibt, die die Menschen durch ihre Geburt und Entwick­lung in das Dasein hereinbringen, dieses geistige Leben stellt durch seinen eigenen Inhalt eben eine Realität dar. Da wird gerade das Fruchtbare des geistigen Lebens sich entwickeln, wenn man nicht durch irgendwelche Normen beschneidet und einengt dasjenige, was einer kann. Das Fruchtbare ergibt sich ganz selbstverständlich einfach dadurch, daß es im Interesse der Menschen liegt, daß der­jenige, der mehr kann und der größere Anlagen hat, auch mehr wirken kann. Es wird ganz selbstverständlich sein, daß der, sagen wir als Lehrer für eine Anzahl von Kindern genommen wird, von dem diejenigen, die einen Lehrer suchen, überzeugt sein können, daß er in seiner Sphäre das bewirken kann, um was es sich handelt. Wenn das Geistesleben wirklich frei ist, ergibt sich die ganze Kon­stitution des Geisteslebens aus der Natur der Sache selbst heraus; es wirken in diesem Geistesleben die Menschen, die drinnenstehen. Auf der anderen Seite haben wir den Wirtschaftsteil des dreiglied­rigen sozialen Organismus. Da ergibt sich wiederum aus den Kon­sumtionsbedürfnissen und aus den Möglichkeiten der Produktion, aus den verschiedenen Verkettungen, aus den Beziehungen, die sich ergeben, aus alledem ergibt sich die Struktur des Wirtschaftslebens. Ich kann das natürlich in dieser Fragenbeantwortung nur kurz andeuten. Aber hinein spielen dann die verschiedenen Verhältnisse, die zwischen Mensch und Mensch oder zwischen Menschengrup­pen und einzelnen Menschen oder auch zwischen verschiedenen Menschengruppen spielen können. Das alles wird das Wirtschafts­leben bewegen. Und auf diesen beiden Gebieten kommt eigentlich das zunächst gar nicht in Frage, was man «Recht» nennt, insofern diese beiden Gebiete ihre Angelegenheiten selbst besorgen.

Wenn man real denkt - natürlich denken heute die Menschen nicht real, sondern theoretisch, aus dem schon Bestehenden heraus, daher konfundieren sie dasjenige, was das Geistesgebiet schon an Rechtsideen hat, mit den Rechtsideen des Wirtschaftsgebietes -,

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wenn man real, praktisch denkt, so kommen im freien Geistesleben gar nicht in Betracht Rechtsimpulse, sondern es kommen in Frage Vertrauensimpulse, es kommen in Frage Fähigkeitsimpulse. Es ist einfach ein Unding, im freien Geistesleben davon zu sprechen, daß derjenige, der was kann, ein Recht hat zu wirken. Es kann gar nicht in Frage kommen, von einem solchen Recht zu sprechen, sondern man muß davon sprechen, daß man ihn braucht, daß er wirken soll. Derjenige, der Kinder unterrichten kann, den wird man selbstver­ständlich unterrichten lassen, und es wird keine Frage sein, ob da eine Berechtigung vorliegt oder nicht; es ist nicht irgendwie eine Frage des Rechtes als solchem. Ebenso ist es im Wirtschaftsleben. Da werden entweder schriftliche oder mündliche Verträge eine Rolle spielen, und das Vertrauen in das Verträge-Einhalten wird eine Rolle spielen müssen. Daß die Verträge eingehalten werden, das wird sich, wenn das Wirtschaftsleben ganz auf sich selber ge­stellt ist, dadurch ergeben, daß das Wirtschaftsleben einfach nicht funktionieren kann, wenn Verträge nicht eingehalten werden.

Ich weiß ja sehr wohl: Wenn man solche Dinge heute ausspricht, die eigentlich ganz praktisch sind, so werden sie doch von diesem oder jenem für etwas höchst Unpraktisches gehalten, weil man uberall die höchst unpraktischen Dinge hineinträgt und dann glaubt, das, was man da hineingetragen hat und was sich auswirken soll, das sei praktisch, dagegen das, was hier geschildert wurde, das sei unpraktisch. Aber nun muß man bedenken, in diesen zwei Gebieten, in diesen Organen, im Wirtschaftsgebiet und im Geistes-gebiet des dreigliedrigen sozialen Organismus, leben diese Dinge nebeneinander. Denkt man nun in ehrlicher Weise an eine demo­kratische Gestaltung dieses Zusammenlebens, indem die Menschen in den zwei Gebieten nebeneinander leben - in der wirtschaftlichen Struktur drinnen, in der geistigen Struktur drinnen -, dann tritt erst die Notwendigkeit auf, daß nun von Person zu Person die Verhält­nisse festgelegt werden. Da ergibt die lebendige Notwendigkeit einfach, daß derjenige, der, sagen wir auf irgendeinem Posten des Geisteslebens steht, sein Verhältnis festzulegen hat zu vielen ande­ren Persönlichkeiten und so weiter. Diese lebendigen Bezüge, die

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werden eintreten müssen zwischen allen mündig gewordenen Men­schen, und die Verhältnisse zwischen den mündigen Menschen und den nicht-mündigen Menschen, die ergeben sich eben aus dem Vertrauensverhältnis auf dem Gebiete des Geisteslebens. Aber alle Verhältnisse, welche sich ergeben aus den lebendigen Kräften auf der einen Seite des Wirtschaftslebens, auf der anderen Seite des Geisteslebens, alle diese Verhältnisse bedingen, daß gewissermaßen die mündig gewordenen Menschen untereinander ihre Verhältnisse in ihren Lebenssphären festzulegen beginnen. Und das gibt eine lebendige Wechselwirkung, die allerdings das Eigentümliche haben wird, daß, weil ja das Leben lebt und nicht in Normen eingespannt werden kann, daß diese Feststellungen beweglich sein müssen.

Ein absolut kodifiziertes Recht würde sich als etwas ausnehmen, was der Entwicklung widerspricht. Wenn man ein starr kodifizier­tes Recht hätte, wäre es im Grunde etwa ebenso, wie wenn man ein siebenjähriges Kind hätte, dessen organische Lebenskräfte Sie jetzt festsetzen würden, und, wenn das Kind vierzig Jahre alt geworden ist, verlangen würden, daß es noch danach lebte. So verhält es sich auch mit dem sozialen Organismus, der ja durchaus etwas Leben­diges ist und im Jahre 1940 nicht der gleiche sein wird wie im Jahre 1920. Zum Beispiel bei Grund und Boden handelt es sich nicht darum, solches kodifiziertes Recht festzustellen, sondern es handelt sich um ein lebendiges Wechselverhältnis zwischen dem Boden und den Persönlichkeiten, die in den beiden anderen charakterisier­ten Gebieten - dem geistigen und dem wirtschaftlichen - drinnen-stehen und so wirken, daß alles immerfort in Fluß gehalten werden kann, um den wahren demokratischen Boden, auf dem alle Men­schen ihre gegenwärtigen Beziehungen leben, auch abändern und metamorphosieren zu können. Das ist dasjenige, was gesagt werden muß in bezug auf die Festlegung der öffentlichen Rechts­verhältnisse.

Strafrechtsverhältnisse ergeben sich als das Sekundäre erst dann, wenn von einzelnen Persönlichkeiten in unsozialer Weise gegen dasjenige gehandelt wird, was festgelegt ist als das, was die mündig gewordenen Menschen als richtige Beziehung zueinander betrachten.

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Da allerdings ergibt sich für den dreigliedrigen sozialen Orga­nismus bei einem praktischen Durchdenken des Strafrechtes, daß man nötig haben wird, auf die, ich möchte sagen Berechtigung der Strafe auch in praktisch-realer Weise ein wenig hinzuschauen. Ich muß sagen, daß die vielgepriesene Rechtswissenschaft es eigentlich nicht einmal auf diesem Gebiete zu einem klaren Rechtsbegriffe gebracht hat. Es gibt eine jetzt allerdings schon ältere Schrift, «Das Recht in der Strafe», von Ludwig Laistner. Darinnen wird in der Einleitung eine Geschichte aller Theorien gegeben über das Recht zur Strafe: Abschreckungsimpulse, Erziehungsimpulse und alle anderen Impulse. Laistner zeigt vor allem, daß diese Theorien ei­gentlich recht brüchig sind, und er kommt dann zu seiner eigenen Theorie, welche darin besteht, daß man ein Recht zur Strafe eigent­lich nur daher ableiten kann, daß der Verbrecher sich durch seinen eigenen freien Willen in die Sphäre des anderen Menschen hinein-begeben hat. Nehmen wir also an, der eine Mensch hat - und das ist schon auch wiederum hypothetisch - sich irgendeinen Lebenskreis geschaffen; der andere tritt in diesen Lebenskreis hinein, in­dem er zum Beispiel in sein Haus oder oder in seine Gedanken eintritt und ihn beraubt. - Nun sagt Ludwig Laistner: Der hat sich selber in meinen Lebenskreis hineinbegeben, und dadurch habe ich eine Gewalt über ihn; geradeso, wie ich über mein Geld oder über meine eigenen Gedanken Gewalt habe, so habe ich nun auch über den Verbrecher Gewalt, weil er sich in meine Sphäre begeben hat. Diese Gewalt über ihn hat mir der Verbrecher selber zugestanden dadurch, daß er sich in meine Sphäre begeben hat. Ich kann diese Gewalt nun so realisieren, indem ich ihn bestrafe. Die Strafe ist nur das Äquivalent dafür, daß er sich in meine Kreise hineinbegeben hat. Das ist das einzige, was gefunden werden könnte im juristi­schen Denken über die Berechtigung, einen Verbrecher zu strafen. Ob das nun direkt geschieht oder in übertragenem Sinne, indem man es durch den Staat ausführen läßt, das sind dann wiederum sekundäre Fragen.

Aber diese Dinge, warum sind sie denn eigentlich unklar? War­um liegt da etwas vor, das fortwährend verhindert, wirklich scharf

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umrissene Begriffe zu haben? Weil diese Begriffe heute aus sozialen Verhältnissen heraus genommen sind, die an sich schon alle von lauter Lebensunklarheiten erfüllt sind. Es setzt ja tatsächlich das Recht voraus, daß zuerst ein Organismus vorhanden ist und durch den Organismus lebendige Bewegung und dadurch eine Zirkula­tion vorhanden ist - geradeso, wie es das Herz voraussetzt, daß zunächst andere Organe da sind, damit es funktionieren kann. Die Rechtsinstitution ist gewissermaßen das Herz des sozialen Orga­nismus und setzt voraus, daß anderes sich entfaltet; sie setzt voraus, daß andere Kräfte schon da sind. Und wenn man in diesen anderen Verhältnissen Unklarheiten darin hat, dann ist es auch ganz selbst­verständlich, daß kein scharf gefaßtes Rechtssystem dasein kann. Aber ein scharf gefaßtes Rechtssystem wird gerade dadurch zu­standekommen, daß man in diesem dreigliedrigen sozialen Orga­nismus sich wirklich entfalten läßt die den anderen Gliedern des sozialen Organismus ureigenen Kräfte. Dadurch werden erst die Unterlagen geschaffen, die eine wirkliche Rechtsbildung ergeben können.

Wir haben ja vor allen Dingen heute nicht einmal klar die Frage aufgeworfen: Welches ist denn der eigentliche Inhalt des Rechts­systems? Ja, sehen Sie, in einem gewissen Sinne muß ja eine Rechts­wissenschaft gar sehr der Mathematik ähnlich sein, einer lebendi­gen Mathematik ähnlich sein. Aber was würden wir mit unserer ganzen Mathematik machen, wenn wir diese nicht im Leben reali­sieren könnten? Wir müssen sie anwenden können. Wenn die Mathematik nicht eine lebendige wäre und wir sie in der Wirklich­keit nicht anwenden könnten, so würde unsere ganze Mathematik keine Wissenschaft sein. Die Mathematik als solche ist eben zu­nächst eine formale Wissenschaft. In einem gewissen Sinne würde auch eine sachgemäß ausgearbeitete Rechtswissenschaft zunächst eine formale Wissenschaft sein. Aber diese formale Wissenschaft muß so sein, daß das Objekt ihrer Anwendung in der Wirklichkeit angetroffen wird. Und dieses Objekt ihrer Anwendung in der Wirklichkeit sind die Beziehungen der mündig gewordenen, ne­beneinander lebenden Menschen, die nicht nur hier den Ausgleich

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ihrer Lebenskreise suchen, sondern auch noch im geistigen und im wirtschaftlichen Gliede des sozialen Organismus drinnenstehen.

So wird wirklich diese Dreigliederung des sozialen Organismus erst die Möglichkeit ergeben, daß öffentlich gedacht werden kann, und ein nicht öffentlich gedachtes Recht ist ja kein natürlich ge­setztes Recht. Dadurch würde sich die Möglichkeit ergeben, daß sich solche Rechtsbegriffe öffentlich bilden, die dann beweglich sind, wie es heute zu Recht gefordert worden ist. Daher meine ich, daß es sehr gut war, daß Dr. Boos die Reform des Rechtslebens gerade von der Realisierung des dreigliedrigen sozialen Organis­mus aus gefordert hat.

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ERSTER SEMINARABEND, Dornach, 5. Oktober 1920 anläßlich des ersten anthroposophischen Hochschulkurses. Fragen zur wirtschaftlichen Praxis I

Als Grundlage des Abends dienen die beiden Vorträge von Arnold Ith vom 4. und 5. Oktober 1920 über «Bankwesen und Preisgestaltung in ihrer heu­tigen und zukünftigen Bedeutung für das Wirtschaftswesen». Es wird die Diskussion eröffnet:

Rudolf Toepel geht von zwei Stellen in den «Kernpunkten» aus. Er äußert sich zum Problem der Bedürfnisermittlung und, damit verbunden, zur Frage der Preisgestaltung.

Roman Boos: Ich muß die Auffassung Dr. Toepels zurückweisen; die zwei Stellen aus den «Kernpunkten» sind aus dem Zusammenhang gerissen. Der Darstellung von Dr. Toepel fehlt die anthroposophische Grundlage. So kommt man nicht weiter. Der Staat kann nicht Verwaltungsmaßnahmen für die Wirtschaft vorschreiben; man kommt im Wirtschaftsleben nicht weiter, wenn man nicht in andere Gedanken hineinkommt. Gegen ein solches Wirtschaftsleben, wo durch Statistiken die Bedürfnisse der Menschen fest­gestellt werden, rebellieren die Menschen, die in solchem Wirtschaftsleben drinnen leben müssen.

Und da ist noch an eine andere Gefahr zu denken. Es könnten doch vielleicht übermorgen neue Bedürfnisse entstehen, die man heute noch nicht kennt. Überall kommt es darauf an, daß, wie es von Dr. Steiner im­mer betont worden ist, nicht hineinregiert werde in die Bedürfnisse als solche. Der Staat hat nicht hineinzureden, und eine Statistik hat auch nicht hineinzureden in die Bedürfnisfrage als solche, sonst ist man immer noch in der alten Denkweise drinnen. Gerade diese alte Denkweise scheint mir auch zum Teil in den Ausführungen von Direktor Ith zu leben.

Ich möchte deshalb noch einmal ausdrücklich auf den Grundgedanken Dr. Steiners von der wirtschaftlichen Urzelle hinweisen: Der gelöste Preis soll die Möglichkeit geben, daß derjenige, der ein bestimmtes wirtschaft­liches Produkt erzeugt hat, nachher in die Lage versetzt wird, das gleiche

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wieder zu erzeugen. Die Preispolitik als solche ist etwas, in dem man nicht einfach vom Staate her herumregulieren darf, sonst zerstört man das wirt­schaftliche Leben absolut.

Werner Zimmermann spricht als Vertreter der Freigeld- und Freiland­theorie von Silvio Gesell.

Roman Boos unterbricht den Redner: Wichtig ist nicht das Ziel, sondern der Anfang. Und da geht es darum, Assoziationen zu schaffen; wir mussen Assoziationen schaffen.

Arnold Ith: Es gibt verschiedene Punkte, über die ich gerne noch größere Klarheit hätte und über die noch eingehender diskutiert werden müßte. Erstens: Welche Rolle spielt der Handel im dreigegliederten sozialen Orga­nismus? Zweitens: Wie entsteht Kapital im dreigegliederten sozialen Orga­nismus? Drittens: Können Fabriken und Immobilien auch verkauft wer­den? Ist nach Einführung der Dreigliederung Privatkapital überhaupt noch möglich? Viertens: Gibt es im dreigegliederten sozialen Organismus über­haupt noch Geld? Geld ist ja dann bloß noch eine Anweisung auf Waren. Und nun noch zu dem, was die Herren Vorredner gesagt haben. Was vor­her Herr Zimmermann über die Freigeldtheorie gesprochen kann, kann überhaupt nicht eingesehen und nachvollzogen werden. Auch gegenüber den Ausführungen von Dr. Toepel müssen einige Einwände vorgebracht werden; ebenso gegenüber Dr. Boos und seiner Darstellung der wirtschaft­lichen Urzelle. Und in diesem Zusammenhang auf den Einwand von Dr. Boos gegenüber meinen Ausführungen zurückkommend, möchte ich fra­gen: Inwiefern soll das auf die Ausführungen bezug haben, die von mir hier gemacht wurden, und inwiefern soll darin etwas als unrichtig erscheinen? Das als konkrete Frage.

Roman Boos: Ich möchte eine Gegenfrage stellen: Was für eine Rolle messen Sie dem Staat zu für die Preisfestsetzung?

Arnold Ith: Ich wollte mit dieser Gliederung des Preises nur dartun, wie ein Teil des Preises auf die Arbeiter kommt und der andere auf die Produ­zenten verteilt ist. Insofern wird da der Staat mitzusprechen haben bezüg­lich der Preise, indem er eben festsetzt, was das Bedürfnis des einzelnen ist für seine Lebenshaltung.

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Zwischenruf: Sinnlos.

Roman Boos: Ich habe eben eigentlich gerade diesen Punkt herausgehört und mich dadurch veranlaßt gesehen, einen Einwand zu erheben. Ich war bisher immer der Auffassung, daß im dreigegliederten sozialen Organismus der Staat nur bezüglich der Art der Arbeit und der Zeit etwas zu bestimmen hat, aber nicht irgendwie zu bestimmen hat einen Preis oder festzusetzen hat die Bedürfnisse; der Staat soll nur von außen die Tatsachen schaffen, mit denen das Wirtschaftleben als mit gegebenen Tatsachen zu rechnen hat.

Arnold Ith: Es handelt sich nicht um eine Festsetzung der nominellen Preishöhe durch den Staat, sondern um eine verhältnismäßige, reale Vertei­lung, um eine prozentuale Zuteilung. Ich darf vielleicht Herrn Dr. Steiner bitten bei dieser Frage.

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Ich würde ja sehr gern über einzelne Dinge, die hier berührt worden sind, spre­chen. Aber in Kürze darüber zu sprechen, ist kaum möglich und besonders dann schwer möglich, wenn vorher schon eine Anzahl von Menschen mit ihren Köpfen aneinander geraten sind. Da kom­plizieren sich gewöhnlich auch diejenigen Dinge, die sonst einfach sind. Ich möchte deshalb nur ganz weniges bemerken, das aber einige Dinge beantwortet oder wenigstens versucht, sie in die rich­tige Richtung zu bringen.

Ich möchte darauf hinweisen, daß es im wirtschaftlichen Leben wirklich darauf ankommt, wirtschaftlich zu denken. Wirtschaftlich denken heißt aber, Vorstellungen zu haben von der Produktion und Konsumtion, die in ihrem Verlaufe bestimmte Wirkungen nach der einen oder anderen Seite haben; und mit unserem physi­schen Wohl und Wehe stehen wir eben in diesem Wirtschaftspro­zesse darinnen. Mit Lieblingsmeinungen läßt sich dabei gar nichts anfangen. Wer zum Beispiel meint, daß man einfach durch eine Reduktion [oder Expansion] der Geldmenge, je nachdem, ob die Preise steigen oder sinken, irgend etwas erreichen kann, der zeigt, daß er wenig reale Vorstellungen vom Wirtschaftsprozesse sich gemacht hat. Mit einer solchen Festsetzung des Geldwertes, mit

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einer Reduktion gewissermaßen der Geldmenge oder auch mit einer ganz bestimmten Expansion oder dergleichen, ist ja gar nichts getan. Denn in dem Augenblicke, wenn nicht mehr mit Geld spe­kuliert werden kann, spekuliert man in Waren - sehen Sie, jetzt erst kommen wir mit den Gedanken in die Realität hinein, man muß Realitäten anschauen können -, und da ist durchaus nicht notwen­dig, die Geldmenge zu verändern, sondern es kann sehr leicht [be­wirkt] werden durch allerlei Machinationen, daß die Preise für eine bestimmte Art von Produkten sinken oder steigen, während andere Produkte durchaus keine Veranlassung zu einem solchen Sinken und Steigen zu geben brauchen. Überhaupt, der ganze Gedanke von der Indexierung des Geldes - abgesehen davon, daß ja, solange es in irgendeinem maßgebenden Lande Goldwährung gibt, davon keine Rede sein kann -, der ganze Gedanke ist ein rein utopisti­scher. Ich will das nur andeuten, es müßte ausführlich darüber gesprochen werden, aber der ganze Geselische Gedanke ist nichts als ein Gedanke, der herausgeboren ist aus einer vollständigen Unkenntnis des Wirtschaftslebens als solchem. Wenn man wirklich ins Wirtschaftsleben eingreifen will, daß dabei etwas herauskommt, so handelt es sich darum, daß man nicht beim Gelde eingreift, sondern daß man in die Konsumtion und Produktion in lebendiger Weise eingreift. Da kommt es darauf an, daß Assoziationen sich bilden, welche die Möglichkeit haben, auf den Wirtschaftsprozeß einen wirklichen Effekt auszuüben. Natürlich, wenn sich Assozia­tionen da oder dort einmal bilden, dann werden sie zwar im Prin­zip richtig sein können, aber sie werden einen günstigen Einfluß gar nicht ausüben können; einen günstigen Einfluß können sie erst dann ausüben, wenn das assoziative Prinzip durch die Dreigliede­rung des sozialen Organismus wirklich durchgreifend wirken kann. Aber man fragt fortwährend: Wie bilden sich Assoziationen?

Meine sehr verehrten Anwesenden, solange man sich noch strei­tet darüber, ob nun auf der einen Seite die Produzenten sich zu­sammenschließen sollen zu Assoziationen und auf der anderen Seite die Konsumenten zu Genossenschaften und da gegenseitig irgend etwas ausstipulieren, solange ist der Assoziationsgedanke

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auch nicht im entferntesten verwirklicht. Es handelt sich natürlich beim Assoziationsgedanken durchaus nicht darum, daß nun ir­gendwelche Kommissionen sich zusammensetzen und Assoziatio­nen und dergleichen bilden, sondern darum, daß diese Assoziatio­nen aus dem Wirtschaftsleben selber sich herausbilden. Ich möchte zwei Beispiele geben, die ich schon öfter gegeben habe.

Einige Zeit vor dem Kriege, da war ein Mitglied von uns, der war eine Art Bäcker; er backte Brot, produzierte also Brot, mit allem natürlich, was dahintersteht. Nun, man kam darauf, da irgend etwas zu machen, was zunächst einmal eine Art Musterbeispiel sein könnte. Wir hatten die Anthroposophische Gesellschaft, Anthro­posophen essen auch Brot, sie waren schon vereinigt, und nichts war leichter, als daß man den Brotproduzenten mit den Anthropo­sophen zusammenspannte. Er hatte dadurch Konsumenten, und schon war eine Assoziation fertig. Natürlich, wenn eine solche Sache für sich allein steht, kann sie alle möglichen Mängel haben. In diesem Falle hatte sie Mängel dadurch, daß der Produzent auch Mucken und Schrullen hatte und dadurch das Ganze auf eine schie­fe Ebene kam. Aber das macht es letzten Endes nicht aus. Eine Assoziation entsteht von selber aus einer organischen Verbindung der Konsumenten mit den Produzenten, wobei natürlich der Pro­duzent in der Regel die Initiative ergreifen muß -, und dann wird sich diese Assoziation schon ganz von selbst bewähren.

Und dann gebe ich öfters ein Beispiel einer anderen Art von Arbeit, diejenige, die durch den Philosophisch-Anthroposophi­schen Verlag in Berlin geschaffen ist. Sie besteht darin, daß dieser Verlag nicht so arbeitet, wie andere Verlage arbeiten. Wie arbeiten die anderen Verlage? Die arbeiten, indem sie mit möglichst vielen Autoren, guten und schlechten, Verträge über Bücher abschließen. Nicht wahr, dann gehen sie daran, diese Bücher zu drucken. Wenn aber Bücher gedruckt werden, muß Papier dazu da sein, es müssen Setzer beschäftigt werden und so weiter. Nun probieren Sie einmal sich vorzustellen, wieviel Bücher in jedem Jahr gedruckt werden -sagen wir einmal bloß in dem Terrain Deutschland -, die nicht verkauft werden, für die es also überhaupt keine Konsumenten

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gibt. Rechnen Sie aus, rechnen Sie bloß einmal zusammen, wieviel Lyrik in Deutschland gedruckt wird und wieviel Lyrik gekauft wird, da haben Sie dann eine Vorstellung davon, wieviel Menschen-arbeit aufgewendet werden muß zur Papierfabrikation, die in den Wind verbraucht wird, wieviele Setzer arbeiten für die entspre­chenden Bücher und so weiter - lauter Arbeit, die für nichts gelei­stet wird. Das ist dasjenige, auf was es ankommt: Wir müssen ins Wirtschaftsleben hineinkommen, indem wir wirtschaftlich denken, das heißt, indem wir in einer solchen Richtung denken, durch die wir die unnötige Arbeit, die verschwendete Arbeit vermeiden. Das ist bei einer Assoziation, wie sie bestand und besteht zwischen der Anthroposophischen Gesellschaft und dem Philosophisch-Anthro­posophischen Verlag, dadurch nicht möglich, daß der Philoso­phisch-Anthroposophische Verlag sozusagen kein einziges Buch druckt, das nicht verkauft wird. Da sind Konsumenten da. Warum? Weil gearbeitet wird dafür, daß die Konsumenten da sind? Im Gegenteil, der Verlag hat gar nicht die nötige Möglichkeit, für den Konsum genügend zu produzieren. Da wird aber wenigstens nicht Arbeit verschwendet. Wir lassen kein Papier erzeugen, in dem ver­schwendete Arbeit steckt; wir lassen keine Setzer beschäftigt sein, die für nichts arbeiten und so weiter.

Und genau dasselbe, was Sie in diesen zwei Beispielen haben sehen können, das können Sie auf allen möglichen Gebieten ma­chen. Darum handelt es sich, daß die Assoziation richtig gedacht wird. Wird sie richtig gedacht, so wird vor allen Dingen die un­nötige Arbeit vermieden. Und das ist es, worauf es ankommt. Es handelt sich darum, daß durch reale Maßnahmen ein richtiges Ver­hältnis geschaffen wird zwischen der Produktion und dem Kon­sum auf allen möglichen Gebieten. Dann kommt diese Urzelle des Wirtschaftslebens zustande, dann kommt ein Preis zustande, der angemessen sein wird dem ganzen Leben, so daß derjenige, der irgend etwas produziert, irgendein Produkt, sagen wir ein Paar Stiefel, daß der dafür dann soviel bekommt, als er nötig hat bei seinen Bedürfnissen, bis er ein ebenso gutes Paar Stiefel wieder fabriziert haben wird. Es kommt nicht darauf an, daß wir irgendwie

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den Preis stipulieren, daß wir Statistiken aufstellen und derglei­chen, sondern es kommt darauf an, daß wir so arbeiten, daß der Konsum der Produktion angemessen ist. Und das kann nur da­durch geschehen, daß der Konsum die Produktion bestimmt. Wenn Beispiele angeführt werden, so sieht man das handgreiflich. Darauf kommt es an, daß man nicht irgendwie herumschwafelt in bezug auf den Bedarf und die Bedürfnisse und dergleichen, son­dern daß man drinnensteht in den Bedürfnissen. Es kommt darauf an, daß man mit dem [Konsum] auf der einen Seite verwandt ist und auf der andern Seite in die Produktion hineinzugreifen vermag so, daß man sie unmittelbar hinüberleitet zu der Befriedigung der Bedürfnisse. Darauf kommt es nicht an, daß man soundso viele Zahlen schafft und sie von einer Stelle zur andern Stelle schickt, sondern darauf kommt es an, daß man lebendige Menschen in der Assoziation drinnen hat, die überschauen, wie sie zu vermitteln haben zwischen Konsumtion und Produktion.

Wir haben gerade dadurch eine Schädigung unseres Wirtschafts­lebens in einer so furchtbaren Weise herbeigeführt, daß wir alles abgeladen haben auf den Wertmesser des Geldes. Das Geld, das hat aber nur denjenigen Wert, den es hat, je nachdem der Wirtschafts­prozeß so oder so geartet ist. Selbstverständlich können Sie nicht sogleich bei dem Allerabstraktesten, bei dem Geld, anfangen und dabei irgendwelche Reformen einführen. Sie brauchen überhaupt zunächst gar nicht darüber zu diskutieren, ob das Geld nun eine Anweisung für Waren sein soll oder irgend etwas anderes. Ich möchte nämlich wissen, was das Geld, das ich in meinem Porte­monnaie habe, anderes ist als eine Anweisung für Waren. Und wenn ich es nun nicht hätte im Portemonnaie, so könnte die Zah­lung für eine Arbeit, die ich geleistet habe, auch irgendwo in einem Buche stehen; man könnte dort immer nachschauen meinetwillen; statt daß es aber nur dort drinnensteht, könnte man es mir auch herausschreiben. Diese Dinge alle muß man nicht sekundär und partiär denken, sondern primär, und man muß sich klar sein dar­über, daß das Geld von selbst im Wirtschaftsleben zu einer Art wandelnder Buchhaltung wird, wenn man wirtschaftlich denkt -

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nicht theoretisch, sondern wirtschaftlich denkt -, das heißt, wenn man dynamisch die wirtschaftlichen Verhältnisse gegenseitig in richtige Beziehungen zu bringen vermag.

Zwischenruf Sehr richtig!

Das ist es. Aber dieses praktische Denken, das gerade durch die «Kernpunkte» einmal hineingeworfen werden sollte in die Kultur­entwicklung der Gegenwart, dieses praktische Denken, das liegt ja furchtbar fern den heutigen Menschen, sie kommen gleich wieder­um ins Theoretisieren hinein, sie haben gleich wiederum alles mögliche zu schematisieren und theoretisieren, während es doch darauf ankommt, an die Menschen so heranzukommen, daß sie wiederum mit vollem Anteil in dem Leben drinnenstehen, also im Wirtschaftsleben - dann werden schon die richtigen Verhältnisse in diesem Wirtschaftsleben sich entwickeln können. Wir konnten natürlich nicht andere Assoziationen gründen, weil man uns andere nicht hätte gründen lassen als die mit dem Philosophisch-Anthro­posophischen Verlag. Aber bitte überlegen Sie einmal in einer Stunde ruhigen Nachdenkens, meine sehr verehrten Anwesenden, was das nun bedeutet als Effekt für das ganze Wirtschaftsleben, wenn es irgend etwas gibt, welches verhindert, daß unnötige Arbeit geleistet wird - das wirkt ja in das ganze Wirtschaftsleben hinein. Die Setzer, die wir erspart haben dadurch, daß wir sie nicht unnö­tig beschäftigt haben, die haben ja andere Arbeit verrichtet in der Zeit, und die Leute, die in der Papierfabrikation gearbeitet haben, haben andere Arbeiten verrichtet in der Zeit. Da steht man ja im ganzen Wirtschaftsprozeß drinnen. Man darf nicht so kurz denken, daß man nur an ein Unternehmen denkt, sondern man muß sich klar sein, welchen Effekt es hat im ganzen Wirtschaftsleben. Darauf kommt es an.

Ich wollte nur darauf hinweisen, daß man versuchen muß, wirk­lich wirtschaftlich zu denken. Und wenn Fragen aufgeworfen wer­den, wie es mit den Wirtschaftsassoziationen wird, so ist es so, daß jeder an seinem Platze, an dem er steht, genügend Veranlassung

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finden würde, wenn er wollte, aus der Sache heraus solche Wirt­schaftsassoziationen zu bilden. Natürlich kann man nicht zu mir oder zu Dr. Boos oder zu anderen sagen: Wie soll ich Assoziatio­nen machen? - und dann voraussetzen, daß ein Imperium geschaf­fen werden solle für Assoziationsbildung.

Darauf kommt es nicht an, sondern darauf, endlich einmal zu versuchen nachzudenken und sachlich zu überlegen - darauf kommt es an. Gewiß, es schlägt einem manchmal noch die alte Denkweise so ein bißchen in den Nacken hinein; und wenn auch Herr Ith die Dinge zweifellos außerordentlich gut verstanden hat und sie im wesentlichen auch ganz gut vorgetragen hat, so mußten wir zum Beispiel doch hören - es ist ja nur eine Entgleisung gewe­sen, aber sie ist immerhin dagewesen -, daß er unter seinen Ver­rechnungskosten auch noch Lohn hatte. Lohn gibt es ja natürlich nicht, wenn man im Sinne der Dreigliederung Bilanzen aufstellt -da kann nicht die Rede sein von Lohn, auch nicht von irgendeiner Bewertung der Rohprodukte; denn es handelt sich bloß darum, daß man [die Differenz] dessen, was Arbeitsprodukte sind und was Rohprodukte sind, noch irgendwie in Rechnung setzen kann und dergleichen. Also nicht wahr, manchmal schlägt noch die alte Denkgewohnheit durch; das macht aber nichts, wenn man nur den Willen hat, eben in das positive Wirtschaftsleben hineinzudenken, dann kommt schon das Richtige heraus.

Es ist ja auch selbstverständlich, daß solche Unternehmungen wie Futurum oder der Kommende Tag nicht gleich in allen Stücken gewissermaßen nach den «Kernpunkten» errichtet werden können; man steckt ja mitten im anderen Wirtschaftsleben drinnen, das schlägt seine Wellen überall herein. Aber indem solche Unterneh­mungen errichtet werden, in denen überwunden wird auf der einen Seite das einseitige Bankprinzip, auf der andern Seite das einseitige kaufmännische oder industrielle Prinzip - das heißt auf der einen Seite das Prinzip des Verleihens von Geld von seiten der Bank, auf der anderen Seite das Prinzip des Leihens von der Bank -, also das Auseinandergehen von Bank und industriellem, kaufmännischem Unternehmen, werden diese zu einem gemacht, und dadurch wird

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der Weg beschritten zu dem assoziativen Prinzip. Es ist zunächst nur eine Beschreitung des Weges. Das wirkliche assoziative Prinzip würde erreicht werden, wenn Sie es im Realen so durchführen könnten, wie ich es an den zwei Beispielen gezeigt habe. Natürlich wäre es da notwendig, daß die Produzenten allein, also Leute, die verstehen, irgendeinen Artikel zu schaffen, daß diese die Initiative dazu ergreifen; das heißt, von den Konsumenten kann natürlich die Initiative nicht ausgehen, wenn eine Assoziation gebildet werden soll. Aber auf der anderen Seite wird derjenige, der die Initiative zur Einrichtung einer Assoziation ergreift, für die Gestaltung der Assoziation im wesentlichen abhängig sein von dem, was die Kon­sumenten an Bedürfnissen entwickeln; er kann sich ja immer nur an bestimmte Bedürfnisse richten, die niemand zu regeln hat. Wenn zum Beispiel meinetwillen Luxusbedürfnisse und so weiter existie­ren, die regeln sich schon ganz von selber.

Neulich wurde ich einmal gefragt: Es sei von mir gesagt worden, mit Bedürfnissen solle man rechnen; nun gebe es aber sonderbare Bedürfnisse; der eine habe zum Beispiel ein Bedürfnis nach beson­ders hohen Rohrstiefeln, Reitstiefeln und so weiter; [wie man sich dem gegenüber verhalten müsse].- Ja, meine sehr verehrten Anwe­senden, dies alles berücksichtigt in seinem Denken nur einen ganz kleinen Ausschnitt. Es handelt sich doch darum, nun wirklich ins Wirtschaftsleben hineinzudenken; und wenn man da hineindenkt, dann kommt man ab von diesen Einzelheiten, denn ein gesundes Wirtschaftsleben regelt in einer gewissen Weise auch die Bedürfnis­se. Man kann schon abwarten, wie die Bedürfnisse werden, wenn unter dem assoziativen Prinzip eben ein gesundes Wirtschaftsleben herauskommt, wenn vor allen Dingen unnötige Beschäftigung, In-die- Luft-hinaus -Arbeiten, also unnötige Arbeit verhindert wird. Das ist dasjenige, um was es sich handelt.

Mit diesen paar Andeutungen konnte natürlich noch nicht sehr Wesentliches gesagt werden; aber ich will wenigstens darauf hin­weisen, daß man die «Kernpunkte» doch nur richtig versteht, wenn man sie im praktischen Sinne versteht, wenn man daran denkt, wie man im Konkreten, im Leben, solch eine Assoziation zustandebringt,

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die darauf aufgebaut ist, in möglichst organischer Weise zusammenzugliedern Konsumtion und Produktion. Wenn man weiß, wie ein solches Wirtschaftsgebilde, das in ökonomischer Weise auf das Assoziationsprinzip aufgebaut ist, wie das auf das ganze Wirtschaftsleben auch ökonomisierend hinauswirkt, dann können tatsächlich wirtschaftliche Grundlagen geschaffen werden, wo die einen nicht mehr soviel unnötige Arbeit leisten müssen und wo die anderen nicht mehr soviele Bedürfnisse nicht befriedigen können. In der Welt ist es ja schon einmal so - das könnte man auch sehr im einzelnen begründen und sogar wie eine Art Axiom hinstellen -, im Weltenleben ist es schon so, daß gewisse Dinge, wenn man ihnen nicht die Möglichkeit nimmt, ihren eigenen Ge­setzen zu folgen, sich in einer ganz merkwürdigen Weise von selbst regeln.

Meine sehr verehrten Anwesenden, wenn nun wirklich morgen ein Mensch darauf käme, bei den Geburten der Menschen ein ernsthaftiges Mittel zu haben für die jeweilige Entstehung eines Knaben oder Mädchens in der Embryonalentwicklung, dann, ich bin fest davon überzeugt, dann würde das furchtbarste Chaos her­auskommen. Es würden die Verhältniszahlen zwischen den Mäd­chen und den Knaben, die entstehen, eine fürchterliche katastro­phale Lage abgeben; es würden Krisen und Katastrophen eintreten auf eine ganz fürchterliche Weise. Nur so, daß dieses gewisserma­ßen dem Verstandesurteil der Menschen vorenthalten wird, nur so kommt das merkwürdig wunderbare Verhältnis heraus - das ja natürlich approximativ ist, wie alles in der Natur -, daß doch jede Frau ihren Mann und jeder Mann seine Frau finden kann. Und wenn halt ein Mann unverheiratet bleibt, so muß auch eine Frau dafür unverheiratet bleiben. Es kommt ja natürlich da, wo entspre­chender menschliche Wille hereinkommt, Katastrophales heraus; aber wenn wir das soziale Leben haben, dann müssen wir schon mit einer gewissen Interessiertheit auf dasjenige sehen, was gewis­sermaßen durch seine eigene Gesetzmäßigkeit wirkt. Und Sie können ganz sicher sein, wenn Assoziationen mit wirklichem Verständnisse in der Lage sind, Wirtschaftskörper, in denen sich

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Konsumtion und Produktion abspielen, so zu gestalten, daß in ra­tionellster Weise nur die notwendige Arbeit geleistet wird, dann werden auch nach aller Möglichkeit die Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden können, weil das eine das andere hervorruft. Das sieht man mit realem Denken ein.

Ich möchte noch darauf hinweisen, wenn man über solche Fra­gen diskutiert, dann muß man vor allen Dingen real denken und sich gerade die Abstraktionen abgewöhnen. Im Wissenschaftlichen, da ist es zwar auch schlimm, wenn man allerlei Theorien aussinnt. Wenn zum Beispiel auf wissenschaftlichem Gebiet jemand eine Theorie entwickeln würde, wie es der Gesell auf wirtschaftlichem Gebiet tut, wenn da auf wissenschaftlichem Gebiet einer eine sol­che Theorie ausdenken würde, dann würden ihm irgendwelche Tatsachen über den Kopf wachsen; er brauchte dann nur den Wert der Theorien etwas herabzusetzen. Im Wirtschaftlichen handelt es sich darum, wirklich praktisch ins unmittelbare Leben einzugreifen und praktisch zu denken. Praktisches Denken, das ist gerade die Forderung der Geisteswissenschaft. Geisteswissenschaft denkt praktisch auf dem geistigen Gebiete; sie lehrt die Menschen, prak­tisch zu denken. Dabei kommen nicht vertrackte Theorien heraus. Sie erzieht die Menschen, und sie wird sie erziehen auch zu praktischem Denken im Wirtschaftsleben. Und dieses praktische Denken, das ist die Aufgabe.

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ZWEITER SEMINARABEND, Dornach, 7. Oktober 1920 anläßlich des ersten anthroposophischen Hochschulkurses. Fragen zur wirtschaftliche Praxis II

Dem Seminarabend werden die drei vorangegangenen Vorträge von Ro­man Boos über «Phänomenologische Sozialwissenschaft» vom 4., 5. und 6. Oktober 1920 zugrundegelegt. Es wird die Diskussion eröffnet.

Hermann Eichenberger: Ich möchte eine Frage an den Referenten stellen. Wenn man sich bemüht, die Umwandlung des öffentlichen Lebens im Sin­ne der Dreigliederung vorzunehmen, dann muß man sich überlegen, auf welchem Gebiete man da anfangen kann. Ich möchte also fragen: Kann man aus dem politisch-rechtlichen Gebiet heraus anfangen mit der Um­wandlung des öffentlichen Lebens? Präziser: Ist die Auffassung richtig, kann man sich die rechtliche Führung so vorstellen, daß die Menschen Vertrauen schenken einer gewissen Spitze - oder nicht? Es handelt sich um die Art der Wahl des gesetzgebenden Körpers, um das Wahlsystem. In den «Kernpunkten» ist das als eine fundamentale Sache bezeichnet.

Eugen Kolisko ist durchaus der Meinung, man müsse dafür sorgen, einen Boden im Parlament zu haben, von dem aus man für die Dreigliederung wirken könne. Von Dr. Thomastik zum Beispiel sei ein Aufruf verbreitet worden mit der Forderung, Österreich zu einem einzigen Wahlkreis zu­sammenzufassen, allerdings ohne Hinweis auf die Dreigliederungsidee. Die Dreigliederung zu verschweigen, das ginge aber nicht.

Roman Boos ist derselben Ansicht wie Dr. Kolisko. Nötig sei vor allem eine volkspädagogische Erziehung im großen, man müsse Vorträge halten, damit der Dreigliederungsgedanke durch die Köpfe der Menschen ziehe. Die Sache, die Dr. Thomastik aufgezogen habe, sei nur ein Surrogat, wenn sie auch noch so schön ausgedacht und noch so gut gemeint sei.

Hermann Eichenberger betont, Herr Thomastik habe durchaus Mut ge­zeigt; er habe auch Vorträge über die soziale Dreigliederung gehalten.

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Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Viel habe ich gerade über diese Sache nicht zu sagen, nach dem, was ich über sie vernommen habe. Sie können sich denken nach meinem bisherigen Wirken, daß ich in dem Momente, als ich eingetreten bin für die Dreigliederung des sozialen Organismus, es für eine Notwendig­keit gehalten habe, diese Dreigliederung als solche zuallererst in das öffentliche Leben der modernen Zivilisation einzuführen. Und ich habe seither wiederholt bei den verschiedensten Gelegenheiten ausgeführt, daß für mich nach einer gründlichen Untersuchung der Verhältnisse des modernen Lebens die Sache so steht: Entweder man kommt dazu, den Dreigliederungsimpuls wirklich populär zu machen, so daß er Leben wird - er ist keine Utopie, er muß Leben sein -, oder man kommt keinen Schritt weiter. Sie können das jetzt wieder nachlesen in meinen gesammelten Aufsätzen über die Drei­gliederung des sozialen Organismus, die eben erschienen sind im Stuttgarter Verlag des Kommenden Tages; «In Ausführung der Dreigliederung des sozialen Organismus» heißt das Buch.

Und daher darf ich vielleicht schon bemerken, daß mich jede solche Äußerung, man solle gewissermaßen kaschierend mit der Dreigliederung auftreten, erinnert an dasjenige, was ich nun mit der Anthroposophie seit 20 Jahren erlebt habe, daß nämlich immer wieder und wiederum sehr kluge Leute gekommen sind und gesagt haben: Ja, mit der Anthroposophie irgendwie auftreten, das können wir nicht, wir mussen erst auf irgendeine andere Weise die Sache gewissermaßen mundgerecht machen und dergleichen. - Ich habe gesehen, was aus all dem geworden ist. Ich selber habe für mich niemals einen anderen Weg gewählt als denjenigen, in absolut wah­rer, unverhüllter Weise die Anthroposophie vor die Welt hinzustel­len, und ich habe alles dasjenige, was nicht mit offenem Visier für Anthroposophie eingetreten ist, stets abgelehnt und mir dadurch genügend Feindschaften zugezogen, an denen mir nichts liegt im wesentlichen. Und daher kann ich nur sagen, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn es sich darum handelt, die Wege zu suchen, um auf dem direktesten und schnellsten Wege für die Dreigliederung des sozialen Organismus zu wirken, dann rede ich ganz gern überall

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da, wo man mich ruft. Wenn man etwa mit allerlei sekundären Vorschlägen kommen möchte, zum Beispiel mit Vorschlägen über Modifikationen dieses oder jenes Wahlgesetzes, die überhaupt erst dann in Betracht kämen, wenn wir in der Dreigliederung des sozia­len Organismus drinnenstehen würden und das politisch-rechtliche Glied aus dem sozialen Organismus herauskristallisiert hätten, wenn man mit solchen Dingen kommt, dann muß ich sagen, sie kommen mir - ich sage das ganz ohne Emotion - wie eine Erneue­rung alter Politikastereien vor, und die interessieren mich nicht. Sie interessieren mich nicht!

Nun, es wird die Frage gestellt:

Ich möchte Herrn Dr. Steiner fragen über die Art, wie man die Organisa­tion des freien Geisteslebens sich vorzustellen hat? Gerade Künstler, Wis­senschafter und andere geistige Arbeiter sind erfahrungsgemäß am schwer­sten zu vernunftigem Zusammenarbeiten zu bringen. Wie kann man sich eine solche Organisation denken? Kann da überhaupt von einer Organisa­tion im üblichen Sinne die Rede sein?

Meine sehr verehrten Anwesenden, ich möchte zu dieser Frage zunächst das eine betonen: Es wird sehr häufig von der Dreigliede­rung des sozialen Organismus, wie sie durch meine «Kernpunkte der Sozialen Frage» und anderes in die Welt gekommen ist, so gesprochen, als ob man es da mit irgendeiner Utopie zu tun hätte, während alles das, was da vorgebracht wird, von Anfang bis zum Ende aus einem durchaus praktischen Denken heraus kommt und auch das Ziel verfolgt, daß es praktisch, unmittelbar praktisch ge­nommen werde. Auf der anderen Seite aber wird durch zahlreiche Fragestellungen - auch von gutmeinender Seite - dieser Dreigliede­rungsbewegung geradezu der Charakter des Utopistischen, des Utopischen aufgeprägt. Es kann sich ja wirklich heute nicht darum handeln, daß man den fünften und sechsten Schritt macht, wenn man ein praktischer Mensch sein will, ohne daß man zunächst den ersten Schritt macht. Nun ist allerdings mit dieser Frage auf eine Schwierigkeit des ersten Schrittes hingewiesen. Beim Geistesleben, das in der Richtung des Dreigliederungsimpulses ein freies Geistesleben

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sein muß, bei dem kann man ja natürlich am allerwenigsten erwarten, daß es von heute auf morgen irgendwie umorganisiert werden kann. Aber man könnte die Dreigliederung von heute auf morgen realisieren, unmittelbar realisieren. Man kann sie wirklich realisieren. Man müßte ja nichts anderes tun, als sie eben in dieser Weise realisieren wie die Waldorfschule in Stuttgart. Und ich muß, schon um die ganze Diskussion aus jenen abstrakten Höhen, in denen sie heute geführt wurde, etwas ins Konkretere herunter­zubringen, auf diese konkrete Erscheinung der Waldorfschule hin­weisen, die nun schon ein Jahr lang gewirkt hat.

Sehen Sie, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn sich eine Anzahl von Menschen zusammensetzen, um aus Prinzipien heraus irgendwelche Anordnungen zu treffen, zum Beispiel Verordnun­gen für das Schulwesen in bezug auf Lehrpläne und Lehrzeiten, dann - ich meine das aber ganz im Ernst - sind diese Menschen im Grunde genommen immer sehr gescheit natürlich. Und man kann, wenn man sich so zusammensetzt, Paragraph 1, 2 und 3 so machen, daß man sagt: Der Lehrer soll soundso unterrichten, in diesem oder jenem Gegenstande muß nach diesen oder jenen Prinzipien unter­richtet werden und so weiter. - Und ich bin überzeugt, ihrem abstrakten Gehalt nach werden diese Dutzende von Paragraphen außerordentlich Schönes, Gewaltiges enthalten können, aber eben in abstrakter Form. Ob man sie anwenden kann, hängt lediglich davon ab, ob man die Menschen dazu hat. Denn, setzen wir den allerextremsten Fall, wir hätten einmal in einem Zeitalter innerhalb eines Territoriums durch irgendwelche Bedingungen nur Men­schen, welche über ein gewisses Niveau des Unterrichtes hinauf gar nicht kommen können, weil eben gerade in einem bestimmten Territorium, in einem bestimmten Zeitabschnitte keine Genies, sondern nur 200 mittelgescheite Leute geboren worden sind, so daß eben keine Genies da sind. Nun, man kann ganz überzeugt sein - wenn man reales Denken hat, sieht man das unmittelbar ein -, daß auch dann diese mittelgescheiten Leute ihre besten Abgeordne­ten wählen, und wenn diese zusammentreten, daß die dann noch immer ihre schönsten Paragraphen 1, 2 und 3 und so weiter machen

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werden, zum Beispiel, der Lehrer solle soundso unterrichten in diesem oder jenem Gegenstande. Aber auf all das kommt es eben in der Welt durchaus gar nicht an. Wenn man wirklich mit den vorhandenen Kräften rechnen will, dann kommt es zunächst darauf an, daß man aus dem Kreise der Menschen heraus diejenigen zu­sammenbringt, welche man für die Fähigen hält.

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, das ist zum Beispiel in der Waldorfschule versucht worden. Und da sind keine Paragraphen gemacht worden, sondern ich habe höchstens einen Vortragskursus gehalten, Seminarien abgehalten, bevor wir die Schule eröffnet ha­ben. Wir haben auch viele Besprechungen zusammen im Laufe des Schuljahres gehabt. Ich habe auch jetzt wieder vor Eröffnung des zweiten Schuljahres einen kurzen Seminarkursus abgehalten. Aber alles dasjenige, was in der Waldorfschule getan wird, das wird aus der Gemeinschaft derjenigen Persönlichkeiten heraus getan, die ein­mal da sind, das heißt aus ihren Fähigkeiten, aus ihren Kräften; ohne daß erst [Paragraphen] hingestellt werden, tut jeder sein Bestes nach seinen Fähigkeiten. Und da haben wir einen kleinen Kreis von - nennen Sie es nun, wie Sie es wollen - Organisation des freien Gei­steslebens, da haben Sie einen kleinen Kreis, der ganz auf sich ge­stellt ist, der ganz aus seinen eigenen Fähigkeiten und Intentionen heraus wirkt. Man mußte einmal so etwas wie eine Art Ausschnitt herausholen aus den übrigen Zuständen. Man konnte es in Würt­temberg, weil da das Schulgesetz noch eine Lücke hat, und in diese Lücke hinein konnte man diese Waldorfschule bringen. Hier im Kanton Solothurn könnte man es ja bekanntlich nicht. Die Sache ist also so, daß man nicht an Abstraktionen, sondern an die Menschen geht und die Menschen dasjenige tun läßt, was sie wirklich machen können. Nun wird hier allerdings auf eine Schwierigkeit hingedeu­tet. Es wäre natürlich möglich, wenn der Impuls der Dreigliederung ordentlich verstanden würde, daß die Vertreter des Geisteslebens einfach über irgendwelche Territorien hin, die schon einmal aus der bisherigen Geschichte gegeben sind, in weitem Umkreise sich fän­den, um gar nichts anderes zu wollen, als eben das Auf-sich-selbst­Gestelltsein des Geisteslebens zu verstehen; das heißt, daß diese

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Vertreter des Geisteslebens - die Majorität wird ja doch aus den ver­schiedenen Lehrern der verschiedenen Anstalten bestehen -, daß diese verschiedenen Vertreter des Geisteslebens wirklich den Mut fänden, sich auf sich selbst zu stellen.

Wir haben in Stuttgart damit angefangen, einen sogenannten Kulturrat zu begründen - ich habe schon einmal hier bei anderer Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht -, und wir mußten selbst­verständlich da zunächst an diejenigen herangehen, die es angeht. Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, man kann nicht plötzlich andere Menschen ins Geistesleben hineinstellen wollen, als da sind. Es ist ja selbstverständlich, daß derjenige, der praktisch denkt, sich zunächst sagt: Wir wollen die Dreigliederung des sozialen Organis­mus verwirklichen, nicht irgendeine Utopie in einem Wolkenkuk­kucksheim schaffen. - Da handelt es sich natürlich darum, daß man zunächst mit denjenigen Arbeitern im Geistesleben rechnet, die eben da sind. Und es handelt sich darum, daß man sich klar ist, daß dieses Geistesleben nun auf sich selbst gestellt ist, daß es sich her-ausgelöst hat aus dem Einheitsstaat. Schon dadurch geschieht wirk­lich etwas. Nur, man fand wenig Gegenliebe, weil insbesondere die Universitäts-Professoren sagten: Na, da könnte es ja geschehen, wenn sich die Universitäten selbst verwalten würden, da wäre ja mein Kollege derjenige, der mitverwalten würde - nein, da ist mir ein Minister, der draußen steht, noch immer lieber. - Denn kein Kollege traut eigentlich dem andern. Das ist natürlich etwas, was überwunden werden muß. Aber dem realen Denken gegenüber nimmt sich die Sache so aus: Mögen noch so viele Künstler, Wis­senschafter und geistige Arbeiter meinetwillen ihre eigenen Wege gehen wollen, entscheidend ist, daß das geistige Leben auf sich selbst gestellt ist, so daß im Erziehungs- und Unterrichtswesen von der untersten Schulklasse bis hinauf zum Universitätsprofessor nichts anderes maßgebend ist als die Stimme desjenigen, der in diesem Geistesleben drinnen tätig mitwirkt. Dasjenige, was zu ent­scheiden ist innerhalb des Geisteslebens, das muß im großen Stil so entschieden werden, wie es bei uns in der Waldorfschule entschie­den wird, also nur durch diejenigen, die beteiligt sind an diesem

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Geistesleben, nicht durch irgendein Parlament oder dergleichen oder durch irgendein Ministerium, das draußen steht, oder höch­stens durch einen Referenten, der, weil er für das Unterrichtswesen zu alt geworden ist, nachher noch das Referat im Unterrichtsmini­sterium zu besorgen hat.

Dasjenige, was allüberall wichtig ist, das ist, daß der Gedanke der Dreigliederung des sozialen Organismus in seiner wahren Ge­stalt in die Köpfe der Menschen hineingeht. Dann wird man sich überzeugen davon, daß man gar nicht über diese Einzelheiten nachzudenken hat, sondern daß es sich darum handelt, daß das Geistesleben wirklich heraußen ist einfach dadurch, daß sich die Vertreter dieses Geisteslebens auf sich selbst gestellt fühlen, selbst­verständlich auch auf sich selbst gestellt sind, indem einfach kein Staat etwas dagegen machen kann. Wenn sie sich auf sich selbst gestellt fühlen, in dem Augenblicke wird eine ganz andere Art des Wirkens, eine ganz andere Art des Arbeitens in diesem Geistes­leben drinnen sein. Und dann entsteht schon aus diesem Geistes­leben dasjenige, was dann ein Fortschritt im Sinne der Dreigliede­rung und eines wirklichen Menschentums ist. Also darum handelt es sich, daß man nun wahrhaftig nicht denken soll, man muß sich hinstellen und irgend etwas tun, so wie man Bleisoldaten in Kolon­nen stellt, sondern man muß das Leben so nehmen, wie es ist, und nur die Dreigliederung hineinbringen in das Leben, und da muß man natürlich die Menschen nehmen, die jetzt da sind. Aber es handelt sich auch um nichts anderes, als daß diese Menschen eben dasjenige verstehen, was wirklich im Dreigliederungsgedanken liegt. Dies kann man also auf eine solche Frage sagen.

Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, es ist doch eine Organi­sation da im Geistesleben, es sind die Dinge organisiert: Volks­schulen sind da, und Mittelschulen und Universitäten sind da; eine Organisation, ein gewisses Gewebe des Geisteslebens ist ja da. Es handelt sich ja nicht darum, daß man das alles umschmelzt, son­dern daß man das Geistesleben freimacht und daß man dann die Dinge geschehen läßt - und es wird sicher viel geschehen, wenn das Geistesleben frei und auf sich selbst gestellt ist. Dann werden

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schon diejenigen, die draußen Dummköpfe sind, nicht gehört wer­den. Wir haben uns über sehr vieles zu beklagen mit Bezug auf unsere Waldorfschule; wir haben uns namentlich sehr darüber zu beklagen, auf allen Gebieten, auch hier in Dornach, daß uns kein Mensch Geld gibt; aber wir haben uns wahrhaftig nicht zu bekla­gen darüber, daß man die Waldorfschule etwa nicht hört. Man hört sie sehr gern, man möchte überall die Lehrer hören, sie können gar nicht genug tun und sie werden geradezu zerrissen. Derjenige, der etwas zu sagen hat, der wird schon gehört. Das ist aber dasjenige, um was es sich handelt; ich werde auch darüber noch sprechen.

Nun die zweite Frage:

Wie stellt sich die Assoziation dar im Vergleich zu korporativen Organi­sationen?

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, da möchte ich Ihnen, wiederum von etwas Konkretem ausgehend, sagen: Auch im wirt­schaftlichen Leben handelt es sich darum, daß man, wie ich schon an einem anderen Abend gesagt habe, nun wirklich wirtschaftlich denkt, das heißt, daß man drinnenstehen kann im wirtschaftlichen Leben und im wirtschaftlichen Leben nicht etwa juristisch denkt oder so denkt, wie man im geistigen Organismus zu denken hat, sondern daß man im wirtschaftlichen Leben drinnen wirklich wirt­schaftlich denkt. Natürlich ergeben sich heute noch Schwierigkei­ten; aber darum handelt es sich nicht, weil diesen Schwierigkeiten eben in einer ganz bestimmten Weise, die ich gleich andeuten wer­de, nach und nach abgeholfen werden könnte. Aber es handelt sich doch nicht darum zu sehen, wie sich die Schwierigkeiten einstellen, sondern darum, daß man zunächst einmal daran gehen soll, den Assoziationsimpuls wirklich aufzunehmen.

Nun, was taten wir in Stuttgart, nachdem wir im April des vo­rigen Jahres begonnen haben, da zu arbeiten? Sehen Sie, wir haben nicht irgendwie auf einen abstrakten Versuch gesetzt und haben nun deklamiert, wie die Assoziationen sich zu bilden haben, mei­netwillen unter Schuhmachern, sondern wir haben einen Gedanken aufgenommen, der dazumal populär war. Gerade in der Zeit, als

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wir ihn aufgenommen haben, war er nicht bloß populär im Prole­tariat, sondern er war sogar populär im Unternehmertum: der Be­griff der Betriebsräte. Wir wollten aber den Begriff der Betriebs­räte, die Institution der Betriebsräte, im Sinne der Dreigliederung haben. Was haben wir da getan? Wir haben versucht, diejenigen Menschen, die daran interessiert waren - und das waren wahrhaftig in einem bestimmten Zeitabschnitt sehr viele -, auf folgendes auf­merksam zu machen: Wenn in einem Wirtschaftsgebiete die Insti­tution der Betriebsräte eingeführt wird, so ist das natürlich eine törichte Bevormundung, in die Fabriken hinein eine Gesetzgebung zu machen, wodurch in der einzelnen Fabrik nun Betriebsräte ein­geführt werden, die dort arbeiten, beaufsichtigen und dergleichen -darum kann es sich nicht handeln. Daß es sich darum nicht handeln kann, das hat sich am allerbesten herausgestellt, als in Ungarn die Räterepublik eingeführt worden war - bitte, lesen Sie das außer­ordentlich interessante Buch von Varga, der selber, ich möchte sagen an der Krippe gesessen hat, der dort Volkskommissar für wirtschaftliche Angelegenheiten und Präsident des obersten Wirt­schaftsrates war.

Es handelt sich nicht darum, in dieser Weise, wie es jetzt auch in den ganz unmöglichen deutschen Gesetzen gemacht worden ist, Betriebsräte einzuführen, sondern darum, aus dem Wirt­schaftsleben und seinen einzelnen Situationen selber eine Betriebs­räteschaft zu bilden. Und der Gedanke, eine Betriebsräteschaft hervorgehen zu lassen aus den verschiedenen Zweigen des Wirt­schaftslebens, seien es solche Zweige, die mehr nach der Konsum­tion oder mehr nach der Produktion ausgerichtet sind, seien es die Angehörigen dieser oder jener Klasse, kurz, aus dem Wirt­schaftsleben eben die Betriebsräte-Persönlichkeiten hervorgehen zu lassen, dieser Gedanke wurde vor allen Dingen auch unter den Proletariern populär gemacht. Der Wahlmodus würde sich schon gefunden haben, wäre das erst gesichert gewesen, Persönlichkeiten aus dem Wirtschaftsleben hervorgehen zu lassen, welche sich dann zusammenfinden zu einer Art Wirtschaftskonstituante, die eine über ein geschlossenes Wirtschaftsgebiet hin zu bildende

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Körperschaft gewesen wäre und die vor allen Dingen zunächst gearbeitet hätte. Das ist von mir wirklich an jedem Diskussions­abend, an dem über diese Sache gesprochen worden ist - die im Grunde genommen ziemlich weit [gediehen] war, bevor sie verun­möglicht wurde -, es ist von mir an jedem Diskussionsabend [mit den Stuttgarter Arbeiterausschüssen] scharf hervorgehoben wor­den: Das nächste, was zu tun sein wird, das ist, daß der Prole­tarier sich abgewöhnen würde, aus seiner Phrase heraus alles mögliche zu reden und alles mögliche am besten zu wissen. Es ist das immer fort und fort betont worden.

Nun, ich will ein Beispiel anführen - ich habe dieses Beispiel auch gern immer vor Proletariern angeführt: Nachdem über Dreigliederung des sozialen Organismus gesprochen worden ist, stellte sich ein Mann hin zur Diskussion, der vom kommunistischen Standpunkte aus sprach und der erklärte, alles dasjenige, was aus der Dreigliederung des sozialen Organismus heraus gesagt würde, das könne er besser sagen. Und nun brachte er eben seine paar kommunistischen Phrasen vor, und dann sagte er, daß er nur ein Schuhflicker sei. Nun, das brauchte man ihm natürlich nicht übelzunehmen, denn es handelt sich ja wahrhaftig nicht darum, ob ei­ner Schuhflicker ist oder etwas anderes. Er meinte, er könnte ja als Schuhflicker kein Staatsbeamter sein, aber er ließ durchblicken, Minister zum Beispiel könnte er sehr wohl sein. Nun, sehen Sie, vor allen Dingen wurde den Leuten von uns klargemacht, daß es sich darum handeln würde, daß man arbeitet; und wer praktisches Denken hat, der weiß, daß durch die Gemeinschaft, wenn die Din­ge richtig geleitet werden, tatsächlich ein höheres Niveau erreicht werden kann, wenigstens ein höheres als dasjenige, was jeder ein­zelne, auch der Allergenialste der Gemeinschaft, hat; in der Ge­meinschaft kann mehr gearbeitet werden. Dasjenige, was diese Assoziation der Betriebsräte zunächst als Gemeinschaft hätte zu leisten gehabt, das sollte erst erklärt werden.

Was ist also der erste Schritt, der auf diese Assoziation hinarbei­tet? Nicht alle möglichen Detailfragen stellen, solange wir noch nicht einmal den ersten Schritt getan haben, solange wir nicht das

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Leben in ordentlicher Weise uns angeschaut haben und dann aus dieser Anschauung des Lebens heraus eine Vorstellung darüber bekommen haben, wie wir zu Assoziationen kommen können. Das aber, das ist für jeden möglich, an welchem Platze im Leben er auch steht, daß, wenn er wirklich im Leben drinnensteht, wenn das Leben an ihn heranschlägt, er in irgendeiner Weise überschaut, wie er sich mit den ihm Zunächststehenden zu einem Assoziativen zusammenfinden kann - soweit er nicht ein bloßer Rentier ist, der nicht im wirklichen Leben, namentlich nicht im [wirklichen] wirt­schaftlichen Leben drinnensteht. Das ist dasjenige, meine sehr ver­ehrten Anwesenden, was zunächst als erster Schritt im Wirtschaftleben ins Auge gefaßt werden muß: daß man überhaupt zu Asso­ziationen kommen muß - geradeso, wie auf dem geistigen Gebiet es die Hauptsache ist, daß die Leute verstehen, was es überhaupt heißt, selbständig zu werden innerhalb des geistigen Gebietes. Das ist das, was zunächst über diese zwei Gebiete zu sagen ist. Und wenn diese beiden Gebiete nun verstehen, sich auf den Boden zu stellen, der durch ihre eigene Wesenheit als der ihrige anerkannt werden muß, dann bleibt zuletzt das politisch-rechtliche Gebiet übrig. Dann wird sich dieses schon finden, denn es handelt sich zunächst darum, daß diese beiden Flügel ordentlich gebildet wer­den: das Geistesleben und das Wirtschaftsleben. Das andere, das bleibt übrig. Das wird sich erst dann finden, wenn man Ordnung geschaffen hat auf diesen beiden Flügeln. Das ist dasjenige, was über das politisch-rechtliche Leben aus dem Gedanken der Dreigliederung gesagt werden muß.

Nun weiter zu einem Einwand:

Im Vortrag von Herrn Ith ist gesagt worden, daß die Beziehungen zwi­schen dem Warenpreis und den einzelnen Gestehungskosten vom Rechtsgebiet aus geregelt werden sollten.

Nun, wenn das wirklich gesagt worden wäre, würde es selbstver­ständlich eine Entgleisung sein, denn das Rechtsgebiet hat mit dem Warenpreis nichts zu tun. Der Warenpreis kann im wesentlichen ja nur aus demjenigen entstehen, was durch die Assoziationen sich als

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der gegenseitige Wert ergibt nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Urzelle, von dem ja auch hier schon gesprochen worden ist.

Es ist nicht klar zum Ausdruck gekommen, daß diese Beziehungen nicht im Rechtsgebiet, sondern allein im Wirtschaftsgebiet gemacht werden.

Nun, das wesentliche ist dieses, daß sowohl die Verteilung des­jenigen, was erarbeitet wird im Arbeitsprodukte, daß das selbst­verständlich ein Sache des Wirtschaftsgebietes ist, ebenso wie das andere, [die Preise], das ist ja ganz klar.

Eine weitere Frage:

Wird der Warenpreis festgesetzt werden müssen?

Meine sehr verehrten Anwesenden, es kann sich gar nicht darum handeln, den Warenpreis festzusetzen, wenn Sie real denken, und es ist eben die Dreigliederung des sozialen Organismus real zu denken und nicht abstrakt. Wenn Sie real denken, dann werden Sie darauf kommen, daß der Warenpreis etwas ist, was sich gewisser­maßen einfach in einem Territorium dadurch ergibt, daß eine be­stimmte Anzahl von Menschen innerhalb dieses Territoriums ge­wisse Dinge in einem gewissen Quantum brauchen. Und man wird wissen müssen: Nur wenn dieser Preis sich nicht halten kann auf einem bestimmten Niveau, wenn der Preis zu hoch wird und wenn man das bemerkt, dann ist es nötig, daß dann die Assoziationen dafür sorgen, daß dieses Produkt nicht zu wenig erzeugt wird. Es handelt sich ja doch darum, das wirtschaftliche Leben so einzurich­ten, daß ein Preis, der sich aus den Bedürfnissen heraus ergibt, daß der wirklich auf seiner Höhe erhalten werden kann. Das kann nicht durch Festsetzen erhalten werden, denn es ist ja klar: Wenn für irgendeine Ware der Preis zu gering ist, dann wird zu viel von dieser Ware erzeugt. Und es handelt sich dann darum, daß man diese Warenerzeugung dadurch regelt, daß man umlenkt die Ar­beiter, die daran arbeiten, auf ein anderes Gebiet. Wird aber ein zu hoher Preis dafür bezahlt, so ist es umgekehrt.

Es handelt sich nicht darum, daß man Gesetze macht. Die As­soziationen werden nicht Gesetze zu machen haben; die Assoziationen

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werden fortwährend zu arbeiten haben, damit erstens tat­sächlich nicht unnötige Arbeit geleistet wird, indem viel verschleu­dert wird, was ich hier schon charakterisiert habe, und damit zwei­tens tatsächlich jeder an denjenigen Platz hingestellt wird, an dem er am besten arbeiten kann, aber im Interesse der Gesamtheit. Diese Assoziationen werden gerade so zu arbeiten haben, um dem wirtschaftlichen Leben seine entsprechende Konfiguration zu ge­ben. Also es wird sich darum handeln, daß man zunächst an den ersten Schritt denkt, an die Bildung der Assoziationen, und daß dann diese Assoziationen einfach anfangen zu arbeiten; sie können einfach arbeiten, sobald sie nur da sind.

Dann ist da noch eine Frage:

Wird die Verteilung des Gewinnanteils lediglich innerhalb des Betriebes festgesetzt?

Darum kann es sich gar nicht handeln, sondern in einem Wirt­schaftsgebiet wird die Bedürfnisfrage des einzelnen von dem gan­zen Wirtschaftsgebiete abhängen. Und diese Tatsache, auf die hier hingeschaut wird - die Verteilung des Gewinnanteils innerhalb des Betriebes -, wird nämlich gar nicht eigentlich eine reale Tatsache, weil das einfach aus dem Assoziativen heraus gebracht werden muß. Wer dies oder jenes arbeitet, der muß für sein Arbeitsprodukt dies oder jenes bekommen. Es kann sich einfach gar nicht darum handeln, daß man innerhalb des Betriebes den Gewinnanteil festsetzt, sondern schon in dem ganzen Aufbau des Wirtschaftslebens liegt es darinnen, daß man seinen entsprechenden Gewinnanteil bekommen muß.

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, jetzt möchte ich resü­mieren, denn es ist schon 1/2 11 Uhr, wir können nicht bis zur Mitternacht fortreden. Ich würde gern noch manches gesagt haben; man kommt ja natürlich immer etwas zu spät heran an die eigent­lich konkreten Fragen. Ich möchte dahin resümieren, daß ich fol­gendes sage: Sehen Sie, dieser Impuls der Dreigliederung des sozia­len Organismus, er ist in die Welt gebracht worden unter der Voraussetzung, daß sich Menschen finden, die ihn aufnehmen.

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Denn was brauchen wir heute? Wir brauchen heute nicht Spintisie­rereien, wie man dies oder jenes am besten schön einrichtet, zum Beispiel Unterrichtspläne. O, ich bin überzeugt davon: Auch recht wenig begabte Menschen, wenn sie sich niedersetzen und für sich schöne Unterrichtspläne ausarbeiten, die Unterrichtspläne werden sehr schön. Ich meine das gar nicht einmal humoristisch, sondern ganz im Ernst. Es handelt sich darum, daß man auch das Verständ­nis hat für die Realität, damit man weiß, was man mit der Realität machen kann.

Nun können Sie natürlich allerdings sagen: Ihr habt ja den Kulturrat in Angriff genommen, Ihr habt die Betriebsräteschaft in Angriff genommen, es ist nichts geworden. - Aber die Dinge sind gerade daran gescheitert, daß die Leute ins Spintisieren hineinka­men und gefragt haben: Ja, was wird nun im dreigliedrigen sozialen Organismus aus meiner Nähmaschine? - Meine sehr verehrten Anwesenden, das ist nur eine Detailfrage, eine solche Detailfrage, die nun wirklich vorgekommen ist; ich könnte Ihnen Tausende von solchen aufzählen. Man müßte sich klar sein darüber, daß man zunächst das, was in der Dreigliederung des sozialen Organismus liegt, ungefähr so einzusehen hätte, wie man in der Mathematik den pythagoräischen Lehrsatz einzusehen hat. Glauben Sie denn, daß jemand den pythagoräischen Lehrsatz dadurch einsieht, daß er nun an alle rechtwinkligen Dreiecke herangeht und probiert, ob der Lehrsatz stimmt? Nein, er weiß: Hat er ihn einmal eingesehen, handelt es sich nur darum, ihn im einzelnen Fall in der Praxis in der richtigen Weise anzuwenden. Und so handelt es sich auch darum, daß die Dinge der «Kernpunkte der Sozialen Frage» in sich selber zu durchschauen sind. Man muß wissen, sie lassen sich in der Wirklichkeit anwenden, wenn man nur dazu sich aneignet die praktische Hand und die praktische Gesinnung. Darauf kommt es an. Daß die Dinge nicht durchgeführt wurden, daran war etwas schuld, worüber ich nun nicht diskutieren will, meine sehr verehr­ten Anwesenden. Aber ich scheue mich nicht zu sagen, was ich versucht habe zu tun, und auch bei einem anderen Schritt wird es so sein: Man muß eben solange versuchen, bis die Sache verstanden

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wird. Man wird eben alles versuchen müssen - ich weiß, daß die Sache noch Mißverständnissen und Ungeklärtheiten ausge­setzt ist -, man wird eben alles versuchen müssen, solange diese Sache nicht verstanden wird. Und sie ist nicht verstanden worden bis jetzt.

Als ich sah, daß mit den erlauchten Vertretern des Geisteslebens nichts anzufangen war, daß nichts anzufangen war mit dem Prole­tariat, das sich hinwendet zu einem Autoritätsglauben, der viel schlimmer ist, als jemals der Autoritätsglaube in der katholischen Kirche war, als man sah, daß mit den Vertretern des Geisteslebens und mit dem Proletariat nichts anzufangen war, da handelte es sich darum, nicht darüber zu diskutieren, sondern etwas Reales zu machen. Und da meinte ich, man solle wenigstens sehen, ob in dem weiten Umkreise der mitteleuropäischen Gebiete, die ja wahrhaftig unter Elend und Not genug leiden, fünfzig Menschen zu finden seien, die man einfach zusammenrufen könnte in Stuttgart und denen beigebracht werden könnten reale Unterlagen für ein Wir­ken im öffentlichen Leben. Denn heute reden die meisten im öf­fentlichen Leben ohne Unterlagen, ohne irgend etwas zu wissen von dem, was vorgegangen ist und jetzt noch vorgeht, sonst hätte es niemals eine solche Nationalversammlung geben können, wie eben diejenige, die in Weimar zusammengetreten ist; sie reden heraus aus irgendwelchen Emotionen, die sie sich bilden aus den nicht einmal allerneuesten Erfahrungen, die Ausdruck sind alter geschichtlicher und alter politischer Anschauungen. Das ist ja das wesentliche unserer gegenwärtigen Parteien, daß das, was vertreten wird innerhalb einer gegenwärtigen Partei, gar keine Sachlichkeit hat, nur noch Schatten ist von dem, was einmal war. Da hat es sich darum gehandelt, diese fünfzig Leute herauszufinden, damit man zunächst in dieser Weise eine wirkliche öffentlichen Tätigkeit hätte entfalten können. Sie haben sich nicht gefunden, meine sehr verehr­ten Anwesenden, diese fünfzig Leute haben sich nicht gefunden!

Dasjenige, um was es sich heute handelt, ist nicht, daß wir in abstrakter Weise herumdiskutieren über Wahlgesetze und darüber, ob eine Assoziation verglichen werden kann mit einer Korporation

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und so weiter, sondern dasjenige, um was es sich heute handelt, ist, daß wir möglichst viele Menschen bekommen mit Initiative, denn heute handelt es sich nicht darum, wie wir wählen, sondern daß die richtigen Leute an die richtigen Plätze kommen. Und auch heute werden diejenigen, welche innerlich erfüllt sind mit Verständnis, erfüllt sind mit Einsicht, erfüllt sind von dem praktischen Sinn der Dreigliederung des sozialen Organismus, die werden, wenn sie nur in genügender Anzahl vorhanden sind, - mit einer kleinen Anzahl kann man nichts machen -, diese Menschen mit Initiative, sie wer­den wirken. Sie werden an die richtigen Stellen gewählt werden, gleichviel nach welchen Wahigesetzen, und es wird dasjenige ent­stehen, was entstehen soll. Daher handelt es sich in erster Linie darum, daß wir eine genügende Anzahl von Menschen mit Einsicht in die Notwendigkeiten der Zeit und mit der nötigen Initiative haben. Konnte man denjenigen, die die Welt in den Unrat hineingeführt haben, folgen, weil sie wenigstens noch eine angelernte Initiative entwickelt haben, so wird man sicher auch denjenigen Folgen, die eine gesunde Initiative entwickeln. Darum brauchen wir heute Menschen mit Initiative und Einsicht. Und wenn es uns ge­lingt, Menschen mit Initiative und Einsicht zu gewinnen, dann -dann marschiert die Dreigliederung, früher nicht. Aber geraden Weges und ohne Maske und ohne Verbrämung muß nach diesem Ziele hin gearbeitet werden.

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DRITTER SEMINARABEND, Dornach, 11. Oktober 1920 anläßlich des ersten anthroposophischen Hochschulkurses. Fragen zur wirtschaftlichen Praxis III

Roman Boos wünscht eine Aussprache darüber, wie man - nach Auffassung der im Wirtschaftsleben Stehenden - in wirtschaftlicher Hinsicht dahin kommen könne, daß das, was man hier während des Hochschulkurses gearbeitet hat, seine fruchtbaren Folgen habe.

Carl Unger: Ich möchte anregen, daß Träger wirtschaftlicher Erfahrun­gen, Fähigkeiten und Kenntnisse den Versuch machen, von den verschiede­nen Mittelpunkten Fühihörner auszustrecken, damit die Erfahrungen hin­ausdringen können, dahin, wo eine Möglichkeit besteht, zu realen Bezie­hungen wirtschaftlicher Art zu gelangen. Es wurde bereits ja auch eine Liste aufgelegt beim «Futurum», wo die Wirtschafter sich eintragen sollten, damit Wirtschaftliches sich real ergeben könne.

Ich möchte gewisse typische Erscheinungen aus dem Wirtschaftsleben selbst anführen und dabei einen kleinen Betrieb der Maschinenbranche als Beispiel nehmen. Das Unternehmen wurde 1906 von mir gegründet, um gewisse Teile von Maschinen herzustellen, nach denen damals gerade gro­ßer Bedarf war. Nach der Eröffnung kam es 1907 zur großen Krise, wo der Absatz stockend war. Dann mußten große Kapitalien hineingesteckt wer­den, um die technischen Grundlagen zu schaffen, damit der Bedarf gedeckt werden konnte. 1914 war zunächst ein Höhepunkt; bei Ausbruch des Krie­ges stockte alles völlig; durch den Krieg selbst trat dann eine Art stürmi­scher Nachfrage ein; es stellten sich Rohstoffschwierigkeiten ein, Räum­lichkeiten mußten geschaffen werden. Und so trat Großkapital ein, ins­besondere große Bankkapital-Verzinsungen mußten geschafft werden. Mit Ende des Krieges setzte ein scheinbar günstiger Wirtschaftsverkehr ein; es herrschte eine unnormal hohe Konjunktur. Es war notwendig, neue Wege mit der Arbeiterschaft zu suchen, neue Gesichtspunkte hereinzuwerfen; die Dreigliederung hat sich dabei praktisch bewährt. Ich kann das alles nur andeuten. Es bestand ein großer Kapitalbedarf. Die Teuerung setzte ein, ohne daß eine Gegensteuerung auf der anderen Seite möglich war. In dieser

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Situation zeigte sich, daß der Industriebetrieb ein Kapitalfresser war, und man mußte sich fragen: Ist ein solcher Betrieb lebensfähig im Sinne eines sich künftig selbst gestaltenden Wirtschaftslebens oder nicht? Man stand vor verschiedenen Alternativen: Entweder mußte man, um anstelle des uberflutenden Kapitalbedarfs, der von anderer Seite gedeckt werden mußte, etwas zu stellen haben für die Wirtschaft, was für die Zukunft Hoffnungen ergibt, Anschluß suchen an irgendwelche benachbarten Betriebe. Oder man mußte, um nicht vom Kapitalismus erdrückt zu werden, an Betriebsge­meinschaften verkaufen. Oder drittens war die Möglichkeit zu erwägen, den Betrieb aus der ganzen Wirtschaft herauszureißen und niederzureißen und den Pflug über den Grund und Boden gehen zu lassen. Dies war aber wegen der darin arbeitenden Menschen nicht angängig.

Aus dieser Situation heraus entwickelte sich die Notwendigkeit eines assoziativen Betriebes; die reale Anknüpfung an eine Assoziation erwies sich als unbedingt notwendig, so daß der Betrieb nun dem Kommenden Tag angeschlossen ist. Selbstverständlich handelt es sich nur um einen er­sten Anfang dessen, was sich aus dem Kommenden Tag herausgestalten soll. Aber es besteht wenigstens die Möglichkeit, in volkswirtschaftlich gesunder Weise einen solchen Betrieb in Gang zu halten und durch den Zusammenschluß mit dem Kommenden Tag und die Bildung eines Zen­trums die Möglichkeit zu haben, die bevorstehenden Krisen zu überstehen. So können die Erfahrungen der einzelnen mit den Betriebsresultaten und so weiter ausgetauscht werden, was dann gewiß auch dahin führen wird, daß sich zwischen den Menschen, die von verschiedenen Seiten her zu­sammmenkommen, reale wirtschaftliche Beziehungen ergeben können. Dies ein Beispiel aus dem wirklichen Wirtschaftsleben, wie es sich heute darstellt.

Roman Boos erteilt das Wort an den Bankier Adolf Koch.

Adolf Koch: Verehrte Damen und Herren! Über das Wie und die Mög­lichkeit der Assoziationen sich zu verbreiten, ist nicht mehr notwendig nach den eindrucksvollen Ausführungen Dr. Steiners gestern. Die Frage ist erstens: Was können wir heute in eine solche Assoziationswirtschaft hin­einstellen? Zum Beispiel die Kunstblumen-Industrie? Die ist ja auch ge­zwungen, Kapital aufzunehmen und so weiter. Für uns ist es nun einmal notwendig zu erkennen, welche Bedürfnisse im deutschen Volke überhaupt zu befriedigen sind. Wenn wir im Praktischen ganz hineingreifen ins Leben

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und sehen, daß wir auf der einen Seite verfaultes Brot essen müssen und daß auf der anderen Seite die Luxusindustrie auflebt und dafür ungeheure Rohmaterialien gegeben werden, dann müssen wir, die wir aufbauen wol­len, überall fragen: Was nehmen wir denn zunächst in unsere Assoziations­wirtschaft hinein? Wenn der Kommende Tag in der Lage ist, auch landwirtschaftliche Betriebe in sich hineinzunehmen, so ist das durchaus wün­schenswert; aber wir müssen überall sehen, daß wir auch Maschinen- oder andere Industrie hineinnehmen können. Das ist zunächst die Unterlage, auf der die ganze Menschheit aufbauen kann. Wir sind heute in Deutschland auf uns selbst angewiesen, und wir müssen aus uns heraus wieder hoch­kommen; Ernährung, Kleidung, Kohlen und so weiter sind nötig. Zwei­tens: Der Kommende Tag als solcher. Ich spreche hier als Bankfachmann und, wie gesagt, ohne irgendwelche wirkliche Beziehung zum Kommenden Tag zu haben; ich spreche hier in der Tat ganz objektiv aus meinen Erfah­rungen heraus. Wenn wir uns befreien wollen von dem korrupten Staats­wesen in Deutschland, dann ist ein Unternehmen wie der Kommende Tag, so wie es gedacht ist, das Gegebene, um uns zu befreien von all dem faulen Zeug, das jetzt in Deutschland die Oberhand hat. Jeder, der mit Kapital zu tun hat, muß aus dem Alten heraus und in die Dreigliederung hinein.

Das deutsche Papiergeld ist letzten Endes nichts weiter als ein Anspruch an den großen korrupten Staat selbst. Wenn wir uns daraus herausziehen, befreien wir uns von diesem Papiergeld, welches alle anödet wegen seiner Schmutzigkeit, nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich. Die Berliner Großbanken haben ungefähr 40 Milliarden fremde Gelder, Spargelder; sie sitzen wie eine große Spinne da und saugen heraus, was an freiem Geld vorhanden ist. Von diesen 40 Milliarden sind ungefähr 60% in Staatsschatzanweisungen angelegt, wozu Gemeinden und Städte weitere 15% abgeben, so daß jeder Mensch theoretisch mit 750 Mark mit dem Staat verheiratet ist. Wie kommen wir da heraus? - Man gibt es in den Kommenden Tag, unter der Voraussetzung, daß es der Kommende Tag in produktive Unternehmen stecke. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß die Menschen im Falle des Gesamtzusammenbruchs sich sagen können: dann habe ich den Anschluß an produktive Unternehmen. Da hilft also der Egoismus des Kapitalismus; mit dem Kapitalismus hat man auch ein Mittel in der Hand, womit man die Leute erziehen kann. Er ist durchaus nicht verwerflich, wie die Situation heute steht. Ich spreche als Bankfachmann. Ich habe weder zu der einen noch der anderen Sache irgendwelche Beziehungen der Art, daß ich zugun­sten des einen oder des anderen spreche. Wenn man in den Kommenden

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Tag Menschen hineinsetzt, die tatsächlich das wollen, was förderlich ist, so ist hier die Keimzelle gegeben für den Wiederaufbau, die Urzelle für den Wiederaufbau. Ich spreche als Praktiker zu Leuten, von denen ich anneh­me, daß sie über Bankpraxis etwas hören wollen.

Die Herren, mit denen ich einmal im Januar dieses Jahres in Stuttgart zusammensaß und mit denen ich verhandelt habe, bitte ich, am Schluß noch zu bleiben. Ich habe ein paar persönliche Bemerkungen zu machen.

Rudolf Steiner: Nicht wahr, Sie haben jetzt in einer ganz an­schaulichen und fachgemäßen Weise dasjenige gehört, was über ein gewisses Problem vom Standpunkt des wirtschaftlichen Den­kens aus gesagt werden kann. Und dazu möchte ich auch noch etwas beitragen.

Wir müssen heute - das lehrt die Zeit - jedes wirtschaftliche Problem von zwei Seiten anfassen. Die eine Seite ist die, die ja hier sehr sachgemäß dargelegt worden ist, die andere Seite ist die sozia­le. Und auch solche Unternehmungen wie der Kommende Tag oder das Futurum - wenn sie sonst auch geschickt und sachgemäß geführt werden - hängen davon ab, daß sie auch von der sozialen Seite her dann gestützt werden, wenn sich der Zustand immer mehr und mehr vorbereitet, unter dem wir eben nicht mehr werden ar­beiten können. Denn, nicht wahr, wir können natürlich noch soviel Geld unterbringen in produktiven Unternehmungen - wenn nicht mehr gearbeitet werden kann, dann kommen auch wir nicht über die wirtschaftliche Krisis hinaus. Dasjenige, was man nach der einen Seite tun kann, muß auch nach der anderen Seite unterstützt werden durch eine soziale Aktion. Die muß mindestens parallelge­hen. Sie brauchen ja nur anzudeuten, was heute etwa geschehen könnte. Nehmen wir an, ein Fabrikunternehmer sei noch so men­schenfreundlich, tue noch so viel für seine Arbeiterschaft: wenn es sich um einen Generalstreik handelt, so streiken die Arbeiter eben - oder nicht?

Zuruf. Ja!

Und solange wir über diese Frage nicht hinauskommen, solange ist es nicht möglich, Aussicht zu haben für eine wirkliche Gesundung

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des Wirtschaftslebens. Hier muß die soziale Frage unbedingt hereingebracht werden.

Nun, das ist ja gerade der Fehler, den man immer begangen hat; man hat wirtschaftlich so gedacht, daß man eigentlich nur inner­halb der Produktion gedacht hat und nicht bis zum eigentlichen Handarbeiter. Der Handarbeiter bekommt ja in unserer jetzigen Wirtschaftsordnung in Wirklichkeit Abzüge vom Kapital ausbe­zahlt, nicht Lohn - Sie sollen sich das nur durchdenken, es ist wahr. Das ist der wirkliche Tatbestand, aber es ist etwas, womit man nicht weiterkommt. Und daher ist es notwendig, daß das assoziative Prinzip tatkräftig, in sachlicher Weise sofort in Angriff genommen wird, nachdem wir die Erfahrungen gemacht haben, die wir seit dem April des vorigen Jahres haben machen können. Es ist notwendig, daß endlich einmal jener alte Irrtum verlassen werde, daß es auf der einen Seite die Unternehmerschaft im großen gibt, die höchstens im patriarchalischen Sinne etwas tut, und daß es auf der anderen Seite die Arbeiterschaft gibt, stramm in Gewerkschaf­ten organisiert, so daß der einzelne Arbeiter unter einer furcht­baren Bedrängnis steht. Diese Kluft muß erst einmal überbrückt werden, und das kann nicht anders geschehen, als wenn Sie reale Assoziationen vorbereiten. Reale Assoziationen, die bestehen eben in einem Assozueren der Leute von der einen Seite - von der Unternehmerseite her, der Leiterseite, der Seite der geistigen Ar­beiter - und auf der anderen Seite der Leute aus der Arbeiterschaft. Da wird sich ja zunächst eine wirtschaftliche, eine wirklich soziale wirtschaftliche Assoziation, die den Charakter [eines Zusammenar­beitens von] Konsumenten und Produzenten untereinander schon von sich selbst aus in sich tragen muß, nicht bilden lassen. Nun, die Assoziationen müssen dieses Ziel haben, und dieses Ziel muß stramm agitatorisch verfolgt werden. Wir kommen sonst nicht weiter. Und dieses Ziel muß darin bestehen, [zunächst] die Ge­werkschaften und die heute einseitigen Proletarier- und Arbeiterverbände zur Auflösung zu bringen, um aus dem hervorgehen zu lassen zwischen der einen und der anderen Seite die Assoziationen, damit bei der wirtschaftlichen Krisis wir Unternehmungen haben,

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in denen wir uns Arbeiter erhalten können. Sie mögen sagen: Das ist nicht möglich, wenn nicht überhaupt das wirtschaftliche Leben zusammenbrechen soll. - Es muß aber versucht werden. Ohne daß wir uns das Ziel einer Sprengung der Gewerkschaften stellen und im Auge behalten, kommen wir im Wirtschaftsleben nicht weiter. Und es müssen Organisationen gegründet werden. Und über die­sen praktischen Weg könnte gesprochen werden viel nützlicher, als wenn utopistische Pläne aufgestellt werden über die Art und Wei­se, wie im Zukunftsstaat die Assoziationen gebildet werden könn­ten. Es handelt sich immer darum, die nächste Aufgabe zu ergrei­fen. Die nächste Aufgabe ist die Auflösung, die Sprengung des gesamten gewerkschaftlichen Lebens.

Oskar Schmiedel: Es ist sehr schwer, nach Herrn Dr. Steiner zu sprechen, und zwar, weil er die besten Gedanken schon ausgesprochen hat.

Es ist ganz richtig, wir kommen nicht vorwärts, wenn nicht die gewerk­schaftlichen Organisationen gesprengt werden. Aber wie bringt man das zuwege? Darum dreht es sich. Der Kommende Tag soll der Schwamm sein, die 40 Milliarden Spargelder aufzusaugen. Ich bin überzeugt von der Vor-trefflichkeit des Gedankens von Herrn Koch, unsere Bestrebungen kapita­listisch zu unterstützen, zu befestigen. Es ist aber der Kommende Tag [für Außenstehende] heute nichts anderes als auch wieder gewissermaßen ein Kapitalist, ein Kapitalist, der das Kapital braucht und den Profit braucht, um seine Bestrebungen zu fördern. Da kann man mir nichts vormachen. Ich habe mit Leuten schon darüber gesprochen, die fernstehen den Bestre­bungen hier, sie sagen: der Zweck heiligt das Mittel.

Gewiß will der Kommende Tag Profite erzielen, aber er will den Profit zu etwas ganz anderem verwenden, als ihn Kapitalisten verwenden, er will ihn für das Wohl der Allgemeinheit verwenden. Ich habe, schon bevor ich das Buch Dr. Steiners über die Dreigliederung des sozialen Organismus gekannt habe, mir die Frage vorgelegt: Wie kommen wir aus diesem Schau­derhaften des Sozialistischen und des Kapitalismus heraus? - Nachdem ich das Buch gelesen hatte, atmete ich auf, und ich habe mich gefragt: Wie wirkt dies auf die anderen? - Daß der Stoff, um ihn anderen weiterzugeben, ungemein spröde ist, das ist gewiß. Und es kann gar nicht anders sein. Man steht vor der Frage: Wie bringt man es den anderen klar bei? - Ich habe bis heute wenig Eroberungen damit machen können, und deswegen muß ich

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die Bitte an die hier Versammelten richten, die wahrscheinlich die Ideen viel länger kennen und verbreiten als ich, ihre Gedanken mitzuteilen. Daß neue Leute gewonnen werden für die Idee der Dreigliederung, immer neue Leute gewonnen werden, das halte ich für das Allerwichtigste.

Zuruf: Ganz richtig!

Sie treten den Arbeitern gegenüber wie vor eine geschlossene Mauer. Wenn die einzelnen auch zugänglich und vernünftig sind, so stoßen Sie sofort auf fertigen Widerstand, wenn Sie die Ideen hineinbringen wollen in eine Fabrik, Sie stoßen auf eine geschlossene Mauer der Vertrauensmänner und der Arbeiterführer selbst. Für den Leiter der Industrie, wenn er ver­antwortlich sein soll, ist dies umso schwieriger, wenn er nicht selber der Besitzer ist. Früher hat man die Leute unterstützt mit Lebensmitteln, mit Kleidern; das ist heute nicht mehr der Fall. Die Arbeiterführer, die meistens einen sehr beschränkten Horizont haben, wollen nur die Führung in der Hand haben. Der Arbeiter ist ein Egoist; er fragt sich: Was habe ich ma­teriell von der Sache? - In der Dreigliederung ist für die Gegenwart nichts geboten, höchstens nur für die Zukunft. Es heißt dann oft aus Egoismus:

Von meinen Rechten, die mein Vater und ich mir erworben haben, von denen will ich natürlich freiwillig nichts preisgeben.

Der Stoff ist, wie gesagt, ungemein spröde. In Württemberg haben Sie zweifellos eine viel aufgeklärtere Lage als in Oberösterreich; das sind halbe Bauern und halbe Industriearbeiter - für geistige Anfeuerung nicht zu haben. Aber es muß einen Weg geben. Und das ist es, was mich interessiert. Die ganze Frage der Dreigliederung des sozialen Organismus ist eigentlich auch eine Machtfrage; Gewalt gehört dazu, um selbst den besten Gedanken der Menschheit beizubringen; auch zum Guten, zum Besten muß man sie zwingen. Wenn ich einige Regimenter Kavallerie hätte, wäre es vielleicht möglich, oder Geld, sehr viel Geld gehört dazu. In der Presse kommt fast gar nichts darüber. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es ist die Frage, wie das praktisch anzufassen ist, um doch durch die Stärke des Gedankens weiterzukommen.

Wilhelm von Blume: Ich bin kein Wirtschafter und würde ja vielleicht heute überhaupt nicht hier sprechen, wenn nicht gerade durch die Worte des letzten Herrn Redners ich dazu veranlaßt würde. Eines möchte ich gleich erklären: Ich glaube doch, daß die Frage der Dreigliederung letztlich

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keine Machtfrage, sondern eine Vertrauensfrage ist, und es wird vor allem darauf ankommen, das Vertrauen derer zu gewinnen, die es angeht.

Nun habe ich meinerseits auf Vortragsreisen versucht, auch ganz per­sonlich zu wirken bei Unternehmern und auch bei solchen, die etwas be­deuten heute; insbesondere auch im Rheinland und in Westfalen und habe so einiges erfahren. Von einem ganz bestimmten Gesichtswinkel aus geht ein Gedanke den Herren sehr schnell ein, das ist der Gedanke der Selbst­verwaltung der Wirtschaft. Man gewinnt sofort Fühlung. Allerdings wird weiter kapitalistisch gedacht; sie denken, daß sie ihre Macht benützen kön­nen, um diesen Staat, der ihnen ja auf allen Wegen nur lästig ist, beiseite­zuschieben und sich ihren eigenen Wirtschaftsstaat zu schaffen, an dessen Spitze dann schließlich Hugo Stinnes steht. Immerhin, wenn reinliche Scheidung von Staat und Wirtschaft gefordert wird, lassen sie noch gelten, die Sache mit dem nötigen Geiste zu füllen. Aber die soziale Seite der ganzen Sache, die Herr Dr. Steiner so stark betont hat, sehen sie auch ganz genau, sie haben sich aber folgendes zurechtgelegt: Sie wollen die «Arbeits­gemeinschaft» weiter ausbauen - dieses Stichwort wird benutzt -, sie wol­len eine Volkswirtschaftsgemeinschaft zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern. Und die Arbeiter gehen hie und da darauf ein. Ich brauche nur zu erinnern an die Kohleindustrie, die die Arbeiter im Grunde genommen selbst ganz kapitalistisch sich denken - die Arbeiter denken vielfach kapi­talistischer als die Kapitalisten -; sie sehen den Profit, den sie dabei haben, sehr gut. Und die ganze Wirtschaft kommt aber dabei doch weiter in den Abgrund hinein. Nur diejenigen Wirtschaftszweige wie zum Beispiel die Kohleindustrie kommen in die Höhe, wie auf der anderen Seite auch das ganze Bankwesen, weil eben fortwährend Kredit für den Betrieb der Un­ternehmen gefordert wird. Die andern Wirtschaftszweige gehen allmählich zugrunde. Hier muß man einsetzen, man muß den Arbeitern klarmachen, daß sie nicht bloß Produzenten sind, sondern auch Konsumenten, daß Arbeitsgemeinschaften hergestellt werden in der Art, wie gestern Herr Dr. Steiner geschildert hat. Große Gefahr ist zunächst einmal vorhanden darin, daß man lediglich die Leute darauf hinweist: Unternehmer und Arbeiter sollen sich miteinander einigen. Man muß unter allen Umständen Produ­zenten- und Konsumentenpolitik treiben und die Produktion vom Konsum aus betreiben.

Auf diesem Wege lassen sich die richtigen Gedanken hineinbringen in die Arbeiterschaft. Die Gewerkschaften sind heute in der Tat ein schweres Hindernis, weil von altem Geiste erfüllt. Aber dieses üble Betriebsrätegesetz

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wird die Gewerkschaften ruinieren. An diesem Gesetz, das ja gar nicht so gemeint ist, das ganz anders gemeint ist, werden in gar nicht ferner Zeit mehr und mehr die Gewerkschaften vollständig zugrundegehen,

Zwischenruf Sehr richtig!

so daß wir vielleicht nach dieser Richtung gar nicht viel nachzuhelfen brau­chen, so daß wir bloß das Positive, das Aufbauende zu weisen brauchen. Vielleicht kann man hoffen, daß es auch in den anderen Fragen so gehen wird. Man muß auf die Gefahren achten und unter keinen Umständen dulden, daß in der falschen Richtung die Sache bis ans Ende getrieben wird.

Hans Schwedes: Über die Gewerkschaften kann ich Ihnen einiges sagen. Ich bin als Lehrer hingeführt worden, um gerade dort über die Dreiglie­derung, über den Gedanken der Assoziationen Aufklärung zu geben. Die Gewerkschaftsführer, in Verbindung mit den Parteiführern, wehren sich mit Händen und Füßen gegen neue Gedanken, und die Gewerkschaftsfüh­rer fürchten, daß durch neue Gedanken ihre Gewerkschaftsstellen und -posten verlorengehen. Die Arbeiter selbst, die im allgemeinen wenig über diese Dinge nachdenken, lassen sich vollständig willenlos führen. Wenn von uns in der richtigen Weise aufgeklärt und organisiert wird, wäre es schon möglich, die Arbeiterschaft anzufassen. Wir müssen in kürzester Zeit zu einer solchen assoziativen Wirtschaft kommen, weil die Verhält­nisse dazu drängen. Wir können unter keinen Umständen noch einige Jah­re warten, bis irgendein Ereignis uns dazu verhelfen könnte. Mit einer solchen Aktion müßte im innersten verbunden sein die soziale Aktion, eine großzügige soziale Aktion, die in die öffentliche Meinung hinein den Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus bringt. Auch die Konsumentenkreise werden immer unruhiger und verlangen immer mehr und mehr irgendwie ein Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung der Ver­hältnisse, insbesondere bei der Preisgestaltung. Gerade um diese Stim­mung aufzufangen und um in diesen Boden etwas hineinzubringen, was uns helfen kann, eine solche assoziative Wirtschaft zustandezubringen, müßte eine großzügige Aktion für die Dreigliederung des sozialen Orga­nismus einsetzen.

Wir haben von Dr. Steiner gehört, es muß eine Brücke geschaffen wer­den zwischen der Arbeiterschaft auf der einen Seite und den Unternehmern auf der anderen Seite. Wie wäre es, wenn wir, ja vielleicht Sie hier, ich meine

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diejenigen von Ihnen, die als Unternehmer da sind, die Praktiker sind im Wirtschaftsleben, wenn die hier eine Vereinigung gründen würden, die sich das Ziel setzt, Assoziationen herbeizuführen, das heißt alles mögliche zu tun, was zu einer solchen Gestaltung von Assoziationen führen kann. Viel­leicht könnte jemand von Ihnen auch nach Darmstadt kommen, jemand, der genau Bescheid weiß, und dort einen Vortrag halten vor geladenen Unter­nehmern und dort den Assoziationsgedanken genau besprechen. Es werden sicher einige hier sein, die auf diesen Gedanken eingehen und mit diesen Unternehmern zusammen beraten, wie man mit den Arbeitern Aufklä­rungsarbeit treiben kann. Wenn die Unternehmer sich annehmen würden der verschiedenen Bildungsbestrebungen, die von den Arbeitern gewünscht werden, zum Beispiel von Hochschulbestrebungen, wenn da der Unterneh­mer mitarbeiten würde, so daß zum Beispiel Vorträge veranstaltet werden könnten - natürlich müßte in diesen gerade das behandelt werden, was auf die Assoziationen hingeht -, dann kann aus dem gegenseitigen Vertrauen heraus eine Möglichkeit zu Taten gefunden werden, dann wäre es auch möglich, in der Öffentlichkeit Stimmung zu machen.

Also um einen praktischen Anknüpfungspunkt zu finden, mache ich den Vorschlag, eine freie Vereinigung von Unternehmern zu gründen, die darauf ausgeht, den Assoziationsgedanken als solchen in jeder Weise zu fördern, und zwar durch Veranstaltungen in Darmstadt, um einen Boden zu gewinnen, auf dem angeschlossen werden kann.

Roman Boos: Mir scheint, bei der Propagierung des Assoziationsgedan­kens ist eine andere Einstellung nötig. Bei Assoziationen kommt es nur darauf an, daß man sie irgendwie praktisch begründet, und nicht darauf, daß man den Gedanken als solchen propagiert. Und rein zur Propagierung einen spezifischen Arbeitgeberverein zu gründen, wäre auch nicht das Rich­tige; es haben Futurum und Kommender Tag praktisch mitzuwirken, so daß eben diese verschiedensten Organisationen zusammenarbeiten, daß das, was in der Waldorfschule und vom Bund für Hochschularbeit erarbeitet wird und was vom Dreigliederungsbund aus vertreten wird, mit der stärksten Intensität vertreten wird, aber von allen diesen Gruppen gemeinsam. Nicht daß die Dreigliederung als solche womöglich noch kompromittiert wird, wenn sie sich bloß als eine Angelegenheit der Arbeitgeberkreise gibt!

Es hat sich wiederholt gezeigt, daß durch Berührung mit den Angehö­rigen dieser verschiedenen Kreise Arbeiter herausgerissen worden sind aus der Gedankenwelt ihrer Gewerkschaften und Parteien. Zum Beispiel wurde

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bei der Basler Jugendorganisation hier eine Veranstaltung durchgeführt, wo auseinandergesetzt wurde, wie diese Art des Denkens eine andere Art der Gedankenformung erfordert. In ähnlicher Weise fand einige Wochen später mit Angehörigen der evangelischen Arbeitervereinigung ebenfalls eine Zu­sammenkunft statt. In beiden Fällen zeigte sich in der Art, wie die Leute nachher in den Zeitungen schrieben, daß sie herausgerissen waren aus ihren gewohnten Gedankenkreisen.

Und nun die Frage Direktor Schmiedels: Wie bekommt man eigentlich den Dreigliederungsgedanken in die Köpfe der Menschen hinein? - Einem Arbeiter imponiert es ungeheuer, wenn ihm gesagt wird: Aus diesen Ge­danken heraus kommen naturwissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnis­se für das Medizinische -, denn in diesen Dingen lebt er ja drinnen, wenn auch in populärer Weise. Das macht ihm außerordentlich starken Eindruck. Und gerade, weil er alles auf die wissenschaftliche Kante legt, wenn auch nur dem Wort nach, muß man versuchen, auf breiter Front vorwärtszu-kommen, möglichst auf der breitesten Front zu arbeiten.

Emil Leinhas: Herr Professor von Blume hat bereits auf die Kraft hinge­wiesen, von der er sagt, daß sie «stets das Böse will und stets das Gute schafft». Ich glaube, man kann nicht verkennen, daß diese Kraft in außer­ordentlich starker Weise tätig ist. Ich glaube nicht, daß es genügt, nur ein klein wenig nachzuhelfen, sondern so, wie heute die Dinge liegen, wird es der allerintensivsten Arbeit und Wirksamkeit bedürfen, daß das Gute her­auskommen wird und nicht das Böse. Wir haben dazu die Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus, und wenn wir richtig darinnen-stehen, können wir diese Gedanken auch weitervermitteln. Und da muß ich zur Bemerkung von Herrn Schmiedel, der Stoff sei «spröde», den wir da vor uns haben, sagen: Ich bin gerade der gegenteiligen Meinung; wir selbst sind zunächst spröde, indem wir nicht richtig in der Sache darinnenstehen. Das ist die tatsächliche Sprödigkeit, und nicht die «Kernpunkte» und nicht die Dreigliederung des sozialen Organismus sind spröde. Ich habe mich in den letzten Wochen mit recht spröden Stoffen zu beschäftigen gehabt, mit der Geschichte des Kapitalismus. Ich habe mich dann spät abends noch hingesetzt und ein paar Seiten in den «Kernpunkten» gelesen. Da strömte von allen Seiten auf einmal frische Luft; man merkt, daß man im wirklichen Leben drinnensteckt. Seien Sie unbesorgt: der Stoff, der uns vorliegt in den «Kernpunkten». der ist nicht spröde. sondern die Sprödigkeit liegt ganz woanders.

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Nur darf man etwas nicht vergessen: Es müßten sehr viel mehr Men­schen da sein, dann könnte die Sache schon vorwärtsgehen. Es sind ja schon von Herrn Dr. Unger und Herrn Dr. Koch einige Andeutungen gegeben worden: Diese Aufforderung an die Adresse derjenigen, die ihren Betrieb anschließen wollen, weil er allein nicht mehr existieren kann, ist sicher im allgemeinen Interesse notwendig. Notwendig ist auch die Auffor­derung an diejenigen, die Kapital haben, es nicht den Banken zu geben, wo es nur dem Untergange dient. Es ist notwendig, nicht nur in einseitig wirt­schaftlicher Weise an das anzuknüpfen, sondern in umfassender Weise wirtschaftlich und sozial aufklärend zu wirken. Da ist noch sehr wenig getan worden, und da außerordentlich viel für die nächste Zeit zu tun ist, müssen wir, soweit wir im Wirtschaftsleben drinnenstehen, mit konkreten Tatsachen anfangen und aufklärend vor die Menschheit hintreten. Man müßte Antworten geben können auf solche Punkte wie zum Beispiel der Zusammenhang zwischen der Überproduktion und dem Unternehmertum oder die Urzelle des Wirtschaftslebens oder wieviel gesellschaftliche Arbeit eigentlich überhaupt notwendig wäre, wenn die Arbeit in richtiger Weise verteilt wäre, oder die ganze Preisgestaltung - das sind Punkte neben vielen anderen, auf die bisher noch keine Antworten gegeben wurden.

Ich möchte eine konkrete Aufforderung an die Anwesenden richten. Ich möchte diejenigen bitten, die glauben in der Lage zu sein, auf diesem Bo­den mitarbeiten zu können, daß sie durch Vorträge und dergleichen helfen, vor allem aber auch, daß sie etwas schreiben über die konkreten Dinge des Wirtschaftslebens, die aber nicht nur einseitig das Wirtschaftliche, sondern auch das Soziale berücksichtigen müßten. Ich möchte die Aufforderung an Sie richten, sich bei mir zu melden für volkswirtschaftliche oder ökonomi­sche Beiträge.

Roman Boos: Ich möchte mich dieser Anregung des Herrn Leinhas an­schließen und fragen, ob es nicht möglich wäre, beim Kommenden Tag eine ständige wirtschaftswissenschaftliche Abteilung zu begründen, die ihre Organe dann hätte in dem Bund für Dreigliederung, also eine Art Zentrale, die eben die Aufgabe hätte, dasjenige, was wirtschaftliche Praxis ist, zu verbinden mit der Wirtschaftswissenschaft.

Emil Leinhas: Die Form. in der die Menschen zusammenarbeiten, wird sich finden.

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Rudolf Steiner: Nur ein paar Worte. Es ist immer eine mißliche Sache, wenn ein wichtiger Gedanke, der in die Diskussion hineingeworfen wird, dann nicht fortgesetzt wird. Und ein wichtiger Gedanke war der, den Herr Dr. Schmiedel hineingeworfen hat bezüglich der Frage: Wie bekommen wir eigentlich die Dreigliede­rung des sozialen Organismus wirklich in die Köpfe beziehungs­weise in die Taten der Menschen hinein? - Ich glaube, ich habe den Gedanken in dieser Weise richtig verstanden. Und da möchte ich vor allen Dingen auf eines aufmerksam machen, was eigentlich kaum jemals schon irgendwie gründlich berücksichtigt worden ist.

Sehen Sie, wir haben ja im Grunde genommen gar keine Ge­schicklichkeit entwickelt, wirkliche rationelle Geschicklichkeit im Agitieren. Wir können eben einfach nicht agitieren. Erstens haben wir keine Praxis; wir haben auch keine Neigung, uns Praxis zu erwerben für das Agitieren. Zweitens haben wir bei den meisten Persönlichkeiten auch nicht die Neigung, wirklich sich zu ent­schließen, ihrerseits dasjenige zu tun, was notwendig ist: persönli­che Wirksamkeit zu entfalten. Gewiß, wir müssen auch durch die Druckerschwärze wirken, und wir haben ja gezeigt durch die Be­gründung der Dreigliederungszeitung, daß wir eben auch berück­sichtigen, daß man das muß. Aber all das bleibt unwirksam, wenn wir nicht übergehen können zu einer wirklichen persönlichen Agitation. Dr. Schmiedel wird mir wahrscheinlich Recht geben, wenn ich ihm sage: Ich wüßte, gerade wie ich den Eichenstämmen aus der Horner Gegend - ich kenne dort die Leute -, ich wüßte ungefähr auch, wenn ich mich gerade beschränken sollte auf diesen Kreis, wie ich den dortigen Bauern die Dreigliederung unterbreiten müßte, wenn ich nur dort sein könnte und wirken könnte. Aber das ist es gerade: Wir stehen heute auf einem Punkte der Mensch­heitsentwicklung, namentlich in Mittel- und Westeuropa, wo wir durchaus nicht verstanden werden, wenn wir nicht in der Sprache der Menschen reden. Denken Sie doch nur einmal: Es ist rein un­möglich, heute in einer Arbeiterversammlung so zu reden wie in einer Unternehmerversammlung - nicht aus dem Grunde, weil Sie den Leuten in den Mund hinein reden wollen, sondern einfach,

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weil Sie verstanden werden sollen. Und in dieser Beziehung, muß man sagen, müssen sich eine größere Anzahl unserer Freunde wirklich erst einmal eine Art Geschicklichkeit, eine Art Technik aneignen. Sehen Sie, ich habe den Daimler-Vortrag gehalten, nicht wahr. Die ersten vierzehn Tage unseres Wirkens in Stuttgart haben ja die Dinge gezeigt: Hätte man in dieser Richtung fortgewirkt, die Anhängerschaft wäre sehr stark gewachsen. Stattdessen wurde der Daimler-Vortrag gedruckt und, nicht wahr, dann kriegte man das Echo des Daimler-Vortrags von irgendeinem bäurischen Pfarrer; ja, daß der nicht das für die Daimler-Arbeiter Gesprochene verstehen kann von sich aus, das ist ja ganz selbstverständlich. Also vor allen Dingen das Leben kennenlernen, das ist es, um was es sich handelt.

Die hauptsächlichsten Fehler haben wir bisher immer noch selber gemacht. In der Dreigliederungs-Agitation haben wir sie ge­macht, indem wir keine Technik der Agitation ausgeführt haben, sondern nur eine gewisse Vorliebe für diese oder jene Agitations­richtung hatten und immer glaubten, die Menschen würden dieser Richtung folgen, sie würden sich in dieser Richtung Gedanken machen und die seien dann richtig. Nun, dann geht man hinein in eine Versammlung von Eisenarbeitern und sagt ihnen dasselbe Lwie vorher anderen Leuten]. Gewiß, das kann man auch, aber man muß es in der Sprache eines jeden sagen. Das haben wir uns nicht ange­eignet, und darin finde ich eine gewisse Opposition gerade inner-halb der Dreigliederungsbewegung. Die Mehrheit ist ja so, daß sie durchaus nicht heraus will, vor allen Dingen praktisch nicht heraus will aus diesem, ich möchte sagen Monismus des Agitierens, die nicht sich dazu bekennen will, nun die Möglichkeit zu schaffen, wirklich den Zugang zu den Leuten zu finden. Diese innere Oppo­sition, die ist es, die einmal überwunden werden muß, über die wir hinauskommen müssen. Es ist das eine Art praktische Opposition, die gemacht wird innerhalb weiter Kreise auch der Dreigliederungsbewegung. Die Leute wollen so agitieren, wie es ihnen gefällt, und nicht, wie es die Welt erfordert. Ich habe immer wieder und wiederum darauf hingewiesen: Darauf kommt es nicht an, daß uns die Sache gefällt, sondern daß wir es so machen, wie es die Tatsachen

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erfordern. Und praktisch habe ich das gezeigt, indem ich einmal versuchte, in einer neuen Weise eine Art Probe aufs Exem­pel zu machen. Ich wollte haben eine agitatorische Gemeinschaft; ich wollte haben, daß in Mitteleuropa fünfzig Leute ausgesucht werden, die in Stuttgart einen Agitatoren-Kurs durchmachen, da­mit dann persönlich ausgemacht würde, wie die Dinge zu handha­ben sind. Es geht eben einfach nicht auf dem Weg der Drucker­schwärze, wo man dem Arbeiter dasselbe vorlegt wie dem Unter­nehmer. Ein Agitatorenkurs hätte organisiert werden sollen, aber aus dieser so wichtigen Unternehmung wurde eben einfach nichts, weil man keine Leute fand, die dazu gebracht wurden, in dieser Weise nun wirklich persönliche Agitationskunst zu verbreiten. Solange wir nicht wirklich an dieses Werk der persönlichen Agita­tionskunst gegangen sind, solange gilt allerdings die Frage, die Dr. Schmiedel aufgeworfen hat. Aber durch Diskussionen kann sie nicht beantwortet werden, sondern nur durch eine solche Tätigkeit

Ein Diskussionsteilnehmer: Herr Dr. Steiner spricht davon, daß die Ar­beiter selbst nicht wissen, was sie wollen. Und wenn ich nun versuchen will, das zu formulieren, was die Arbeiter wollen, so kommt das nicht gleich systematisch heraus, sondern mehr sprunghaft. Wenn Arbeiter agi­tieren, da haben sie untereinander ein gewisses Gefühl der Verbundenheit; das kommt daher, weil die Leute zusammen gearbeitet haben. Dr. Steiner sagte, es komme darauf an, die Gewerkschaften zu sprengen. Ich war einige Wochen in Berlin, habe gesehen, wie faul die Sache steht und daß man uberall sucht. Warum zeigt man den Leuten nicht den Weg durch eine praktische Tat? Wird es nicht möglich sein, daß auch der Arbeiter, der nichts sonst bringen kann als seine Arbeit, daß der einen Platz hat, wo er sich sagen kann: Gut, wenn ich meine Arbeitskraft irgendwo hinbringen kann, wenn ich [im Kommenden Tag] arbeiten kann, dort eine Stellung als Arbeiter habe, so bin ich schon bereit, mich in die Geisteswissenschaft hineinzudenken. Wenn jemand seine Arbeit überlegt, kann er ja das Dop­pelte leisten. Und man kann einander helfen, da und dort eingreifen, man kann sagen: laß das einmal, ich werde dir helfen. - Wenn man jetzt sagen könnte: Wenn ihr euch loslösen wollt von der Gewerkschaft, dann könnt ihr irgendwo hingehen, da habt ihr einen Platz, und wenn es auch die Landwirtschaft ist. - Wenn wir nur die Gelegenheit hätten, im Kommenden

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Tag zu arbeiten! Ist es nicht möglich, daß der Kommende Tag diese Gelegenheit schafft, daß Arbeiter dort beschäftigt werden können? Ich weiß ja wohl, daß man dagegen einwenden wird, daß man nicht alle Leute nach Stuttgart ziehen soll; wir brauchen auch anderwärts Arbeiter. Aber man muß dort beginnen. Wir müssen Leute haben, die, wenn es soweit kommt, nicht streiken, die aus ihrem Bewußtsein heraus die Arbeit weiter­führen. Die Wege sind gezeigt durch den Kommenden Tag. Es handelt sich darum, daß wir die Handarbeiter finden, und wenn wir die haben, wird von dieser Keimzelle aus die Sache weiter sich entwickeln.

Roman Boos: Wir sind nicht kompetent, abzustimmen für den Kommen­den Tag. Im übrigen hängt es selbstverständlich von den Umständen des Kommenden Tages ab, ob das, was sicher ideal ist, ob das praktisch ver­wirklicht werden kann. Ich bitte, sich möglichst kurz zu fassen. Wir haben noch vier Redner vorgesehen.

Ein anderer Diskussionsteilnehmer.. Ich möchte mitteilen, daß ich lange Jahre in Gewerkschaften tätig gewesen bin als einer der Agitatoren von altem Schrot und Korn. Und ich möchte vorschlagen, ob wir das Gespräch nicht mal fortsetzen könnten, damit ich etwas von meinen Erfahrungen an diese Leute weitergeben könnte. Ich habe angenommen, es wären heute nur Wirtschafter, gewissermaßen Arbeitgeber unter sich.

Roman Boos: Vielleicht kann man in den nächsten Tagen noch einmal eine Veranstaltung machen.

Franz Dreidax: Wenn wir das Bedürfnis der Arbeiter nach Wohnungen dadurch befriedigen würden, daß die Arbeiter die Häuser selber zu bauen anfangen und alles Material dazu von den Fabriken des Kommenden Tages beziehen, so schiene mir dies ein Weg, daß auf ganz natürlicher Grundlage immer weitere Kreise gezogen werden könnten. Das müßte natürlich der Kommende Tag lancieren.

Roman Boos: Wir kommen nun etwas zu sehr in die Baupolitik hinein, die ein eigenes Problem ist; eine große Literatur und Praxis ist darüber vorhanden. Ob wir uns nun hier über die Möglichkeiten von Baugenossen­schaften unterhalten sollen, liegt auf einem anderen Gebiet.

Franz Dreidax: Es ist die Sprengung der Gewerkschaften beabsichtigt.

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Aber wer heute nicht in einer Gewerkschaft ist, der findet nirgends mehr Arbeit; er muß verhungern mit Frau und Kind. Die anderen Arbeiter er­schlagen ihn, wenn sie ihn erwischen. Es muß den Arbeitern die Möglich­keit gegeben werden, die Sicherheit und das Vertrauen, daß er auch weiter­hin arbeiten kann. Und wenn wir nun mit dem Häuserbauen anfangen, zugleich auch Grundstücke landwirtschaftlich bebauen und so weiter, so könnte vielleicht mit den umliegenden Ortschaften allmählich ein Wechsel-verkehr stattfinden. Von den landwirtschaftlichen Produkten können die Fabrikarbeiter in der Stadt versorgt werden. Und auch umgekehrt. Ich weiß noch nicht, wie es ins Große gehen kann, sehe aber einen Gedanken der Möglichkeit, wie wir gegenseitiges Interesse bekommen und wie Ver­trauen Platz greift, wirkliches Vertrauen. Es steht auch schon in den «Kernpunkten», daß Vertrauen nötig ist. Ich weiß keinen andern Ausweg. Ich möchte nicht von der Sprengung der Gewerkschaften sprechen, wenn es nicht zugleich die Sicherheit gibt, daß der Arbeiter nachher überhaupt noch existieren kann.

Roman Boos: Ich möchte daran erinnern: Alle diese Unternehmungen müssen auch finanziert werden vom Kommenden Tag. Wenn die Finanzie­rungsaktion so gelingt, wie sie objektiv eigentlich gelingen müßte, wäre es selbstverständlich sehr wertvoll, solche Wirtschaftskörper zu schaffen. So­bald diese wirtschaftlichen Unternehmungen hier florieren ...

Ein Diskussionsredner aus Breslau: Über die Frage der Sprengung der Gewerkschaften und die Ausbildung der Agitatoren sollte noch einmal gesprochen werden. Ich möchte die Herren bitten, daß an der nächsten Zusammenkunft direkt darüber gesprochen werde, Wege zu finden, damit diese Aktion auch tatsächlich durchgeführt werden kann. Es ist schon einmal verpaßt worden.

Rudolf Steiner: Ich möchte nur bemerken, daß man aus etwas, was ich hier gesagt habe, nun wirklich nicht ein Schlagwort macht, das sehr leicht ins Dogma hinübergeführt werden kann. Wenn im Anschluß an dasjenige, was ich ausgesprochen habe, so etwas ge­sagt wird - nur durch die Sprengung der Gewerkschaften werde den Arbeitern auf die Wege geholfen -, so ist das nicht richtig. Denn eine gar nicht einmal sehr weit getriebene Überlegung würde

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sofort zeigen, daß nur auf dem Wege, den ich angedeutet habe, nämlich indem man die Assoziationen der Arbeitleitenden und -nehmenden herbeiführt, den Gewerkschaften den Boden abgräbt und etwas anderes an ihre Stelle setzt. Es werden die Gewerkschaf­ten niemals auf die Straße geworfen dadurch, daß man nur eine sozialistische, marxistische Parole wiederholt, wenn man von «Sprengung der Gewerkschaften» spricht. Es kommt nicht auf das an, sondern auf positives Denken kommt es an; es handelt sich darum, daß man konkretes Denken in solche Sachen hineinzu­tragen vermag.

Bei mir war erst jüngst ein Geheimer Regierungsrat, der in einer Art Ministerium eines deutschen Staates ist und der sich mit mir besprechen wollte über die Maßnahmen, die zu treffen wären. Ich sagte ihm: Das ist ja alles recht schön, was Sie sagen; aber Sie er­reichen praktisch gar nichts, wenn Sie drinnen sitzen bleiben in Ihrem Büro und allerlei Dinge aushecken, die jedesmal anders aus­sehen als die Wirklichkeit. Sie erreichen aber auch dann nichts, wenn Sie Partei- und Gewerkschaftsführer zu sich kommen lassen in Ihr Büro. Gehen Sie in die Arbeiterversammlungen; reden Sie dort! Dort werden Sie die Möglichkeit finden, der Vertraute der Leute zu werden. Dann bringen Sie es weiter. - Heute gibt es nur eine solche Agitation.

Aber was haben wir in Württemberg für eine Erfahrung ge­macht? Wenn wir es nun wirklich, ich möchte sagen zehnmal ver­sprochen bekommen hatten, wenn irgendein höherer Arbeitender im Arbeitsministerium oder sogar etwa ein Minister aus der sozia­listischen Partei zehnmal versprochen hat, er komme zu irgend etwas - in dem Augenblicke, wo er erwartet wurde, hieß es immer, namentlich im Anfang: Ja, es ist eben wiederum Ministersitzung. -Die Herren setzen sich immer in Sitzungen zusammen, es fällt ihnen gar nicht ein zu kommen. Und diejenigen, die aus der sozialistischen Partei herausgewachsen sind, haben es praktisch am allerwenigsten versucht.

Denken Sie natürlich nicht, um vor Gewerkschaftlern zu spre­chen, Sie könnten dasselbe Programm aufstellen. Es wächst das

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schon heraus, aber es handelt sich darum, wie es herauswächst. Und darum handelt es sich besonders, daß das Schlagwort, «der Arbeiter wird durch die Sprengung der Gewerkschaften auf die Straße geworfen», heute nicht mehr gilt.

Ein Diskussionsteilnehmer: Auf der einen Seite hat man alle Unternehmer und auf der anderen Seite alle Arbeiter, auf die man angewiesen ist, und die beiden Gruppen sollten im organisch gegliederten dreigliedrigen Organis­mus zusammensitzen.

Roman Boos: Wir können doch nicht den wirtschaftlichen Gruppenego­ismus zum Organisationsprinzip erheben; das geht nicht!

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MITTEILUNG, Dornach, 9. Oktober 1920 vor dem Abendvortrag über «Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft» anläßlich des ersten anthroposophischen Hochschulkurses

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Es ist der Wunsch ausgesprochen worden, daß von mir noch einmal eine Art Vortrag gehalten werden solle über die Dreigliederung des sozialen Organismus. Und da wir ja an Veranstaltungen eine reichliche Anzahl haben, so wird es sich kaum anders machen lassen, als daß ich morgen abends versuche, diesen gewünschten Vortrag über die Dreigliederung des sozialen Organismus zu halten. Aber da dieser Wunsch, der vielfach geäußert worden ist, hervorgegangen ist aus der Unbefriedigtheit, die geblieben ist aus den verschiedenen Dis­kussionen heraus, die gepflogen worden sind bisher über diese Dreigliederung, so möchte ich Sie bitten, Ihre Wünsche, Ihre Fra­gen diesbezüglich zu formulieren, damit gerade dasjenige berück­sichtigt und besprochen werden kann, was als unklar empfunden wird. So werde ich den Vortrag morgen Abend so einrichten kön­nen, daß gerade dasjenige vorkommt, was von verschiedenen Seiten gewünscht wird zu wissen. Deshalb werden diejenigen verehrten Anwesenden gebeten, welche irgendwie etwas nach der einen oder anderen Richtung über die Dreigliederung des sozialen Organis­mus, namentlich über das Wirtschaftsleben in demselben, zu hören wünschen, ihre Fragen oder Wünsche auf einen Zettel zu schreiben und morgen früh zwischen 9 und 1/2 10 Uhr am Eingang zum Westportal des Goetheanum abzugeben. Es wird jemand dort sein, der diese Fragen entgegennimmt. Also, ich bitte dann diejenigen, die etwas zu fragen haben und die etwas wünschen, das in diesen ihren Fragen anzubringen.

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MITTEILUNG, Dornach, 10. Oktober 1920 am Schluß einer Zusammenkunft von Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft anläßlich des ersten anthroposophischen Hochschulkurses

Rudolf Steiner: Ich will in diesem Augenblicke nur ein paar Worte sagen, meine lieben Freunde, allzuviel zu sprechen auf all­gemeinen Mitgliederversammlungen oder Generalversammlungen liegt ja von mir nicht gerade Veranlassung vor. Es waren schon eine ganze Anzahl von Generalversammlungen im Laufe der Jahre, bis die Kriegszeit das unmöglich gemacht hat, und ich habe ja auf die­sen Generalversammlungen so manches gesagt - es ist im Grunde genommen niemals berücksichtigt worden. Und dann sind man­cherlei Anträge gestellt worden, wie die Dinge eigentlich zu gestal­ten wären und dergleichen. So liegt für mich im Grunde ja nicht viel Veranlassung vor, gerade bei Generalversammlungen zu spre­chen, um wiederum Dinge zu sagen, die dann eigentlich doch nicht gehört werden. Hier möchte ich aber jetzt nur ein paar Worte zu etwas Positivem sagen. Denn, sehen Sie, es wird ja nicht viel nüt­zen, daß man große Pläne hat; daß man große Pläne hat, ist schon gut, aber man sollte zuerst das Allernächste in Erwägung ziehen. Wir sind ja jetzt hier zusammen, und es scheint mir doch die beste Gelegenheit zu sein, daß bei diesem Zusammensein einiges getan werde, so daß man nicht wiederum auseinanderginge, ohne daß notwendige, positive Dinge getan würden, zunächst hier getan würden. Lassen Sie uns einmal von etwas Positivem reden!

Da möchte ich vor allen Dingen darauf aufmerksam machen, meine lieben Freunde: Als in ganz organischer Weise die Dreiglie­derungsbewegung hervorging aus der anthroposophischen Bewe­gung, da wurde damit gerechnet, daß nun wirklich mitgearbeitet werde von seiten derjenigen, die mitarbeiten sollten auf diesem oder jenem Gebiet, denn es war mit der Dreigliederungsfrage ein praktischer Impuls gegeben. Es ist von einer gewissen Seite her nun

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alle Arbeit aufgewendet worden, um diese anthroposophischen Hochschulkurse hier in Dornach zustandezubringen, und es wird ja im wesentlichen der Erfolg dieser Hochschulkurse davon abhän­gen, daß wir als Anthroposophen in der Zukunft uns ein wenig anlehnen an dasjenige, was diese Hochschulkurse gebracht haben und es in die Welt hinaustragen - das wird schon ein Stück Arbeit geben. Aber vielleicht - es bleiben uns ja noch acht Tage Zeit für diese Hochschulkurse -, vielleicht kann hier etwas geschehen, was dem Zustande abhilft, der uns ja gerade nach einer bestimmten Richtung hin, wenigstens denjenigen, die wirklich arbeiten wollen, eine arge Enttäuschung gebracht hat. Das ist das folgende.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, es war ja wirklich ganz bitter-ernst gemeint, daß endlich die Zeit aufhören müßte, in der immer-und immerfort dasjenige zurückgewiesen würde von der sogenann­ten Praxis, was mit der Praxis zusammenarbeiten sollte, damit wir nun endlich einmal weiterkommen; es war gerechnet, daß wir - im Gegensatze zu den Routiniers - wirkliche Praktiker gerade aus der anthroposophischen Bewegung hervorgehend fänden. Wir sind jetzt vierzehn Tage beisammen, und es hätte sich vielleicht doch schon die Gelegenheit finden können, daß gerade in bezug auf wirtschaftliches Denken, auf richtiges wirtschaftliches Denken von seiten der unter uns befindlichen Praktiker etwas geschehen wäre. Wir haben allerdings verschiedentliche Seminararbeiten gehabt. Daß da natürlich auch kleine Entgleisungen vorgekommen sind, das braucht uns nicht weiter zu interessieren, denn das ist einfach so unbedingt notwendig. Aber, meine lieben Freunde, dasjenige, was geschehen ist durch einen Mitarbeiter-Praktiker, um gerade im Sinne der Arbeit unserer Hochschulkurse etwas Günstiges vor der Welt zu bewirken, das hat bis jetzt leider nur das Resultat ergeben, daß heute früh wiederum ein Couvert zustandegekommen ist mit diesem Packen von Fragen, die sich alle lediglich auf die Dreiglie­derung beziehen. Ich weiß nicht, ob diese Fragen bei dem heute sonst so besetzten Tage bis zum Abend wenigstens zu einem Vor-trage geformt werden können, der sich nun befaßt mit wirklichem wirtschaftlichen Denken. Mir ist gesagt worden, es seien einige

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Male um 7 Uhr morgens oder zu einer anderen Stunde, die viel­leicht noch unmöglicher war - ich weiß es nicht -, Versammlungen abgehalten worden unter der Devise, daß einmal nur die Praktiker mit Ausschluß der Theoretiker zusammenkommen, damit etwas Gescheiteres geredet würde - ich bezeichne es nur als Gerücht, aber es ist mir gesagt worden. Nun, meine sehr verehrten Anwe­senden, darum würde es sich schon handeln, daß nun wirklich, wenn nun die Studentenschaft hierhergekommen ist, sie nicht mit diesem Eindruck fortgeht: Die schlagen sich alle die Schädel ein, weil sie alle verschiedener Meinung sind, und nicht zum Ausdruck bringen können, was eine Assoziation ist und dergleichen. - Es würde sich vielmehr darum handeln, daß die Praktiker im anthro­posophischen Sinne wirklich mitarbeiten, so daß wir vor der äuße­ren Welt so dastehen, daß unsere Bewegung eine reale Macht ist. Sehen Sie, das ist eine positive Aufgabe, die noch in den nächsten acht Tagen vielleicht gelöst werden kann, daß sich die Praktiker nicht absondern, weil jeder etwas sagt, was der andere nicht ver­steht; es handelt sich darum, daß die Praktiker uns mit ihrer Prak­tik wirklich etwas helfen. Wir müssen also versuchen, mit der Gesellschaft vor der Welt so dazustehen und eine solche Kraft zu bilden, daß die Praktiker auch wirklich zusammenkommen, um irgend etwas von praktisch-wirtschaftlichem Denken darzustellen. Nur so können die Leute, die heute ja gekommen sind, um etwas zu lernen, auch wirklich etwas lernen. Was soll denn aus unseren wirtschaftlichen Bestrebungen werden, wenn die Studenten fortge­hen mit dem Gefühl: Die wissen ja alle selber gar nichts. - Also es muß nach dieser Richtung hin eine recht gründliche Änderung in den nächsten acht Tagen eintreten, um unsere Aufgabe zu erfüllen.

Damit wollte ich auch einmal etwas Positives in die Debatte hineinzubringen versuchen.

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ERSTER FRAGEABEND, Dornach, 10. Oktober 1920 anläßlich des ersten anthroposophischen Hochschulkurses. Fragen zum Wirtschaftsleben I

Meine sehr verehrten Anwesenden! Es ist der Wunsch geäußert worden, daß hier noch etwas von mir gesprochen werde über mehr wirtschaftliche Fragen, über dasjenige Gebiet also, welches das wirtschaftliche Gebiet der Dreigliederung des sozialen Organismus ist. Nun war eigentlich meine Absicht, gerade während diesem Hochschulkurs meine eigene Kraft mehr dafür zu verwenden zu zeigen, wie in die verschiedensten wissenschaftlichen Gebiete hin­ein und in das Leben im allgemeinen Geisteswissenschaft befruch­tend wirken kann. Das Gebiet des Wirtschaftslebens, das ist ja dasjenige, was vor allen Dingen der verständnisvollen Mitarbeit der innerhalb der anthroposophischen Bewegung tätigen Praktiker be­darf. Und man hat ja vor allen Dingen notwendig, daß dasjenige, was die Praktiker aus ihrer Lebenspraxis haben gewinnen können, daß das ebenso herangetragen werde an das Geisteswissenschaft­liche, wie ja nach vieler Richtung hin so schön herangetragen wor­den ist von den verschiedensten Seiten her das wissenschaftliche Gut. Nun, wir werden gleich über diese Dinge noch näher spre­chen. Da der Wunsch ausgesprochen wurde, daß hier noch auch von mir etwas vorgebracht werden soll über das dritte Glied des sozialen Organismus, so glaubte ich, am besten dabei zu fahren, wenn die Wünsche, welche aus den verehrten Zuhörerkreisen selbst sich geltend gemacht haben, zu Papier gebracht würden, so daß ich gewissermaßen das heute in den Vortrag hineinarbeiten könnte. Der heutige Tag war allerdings so besetzt, daß das durch­aus nicht in der mir wünschenswerten Weise hat geschehen kön­nen, denn die verschiedensten Wünsche sind in 39 Fragen formu­liert worden, die nun wirklich nicht zu studieren waren in der kurzen Zeit, die mir heute zur Verfügung stand. Aber außerdem

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habe ich aus der Art und Weise, wie diese Fragen gestellt worden sind, gesehen, wieviel gerade auf diesem Gebiete eigentlich noch zu tun ist, und deshalb wird es notwendig sein, daß ich heute einiges von dem bespreche, was gewissermaßen aus einem allgemeinen Eindruck, den diese Fragen hervorrufen, hervorgeht. Und ich wer­de dann noch Gelegenheit nehmen, am nächsten Dienstag um 8 Uhr die heutigen Betrachtungen mehr ins Spezielle hinein fortzu­setzen, so daß vielleicht diese Fragesteller und auch andere, die noch etwas über diese Fragen zu erfahren wünschen, auf ihre Rech­nung kommen. Ich möchte heute gewissermaßen nur prälimina­risch sprechen, damit wir am Dienstag in Einzelnes ganz praktisch eintreten können. Aber es ist ein solches präliminarisches Sprechen notwendig zu einem gesünderen gegenseitigen Verständnis. Dann kann ja vielleicht gerade am Dienstagabend noch an dasjenige, was ich zu sagen haben werde, wiederum eine Art allgemeiner Bespre­chung, eine Art Diskussion angeschlossen werden, und wir werden auf diese Weise vielleicht mit der Sache zurechtkommen.

Meine sehr verehrten Anwesenden, trotzdem ich es schon ein­mal hier in später Abendstunde getan habe, möchte ich es vor allen Dingen noch einmal betonen, daß mein Buch «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» und im Anschluß daran das andere Buch, das jetzt im Stuttgarter Verlag «Der Kommende Tag» erschienen ist, «In Ausführung der Dreigliederung des s9zialen Organismus», daß diese beiden Bücher durchaus praktisch gedacht sind und daß der­jenige, welcher sie theoretisch nimmt, sie eben mißversteht. Sie sind so gedacht, daß sie sich wenden an diejenigen Menschen, die gewis­sermaßen anschaulich und lebendig das soziale Leben zu empfin­den und ins Auge zu fassen verstehen. Durch andere Menschen als solche wird auch kaum dasjenige, was man heute soziale Frage nennt, im wesentlichen gefördert werden können. Ich habe vor allen Dingen auch das schon betont, daß nichts Utopisches in die­sen beiden Büchern gesucht werden soll. Aber das habe ich bemer­ken müssen, daß viele Menschen, welche an diese beiden Bücher herangehen, im Grunde genommen aus einer gewissen Neigung unserer Zeit heraus die Sache erst ins Utopische übersetzen, ins

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Utopistische, daß sie sich Vorstellungen davon machen nach ihrem eigenen Geschmack, die dann utopistisch sich ausnehmen. Ich möchte Sie aufmerksam machen auf eine Bemerkung, die Sie auf irgendeiner Seite meiner «Kernpunkte» finden. Da sage ich aus­drücklich: Bei einer Sache, die praktisch gedacht ist, praktisch als eine Zeitforderung gedacht ist, kann man über die Einzelheiten der Ausführung verschiedenartig denken. - Und deshalb gebe ich in dem Buch «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» über die Einzel­heiten eigentlich nur beispielsweise gemeinte Ausführungen. Das­jenige, was gesagt ist über die eine oder andere Detailfrage, betrifft die Dinge, die im praktischen Leben in der verschiedensten Weise ausgeführt werden können. Daß ich über diese Dinge in dem Sinne auch spreche, daß ich eine [mögliche] Ausführung hinstelle, [ge­schieht deshalb,] damit man anschaulich sehen kann, wie sich der ganze Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus in die Wirklichkeit hineinsetzt. Es war vor allen Dingen meine Meinung, daß, nachdem dieses Buch erschienen war, sich Lebenspraktiker daranmachen würden, die Ergebnisse ihrer Lebenspraxis unter Anregung dieses Buches in die Strömung der sozialen Frage ein­laufen zu lassen.

Auch aus den Fragen, die mir heute wieder gestellt worden sind, ersehe ich, wieviel eigentlich durch und durch unpraktisches Den­ken in unserer Zeit lebt und wie schwer sich gerade der Mensch der Gegenwart dazu versteht, praktisch zu denken. Gerade das ist ja die Tragik unserer Zeit, das ist die große Schwierigkeit, die uns nicht wirklich herankommen läßt an das Leben, daß wir auf der einen Seite ganz in materialistischen Anschauungen und Vorstellungen schwimmen, die wir aufgenommen haben durch den einseitigen Be­trieb der Naturwissenschaft, daß wir dadurch, daß wir uns gewöhnt haben, alle Dinge so anzusehen, wie wir notwendig die äußeren Naturdinge ansehen müssen - auch die Dinge, die anders angeschaut werden müssen als diese äußeren Naturdinge, Dinge, die vor allem notwendig machen, daß man mehr in die Tiefe dringt, als man es notwendig hat gegenüber den äußeren Naturdingen -, daß wir da­durch für diese Dinge alles Gefühl der entsprechenden Behandlung

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eigentlich verloren haben. Und so denkt man auf der einen Seite ganz materialistisch und auf der anderen Seite ganz abstrakt, ganz abstrakt gerade über die sozialen Dinge. Man denkt Gedanken, die nicht im entferntesten irgendwie Aussicht haben, in das wirkliche Leben einzugreifen. Oder aber man findet auch, daß Leute, die glau­ben, etwas recht Reales vorzubringen, sich einfach in allgemeinen Redensarten ergehen. Gerade von Praktikern sind wir es heute ge­wöhnt, daß sie sich in allgemeinen Redensarten ergehen, wenn sie sich über so etwas auslassen, was ganz konkret behandelt werden muß wie die soziale Frage. Es ist eben so, daß wir durch eine jahr­hundertlange Erziehung innerhalb der Zivilisation des Abendlandes wirklich dem Leben nicht näher gebracht worden sind, sondern dem Leben eigentlich entfremdet worden sind. Und ich möchte sagen:

Aus allem springt einem heraus diese Erkenntnis, wie sehr man dem Leben eigentlich entfremdet worden ist, wie man selbst aber die Natur und den Charakter dieser Entfremdung verkennt. Man ver­kennt das innerhalb der verschiedensten Parteien, und immer gibt jede Partei wieder der anderen die Schuld. Das ging mir zum Beispiel gerade auch aus den gestellten Fragen hervor.

Da waren Fragen, die mich an manche Bitternis erinnerten, die ich empfinden mußte, indem ich mich durch Jahrzehnte hindurch der Anschauung der modernen, der gegenwärtigen sozialen Ver­hältnisse gewidmet habe. Da taucht zum Beispiel in mehrfacher Gestalt die Frage auf, die anklingt an das fast Unmögliche eines Verständnisses, welches spielen sollte, wirken sollte zwischen dem Proletariat auf der einen Seite und den anderen Klassen der Menschheit auf der anderen Seite. Da ist von proletarischer Seite eine Frage eigentlich in die Form eines Vorwurfes, eines herben Vorwurfes gekleidet. Ich darf, damit nichts im Hintergrund bleibe, sondern damit man sich gegenüberstehe in voller Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Wahrheit, ich darf diese Frage, die eigentlich einen Vorwurf involviert, hier verlesen:

Die hier versammelten Arbeiter haben die Erfahrung gemacht, daß ein Zusammenarbeiten mit Anthroposophen, mit bürgerlichen Kreisen nicht möglich ist; besonders scheint der Studentenschaft der Impuls zu fehlen,

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sich in das Zusammenarbeiten aller Menschen hineindenken zu können, sonst würde es unmöglich sein, hier die Kommilitonenschaft fortzusetzen.

Das auf der einen Seite, meine sehr verehrten Anwesenden: gar kein Wissen darüber, wie sehr es gerade innerhalb der Studenten­schaft ein Ringen gibt, zur Klarheit zu kommen über die sozialen Anforderungen unserer Zeit! Es ist ein furchtbares Mißtrauen ein­gezogen, gerade in die Kreise des Proletariats. Und derjenige, der mit offenen Augen die Soziale Frage anzuschauen vermag, der kann an diesem Mißtrauen, weil es einer der am meisten realen Faktoren ist, durchaus nicht vorübergehen. Es betrifft aber eigent­lich weniger die Studentenschaft, die, wie mir scheint mit Unrecht, von proletarischer Seite angeklagt wird, wenigstens betrifft es einen Teil der Studentenschaft nicht. Aber, meine sehr verehrten Anwe­senden, im allgemeinen muß doch gesagt werden, daß in unserer Zeit gerade in den Kreisen der Bourgeoisie und derjenigen, die eben oberhalb und unterhalb der Bourgeoisie stehen, wenig Nei­gung vorhanden ist, die Soziale Frage gerade von ihrem proletari­schen Aspekt aus wirklich ins Auge zu fassen, wirklich Verständnis zu gewinnen, wie die proletarische Frage innig zusammenhängt mit der gesamten Sozialen Frage und damit überhaupt mit dem Schick­sal unserer modernen Zivilisation. Wie gesagt, ich rede heute nur präliminarisch, damit wir uns dann besser verstehen, denn man kann diese Dinge nur verständnisvoll vorbringen, wenn man weiß, aus welchen Untergründen sie hervorgehen.

Sehen Sie, meine sehr verehrten Anwesenden, als wir im vorigen Jahr begannen, vom April ab von Württemberg aus im Sinne des von mir verfaßten «Aufrufes» und meiner «Kernpunkte der sozia­len Frage» für eine Gesundung unseres sozialen Lebens zu wirken, da war die Zeit, die in gewisser Weise noch - mag es der eine überschattet, der andere überleuchtet nennen -, die also überschat­tet oder überleuchtet war von dem, was wie eine Art revolutionäre Welle über Europa ging; und man traf dazumal vor allen Dingen die Großbourgeois und ihren Anhang, die Unternehmerbevölke­rung, im Stadium der Angstmeierei. Sie hatten riesige Angst vor

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dem, was nun heraufkommen könnte aus den Untergründen des proletarischen sozialen Daseins, und man kam gerade im April und Mai in eine soziale Welle hinein, wo wirklich bis in weite Kreise hinauf in Sozialismus, mindestens in Sozialisierung gemacht wurde - geträumt wurde, besser gesagt. Dann aber kamen andere Zeiten. Es stellte sich heraus, wie wenig eigentlich das Proletariat zunächst geschult ist, um aus sich heraus wirklich auch nur zu irgendeiner klaren Formulierung seiner Forderungen so zu kommen, daß ir­gend etwas sozial Positives daraus erwachsen könnte. Gewiß, Ver­ständnis würden die weitesten Kreise des Proletariats gerade dem Dreigliederungsimpuls entgegenbringen, wenn überwunden wer­den könnte dasjenige, was die Führerschaft dieses Proletariats ist. Und darüber dürfen wir uns gar keiner Täuschung hingeben, das kann aus der Erfahrung, die wir gerade gemacht haben mit unseren Bestrebungen, klipp und klar bewiesen werden: Das Proletariat wird erst dann zu einer Klarheit kommen, wenn sämtliche Führer weg sind und wenn es sich auf seine eigenen Instinkte, auf seine eigene Vernunft stützen kann. Zu denen wird man sprechen kön­nen. Man wird zu den Instinkten der Proletarier sprechen können, man wird zu der Vernunft der Proletarier sprechen können, aber man kann nicht zu den Führern sprechen, die zwei Eigenschaften in sich vereinigen: erstens ein furchtbares Nachplappern desjeni­gen, was ihnen die Bürgerlichen vorgedacht haben, und zweitens in ihrem ganzen Gehabe ein Überspießern des gewöhnlichsten Spießertums. Das aber, wie gesagt, richtet sich nur gegen die Führerschaft.

Aber das muß erkannt werden, wie es in unserer Zeit überhaupt notwendig ist, ganz ernstlich und radikal ins Auge zu fassen, daß alles dasjenige, was aus den alten Zeiten herausragt und heraufbrin­gen möchte das, was vor 1914 war, daß das nicht taugt zum Wei­teraufbau - das muß erkannt werden. Und solange in allen Teilen der zivilisierten Welt man doch an nichts anderes denkt als: wie kriegt man den und den wiederum in dieses oder jenes Amt hinein, weil er schon früher einmal, vor 1914 oder während der Kriegsepo­che, in einem solchen Amte drinnen war -, solange man so denkt,

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solange läßt sich praktisch überhaupt nicht irgend etwas ausma­chen, was zu einem Fortschritt führen kann. Wir brauchen durch­aus neue Menschen, die aus einer neuen Denkweise hervorgehen. Wir können nicht brauchen diejenigen, auf die man wiederum re­kurrieren will, weil man zu bequem ist, Gedanken zu entwickeln, die eine Wertschätzung neuer Menschen herbeiführen. Ich sagte, es kamen andere Zeiten. Das Proletariat erwies sich so, daß es zu keiner Klarheit aus sich selber heraus kommen konnte. Die Angst­meierei verwandelte sich allmählich in eine Art von Sicherheit, Si­cherheit so weit, daß man sich sagte: Nun können wir ja versuchen, wiederum im alten Geleise fortzufahren. - Ich möchte sagen, man hat dazumal von Woche zu Woche verstehen können, wie alles dasjenige, was Unternehmertum von früher war, wiederum zu­rückfiel in die alten Gedankenallüren; und jetzt ist es im Grunde genommen ganz wiederum drinnen, ahnt aber nur nicht, daß es auf einem Vulkan tanzt. Das war ja die erste Erfahrung, daß sozusagen die völlige Unbrauchbarkeit der Führer des Proletariats sich erge­ben hat und daß auf der anderen Seite die völlige Impotenz derje­nigen, die gerade auf wirtschaftlichem Gebiete früher da oder dort führende Stellen hatten, sich ergeben hat. Ja, in diesen Kreisen und in dem Anhang dieser Kreise ist nun wirklich nicht eine Neigung vorhanden, kennenzulernen dasjenige, was eigentlich in der Gegen­wart pulst, dasjenige, was gewiß oftmals in unklarer Weise gerade aus dem Proletariat heraus an die Oberfläche sich arbeiten will. Man will sich eben einfach nicht einlassen auf dasjenige, worauf es ankommt.

Daher hat man so wenig das erste Drittel meiner «Kernpunkte der Sozialen Frage» verstanden, jenes erste Drittel, welches sich vorzugsweise bemüht darzustellen jene «doppelte Buchführung» -ich meine jetzt nicht diejenige, von der Herr Leinhas hier gespro­chen hat im historischen Zusammenhang, sondern ich meine eine andere, die er ja sogar angedeutet hat -, es ist jene doppelte Buch­führung, zu der man allmählich gekommen ist und die darin be­steht, daß man gewissermaßen auf der einen Seite die Welt betrach­tet nur nach ihrem materiellen, mechanischen Zusammenhange,

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daß man nur in diesem materiellen, mechanischen Zusammenhange drinnen denkt, daß man, wie ich es einmal genannt habe, die Le­benspraxis zur Routine macht und auf der anderen Seite dann ent­wickeln will alles mögliche Schöne, alles mögliche Geistige, alles mögliche Moralische.

Wir wissen ja, wie sehr es das Bestreben der praktischen Men­schen ist, die Praxis drinnen zu haben in der Fabrik, dann aber, wenn sie die Türe des Kontors des Abends zugemacht haben, dann ist ihr Bestreben, irgendwo sich ergehen zu können in demjenigen, wo die Gedanken frei leben können, wo die Seele sich entwickeln kann, wo man so recht innerlich warm werden kann in Gedanken, die einen endlich befreien von dem, was hinter der Kontortüre und so weiter ist; es soll ein geistiges Leben noch außer der Fabrik geben - das wird schon solch eine Devise [bei diesen Menschen] sein, und diese Devise hat mein Buch eigentlich umkehren wollen. In diesem Buche wollte ich darauf aufmerksam machen, daß es nicht darauf ankommt, die Fabrik hinter sich zuzuschließen, um das Geistesleben draußen zu finden, sondern daß es darauf an­kommt, des Morgens, wenn man in die Fabrik hineingeht, den Geist in die Fabrik hineinzutragen, damit das materielle, mechani­sche Leben durchdrungen werden könne von Vernunft, von Geist und so weiter, damit der Geist sich nicht neben dem wirklichen Leben als ein Luxus entwickelt, der er nach und nach geworden ist durch diese doppelte Buchführung. Auf der einen Seite ist die Geschäftsusance, die ich Ihnen ja nicht weiter zu beschreiben brau­che, wie sie heute vielfach zu finden ist, auf der anderen Seite ist die Kirche, sind die gefalteten Hände, ist das Bitten um ein glückliches, ewiges Leben, das Ineinanderweben der beiden.

Was notwendig ist, das Zusammendenken, das ist es, was sehr vielen Menschen höchst unbequem ist. Sie möchten auf der einen Seite eine geistfreie Routine, die man sich aneignet so, daß man eigentlich nicht recht dabei ist, und auf der andern Seite möchten sie eine mystische Verschwommenheit, durch die sie die Wollust ihrer Seelen befriedigen können. Wie oft hat man es erfahren, und namentlich in der Zeit, in der der Übergang gemacht werden sollte

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von dem anthroposophischen geistigen Streben zu dem prakti­schen Streben, daß einem Leute des praktischen Lebens entgegen-traten, die was werden wollten, werden wollten im praktischen Leben aus den Usancen heraus, die sich in den letzten Jahrzehnten ergeben haben. Wie wollen denn diese Leute etwas werden? Ge­spräche, die geführt worden sind, wenn es dazu kommen sollte, Leute zu gewinnen, sagen wir für das Futurum oder für den Kommenden Tag - Leute, die da mit dem wirklichen Geistigen arbeiten sollten, das aber das Materielle bezwingt -, diese Gesprä­che [haben gezeigt]: Solche Leute sind heute außerordentlich schwer zu finden, aus dem einfachen Grunde, weil aus dem wirt­schaftlichen Leben heraus sich die Usance gebildet hat, daß der junge Mensch sich eigentlich von außen her trainieren läßt. Er läßt sich irgendwo hineinbringen in ein Geschäft, und indem er eigent­lich mit seinen Gedanken irgendwo anders bei einem geistigen Leben ist, manchmal bei einem sehr guten, trägt er aber den Geist nicht in sein Geschäft hinein. Da ist er mit seiner Seele nicht dabei, da läßt er sich trainieren von außen, da läßt er sich ge­schäftlich routiniert machen; dann läßt er sich schicken irgendwo­hin, nach Amerika oder London, und da wird er weiter trainiert. Nachher weiß er, wie man es macht, und dann geht er zurück, und dann treibt er dies oder jenes.

Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, das führt zur Sozialen Frage, denn mit solchen Menschen läßt sich nicht vorwärtskom­men; wenn wir uns nicht entschließen, in diese Dinge hineinzu­leuchten und hineinzuwirken, läßt sich nichts machen. Wir brau­chen Menschen, die so erzogen werden, schon durch die Schule, daß sie mit ihrer Initiative dann eingreifen, wenn es sich darum handelt, sich für das praktische Leben in der richtigen Weise zu präparieren, so daß gewissermaßen die Initiative aus einem heraus will. Dazu ist allerdings notwendig, daß die Schule diese Initiative nicht tottritt. Das ist, möchte ich sagen, gerade von der mensch­lichen Seite her die Sache betrachtet.

Ein ganz anderer Geist muß in unser Wirtschaftsleben hinein­kommen. Dieser Geist, er wird vor allen Dingen beleben jenen

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Zusammenhang, der bestehen muß zwischen dem Menschen und demjenigen, was er mittelbar oder unmittelbar in der Welt hervor­bringt. Dieser Zusammenhang besteht ja für viele Zweige unseres Lebens gar nicht mehr richtig. Es ist vielen Menschen höchst gleichgültig, woran sie arbeiten, wie dasjenige, woran sie arbeiten, sich in den sozialen Zusammenhang hineinstellt. Sie interessieren sich nur, wieviel sie erwerben durch ihre Arbeit, das heißt, sie re­duzieren alles Interesse, das sie in der äußeren, materiellen Welt haben, auf jenes Interesse, das sie für die Geldmenge haben kön­nen, die ihnen von dieser äußeren Welt durch ihre besondere Kon­stellation, in der sie zu dieser äußeren Welt stehen, zukommen kann. Dieses Reduzieren auf das Erwerbsinteresse, nicht auf die Sache, die gemacht wird, das ist es, was im Grunde genommen unser ganzes Wirtschaftsleben vergiftet. Aber hier liegen auch die schweren Hindernisse des Verständnisses gegenüber dem Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus.

Wie gesagt, ich rede präliminarisch, aber ich möchte auf einzel­nes aphoristisch schon heute hinweisen. Es ist immer wieder und wieder erwähnt worden - diese Erwähnung ist ja auch richtig -, daß hingearbeitet werden müsse auf ein Wirtschaftsleben, das durch Assoziationsimpulse beherrscht wird. Assoziationen - ich habe eine merkwürdige Erfahrung gemacht. Ich habe von den Assoziationen einmal in einem Kreise von Proletariern in Stuttgart gesprochen. Die sagten mir: Wir haben von allem möglichen ge­hört, von Genossenschaften, von Trusts, von Kartellen, von Syndi­katen, aber was Assoziationen sein sollen, davon haben wir noch nichts gehört. - Man muß gerade das Neuartige dieses Begriffs ganz praktisch, namentlich vom Gesichtspunkt des Wirtschafts­lebens aus, ganz praktisch ins Auge fassen, ich möchte sagen ganz anschaulich erfassen können, wenn man sich in diesen Angelegen­heiten zurechtfinden will. Assoziationen sind keine Genossen­schaften, Assoziationen sind keine Kartelle, keine Syndikate; Asso­ziationen sind vor allen Dingen Vereinigungen, besser gesagt Ver­bindungen, die ganz nach einem bestimmten Ziele hinarbeiten. Welches kann dieses Ziel sein?

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Wir werden uns allmählich nähern einem praktischen Verständ­nis des Wirtschaftslebens: Welches kann dieses Ziel sein? Meine sehr verehrten Anwesenden, dieses Ziel kann nämlich kein anderes sein, als das Hinarbeiten nach einer ganz bestimmten Preisgestal­tung der einzelnen Waren. Man wird nicht früher richtig volks­wirtschaftlich denken können, bis man in der Lage ist, das Preis-problem so in den Mittelpunkt dieses volkswirtschaftlichen Den­kens zu rücken, wie das - vielleicht nicht immer pedantisch mit Theorien, wohl aber dem ganzen Geiste nach - das dritte Drittel meines Buches «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» tut.

Worauf kommt es denn beim Preisproblem an? Es kommt dar­auf an, daß tatsächlich jede Ware nur einen bestimmten Preis haben kann, höchstens sollten kleine Schwankungen nach oben und nach unten stattfinden. Jeder Ware entspricht ein bestimmter Preis, denn, meine sehr verehrten Anwesenden, der Preis einer Ware ist - sehen Sie jetzt vom Gelde ab, ich werde auch darüber übermor­gen sprechen -, der Preis einer Ware ist nichts anderes als dasjeni­ge, was ihren Wert darstellt im Vergleich zum Wert der anderen Waren, für die man als Mensch Bedürfnis hat. Der Preis drückt ein Verhältnis aus, zum Beispiel das Verhältnis zwischen dem Wert eines Rockes zu einem Laib Brot oder eines Stiefels zu einem Hute. Dieses Verhältnismäßige, das ist dasjenige, was zuletzt zum Preis-problem führt. Aber dieses Verhältnismäßige kann nicht durch irgendeine gewöhnliche Arithmetik gelöst werden, kann auch nicht gesetzmäßig festgelegt werden, von gar keiner Körperschaft, son­dern kann nur durch assoziative Arbeit errungen werden.

Was arbeitet denn in dem gegenwärtigen Wirtschaftsleben einer gesunden Preisbildung entgegen, und was ist zugleich dasjenige, was uns in solches wirtschaftliches Elend hineingeführt hat, wie wir es haben? Das ist, daß der Preis der Waren nicht aus dem Wirtschaftsleben heraus gebildet wird, sondern daß sich einschiebt zwischen die Gebrauchswaren - die Waren, die den Bedürfnissen entsprechen - etwas, was nicht Ware sein kann, was nur dazu die­nen kann, ein Ausgleichsmittel für die gegenseitigen Wertverhält­nisse der Ware zu sein: das Geld. Wie gesagt, wir wollen über alles

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das noch genauer sprechen, aber ich will jetzt einiges auch Allge­meines andeuten. Das Geld ist mit einem Warencharakter ausge­stattet, namentlich dadurch, daß jenes real unklare Verhältnis zwi­schen Papiergeld und Goldgeld eingetreten ist, das jetzt in seiner Kulmination ist. So wird es sogar möglich, daß man nun nicht bloß Waren austauscht und das Geld nur als Erleichterungsmittel dient für den Austausch in einem großen Gebiete mit reichlicher Ar­beitsteilung, Beschäftigungsteilung, sondern daß das Geld selber eine Ware geworden ist. Und das zeigt sich einfach darinnen, daß man mit Geld handeln kann, daß man Geld kaufen und verkaufen kann, daß sich der Geldwert ändert durch Spekulationen, ändert durch dasjenige, was man vollbringt auf dem Geldmarkt. Aber nun mischt sich hier etwas hinein, was durchaus ganz anschaulich zeigt, wie vom Einheitsstaate aus heute noch dasjenige zusammengehal­ten wird, was sich dreigliedern will. Das Geld, so wie wir es heute haben: es wird ja gewissermaßen sein Wert gesetzmäßig vom Staate aus festgelegt. Vom Staate geht der Impuls aus, der den Wert dieser «Ware» im wesentlichen bestimmt. Und durch dieses Zusammen­wirken von zwei Dingen, des Warenaustausches und der Festle­gung des Geldwertes von seiten des Staates, dadurch wird unser ganzes Wirtschaftsleben eben konfus gemacht, so daß es für den Menschen, der heute darinnensteht, überhaupt nicht mehr durch­schaubar ist.

Möchten sich doch die Leute, die im Wirtschaftsleben stehen, ehrlich eingestehen, daß auf der einen Seite irgendeine Geldmenge, die da zirkuliert, ein völliges wirtschaftliches Abstraktum ist - zir­kuliert wie der allerabstrakteste Begriff in unserem Denken -, daß auf der anderen Seite das mit dem menschlichen Wohl und Wehe so eng zusammenhängende Erzeugen, Austauschen und Konsu­mieren der Waren steht und daß gewissermaßen wie eine große Fälschung der gegenwärtige Geldwert alles übertönt, alles auslöscht, was an gegenseitiger Wertbestimmung der Waren gerade lebendig sein soll. Diese Dinge müssen aber eben auch nicht agita­torisch betrachtet werden, sondern sie müssen ganz nüchtern und sachlich, ganz objektiv betrachtet werden, sonst kommt man auch

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nicht zu Rande damit. Es ist ideell einmal so, daß zunächst ganz real jede Warengattung innerhalb des Wirtschaftslebens darauf an­gewiesen ist, einen ganz bestimmten Wert zu haben. Irgendeine Warengattung X muß in einem eindeutigen Verhältnis in bezug auf ihren Wert zu den anderen Warengattungen stehen.

Damit aber dieser Wert herauskommt, dazu sind verschiedene Dinge notwendig. Erstens ist dazu notwendig, daß die Kenntnisse vorhanden sind, die wirklichen technisch-universellen Kenntnisse, um für irgendein bestimmtes Zeitalter die betreffende Ware in best­möglichstem Zustande und auf rationelle Weise, das heißt mit Aufwendung der geringsten Arbeitskraft und ohne den Menschen zu schädigen, herstellen zu können. Und zweitens ist es notwendig, daß nicht mehr Menschen beschäftigt sind in dem [ganzen Produk­tionsprozeß], als beschäftigt sein müssen, damit gerade diese eine Ware nach ihren Herstellungskosten und so weiter den einen bestimmten Preis, den eindeutig bestimmten Preis bekommt. Sind zuviele Arbeiter beschäftigt in jener Richtung, die zu einer bestimmten Warengattung führt, so bekommt die Ware einen zu niedrigen Preis; sind zu wenig Arbeiter beschäftigt, so bekommt die Ware einen zu hohen Preis; und es ist daher notwendig, daß man durchschaut im Wirtschaftsleben, wie viele Menschen in einem bestimmten Gebiete der Warenerzeugung beschäftigt sein mussen.

Diese Kenntnis der Anzahl von beschäftigten Menschen, die für die Produktion einer bestimmten, für den Konsum gedachten Warengattung arbeiten, diese Kenntnis ist notwendig, um zum Kulminationspunkt des Wirtschaftslebens, dem Preisproblem, zu kommen. Das geschieht dadurch, daß man positiv arbeitet, indem man verhandelt im Wirtschaftsleben mit den Leuten, wie sie an ihre Plätze gestellt werden sollen. Das darf natürlich nicht pedantisch aufgefaßt werden und nicht bürokratisch aufgefaßt werden. Sie werden bemerken, daß die völlige, auch wirtschaftliche Freiheit gerade durch dasjenige dem Menschen gesichert wird, was «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» wollen. Da handelt es sich nicht um ein bürokratisches oder mechanistisches Leninisieren oder

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Trotzkiisieren, sondern da handelt es sich um ein Assoziieren, durch das auf der einen Seite gerade das industrielle Leben in der richtigen Art ins Auge gefaßt wird und durch das auf der anderen Seite die Freiheit des Menschen voll gewahrt wird. Sie sehen also, worauf es zuletzt ankommt. Wie sich dann aber das Geld hineinstellt: wir werden das noch übermorgen sehen.

Worauf es zunächst ankommt, das ist - trotzdem das Geld da dazwischentritt - der gegenseitige Wert der Ware, also der gegen­seitige Wert der menschlichen Arbeitsprodukte. Auf den kommt es an, und die Assoziationen müssen hinarbeiten, diesen Wert heraus­zubekommen durch dasjenige, was sie tun im Wirtschaftsleben, durch ihre Verhandlungen, durch ihre gegenseitigen Verträge und so weiter. Ja, wie kommen denn solche Verhandlungen zustande, die es mit dem gegenseitigen Warenwert zu tun haben? Niemals durch eine Organisation des Gleichen, durch eine Korporation des Gleichen, sondern das kommt lediglich durch Assoziationen zu­stande. Wie sollen Sie denn meinetwillen herausbekommen, wel­ches Verhältnis der Preis des Stiefels zum Preis des Hutes haben soll, wenn Sie nicht auf dem assoziativen Wege die Hutmacher mit den Schustern zusammenarbeiten lassen, wenn nicht Assoziierung stattfindet, wenn nicht Assoziationen gebildet werden? Assoziatio­nen innerhalb einer Branche gibt es nicht, denn das sind keine Assoziationen, sondern Assoziationen gehen von Branche zu Bran­che, gehen vor allen Dingen auch von den Produzenten zu den Konsumenten hin. Assoziationen sind das genaue Gegenteil von dem, was zum Trust, zum Syndikat und dergleichen hinführt. Wir werden dann noch sehen, wie auch gewisse Zusammenhänge zwi­schen den Unternehmern einer Warengattung notwendig sind; die haben dann aber eine ganz andere Funktion. Dasjenige aber, was die Entstehung - ich sage nicht Festsetzung, sondern Entstehung - des richtigen Preises ist, das kann nur durch ein assoziatives Leben sich entwickeln, das von Branche zu Branche geht; wenn die Asso­ziationen zusammenwirken mit ihren Erfahrungen, dann erst kann aus der Erfahrung heraus der richtige Preis festgelegt werden. Komplizierter wird das auch nicht sein als zum Beispiel das Leben

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in unseren Polizeistaaten oder in unseren Demokratien; es wird im Gegenteil - trotzdem es von Branche zu Branche geht - sich viel einfacher gestalten.

Nun muß man ja auch sich klar sein darüber, daß das Leben durchaus anders denkt, wenn ich mich so ausdrücken darf, als die Abstraktlinge denken, auch wenn sie Praktiker sind. Diese Ab­straktlinge werden vor allen Dingen denken: Also, es kommt ent­weder auf die Assoziationen der Produzenten [untereinander] oder auf die Assoziationen der Produzenten mit den Konsumenten an.

- Ja, aber, meine sehr verehrten Anwesenden, das ist ja bloß eine Zeitfrage. Denken Sie sich doch nur einmal (es wird an die Tafel gezeichnet), wenn Sie assozueren die Produzenten-Branche A mit irgendeiner Summe von Konsumenten B, diese mit der Produzen­ten-Branche C und diese wiederum irgendwie mit einer Summe von Konsumenten D - gut, dann entsteht eine Assoziation.

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Aber sie entsteht so dadurch, daß man zunächst nur auf den Produzenten gesehen hat oder nur auf den Konsumenten gesehen hat; aber der Konsument ist ja ein Produzent für einen anderen Artikel, wenn er nicht gerade ein Rentier oder ein Faulenzer ist. Es kommt ja gar nicht darauf an, daß Sie nach [abstrakten] Kategorien gehen; wenn Sie die Sache universeller denken und aus allen Zu­sammenhängen Assoziationen machen, so haben Sie auch die Kon­sumenten in den Zusammenhängen drinnen. Aber so, wie die Sa­chen heute praktisch liegen, so kann man gar nicht mit den Produ­zenten unter sich anfangen, da würden eben nur Trusts oder Kar­telle

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entstehen, die nur Unternehmerinteressen, ich will gar nicht einmal sagen nur haben wollen, sondern sogar nur haben können.

Heute handelt es sich darum, diese Assoziationen vor allen Din­gen nach dem Muster [zu bilden], das ich einmal als ein ganz pri­mitives Muster angeführt habe. Wir wollten einmal selbst einen Konsumzusammenhang für Brot in der Anthroposophischen Ge­sellschaft herstellen und den assoziieren mit einem Brotfabrikan­ten, so daß da ein Verhältnis [entstehen sollte] zwischen all dem, was in einer gewissen Beziehung bezahlen konnten die Anthropo­sophen, indem sie zu gleicher Zeit [selbst] irgend etwas [anderes] produzierten; und für den Gegenwert desjenigen, was sie produ­zierten, bekamen sie dasjenige, was der betreffende Bäcker produ­zierte. Also, es lief tatsächlich darauf hinaus, in dem gegenseitigen Geschäftsverkehr einzuwirken auf den Preis. Das wird das Wesen dieser Assoziationen sein, daß sie allmählich, indem sie wirklich richtig funktionieren, nach dem richtigen, volkswirtschaftlich gerechtfertigten Preis hintendieren.

Wenn Sie so etwas richtig bedenken, dann werden Sie sehen, daß das der praktischen Erfahrung, insofern man sie in dem heutigen perversen Wirtschaftsleben überhaupt noch machen kann, durch­aus nicht widerspricht. Denn, nehmen Sie die allereinfachste Wirt­schaft: Derjenige, der in der allereinfachsten Wirtschaft zu wirt­schaften versteht, bei dem kommt es schließlich zuletzt auch darauf an, die richtigen Preise herauszufinden, und er entwickelt eben aus seinen Bedingungen heraus die richtigen Preise. Er bestimmt aus zwei konkreten Komponenten zusammen die richtigen Preise: er­stens aus dem, was er gerne hätte für seine Produkte, und zweitens aus dem, was er kriegt; das heißt, er geht schon, wenn es noch so unbestimmt ist, eine Assoziation mit den Konsumenten ein. Die ist immer da, auch wenn sie nicht äußerlich geschlossen ist. Nur ist unser Leben so kompliziert geworden, daß wir diese Dinge eben zur vollen Bewußtheit und zum äußeren Ausgestalten bringen müssen. Wenn man nicht sich hineindenkt in diese Dinge, dann kommt immer etwas von Utopistischem heraus. Notwendig wäre es aber vor allen Dingen, daß zusammengetragen würden die Erfahrungen,

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die vor allen Dingen mit der Produktion und Konsum­tion zusammenhängen. Und brauchen würden wir in denjenigen Kreisen, die mit uns zusammenarbeiten, vor allen Dingen Prak. tiker, welche die Erfahrungen des Lebens gewissermaßen zusam­menschweißen könnten zu einer Erfahrungswissenschaft über das Wirtschaftsleben, so daß - und das könnte durchaus sein - am Ursprung von der Erfahrung ausgegangen würde.

Aber heute, meine sehr verehrten Anwesenden, können Sie bei den Volkswirtschaftern etwa in folgendem Stil lesen: Da wird für irgendein Territorium, sagen wir für Deutschland, ausgerechnet, wieviel vom gesamten Vermögen, oder sagen wir, von den gesam­ten Jahreseinnahmen, die in diesem Territorium gemacht werden, die Unternehmergewinne ausmachen, wieviel die Beträge ausma­chen, die für den Zwischenhandel im weitesten Stile verwendet werden müssen, und man rechnet das in Geld, nach Mark aus. Und diejenigen, die als Volkswirtschafter über diese Dinge reden, sie reduzieren in der Regel alles auf das abstrakte Geldverhältnis. Dadurch bekommt man aber keinen Einblick in den wirklichen Gang der wirtschaftlichen Verhältnisse. Einen Einblick würde man nur bekommen, wenn man von denjenigen, die im Wirtschaftsle­ben drinnenstehen, hören würde, wie im Zwischenhandel gearbei­let wird. Man würde da zum Beispiel geschildert bekommen mus­sen, wie gerade in dem Zwischenhandel lebensgescheiterte Existen­zen unterkriechen. Und man würde zum Beispiel auch die interes­sante Tatsache erfahren, daß in einem geschlossenen Wirtschaftsge­biet ungefähr ebensoviel Unternehmergewinn eingeheimst wird als unnötige Warenvorräte auf den Markt gebracht werden. Ganz kurioserweise geschieht das, daß die Zahl, welche für irgendein Territorium als die Summe der Unternehmergewinne angegeben wird, ungefähr dem marktmäßig feststehenden Preise derjenigen Waren entspricht, welche unnötig auf dem Markt als vorrätig figu­rieren, welche nicht verkauft werden. Sie sehen da einen Zusam­menhang, den man schauen kann, zusammenschauen kann, der aber erst interessant beleuchtet werden würde, wenn die Praktiker, die eigentlich im Grunde genommen nichts verstehen von der

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wirklichen Praxis, wenn diese Praktiker kommen würden und würden einem einmal zeigen, wie die Dinge wirklich bei ihnen laufen, damit gerade das herauskommt, wie die Zusammenhänge sind zwischen dem, was auf dem Markt gearbeitet und nicht ver­kauft wird, und dem Unternehmergewinn, der nun von überschüs­siger Arbeit herauskommt, den reinen Kapitalprofit meine ich.

Es ist ganz selbstverständlich, daß Leute, die keine Ahnung davon haben, wie solche Zusammenhänge im Wirtschaftsleben sind, heute auch nicht in der Lage sind, über die eigentliche Zusam­mensetzung von Assoziationen zu sprechen. Denn was haben diese Assoziationen für eine Aufgabe? Sie haben die Aufgabe, gerade diejenigen Erkenntnisse, die da noch fehlen, dazu zu gebrauchen, um zuletzt zu dem wirtschaftlich gerechtfertigten Preise zu kom­men. Wenn Assoziation und Assoziation ihre Erfahrungen austau­schen, wenn diese Erfahrungen, statt daß gerechnet wird, lebendig ausgetauscht werden, so läßt sich zuletzt das Preisproblem einfach praktisch lösen. Es gibt keine Theorie, um das Preisproblem zu lösen. Man kann es nicht formulieren, sondern man kann nur dann, wenn man ausgeht von irgendeiner Ware und wirklich im Leben erlebt, welche Waren mit dieser Ware ausgetauscht werden, man kann nur dann praktisch bestimmen, wieviel diese Ware kosten muß, aber praktisch mit fast vollständiger Genauigkeit. Das kann nicht mit Zahlen gemacht werden, das muß dadurch gemacht wer­den, daß eine Gruppe von Menschen, die Erfahrungen hat mit einer Branche, eine andere Gruppe, die Erfahrungen gemacht hat mit einer anderen Branche, eine dritte mit einer dritten Branche und so weiter, daß diese Gruppen ihre Erfahrungen zusammenlaufen las­sen. Die Sache ist nicht so kompliziert, wie man sie sich vielleicht heute vorstellt; und Sie können ganz sicher sein, so viele Menschen, wie gewisse Staaten für ihren Militarismus gebraucht haben und für ihr Polizeiwesen, so viele Menschen wird man nicht brauchen, um die Assoziationen wirklich in dieser Weise auf die Beine zu stellen, daß sie das Preisproblem lösen können. Und das ist das Wichtigste im Wirtschaftsleben. Dann hat jeder in einem gewissen Sinne ein Normativ; er sieht an dem Preis, wieviel er notwendig hat zu arbeiten.

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Man braucht gar nicht darüber nachzudenken, wie man den Menschen zur Arbeit bringen will, denn er sieht aus dem, was da preisbestimmend ist, wieviel er zu arbeiten hat; er wird sich danach richten können, und er wird unterhandeln können auf einem ganz anderen Boden über das Maß seiner Arbeit, über die Zeit seiner Arbeit und so weiter, mit den anderen Menschen, auf Gegenseitigkeit.

Ich möchte heute nur noch dieses sagen: Was ist also im Wirt­schaftsleben das Wesentliche? Der Warenpreis. Gehen Sie aus dem Wirtschaftsleben heraus, im Sinne der «Kernpunkte der sozialen Frage», dann finden Sie auch, was im Staatsleben das Wichtigste ist - aber allerdings an ein lebendiges Staatsleben müssen wir da den­ken. Im Staatsleben ist das Wichtigste die durch demokratisches Zusammenleben feststellbaren Rechte und Pflichten, die sich die Menschen gegenseitig festsetzen. Daran muß man denken, wie im Wirtschaftsleben Erfahrungen zusammengetragen werden durch die Tätigkeit der Assoziationen, um zuletzt zu dem das Wirt­schaftsleben beherrschenden Warenpreis zu kommen; daran muß man denken, wie alles dasjenige, was nicht nach dieser Preisfeststel­lung hintendiert, herausgenommen werden muß aus dem Wirt­schaftsleben. Demokratischer Zustand im Staatsleben oder, wenn es sich um das Geistesleben handelt, freies Hineinstellen des geisti­gen Gliedes in den sozialen Organismus; im Geistesleben ist es das Vertrauen, welches die Konstitution begründet, im Staatsleben der gefühlsmäßige Sinn für Rechte und Pflichten. Das Assoziative ar­beitet nach dem richtigen Preise hin. Das Wirtschaftsleben benötigt Vertrauen als Kraft des Geisteslebens, benötigt Gefühl für Recht und Pflicht. Mit diesem Rhythmus von Recht und Pflicht, da haben wir ein Zweifaches, wie wir im Menschenleben Ausatmung und Einatmung haben. Das ist dasjenige, was im Staatsleben zu pul­sieren hat, und Vertrauen ist dasjenige, was im Geistesleben zu pulsieren hat.

Bei den Fragen - wie gesagt, ich habe heute nur den allgemei­nen Eindruck aus den verschiedenen Fragen genommen -, da ist zum Beispiel etwas, was in bezug auf solch einen allgemeinen Eindruck

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in Frage kommt: es ist die Frage, wie denn dieses Geistes­leben nun eigentlich wirken soll auf die anderen beiden Glieder des sozialen Organismus, wie es in sich selbst konstituiert sein soll. Aber darüber wollen wir übermorgen noch sprechen. Aber lassen Sie nur einmal durch Ihre Seele ziehen - empfindungsgemäß und unbefangen, nicht beeinflußt von dem, was schon da ist und im­merfort von der Staatsseite her in das Geistesleben hineingetragen worden ist -, lassen Sie durch Ihre Seele ziehen das, was das auf sich selbst gestellte Geistesleben ist. Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, ich denke, darin werden Sie mich eigentlich alle recht gut verstehen können: Wenn das Geistesleben erst frei ist, dann wird im Geistesleben zuallernächst die Tüchtigkeit wirken, die durch das Vertrauen erkannt wird, getragen wird; diese Tüchtigkeit wird wirken, und sie wird in demselben Maße wirken, in dem die­ses Geistesleben vom Staate emanzipiert wird. Und bei all denjeni­gen «Zöpfen», die nichts wissen wollten von unserem Kulturrat, da konnte man recht gut merken - ich habe das schon von einer an­deren Seite her angedeutet -: Wenn es auf die durch das Vertrauen getragene Tüchtigkeit ankommen sollte, nicht auf die vom Staate abgestempelte Tüchtigkeit, dann würden sie sehr bald nicht mehr auf ihren kurulischen Stühlen sitzen. Das ist dasjenige, was nach allen Seiten die Leute so schnell hat verduften lassen vor unserem Kulturrats-Aufruf, daß noch - bildlich vorgestellt - die Frack- und Rockschöße weit, weit im Winde geflogen sind von der Schnellig­keit, mit der sie Reißaus genommen haben, als wir sie aufforderten zu einem freien Geistesleben.

Nun, ich wollte heute, meine sehr verehrten Anwesenden, eben präliminarisch über einiges sprechen, was uns dazu führen kann, in Anlehnung an die gestellten Fragen auf einzelnes einzugehen. Ich möchte vor allen Dingen, weil ich sehe, daß ja ein dringendes Be­dürfnis danach ist, auf die konkrete Fragestellung in bezug auf die Gestaltung der einzelnen Glieder des sozialen Organismus und auf ihr Zusammenwirken eingehen. Aber ich möchte verstanden wer­den, und zu diesem Zweck möchte ich eben durchaus die Fragen richtig für den nächsten Dienstag studieren und verarbeiten. Das

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aber werden Sie sowohl aus dem Studium der «Kernpunkte der sozialen Frage» wie auch aus allem ersehen, was ich sonst in An­lehnung an diese Richtung unserer geisteswissenschaftlichen Tätig­keit gesagt habe: daß es sich wahrhaftig nicht um etwas Utopisti­sches handelt. Das gibt mir aber vielleicht auch in gewissem Sinne ein Recht darauf zu sagen, daß man nicht dasjenige, was mit den «Kernpunkten der sozialen Frage» gemeint wird, ins Utopistische umsetzen sollte. Ich höre dieses Utopistische aus vielen Redens­arten heraus, die mir entgegengebracht werden, zum Beispiel, wenn einer kommt und fragt: Wenn wir die Dreigliederung des sozialen Organismus haben werden, wie wird es denn mit dem und dem sein? - So denkt eben gerade der Utopist. Der Praktiker aber denkt vor allen Dingen daran, daß irgend etwas Positives eingerichtet werde. Es kommt wahrhaftig nicht darauf an, was geschehen soll mit dem Bankier A, mit der Modistin F, mit der Nähmaschinenbe­sitzerin C - alle diese Fragen werden ja aufgeworfen -, sondern es kommt auf etwas wesentlich anderes an. Es kommt darauf an, daß Dinge unternommen werden, welche in der Richtung irgendeiner der drei Impulse für die Dreigliederung des sozialen Organismus liegen.

Es kommt darauf an, daß irgendwie mit Assoziationen begon­nen werde. Es muß gezeigt werden, wie weder die Produktivgenos­senschaften noch auch die Konsumgenossenschaften für die Zu­kunft gedeihlich wirken können. Es muß abgesehen werden von den Produktivgenossenschaften, weil diese gerade in der Erfahrung gezeigt haben, daß sich die Menschen mit wirklicher persönlicher Initiative doch nicht ihnen widmen, es auch gar nicht können. Es muß aber auch abgesehen werden von den Konsumgenossenschaf­ten, obwohl die noch die allerbesten sind, namentlich dann, wenn sie zum Selbstproduzieren übergehen; aber sie können doch nicht das notwendige Ziel für die Zukunft erreichen, aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht durch Assoziation desjenigen, was da ist, entstehen, sondern weil sie doch wiederum innerhalb des ganz gewöhnlichen Kapitalismus drinnenstehen - wenigstens von einer Ecke her, indem sie zunächst nur einseitig den Konsum organisieren

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und die Produktion eigentlich nur der Konsumorganisation eingliedern, wenn sie es uberhaupt tun. Noch weniger für einen wirklichen Fortschritt zeugen solche Genossenschaften wie etwa die Rohstoffgenossenschaft und so weiter; solche Genossenschaf­ten haben überhaupt keinen Sinn für assoziatives Leben, sondern sie laufen eigentlich nur darauf hinaus, ganz in einem Partialgebiet des Wirtschaftslebens, in einer beliebigen Ecke etwas zu machen, während gerade die Rohstoff-Frage eng zusammenhängt mit der Konsumtionsfrage. Man möchte sagen, aber das ist jetzt etwas bildlich gesprochen: Das meiste Interesse innerhalb des ganzen Wirtschaftslebens für die Arbeiten der Tabakrohstoffbereitung in Tabaksgegenden müßten eigentlich die Raucher haben. Nun möch­te ich einmal wissen, wie heute in unserer dekadenten, perversen Wirtschaft zusammenhängt das Interesse, das der Raucher hat an der Rohstoff-Frage, an der Rohstoffwirtschaft, mit dem Produkt, das er zuletzt in die Luft verdampft; er rechnet ja nur mit der alleräußersten Peripherie. Ich habe nur ein Beispiel herausgewählt, das schon etwas komisch wirkt, weil es so weit ab ist; bei anderen Beispielen ist der Zusammenhang viel mehr zu bemerken. Der notwendige assoziative Zusammenhang gerade zwischen der Rohstoffbeschaffung und dem Konsum, er wird ja heute gar nicht bemerkt.

Es ist eben so, daß dieses von der Wirklichkeit abgezogene Denken immer dasjenige in ein Theoretisches übersetzt, was eigentlich praktisch gedacht ist in den «Kernpunkten». Und am meisten Theorie, am meisten bloße Geschäftsmystik, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, habe ich dann gefunden, wenn die heu­tigen Praktiker das Praktisch-Gedachte der «Kernpunkte» in ihre Sprache übersetzen, denn sie denken in der Regel nur aus einer ganz winzigen Ecke heraus; und alles dasjenige, was draußen ist, außerhalb dieser Ecke, die sie als Routiniers beherrschen, das ver­schwimmt für sie in einer nebulösen Geschäftsmystik. Das ist aber gerade gegen das assoziative Prinzip. Das assoziative Prinzip muß daraufhin arbeiten, daß der Wert der Waren durch ihr gegenseitiges Verhältnis bestimmt werde. Das kann aber nur dann geschehen,

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wenn sich verschiedenste Branchen assoziieren, denn soviel Bran­chen in irgendeiner direkten oder indirekten assoziativen Verbin­dung stehen, soviel Branchen tendieren dahin, den wirtschaftsge­mäßen Preis der Waren durch ihre Tätigkeit herauszukriegen, der notwendig ist. Man kann nicht den Preis errechnen, aber man kann Wirtschaftsbranchen assoziativ zusammenschließen, und wenn die­se sich so zusammenschließen, daß bei diesem Zusammenschließen herauskommt die Menge der Leute, die beschäftigt sein müssen in jeder einzelnen Branche nach der Gesamtwirtschaft, nach Produk­tion und Konsumtion, dann kommt das ganz von selbst heraus: Du gibst mir deine Stiefel für soundso viel Hüte, die ich dir gebe. - Das Geld ist dann nur der Vermittler. Aber hinter dem, was durch das Geld vermittelt wird, steht doch - wenn auch noch so viel Geld sich einschiebt als Zwischenprodukt -, steht doch das, wie der Stie­felwert den Hutwert, wie der Brotwert den Butterwert und so weiter bestimmt. Das aber kommt nur heraus, indem sich Branche an Branche abschleift im assoziativen Leben. Zu glauben, daß man Assoziationen gründen kann bloß zwischen Produzenten einer Branche - das assoziiert sich nicht. Was das bedeutet, werden wir noch das nächste Mal, übermorgen, sehen. Assoziation ist der Zusammenschluß, das Vereinigen, damit dieses Vereinigen jenen gemeinsamen Exponenten erzeugen kann, der sich dann im Preis auslebt. Das ist lebendiges Entfalten des Wirtschaftslebens, und nur so kommt dieses Wirtschaftsleben an eine richtige Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse heran. Das kann nur geschehen, wenn Menschen sich mit vollem Interesse in das Wirtschaftsleben hinein­stellen, nicht nur fragen: Was sind die Interessen meiner Branche? Was erwerbe ich in meiner Branche? Wie beschäftige ich die Leute in meiner Branche? - Das kann nur geschehen, wenn die Menschen sich darum kümmern: Wie muß meine Branche zu den anderen Branchen stehen, damit die gegenseitigen Warenwerte in der rich­tigen Weise bestimmt werden?

Sie sehen, meine sehr verehrten Anwesenden, vor allen Dingen ist es keine Phrase, wenn ich sage, es handelt sich um eine Um­anderung der Denkweise. Wer heute glaubt, daß er mit dem Fortsprudeln

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in der alten Denkweise es weiter bringen kann, der bringt die Menschen nur weiter in die Dekadenz hinein. Wir müssen heute daran glauben, das wir gerade im Wirtschaftsleben am allermeisten wirklich umlernen müssen.

Davon also dann übermorgen.

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ZWEITER FRAGEABEND, Dornach, 12. Oktober 1920 anläßlich des ersten anthroposophischen Hochschulkurses Fragen zum Wirtschaftsleben II

Roman Boos: Es ist mitzuteilen, daß dem heutigen Vortrag eine Diskus­sion folgen wird, und weiter wird es notwendig sein, nach diesem Vortrag im engsten Kreise noch eine Besprechung zu haben über konkrete wirt­schaftliche Fragen.

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Es ist ja be­reits gesagt worden vorgestern, daß diese beiden Vorträge oder Be­sprechungen, Sonntag und heute, im wesentlichen auf Wunsch ein­zelner Kreise erfolgen und daß es sich im wesentlichen darum han­deln wird, einiges zu sagen in Anknüpfung an bestimmte Fragen und Wünsche, die geäußert worden sind. Ich werde daher heute, nachdem ich am Sonntag einiges Präliminarische angegeben habe, ganz konkret auf diejenigen Fragen und Wünsche eingehen, welche vorgebracht worden sind. Da handelt es sich zunächst vor allen Dingen darum, daß ja das Problem des Assoziationswesens im Wirtschaftsleben vielen Köpfen etwas Kopfzerbrechen zu machen scheint. Ich möchte zunächst im allgemeinen etwas darüber sagen.

Sehen Sie, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn man prak­tisch denkt, dann handelt es sich ja immer darum, die allernächsten Verhältnisse ins Auge zu fassen und den Angriffspunkt seines Handelns aus diesen allernächsten Verhältnissen heraus zu neh­men. Bedenken Sie nur einmal, wie wenig fruchtbar es eigentlich ist, wenn Sie sich heute gegenüber den Situationen, denen wir eben gegenüberstehen, alle möglichen schönen, theoretischen Bilder aus­gestalten über diese und jene Assoziation und über alles dasjenige, was etwa in solchen Assoziationen geschehen soll und unterlassen werden soll. Man kann ja, wenn man lange über solche Dinge dis­kutiert hat und allerlei schöne, utopische Dinge herausgestaltet hat,

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man kann ja dann getrost nach Hause gehen und glauben, man habe viel getan zur Lösung der Sozialen Frage; aber man hat ei­gentlich dadurch nicht viel getan. Es handelt sich darum, daß man wirklich zunächst eingreift in dasjenige, was unmittelbar da ist. Wir stehen ja konkreten Verhältnissen des Wirtschaftslebens gegenüber, und wir müssen uns fragen: Welches sind die notwendigsten Dinge, die zu tun sind? - Und dann müssen wir versuchen, die Möglich­keit herbeizuführen, in diese allerwichtigsten Dinge einzugreifen. Dann wird es mit dem Vorwärtsgehen - das ja durch die Verhält­nisse bedingt wirklich ein sehr rasches wird sein müssen, wenn es nicht zu spät werden soll -, dann wird es mit dem Vorwärtsgehen viel besser sein, als wenn wir in utopistischer Weise allerlei Dinge aushecken oder Fragen, die nicht minder utopistisch sind, aufstel­len. Allerdings, wir müssen bis zu einem gewissen Grade auch ein­sehen, aus welchen Untergründen heraus die großen Schäden der Gegenwart kommen. Und dann werden wir aus einem gewissen Überblick über die Entstehung dieser Schäden vielleicht eher die Begeisterung aufbringen für dasjenige, was das nächstnotwendige ist, als durch allerlei utopistische Phrasen. Und da bin ich nun dabei, an eine der Fragen sogleich anknüpfen zu können, die übri­gens unter den 39 Fragen wiederholt vorkommt - es ist die Frage:

Wie ist dasjenige, was wir den Impuls der Dreigliederung nennen, nicht nur hineinzutragen in die Landbevölkerung, sondern wie ist speziell über das Landwirtschaftliche als solches im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus zu denken?

Nun, es wii d keiner zurechtkommen mit diesem Denken, der nicht den radikalen Unterschied in der ganzen Produktionsweise, in allen Wirtschaftszusammenhängen zwischen der Landwirtschaft und dem Industriebetrieb durchschaut. Es ist notwendig, daß man das durchschaut aus dem Grunde, weil wir ja, bevor die Welt­kriegskatastrophe hereingebrochen ist, in einem ganz materialisti­schen, ganz kapitalistischen Denken drinnensteckten - es war so­zusagen internationales kapitalistisches Denken und Handeln - und weil gerade ein Fortgehen in der Richtung, die durch den

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Kapitalismus bedingt ist und die der Kapitalismus weiterverfolgen wird, weil gerade darin ein immer weitergehendes Auseinanderge­hen des Landwirtschafts- und des Industriebetriebes sich heraus­stellen muß. Die Landwirtschaft ist, ihrer ganzen Artung nach, durch das, was sie ist, in die Unmöglichkeit versetzt, die kapitali­stische Wirtschaftsordnung bis zum letzten mitzumachen. Mißver­stehen Sie mich nicht, ich behaupte damit nicht, daß die Landwirt­schaft, wenn kapitalistisches Denken allgemein würde, nicht auch das kapitalistische Denken mitmachen würde; wir haben ja gese­hen, in welch hohem Grade die Landwirtschaft das kapitalistische Denken und Handeln mitgemacht hat. Aber sie würde ihrem We­sen nach zugrundegerichtet, und sie würde nicht mehr in der ent­sprechenden Weise eingreifen können in den ganzen Wirtschafts-betrieb. Dasjenige, was im Wirtschaftsleben in eminentester Weise geeignet ist, nicht nur kapitalistisch sich zu entwickeln, sondern was dazu neigt, geradezu zum Überkapitalismus zu führen - ge­statten Sie, daß ich dieses Wort gebrauche, man wird es in der Gegenwart schon verstehen -, das heißt also, eine völlige Gleich­gültigkeit gegenüber der Arbeitsweise, sogar dem Arbeitsprodukt gegenüber anzunehmen, und dem es bloß darauf ankommt, etwas zu erwerben: das ist eben schon die Industrie; die Industrie trägt ganz andere Wirkenskräfte in sich als die Landwirtschaft. Das sieht nur derjenige ein, der eine zeitlang nun wirklich sich angesehen hat, wie in der Landwirtschaft es ganz unmöglich ist, so zum kapitali­stischen Großbetrieb überzugehen, wie das in der Industrie der Fall ist. Wenn die Landwirtschaft tatsächlich richtig eingreifen soll in das gesamte Wirtschaftsleben, dann ist - bedingt einfach durch dasjenige, was in der Landwirtschaft zu geschehen hat -, dann ist nun einmal notwendig ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Menschen und der ganzen Produktion, der Artung der Produktion, also all demjenigen, was in der Landwirtschaft produziert werden soll. Und ein großer Teil desjenigen, womit man produzieren muß, erfordert, wenn richtig rationell produziert werden soll, das inten­sivste Interesse derjenigen, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind. Da ist es ganz unmöglich, daß innerhalb der Landwirtschaft

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selbst so etwas auftaucht wie jene Absurdität - es ist eine Absur­dität, die ich gleich schildern werde -, jene Absurdität, die zum Beispiel einem immer entgegengehalten wurde, wenn man mit dem Proletariat zu diskutieren hatte in den letzten Jahrzehnten. Sehen Sie, die Absurdität, die ich meine, das ist die folgende.

Ich habe ja schon öfter erzählt: Ich war Jahre hindurch Lehrer an einer Arbeiterbildungsschule. Das hat mich zusammengeführt mit den Leuten des Proletariats, ich hatte Gelegenheit, mit ihnen viel zu diskutieren, auch durchaus alles kennenzulernen, was da an seelisch wirksamen Kräften vorhanden ist. Aber gewisse Dinge leb­ten, hervorgebracht durch die ganze Entwicklung der neueren Zeit, einfach als eine Absurdität gerade innerhalb der proletarischen Bestrebungen. Nehmen Sie einmal an, daß ja die Abgeordneten der Proletarier in der Regel das Heeresbudget abgelehnt haben. Aber in dem Augenblicke, wo man nun den Proletariern in der Diskussion vorgehalten hat: Ja, ihr seid gegen das Heeresbudget, aber ihr laßt euch doch bei den Kanonenfabrikanten anstellen oder einstellen als Arbeiter; ihr fabriziert doch ganz mit derselben Seelenverfassung wie irgendwo anders -, da verstanden sie das nicht, denn das ging sie nichts an. Die Qualität desjenigen, was sie fabrizierten, ging sie nichts an; es interessierte sie nur die Lohnhöhe. Und so entstand die Absurdität, daß sie auf der einen Seite Kanonen fabrizierten, daß sie niemals irgendwo streikten wegen der Qualität des zu Erzeugenden, sondern höchstens wegen des Lohnes oder wegen irgendwas anderem, aber auf der anderen Seite aus einer abstrakten Parteirichtung heraus doch das Heeresbudget bekämpften. Die Bekämpfung des Heeresbudgets hätte natürlich - wie man sonst die Gesetze des Dreiecks zugibt - notwendig dazu führen müssen, keine Kanonen zu fabrizieren. Und wenn man das durchgeführt hätte zum Beispiel im Beginn des Jahrhunderts, wäre manches zu vermeiden gewesen, was dann vom Jahre 1914 an eingetreten war. Da haben Sie, ganz gleichgültig, ob es Kapitalisten oder Proletarier sind, die an irgendeiner Produktion sich beteiligen, da haben sie die absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Qualitativen dessen, wor­an man arbeitet; davon hängt aber die ganze Gestaltung der Industrie

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ab. Das ist in der Landwirtschaft so nicht möglich; das würde in der Landwirtschaft einfach nicht gehen, wenn in dieser Weise Gleichgültigkeit gegenüber demjenigen eintreten würde, was gear­beitet wird. Und da, wo diese Gleichgültigkeit eingetreten ist, wo die Landwirtschaft, ich möchte sagen angesteckt worden ist von der industriellen Denkweise, da verkümmert sie eben. Sie verküm­mert in der Weise, daß sie sich falsch hineinstellt allmählich in das ganze Wirtschaftsleben.

Was geschieht denn da eigentlich? Da geschieht eigentlich mit dem, was ich genannt habe die Urzelle des Wirtschaftslebens, das folgende: Indem auf der einen Seite die Landwirtschaft steht, auf der anderen Seite die Industrie steht und indem die Landwirtschaft ihrem Wesen nach sich fortwährend sträubt gegen die Kapitalisie­rung, die Industrie dagegen zur Überkapitalisierung strebt, da ge­schieht eine völlige Fälschung, eine reale Fälschung der wirtschaft­lichen Urzelle. Weil nun aber doch die Produkte ausgetauscht werden müssen - denn selbstverständlich müssen die Industrie­arbeiter essen und die landwirtschaftlichen Arbeiter müssen sich kleiden oder müssen sonst irgendwie Konsumenten der Industrie sein -, weil also die Produkte ausgetauscht werden müssen, ent­steht ganz radikal in dem Austausch der landwirtschaftlichen Pro­dukte und der Industrieprodukte eine Fälschung. Diese wirtschaft­liche Urzelle, die besteht einfach darin, daß in einem gesunden Wirtschaftsleben jeder für ein von ihm hergestelltes Produkt so viel erhalten muß - wenn man alles übrige einrechnet, was er zu erhal­ten hat, was gewissermaßen die Auslagen sind und so weiter -, so viel erhalten muß, wie er nötig hat zur Befriedigung seiner Bedürf­nisse bis zur Herstellung eines gleichen Produktes. Ich habe es oftmals dadurch angedeutet, daß ich trivial sagte: Es muß ein paar Stiefel so viel Wert haben, wie alle anderen Produkte - seien es physische oder geistige Produkte -, die der Schuster nötig hat, die er überhaupt braucht, bis er wieder ein neues Paar Stiefel herge­stellt hat. Ein Wirtschaftsleben, welches nicht durch irgendeine Rechenoperation etwa den Preis der Stiefel feststellt, sondern das dahin tendiert, daß dieser Preis von selbst herauskommt, ein solches

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Wirtschaftsleben ist gesund. Und dann, wenn das Wirtschafts­leben durch seine Assoziationen, durch seine Zusammenschließun­gen, wie ich sie vorgestern charakterisiert habe, wirklich gesund ist, dann kann sich auch das Geld einschieben dazwischen, dann braucht man keine anderen Tauschmittel, dann kann sich selbstver­ständlich das Geld einschieben, denn das Geld wird dann ganz von selbst der richtige Repräsentant zwischen den einzelnen Produk­ten. Aber indem in der neueren Zeit auf der einen Seite die Land­wirtschaft durch ihr inneres Wesen immer mehr und mehr sich sträubte gegen die Kapitalisierung - sie wurde ja kapitalisiert, aber sie sträubte sich dagegen, das war eben gerade das Korrumpierende - und auf der anderen Seite die Industrie in den Überkapitalismus hineinstrebte, wurde es gar nie möglich, daß irgendein Produkt der Landwirtschaft sich so gestaltete seiner Preislage nach, daß es einem Industrieprodukt entsprochen hätte in der Weise, wie ich eben die wirtschaftliche Urzelle charakterisiert habe. Vielmehr stellte sich immer mehr heraus, daß beim Industrieprodukt eine andere Preislage herauskam, als hätte herauskommen sollen. Durch diese Preislage des Industrieproduktes wurde das Geld, das nun eine Selbständigkeit erhielt, zu billig, wodurch das ganze Verhältnis gestört wurde zwischen dem, was von der Landwirtschaft an den Industriearbeiter und wiederum vom Industriearbeiter in die Land­wirtschaft herüberkommen sollte.

Daher ist das erste, daß hintendiert werde auf Assoziationen, die sich bilden gerade aus der Landwirtschaft heraus mit verschiedenen Zweigen der Industrie. Gewiß, daß ist der erste, ich möchte sagen abstrakteste Grundsatz, daß die Assoziationen in der Zusammengliederung der verschiedenen Branchen bestehen. Diese Assoziatio­nen werden aber am allergünstigsten wirken, wenn sie sich bilden zwischen der Landwirtschaft und der Industrie, und zwar so sich bilden, daß nun wirklich dadurch, daß solche Assoziationen zu­standekommen, hingearbeitet wird nach einer entsprechenden Preislage. Nun können Sie aber in Assoziationen, die natürlich erst geschaffen werden müßten, zunächst nicht viel tun - dies würde sich gleich herausstellen. Wenn Assoziationen so geschaffen werden

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könnten, daß Industriebetriebe zusammengegliedert würden mit Landwirtschaftsbetrieben, und wenn die Sache so gescheit ge­macht würde, daß diese sich gegenseitig versorgen könnten, dann würde sich sogleich einiges herausstellen - ich werde gleich nach­her die Bedingungen anführen, unter denen das geschehen kann; einiges kann natürlich sofort gemacht werden.

Aber was ist dazu zuerst notwendig? Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, dazu ist zuerst notwendig, daß man überhaupt in der Lage sei, so etwas wirklich vernunft- und sinngemäß zu begründen. Nehmen Sie einmal ein konkretes Beispiel. In Stuttgart ist «Der Kommende Tag» gegründet worden. Der Kommende Tag geht natürlich seiner Idee nach aus von dem, was durch die Prinzipien, durch die Impulse der Dreigliederung gegeben werden soll. Er würde also - ebenso wie das «Futurum» hier, - er würde in erster Linie die Aufgabe haben, das assoziative Prinzip zwischen der Landwirtschaft und der Industrie herbeizuführen, und zwar bis zu dem Grade herbeizuführen, daß durch die Assoziation der gegen­seitigen Bezieher wirklich auf die Preislage [Einfluß genommen wird], indem die einen, die Konsumenten sind von den einen Ge­bieten, Produzenten werden auf den anderen Gebieten. Es würde sich auf diese Weise schon in verhältnismäßig kurzer Zeit sehr viel leisten lassen in der Herstellung eines wirklich richtigen Preises. Aber nehmen Sie den Kommenden Tag in Stuttgart: Es ist ganz unmöglich, jetzt schon vernünftig zu wirken, aus dem einfachen Grunde, weil Sie ja nicht in unabhängiger Weise alle Güter erwer­ben können, weil sie überall mit der heutigen korrumpierten Staatsgesetzgebung zusammenstoßen. Nirgends ist man in der Lage, überhaupt dasjenige herzustellen, was wirtschaftlich notwen­dig ist, weil überall der Staatsimpuls dagegen ist. Daher ist das erste, daß man begreift, daß zunächst starke Assoziationen entste­hen müssen, die so populär sind, wie es nur möglich ist, und die in den weitesten Kreisen das Eingreifen des Staates auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens durchgreifend verhindern können. Vor allen Dingen muß jede wirtschaftliche Aktion aus bloß wirtschaftlichen Erwägungen heraus erfolgen können.

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Nun steckt so stark in unserer gegenwärtigen Menschheit das Staatsdenken, daß die Leute es gar nicht bemerken, wie sie im Grunde genommen uberall nach dem Staate hintendieren. Ich habe das wiederholt seit Jahrzehnten dadurch charakterisiert, daß ich sagte: Die größte Sehnsucht des modernen Menschen besteht eigentlich darinnen, nur so durch die Welt zu gehen, daß er auf der rechten Seite einen Polizeisoldaten und auf der linken Seite einen Arzt hat. - Das ist eigentlich das Ideal des modernen Menschen, daß ihm der Staat beide zur Verfügung stellt. Sich auf seine eigenen Füße zu stellen, das ist eben nicht das Ideal des modernen Men­schen. Das aber ist vor allen Dingen notwendig: Wir müssen den Polizeisoldaten und den Arzt, die uns vom Staate beigestellt wer­den, entbehren können. Und ehe wir nicht diese Gesinnung in uns aufnehmen, eher kommen wir keinen Schritt weiter.

Nun sind aber alle diejenigen Institutionen da, welche uns vor allen Dingen gar nicht an die Menschen herankommen lassen, die in Betracht kommen für eine solche Bildung von Assoziationen. Nehmen Sie eines der letzten großen Produkte des Kapitalismus, nehmen Sie dasjenige, aus dem heraus zunächst die stärksten Hin­dernisse für unsere Dreigliederungsbewegung - außer der Ver­schlafenheit und der Korruption des Großbourgeoistums - sich gebildet haben: das ist die gewerkschaftliche Bewegung der Prole­tarier. Diese gewerkschaftliche Bewegung der Proletarier, meine sehr verehrten Anwesenden, die ist das letzte maßgebende Produkt des Kapitalismus, denn da schließen sich Menschen zusammen rein aus dem Prinzip, rein aus den Impulsen des Kapitalismus heraus, wenn es auch angeblich die Bekämpfung des Kapitalismus ist. Es schließen sich Menschen zusammen ohne Rücksicht auf irgendwel­che konkrete Gestaltung des Wirtschaftslebens; sie tun sich zu Branchen zusammen, Metallarbeiterverband, Buchdruckerverband und so weiter, lediglich um Tarifgemeinschaften und Lohnkämpfe herbeizuführen. Was tun denn solche Verbände? Sie spielen Staat auf dem Wirtschaftsgebiete. Sie bringen das Staatsprinzip in das Wirtschaftsgebiet vollständig hinein. Ebenso wie die Produktions­genossenschaften - die Verbände, die gebildet werden von den Produzenten

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untereinander - entgegenstehen dem Assoziationsprin­zip, so stehen entgegen dem Assoziationsprinzip diese Gewerk­schaften. Und wer wirklich unbefangen die Entwicklung der so sterilen, so unfruchtbaren, so korrupten Revolutionen der Gegen­wart studieren wollte, der müßte ein wenig hineinschauen in das Gewerkschaftsleben und in seinen Zusammenhang mit dem Kapi­talismus. Ich meine damit nicht bloß die kapitalistischen Allüren, die in das Gewerkschaftsleben auch schon hineingezogen sind, sondern ich meine das ganze Verwachsensein des Gewerkschafts­prinzipes mit dem Kapitalismus.

Sehen Sie, da komme ich auf dasjenige, was nun gewiß in einem gewissen Sinne auch notwendig ist. Ich habe Ihnen vorgestern cha­rakterisiert: Die Assoziationen, sie gehen von Branche zu Branche, sie gehen vom Konsumenten zum Produzenten hinüber. Dadurch entstehen nämlich schon die Verbindungen zwischen den einzelnen Branchen, denn es ist immer derjenige, der Konsument ist von irgend etwas, zu gleicher Zeit auch Produzent; das geht schon in­einander. Es kommt nur darauf an, daß man überhaupt mit dem Assoziieren anfängt. Anfangen kann man, das habe ich schon vor­gestern erwähnt, zunächst allerdings am besten, indem man Kon­sumenten und Produzenten zusammenführt auf den verschieden­sten Gebieten und dann beginnt, wie wir heute gesehen haben, Assoziationen zu bilden vor allen Dingen zusammen mit dem, was der Landwirtschaft nahesteht und was reine Industrie ist. Ich meine damit nicht eine Industrie, die selber noch ihre Rohstoffe gewinnt, die steht der Landwirtschaft näher als die Industrie, die schon ein ganzer Parasit ist und nur mit lauter Industrieprodukten und Halb-fabrikaten und so weiter arbeitet. Man kann da ganz ins Praktische hineinkommen. Wenn man nur will und wenn man genügend In­itiative hat, kann man auf Bildung dieser Assoziationen schon los­gehen. Aber vor allen Dingen haben wir nötig, daß wir einsehen, daß das assoziative Prinzip das eigentlich wirtschaftliche Prinzip ist, denn das assoziative Prinzip arbeitet auf die Preise hin und ist in der Preisbestimmung unabhängig von außen. Wenn die Assozia­tionen nur über ein genügend großes Territorium und über die

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verwandten Wirtschaftsgebiete, über die mit irgendeinem wirt­schaftlichen Zweige zusammenhängenden Gebiete sich ausdehnen, da kann man schon sehr viel leisten. Sehen Sie, wodurch die Sache stockt, das ist immer nur das, daß man, wenn man heute anfängt mit der Bildung eines assoziativen Lebens, ja sogleich in der Außenwelt an den Unwillen der Menschen über assoziative Bil­dungen stößt; man kann das auf den verschiedensten Gebieten bemerken. Nur bemerken die Leute nicht, worauf eigentlich die Sachen beruhen. Deshalb gestatten Sie mir, daß ich noch einmal auf ein Beispiel zurückkomme, das wir schon selbst praktiziert haben. Es ist allerdings ein Beispiel, wo man gewissermaßen mit geistigen Produkten wirtschaftlich zu arbeiten hat, aber auf anderen Gebie­ten ließ man uns eben nicht arbeiten.

Nun, sehen Sie, das ist die Besonderheit unseres Philosophi­schen-Anthroposophischen Verlags, ich habe das schon erwähnt, der durchaus im Einklange mit dem assoziativen Prinzip arbeitet -zunächst wenigstens, er muß ja nach hinten natürlich sich anschlie­ßen vielfach an Druckereien und so weiter und kommt da wieder­um hinein in andere Wirtschaftsgebiete; dadurch ist es schwer, Durchgreifendes zu erreichen, aber er kann als ein Musterbeispiel dastehen. Es brauchte sich ja das, was in ihm ausgeführt wird, nur weiter auszudehnen über andere Branchen, es brauchte das asso­ziative Prinzip nur weiter ausgedehnt zu werden. Und da handelt es sich darum, zunächst die Interessenten zu sammeln, so zum Beispiel, wenn irgend jemand sich daran machen und tausend Leu­te zusammensammeln würde - ich will eine bestimmte Zahl ange­ben -, die sich bereit erklären würden, bei irgendeinem bestimmten Bäcker ihr Brot zu kaufen. So fanden sich in der Anthroposophi­schen Gesellschaft - die ja natürlich nicht bloß zu diesem Zweck begründet war, aber alles hat auch seine wirtschaftliche Seite -, so fanden sich in der Anthroposophischen Gesellschaft die Leute zusammen, die die Konsumenten waren für diese Bücher, und so hatten wir niemals auf Konkurrenz hin zu produzieren, sondern wir produzierten nur diejenigen Bücher, von denen wir ganz genau wußten, daß sie verkauft wurden. Wir beschäftigten also nicht

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unnütz Drucker und Papiermacher und so weiter, sondern wir beschäftigten nur so viel Arbeiter, als nötig waren für die Herstel­lung der Büchermenge, von der wir wußten, daß sie verbraucht wird. Also es wurden nicht unnötig Waren auf den Markt hinaus­geworfen. Dadurch ist innerhalb der Grenze des Büchererzeugens und Bücherverkaufens ein Wirtschaftlich-Rationelles wirklich be­gründet, denn es ist unnötige Arbeit eben vermieden. Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht: Sonst druckt man Auflagen, wirft sie auf den Markt hinaus, und dann kommen sie wiederum zurück - soviel unnötige Papierproduktionsarbeit wird geleistet, soundso viel unnötige Setzer werden beschäftigt und so weiter. Daß soviel an unnötiger Arbeit geleistet wird, das ist dasjenige, was unser Wirtschaftsleben zugrunderichtet, weil eben nicht der Sinn dafür vorhanden ist, rationell durch Assoziationen zusammen­zuarbeiten, so daß die Produktion tatsächlich weiß, wo sie ihre Produkte absetzt.

Nun, wissen Sie, was verschwindet dann? Sie müssen das durch­denken: Was verschwindet, das ist die Konkurrenz. Wenn man in dieser Weise den Preis bestimmen kann, wenn man wirklich auf dem Wege der Zusammenschließung der Branchen den Preis be­stimmen kann, da hört die Konkurrenz nämlich auf. Es ist nur nötig, dieses Aufhören der Konkurrenz in einer gewissen Weise zu unterstützen. Und man kann es dadurch unterstützen, [daß sich die verschiedenen Branchen zu Assoziationen zusammenschließen]. Allerdings war ja auch schon immer ein Bedürfnis dazu vorhanden, daß sich die Leute gleicher Branchen zusammenschließen; aber dieses Zusammenschließen der Leute gleicher Branche, das verliert tatsächlich seinen wirtschaftlichen Wert, weil man dadurch, daß man nicht zu konkurrieren braucht auf dem freien Markt, es nicht mehr nötig hat, den Preis zu unterbieten und dergleichen. Dann werden allerdings durchzogen sein die Assoziationen, die sich im wesentlichen von Branche zu Branche begründen, die werden durchzogen sein von jenen Vereinigungen, die wir dann wieder Genossenschaften nennen könnten. Diese brauchen aber keine eigentlich wirtschaftliche Bedeutung mehr zu haben, diese werden

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mehr herausfallen aus dem eigentlich wirtschaftlichen Leben. Wenn sich diejenigen, die ein gleiches Produkt fabrizieren, verbin­den, so wird das ganz gut sein, aber es wird eine gute Gelegenheit sein, wenn sich mehr geistige Interessen da entfalten, wenn da vorzugsweise die Leute, die aus gemeinsamen Denkrichtungen her­aus arbeiten, sich kennenlernen, wenn die einen gewissen mora­lischen Zusammenhang haben. Derjenige, der real denkt, der kann sehen, wie schnell sich das machen ließe, daß man die Verbände der gleichen Branche entlasten würde von der Sorge für die Preisbe­stimmung, indem die Preise lediglich bestimmt würden von den Verbänden der ungleichen Branchen. Es würde dadurch - indem, ich möchte sagen, das Moralische einziehen würde in die Verbände gleicher Waren -, es würde dadurch am besten die Brücke hinüber zu der geistigen Organisation des dreigliedrigen sozialen Organis­mus sich schaffen lassen. Solche Verbindungen aber, die rein aus der kapitalistischen Wirtschaftsordnung heraus entstanden sind wie die Gewerkschaften, die müssen vor allen Dingen so schnell als möglich verschwinden.

Ich wurde neulich von einem Menschen, der es mit dem Wirt­schaftsleben zu tun hat, gefragt, was eigentlich jetzt geschehen solle, denn es sei wirklich sehr schwer, irgend etwas noch auszu­denken, um irgendwie hineinzuwirken im günstigen Sinne in das rasend schnell untergehende Wirtschaftsleben. Ich sagte: Ja, wenn man so weitermacht bei den entsprechenden Staatsstellen, die ja noch immer maßgebend sind für das Wirtschaftsleben - und heute gerade erst recht maßgebend sind -, wenn man so weitermacht, dann geht das schon ganz sicher weiter in den Ruin hinein. - Denn was wäre heute notwendig? Das wäre notwendig, daß sich diejeni­gen, die aus der Staatsbürgerlichkeit irgendwie allmählich sich herausarbeiten sollten zu Trägern der wirtschaftlichen Assoziationen, daß die sich weniger beschäftigen würden in der Richtung, die man zum Beispiel in Württemberg merken konnte, wo ein sozialisti­sches Ministerium war. Ja, gerade in der Zeit, während wir beson­ders regsam waren, haben ja diese Leute manchmal versprochen, sie wollten kommen. Sie sind nicht gekommen. Warum? Ja, sie ließen

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sich immer entschuldigen, denn sie hatten Kabinettssitzungen. Da konnte man diesen Leuten nur immer sagen: Wenn ihr euch zu­sammensetzt, da könnt ihr dadrinnen brauen, was ihr wollt; dem sozialen Leben werdet ihr jedenfalls nicht aufhelfen. - Auch Mini­ster und alle diejenigen, die nun die unteren Stellen hatten, von den Ministern abwärts, die hätten dazumal nicht in die Kabinette hin­eingehört, sondern überall hinein in die Volksversammlungen, um die Massen auf diese Weise zu finden und zwischen ihnen zu arbei­ten; diejenigen, die irgend etwas zu unterrichten und zu leisten hatten, die hätten jeden Abend unter die Arbeiter gehört. Dadurch hätte man können die Leute gewinnen, daß allmählich auf eine vernünftige Weise verschwunden wären die Gewerkschaften. Und sie mussen verschwinden, denn nur dadurch, daß die Gewerkschaf­ten verschwinden, die reine Arbeiterverbände sind, wird die Asso­ziation stattfinden können, und es ist ganz gleichgültig, ob einer heute nach der Richtung der Gewerkschaft hintendiert oder der Angestelltenvereinigung oder gar der kapitalistischen Vereinigung einer bestimmten Branche - die gehören alle zueinander, die gehö­ren in Assoziationen hinein. Das ist dasjenige, auf was es ankommt, daß wir vor allen Dingen wirken zur Beseitigung desjenigen, was die Menschen auseinanderreißt.

Sehen Sie, das ist der größte Schaden, den wir heute haben. Man kann ja heute ganz unmöglich irgendwie dasjenige, was vernünftig ist gerade im Wirtschaftsleben, hineinstellen in die übrige Welt. Vom Kommenden Tag sagte ich Ihnen, daß er ja auf Schritt und Tritt einfach anstößt an die Staatsgesetze; die lassen ihn ja das nicht machen, was er machen soll. Und sehen Sie, der Philosophisch­Anthroposophische Verlag, wodurch konnte er denn in vernunfti­ger Weise wirken? Dadurch konnte er wirken in wohltätiger Wei­se, daß er keine unnötigen Arbeiter beschäftigte, keine unnötigen Setzer beschäftigte und so weiter, dadurch konnte er wirken, daß er der ganzen Einrichtung der übrigen Buchhändlerorganisation -verzeihen Sie, wenn ich mich ein bißchen trivial ausdrücke - eine Nase drehte, all diesen Leuten, die sich als Staat aufspielen, eine Nase drehte, sich nicht kümmerte um das, sondern sich nur kümmerte

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um die Assoziation zwischen der Bücherproduktion und der Bücherkonsumtion. Das bedachten natürlich alle diejenigen nicht, die mit einer großen Kraft immerfort forderten, daß der Philo­sophisch-Anthroposophische Verlag anders werden sollte. Gewiß, heute stehen wir vor etwas ganz anderem als zu der Zeit, wo so gearbeitet werden konnte mit dem Philosophisch-Anthroposophi­schen Verlag. Es muß breiter gewirkt werden. Aber es ist nicht möglich, den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag mit seiner Produktion und mit seinem Gedeihen unmittelbar so zu gestalten, wie etwas gestaltet wird, was nun doch wiederum in die gewöhn­liche, blödsinnige Marktwirtschaft der Bücherfabrikation und des Bücherverbreitens [hineinmündet]; wenn man einen gewöhnlichen Verlag begründet, so kann es gar nicht anders sein. Weil es sich darum handelt, daß ja die Dinge erst anders werden müssen, kann man das, was auf vernünftige Weise verfolgt wird, gar nicht hinein­stellen in die heutige gewöhnliche wirtschaftliche Usance.

Was lehrt uns das alles? Daß es notwendig ist, daß wir vor allen Dingen Assoziationen nach der Richtung hin bilden, die abzielen, der Welt so viel als möglich klarzumachen, daß unnötige Arbeit bekämpft werden muß, daß in rationeller Weise das Verhältnis hergestellt werden muß zwischen Konsumenten und Produzenten. In dem Augenblicke, wo man es nötig hat, heute aus einem abge­schlossenen Kreise herauszutreten in die Öffentlichkeit, da stellt sich gleich die große Schwierigkeit ein. Zum Beispiel: Wir mußten - es war eine Selbstverständlichkeit -, wir mußten unsere Zeitung «Dreigliederung des sozialen Organismus» begründen. Ja, was könnte diese Zeitung sein, wenn sie auf dem Boden stehen könnte; daß sie wirtschaftlich so wirkt, so vertrieben wird wie die Bücher des Philosophisch-Anthroposophischen Verlags, das heißt, daß nichts Unnötiges produziert werden müßte! Dazu gehört natürlich die entsprechende Abonnentenzahl, nur die Kleinigkeit der ent­sprechenden Abonnentenzahl. So aber, wie die Sache jetzt steht, so haben wir alle, die wir arbeiten für die Dreigliederungszeitung, unnötige Arbeit geleistet, zum Beispiel in unserer geistigen Pro­duktion. Die Verbreitung, die die Zeitung heute hat, die reicht

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nicht hin, um in irgendeiner Weise diese Arbeit nicht als eine hin­ausgeworfene zu betrachten. Und so könnte ich es Ihnen auf den verschiedensten Gebieten darstellen.

Was haben wir daher zuallererst nötig? Und da komme ich zu einer anderen Fragenklasse, die auch immer wiederum auftritt: Was haben wir daher zuallererst nötig? - Vor allen Dingen haben wir nötig, daß die Bewegung für Dreigliederung des sozialen Organis­mus selber stark und kräftig wird und wirkt und daß sie vor allen Dingen zum Verständnis kommt, was nötig ist. Sehen Sie, meine sehr verehrten Anwesenden, es ist ja wirklich durch die Zeitver­hältnisse und durch die innere Wesenheit der Sache bedingt, und es ist nicht ein Zufall, nicht irgendeine Schrulle von mir oder von ein paar anderen, daß diese Dreigliederungsbewegung aus der Anthro­posophischen Gesellschaft herausgewachsen ist. Wäre sie richtig herausgewachsen, ich könnte auch sagen, wäre die Anthroposophi­sche Gesellschaft das Richtige gewesen, aus dem die Dreigliede­rungsbewegung herausgewachsen ist, dann wäre sie heute schon zu etwas anderem geworden, als sie es ist. Nun, was nicht geschehen ist, kann ja nachgeholt werden. Aber betont muß es werden, daß man zuerst erkennen muß, daß gerade aus den anthroposophischen LJntergründen heraus in der richtigen Weise hätte gewirkt werden konnen in der Dreigliederung. Da wäre es vor allen Dingen not­wendig gewesen, daß man eingesehen hätte, wie für so durchgrei­fende Prinzipien - die in so eminentestem Sinne praktisch sind, wie die in meinen «Kernpunkten» geschilderten - das menschliche Ein­treten notwendig ist, ein richtiges menschliches Eintreten. So etwas hätte man lernen können auf dem Boden der anthroposophischen Bewegung. Gewiß, die Leute haben es einem übelgenommen, wenn zum Beispiel nur für eine bestimmte Anzahl vorbereiteter Leute diese oder jene Zyklen verabreicht worden sind, aber das hatte seine guten Gründe. Und wenn man nicht aus einer albernen Eitel­keit fortwährend sagen würde, der darf einen Zyklus kriegen, der darf einen Zyklus nicht kriegen und so weiter, wenn nicht alle diese Dinge in alberner Eitelkeit verwechselt würden, sondern wenn sie innerlich verstanden würden, dann würde man schon auf das Rechte

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kommen. Dann würde man aber auch im rechten Zeitpunkte, wo es nötig ist, gesehen haben, wieviel die Druckerschwärze kann und nicht kann. Es wäre gut, wenn die Dreigliederungszeitung heute meinetwillen ihre 40 000 Abonnenten hätte. Aber wie könnte sie die nur kriegen? Sie könnte sie nur kriegen, wenn ihr zu Hilfe käme nicht das, was die Druckerschwärze ist, sondern wenn ihr zu Hilfe käme das persönliche Eintreten, das wirkliche persönliche Eintreten für die Sache nach dem Erfordernis der Situation. Aber das ist dasjenige, was am allerwenigsten verstanden worden ist.

Sehen Sie, da muß ich einen Punkt berühren, aber heute müssen diese Punkte berührt werden, weil sie Lebensfragen der Dreigliede­rung sind; ich habe zum Beispiel den Vortrag gehalten vor den Arbeitern der Daimler-Werke in Stuttgart. Nun, meine sehr ver­ehrten Anwesenden, da handelte es sich darum, vor einer ganz bestimmten Gruppe von Menschen zu sprechen, die gewisserma­ßen in ihrem Denken über die sozialen Verhältnisse eben ihre ganz bestimmten Gedanken hatten und ihre ganz bestimmte Sprache führten. Dieser Vortrag war für diese Arbeiter und etwa ähnliche Arbeiter gehalten. Es hätte sich nun die Notwendigkeit ergeben, daß man das gesehen hätte, verstanden hätte und daß man es eben so gemacht hätte, daß man aus den Verhältnissen heraus zu den Menschen gesprochen hätte. Stattdessen streben heute die Men­schen an, daß etwas, was nur vor bestimmten Menschen in einer bestimmten Weise gesagt werden muß - selbstverständlich nicht, um dem einen dies zu sagen und dem anderen jenes, sondern um von den Menschen verstanden zu werden -, möglichst schnell gedruckt werde, der Druckerschwärze anvertraut werde. Und dann wird dieses Gedruckte ganz anderen übergeben, die nun wütend werden, weil sie es nicht verstehen. Das ist etwas, was man aus der anthroposophischen Bewegung nicht hat lernen können, sondern man hat das Gegenteil davon getan. Lernen hätte man müssen, die Situation zu erkennen, aus dem Menschlichem zu wirken. Daher hätte es sich darum gehandelt - und es wird sich weiter darum handeln, wenn es vorwärts- und nicht zurückgehen soll -, daß möglichst viele Menschen sich gefunden hätten, die eingegangen

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wären darauf, daß die Zeit vorbei ist, in der man im allgemeinen seine Ansicht so vertritt, wie man sie sich gebildet hat nach seinem eigenen, sei es Klassenbewußtsein, sei es Standesbewußtsein, sei es Universitätsbewußtsein oder Gymnasiallehrer-Bewußtsein oder was immer, daß man diese Ansicht vertritt, gleichgültig, vor wel­chem Publikum man spricht. Nicht wahr, diese Ansicht vertritt man, gleichgültig, ob man mit seinem Seite für Seite ausgearbeiteten Vortrage in eine Proletarierversammlung berufen wird und nun auf ein möglichst hohes Rednerpult den Vortrag drauflegt und ihn Seite für Seite abliest oder aufsagt, je nachdem man ihn auswendig kann, oder ob man in eine Versammlung von evangelischen Pfar­rern gerufen wird und dort dasselbe redet. Dadurch richtet man unser soziales Leben zugrunde. Dadurch kommen wir nicht vor­wärts. Wir wollen nicht die Sprache der Menschen lernen, zu denen wir reden. Darauf aber kommt es gerade an, daß wir die Sprache der Menschen lernen, zu denen wir reden. Und das hätte sich ler­nen lassen in der Anthroposophischen Gesellschaft, wo das immer gepflegt worden ist, wo es sich wirklich darum handelte, gerade dasjenige zu erreichen, was eben in dem Moment erreicht werden konnte.

Manchmal war das grotesk, so daß man nicht weitergehen konn­te in dem Erreichten. Mir ist zum Beispiel - ich sage das zur Illu­stration - einmal folgendes passiert. Ich wurde gerufen, um einen anthroposophischen Vortrag zu halten in einem Berliner Spiriti-stenverein. Nun, ich habe natürlich den Leuten nicht von Spiritis­mus geredet, sondern von Anthroposophie. Sie haben sich das an­gehört. Sie haben es sich natürlich in ihrer Art angehört. Ich habe zu den Leuten nicht so geredet, wie ich zu Naturforschern geredet hätte, denn da hätten sie mich, die Spiritisten, die große Biergläser vor sich hatten, wenig verstanden. Was ist dann geschehen? Der Vortrag hat den Leuten - ich erzähle Ihnen eine Tatsache - so gut gefallen, daß sie mich hinterher zum Präsidenten gewählt haben. Es sind dazumal einige Theosophen mit mir gegangen, die waren da­bei und die haben heillose Angst bekommen, denn ich könne doch nicht der Präsident des Spiritisten-Vereins werden. Was soll nun

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geschehen? fragten sie mich. Ich werde nicht mehr hingehen, erwi­derte ich. Dadurch hat sich die Präsidentschaft von selber aufgeho­ben. Aber reden konnte man auch zu diesen Leuten, und sie haben doch etwas davon gehabt, wenn es auch zunächst nur wenig war.

Also es handelt sich darum, aus den Situationen heraus das Reale zu bringen, wenn wir heute die Leute gewinnen wollen für wirt­schaftliche Dinge, wirtschaftliches Zusammenarbeiten. Und so kommen wir nicht weiter, wenn nicht solche Dinge realisiert wer­den können. Man muß hinsehen auf solche Fragen, wie sie in einer kleineren Versammlung gestern angeregt worden sind, wo ein Herr, der ganz gründlich im Wirtschaftsleben drinnensteht, sagte:

Ja, die Dreigliederung ist ja wirklich so, daß sie den einzigen Aus­weg zeigt aus den Kalamitäten heraus, aber sie muß zum Verständ­nis gebracht werden. - Wir brauchen, um sie zum Verständnis zu bringen, vor allen Dingen die Technik der persönlichen Agitation. Wir können und müssen dann selbstverständlich auch solche Zei­tungen wie die «Dreigliederung des sozialen Organismus» haben, die möglichst bald in eine Tageszeitung verwandelt werden muß. Wir müssen sie haben, aber sie bedeutet nichts anderes als wieder­um soundso viel Menge verschwendeter Arbeit, wenn nicht dahin­tersteht das tatkräftige persönliche Wirken - aber ein solches bewußtes persönliches Wirken, das nun wirklich sich getraut, auch einmal zu sagen, daß man in der Zukunft etwas anderes will als den Polizeisoldaten und den staatlich abgestempelten Arzt, damit man weder bestohlen noch krank wird. Man kann schon auch auf ande­re Weise dafür sorgen, daß man weder bestohlen noch krank wird, als auf diese Weise. Also es handelt sich vor allem darum, daß gerade bei so etwas wie bei einer Auflösung der Gewerkschaften etwas herbeigeführt werden muß für eine Zusammenführung der Leiter von Unternehmen und der Handarbeitenden, denn, nicht wahr, die Handarbeitenden sind auf der einen Seite in ihren Ge­werkschaften und auf der anderen Seite sind die Leitenden in ihren Vereinen, und die sprechen eine verschiedene Sprache, verstehen sich nicht. Man glaubt gar nicht, wie verschieden die Sprache ist. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, derjenige, der nicht mit

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ehrlichem Willen die Sprache des Proletariers studiert, der ruft nur Vorurteile gegen sich hervor, wenn er - sei es auch mit noch so radikalen Redensarten - als Bourgeois heute vor Proletariern spricht. Im Gegenteil, er macht die Sache schlechter, wenn er kei­nen ehrlichen Willen hat, wirklich auf den Seelenzustand, auf das­jenige, was eben in der Seele der heutigen proletarischen Bevölke­rung ist, einzugehen. Die radikalen Redensarten machen es nicht aus, sondern das Drinnenstehen in der Sache macht es aus.

Und damit komme ich auf eine andere Sorte von Fragen. Da werde ich zum Beispiel gefragt:

Wer kommt denn nun eigentlich in Betracht, wenn die Dreigliederung des sozialen Organismus propagiert werden soll? Die Besitzenden können nicht in Betracht kommen, denn sie haben ja keine anderen Bestrebungen, als ihren Besitz ungestört zu erhalten.

Sie denken auch nicht daran, andere Gedanken anzunehmen als diejenigen, durch die sie ihren Besitz gewonnen haben. Sie ver­schlafen außerdem noch alle die wichtigen Ereignisse der Gegen­wart, sie wissen nichts davon. Sie wissen höchstens, daß jetzt wie­der einmal die Polen die Oberhand haben; früher machten sie ihre Pläne, als die Russen die Oberhand hatten und so weiter. Daß dasjenige, was da im Osten aufgeht, nicht besiegt ist mit irgendei­nem Polensieg, davon merken wiederum die lieben Bourgeois West- und Mitteleuropas nichts. Und wenn dasjenige, was da lebt im Osten, nicht von jenen Impulsen aus bekämpft werden kann, die in der Dreigliederungsrichtung liegen, geht das wiederum hin­ein in einen anderen Kopf; wenn es auch in der einen Form besiegt und totgeschlagen wird, so geht es in einer anderen, neuen Form wiederum auf. Also die Frage ist schon in einem gewissen Sinne mit Recht gestellt; es ist richtig, die Besitzenden kommen kaum in Betracht, und das Proletariat, die Proletarier wollen ja auch, wie es sich gezeigt hat, zunächst nichts davon wissen. Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, diese Frage brauchen wir gar nicht so auf­zuwerfen, sondern wir brauchen nur zu versuchen, in der Rich­tung, die ich eben angegeben habe, das Rechte zu tun und wirklich

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das kennenzulernen, was da ist, nicht schläfrig vorbeizugehen an der Gegenwart. Was wissen die Bourgeois in der Regel davon, was in den Gewerkschaften vor sich geht? Sie wissen gar nichts davon. Ja, die gewöhnlichste Erscheinung des heutigen Tages ist diese: man geht als Bourgeois auf der Straße an einem Arbeiter vorbei, und eigentlich geht man an ihm so vorbei, daß man keine Ahnung davon hat, in welchem Zusammenhange man mit ihm steht. Es handelt sich darum, daß wir unsere Pflicht nach der Richtung des Fortschrittes getan haben, so wie ich das jetzt angedeutet habe - dann findet sich schon das Wesentliche. Und es handelt sich ja gerade darum, daß wir heute, wo wir schon die konkreten Bestre­bungen entwickeln können, das assoziative Prinzip so, wie ich es vorgestern charakterisiert habe, da, wo wir nur können, in das Leben rufen und daß wir da, wo wir es heute schon können, alles dazu tun, um das gewerkschaftliche Leben aufzulösen und assozia­tive Verbände zu schaffen zwischen den Unternehmenleitenden und den Arbeitenden, den Arbeitnehmern. Wenn wir hinarbeiten können nach der Auflösung des Gewerkschaftslebens, so können wir manches andere tun. Vor allem können wir dasjenige, was der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus ist, von uns aus stärken. Ich meine natürlich mit «uns» jetzt unterschiedslos alle diejenigen, die hier sitzen, nicht etwa bloß die Mitglieder der An­throposophischen Gesellschaft - unter denen sind ja solche, die heute noch immer sagen: Dem wirklichen Anthroposophen muß das politische Leben ferneliegen, der kann sich nur mit dem poli­tische Leben befassen, wenn sein Beruf das notwendig macht. -Das kommt auch vor, solche Egoisten gibt es, und die nennen sich trotzdem Anthroposophen, die glauben, gerade ein besonders esoterisches Leben zu entwickeln, indem sie sektenmäßig sich zu­sammensetzen mit einer kleinen Anzahl von Menschen und ihre Seelenwollust befriedigen im Durchdringen mit allerlei Mystik.

(Beifall)

Meine sehr verehrten Anwesenden, das ist nichts anderes als die sektenmäßig organisierte Lieblosigkeit; das ist bloß Reden von

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Menschenliebe, während jenes gerade aus der Menschenliebe, das heißt aus dem innersten Prinzip anthroposophischen Wirkens her­vorgegangen ist. Was sich im Bund für Dreigliederung ausdrücken soll, das ist dasjenige, worauf es ankommt, und diese Dinge heute zu verstehen, ist unendlich wichtig und wichtiger, als alle Detailfra­gen auszubrüten. Denn, meine sehr verehrten Anwesenden, solche Fragen, die konkrete Fragen sein werden, die werden sich über­morgen in einer ganz anderen Weise noch ergeben, als wir uns träumen lassen, wenn wir morgen irgendeiner Einrichtung auf die Beine geholfen haben, die nun wirklich zur Emanzipation des Wirtschaftslebens vom Staatsleben etwas Reales beiträgt; dann erst entstehen nämlich die Aufgaben.

Wir haben gar nicht nötig, aus den heutigen Auffassungen her­aus die Fragen zu stellen, zum Beispiel, wie die Personen aus der geistigen Organisation die Überleitung des Kapitals besorgen wer­den. Lassen sie nur einmal etwas geschehen sein zur Entstehung der Dreigliederung, lassen Sie nur einmal Tatkräftiges entstanden sein, dann werden Sie sehen, was für eine Bedeutung so etwas haben wird, wie das, was man heute als Frage stellen kann. Heute stellen Sie ja natürlich, wenn Sie den geistigen Organismus, das heißt die Summe der niederen und höheren Schulanstalten betrach­ten und in bezug auf einzelnes Fragen stellen, dann stellen Sie die Fragen in bezug auf eine staatskorrupte Einrichtung. Sie müssen erst warten, welche Fragen gestellt werden können, wenn die Emanzipation des Geisteslebens da ist. Da werden sich die Dinge ganz anders herausstellen als heute. Und so ist es auch im Wirt­schaftsleben. Die Fragen, die da notwendig sind zu stellen, die er­geben sich erst. Daher ist es von keiner großen Fruchtbarkeit, heu­te irgendwie im allgemeinen zu reden von Assoziationen und so weiter, und es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man sich eine Vorstellung machen will, wie eine Assoziation wirklich sich an die andere angliedern muß. Lassen Sie nur einmal diejenigen wirt­schaftlichen Assoziationen entstehen, innerhalb welcher man dann ohne Staatshilfe, ich meine auch im Geistigen ohne Staatshilfe ar­beiten muß, denn dann werden sich die richtigen Fragen ergeben,

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denn dann muß man auf sich selbst gestellt arbeiten, dann muß man wirtschaftlich denken, damit die Dinge überhaupt gehen kön­nen. Und das wird von allergrößter Bedeutung für den wirtschaft­lichen Fortschritt sein.

Denken Sie nur, was herausgekommen wäre, wenn diese Dinge verstanden worden wären in einem wichtigen Momente des neu­zeitlichen Wirtschaftslebens; in dem Zeitpunkte, wo das Verkehrs­wesen dadurch gewachsen ist, daß das Eisenbahnwesen immer mehr und mehr wuchs, da haben sich die modernen Menschen als wirtschaftsimpotent erklärt, haben das Eisenbahnwesen dem Staat übergeben. Wäre aus dem Wirtschaftskörper heraus das Eisen­bahnwesen verwaltet worden - es wäre etwas anderes geworden, als es geworden ist unter den Interessen des Staates, indem es zum größten Teil unter seine Fiskalinteressen gekommen ist. Die wich­tigsten Dinge für das Wirtschaftsleben sind versäumt worden; sie dürfen nicht weiter versäumt werden; die konkreten Fragen er­geben sich dann schon. Die Menschen haben verlernt, wirtschaft­lich zu denken, weil sie ja geglaubt haben, wenn irgendwo was fehlt im Wirtschaftsleben, na, dann wählt man die entsprechenden Ab­geordneten, die Abgeordnete bringen es dann im Parlament vor und die Minister machen ein Gesetz - Gesetze kann man immer machen, darum handelt es sich niemals; aber um Menschen handelt es sich. Die werden aber reklamieren, wenn ihnen die Sache nicht vom Staate - scheinbar natürlich nur - abgenommen wird.

Aus solchen - ich möchte sagen - rückwärts gerichteten Fort­schrittsblicken geht auch alles dasjenige hervor, was in der folgen­den Frage lebt:

Wenn das Geistesleben frei wird, wird dann nicht die katholische Kirche eine besonders günstige Stellung einnehmen? Ist es nicht besser, wenn man die staatlich zähmt?

Bisher hat man ja doch die größten Schäden von der anderen Seite her vernommen, von der Begünstigung der katholischen Kirche durch den Staat. Kurz und gut, diese Dinge, die nehmen sich ganz anders aus, wenn man wirklich drinnensteht in dem, was herbeigeführt

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wird durch den dreigliedrigen sozialen Organismus, auf den wir zunächst hinzuarbeiten haben, damit wir nicht den dritten Schritt vor dem ersten machen.

Es tauchen nun auch solche Fragen auf, die sehr interessant sind selbstverständlich, weil sie ja naheliegen, aber, meine sehr verehrten Anwesenden, sie nehmen sich doch gegenüber dem Impuls der Dreigliederung wieder anders aus, als man denkt. So fragt jemand zum Beispiel, wie im dreigliedrigen sozialen Organismus die An­throposophie das Geld für das Goetheanum zustandekriegen wür­de, weil er glaubt, daß nicht Kapitalien zur Verfügung stehen wür­den. Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, ich bin darüber ganz beruhigt, denn in dem Augenblicke, wo wir ein freies Geistesleben haben, da wird es überhaupt mit der Anthroposophie einfach durch die Wesenheit dieses freien Geisteslebens ganz anders stehen und da kann man auf jenes Bettelprinzip verzichten, auf das wir heute leider angewiesen sind und an das wir mit aller Schärfe ap­pellieren müssen. Aber innerhalb eines wirklich freien, das heißt gesunden Geisteslebens wäre ich um den Aufbau eines Goethe­anums durchaus nicht irgendwie besorgt.

Ebenso wenig hat mir jemals Kopfzerbrechen gemacht eine Frage, die immer wieder und wiederum auftaucht, das ist diese:

Wenn nun der dreigliedrige soziale Organismus da sein würde, würde in der geistigen Organisation es auch Menschen geben, die in der richtigen Weise entscheiden, das ist ein genialer Künstler, dessen Bilder müssen ver­breitet und verkauft werden?

Wenn nun der dreigliedrige soziale Organismus da sein würde -ich kann immer nur sagen, man schaffe zuerst irgend etwas, was ihn auf die Beine bringt. Aber die Leute denken sich: Wenn er nun da sein würde - es gibt doch so viele Künstler, die sind nach ihrer Ansicht so furchtbar talentiert, so furchtbar begabt, so schrecklich genial -, wird nicht die große Gefahr vorliegen, daß die Zahl der verkannten Genies immer mehr und mehr zunimmt? Wie gesagt, diese Sache hat mir eigentlich niemals Kopfzerbrechen gemacht, denn das freie Geistesleben wird die allerbeste Grundlage sein für

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das Zur-Geltung-Bringen dieser Talente. Und vor allen Dingen, Sie müssen nur bedenken, daß im dreigliedrigen sozialen Organismus keine unnötige Arbeit geleistet wird. Die Menschen überlegen sich nämlich gar nicht, was wir an freier Zeit bekommen, wenn keine unnötige Arbeit mehr geleistet wird; demgegenüber ist die reichlich unbesetzte Zeit unserer Rentiers und unserer Nichtstuer eine Klei­nigkeit; nur dehnt sie sich bei diesen auf das ganze Leben aus. Aber für das, was im Grunde genommen ohnedies nicht gedeihen kann, wenn es bezahlt wird, für das würde sich gerade in dem dreiglied­rigen sozialen Organismus reichlich Zeit finden, es zu entwickeln. Sie können das meinetwillen als eine Abstraktion nehmen, was ich jetzt sage, aber ich kann nur sagen, man versuche zuerst dem drei-gegliederten sozialen Organismus auf die Beine zu helfen und man wird dann schon sehen, daß sich darinnen auch die Kunst nach den Fähigkeiten der Menschen wird entwickeln können in der ganz entsprechenden Weise.

Ich mußte, verehrte Anwesende, die Fragen mehr nach Katego­rien einteilen, denn schließlich ist es nicht möglich, alle 39 Fragen ganz im einzelnen zu beantworten. Manches interessiert ja wirklich die Menschen nur, weil sie im Grunde genommen sich gar nicht denken können, daß gewisse Dinge ganz anders sich ausnehmen, zum Beispiel in einem freien Geistesleben. So wird auch gefragt, ob man denn durchaus das Kinoleben mit allen seinen unsittlichen Ausbrüchen nun frei gedeihen lassen solle im dreigliedrigen sozia­len Organismus oder ob nicht da doch der Staat eingreifen müsse, damit die Menschen nicht gar so unsittliche Kinostücke zu sehen bekommen. Wer so fragt, der kennt nämlich nicht ein gewisses tiefsoziales Gesetz. Jedesmal, wenn Sie glauben, irgend etwas, sa­gen wir die Unsittlichkeit der Kinos, durch Staatsmacht bekämpfen zu können, so berücksichtigen Sie nicht, daß Sie durch solch eine Abschaffung der unsittlichen Kinostücke - falls überhaupt die In­stinkte der Menschen vorhanden sind, solche Stücke sich anzu­schauen -, diese Instinkte auf ein anderes Gebiet, vielleicht ein schädlicheres, ableiten. Und der Ruf nach einer Gesetzgebung ge­gen unsittliche Kunst - und seien es selbst Kinostücke -, der drückt

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nichts anderes aus als die Ohnmacht des Geistesleben, Herr zu werden über diese Dinge. Im freien Geistesleben wird das Geistes­leben eine solche Macht haben, daß tatsächlich die Menschen aus Überzeugung nicht in das Kino hineingehen werden. Dann wird man es auch selbstverständlich nicht nötig haben, unsittliche Ki­nostücke staatlich zu verbieten, weil die den Leuten zu dumm sein werden. Aber mit dem, was wir heute als Wissenschaft in die Welt hinaustragen, mit dem pflegen wir natürlich nicht jene Instinkte, die vor den unsittlichen Kinos Reißaus nehmen.

Manche Frage würden Sie ja reichlich von selbst beantwortet finden, wenn Sie genauer auf die Literatur der Dreigliederung des sozialen Organismus eingehen würden. Ich habe versucht, wenig­stens die wichtigsten Fragen herauszugreifen. Ich will nur noch eine einzige, die achtundzwanzigste, erwähnen:

Ob es nicht möglich wäre, zur Popularisierung sowohl der Anthroposo­phie wie auch der Dreigliederung des sozialen Organismus dadurch etwas beizutragen, daß wir nicht Ausdrücke gebrauchen, die nicht verstanden werden in breitesten Kreisen.

Ich kann nichts anderes sagen als: Man tue es, soviel man es kann, und man wird sehen, daß man es in einem hohen Grade kann. Aber ich glaube, Sie mussen mehr das nehmen, was heute in der ganzen Tendenz einer solchen Auseinandersetzung liegt, weniger die Ein­zelheiten; und diese Tendenz geht dahin, darauf aufmerksam zu machen, daß ja eben dieser Dreigliederungsimpuls ein durchaus praktischer ist. Und wir sollen daher nicht herumplaudern und her­umdiskutieren, wie es im einzelnen mit dem oder jenem in dem drei-gegliederten sozialen Organismus ausschauen wird, sondern wir sol­len vor allen Dingen verstehen diese Dreigliederung des sozialen Organismus und das Verständnis wirklich verbreiten, in alles hinein-tragen, denn wir brauchen eben Menschen, die Verständnis haben dafür. Und dann, wenn wir diese Menschen haben, dann brauchen wir sie ja nur aufzurufen für die Einzelheiten. Aber wir mussen sie zuerst haben. Wir müssen zuerst eine gesunde Verbreitung gewin­nen - aber so schnell wie möglich, sonst wird es zu spät.

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Nun, das ist dasjenige, was ich seit langer Zeit sagen muß, denn vor mehr als einem Jahr habe ich versucht, einen Aufruf zu verfas­sen «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt». Er ist gewiß verstanden worden, das zeigt seine wirklich große Anzahl von Unterschriften. Aber diejenigen, die für seine Verwirklichung ar­beiten, sie bleiben eine kleine Zahl. Der «Aufruf» hätte mehr be­kanntwerden müssen, und die «Kernpunkte» hätten noch ganz anders, und zwar gerade im Wirken von Mensch zu Mensch, be­kanntwerden müssen. Man macht nicht eine Bewegung, wie wir sie heute haben müßten, mit bloßem Verschicken von Schriften, durch bloßes Verschicken von Prospekten, von Grundsätzen; man macht sie auf eine ganz andere Weise. Der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus muß Leben in sich bekommen; er muß vor allen Dingen ein Zusammenhang von Menschen sein. Es ist ganz gleichgültig, ob wir dieses oder jenes verschicken, wenn es sich um das bloße Verschicken handelt. Es muß vor allen Dingen darauf geachtet werden, daß innerhalb des Bundes für Dreigliederung ja nicht einreiße irgendein Prinzip des Bürokratischen und derglei­chen. Es ist notwendig, unsere Literatur und unsere Zeitungen zu verbreiten, aber es muß zu gleicher Zeit menschlich gearbeitet werden. Es muß Verständnis dafür erweckt werden, daß wir dahin kommen, sobald wie möglich die Zeitung «Dreigliederung des so­zialen Organismus» in eine Tageszeitung zu verwandeln. Was aber vor allen Dingen notwendig ist, ist das, daß man einsehe, daß unsere Institutionen gedeihen müssen.

Meine sehr verehrten Anwesenden, wenn es so fortgehen würde, daß wir fortwährend in den Schwierigkeiten drinnenstecken, in denen wir heute drinnenstecken, wo wir eigentlich nicht wissen, wie wir die Waldorfschule weiterführen sollen, wie wir weiter sol­che Schulen begründen sollen und wie wir dieses Goetheanum eigentlich zu Ende führen sollen, wenn nicht das Platz greifen wird, was die Menschen nun wirklich aufbringen könnten an Ver­ständnis für solche Dinge nach allen Seiten hin - dann wird es natürlich nicht weitergehen. Verständnis brauchen wir, aber nicht ein solches Verständnis, das nur den Idealismus sieht, daß die Ideen

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bewundert und die Hände fest auf die Taschen legt, weil die Ideen zu groß sind, zu geistig sind, als daß man das schmierige Geld an sie heranlassen will. Das Geld, das behält man in der Tasche, und die Ideen, die bewundert man, aber die Ideen, die sind zu rein, die verunreinigt man nicht dadurch, daß man das schmierige Geld für sie hingibt. Ich meine dasjenige, was ich gesagt habe, bildlich, aber hier handelt es sich darum, daß wir lernen, praktisch zu denken, und daß wir dann es auch bis zu praktischen Taten bringen.

Ich habe gesagt, als die Waldorfschule begründet worden ist; Schön, die Waldorfschule ist schön; aber damit, daß wir die Wal­dorfschule begründet haben, ist noch nicht genug getan auf diesem Gebiete. Es ist höchstens ein allererster Anfang gemacht, sogar nur der Anfang eines Anfangs. Die Waldorfschule haben wir erst wirk­lich begründet, wenn wir im nächsten Vierteljahr zu zehn neuen solchen Waldorfschulen den Grund gelegt haben. Dann hat erst die Waldorfschule einen Sinn. - Es hat einfach gegenüber der jetzigen sozialen Lage Europas keinen Sinn, eine einzige Waldorfschule mit vier- oder fünfhundert oder meinetwillen auch tausend Kindern zu begründen. Nur wenn die Gründung von Waldorfschulen Nach­folge findet, wenn solches überall Nachfolge findet, hat das einen Sinn - nur das hat einen Sinn, was aus der richtigen praktischen Gesinnung heraus ersprießt. Wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal soviel Verständnis ent­wickeln, daß ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule vom Staat, mit allen Kräften dafür einzu­treten, daß der Staat diese Schule loslöst, wenn Sie nicht auch den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat anzu­streben, dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz, denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben.

Zu alledem brauchen wir das, was ich nennen möchte ein inter­nationales Streben für jegliches Schulwesen, aber ein internationa­les Streben, das nicht etwa bloß jetzt in der Welt herumgeht und überall Grundsätze verbreitet, wie Schulen eingerichtet werden sollen - das wird schon geschehen, wenn vor allen Dingen die

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Gelder beschafft werden für solche Schulen. Was wir brauchen, ist ein Weltschulverein in allen Ländern der Zivilisation, daß so schnell wie möglich die größte Summe von Mitteln herbeigeschafft werde. Dann wird es möglich sein, auf Grundlage dieser Mittel dasjenige zu schaffen, was der Anfang ist eines freien Geistes­lebens. Daher versuchen Sie, die Sie irgendwo hinkommen in der Welt, zu wirken dafür, daß nicht bloß durch allerlei idealistische Bestrebungen gewirkt wird, sondern daß gewirkt werde durch ein solches Verständnis für die Freiheit des Geisteslebens, daß wirklich im weitesten Umfange für die Errichtung freier Schulen und Hoch­schulen in der Welt Geld beschafft werde. Es muß aus dem Dünger der alten Kultur dasjenige herauswachsen, was Geistesblüte der Zukunft sein wird. Wie auf den Feldern das aus dem Dünger her­auswächst, was dann die Menschen verzehren müssen, so muß aus demjenigen, was reif ist, aus der alten Kultur heraus zu Dünger zu werden, das muß gesammelt werden, damit einmal aus diesem Dünger die Geistesfrüchte, die Staatsfrüchte und die Wirtschafts­früchte der Zukunft ersprießen können.

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ABENDDISPUTATION, Dornach, 8. April 1921 anläßlich des zweiten anthroposophischen Hochschulkurses Sozialwissenschaft und soziale Praxis

Roman Boos: Es soll der heutige Abend dazu dienen, in den Anwesenden das Bewußtsein davon zu stärken und die Vorstellung zu klären, was an konkreten Auswirkungen von dem im Goetheanum Gewollten in näherer oder fernerer Zeit zu erwarten ist. Die Aufgabe soll so sein, daß der Kurs den Teilnehmern etwas mitgeben soll, damit jeder die Möglichkeit hat zu sagen oder zu wissen, wo er mithelfen kann, wo er aktiv an der Mitarbeit sich beteiligen kann.

Was zuallererst in Debatte steht, ist die Idee, daß in der allernächsten Zeit mit der größten Intensität losgelöst werden muß das geistige Leben aus der Verstrickung in die staatlichen Gewalten. Die politischen Staaten sind, [m Westen wie im Osten, nicht einmal mehr in der Lage, die von ihnen usurpierten Schulbeaufsichtigungsrechte ökonomisch zu erhalten. Schulen sind zu errichten über die Gebiete hin, die nicht in den ökonomischen Zusammenbruch hineinbezogen wurden und aus dem geistigen Zusammen­bruch herauskommen wollen. Die Idee des Weltschulvereins auf internatio­naler Basis ist ja vor einigen Wochen in Holland in einer großen Anzahl von Versammlungen ausgesprochen und hinausgetragen worden. Und so ist heute von holländischen Freunden in Aussicht gestellt worden, über diesen Weltschulverein noch einiges mitzuteilen. Und auch nach dieser Seite hin möchte ich aufzeigen, daß von den hier Versammelten gehofft werden kann, dem Impuls des Weltschulvereins Verwirklichung zu geben.

Auch die unter Futurum AG und Der Kommende Tag AG gegründeten Unternehmungen wurden darauf angelegt, in vorläufig unbegrenzte Weiten hinauszuwachsen. Was zum Beispiel als ein Stinnes-Konzern heraufwuelis, hat sieh verbunden mit den übelsten Existenzen; wenn ein solches Unge­heuer internationale Kredite bekommen würde, wäre es zum Schaden einer gesunden Entwicklung. Es ist deshalb nötig, im wirtschaftlichen Leben Fuß zu fassen, selber wirtschaftliche Assoziationen ins Leben zu rufen, die ge­recht werden der Internationalität; es ist nötig, in internationalen Bespre­chungen selber den Weg suchen. Um etwas international Bedeutsames zu

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sagen, wird über die Klüfte hinweg, die durch die Valutazustände geschaf­fen worden sind, vom Futurum und vom Kommenden Tag gesprochen werden müssen.

Man wird ja von allen Seiten angepöbelt. Und da ist es ein unbedingtes Erfordernis für die Fortführung der Arbeit in der Schweiz und über die Schweiz hinaus, daß wir die Möglichkeit bekommen, hier vom Goethe­anum aus regelmäßig eine Zeitschrift, zum mindesten eine Wochensehrift, erscheinen zu lassen, in der nun nicht fortwährend polemisiert und disku­tiert werden müßte - es wird allerdings manchmal notwendig sein -, aber in der fortwährend hinausgestellt werden könnten skizzenweise Andeutun­gen, worum es sich hier eigentlich handelt, und in der gerade die interna­tionale Idee eines Weltsehulvereins oder einer Weltwirtschaftsvereinigung immer wieder ausgesprochen werden müßte. In gewisser Weise hat man eben hier in der Schweiz doch noch einen Boden unter sich, von dem man in deutlicherer und eindrucksvollerer Weise reden kann als anderswo. Das Goetheanum müßte sonst stumm bleiben, wenn es sich nicht auf diese Weise bekanntmachen kann. An diesen Kurs sind doch eigentlich recht wenig Menschen gekommen. Es ist das Goetheanum selber als Kunstwerk, als Bau, als physische Realität, die dasteht, noch nicht in genügender Inten­sität durchströmt. Es wird schon notwendig, auch dasjenige hinauszutra­gen, was geleistet werden soll für die ganze Welt vom Goetheanum aus.

Alle, die die Möglichkeit haben, uns dazu zu verhelfen, die ökonomi­sche Grundlage zu finden für eine solche Zeitung, werden herzlich dazu aufgefordert. Wir müssen 50,000 Franken für ein Jahr rechnen; vorher können wir nicht beginnen. Wir können deshalb nicht vorher beginnen, weil wir sonst in einiger Zeit die Sache wieder unter Umständen einstellen müßten. Wenn jemand unter Ihnen ist, der dazu verhelfen könnte, daß die Zeitung erscheinen kann, der würde sich so verdient machen, wie es in den gegenwärtigen Umständen kaum in anderer Weise möglich sein könnte.

Elisabeth Vreede: Ich möchte noch einiges sagen über den «Weltschulver­ein». Es handelt sich eigentlich mehr um einen Appell als bereits um eine konkrete Gründung. Die ersten Schritte in der Richtung einer Gründung eines Weltschulvereins sind ja in Holland getan worden, um eine Antwort aus der Welt heraus zu bekommen auf dasjenige, was jetzt zu geschehen hätte, und das ist: das Geistesleben, insbesondere das Unterrichtswesen, zu befreien, auf sich selbst zu stellen. Es ist die besondere Hoffnung ausge­sprochen worden, dies in Holland tun zu können. Am 27. Februar hat Dr.

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Steiner in Den Haag einen hinreißenden Vortrag gehalten über «Erzie­hungs-, Unterrichts- und praktische Lebensfragen vom Gesichtspunkte anthroposophischer Geisteswissenschaft» und aufmerksam gemacht auf die Notwendigkeit eines freien Geisteslebens und einer Loslassung der Schule von der Staatsgewalt - unter starkem Beifall des Publikums. Anschließend hat unser Mitglied, Herr de Haan, einen Appell an die Anwesenden gerich­tet. Darauf ist manches geschehen; Namen von gutem Klang haben sich dafür interessiert, für freie Schulen zu wirken. Vertreter aus der Schweiz, aus Deutschland und England äußerten sich überzeugt von der Notwen­digkeit eines Weitschulvereins und versprachen, in ihrem Lande für die Sache zu wirken. Ein ähnliches spielte sich am nächsten Tag in Amsterdam ab. Damals wurde aber der Weltschulverein noch nicht begründet, denn eine solche Gründung hat nur einen Wert, wenn sie sozusagen aus sich selber heraus entsteht. Aber daraus darf man nicht den Schluß ziehen, daß nichts geschehen soll, sondern es ist intensivste Arbeit nötig, damit eine konkrete Gründung sich vollziehen kann.

Das erste, womit man sich jetzt beschäftigt, ist, mit einer Art Prospekt an alle Gebildeten heranzugehen - die sind ja grundsätzlich an einem freien Geistesleben interessiert -; Dr. Steiner hat dazu die Richtlinien gegeben. Es soll ein Appell an alle Gebildeten gerichtet werden, sich zusammenzu­schließen mit uns, um unserer Bewegung dasjenige zu verschaffen an Nähr­boden, an Lebensluft, die sie unbedingt braucht, damit sie weiter gedeihen kann. Da die ganze Sache nun von Holland aus angefangen hat, möchte ich auf die Adresse des Herrn de Haan, Utrecht, aufmerksam machen; er ist bereit, Auskunft zu geben. Aus den Ereignissen der vergangenen Jahre ist genügend hervorgegangen, um zu zeigen, wie wichtig, wie bedeutsam es ist, aber auch, wie viel Arbeit nötig sein wird, wenn so etwas unternommen werden soll. Es soll also ein Appell gerichtet werden, der sozusagen in der ganzen gebildeten Welt ein Echo finden soll

(Beifall)

Josef van Leer: Meine sehr verehrten Anwesenden, vor einigen Wochen wurde im Haag und in Amsterdam zum erstenmal über den Weltschulver­ein gesprochen. Es kommt aber nichts dabei heraus, wenn nicht gleich zur Tat geschritten wird. Wir hatten zwar im Haag an dem Abend etwa 150 Namen; mit bloßen Namen tut man aber nichts. Die Freunde in Holland haben zwar den guten Willen, aber sie sind zu schwach.

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Vor etwas weniger als zehn Jahren waren in Berlin ähnliche Bespre­chungen, als Baron von Walleen über seine Erfahrungen auf Vortragsreisen in Skandinavien und in England sprach und sagte, es sei so schwierig, die Ideen von Dr. Steiner dort zu vertreten; was heute Anthroposophische Gesellschaft ist, ist von diesen Besprechungen ausgegangen.

Wenn Sie heute in England sprechen über freies Geistesleben, wird jeder sagen: Wir brauchen keines, wir haben eines. - Das ist natürlich eine Ab­straktion, aber so ist es; soweit die Leute in England der Bourgeoisie angehören, können sie ihre Kinder erziehen, wie sie wollen, sie brauchen keine diplomierten Lehrer. Wenn man den Weltschulverein in England zu propagieren hat, so hat man es da mit etwas ganz anderem zu tun als in Deutschland oder in Holland oder in der Schweiz. Ich glaube, Skandina­vien, Holland, England - wenn es auch nicht neutral ist, aber es spielt keine Rolle -, all die Länder, die nicht zu den Mittelstaaten gehören, sollten sich zusammenschließen. In Holland hat man reichlich Zuversicht bekommen, aber die 25 klingenden Namen helfen nicht viel. Dr. Steiner hat in Holland ungefähr 10 Vorträge gehalten; aber unter all diesen Tausenden, die da waren: keine drei Stimmen, die sich dafür wirklich praktisch einsetzen, und es wird schwer sein, nur diese drei zu kriegen.

Die Frage wurde gestellt: Wie propagieren wir? - Für jedes Land ist es nötig, anders zu arbeiten. Unsere Freunde in Stuttgart wissen am besten, was zu tun ist, weil sie in der Arbeit stehen. Ich möchte deshalb vorschla-gen, daß wir Leute aus den verschiedenen Ländern - Amerika, England, Frankreich, Schweiz, Italien -, daß wir etwa 25 Menschen uns zusammen­setzen und heute Abend noch sagen: so und so machen wir es! Ich möchte das gleich jetzt auf der Stelle vorschlagen. Wer aus all den Ländern, die hier vertreten sind, ist bereit mitzumachen? Fangen wir an bei Amerika: Mr. Monges? Mr. Wheeler aus England? Miss Wilson aus England? Norwegen, Schweden: Frau Ljungquist? Dänemark: Herr Hohlenberg? Finnland: Herr Donner? Russland? Aus Holland: Herr Ledebour, Herr Zagwijn, Herr Deventer? Aus Frankreich: Mademoiselle Rihouët? Italien: Fräulein Schwarz? Tschechoslowakei und Polen? Ich möchte also vorschlagen, daß die verschiedenen Menschen sich zusammensetzen und überlegen, was für ihre Länder das Richtige ist, wie man es machen muß, an welche Menschen man herantreten muß, welchen Menschen man welches Material geben kann. Es ist möglich, daß die Vertretung eines bestimmten Landes nicht in der Lage ist, das Richtige zu treffen, aber dann wird man vielleicht zusam­men etwas Besseres herausfinden können.

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Ich möchte zur Diskussion stellen, ob das, was ich angeregt habe, der richtige Ausgangspunkt wäre.

Roman Boos: Es könnte ja sehr wertvoll sein, heute Abend dann noch zu sprechen in kleineren Kreisen für jedes Gebiet. Aber ich möchte nur recht herzlich bitten, daß die Sache bei der Wahl von Persönlichkeiten nicht so zu betrachten ist wie bei den Parlamenten oder bei sonstigen Vereinen: als Auftrag, wie eine Kommission zu arbeiten. Es soll nicht auf den Abend abgeschoben werden, was nachher gearbeitet werden soll: in jeder einzel­nen Gruppe die Idee des Weltschulvereins als solche vorwärtszutragen. Man muß eben probieren, wie in den anderen Staaten sich das aussprechen läßt, was von der eigenen Seite aus zu sagen ist.

Johannes Hohlenberg.. Ich möchte über die Arbeit in Dänemark in bezug auf den Weltschulverein berichten. Vom Ergebnis her betrachtet ist es zwar nicht sehr viel, leider, aber es kann vielleicht anderen als Erfahrung dienen. Im letzten Herbstkursus wurde besonders stark betont, daß jeder, der in sein Land zurückgeht, mit möglichst vielen Menschen reden und die Idee vom Weltschulverein verbreiten solle. Alle, die hier waren, haben wohl das getan, was in ihren Kräften lag.

Nun, zu meinen persönlichen Erfahrungen: Ich habe in Kopenhagen verschiedene Vorträge gehalten, aber der Zeitpunkt war leider sehr schlecht, da vor einigen Jahren der Staat von den Gemeinschaften fast alle Schulen übernommen hat. Das ist eine neue Tatsache, zwei, drei Jahre alt, noch nicht überall vollständig durchgeführt. Die Lehrerschaft ist im ganzen zufrieden, weil ihre ökonomische, finanzielle Lage sehr viel besser gewor­den ist und man als Staatsbeamte Aussicht auf eine Pension hat. Die Leh­rerschaft ist deshalb sehr abgeneigt, irgendwelche Veränderungen vorzu­nehmen an diesen Verhältnissen. Aber auf der anderen Seite ist sehr große Unzufriedenheit der Eltern mit dem Schulsystem, das heute in Dänemark besteht; die Eltern wären bereit, etwas Neues zu versuchen. Die hauptsäch­liche Schwierigkeit ist aber finanzieller Art. Man darf nicht vergessen: die Staatsschulen, die sind ganz gratis; Schulunterricht, Material, Bücher sind gratis.

Der einzig mögliche Weg für die Begründung von staatlich unabhängi­gen Schulen wäre der wie in Stuttgart, nämlich ein großer Fabrikbetrieb, der das alles in die Hand nimmt. In Dänemark ist es eben hauptsächlich eine finanzielle Frage, ganz einfach! Wenn man einen Weg finden könnte

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für die Errichtung von solchen Schulen, die nicht teurer würden als die öffentlichen, dann würden ganz entschieden die Kinder kommen und die Eltern sehr zufrieden sein. Ich habe eine Liste von Namen gesammelt - ihre Zahl überschreitet vielleicht kaum 200, das ist ja noch nichts -, und ich bin überzeugt, daß, wenn man wirklich Propaganda macht, man auch wirk­liches Verständnis finden kann.

Elisabeth Vreede: Man muß das Richtige tun. Es handelt sich, wie Dr. Steiner in Holland ausgeführt hat, nicht in erster Linie darum, nun einzelne Schulen zu begründen, die wieder so nebenbei bestehen können, die sich ihr Recht zu bestehen nur erschleichen können; es handelt sich um etwas viel Größeres: das freie Geistesleben auch wirklich durchzuführen! Wir haben ja heute ein Geistesleben, das vor allen Dingen frische Luft braucht und das ohne diese frische Luft verkümmert. Aus dieser Stimmung heraus muß in der Öffentlichkeit sich die Forderung bilden: Das Geistesleben muß befreit werden!

Es soll damit selbstverständlich nicht gesagt werden, daß nicht einzelne Schulen zu begründen sind, so wie die Waldorfschule; aber man soll nicht nur hie und da eine Schule oder ein Institut hineinbringen, denn die haben alle nur ein kümmerliches Dasein in rechtlicher Beziehung, sie haben eigentlich immer ein Schwert über ihrem Haupte hängen, ob sie nun er­laubt sind oder nicht; nicht solche Schulen, die nur auf Staates Gnaden bestehen können, sollten errichtet werden.

Unser Goetheanum ist auch eine Schule, eine freie Hochschule. Die Möglichkeit wäre in erster Linie zu schaffen, daß ein Weltschulverein da wäre, der das Bedürfnis mächtig genug fühlen würde, solche Einrichtungen wie die Waldorfschule und das Goetheanum zu unterstützen oder am Le­ben zu erhalten. Es ist notwendig, daß ein Konkretes dazu schon da ist. Es gibt ja auch Lehrervereinigungen, Künstlerassoziationen; für die wäre es ein positives Ziel, dahin zu wirken, daß wir ein freies Geistesleben brau­chen. Das Ziel muß größer gesteckt werden, als bloß einzelne Schulen zu errichten; alles muß in größerem Stil erfaßt werden, so daß man den größeren Zusammenhang auch sieht.

Wir haben gehört, daß in Dänemark die Lehrer sehr zufrieden sind, weil sie «Staatslehrer» geworden sind, weil sie besser bezahlt sind. Nicht an die Lehrerschaft im allgemeinen können wir uns wenden; diejenigen, die in der Sache drinnenstehen, sind oft am meisten vertrocknet und haben nicht den großen Ausblick. Aus einem größeren Umfang heraus, als es die Lehrerschaft

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ist, als sie es sein kann, muß diese öffentliche Meinung und Stim­mung entstehen. Dann werden auch die nationalen Differenzierungen nicht so in Gewicht fallen, wie es sonst sein würde, denn das würde als ein einigendes Band wirken. Die Gesichtspunkte müssen aus dem Großen ge­nommen werden, so daß man all das umfaßt, was man als Mensch in un­serem Geistesleben erleben kann, und es heraufhebt auf einen anderen Plan; sonst bleiben wir doch zu sehr im Einzelnen stecken.

Roman Boos: Es wäre gut, wenn man in der Diskussion noch zu der kürzlich vertretenen Behauptung, daß in der Schweiz sich ein freies Geistesleben voll entwickeln könne, Stellung nehmen würde. Zuerst hat Mademoiselle Rihouët das Wort.

Simone Rihouët: Ich möchte nur einen Wunsch für Frankreich ausdrük­ken, daß hier im Goetheanum dieser internationale Zweck ganz zum Aus­druck komme und nicht wieder das Nationale über das Internationale sie­ge. Es ist auffallend zu sehen, daß wir in Frankreich, was die Schule betrifft, ganz dieselbe Lage haben wie in Deutschland. Aber zum Beispiel die Schweizer Lehrer, die so wenig den Zwang vom Staat fühlen, die sind durch die Verhältnisse in ihren Konföderationen nicht in der gleichen Lage wie die Lehrer in Frankreich und in Deutschland, wo die Tendenz des Staates so stark ist, daß jetzt schon in der Lehrerschaft ein großes Bedürfnis nach Befreiung, nach Selbständigkeit in ihrem Beruf besteht. In Frankreich wird es besonders die Studentenschaft sein, aus der das Verständnis für die freien Geistesimpulse, die hier gegeben worden sind, kommt. Und so möchte ich, was Frankreich betrifft - für Deutschland kann ich nicht spre­chen -, so möchte ich aussprechen den Wunsch, daß aus Frankreich eine Studentenschaft herausströme, die mit ihren Kollegen aus den anderen Ländern einen Bund schaffen könnte, einen Bund der Brüderlichkeit.

Roman Boos: Diese Worte aus Frankreich sind uns umso herzlicher will­kommen, als sich ja auf der gegnerischen Seite schon eine in einer gewissen Weise intensive Verbrüderung ergeben hat. Ungefähr zu gleicher Zeit, als in Deutschland geschrieben wurde vom «Vaterlandsverrat» durch Rudolf Steiner und die Anthroposophen, ging durch die französischen Zeitungen eine ähnliche Behauptung, nämlich daß in den Kreisen von Dr. Steiner hingearbeitet werde auf einen Revanchekrieg, der drei Jahre lang dauern würde. Und gegenüber diesem «Völkerbund» der gegnerischen Sippschaft

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wird es schon notwendig sein, daß sich eine Vereinigung von Menschen, die den verschiedenen Völkern angehören, hier bildet und vom Goethe­anum aus hinauswirken kann.

Ein deutscher Student erzählt vom Lebensgefühl junger Menschen an den Hochschulen und der Möglichkeit, sie für die anthroposophische Sache zu gewinnen.

Fritz Wullschleger: Ich möchte als Schweizer einfach mit ganz kurzen Worten sprechen. Es ist ja bei uns tatsächlich so, daß man als Lehrer selber eine ziemlich große Freiheit ausüben kann, zum Beispiel auf die Regierung, die kantonale wenigstens; aber auch auf die Behörden kann man einen ziemlich großen Einfluß ausüben. Wenn Sie in Ihrer Schule Anderungen einführen wollen, dann können Sie das verlangen, und es wird dem mei­stens entsprochen werden.

Nun, ich glaube, diese Hochschulkurse machen einen gewaltigen Ein­druck in uns lebendig. Und unter diesem gewaltigen Eindruck können wir nun eben versuchen, zunächst einmal an unsere Kollegen in Konferenzen und so weiter heranzutreten und versuchen, ein Verständnis für die Be­fruchtung der Schule zu erwecken, wenigstens den Anfang damit zu ma­chen, das Geistesleben frei zu gestalten. Ich habe im Frühjahr in Basel die Vorträge von Herrn Dr. Steiner gehört und - ich spreche als Lehrer - da habe ich bis jetzt den Eindruck gehabt, daß es unsere Aufgabe ist, unseren Unterricht möglichst umzugestalten in der Weise, wie es die Anthroposo­phie verlangt. Heißt das nun, daß wir also unsere gesamten Arbeitskräfte in unsere Schulen hineinverlegen sollen? Nein, wir sollen unserer Zeit und Kraft und Arbeit gerade auch nach aussen richten. Wir müssen versuchen, die Schweizer zu informieren, vielleicht mit Vorträgen; wir müssen versu­chen, die Schweizer Lehrerzeitung und vor allem die Kantonslehrer-Zei­tung zu gewinnen. Das könnte vielleicht ein Anfang sein, in dieser Rich­tung etwas zu bewirken.

Roman Boos: Wir danken Herrn Wullschleger für seine Ausführungen, und ich möchte mir gestatten, nur einige Worte an das Gesagte anzufügen. Die Lehrerzeitungen in der Schweiz haben ja in den letzten Jahren ver­schiedene Artikel und Berichte aus unseren Kreisen, auch die vorzüglichen Aufsätze im Erziehungsheft nachgedruckt. Aber in der Folge war die Ar­beit nicht sehr intensiv; von den Schweizer Lehrern sind in diesen Kursen

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hier nicht viele anwesend. Denken Sie sich einmal, es würde da in der Einladung darunterstehen: «Kantonale Erziehungsdirektion» - meinen Sie dann nicht, der Saal hier ware voll geworden? Das sind so die kleinen Kriterien, woran man sieht, ob das Geistesleben in der Lehrerschaft bei uns in der Schweiz wirklich frei entfaltet ist.

Vor 1 1/2 Jahren etwa, da wurden einmal eingeladen von der kantonalen Erziehungsdirektion die Lehrer von Basel-Stadt, und die Vorträge über Erziehungsfragen wurden geradezu begeistert aufgenommen; eine Reihe Schulleute haben sich sehr begeistert darüber ausgesprochen. Im Anschluß daran wurde vom Goetheanum aus ein Kurs - nicht von der Erziehungs­direktion aus - ein Kurs eingerichtet, aber da waren schon erheblich weni­ger Leute dabei, als bei jenem auf Einladung der Erziehungsdirektion ver­anstalteten Kurs. Und das, was heute aus diesen Kursen herausgewachsen ist, ist sozusagen nichts. Einzelne Lehrer mögen ja sehr Großes und Wert­volles aus dem Kurs mitgenommen haben; aber in sozialer Beziehung ist so gut wie nichts geschehen. Warum? Weil nichts geschehen kann! Weil die Menschen überall durch den Staat gebunden sind. Wie der Kommilitone sagt: jeden Boden können wir gewinnen, aber nicht den Staatsboden. Das zeigt sich mehr oder weniger deutlich auch in der Schweiz; denn wenn es hier nicht auch der Fall wäre, so würden wir intensiver vorwärtskommen Vor längerer Zeit war einmal ein Vortrag in St. Gallen; da kam denn auch ein solcher Schweizer Lehrer, der sagte: Bei uns in der Schweiz ist es ganz anders; wir haben nicht diese Untertänigkeit gegenüber den Behörden. Wir sind nicht an die Zensuren und behördlichen Verordnungen gewöhnt wor­den und so weiter. - Und als man ihn darauf aufmerksam machen mußte, daß dies doch nicht ganz stimme, da meinte der Mann: Ja, da ist ein großer Unterschied, wir haben es nämlich freiwillig getan!

Friedrich Husemann spricht über das ärztliche Bildungswesen in Deutschland.

Roman Boos: Um der ganzen geistigen Bewegung die nötige ökonomi­sche Unterlage zu geben, sind die beiden Aktiengesellschaften in Dornach und in Stuttgart, die «Futurum AG» und die «Der Kommende Tag AG», gegründet worden. Es lag die Absicht vor, heute Abend auch über diese beiden Unternehmen noch weiteres auszuführen und Gelegenheit zur Fra­gestellung zu geben. Aber ich denke, es wird nun wohl zu spät sein, um noch darauf einzugehen.

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Prospekte von Futurum liegen in deutscher, frarizösischer und engli­scher Sprache auf, so daß Sie alle die Möglichkeit haben, durch Zeichnung von Aktien die Dinge in der Weise zu unterstützen, wie es angedeutet worden ist. Man kann auch in der Futurum A. G., bei Herrn Ith, vorspre­chen, der einem noch persönlich alle nötigen Aufschlüsse geben kann. Es ist eben in der heutigen Zeit durchaus notwendig, daß wir diese Wirt­schaftsunternehmungen mit allen Kräften, die uns zur Verfügung stehen, unterstützen, um sie vorwärtszubringen.

Die Zeit ist schon sehr vorgeschritten, so daß auch über die anderen Fragen, die etwa noch ausstehen, nicht mehr sehr viel debattiert werden kann. Vielleicht hat noch jemand etwas Wesentliches beizutragen? Ich möchte nun Herrn Dr. Steiner das Wort für die Schlußbetrachtung erteilen.

Rudolf Steiner: Ich möchte Sie nicht mehr lange aufhalten, son­dern nur ein paar Bemerkungen machen, zunächst in Anknüpfung an dasjenige, was unser Freund van Leer hier vorgeschlagen hat, was gewiß recht anerkennenswert ist beziehungsweise sein wird, wenn es zu dem versprochenen Ziele führen wird. Ich möchte nur bemerken, daß es eine bedenkliche Grundlage wäre, wenn die Sa­che auf demselben Untergrunde aufgebaut würde wie der «Bund», auf den [von Herrn van Leer] hingewiesen worden ist. Dazumal ist nämlich allerdings mit einem gewissen Eifer so gearbeitet worden, wie Herr van Leer es ungefähr heute skizziert hat: Man hat sich in kleinen Komitees zusammengesetzt, hat alles mögliche beraten, was man tun soll und so weiter - aber dann fiel ein Satz bei Herrn van Leer, der selbstverständlich zunächst ein kleiner Irrtum ist, der aber, wenn er fortwirken würde, einen großen Irrtum hervorbrin­gen könnte. Es wurde nämlich gesagt, aus dieser Arbeit, die dazu­mal in jener Nacht so rastlos verübt worden ist, sei dann die An­throposophische Gesellschaft hervorgegangen. - Nein, davon kann gar nicht die Rede sein: aus jener Nacht und aus jener Bundesbe­gründung ist nämlich gar nichts hervorgegangen! Vor diesem Schicksal möchte ich die [heute] beabsichtigte «rastlose Arbeit die­ser Nacht» doch bewahrt wissen. Es wurde zwar dazumal viel geredet, was zu tun sei, aber geworden ist gar nichts daraus. Und der Irrtum, der entstehen könnte, beruht darauf, daß man meinen

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könnte, es müsse nun etwas getan werden in der Richtung wie das, auf was mit jenem «Bunde» hingedeutet wurde. Das, was dazumal getan worden ist, war, daß diejenigen, die in unserer anthroposo­phischen Arbeit schon drinnengestanden haben, die also schon bei uns waren, daß die - ganz abgesondert von dieser Bundesgründung - die Anthroposophische Gesellschaft gegründet haben, die sich dann weiterentwickelt hat, während der «Bund» aus einem sanften Schlaf allmählich in den sozialen Tod, sagen wir, übergegangen ist. Also, es wäre ein kleiner Irrtum! Und es muß dies schon durchaus hervorgehoben werden, damit nicht die Fehler jenes Nachtkomi­tees durch seine zweite Auflage etwa wiederholt werden. Das ist das eine.

Das andere, worauf ich hinweisen mochte und was Fräulein Vreede ja gesagt hat, ist, daß das, was etwa angestrebt werden sollte mit dem Weltschulverein, nun wirklich auf eine breite Basis gestellt und schon mit einem gewissen Mute und mit einem umfassenden Blick von vornherein in Angriff genommen werden müßte. Es ist ganz richtig von unserem Freund van Leer hervorgehoben worden, daß dasjenige, was in bezug auf freies Geistesleben im Zusammen-hange mit der Dreigliederung des sozialen Organismus zu vertre­ten ist, daß das für die verschiedensten Gebiete in verschiedenster Weise behandelt werden muß. Allein, das muß dann auch wirklich so geschehen, daß die Behandlungsweise für die betreffenden Ter­ritorien wirklichkeitsgemäß passe auf diese Territorien. Ich selber werde immer darauf hinweisen, daß zum Beispiel für England es notwendig sein wird, die Dinge in der Art vorzutragen, die eben gerade auf die englischen Zivilisationsverhältnisse paßt. Allein, man darf nicht übersehen, daß man gründlich durchschauen muß, was Einbildung ist gegenüber den großen Menschheitsfragen in der Gegenwart und was Wirklichkeit ist. Man darf also nicht etwa die Sache so vertreten, daß man den Glauben hervorruft, daß das eng­lische Geistesleben freier ist als das andere. Und Sie werden sehen, wenn Sie wirklich die «Kernpunkte» durchgehen, daß da ja weni­ger Wert auf das negative Moment - Befreiung des Geisteslebens vom Staate -, daß viel weniger darauf Wert gelegt wird als auf die

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Begründung eines freien Geisteslebens überhaupt. Und da wird es immer ein gutes Wort bleiben: daß es auf den Menschen ankommt, daß es wirklich darauf ankommt, aus welchen geistigen Grundla­gen der Mensch hervorgeht, welche geistigen Grundlagen zu seiner Bildung geschaffen werden. Nicht so sehr handelt es sich darum, daß man das negative Moment betont, sondern das positive ist zu betonen. Und ich brauche ja nur das zu sagen: Wenn formal das Geistesleben befreit würde von dem staatlichen Zwange und alles bliebe sonst im übrigen beim alten, so würde die Befreiung vom Staate nicht sonderlich viel nützen können.

Es handelt sich darum, daß positiver Geist, so wie er hier in dieser Woche vertreten sein wollte, wie versucht wurde, ihn zu vertreten, daß dieser freie Geist in das Geistesleben international hineingebracht werde. Und dann werden sich die Dinge ergeben, wie sie sich ergeben sollen. Es handelt sich wirklich zum Beispiel bei der Waldorfschule nicht allein darum, daß sie eine wirklich freie Schule ist, daß sie nicht einmal einen Direktor hat, sondern daß das Lehrerkollegium eine wirklich repräsentative Gemein­schaft ist. Es handelt sich nicht darum, daß alle Maßnahmen so getroffen werden, daß «nichts anderes» spricht als dasjenige, was aus dem Lehrerkollegium selber hervorgeht, daß man also hier wirklich «eine unabhängige Geistesgemeinschaft» hat, sondern es handelt sich auch darum, daß in allen Ländern dasjenige Geistes­leben fehlt, von dem hier die ganze Woche gesprochen worden ist. Und wenn man irgendwo betonen hört, «daß ja das Geistesleben hierzulande frei ist» - ich meine jetzt nicht die Schweiz, ich spreche von England -, so ist das eben die andere Frage. Und dieses Posi­tive vor allen Dingen ist es, auf das es ankommt. Da muß dann hervorgehoben werden: Das wird es natürlich nur geben, wenn man versucht, tatsächlich auf die konkreten Verhältnisse in den einzelnen Ländern und Territorien einzugehen.

Aber man muß Herz und Sinn haben für das, was das unfreie Geistesleben zuletzt in unserer Zeit gemacht hat. Nicht etwa, um auf das, was gestern hier vorgebracht worden ist, einzugehen, son­dern um zu zeigen, welche Blüten menschlicher Denkungsart sowohl

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in intellektueller wie in moralischer wie in gemütlicher Bezie­hung unser gegenwärtiges Geistesleben zutagefördert, möchte ich Ihnen einen Satz vorlesen. Ich möchte Sie nicht lange aufhalten und nicht von dem Standpunkt, von dem aus gestern hier eine böse Bekämpfung der Anthroposophie und der Dreigliederung ausein­andergesetzt worden ist, will ich wieder sprechen; aber ich möchte doch aus jener Broschüre, über die gestern hier gesprochen werden mußte, einen Satz vorlesen. Herr General von Gleich schreibt über mich: «Als fast Vierzigjähriger wurde Herr Steiner um die Jahr­hundertwende, die auch in der übersinnlichen Welt der Anthropo­sophie einen Einschnitt bildet, durch Winters Vorträge über Mystik allmählich zur Theosophie hinübergeführt.» Nun können Sie fragen, wer dieser «Herr Winter» ist, den hier der Herr von Gleich anführt als denjenigen, durch dessen Vorträge ich in Berlin zur Anthroposophie «bekehrt» worden sei. Man kann nur folgende Hypothese aufstellen: Es gibt in der Vorrede zu jenen Vorträgen, die ich in Berlin im Winter 1900/1901 gehalten habe, einen Satz, worinnen ich sage: «Was ich in dieser Schrift darstelle, bildete vor­her den Inhalt von Vorträgen, die ich im verflossenen Winter in der Theosophischen Bibliothek zu Berlin gehalten habe.» Aus diesem «Winter», in dem ich meine Vorträge gehalten habe, wurde jener «Herr Winter», welcher im Jahre 1901/1902 mich zur Theosophie bekehrt habe. Sehen Sie, ich will nicht den Ausdruck gebrauchen, der anwendbar ist auf die intellektualistische Verfassung eines Menschen, der jetzt damit zur Führerschaft der Gegner der anthro­posophischen Bewegung berufen ist, ich will den Ausdruck nicht gebrauchen; aber Sie werden ihn ja wohl hinlänglich gebrauchen können. Zu solchen Blüten menschlicher Geistestätigkeit führt [heutel das Geistesleben, durch das man hindurchgehen konnte in der Gegenwart bis zu jener Stufe, wo man ein Generalmajor werden konnte.

Also man muß schon die Sache aus einer etwas größeren Tiefe heraus ins Auge fassen. Dann wird man erst ein Herz und einen Sinn bekommen für dasjenige, was notwendig ist. Und nur weil eben das Geistesleben vor allen Dingen vom Schulwesen aus in

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Angriff genommen werden muß, deshalb wäre es so wünschens­wert, daß dieser Weltschulverein begründet werden könnte, der gar nicht so schwer zu begründen wäre, wenn der Wille für ihn vor­handen ist. Er muß aber nicht ein kleineres oder größeres Komitee sein, sondern er muß so begründet werden, daß seine Mitglieder-schaft unübersehbar ist. Erst dann hat er einen Wert. Er darf - ich will dazu keine Ratschläge geben, denn das, was ich darüber zu sagen habe, habe ich hinlänglich gesagt -, er darf selbstverständlich einem einzelnen überhaupt gar keine besonderen Opfer auferlegen. Er muß da sein, um Stimmung zu machen für dasjenige, wofür heute Stimmung so dringend notwendig ist! - Das ist etwas von dem, was ich noch anknüpfen mußte an dasjenige, was heute zuta­gegetreten ist.

Zum Schluß muß ich etwas sagen, was ich lieber nicht sagen würde, was ich aber eben doch sagen muß, da es sonst heute Abend gar nicht berührt worden ist und es vielleicht für die nächsten Tage, weil da ja schon wahrscheinlich Abreiseschmerzen kommen, viel­leicht zu spät sein könnte. Ich muß schon selber auf die Sache hinweisen. Es handelt sich darum, daß es ja eine volle Selbstver­ständlichkeit ist, daß für alles, wovon heute gesprochen worden ist, gewirkt werde. Allein dieses Wirken hat nur einen Sinn, wenn wir das Goetheanum, wie es hier steht, erhalten können und vor allen Dingen zu Ende führen können.

Nun, wenn es noch so gut geht mit «Futurum AG» und noch so gut geht mit dem «Kommenden Tag» - irgendwelche ökonomische Stützen für dieses Goetheanum werden diese noch lange nicht sein, ganz gewiß nicht sein. Und die größte Sorge - trotz allen anderen Sorgen, die heute auf mir lasten, gestatten Sie, daß ich einmal per­sönlich spreche -, die größte Sorge ist diese: daß in nicht gar zu ferner Zeit es der Fall sein könnte, daß wir keine ökonomischen Zuflüsse für dieses Goetheanum haben könnten. Und deshalb ist es vor allen Dingen auch notwendig zu betonen, daß ein jeglicher dafür wirke, daß ein jeglicher, der irgend etwas beitragen kann dazu, daß dieser Bau seine Vollendung finden kann, das tun möge! Das ist es, was vor allen Dingen notwendig ist: daß wir durch die

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Freunde unserer Sache in die Lage versetzt werden, dieses Goe­theanum erhalten zu können, dieses Goetheanum vor allen Dingen zu Ende bauen zu können. Und das ist, wie gesagt, meine große Sorge. Ich muß es hier aussprechen, denn schließlich, was würde es helfen, wenn wir noch so viel Propaganda machen könnten und wir dieses Goetheanum vielleicht von heute ab in drei Monaten zusper-ren müßten? Das gehört auch zu den sozialen Sorgen, die schon meiner Meinung nach zusammenhängen mit dem allgemeinen so­zialen Leben der Gegenwart. Und diese Sorge mußte ich betonen, weil wirklich die ihr zugrundeliegenden Tatsachen nicht vergessen werden sollten; nur das macht es möglich, die Bewegung, die von diesem Goetheanum ausgeht, zu kräftigen.

Wir sehen ja, aus welchen intellektuellen Grundlagen heraus diejenigen kämpfen, die gerade jetzt gegen uns ihre Posten bezie­hen. Das wird ein Anfang sein. Man muß wachsam sein, sehr wach­sam sein, denn diese Leute sind geschickte Leute. Die wissen sich zu organisieren. Was in Stuttgart geschehen ist, ist ein Anfang, ist als ein Anfang beabsichtigt. Und nur dann wird man gegen sie aufkommen, wenn man einen solchen Idealismus entfacht - ich möchte es auch diesmal wiederum sagen -, der nicht sagt: Oh, die Ideale sind so furchtbar hoch, sie sind so erhaben, und meine Tasche ist etwas so Geringes, da greife ich nicht hinein, wenn es sich um die erhabenen Ideale handelt. - Da muß es doch gesagt werden: Der Idealismus erst ist der wahre, der auch einmal für die Ideale in die Taschen greift!

NOTIZBUCHEINTRAGUNGEN

Die 39 Fragen als Ausgangspunkt für die

Frageabende vom 10. und 12. Oktober 1920

aus dem Notizhuch Archiv-Nr. 70

Seiten 13-14, 17-18


Die meisten der 39 Fragen

ordnete Rudolf Steiner drei

Frageklassen zu, die er mit

den römischen Ziffern I, II

und III kennzeichnete.

266-273

# Bild s. 266-273

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275

HINWEISE

Textunterlagen

14. Juli 1920: Es liegen Mitschriften von drei namentlich nicht bekannten Teilnehmern vor. Zwei sind teilweise gleichlautend, teilweise einander ergän­zend; die dritte Mitschrift weicht inhaltlich völlig von den beiden anderen ab. Für die vorliegende Ausgabe wurden die beiden sich ergänzenden Teztunter­lagen zusammengearbeitet, die dritte Mitschrift ist in den Hinweisen abge­druckt.

Alle übrigen Vorträge und Diskussionen wurden von der Berufsstenografin Helene Finckh mitgeschrieben, der 6. und 13. September 1920 zusätzlich noch von Hedda Hummel. Für die vorliegende Ausgabe wurden die Text­übertragungen der Stenografen mit den Originalstenogrammen verglichen, wodurch sich einige Textstellen klären ließen, die in der Übertragung bisher unverständlich waren. Eine gewisse Schwierigkeit der Textunterlage besteht darin, daß die Stenografen zwar die Worte Rudolf Steiners sorgfältig mitgeschrieben, die Voten der verschiedenen Gesprächsteilnehmer jedoch nur teilweise aufgenommen haben.

Der Titel des Bandes stammt von den Herausgebern.

Die Titel der Diskussionsabende gehen teils auf die Veranstalter der Diskus­sionsabende zurück - 16. August 1920, 23. August 1920, 30. August 1920, 6. September 1920 und 13. September 1920 -, teils wurden sie mangels Angaben von den Herausgebern selber formuliert - 14. Juli1920, 19. Juli 1920 und 9. August 1920.

Die Zeichnungen im Text entsprechen den Originaltafelzeichnungen oder Teilen dieser Zeichnungen; die Linien auf Tafel 5 mußten wegen des schwa­chen Strichs nachgezeichnet werden. Die Herausgabe dieser Wandtafelzeich­nungen ist für den Band XXIV «Rudolf Steiner - Wandtafelzeichnungen zum Vortragswerk» vorgesehen.

Frühere Veröffentlichungen:

Diskussionsahend vom 19. Juli 1920:

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Diskussionsabend vom 16. August 1920:

Gegenwart 12. Jg. Nr.7 (Oktober 1950) und Nr.8/9 (November/Dezember 1950);

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Blätter für Anthroposophie 18. Jg. Nr.1 {Januar 1966) und Nr.2 (Februar 1966);

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Diskussionsabend vom 23. August 1920:

Das Testament Peters des Großen, in: Ludwig Polzer Hoditz, Das Myste­rium der europäischen Mitte, Stuttgart 1928

Diskussionsabend vom 6. September 1920:

Auszug in: Das Goetheanum 18. Jg. Nr.37 (10. September 1939)

Auszug in: Otfried Brunk, Die Danziger Tagungen von Mitgliedern der

Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1926 und 1927, Radolfzell

am Bodensee [1985]

Seminarabend vom iI. Oktober 1920:

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Fragenbeantwortung vom 10. Oktober 1920:

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Frageabend vom 10. Oktober 1920:

Blätter für Anthroposophie 18. Jg. Nr.3 (März 1966)

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Frageabend vom 12. Oktober 1920:

Blätter für Anthroposophie 18. Jg. Nr.4 (April 1966) und Nr.5 (Mai 1966)

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwintschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Abenddisputation vom 8. April 1921:

Gegenwart 9. Jg. Nr.3 / 4 {Juni / Juli 1947)

GA 76 (1. und 2. Auflage) (Diskussion in gekürzter Form wiedergegeben)

Hinweise zum Text

Werke Rudolf Steiner innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben.

Hinweise auf immer wieder vorkommende Begrife

Es gibt verschiedene Begriffe, die im ganzen Band immer wieder erwähnt werden. Die einzelnen Stellen werden deshalb nicht mehr ausdrücklich nachgewiesen.

Schweizer Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus: Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Aufrufes von Rudolf Steiner «An das deutsche Volk und an

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die Kulturwelt» hatte sich Ende Februar 1919 in Stuttgart auch ein «Komitee für die Schweiz. gebildet. Diesem Komitee gehörte neben dem Dichter Albert Steffen auch der junge Schweizer Jurist Roman Boos an, der sich zu diesem Zeitpunkt in Stuttgart aufhielt und die dortigen Dreigliederungsbestrebungen aktiv unterstützte. Erst aber als Roman Boos auf Anfang Mai 1919 nach Zürich zurückkehrte, entwickelte sich in der Schweiz eine eigenständige Dreigliederungsarbeit: am 19. Mai 1919 wurde in Zürich der «Schweizer Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» gegründet; geleitet wurde er von einem Arbeitsausschuß, dem als wichtigste Mitglieder Roman Boos und Ernst Gimmi angehörten. Gleichzeitig hatte Roman Boos das Sekretariat und damit die Leitung der Geschäftsstelle übernommen. Von seiner Wohnung an der Wohllebgasse 5 in Zürich aus entfaltete er, unterstützt von einigen wenigen Mitarbei­tern - wie zum Beispiel dem jungen Willy Storrer - eine rege Aufklärungsarbeit. So hielt er an den verschiedensten Orten zahlreiche Vorträge. Aber es bildeten sich in der Schweiz nur wenige initiative Arbeitsgruppen; die Hauptarbeit wurde von Zürich aus geleistet. Als neue weitere Aufgaben die Anwesenheit von Boos in Dornach nötig machten, verlegte Roman Boos im Laufe des Mai 1920 seinen persönlichen Wohnsitz und damit die Geschäftsstelle des Schweizer Bundes nach Dornach, ins «Haus Fried­wart». Damit verlagerte sich das Schwergewicht der Dreigliederungsarbeit in den Raum Dornach / Basel. Es wurden Vorträge und auch Studienabende veranstaltet. Als sich Roman Boos der starken Beanspruchung durch die vielfältigen Aufgaben nicht mehr länger gewachsen zeigte und sich von aller Arbeit zurückziehen mußte, über­nahm im Juni1921 Willy Storrer die Leitung der Geschäftsstelle - er hatte schon seit der Übersiedlung nach Dornach die praktischen Sekretariatsarbeiten des Bundes be­sorgt. Um den charismatischen Willy Storrer im Raus «Friedwart» sammelte sich nun ein Kreis von diskussionsfreudigen jungen Menschen, die sich für die Dreigliederung begeisterten - Rudolf Steiner nannte diese Gruppierung scherzhaft die «Storrerei». Als sich Rudolf Steiner im April 1922 gezwungen sah, sich angesichts einer persön­lichen Verunglimpfung im Zusammenhang mit der ersten ordcntlichen Generalver-sammlung der Futurum A.G. vom Schweizer Dreigliederungabund und seiner Lei­tung öffentlich zu distanzieren, bedeutete das das Ende für die Dreigliederungsbewe­gung in der Schweiz, auch wenn auf einer Vertrauenskonferenz die Grundlage für eine weitere persönliche Zusammenarbeit neu geregelt wurde: Die von Storrer im April/Mai 1922 vorgeschlagene «Uberleitung» des Schweizer Bundes in einen «Bund für freies Geistesleben» und seine Einbettung in die anthroposophische Bewegung kam nicht mehr zustande - aus Mangel an Vertrauen in seine Person.

»Die Kernpunkte»: Siehe GA 337a, Hinweis auf S.312.

«In Ausführung der Dreigliederung»: Siehe GA 337a, Hinweis auf S.311.

Zeitung «Dreigliederung des sozialen Organismus». Siehe GA 337a, Hinweis auf S.312.

Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus: Siehe GA 337a, Hinweis auf S.312.

Futurum A.G. Siehe GA 337a, Hinweis auf S.313.

Der Kommende Tag A.G.: Siehe GA 337a, Hinweis auf S.313.

Waldorfschule: Siehe GA 337a, Hinweis auf S.314.

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Hinweise zu den einzelnen Vortragen

Weggelassen wurden alle biographischen Angaben zu den einzelnen, an der Dreiglie­derungsbewegung beteiligten Persönlichkeiten (siebe Personenregister am Schluß). Eine entsprechende biographische Übersicht ist für GA 330a und 337 vorgesehen.

21 Diskussionsabend: Der Diskussionsabend fand in Dornach, im Saal der Schrei­nerei, statt, und nicht in Basel, wie bisher allgemein angenommen. Im Rund­schreiben Nr.2 des Schweizer Bundes für Dreigliederung des sozialen Organis­mus vom 16. Juli1920 heißt es nämlich: «Während der Ferien werden Diskus­sionsabende im provisorischen Vortragsraum des Goetheanum (Schreinerei) durchgeführt. Der erste Abend wurde letzten Mittwoch unter Mitwirkung von Dr. Steiner abgehalten.» Wieso trotzdem Basel als Vortragsort in den Abschrif­ten angegeben wird, ist unklar. Möglicherweise hängt das damit zusammen, daß vorher in dieser Stadt Studienabende durch den Schweizer Bund für Dreiglie­derung veranstaltet worden waren. An diesen Studienabenden in Basel hatte Rudolf Steiner aber nie teilgenommen. Die Mitsehrift des Diskussionsabends vom 14. Juli1920 in Dornach ist so bruchstückhaft, daß kein vollständiges Bild über die ganze an diesem Abend geführte Diskussion möglich ist. Es gibt drei verschiedene Nachschriften, die alle den Verlauf der Diskussion nicht vollstän­dig wiedergeben. Zwei dieser Nachschriften decken sich inhaltlich, die dritte nicht. Da kein stenografisches Original vorhanden ist, kann die Authentizität dieses dritten Wortlautes nicht eindeutig nachgewiesen werden. Es wurde des-halb verzichtet, diesen Text unter die gesicherten Äußerungen von Rudolf Stei­ner aufzunehmen. Da es aber wiederum nicht zu beweisen ist, daß es sich nicht um eine Äußerung von Rudolf Steiner handelt, sei der Wortlaut an dieser Stelle wiedergegeben:

Rudolf Steiner: Den Menschen, die mit ihrem wirtschaftlichen Denken noch im Alten verharren, denen fällt es noch schwer einzusehen, wie gerade dadurch, daß die drei Glieder des sozialen Organismus wirklich selbständig werden, Tatsa­chen auftreten, die tatsächlich anders beschaffen sein werden als diejenigen Tat­sachen, die auftreten, wenn der alte Einheitsstaat erhalten bleibt - dieser alte Einheitsstaat, den auch die Sozialdemokraten erhalten wollen, wenn sie ihn auch zu einer großen Wirtschaft umgestalten wollen. Die Konzentration der Betriebe hat in der neueren Zeit immer mehr und mehr zur Vertrustung geführt, und darauf berufen sich die Marxisten, auf diese Vertrustung, die [nach ihrer An­sicht] zu der berühmten Expropriation der Expropriatoren führen soll; der Marxismus scheint geradezu bestätigt zu werden durch diese Konzentration der Betriebe und Unternehmungen.

Nun, die soziale Dreigliederung strebt an, das Wirtschaftliche tatsächlich auf seinen eigenen Grund und Boden zu führen. Ich habe während der ganzen Kampagne seit April 1919 immer darauf hinweisen müssen, wie gewisse wirt­schaftlich-soziale Dinge als Tatsachen entstehen, einfach aus der Grundtatsache heraus, daß das Wirtschaftsleben auf seinen eigenen Boden gestellt wird. So werden entstehen einfach gewisse geschlossene Organisationen von Produk­tions- und Konsumtionsgcnossenschaften, indem die verschiedenen wirtschaft­lichen Gebiete sich in sich selbst abschließen. Und es haben diese Assoziationen nicht jede beliebige Größe, denn zu kleine Organisationen sterben an ihrer eigenen Unmöglichkeit ab, ebenso die zu großen. Das ist das Bedeutsame, daß man einsieht, daß bei dem selbständigen Wirtschaftsleben nicht zu große und

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nicht zu kleine Assoziationen entstehen dürfen. Es wird einfach die Größe der Assoziationen dadurch hervorgerufen, daß aufgerufen wird die Konsumenten­schaft, über die man einfach durch die praktischen Verhältnisse nicht hinaus-kommt.

Nun wird man sagen: Ja, aber wir sind doch durch die Vertrustung über die mögliche Größe der Genossenschaften hinausgekommen. - Das kommt aber nur daher, weil nicht das Wirtschaftsleben ausschlaggebend war, sondern weil da hineinspielte das Staatileben, weil einfach die Leute dadurch, daß sie den Staat hinter sich hatten, für die Rohprodukte und die Ausfuhr gewisse Zölle sich erzwangen. Dadurch ist die Menschheit heute verführt, die Truits über eine gewisse Größe hinauszuführen. Bleibt man im Wirtschaftsleben stehen, so ergibt sich entweder, daß die zu großen Organisationen sich nicht rentieren oder daß [sie zu wenig produktiv arbeiten]; kurz, wenn das Wirtschaftsleben nicht durch Schutzzölle, Gesetzgebung und so weiter vom Staate beeinflußt wird, so kann es sich nicht mehr zusammenschließen, als die wirtschaftlichen Möglichkeiten es ergeben. Ist man aber in der Lage, vom Staate aus eine größere Zusammenschlie­ßung zu erwirken, dann tritt das Dumpingsystem auf. Weil bei der Preisbildung, die im eigenen Lande entsteht, keine Gewinne gemacht werden können, verkauft man ins Ausland zu niedrigsten Preisen. Nur eine solche durch den Staat her­vorgerufene Konstitution des Wirtschaftslebens macht es möglich, daß diese Vertrustung geschieht. In dem Augenblicke aber, wo nicht mehr solche unnatür­lichen Wirtschaftskomplexe durch den Staat hervorgerufen werden, sondern wo die Wirtschaftakomplexe lediglich aus dem Wirtschaftleben heraus kommen, dann werden Sie nicht finden, daß der Marxismus bestätigt werden kann durch die zunehmende Vertruitung und so weiter. Es sollte wirklich einmal die Phrase aufhören, und man sollte sich wirklich mit dem Studium der Dreigliederung abgeben: dann würde man sehen, daß nur der Einheitsstaat es möglich macht, daß so etwas sich verwirklicht, was scheinbar wie eine Bestätigung des Marxis­mus aussieht. In dem Augenblick, wo die Dreigliederung verwirklicht wird, hört diese scheinbare Bestätigung auf.

21 Korrespondenzkarte aus Holland: Der Wortlaut dieses Aufrufes ist nicht be­kannt.

Rätesystem: Direkt-demokratisches Regierungssystem, in dem die bisher unter­privilegierte große Mehrheit des Volkes durch gewählte Räte, die ihrerseits wie­der Räte delegieren, die gesamte gesellschaftliche Macht ausüben soll. Für die Verfechter der Räteidee ist dies der einzig gangbare Weg zu einer echten Dik­tatur des Proletariats. Im Gefolge der Revolutionswirren von 1917 bis 1920 wurde in verschiedensten Gebieten in Europa versucht, Räterepubliken zu er­richten. Während in Deutschland alle diese Versuche scheiterten, wurde die Idee des Rätesystems für die staatliche Gestaltung des bolschewistischen Rußland aufgenommen: am 10. Juli 1918 wurde vom Fünften Allrussischen Sowjetkon­greß die Verfassung der «Russischen Sozialistischen Föderativen Sojwetrepu­blik« angenommen, die das Rätesystem festschrieb. Sie hatte aber nur formale Bedeutung; maßgebend war die Diktatur durch das Politbüro der Kommunisti­schen Partei Rußlands. Dieses Rätesystem wurde auch für die Verfassung der Sowjetunion, der «Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken», die - am 30. Dezember 1922 verabschiedet - am 6. Juli1923 in Kraft trat.

von einem Buche von Professor Varga über die Proletarier-Bewegung in Un­garn: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.246.

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21 während der ungarischen Räterepublik: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.246.

22 Wladimir Iljitsch Lenin (eigentlich Uljanow), 1870-1924, marxistischer Theore­tiker, russischer Revolutionär und Staatsmann. Aus einer bürgerlichen Familie stammend, übte er zunächst den Beruf eines Rechtsanwalts aus. Nach Begeg­nung mit Georgij Plechanow (1856-1918), dem Begründer des Marxismus in Rußland, begründete er 1895 den »Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklas­se«, den Vorläufer der 1898 ins Leben gerufenen »Sozialdemokratischen Arbei­terpartei Rußlands«. Wegen seiner revolutionären Aktivitäten wurde Lenin 1897 nach Sibirien verbannt und begab sich nach seiner Rückkehr ins freiwillige Exil nach West- und Mitteleuropa, wo er - von einer kurzen Unterbrechung abge­sehen - bis 1917 blieb. 1903 betrieb er auf dem II. Parteikongreß in London die Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands in den Flügel der Menschewiki (Minderheitler) und Bolschewiki (Mehrheitler). Die Menschewiki standen unter der Führung von Plechanow; sie befürworteten den Aufbau einer sozialdemokratischen Massenpartei westlichen Typs. Die Bolschewiki unter Lenin vertraten den Aufbau einer revolutionären Elitepartei, die Partei als «Avantgarde des Proletariats». Nach der russischen Februarrevolution reiste Lenin 1917 mit deutscher Hilfe nach Rußland, um die Revolutson sn sesnem Sinne weiterzutreiben. In der Oktoberrevolution (nach unserem Kalender im November) gelang ihm der Sturz der bisherigen Provisorischen Regierung und die Übernahme der Macht: Lenin wurde im November 1917 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare innerhalb Rußlands, das durch die Verfassung vom 10. Juli 1918 zur «Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik» um­gewandelt wurde. Unter der Führung von Lenin gelang es den Bolschewisten, alle übrigen Parteien zu unterdrücken - zum Teil in einem blutigen Bürgerkrieg - und als «Kommunistische Partei Rußlands» die alleinige Herrschaft im Land auszuüben. Die Partei war organisiert nach dem Prinzip des «demokratischen Zentralismus« mit Willensbildung von oben nach unten und bedingungslosem Gehorsam; sie übte eine auf die Geheimpolizei und die Rote Armee gestützte Diktatur aus und propagierte die kommunistische Weltrevolution, die sie mit Hilfe der 1919 gegründeten III. kommunistischen Internationale, dem «Komin­tern», zu befördern hoffte. Die nach Unabhängigkeit strebenden russischen Rand- und Kolonialgebiete wurden mit Waffengewalt mit Rußland vereinigt und durch die Verfassung vom 30. Dezember 1922 - faktisch zentralistisch - in der «Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken» (UdSSR) zusammengefaßt. Seit 1922 war Lenin gesundheitlich angeschlagen und damit politisch weitgehend handlungsunfähig. Nach seinem Tode im Januar 1924 wurde Lenin in der Sowjetunion sozusagen zum Staatsheiligen; seine Lehre, der «Marxismus-Leni­nismus«, galt als allein richtige Anschauung.

Lew (Leo) Davidowitsch Trotzki (eigentlich Leib Bronstein), 1879-1940, marxi­stischer Theoretiker und russischer Revolutionär, von bürgerlicher Herkunft. Wegen revolutionärer Tätigkeit verhaftet und 1900 in die Verbannung geschickt, entschied er sich schon als ganz junger Mann für den Marxismus. 1902 gelang ihm die Flucht ins Ausland. Trotzki lehnte die politischen Ansichten Lenins zunächst ab und trat 1903 auf dem Parteitag in London für die Einheit der «Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands« ein und verhielt sich neutral gegenüber den Meinungsunterschieden zwischen den beiden Flügeln. In der Revolution von 1905 war er der Organisator des Petersburger Sowjets; von November bis Dezember 1905 war er sogar dessen Vorsitzender. Im Zusammenhang

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mit dessen gewaltsamer Auflösung wurde er wieder verhaftet und 1906 in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Bereits 1907 gelang ihm die Flucht ins Ausland, wo er in verschiedenen Ländern, vor allem in Österreich und in der Schweiz als Publizist wirkte. 1917 kehrte er wieder nach Rußland zurück, wo er sich den Bolschewiki anschloß - nach der Aussöhnung mit Lenin im Jahre 1915. Im Oktober 1917 wurde er erneut zum Vorsitzenden des Petersburger Sowjets gewählt und organisierte an der Spitze des Militärischen Revolutionskomitees die Machtübernahme der Bolschewiki. In der neuen Revolutionsregierung über­nahm er das Amt eines Volkskommissars des Äußeren und leitete die russische Delegation bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Von 1918 bis 1925 wirkte er als Volkskommissar für Verteidigung, betrieb den Aufbau der Roten Armee und sicherte damit den Bolschewiki den Sieg im russischen Bür­gerkrieg. Noch zu Lebzeiten Lenins entwickelte sich Josef Stalin, zunächst Volkskommissar für Nationalitäten und seit 1922 Generalsekretär des Zentral-komitees der Kommunistischen Partei, zum persönlichen Gegner Trotzkis, des­sen Theorie von der permanenten Revolution er ablehnte. Auf Betreiben Stalins wurde Trotzki 1925 entmachtet und schließlich 1927 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen, lebte er seitdem in verschiedenen Ländern im Exil, zuletzt in Mexiko. Von dort aus begründete er 1938 die IV. - trotzkistische - Internationale. 1940 wurde er auf Befehl Stalins von Agenten des sowjetischen Geheimdienstes ermordet.

22 im sozialdemokratischen Sinne: Gemeint ist im «marxistischen« Sinne, denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Sozialdemokraten noch ganz auf die Ideen von Karl Marx ausgerichtet - im Gegensatz zu heute, wo sie zu Anhän­gern der »sozialen Marktwirtschaft» geworden sind.

daß diese Bannerträger für die erste Zeit, in der man die Räterepublik einführt, eme wesentliche Verschlechterung ihrer Lehenslage erfahren müssen: Zum Pro­blem einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage gerade des Industrieprole­tariats - trotz Entmachtung der besitzenden Klassen - schrieb Varga im Kapitel «Rückgang der Lebenshaltung des industriellen Proletariats zu Beginn der Dikta­tur»: «Zusammenfassend kann festgestellt werden: Das Proletariat erobert die politische Macht in erster Linie in der Absicht, seine Lebenshaltung zu heben. Die Erhöhung der Lebenshaltung wird sofort verwirklicht für das landwirtschaft­liche Proletariat; sie ist dagegen unmöglich für die Elitetruppe der Revolution, für das industrielle Proletariat. Vorübergehend kann wohl durch Raubwirtschaft, durch gesteigerte Ausschlachtung des Viehstandes der Landwirtschaft auch der Standard der industriellen Arbeiterschaft erhöht werden; allein diese Erhöhung hätte naturgemäß keinen bleibenden Charakter. Der innere Widerspruch besteht darin, daß das Proletariat von der politischen Macht nur zu einer Zeit Besitz er­greifen kann, wo die Niederhaltungskraft der herrschenden Klasse sich gelockert hat. Dem geht aber naturgemäß eine so starke Desorganisation des Produktions­apparates voraus, daß es vorläufig unmöglich wird, den Standard des industriellen Proletariats wirklich zu erhöhen. Dies muß dem industriellen Proletariat offen und nachdrücklich klar gemacht werden, damit es nicht in Versuchung kommt, die Diktatur trügerischen Vorspiegelungen einer besseren Verpflegung zuliebe im Stich zu lassen, wie es in Ungarn geschehen ist.»

23 Überhaupt ist es sehr interessant, wie er es mit den drei Gliedern des sozialen Organismus hält: Im Kapitel «Das Problem der Beamtenschaft» unterschied Varga zwischen drei verschiedenen gesellschaftlichen Eliteschichten, die er gesamthaft

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als Beamte bezeichnete: «1. Das unmittelbar der Gewaltorganisation der herrschenden Klasse angehörende Beamtentum: Berufsoffiziere und Unteroffiziere aller bewaffneten Formationen, Verwaltungs- uund Justizbeamte. Diese Schichte ist ideologisch mit der herrschenden Klasse am engsten verbunden, besitzt ein starkes Standesgefühl und die Neigung, eine selbst von der Politik der wirtschaftlich herrschenden Klasse verschiedene, eigene Politik zu treiben. [...] 2. Das Lehrpersonal aller Stufen: die am schlechtesten bezahlte, im Kapitalismus geringgeschätzte Schichte des Beamtentums, welche sich am leichtesten dem Proletariat anschließt. 3. Das wirtschaftliche Beamtentum, welches in der Pro­duktion und in der Zirkulation beschäftigt ist. Ein Teil verrichtet unentbehr­liche, produktive Funktionen: Ingenieure, Chemiker, Techniker, Ökonomen, Organisatoren, Werkführer; ein anderer Teil versieht den notwendigen Vertei­lungs- und Überwachungsdienst; ein dritter Teil ist nur in der Konkurrenz tätig und gehört zu den faux frais des kapitalistischen Wirtschaftssystems.» Diese drei Gruppen seien unterschiedlich zu behandeln: »Die erste Gruppe, die Beamten­schaft der Gewaltorganisation des alten Staates, muß auseinandergejagt, ihr organisatorischer Aufbau zerschlagen werden. Erst nach vollständiger Auf­lösung der alten Gewaltorganisationen können dieselben als einzelne Personen in den Dienst des Proletarierstaates wieder eingestellt werden. Anders steht es mit dem Lehrpersonal; dieses kann durchweg in den Dienst des Proletarierstaa­tes übernommen werden, nur die Spitzen müssen gesäubert werden, was bei dieser Schicht auf geringe Schwierigkeiten stößt.» Und die dritte Schicht: »Um eine entsprechende Arbeitsleistung in den Betrieben zu erreichen, ist eine Ver­ständigung zwischen der Arbeiterschaft und dem technischen Beamtenpersonal der Fabriken unbedingt notwendig.» Aber das gelang in der Zeit der Räterepu­blik nur unzureichend: »Die Beamten [...] verloren - von der kleinen Schicht der wirklich Überzeugten abgesehen - die Freude an der Arbeit, als sie nicht nur die erhoffte führende Stellung in der Produktion und in der Politik selbst­verständlich nicht erhielten, sondern selbst ihre bisherigen Vorrechte gefährdet sahen.»

24 Man hat die Unternehmungen einfach enteignet: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.246.

Es wurde die Wahl von Betriebsräten verfügt: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.246.

25 Diese Produktionskommissäre waren die eigentlichen zentralen Beamten im Wirtschaftsleben: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.246.

26 und bemerkt dazu in einem Nebensatz: Im Kapitel »Die Expropriation der Expropriateure» zählte Varga die vier Anforderungen auf, denen die neue Lei­tungsorganisation durch Betriebsräte und Produktionskommissare zu genügen hatte: »1. Sie muß in der Arbeiterschaft des Betriebes selbst wurzeln, um die Disziplin sicherstellen zu können. 2. Sie muß die Eingliederung des Betriebes in die zentrale Wirtschaftsorganisation gewährleisten. 3. Sie darf nicht bürokratisch erstarren. 4. Sie muß politisch zuverlässig sein.» Und dann gleich weiter: »Dieses System entspricht allen vier oben genannten Forderungen - wenn die Person des Produktionskommissärs eine entsprechende ist!» So sah sich Varga gezwungen, aufgrund der gemachten Erfahrungen einzugestehen: »Die größte Schwierigkeit bietet die Auswahl der entsprechenden Betriebskommissäre. Es ergibt sich hier ein kaum meisterbarer Widerspruch. Um den glatten Fortgang der Produktion

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zu sichern, ist ein kommerziell und technisch gebildeter Fachmann erwünscht. Gerade diese Leute sind aber politisch für ein Regime der Arbeiterschaft nicht zuverlässig.» Und zu welcher Maßnahme führten diese Schwierigkeiten? Varga:

«In vielen Fällen mußte zu einer Doppelbesetzung geschritten werden: neben dem Bourgeoisfachmann wurde als politischer Kontrollor ein Arbeiter gestellt oder dem Arbeiterkommissär ein technischer Fachmann beigestellt.» Und als Folgerung zog er im nächsten Kapitel den Schluß: «Es bedarf eines langsamen Ausleseprozesses, bis auf jeden Platz die richtigen Männer gefunden werden können.»

28 Diskussionsabend: Auch der Diskussionsabend vom 19. Juli wie alle weiteren Diskussionsabende in Dornach fanden im Saal der Schreinerei statt.

19. Juli1920: An diesem Tag fand die erste Sitzung des Futurum-Verwaltungs-rates nach der Gründung dieses Unternehmens unter der Leitung von Rudolf Steiner statt.

Anschließend melden sich verschiedene Redner: Die einzelnen Voten sind nicht mitstenografiert worden.

31 Rabindranath Tagore (eigentlich Thakur), 1861-1941, indischer Dichter, Philo­soph und Freiheitskämpfer. Er entstammte einer wohlhabenden Familie aus der Brahmanenkaste. Als junger Mann studierte er in England. Zurückgekehrt nach Indien, entwickelte er eine vom damaligen englischen Erziehungssystem bewußt abweichende Pädagogik und gründete 1901 in Santiniketan eine eigene Schule, die er 1921 zu einer Universität erweiterte. Tagore unternahm im Laufe seines Lebens verschiedene Vortragsreisen nach Europa und Amerika. Er beteiligte sich am indischen Unabhängigkeitskampf, mahnte jedoch zu Besonnenheit und lehnte gewaltsame Aktionen ab. Durch sein großes lyrisches Werk gilt Tagore als Begründer der modernen bengalischen Sprache; 1913 erhielt er den Nobel-preis für sein Schaffen.

hat ein ganz niedliches Bild gebraucht für den heutigen Kulturmenschen: In seinem ins Deutsche übersetzten Buch über den »Nationalismus», erschienen in Leipzig 1918, schreibt Tagore im Kapitel über den »Nationalismus im Westen»:

»So ist der Mensch, wenn seine geistige und körperliche Kraft sich weit über seine sittliche Kraft hinaus entwickelt, wie eine Giraffenkarikatur, deren Kopf plötzlich meilenweit über ihren übrigen Körper hinaus emporgeschossen und kaum noch in Verbindung mit ihm ist. Dieser gierige Kopf mit seinem gewalti­gen Gebiß hat alle Gipfel der Bäume abgefressen, aber die Nahrung gelangt zu spät in die Verdauungsorgane, so daß das Herz an Blutmangel leidet. Aber der Westen selbst scheint in glücklicher Unwissenheit über diese Disharmonie in seiner Natur zu leben. Die erstaunliche Größe seines materiellen Erfolgs nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und er wünscht sich Glück zu seinem Wachstum. Der Optimismus seiner Logik berechnet sein zunehmendes Gedei­hen nach der Ausbreitung seines Eisenbahnnetzes und sieht noch unendliche Möglichkeiten. Er ist oberflächlich genug zu denken, daß alle Morgen dem Heute gleichen und ihm nur vierundzwanzig Stunden hinzufügen. Er fürchtet die Kluft nicht, die sich mit jedem Tag weiter öffnet zwischen seinen sich fül­lenden Vorratshäusern und der hungernden Menschheit. Seine Logik weiß nicht, daß tief unter den endlosen Schichten von Reichtum und Behagen Erdbeben sich vorbereiten, die das Gleichgewicht in der sittlichen Welt wiederherstellen sollen

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und daß eines Tages der gähnende Abgrund geistiger Leere den ganzen aufge­häuften Reichtum dieser staubgeborenen Dinge verschlingen wird.»

32 Wer hat denn da regiert: Deutschland war bis zur Revolution von 1918 eine konstitutionelle Monarchie, mit einem Kaiser - Wilhelm II. - an der Spitze. Auch wenn der Kaiser beanspruchte, ein »persönliches Regiment« zu führen, so beschränkte er sich meist auf bloßes Reden, dem kaum Taten folgten. Die tat­sächliche politische Macht lag weniger in den kaiserlichen Händen, als in den­jenigen einer konservativ eingestellten Elite von Adel und Großbürgertum sowie von Berufsmilitär und Beamtentum.

Wilbelm IL, 1859-1941, aus der Dynastie der Hohenzollern. Trat im Juni 1888 als Nachfolger seines Vaters, Friedrich III., der nur vier Monate regierte, das Amt eines deutschen Kaisers und zugleich Königs von Preußen an. Innenpoli­tisch strebte er nach einem verstärkten Einfluß der monarchischen Gewalt. Im Verhältnis zu den übrigen Großmächten befürwortete er esne auf dem Ausbau der Flotte beruhende, nach Weltgeltung strebende Politik. Hinter seinen milita­ristischen Reden versteckte sich aber mehr Großsprecherei als echter Wille zur kriegerischen Auseinandersetzung. Seit der »Daily-Telegraph»- Affäre im Jahre 1908 - ausgelöst durch ein unüberlegtes Interview für eine englische Zeitung -verlor er entscheidend an politischem Einfluß; die faktische Einführung einer Militärdiktatur durch Erich Ludendorff nach dem Sturz von Reichskanzler Theodor Bethmann Hollweg im Juli1917 besiegelte diese Entwicklung. Mit der Einführung der parlamentarischen Monarchie in Deutschland, die im Oktober 1918 im Hinblick auf ein Entgegenkommen gegenüber den Ententemächten zustandekam, wurde auch verfassungsrechtlich einem persönlichen Regiment des Kaisers jede Grundlage entzogen: die Regierung hing nicht mehr vom per­sönlichen Vertrauen des Kaisers, sondern von der Parlamentamehrheit ab. Nach der feststehenden Niederlage und dem Ausbruch von revolutionären Unruhen wurde Wilhlem II. im November 1918 zur Abdankung gezwungen: der letzte Reichskanzler, Prinz Max von Baden, verkündete eigenmächtig den Thronver­zicht des Kaisers. Wilhelm II. floh nach Holland ins Exil.

in der letzten Juliwoche 1914: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 119.

Ich habe das m memen «Kernpunkten» nur so angedeutet, daß ich sagte: es war da alles in die Nullität gekommen: Im vierten Kapitel der «Kernpunkte»(GA 23) schrieb Rudolf Steiner über die damalige Situation der deutschen Politik: »Wer sie kennt, der weiß, wie die deutsche Politik damals sich als die eines Kartenhau­ses verhielt und wie durch ihr Ankommen im Nullpunkt ihrer Betätigung alle Entscheidung, ob und wie der Krieg zu beginnen war, in das Urteil der militä­rischen Verwaltung übergehen mußte. Wer maßgebend in dieser Verwaltung war, konnte damals aus den militärischen Gesichtspunkten heraus nicht anders handeln, als gehandelt worden ist, weil von diesen Gesichtspunkten die Situation nur so gesehen werden konnte, wie sie gesehen worden ist. Denn außer dem militärischen Gebiet hatte man sich in eine Lage gebracht, die zu einem Handeln gar nicht mehr führen konnte. Alles dieses würde sich als eine weltgeschichtliche Tatsache ergeben, wenn jemand sich fände, der darauf dringt, die Vorgänge in Berlin von Ende Juli bis 1. August, namentlich alles das, was sich am 1. August und 31. Juli zutrug, an das Tageslicht zu bringen.»

33 An einem bestimmten Tage des Jahres 1917 wurde Tbeobald von Bethmann Hollweg abgesägt als deutscher Reichskanzler: Der Sturz des seit Juli 1909 amtierenden

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Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1929) war das Ergebnis eines Intrigenspiels zwischen Mitgliedern des Reichstages und der Obersten Heeresleitung. Es waren vor allem der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger, der Nationalliberale Gustav Stresemann und Oberstleutnant Max Bauer als Beauftragter von Generalquartiermeister Erich Ludendorff, die den Kanzlersturz betrieben - und dies aus ganz unterschiedlichen Motiven. Am 12. Juli 1917 fand eine Besprechung zwischen dem Kronprinzen Wilhelm und einigen wichtigen Parteiführern des Reichstages statt. An dieser nahmen neben Erzberger und Stresemann auch Vertreter der konservativen und sozialdemokra­tischen Fraktion teil. Im Verlaufe dieser Unterredung wurde klar, daß niemand gewillt war, den Sturz von Bethmann Hollweg zu verhindern. Die Entscheidung brachte schließlich ein Ultimatum Hindenburgs und Ludendorffs. Die beiden drohten mit Schreiben vom 12. Juli 1917 mit ihrem Rücktritt, falls Bethmann Hollweg weiterhin Reichskanzler bliebe. Kaiser Wilhelm II., der ursprünglich an sesnem Reichskanzler festhalten wollte - laut Verfassung mußte der Reichs­kanzler das Vertrauen des Monarchen, nicht aber des Reichstages genießen -, schien nichts anderes übrigzubleiben, als sich der Obersten Heeresleitung zu beugen und ihn mit Datum vom 13. Juli 1917 zu entlassen. Damit hatte er im Grunde politisch abgedankt, hatte er doch auf das ihm verfassungsmäßig zu­stehende Recht auf Regierungsbildung verzichtet.

33 Matthias Erzberger, 1875-1921, deutscher Politiker. Ursprünglich Volkssclsul­lehrer, betätigte er sich als Redakteur im katholischen Pressewesen. Von 1903 bis 1918 war er Mitglied des Reichstages, wo er zum Führer des linken Zen­trumsflügels wurde. Zunächst Befürworter von Annexionen, setzte er sich seit 1917 für einen Verständigungsfrieden ein; die Friedenaresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917 ging auf seine Initiative zurück. In der Endphase des deut­schen Kaiserreiches spielte er eine ziemlich einflußreiche innen- und außen­politische Rolle. In der Regierung von Prinz Max von Baden wurde er zum Staatssekretär ohne Portefeuille ernannt, trat an die Spitze der Waffenstillstands-kommission und unterzeichnete den Waffenstillstand. 1919 wurde er nicht nur in die Nationalversammlung gewählt, wo er für die Annahme des Friedensver­trages eintrat, sondern bekleidete seit 1919 in den Regierungen von Philipp Scheidemann und Gustav Bauer auch verschiedene Ministerposten. Am Schluß war er Reichsfinanxminister und in dieser Eigenschaft verantwortlich für die Verwirklichung einer Steuerreform, die die Finanzhoheit beim Reich zentrali­sierte. Im März 1920 trat Erzberger von allen seinen Ämtern zurück, weil er sich im Verleumdungsprozeß gegen den rechtskonservativen Finanzpolitiker Karl Helfferich (1872-1924) nicht durchsetzen konnte, der ihn des persönlichen Miß­brauchs seiner Stellung und der Steuerhinterziehung beschuldigt hatte. Für den Herbst 1921 plante er, seine politische Tätigkeit wieder aufzunehmen, wurde aber von Mitgliedern der rechtsradikalen Organisation Consul ermordet.

daß im heutigen England jene Persönlichkeit herrscht, die auf den Bildern: König Georg V. aus dem Hause Windsor; er regierte vom Mai 1920 bis Januar 1936.

David Lloyd George, 1863-1945, britischer Staatsmann. Aus einfachen Verhält­nissen stammend, hatte er sich zum Anwalt emporgearbeitet und zeigte großes Geschick als politischer Redner. 1890 wurde er Mitglied des Unterhauses, wo er sich der liberalen Parteirichtung zuzählte. Er bekannte sich zu einem sozialen Liberalismus und trat entschieden für Sozialreformen und Selbstverwaltung der Dominions ein. In den für solche Reformen aufgeschlossenen liberalen Regierungen

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von Sir Henry Campbell-Bannermann - Dezember 1905 bis April 1908

- und Herbert Henry Asquith - April 1908 bis Dezember 1916 - bekleidete er verschiedene Regierungsämter: zeitweise war er Handelsminister, Schatzkanzler und Munitionsminister. Im Dezember 1916 stürzte er mit einem Teil der libe­ralen Parlamentifraktion und in Zusammenarbeit mit den Konservativen Pre­mierminister Asquith und seine Koalitionsregierung wegen zu wenig aktiver Kriegiführung. Als Führer der neuen parlamentarischen Mehrheit wurde er im Dezember 1916 zum Nachfolger von Asquith gewählt. Lloyd George regierte mit fast diktatorischer Gewalt, mit Hilfe eines nur ganz wenige Menschen umfassenden Kriegsrates. Trotz des zunehmenden Gewichts der Konservativen blieb Lloyd George auch nach dem Kriegsende weiterhin an der Spitze der Koalitionsregierung und war der Hauptvertreter Großbritanniens auf dem Ver­sailler Friedenskongreß. Im Oktober 1922 sah er sich wegen seiner außenpoli­tischen Mißerfolge gegenüber der nationalistischen Türkei gezwungen, seinen Rücktritt zu erklären. Anschließend bemühte er sich um Wiedervereinigung der liberalen Partei, die zwar 1923 zustandekam, aber den Niedergang dieser Partei nicht mehr aufzuhalten vermochte. Lloyd George blieb bis zu seinem Tode im Unterhaus, verlor aber jeden politischen Einfluß; vorübergehend gehörte er sogar zu den Bewunderern Hitlers.

34 Sie mußten doch denjenigen angeboten werden, welche irgend etwas machen konnten: Im Laufe des Ersten Weltkriegs zeigte ei sich, daß - abgesehen von den Hoffnungen auf einen Frieden durch totalen Sieg mit entsprechenden Gebiets-erweiterungen - bei den leitenden Staatsmännern Mitteleuropas keine brauch­baren Vorstellungen über eine mögliche künftige Friedensgestaltung in Europa bestanden, die dem abstrakten Friedensprogramm des amerikanischen Präsiden­ten Thomas Woodrow Wilson hätten entgegengesetzt werden können. Ange­sichts dieses Ideenvakuums erklärten sich die beiden Mitarbeiter von Rudolf Steiner, Otto von Lerchenfeld und Ludwig von Polzer-Hoditz, bereit, ihre Beziehungen zu den höchsten politischen Kreisen einzusetzen, um diese Leute mit der Dreigliederungsidee bekanntzumachen und vielleicht auf diese Weise eine Änderung der ausweglosen Politik zu erreichen. Zu ihren Handen verfaßte Rudolf Steiner im Juli 1919 zwei Memoranden (in GA 24), in denen er die Grundzüge der Dreigliederungsidee darstellte. Auf diese Weise, zum Teil unter­stützt durch persönliche Unterredungen mit Rudolf Steiner, wurden auf deut­scher Seite vor allem Außenminister Richard von Kühlmann und Graf Johann-Heinrich von Bernstorff, der deutsche Botschafter in den Vereinigten Staaten, sowie der badische Thronfolger und künftige Reichskanzler Prinz Max von Baden mit der Dreigliederungsidee bekannt, auf österreichisch-ungarischer Seite waren es Kaiser Karl I. und Ernst Seidler von Feuchtenegg, der Ministerpräsi­dent für die österreichische Reichshälfte. Näheres zu diesem Versuch siehe «Bei­träge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Nr.15, »Das Jahr 1917 - Im Geden­ken an ein geistes- und weltgeschichtliches Ereignis«.

der Friede von Brest-Litowsk: Am 15. Dezember 1917 wurde der Waffenstill­stand zwischen den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei, Bulgarien) und Sowjetrußland geschlossen. In den anschließenden Friedensver­handlungen in Brest-Litowsk konnte man sich wegen der weitgehenden Forde­rungen der Mittelmächte nicht einigen, so daß die Feindseligkeiten am 18. Fe­bruar 1918 wieder aufgenommen wurden. Aufgrund des raschen deutschen Vormarsches - »Eisenbahnvormarsch» - kapitulierte die Sowjetregierung, und

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am 3. März 1918 wurde der Friede von Brest-Litwosk unterzeichnet. Rußland verlor Finnland, Kurland und Litauen, Polen, Ukraine und im Zusatzvertrag vom 27. August 1918 zusätzlich Estland und Livland. Auch Gebiete in Trans­kaukasien mußten abgetreten werden. Durch den Abschluß des Vertragswerkes von Brest-Litowsk kam ein Siegfrieden zustande, der für Deutschland die Er­reichung maximaler Kriegiziele im europäischen Osten bedeutete. Nach der November-Revolution in Deutschland wurde der Vertrag von der Sowjetregie­rung einseitig gekündigt und im Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 endgültig annulliert, jedoch wurde die Abtretung der westlichen nichtrussischen Gebiete von den Allierten aufrechterhalten.

34 Es hätte sich darum gehandelt, daß in die realen Taten des Friedens von Brest­Litowsk diese Dreigliederungsidee hinein geflossen wäre: Die deutsche Delega­tion, die die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk führte, wurde vom deut­schen Außenminister, Richard von Kühlmann (1873-1948) geleitet Küblmann, ein ehemaliger Diplomat, war seit dem 7 August 1917 Staatisekretar des Aus wärtigen Amts. Im Grunde war er Anhanger eines Verstandigungsfriedeni und er hatte auch das Dreigliederungs Memorandum von Rudolf Steiner durchstu diert und mitgenommen Rudolf Steiner hatte ihm die erste Fassung dieses Memorandums im Laufe eines personlichen Gesprachs das im August 1917 in Berlin stattgefunden haben muß uberreicht aber er konnte sich nicht dazu durchringen, sich öffentlich zu diesen Ideen zu bekennen und fur ihre Verwirk lichung einzutreten. So tat er eigentlich das Gegenteil dessen, wovon er uber­zeugt war, und bot Hand zum Abschluß eines Diktatfriedens. Rudolf Steiner sagte dazu in einem Stuttgarter Mitgliedervortrag vom 21. April 1919 (in GA 192): »Sehen Sie, ein ganz anderes wäre es gewesen, wenn noch in der Mitte oder selbst noch im Herbste des Jahres 1917 diese Dreigliederung von bedeutungivol­1er Seite, entweder Deutschlands oder Österreichs, geltend gemacht worden wäre, als eine Kundgebung der Impulse Mitteleuropas gegenüber den aus ame­rikanischen Gesichtspunkten entworfenen sogenannten Vierzehn Punkten des Woodrow Wilson. Dazumal wäre das eine historische Notwendigkeit gewesen. Ich habe Kühlmann dazumal gesagt: Sie haben die Wahl, entweder jetzt Ver­nunft anzunehmen und auf da« hinzuhorchen, was in der Entwicklung der Menschheit sich ankündigt als etwas, was geschehen soll [...], heute haben Sie die Wahl, entweder Vernunft anzunehmen und das, was sich realisieren will, durch Vernunft zu realisieren, oder Sie gehen Revolutionen oder Kataklysmen entgegen. - Statt Vernunft anzunehmen, bekamen wir den Frieden von Breit­Litowsk, den sogenannten Frieden von Brest-Litowsk. Denken Sie, was es ge­wesen wäre [...], wenn gegenüber den sogenannten Vierzehn Punkten dazumal in den Donner der Kanonen die Stimme des Geistes hineingetönt hätte. Ganz Osteuropa hätte dafür Verständnis gehabt - das weiß jeder, der die Kräfte in Osteuropa kennt -, den Zarismus ablösen zu lassen von der Dreigliederung des sozialen Organismus. Dann wäre zustandegekommen, was eigentlich hätte zu­standekommen müssen.« Kühlmann trat am 9. Juli 1918 zurück, nachdem er sich in seiner Reichstagirede vom 24. Juni 1918 in Gegensatz zu den annexionisti­sehen Kriegsziel-Vorstellungen der Obersten Heeresleitung gestellt hatte.

es war kurz nach dem Frieden von Brest-Litowsk, da kam ich nach Berlin und sprach einen Herrn, der in vieler Beziehung Ludendorffs rechte Hand war: Mit welcher Persönlichkeit sich Rudolf Steiner besprochen hatte und wann genau im Jahre 1918 diese Unterredung stattgefunden hatte, ist nicht bekannt; es können

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darüber höchstens Vermutungen angestellt werden. Was die Persönlichkeit be­trifft, so handelte es sich wahrscheinlich um Oberst Hans von Haeften, der zu diesem Zeitpunkt die militärische Stelle des Auswärtigen Amtes leitete. Eine der Hauptaufgaben dieser Dienststelle war die militärische Propaganda gegenüber dem Ausland. Obwohl eigentlich dem Auswärtigen Amt zugehörig und von diesem finanziert, unterstand sie faktisch der Obersten Heeresleitung. Da die Propaganda für die Kriegführung eine wichtige Rolle spielte und in der dama­ligen Obersten Heeresleitung Generalquartiermeister Erich Ludendorff eine tonangebende Rolle spielte, könnte die Bezeichnung Steiners, «in vieler Bezie­hung rechte Hand von Ludendorff», durchaus auf Haeften zutreffen. Jedenfalls beschrieb Ludendorff in seinen Memoiren »Meine Kriegserinnerungen 1914-1918» (Berlin 1919) Oberst von Haeften als »ein geistig ungemein hochstehen-der, von glühender Vaterlandsliebe erfüllter Offizier, der alles, was er erfaßt, mit seiner von idealem Schwunge getragenen Arbeitskraft durchdringt und die Gabe besitzt, aufzubauen und seine Mitarbeiter fortzureißen.» Die Unterredung zwi­schen Steiner und der fraglichen Militärperson muß irgendwann im März 1918, vor der Auslösung der Frühjahrsoffensive, stattgefunden haben. Angesichts die­ser bevorstehenden Offensive, von der man schon seit Januar wußte, daß sie geplant war, wollte Rudolf Steiner auf die Fragwürdigkeit eines Vorgehens hin­weisen, das mit militärischen Mitteln einen Frieden zu erzwingen suchte. Die Unterredung führte aber zu keinem greifbaren Ergebnis. Der militärische An­griff wurde am 21. März 1918 eröffnet, mit dem Ziel, die englische Front auf­zurollen, mußte aber am 6. April 1918 ohne Erfolg abgebrochen werden. Rudolf Steiner erwähnte in seinen Vorträgen immer wieder diese Unterredung - 50 zum Beispiel im Mitgliedervortrag vom 21. März 1921 in Stuttgart (in GA 174b), wo er sich erinnerte: «Und ich hatte zu sprechen mit einer militärischen Persönlich­keit, die dem General Ludendorff außerordentlich nahestand. Das Gespräch nahm ungefähr die Wendung, daß ich sagte: Ich will mich nicht der Gefahr aussetzten, daß man mir vorwerfen könnte, ich wolle in militärisch-strategische Dinge hineinreden, sondern ich will von einem gewissen Ausgangspunkt spre-ehen, von dem aus dieser militärische Dilettantismus, den ich haben könnte, nicht in Betracht käme. - Ich sagte, daß in einer Frühjahrsoffensive Ludendorff möglicherweise alles das erreiche, was er sich überhaupt nur träumen lassen könne, aber ich würde diese Offensive trotzdem für ein Unding halten -, und ich führte die drei Gründe an, die ich dafür hatte. Der Mann, zu dem ich sprach, wurde recht aufgeregt, und er sagte: Was wollen Sie? Der Kühlmann hat ja Ihr Elaborat in der Tasche. Damit ist er ja nach Brest-Litowsk gezogen. So werden wir von der Politik bedient. Die Politik ist nichts bei uns. Wir Militärs können nichts anderes tun als kämpfen, kämpfen, kämpfen.»

34 Ich sprach auf dieser Reise auch mit dem Prinzen Max von Baden schon im Januar über die Dreigliederung: Prinz Max(imilian) von Baden (1867-1929) war badischer Thronfolger und galt damals wegen seiner liberalen Gesinnung als politischer Hoffnungsträger; im Oktober 1918 übernahm er das Amt eines Reichskanzlers, konnte aber den Ausbruch einer allgemeinen Revolution nicht mehr verhindern. An welchem Tag genau die Zusammenkunft zwischen Rudolf Steiner und dem Prinzen stattgefunden hat, weiß man nicht genau, aber es muß zwischen dem 18. und 20. Januar 1918 gewesen sein. Die beiden Männer spra­chen über die Dreigliederungsidee als notwendige Grundlage für eine deutsche Friedensinitiative, und Rudolf Steiner fand bei ihm durchaus ein gewisses Ver­ständnis für diese Idee. Im Mitgliedervortrag vom 24. November 1921 in Kri­stiania

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(Oslo) (in GA 209) berichtete Rudolf Steiner über diese Unterredung:

«Und es wurde von dieser Persönlichkeit sehr bedauert, daß eigentlich keine Möglichkeit sei, bei der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten so etwas wie eine Seelenkunde der Völker zugrundelegen zu können. Ich erwiderte, daß ich über diese Seelenkunde der europäischen Völker hier in Kristiania einen Vortragszyklus gehalten habe, und ich habe dann dieser Persönlichkeit diesen Vortragszyklus mit einer aus der damaligen Situation - Januar 1918 - heraus geschriebenen Vorrede geschickt.» Und zum Erfolg seiner Bemühungen: »Ge­nützt hat es allerdings nichts [...], aus dem Grunde nichts, weil jene Reife, die notwendig wäre, um wirklich einzusehen, wie stark die Niedergangskräfte sind, diese Reife, die schon in einer großen Anzahl von Seelen da wäre, eben von diesen Seelen nicht bewußt angestrebt werden will.» Für Rudolf Steiner war die Anerkennung der Vierzehn Punkte durch die Regierung des Prinzen von Baden eine große Enttäuschung, schrieb er doch im vierten Kapitel der «Kernpunkte» (GA 23): «Zu der Nichtigkeit der Politik vom Anfange des Krieges kam die andere vom Oktober 1918, kam die furchtbare geistige Kapitulation, herbei­geführt von einem Manne, auf den viele in deutschen Landen so etwas wie eine letzte Hoffnung setzten.»

35 die verrückten Vierzehn Punkte: Am 8. Januar 1918 - in einer Rede vor dem amerikanischen Kongreß - hatte der amerikanischen Präsident Woodrow Wil­son (März 1913 bis März 1921) einmal mehr sein nun in vierzehn Punkten zusammengefaßtes Programm für den Weltfrieden und die Neuordnung Euro­pas nach dem Ersten Weltkrieg verkündet. Die beiden wichtigsten Forderungen dieser Vierzehn Punkte waren die Einrichtung eines Völkerbundes und die Gewährung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes für die Völker Europas -eine Idee, deren Verwirklichung gerade in Gebieten mit starker Durchmischung der Völker, wie es besonders im Osten und Südosten Europas der Fall war, zu schweren ethnischen Konflikten führen mußte. Rudolf Steiner war von allem Anfang an ein Gegner von Wilsons Ideen, die er als lebensunpraktisch ablehnte. In seinem in der Dreigliederungszeitung vom 23. März 1920 (1. Jg. Nr.38) erschienenen Aufsatz, «Die Führer und die Geführten», schrieb er (in GA 24):

»Von Amerika aus kamen die vierzehn Wilsonschen Schein-Ideen. Wer mit den wirklichen Tatsachen rechnen kann, mußte wissen, daß aus diesen Schein-Ideen sich eine Neugestaltung der in die Zerstörung treibenden Zivilisation nicht er­geben könne.» Deutschland hatte am 24. Januar 1918 die Vierzehn Punkte noch abgelehnt, sie aber in seinem Waffenstillstandsgesuch vom 3. Oktober 1918 anerkannt, was Rudolf Steiner in den «Kernpunkten» (GA 23) als »furchtbare geistige Kapitulation» wertete.

das kann ja heute noch bewiesen werden, welches der Inhalt war, denn der Herr, der mit mir war, lebt ja Gottseidank noch: In seinem Gespräch mit Staatssekre­tär Richard Kühlmann wurde Rudolf Steiner von Otto Graf Lerchenfeld beglei­tet. Lerchenfeld war aufgrund seines Adelstitels Mitglied des bayrischen Reichs-rates, der ersten Kammer des bayrischen Landtags. Und er war zugleich auch der Neffe von Hugo Graf Lerchenfeld, dem bayrischen Gesandten und ersten Vertreter Bayerns im deutschen Bundesrat, dem obersten Bundesorgan im deut­schen Kaiserreich. In einem Brief an Rudolf Steiner vom S. Mai 1921 bestätigte Graf Lerchenfeld, daß eine solche Unterredung zwischen Steiner und Kühlmann stattgefunden hatte. Der Brief lautete:

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Köfering, 5. Mai 1921

Sehr verehrter Herr Doktor!

Auf Ihren Wunsch bestätige ich gerne, daß Sie bei der Unterredung mit Richard Kühlmann, die Sie in meiner Gegenwart im Hause der bayrischen Gesandtschaft in Berlin gehabt haben Juli 1917) und in der Sie ihm die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus im Zusammenhange mit der Kriegskatastrophe ausein­andergesetzt haben, ihn klipp und klar auf die notwendigen Folgen eines Nicht­eingehens auf diese Ideen aufmerksam gemacht und dabei ungefähr die Worte gebraucht haben: «Entweder setzt sich so jemand wie Sie in Ihrer Position für die Dreigliederung offiziell gegenüber den Wilsonschen ein, oder es erfolgt ein unglückliches Kriegsende und daran sich schließende Revolutionen.» So ungefähr sagten Sie.

Es fiel mir auf, daß Kühlmann während der Unterredung wie geistesabwesend dasaß; er machte mir den Eindruck eines völlig übermüdeten Menschen, und konnte ich die ganze Zeit das unangenehme Gefühl nicht loswerden, daß er das, was Sie sagten, nicht aufnahm. Bei einem anderen Gespräch, das ich mit ihm hatte in seinem Büro, klagte er auch, daß er vor laufenden Arbeiten überhaupt nicht zu einem ruhigen Nachdenken komme. Ich hatte große Hoffnungen auf ihn gesetzt, da ich ihn für einen klugen Kopf hielt, was er ja auch wohl war.

Bei Bernstorff, mit dem ich schon vorher in seinem Hotel gesprochen hatte, war es mir bald klar, daß da zuviel Amerikanismus drinnen war. Das wurde mir noch klarer, als ich mit ihm später in Starnberg im Beisein seiner Frau nochmals eine lange Unterredung hatte (die Gräfin Bernstorff ist Amerikanerin).

All das, was Sie damals Kühlmann gegenüber als die notwendigen Folgen einer Ablehnung der Dreigliederungsidee begründet haben, ist ja zu unserem Unglück eingetroffen, und kann ich nur die Hoffnung aussprechen, daß sich bald die Leute finden mögen, die diese Ideen verwirklichen wollen zu unserem Heile,

In aufrichtiger Verehrung

Ihr dankbar ergebener

Lerchenfeld

Die Zeitangabe für dieses Gespräch - Juli 1917 - ist nicht ganz richtig; es muß nach dem 7. August 1917 stattgefunden haben, war doch Kühlmann erst von diesem Datum an als Staatssekretär im Auswärtigen Amt tätig. Und auch der Hinweis auf die Vierzehn Punkte Wilsons ist nicht ganz zutreffend, hatte dieser doch seine Ideen erst in der Rede vom 8. Januar 1918 in vierzehn Punkten zusammengefaßt.

35 sprach dann mit einem Herrn der Ludendorff sehr nahestand: Siehe Hinweis zu

S. 34.

36 das pseudo-monarchische England: Nach den revolutionären Wirren im 17. Jahr­hundert und mit der Inkraftsetzung der Bill of Rights vom 23. Oktober 1689 wurde England endgültig zur konstitutionellen Monarchie, in der die königliche Macht durch das Mitbestimmungsrecht des englischen Parlamentes beschnitten wurde. In den folgenden Jahrhunderten verschoben sich die Gewichte immer mehr zuungunsten der königlichen Befugnisse: England wurde zur parlamen­tarischen Monarchie, in der alle legislative und exekutive Macht der Mehrheits­partei im Parlament zufiel, während das Königtum nur noch Dekoration nach außen blieb.

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36 das hyper-monarchische Amerika: Die Regierungsform der Vereinigten Staaten - das heute noch gültige System der präsidialen Demokratie, eingeführt durch die Verfassung vom 4. März 1789 - zeichnet sich durch eine starke, vom Parlament unabhängige Stellung des vom Volk auf vier Jahre indirekt gewählten Präsiden­ten aus. Als unumsehränktes Oberhaupt der Exekutive und aufgrund seines aufschiebenden Vetorechtes in der Gesetzgebung, gegen das sich das Parlament nur mit einer Zweidrittelmehrheit durchsetzen kann, stellt der Präsident sozu­sagen das monarchische Element in der amerikanischen Verfassung dar, trotz republikanischer Dekoration nach außen.

das durch und durch republikanisch-monarchische Frankreich: Die dritte franzö­sische Republik war durch einen Kompromiß zwischen den republikanisch und monarchistisch eingestellten Kräften in Frankreich zustandegekommen. Die französischen Verfassungsgesetze vom 24. und 25. Februar sowie 16. Juli 1875 räumten dem vom Parlament auf sieben Jahre gewählten Präsidenten der Repu­blik sozusagen die Stellung eines konstitutionellen Monarchen ein, der nicht nur unumsehränktes Oberhaupt der Exekutivgewalt, sondern auch Mitwirkungibe­fugnisse in der Gesetzgebung besaß. Von den Monarchisten wurde er als Platz­halter für den künftigen französischen Monarchen aufgefaßt, von den Republi­kanern als republikanischer Ersatz für den ehemaligen Monarchen.

37 in der Dreigliederungszeitung meinen Aufsatz zu lesen über «Schattenputsche«:

Der Aufsatz von Rudolf Steiner mit dem Titel «Schattenputsche und Ideenpra­xis« erschien in der Wochensehrift »Dreigliederung des sozialen Organismus«, in der Nummer 44 vom 4. Mai 1920. In Anspielung auf den rechtsgerichteten Kapp-Lüttwitz-Putsch gegen die erst kürzlich begründete Weimarer Republik schrieb Rudolf Steiner: «Gewisse Personen geraten in Aufregung, wenn sie über den sprechen. Sie merken gar nicht, wieviel Nebuloses da in ihre Vorstellungen einfließt. Im Grunde wüßten die Putschisten, wenn sie zur Herrschaft gelangten, heute so wenig, was sie tun sollen, wie es ihre Gegner im gleichen Fall wissen. Man kann sich eigentlich gar nicht von irgendeinem bestimmten Wollen einer solchen Gruppe fürchten; man kann nur eine unbe­stimmte Furcht vor den Personen haben, die ehemals ein bestimmtes Wollen hatten.«

gegen die ganze Kapp-Komödie: Am 13. März 1920 versuchten militante Rechtskreise, hinter denen auch General Erich von Ludendorff stand, mit Hilfe der von General Walter von Lüttwitz (1859-1942) befehligten Marinebrigade Ehr­hardt die Regierungsgewalt in Deutschland an sich zu reißen, indem sie das Berliner Regierungsviertel besetzten und den rechtikonservativen Politiker Wolfgang Kapp (1858-1922) zum neuen Reichskanzler ausriefen. Da die Reichs­wehr nicht bereit war, gegen die Putschisten militärisch einzugreifen, flohen Reichspräsident und Reichsregierung zunächst nach Dresden, dann nach Stutt­gart. Trotz der kampfiosen Besetzung von Berlin und der Bereitschaft zahlrei­cher Reichswehrkommandanten in verschiedenen Teilen des Reichs, sich der Putschistenregierung anzuschließen, brach der Kapp-Lüttwitz-Putsch jedoch rasch zusammen. Am 17. März trat Kapp zurück - im Gegensatz zu Lüttwitz wollte er mit der Verfassungsordnung von Weimar völlig brechen - und übergab Lüttwitz die Führung, der sich aber noch am gleichen Tag gezwungen sah auf­zugeben. Der Putseh scheiterte einerseits am Generalstreik, den die Gewerk­schaften ausgerufen hatten, und andererseits an der abwartenden Haltung der Ministerialbürokratie, die sich vorläufig weigerte, den Anordnungen Kapps und

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Lüttwitzs Folge zu leisten. Am 17. März 1920 flüchteten Kapp und Lüttwitz mit ihren engsten Mitarbeitern ins Ausland, und die Reichsregierung kehrte nach Berlin zurück. Dic notwendige Säuberung des Beamten- und Militärapparates blieb jedoch aus.

37 daß von deutscher Seite auch in Spa noch immer diejenigen als Führer fsgurieren:

Spa in Belgien war der Tagungsort einer europäischen Konferenz vom S. bis 16. Juli 1920. Gegenstand der Konferenz war die Entwaffnung Deutschlands und die Festlegung der Reparationszahlungen. Auf deutscher Seite nahmen Reichskanzler Konstantin Fehrenbach, Mitglied der Zentrums-Partei und Vorsitzender der neuen, rein bürgerlichen Regierung, und Außenminister Walter Simons teil. Die katholisch orientierte Zentrums-Partei hatte bereits in der Kaiserzeit eine wichti­ge politische Rolle gespielt, und auch Simons war bereits vor der Revolution als Legationsrat und als Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt tätig gewesen und hatte anschließend als Leiter der deutschen Friedensdelegation in Versailles ge­wirkt. Das Vertragswerk von Versailles lehnte er ab und ließ sich am Tag der Unterzeichnung zur Disposition stellen. Sowohl Fehrenbach wie Simons ver­mochten dem Machtwillen der Entente keine neuen Ideen entgegenzusetzen - die berühmte Reichstagsrede, in der sich Simons zur Dreigliederungsidee bekannt haben soll, hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden.

In der Entwaffnungsfrage - Belassung der Reichswehr auf einer Mann­schaftsstärke von 200 000 und nicht bloß 100 000 Mann - wurde die deutsche Regierung durch Drohung mit dem sofortigen Einmarsch von Truppen ins Ruhrgebiet zum Nachgeben gezwungen. Auf gleiche Weise wurde eine monat­liche Lieferungsmenge von 2 Millionen Tonnen deutscher Kohle an die Entente durchgesetzt. Die Regelung der finanziellen Reparationaleistungen durch Deutschland wurde nach Ablehnung eines deutschen Angebots auf eine spätere Konferenz verschoben. Für Deutschland war der Ausgang der Konferenz von Spa eine Fortsetzung der Diktatpolitik von Versailles durch die Ententemächte.

38 Ich habe in der letzten Zeit öfter an einem Beispiel gezeigt: So im Mitgliedervor­trag vom i. Mai 1920 in Dornach (in GA 201), wo Rudolf Steiner dieses Beispiel als Symptom für die Wirklichkeitsfremdheit des heutigen Denkens erwähnte. Zu den Gründen dieses Erkenntnisversagens führte er aus: «Nun könnten Sie, wenn Sie oberflächlich urteilen, sagen: Ja, die Leute müssen aber eigentlich zu dumm gewesen sein. Aber sie waren nicht einmal dumm, es waren Unter denen, die sich von der Goldwährung die Förderung des Freihandels versprochen haben, sehr scharfsinnige, sehr gescheite Leute. Aber sie haben keinen Wirklichkeitssinn gehabt, sie haben bloß mit Logizität gerechnet, nicht mit Wirklichkeitsgemäß­heit. Sie konnten nicht untertauchen in die wirklichen Verhältnisse [...]. Sie abstrahieren und bleiben mit ihren Theorien, trotzdem sie Materialisten werden, im Abstrakten stecken.»

die Goldwährung: Das System der Goldwährung, der sogenannte «Internatio­nale Goldstandard», beruhte darauf, daß als gesetzliches Zahlungsmittel Gold­münzen verwendet wurden und daß die umlaufenden Noten auf der Grundlage eines festen Goldpreises jederzeit in Gold umgetauscht werden konnten. Das bedeutete ein System fester Wechselkurse zwischen denjenigen Ländern, die sich an das System des internationalen Goldstandards hielten.

daß die Goldwährung zum Freihandel führen werde: In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hielten sich viele wichtige Industrie- und Handelsstaaten an das

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System der Goldwährung, so zum Beispiel England, Deutschland, Österreich­-Ungarn, Niederlande, Rußland, Japan und die Vereinigten Staaten. Die Staaten der Lateinischen Münzunion - Frankreich, Belgien, Schweiz, Italien, Griechen­land - folgten dem System der Doppelwährung, in dem neben Gold auch Silber als gesetzliches Zahlungsmittel galt. Aber trotz Übernahme des internationalen Goldstandards folgten die meisten Staaten einer protektionistischen Handels­politik mit zum Teil hohen Schutzzöllen, so zum Beispiel Deutschland seit 1879 oder Österreich-Ungarn seit 1882. Einzig England und die Niederlande suchten dem System des Freihandels treu zu bleiben.

41 Lesen Sie meine »Kernpunkte» durch: In den «Kernpunkten» (GA 23) findet sich im dritten Kapitel ein ähnlicher Fall behandelt. In bezug auf die Versuchung des bisherigen Produktionsmittelinhabers, sein Verfügungsrecht auf seine Nach­kommen zu übertragen, schrieb Rudolf Steiner: «Doch diese Versuchung wird in einer von den oben angedeuteten Einrichtungen beherrschten Organisation eine möglichst geringe sein können. Denn der Rechtsstaat braucht nur zu ver­langen, daß unter allen Umständen das Eigentum, das an ein Familienmitglied von einem andern übertragen worden ist, nach Ablauf einer gewissen, auf den Tod des letzteren folgenden Zeit einer Korporation der geistigen Organisation zufällt. Oder es kann in andrer Art durch das Recht die Umgehung der Regel verhindert werden. Der Rechtsstaat wird nur dafür sorgen, daß diese Überfüh­rung geschehe; wer ausersehen sein soll, das Erbe anzutreten, das sollte durch eine aus der geistigen Organisation hervorgegangene Einrichtung bestimmt sein.» Und ganz grundsätzlich erklärte er: «Vielleicht findet mancher in dem hier Dargestellten Unvollkommenheiten. Die mögen gefunden werden. Es kommt einer wirklichkeitsgemäßen Denkart nicht darauf an, vollkommene >Pro­gramme> ein für allemale zu geben, sondern darauf, die Richtung zu kennzeich­nen, in der praktisch gearbeitet werden soll. Durch solche besondere Angaben, wie sie die hier gemachten sind, soll eigentlich nur wie durch ein Beispiel die gekennzeichnete Richtung näher erläutert werden.»

43 Richard Eriksen hält einen Vortrag: Der Vortrag wurde nicht mitstenografiert. Allerdings erschien im «Tagblatt für das Birseck, Birsig- und Leimental« vom 12. August 1920 von Karl Ballmer eine Zusammenfassung dieses Vortrages. Ballmer berichtete über die Ausführungen Eriksens:

«Es sei eigentlich nicht ganz exakt, von den >philosophischen> Grundlagen des Dreigliederungs-Impulses zu reden. Die Antriebe zur Gesundung des sozialen Zusammenlebens im Sinne der Dreigliederung hätten nämlich ihre Grundlage nicht in der Philosophie, das heißt nicht nur in den menschlichen Verstandes-kräften, sondern die Erkenntnisgrundlage für die «Dreigliederung« sei die Gei­steswissenschaft. Der Vortragende beleuchtete den Unterschied zwischen dem Erkenntnisstreben der Geisteswissenschaft und dem religiösen Streben. Geistes­wissenschaft ist diejenige wissenschaftliche Betrachtungsweise, die selbstver­ständlich die exakteste Gedankenarbeit beansprucht, deren Resultate indessen erlebt, in den Willen aufgenommen sein wollen, nicht bloß nachgedacht werden können. In früheren Menschheitsepochen war die Menschheit gelenkt von einem mehr naturhaften, instinktiven Geistesleben. Die Philosophie, die ja in der Ge­schichte gar nicht so weit zurückdatiert, ist gewissermaßen wie ein Sterbedureh­gangspunkt, indem die einstmals instinktiven Geisteserlebnisse des Menschen zu bloßen Kopfgedanken werden, um aber in unserer Zeit aus dem Willen des Menschen wiederum neu geboren zu werden.

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Aus dem abstrakten Denken der Philosophie heraus entstanden soziale Ideale wie etwa diejenigen der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüder­lichkeit. Diese Ideale wenden sich gegen die religiösen Dogmen und wirken überhaupt auflösend auf die sozialen Bande der Vorzeit. Sie begünstigen dage­gen Handelsfreiheit, ökonomischen Individualismus, freie Konkurrenz, Privat-kapitalismus. Die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vermochten nicht in gesunder, stoßkräftiger Auswirkung sich zu entfalten im Leben, [und zwar] deswegen, weil sie dem bloß abstrakten Denken entsprungen sind, das dem vollen Lehen nicht gewachsen ist. Die drei Ideale heben sich unter sich gegenseitig auf und geraten in Widerspruch zu den sozialen Realitäten. Solche Erscheinungen wie der politische Imperialismus, Feminismus, Bolschewismus, auch jene moderne Sklaverei, die den Menschen abhängig macht von den unper­sönlichen ökonomischen Mächten, des Menschen Arbeitskraft wie eine Ware betrachtet, dies sind Erscheinungen, die dartun, daß Freiheit, Gleichheit, Brü­derlichkeit nicht organisierend in das Gemeinschaftsleben einzugreifen ver­mochten. Was organisiert, das sind nicht Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit, sondern ökonomische Interessen. Es herrscht heute der Gruppenegoismus, der in der verschiedensten Weise, aber immer nach ökonomischen Gesichts­punkten zum Ausdrucke kommt, sei es in dem Klassenkampfruf >Proletariet aller Länder, vereinigt euch!> oder in dem Konsumenten- oder Produzenten-Egoismus, in Trusts und so weiter. Aus den Grundlagen der Geisteswissenschaft heraus aber soll wiederum der Mensch als der Handelnde und Wollende einge­setzt werden. Nicht die ökonomischen Verhältnisse sollen den Menschen for­men, sondern der willenibegabte Mensch soll die Verhältnisse gestalten. Die Idee der Dreigliederung, die mit Gedanken an die komplizierten Erscheinungen des modernen gesellschaftlichen Zusammenlebens herantritt, die diesen Erschei­nungen in lebendiger Weise gerecht zu werden vermögen, ist der Beweis für die Geisteskraft der Geisteswissenschaft. Die Gedanken der Dreigliederung werden sich dadurch verwirklichen, daß sie in den Willen jedes einzelnen Menschen aufgenommen werden müssen. Man kann sich den sozialen Ideen der Dreiglie­derung gegenüber nicht so verhalten wie zu dem Vorschlag irgendeiner Lösung technischer Art. Man kann soziale Probleme nicht lösen wie technische Proble­me. Die Menschen möchten heute, damit bessere soziale Zustände eintreten, einfach so behandelt werden, wie man vom Zahnarzt oder vom Chirurgen sich behandeln läßt, indem man sich passiv hinsetzt. Die Menschen müssen sich aber heute zur Tat auferwecken. Soziale Erkenntnis kann nur eine Taterkenntnis sein.

Der Vortragende wies zum Schluß auf ein Wort Pascals: >Irdische Dinge muß man kennen, um sie zu lieben. Geistige Dinge muß man zuerst zu lieben ver­mögen, wenn man sie erkennen will.> Das sollte heißen, daß unsere Zeit, vor der die frühere Zeit das religiöse Gefühl voraushatte, für die Erkenntnisse der in der übersinnlichen Welt verwurzelten Lebenszusammenhänge, wieder dazu kom­men muß, die geistige Welt wiederum zu lieben, zu der aus unserer wissen­schaftlich orientierten Zeit durch Geisteswissenschaft der Zugang erschlossen ist. Man kann unsere Zeit vergleichen mit der Zeit zu Anfang des Christentums. Die Juden dachten an ein großes jüdischen Weltreich, an ein Reich >von dieser Welt>. Auch heute kommt es aber darauf an, Sinneswelt und Geisteswelt in dem richtigen Einklang zu erkennen. Wie damals die Juden, so werden diejenigen, die heute einseitig an Weitreichen bauen, dem Untergang entgegengehen.»

43 Danach findet eine Aussprache statt: Über den Inhalt dieser Aussprache ist nichts bekannt.

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43 im Sinne der Kernpunkte - aus jenen Bedingungen, die dort angegeben sind:

Über das Zusammenwirken von «Arbeitgeber» und «Arbeitnehmer» schreibt Rudolf Steiner im zweiten Kapitel der «Kernpunkte» (GA 23): «In Wirklichkeit nimmt der Arbeitgeber von dem Arbeiter Waren entgegen, die nur entstehen können, wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft für die Entstehung hingibt. Aus dem Gegenwert dieser Waren erhält der Arbeiter einen Anteil, der Arbeitgeber den andern. Die Produktion der Waren erfolgt durch das Zusammenwirken des Arbeitgebers und Arbeitnehmers. Das Produkt des gemeinsamen Wirkens geht erst in den Kreislauf des Wirtschaftslebens über. Zur Herstellung des Produktes ist ein Rechtsverhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer notwendig.»

Gemäß jenen Vertragsahmachun gen, die ja auch in den «Kernpunkten» charak­terisiert sind: In den »Kernpunkten» (GA 23) gibt es eine Reihe von Äußerungen von Rudolf Steiner zum Lohnproblem und zum rechtlichen Verhältnis von «Ar­beitleiter» und »Arbeitleister», zum Beispiel im zweiten Kapitel: »Im gesunden sozialen Organismus muß zutagetreten, daß die Arbeit nicht bezahlt werden kann. Denn diese kann nicht im Vergleich mit einer Ware einen wirtschaftlichen Wert erhalten. Einen solchen hat erst die durch Arbeit hervorgebrachte Ware im Vergleich mit andern Waren. Die Art, wie, und das Maß, in dem ein Mensch für den Bestand des sozialen Organismus zu arbeiten hat, müssen aus seiner Fähig­keit heraus und aus den Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins geregelt werden. Das kann nur geschehen, wenn diese Regelung von dem politischen Staate aus in Unabhängigkeit von den Verwaltungen des Wirtschaftslebens ge­schieht.» Und im dritten Kapitel: «Durch soziale Einrichtungen, die in der Rich­tung des hier Dargestellten liegen, wird der Boden geschaffen für ein wirklich freies Vertragsverhältnis zwischen Arbeitleiter und Arbeitleister. Und dieses Verhältnis wird sich beziehen nicht auf einen Tausch von Waren beziehungswei­se Geld für Arbeitskraft, sondern auf die Festsetzung des Anteiles, den eine jede der beiden Personen hat, welche die Ware gemeinsam zustandebringen.»

44 mit dem ganzen Fragenkomplex von Kapital und Menschenarbeit: So lautet der Untertitel des dritten Kapitels der «Kernpunkte« (GA 23).

45 Denn es handelt sich bei dem, was in den «Kernpunkten» vertreten wird, nicht um irgendeine Utopie: In seinen «Vorbemerkungen über die Absicht dieser Schrift» schrieb Rudolf Steiner (GA 23): «Eine Anregung zu einem Wege nach sozialen Zielen, die der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit und Lebensnotwen­digkeit entsprechen, möchte der Verfasser geben. Denn er meint, daß nur ein solches Streben über Schwarmgeisterei und Utopismus auf dem Gebiete des sozialen Wollens hinausführen kann. Wer doch etwas Utopistisches in dieser Schrift findet, den möchte der Verfasser bitten zu bedenken, wie stark man sich gegenwärtig mit manchen Vorstellungen, die man sich über eine mögliche Ent­wickelung der sozialen Verhältnisse macht, von dem wirklichen Leben entfernt und in Schwarmgeisterei verfällt. Deshalb sieht man das aus der wahren Wirk­lichkeit und Lebenserfahrung Gebolte von der Art, wie es in dieser Schrift dar­zustellen versucht ist, als Utopie an. Mancher wird in dieser Darstellung deshalb etwas >Abstraktes> sehen, weil ihm nur ist, was er zu denken gewohnt ist, und >abstrakt> auch das Konkrete dann, wenn er nicht gewöhnt ist, es zu denken.»

Deshalb sagte ich in den «Kernpunkten» Zur Frage nach dem Zeitpunkt einer Verwirklichung der Dreigliederungsidee gibt es verschiedene Äußerungen Ru­dolf

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Steiners in den «Kernpunkten» (GA 23). Im zweiten Kapitel zum Beispiel wies er darauf hin, es sei notwendig, »daß der Mensch aus den oben angedeu­teten Empfindungen heraus die soziale Gliederung vornimmt, jeder an seinem Orte; an dem Orte, an dem er gerade steht. Denn im Sinne derjenigen Lösungs­versuche der sozialen Fragen, die bier gemeint sind, hat jeder einzelne Mensch seine soziale Aufgabe in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft.» Und weiter: «Wo das Alte sich bereits aufgelöst hat oder in der Auflösung begriffen ist, müßten Einzelpersonen und Bündnisse zwischen Personen die Initiative zu einer Neugestaltung versuchen, die sich in der gekennzeichneten Richtung be­wegt. Von heute zu morgen eine Umwandlung des öffentlichen Lebens herbei­führen zu wollen, das sehen auch vernünftige Sozialisten als Schwarmgeisterei an. Solche erwarten die von ihnen gemeinte Gesundung durch eine allmähliche, sachgemäße Umwandlung.«

45 Leninismus: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 247.

Trotzkismus: Trotzki war seit 1915, dem Zeitpunkt seiner Versöhnung mit Lenin, auf die bolschewistische Linie eingeschwenkt. Er stach zunächst weniger als Theoretiker des Marxismus hervor, sondern mehr als der große Organisator, der Lenins Bolschewismus in Rußland zur tatsächlichen Machtergreifung und zum Machterhalt verhalf. Erst nach dem Tode Lenins und im Gefolge seiner Auseinandersetzung mit Stalin bereicherte er den Marxismus durch eigene theo­retische Beiträge, so durch die Vorstellung von der Notwendigkeit einer per­manenten Revolution, um die bürokratische Erstarrung in einer sozialistischen Gesellschaft zu verhindern.

46 Da fragte man: Ja> was soll denn eigentlich die Regierung: Verschiedentlich wurde Rudolf Steiner gefragt, welche Aufgabe die herrschende Regierung im Falle der Einführung der Dreigliederung hätte. So zum Beispiel auch am Frage-abend vom 25. Mai 1919 für bürgerliche Kreise (in GA 337a), wo Rudolf Steiner von einem hohen Beamten des württembergischen Arbeitsministeriums die Fra­ge gestellt wurde: «Wie stellt sich nun Herr Dr. Steiner diese Arbeit vor - die Überführung der bisherigen Regierungaweise in die zukünftige?»

Als einmal ein Arbeitsminister mich fragte, was er tun solle: Wahrscheinlich meint Rudolf Steiner die Unterredung mit dem württembergischen Arbeits­minister Hugo Lindemann; sie fand am 30. April 1919 statt und führte zu kei­nem Ergebnis.

daß Sie so wie der Türke von dem biederen Schwaben in der Mitte entzwei­geschla gen würden: Rudolf Steiner spielt auf das Gedicht «Schwäbische Kunde« von Ludwig Uhland (1787-1862) an, wo die entsprechende Stelle lautet:

Haut auch den Sattel noch zu Stücken

Und tief noch in des Pferdes Rücken;

Zur Rechten sieht man wie zur Linken

Ein halben Türken heruntersinken.

Das Gedicht ist zitiert nach der von Rudolf Steiner zusammengestellten Uhland­Werkausgabe «Uhlands Werke in drei Bänden«, mit einer biographischen Ein­leitung von Dr. Rudolf Steiner, Berlin 1902 (in GA 33).

eine große korporative Gesellschaft: Genaueres ist nicht bekannt.

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47 Dann sind die Leute aufgetreten, welche in den alten marxistischen Phrasen gesprochen haben: Zum Beispiel in der Diskussion nach dem öffentlichen Ulmer Dreigliederungsvortrag vom 26. Mai 1919 (in GA 333), in der sich überwiegend sozialistische Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre zu Wort meldeten und meinten, Rudolf Steiner hätte überhaupt nichts Neues entwickelt. Rudolf Steiner in seinem Schlußwort: «Von einigen Rednern wurde gesagt, daß in meinen Be­trachtungen nichts Neues vorgebracht worden sei. Nun, ich kenne sehr genau die Entwicklung der sozialen Bewegung. Und wer behauptet, das Wesentliche von dem, was heute aus den Erfahrungen gerade der ganzen Neugestaltung der sozialen Lage durch die Weltkatastrophe vorgebracht worden ist, sei nicht etwas Neues, der sollte sich bewußt werden, daß er etwas absolut Unrichtiges sagt. In Wirklichkeit liegt ein ganz anderer Tatbestand vor: Die Redner haben das Neue nicht gehört. Sie haben sich darauf beschränkt, die paar Sachen zu hören, die selbstverständlich, weil sie richtig sind, als Kritik der üblichen Gesellschaftsord­nung vorgebracht wurden. Sie sind gewöhnt Seit vielen Jahren, dies und das als Schlagwort zu hören: das haben sie gehört. Aber alles, was dazwischen gesagt worden ist von der Dreigliederung des sozialen Organismus, von dem, was durch diese Dreigliederung an wirklicher Sozialisierung nach jeder Seite hin erreicht werden kann, von dem haben die Redner absolut nichts gehört.» Und weiter: «Wir haben zum Beispiel einen Redner gehört, der geradeso, wie wenn er die letzten fünf bis sechs Jahre nicht erlebt hätte, sich über die alten Theorien ausgelassen hat, die soundso viel Mal vor dieser Katastrophe abgehandelt wor­den sind. Er hat brav alle Theorien vom Mehrwert und so weiter, die ja ganz gewiß richtig sind, die aber unzählige Male vorgebracht wurden, wieder vor­gebracht.»

48 Mehrwert: Die Lehre vom Mehrwert ist ein grundlegender Bestandteil der mar­xistischen Weltanschauung. Der Mehrwert ist die positive Differenz zwischen dem Tauschwert der Arbeit und dem Tauschwert der von den Arbeitern produ­zierten Güter; ihn kann sich der Unternehmer als Eigentümer der Produktions­mittel aneignen. In dieser Möglichkeit liegt die Ausbeutung der lohnabhängigen Arbeiter durch die Kapitalisten begründet.

ich habe ja solche Erbstücke aufgezeigt in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» Hauptsächlich im ersten Kapitel der «Kernpunkte» (GA 23) wies Rudolf Steiner auf die bürgerlichen Erbstücke im proletarischen Denken hin. Gerade in der proletarischen Auffassung vom Geistesleben als Ideologie sei bürgerliches Denken weiter lebendig Dieses Fortleben bürgerlicher Weltanschauung führe nun aber zu einem existentiellen Widerspruch im Proletariat «Als wirklich wichtig aber muß erscheinen daß im Proletarserempfinden fur den ganzen Menschen entscheidend geworden ist was bei andern Klassen nur in einem einzelnen Gliede ihres Seelenlebens verankert ist die Gedankengrundlage der Lebensgesinnung. Was im Proletarier auf diese Art innere Wirklichkeit ist er kann es nicht bewußt zugestehen Er ist von diesem Zugestandnis abgehalten dadurch, daß ihm das Gedankenleben als Ideologie uberliefert worden ist Er baut in Wirklichkeit sein Leben auf die Gedanken; empfindet diese aber als unwirkliche Ideologie.» Deshalb sei das die eigentliche Tragik des modernen Proletariers: »Er lebt proletarisch, aber er denkt bürgerlich.»

Ich wurde einmal in Berlin eingeladen vor vielen Jahren, über Goethes «Faust»

zu sprechen: Rudolf Steiner hat öfters in Berlin über Goethes «Faust» gespro­chen. Welchen Vortrag er nun genau meint, ist nicht bekannt, aber möglicherweise

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könnte es sich um den Vortrag handeln, den er am 26. September 1899 in Berlin im «Verein zur Förderung der Kunst» hielt. Von diesem Vortrag gibt es keine Nachschrift.

48 wie Blumenthal Theaterstücke macht: Oskar Blumenthal (1852-1917), deutscher Theatermann und -dichter. Nach Abschluß seiner literarischen Studien war er zunächst als Zeitungsmann tätig, bis er schließlich ins Theaterfach überwechsel­te: 1888 gründete er das Lessing-Theater in Berlin, welches er bis 1897 leitete. Er wurde vor allem als Verfasser von zahlreichen, eher leichtgewichtigen Lust-spielen bekannt. Den größten Erfolg erzielte er mit dem Bühnenstück «Im weißen Rössl« (1898), das er in Zusammenarbeit mit Gustav Kadelburg (1851-1925), einem ehemaligen Schauspieler, verfaßt hatte.

49 die zwei sozialen Gesetze, wie ich sie formuliert habe, das des Individualismus und das des Sozialismus: Das «Gesetz des Individualismus« bezeichnete Rudolf Steiner in seinem Aufsatz «Freiheit und Gesellschaft« (in GA 31), wo er es zum ersten Male formulierte, als «soziologisches Grundgesetz«. Das «Gesetz des Sozialismus« erwähnte Rudolf Steiner zum ersten Male im Aufsatz «Theosophie und Soziale Frage« (heute veröffentlicht unter dem Titel «Anthroposophie und Soziale Frage«, in GA 34) und nannte es in diesem Zusammenhang «soziales Hauptgesetz».

in Anküpfung an das Buch von Ludwig Stein: Ludwig Stein (1859-1930), habi­literte sich 1888 in Zürich für Philosophie. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Ordinarius für Philosophie am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich wurde er 1891 zum ordentlichen Professor für allgemeine Philosophie an der Univer­sität Bern ernannt. Seit 1910, nach seinem Rücktritt, lebte er als freier Schrift­steller in Berlin. Ludwig Stein hatte sich schon frühzeitig mit der Sozialen Frage auseinandergesetzt. 1897 erschien in Stuttgart sein Buch «Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Vorlesungen über Sozialphilosophie und ihre Geschich­te», mit dem sich Rudolf Steiner auseinandersetzte.

Ich hatte dazumal ein Buch von Ludwig Stein zu besprechen: Das Buch von Ludwig Stein besprach Rudolf Steiner im 67. Jahrgang des «Magazins für Litte­ratur« unter der Uberschrift »Die Soziale Frage«. Veröffentlicht wurde seine Besprechung in drei Folgen, in den Nummern vom 16., 23.und 30. Juli 1898 (Nrn. 29, 30, 31) (alle in GA 31).

50 Da arheitete hei uns im Goethe- und Schiller-Archiv em anderer Berner Profes­sor: Rudolf Steiner war von 1890 bis 1896 als freier wissenschaftlicher Mitarbei­ter im Goethe- und Schiller-Archiv tätig. Beim anderen Berner Professor han­delt es sich vermutlich um den Literaturhistoriker Ludwig Hirzel (1838-1897), von 1874 bis 1897 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Univer­sität in Bern; er setzte sich mit Goethe auseinander und veröffentlichte unter anderem «Goethes italienische Reise« (1871) und «Goethes Beziehungen zu Zürich« (1888).

Rohert Saitschick, 1868-1965, deutscher Literaturhistoriker und Philosoph. Er habilitierte sich 1889 an der Universität Bern, war dort bis 1895 als Privatdozent für vergleichende Litersturgeschichte und slawische Philologie tätig. Anschlie­ßend wurde er zum ordentlichen Professor für Philosophie an der Eidgenössi­schen Technischen Hochschule in Zürich gewählt; 1914 wechselte er an die Universität Köln, wo er bis 1925 als Professor für Philosophie und Ästhetik

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tätig war. Nach seinem Rücktritt kehrte Saitschick als freier Schriftsteller in die Schweiz zurück. Rudolf Steiner verfaßte verschiedene Besprechungen seiner Werke, so zum Beispiel über das Buch «Goethes Charakter» (Stuttgart 1898). Im «Magazin für Litteratur» vom 16. Juli 1898 (67. Jg. Nr. 28) schrieb er (in GA 32): «Goethe konnte nur insofern glücklich sein, als sich ihm die tiefsten Weltgeheimnisse offenbarten. Wer das nicht versteht, sollte nie die Feder ergrei­fen, um ein Wort über Goethe zu schreiben. Robert Saitschick hat es doch ge­tan, ohne auch nur eine Ahnung von dem Zusammenhang von Goethes Welt­anschauung mit seiner Natur zu haben. Deshalb ist auch sein Buch >Goethes Charakter> das kläglichste, elendeste Machwerk, das es in der Goetheliteratur gibt. Solchen Goetheanschauern muß man zurufen: >Hand weg> von einem Objekte, das euch so fremd ist, als euch nur irgend etwas sein kann. Mich hat dies Buch wegen seiner tollen Phrasenhaftigkeit und der Prätention, mit der es auftritt, empört.»

51 daß der naturgemäße Gang der menschliehen Entwicklung in sozialer Beziehung der ist: Der genaue Wortlaut des «soziologischen Grundgesetzes» im Aufsatz «Freiheit und Gesellschaft» (in GA 31) lautet: «Die Menschheit strebt im Anfan­ge der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individualismus geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Ver­bände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.«

versuchte ich später zu formulieren das andere Gesetz, das Gesetz des sozialen Lebens: Der genaue Wortlaut des «sozialen Hauptgesetzes» im Aufsatz «Theo-sophie und Soziale Frage« (in GA 34) lautet: «Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt und je mehr seine eigenen Be­dürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.«

auf welchem Wege das geschieht, zeigen ja gerade die «Kernpunkte>: Siehe Hin weis zu S. 43.

ich habe das in Zürich einmal auseinandergesetzt: Im Vortrag vom 12. Februar 1919 in Zürich, unter dem Titel «Die Entwicklung des sozialen Denkens und Wollens und die Lebenslage der gegenwärtigen Menschheit», erläuterte Rudolf Steiner dieses «Gesetz des sozialen Lebens» mit folgenden Worten (in GA 328):

«Dieses Gesetz besteht darin, daß niemand, insofern er dem sozialen Körper, dem sozialen Organismus, angehört, für sich selber in Wirklichkeit arbeitet. Wohlgemerkt, insoferne der Mensch dem sozialen Organismus angehört, arbei­tet er nicht für sich selbst. Jegliche Arbeit, die der Mensch leistet, kann niemals auf ihn zurückfallen, auch nicht in ihrem wirklichen Erträgnis, sondern sie kann nur für die anderen Menschen geleistet sein. Und das, was die anderen Men­schen leisten, das muß uns selbst zugutekommen. Es ist nicht bloß ein ethisch zu fordernder Altruismus, der in diesen Dingen lebt, sondern es ist einfach ein soziales Gesetz.« Und weiter: «Obschon im Grunde genommen das Gesetz sehr leicht zu verstehen ist, können Sie einwenden: Wenn ich nun aber ein Schneider bin und unter den Kleidern, die ich für andere herstelle, auch einmal mir selber einen Anzug mache, dann habe ich doch meine Arbeitskraft auf mich selber angewendet! - Das ist nur eine Täuschung, wie es überhaupt immer eine Täuschung

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ist, wenn ich glaube, daß das Ergebnis eigener Arbeit auf mich zurück­fällt. Indem ich mir einen Rock, eine Hose oder dergleichen mache, arbeite ich in Wahrheit nicht für mich, sondern ich Setze mich in die Lage, weiter für andere zu arbeiten. Das ist das, was die menschliche Arbeit als Funktion rein durch ein soziales Gesetz innerhalb des sozialen Organismus hat.»

54 his zu der Form des gegenwärtigen Staates, der ja für Europa im Grunde genom­men nicht älter ist als drei bis vier Jah rhunderte: Kennzeichnend für den moder­nen Staat ist die Tatsache, daß sein Handeln an eine bewußt gesetzte Verfassung gebunden ist - im Gegensatz zum mittelalterlichen Feudalstaat, dessen Tätigkeit durch das Vorhandensein von instinktiv gewachsenen Rechten bestimmt wurde.

Lenin: Siehe Hinweis zu S. 22.

Trotzki: Siehe Hinweis zu S. 22.

56 Es ist neulich im Berliner Tageblatt ein Aufsatz erschienen: Näheres ist nicht bekannt.

59 es ist das zehnjährige, intime Verhältnis von Goethe und Schiller: Schiller (1759-1805 ) war zwar bereits seit 1788 mit Goethe (1749-1831) bekannt, aber erst ein Gespräch über die Urpflanze nach einer Sitzung der Naturforschenden Gesell­schaft in Jena leitete im Juli 1794 die Freundschaft der beiden Dichter ein, die bis zu Schillers Tod im Jahre 1805 dauern sollte. Es war für die beiden Dichter eine Zeit äußerst fruchtbaren Schaffens, und in einem gewissen Sinne stellte diese Zeitspanne den Höhepunkt der deutschen Klassik dar. Diesem besonderen Verhältnis von Schiller und Goethe widmete Rudolf Steiner den Vortrag vom 4. Februar 1905 in Berlin (in GA 51): «Ihre Freundschaft sollte sie als eine Per­son erscheinen lassen. An dem Beispiel Schillers und Goethes können wir wahr­nehmen, wie Größe sich des Alltags zu erwehren weiß und wie Freundschaft, die im Geistigen ruht, sich wahrhaft trägt und erhebt. Und Wahrheit suchten sie beide: Schiller zunächst im Herzen der Menschen, Goethe in der ganzen Natur.» Auf die unterschiedliche Art ihres Denkens geht Rudolf Steiner verschiedentlich ein, so zum Beispiel in seiner Schrift «Goethes Weltanschauung» (GA 6) oder in seinem Buche «Die Rätsel der Philosophie« (GA 18).

62 als ich mich zum Beispiel in Nietzsche vertiefte: Im Kapitel XVIII der Autobio­graphie «Mein Lebeosgang» (GA 28) beschreibt Rudolf Steiner eingehend sein Verhältnis zum deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900). Uber seine Beschäftigung mit ihm schreibt er: «Meine erste Bekanntschaft mit Nietz­sches Schriften fällt in das Jahr 1889. Vorher hatte ich keine Zeile von ihm gelesen. Auf den Inhalt meiner Ideen, wie sie in der >Philosophie der Freiheit> zum Ausdruck kamen, haben die seinigen keinen Einfluß gehabt.»

Er hat zum Beispiel Philosophen betrachtet, die alten griechischen Philosophen:

Mit den griechischen Vorsokratikern - zum Beispiel mit Thales von Milet (um 625-545 v. Chr.) und Heraklit von Ephesos (um 540-480 v. Chr.) - hat sich Nietzsche vor allem in seiner Fragment gebliebenen Schrift »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen» auseinandergesetzt. Verfaßt hatte er sie 1873, veröffentlicht wurde sie aber erst nach seinem Tode 1903 in Leipzig.

er hat Schopenhauer hetrachtet: Dem deutschen Philosophen Arthur Schopen­hauer (1788-1860) hatte Nietzsche eigens eine Schrift gewidmet: die dritte »Unzeitgemäße

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Betrachtung: Schopenhauer als Erzieher»; sie erschien 1874 in Leip­zig. Daneben finden sich in seinem übrigen Werk noch zahllose Stellen, in denen er auf die Weltanschauung Schopenhauers Bezug nimmt.

62 er hat Eduard von Hartmann betrachtet: In der zweiten «Unzeitgemaßen Be­trachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben» - verfaßt 1873, veröffentlicht 1874 in Leipzig - setzte sich Nietzsche auch mit dem deut­schen Philosophen Eduard von Hartmann (1842-1906) auseinander.

63 Ich habe in meinem Buche »Von Seelenrätseln» darauf aufmerksam gemacht: Im November 1917 erschien das Buch «Von Seelenrätseln» (GA 21), in dem sich in Kapitel IV/6, »Die physischen und die geistigen Abhängigkeiten der Menschen­weseoheit», eine grundlegende Darstellung der Dreigliederung der menschlichen Organisation findet. Ausgehend von einer «Analyse der Seelenvorgänge in ihrer Beziehung zum Leibesleben», wies Rudolf Steiner auf die dreifache Entspre­chung zwischen dem Denken und den Nervenvorgängen, zwischen dem Fühlen und den rhythmischen Vorgängen und zwischen dem Wollen und den Stoff­wechselvorgängen hin. Über den Stellenwert, den diese Entdeckung in seinen Forschungsbemühungen hatte, schrieb er: «Skizzenhaft möchte ich nun auch darstellen, was sich mir ergeben hat über die Beziehungen des Seelischen zu dem Physisch-Leiblichen. Ich darf wohl sagen, daß ich damit die Ergebnisse einer dreißig Jahre währenden geisteswisseoschaftlichen Forschung verzeichne. Erst in den letzten Jahren ist es mir möglich geworden, das in Frage Kommende so in durch Worte ausdrückbare Gedanken zu fassen, daß ich das Erstrebte zu einer Art vorläufigen Abschlusses bringen konnte.»

64 wenn Dr. Boos sprechen wird: Der Studienabend war dem Thema «Die Bildung eines sozialen Urteils» gewidmet. Rudolf Steiner hatte es übernommen, über die Bildung eines sozialen Urteils im Geistes- und Wirtschaftsleben zu sprechen, während Roman Boos die Aufgabe zufiel, über den Rechtsbereich zu sprechen.

72 Dasjenige, was ich zu einigen von Ihnen schon gestern gesagt habe, das ist durch­aus wahr: Am Abend vorher, im Mitgliedervortrag vom 15. August 1920 (in GA 199), hatte Rudolf Steiner gesagt: «Ein wirtschaftliches Urteil bloß aus der Individualität heraus zu bilden, wird den Menschen der Zukunft, wenn sie sich richtig entwickeln, so vorkommen, wie der berühmte Jean Paulsehe Schläfer, der mitten in der Nacht im finstern Zimmer aufwacht, nichts sieht, nichts hört und nachdenkt, wieviel Uhr es ist, und es durch Nachdenken herauskriegen will. Man muß im Einklange mit seiner Umgebung stehen, wenn man sich mitten in der Nacht ein Urteil bilden will, wieviel Uhr es ist. Und man wird in der Zu­kunft, wenn man sich ein wirtschaftliches Urteil bilden will, sagen wir ein Preis-urteil oder ein Urteil, wieviel Arbeiter in einer bestimmten Branche arbeiten dürften, man wird um sich haben müssen Assoziationen, solche Assoziationen, welche in dieser Branche produzieren, solche Assoziationen, welche in dieser Branche konsumieren. Und aus dem Zusammenfluß dessen, was von diesen Assoziationen ausgeht, wird man sich ein Urteil bilden.»

dann gleicht man eben jenem Jean Paulachen Menschen, der mitten in der Nacht im finstern Zimmer aufwacht und nachdenkt: Wo genau sich der zitierte Sach­verhalt im Werk Jean Pauls findet, konnte nicht herausgefunden werden. Auch im Buch von Vincenz Knauer über «Die Geschichte der Philosophie» (Wien 1882, zweite verbesserte Auflage), im Kapitel über «Günther», wird das Beispiel

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des Jean Paulachen Schläfers aufgegriffen. Rudolf Steiner kannte das Buch von Knauer gut; es ist auch Bestandteil seiner Bibliothek. Im übrigen war Rudolf Steiner ein guter Kenner von Jean Panls Dichtungen, gab er doch 1897 im Auftrag der Cotta'schen Verlagsbuchhandlung eine Auswahl von ihnen in acht Bänden heraus.

74 weil er nun schon einmal durch die traditionellen Glaubensbekenntnisse davon ah gebracht worden ist, die wirkliche Gliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist zu sehen: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 202.

76 Da fragt man nicht> was der Mensch ist, sondern die Tiere sind da, und an die Tierreihe, da stückelt man den Menschen als letztes an: So schrieb zum Beispiel der vom englischen Naturforscher Charles Darwin beeinflußte Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) im zweiten Band seiner «Stammesgeschichte des Men­schen» (Leipzig 1891, S. Auflage), im XXX. Kapitel über die «Ergebnisse der

Anthropogenie»: «Die Entwickelung des Menschen erfolgt demgemäß nach den­selben >ewigen, ehrnen Gesetzen>, wie die Entwickelung jedes anderen Natur-körpers. Diese Gesetze führen uns überall auf dieselben einfachen Prinzipien zurück, auf die elementaren Grundsätze der Physik und Chemie. Nur durch den Grad der Verwickelung, durch die Stufe der Zusammensetzung, in welcher die verschiedenen Kräfte zusammenwirken, sind die einzelnen Naturerscheinungen so verschieden. Jeder einzelne Prozeß der Anpassung und Vererbung in der Stammesgeschichte unserer Vorfahren ist schon an sich ein sehr verwickeltes physiologisches Ereignis. Unendlich verwickelter aber sind die Vorgänge unse­rer menschlichen Keimesgeschichte; denn in dieser sind ja schon Tausende von jenen phylogenetischen Prozessen verdichtet und zusammengefaßt.» Und die­sem Kapitel fügte er eine tabellarische Ubersicht über die 22 Stufen in der «Stammesgeschichte der menschlichen Lebenstätigkeiten» bei, wobei als 19. Stu­fe «Das Leben der Halbaffen», als 20. Stufe «Das Leben der Affen», als 21. Stufe »Das Leben der Menschenaffen« und schließlich als letzte Stufe «Das Leben der Menschen« erscheinen. Über diese Denkart Haeckels, mit dem Rudolf Steiner persönlich bekannt war, bemerkte er im XXX. Kapitel seiner Autobiographie «Mein Lebensgang« (GA 28): «So stand die naturwissenschaftliche Entwicke­lungsreihe, wie sie Haeckel vertrat, niemals vor mir als etwas, worin mechani­sche oder bloß organische Gesetze walteten, sondern als etwas, worin der Geist die Lebewesen von den einfachen durch die komplizierten bis herauf zum Men­schen führt. Ich sah in dem Darwinismus eine Denkart, die auf dem Wege zu der Goetheschen ist, aber hinter dieser zurückbleibt.«

Anatolji Wassiljewitsch Lunatscharski, 1875-1933, aus Rußland stammend, stu­dierte zum Teil in Ausland und schloß sich dort 1897 der Sozialdemokratischen Arheiterpartei an. Nach seiner Rückkehr nach Rußland wurde er wegen revolu­tionärer Tätigkeit von 1898 bis 1904 in die Verbannung geschickt; in dieser Zeit schloß er sich dem bolschewistischen Flügel der russischen Marxisten an. Von 1906 bis 1917 lebte Lunatscharski in der Emigration und stand in engem Kon­takt mit den führenden Bolschewisten, insbesondere mit Lenin. Nach der Ok­toberrevolution von 1917 wurde Lunatscharski zum Volkskommissar für das Bildungswesen ernannt und übernahm damit die Verantwortung nicht nur für das Schulwesen, sondern für die gesamte Kulturpolitik in Sowjetrußland; er übte dieses Amt bis 1929 aus. Durch sein Wirken war die Zeit der Zwanziger Jahre

- im Vergleich zu den stalinistischen Reglementierungen in den folgenden Jahr­zehnten - eine Zeit der relativen Freiheit. Lunatscharski war kein enger marxistischer

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Revolutionär; aufgrund seiner literarischen Interessen war er ein großer Förderer der proletarischen Literatur, aber er lehnte ihren Anspruch auf Allein­herrschaft ab und ließ sowohl die klassischen Werke wie auch die Dichtung der Avantgarde gelten. Lunatscharski verfaßte zahlreiche Kunstkritiken und ver­suchte sich auch als Revolutionsdramatiker. 1929 wurden die Befugnisse von Lunatscharski beschnitten: als Präsident der Wissenschaftskommission beim Zentralkomitee hatte er nur noch die Aufsicht über die wissenschaftlichen Insti­tute; 1933 wurde er als sowjetischer Botschafter nach Spanien abgeschoben.

77 Roman Boos spricht über «Die Urteilsbildung im Rechts glied des sozialen Orga­nismus» Die Ausführungen von Roman Boos wurden nur zum Teil mitgeschrie­ben und sind deshalb lückenhaft. Aufgrund der vorhandenen Unterlagen sagte er unter anderm:

«Es kann polemisiert werden; man kann kämpfen, wenn man bei diesen Kämp­fen - wenn ich so sagen darf - die romantische Ironie behält. Wenn man einen Humor dreinbringt während des Kampfes selber, dann zerstört man nicht das Rechtsverhältnis, dann bleibt man in einem Rechtsverhältnis mit den Gegner­schaften, denn dadurch, daß man Humor hat, hebt man sich selber heraus aus den Niederungen, in denen sich der Kampf vollzieht. Ich bin mir bewußt, in den Polemiken, die hier geführt werden mußten, mit meinem Betragen keinen ein­zigen meiner Gegner regelrecht getroffen zu haben, sondern nur Tatsachen fest­gestellt zu haben, und wenn dies anders behauptet werden sollte von irgendeiner Seite - ich weise es zurück. Es ist ein Ausdruck, den ich gebraucht hatte, bei einer Gelegenheit in diesem Raume vor einiger Zeit, ein außerordentlich scharfer Ausdruck gegen eine bestimmte hier arbeitende Persönlichkeit vor kurzer Zeit aufgegriffen worden. Er ist von jemanden, der sich zu unsern Anhängern zählt, auf der Straße einem katholischen Pfarrer entgegengeworfen worden. Ich lehne jene Insinuation energisch ab. Das Recht muß Recht bleiben im sozialen Ver­hältnis der Menschen. Und ein Mensch, der nicht die Fähigkeit hat, unmittelbar die Würde des andern Menschen bis in den Grund zu durchschauen, der hat nicht das Recht in Anspruch zu nehmen, das Recht zu brechen. Das Recht ist eben zu wahren, und man darf nicht hineindringen mit seinen subjektiven Lei­denschaften in das Gebiet des Kampfes.

Das ist ja in gleicher Weise auch nach der anderen Seite zu sagen: Unsere Rechtssprache hat nicht nur den Humor verloren, sondern im weiten Umfange auch die Würde. Es sind ja bei uns in der Schweiz seit längerer Zeit die Rich­tertalare gefallen; leider ist an vielen Orten nicht der innere Ersatz gekommen. Wie gestritten wird von den Richtern oft mitten in Konflikten! Und wie insbe­sondere bei Untersuchungsrichtern subjektive Leidenschaften so hineinspielen, daß das Rechtsverhältnis gestört wird! Und dann, wenn einer die Möglichkeit hat, in den Situationen der Strafrechtspflege noch das zu bewahren, was Humor ist, dann hat er sehr oft die Möglichkeit - gerade bei Strafrechtsfällen - auf diese Weise in ganz anderer Art auch moralisch zu wirken als einer, der nur Geset­zesparagraphen empfindet oder das Gericht markiert. Er rechnet dann auf den innersten Kern des Menschen. Und es trifft dann zu, daß nicht gerichtet werden soll, damit gerichtet werde, sondern es wird eben im Richten das Rechtsverhält­nis angesprochen; es wird wieder hergestellt und nicht noch mehr vernichtet, als es durch das Verbrechen schon geschehen ist.

Ich wollte darstellen, wie durch ein bewußtes Erleben dessen, was im menschlichen Organismus vorhanden ist, wie dadurch sich ergeben kann ein Erfassen des Wesens des Rechtes. Wenn Sie Gesetzbücher aufschlagen, werden

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Sie ja dort nicht auf das Lebendige des Rhythmischen kommen. Aber wenn Sie versuchen, gleichmäßig das zu fassen, wo der einzelne Mensch heute noch in vielen Kreisen die Beziehung hat zu dem Rechtsbewußtsein, wo auch noch die einzelnen Rechtssätze getragen werden aus der sozialen Gemeinschaft heraus, dann werden Sie auf etwas kommen: daß der Menschen gleichsam mit seinem Sich-Hineinatmen in das, was das Rechtserlebnis ist, den allgemeinen Rechtsbe­griff konkretisiert. Man hat dann etwas anderes als Phrasen oder bloße Konven­tionen. Ein allgemeines Recht gibt es nur in dem Sinne, wie die Menschen schnaufen beim Atmen. Aber insofern die Menschen aktiv werden und aktiv das soziale Zusammenleben herstellen, gibt es nicht Gleichheit im formalen Sinn, sondern Wirklichkeit. Gleichheit kann nur darin bestehen, daß aus den gleichen Rhythmen heraus immer wieder die konkreten Formen sich ergeben, daß eben aus der Gleichheit eine Mannigfaltigkeit sich ergeben kann, daß im sozialen Organismus eben dieser Rhythmus hineinspielt ins Wirtschaftliche hinunter und ins Geistige hinauf. Das Rechtliche ist eben nicht etwas, was für sich allein dasteht und absolut nichts zu tun hat mit den anderen Seiten des sozialen Or­ganismus, mit den beiden polaren Organismen des geistigen Lebens und des wirtschaftlichen Lebens.«

Zu seinen Ausführungen schrieb Roman Boos dreißig Jahre später: «Die von mir gesprochenen Worte in der damaligen Fassung zu reproduzieren - auch wenn ich es könnte - wären nicht gerechtfertigt. In den drei Jahrzehnten, die seither verstrichen sind, haben meine Gedanken zum Thema eine Reifung erfah­ren, die ich in dieser Veröffentlichung nicht preisgeben möchte. Manche Gedan­ken, die mir Rudolf Steiner, meist in konzentriertester Fassung, gesprächsweise über Fragen des Rechts geschenkt hatte, haben sich in ihrer Tragweite teilweise erst nach Jahren enthüllt. So habe ich mich entschlossen, meinen Beitrag über

>Die Urteilsbildung im Rechtsglied des sozialen Organismus> ganz neu zu for­mulieren.» Die zweite, von Boos selber bereinigte Fassung findet sich in: Gegen­wart 12. Jg. Nr.10 (Januar 1951) und Nr.11/12 (Februar/März 1951).

77 Anschließend findet eine Diskussion statt: Von dieser Diskussion gibt es nur eine teilweise Nachschrift. Weil sie sich vor allem auf das von Roman Boos Gesagte bezog, wird sie - soweit vorhanden - nur in diesem Anhang wiedergegeben:

Karl Ballmer: Die Rechtstheorie des Herrn Dr. Boos, mit der ich nicht einver­standen bin, würde jedenfalls die sehr erfreuliche Wirkung zur Folge haben, daß es in der Zukunft in der Menschheit überhaupt keine Verleumder mehr geben würde. Ich für meinen Teil behalte mir vor, einen Verleumder richtig beim Namen zu nennnen, auf die Gefahr hin, daß man darüber die Wände hinauf-springt.

Roman Boos: Ich glaube, auf diese Frage ist die Antwort erteilt durch dasjenige, was ich selber hier ausgesprochen habe. Es kam mir nicht darauf an, das «Was», sondern das Problem so darzustellen, daß gesagt wird, es kommt auf das «Wie« an. Jemanden einen Verleumder zu nennen - es kann eine Beschimpfung sein, kann aber auch eine objektive Tatsachenfeststellung sein. Es kommt nicht bloß darauf an, wie das Was ist, sondern darauf an, wer es ausspricht, ob der Mensch es ausspricht in der Subjektivität und mitmacht in dem Kampfe selber oder ob er darüber schwebt und sich gleichsam in dem Gebiete bewegt, das ich roman­tische Phantasie genannt habe. Das Rechtsverhältnis muß gewahrt werden, Recht muß Recht bleiben - aus Gründen, die man ja nun sehr weit ausführen

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könnte. Und was das von Herrn Ballmer angeführte Beispiel betrifft: Sich eines solchen Ausdruckes auf der Straße zu bedienen, ist etwas diametral Entgegen­gesetztes, Verschiedenes von dem Zusammenhange, den ich selber hergestellt habe, wo aus der lügnerischen Weise der Tatbestand der Verleumdung klar fest­gestellt worden ist - aus der Objektivität heraus, auf die alles ankam.

Möchte noch jemand das Wort ergreifen?

Arnold Ith: Inwiefern stimmt das, was hier von Herrn Dr. Boos ausgesprochen worden ist, mit dem überein, was in den «Kernpunkten» steht, zum Beispiel dort, wo gefordert wird, daß das Verhältnis des einzelnen Menschen zu seinem Richter sich eben daraus ergibt, das der einzelne sich in ein bestimmtes Rechts­verhältnis hineinstellt und sich seinen Richter selber erwählt?

Roman Boos: Diese Forderung steht selbstverständlich in Übereinstimmung mit derjenigen Rechtsauffassung, die ich hier vertreten habe. Es kann sich eben nicht darum handeln, daß dasjenige Verhältnis, das in der Strafrechts- oder Privat-rechtspflege sich zu dem Richter ergibt, daß dieses Verhältnis sich aus einer abstrakten Satzung ergibt, sondern daß ein lebendiges Rechtsverhältnis besteht, aus dem persönlichen Sich-Kennen und Vertrauen, denn sonst ist die Richter-tätigkeit doch nur eine praktische Anwendung der Rechtstheorie von Stammler, die besagt: Richten heißt lichten. Das würde nun geradezu zu einer absoluten Ungerechtigkeit führen. Die höchste Gerechtigkeit ist aber die Gleichheit im Rechtsgebiet; diese Gleichheit, dieses lebendige Ausgehen von gleichen Lebens-elementen, hat eben die Kraft in sich, die Ungleichheiten, die sich in den einzel­nen sozialen Verhältnissen immer wieder ergeben, als prinzipiell Zusammenfas­sendes zu umklammern und nicht Willkür entstehen zu lassen. Es ist eben die Gleichheit durchaus als Grundfarbe im ganzen Rechtsleben vorhanden, so wie im Menschen auch immer vorhanden ist der Rhythmus in den Atmungsorganen. Es ist gleichsam eine Norm immer fest da.

Ich bin mir durch die Art, wie ich heute gesprochen habe, durchaus auch bewußt, daß ich mit keinem einzigen Menschen, der hier im Saal anwesend war oder ist, irgendwie das Rechstverhältnis verletzt habe. Denn es ist nicht die Taktik gewesen, in irgendeiner der allgemeinen Betrachtungen Anzüglichkeiten oder gar persönliche Gefühle vorzubringen. Ich bin der Uberzeugung: Es ist gerade etwas Wertvolles, wenn man in prinzipiellen Dingen eben in Zusammen­hängen sprechen kann, die durch prinzipielle Darlegungen vorgebracht sind. Dadurch wird eben gewährleistet, daß die Objektivität in diesem lebendigen Sinne in der Norm drinnenhängt und nicht in der Willkür drinnen ist. Und ich möchte sehr raten, wenn irgendein «Schnüffler» nun dagewesen sein sollte, der allerhand kolportieren wollte, es seien Zwieträchtigkeiten hler entstanden, so stimmt das nicht. Ich denke, gerade das ist zu würdigen, daß, wenn es vonnöten gewesen wäre, viele Mitglieder es verhütet hätten, daß man sich auseinander-redet. Sie hätten die Auseinandersetzung wieder auf einen prinzipiellen Nenner gebracht und nicht in Subjektivitäten und Empörungen sich bewegt. Eine Be­schimpfung ist eben eine Beschimpfung, und wenn man schimpft, dann ist man selber nicht mehr im Rechtsgebiet. Und ich glaube, daß kein einziger sagen kann, der mir einmal gegenübertrat, daß ich nicht vollständig mit ihm das Rechtsverhältnis gewahrt habe und daß ich nicht in dem Rechtsverhältnis selber auch vollständig die Achtung vor der fremden Persönlichkeit gewahrt habe. Es ist einfach damit ausgesprochen, was ich auch gegenüber jenem verleumderi­schen Pfaffen aufrechterhalten möchte, daß ich nicht urteilen will darüber, ob

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der Mann nun zu denjenigen gehört, bei denen es endgültig abwärtsgeht; ich möchte nicht die Weitrichterrolle übernehmen. Wir müssen herauskommen, wenn wir im Rechtsgebiete uns bewegen, aus dem bloßen Moralisieren. Moral ist etwas, was als Stoßkraft lebt, was aber nicht Gegenstand des Rechtslebens ist. Und in diesem Sinne glaube ich, daß die Form vollständig gewahrt worden ist und daß kein Recht besteht, irgendwie die Form anzugreifen.

Walter Johannes Stein: Sehr verehrte Anwesende! Herr Dr. Steiner hat heute hier, wie mir scheint, eine außerodentlich wichtige, bedeutungsvolle Tatsache erwähnt, eine Tatsache, gegenüber der man nicht ruhig bleiben kann, gegenüber der man nicht polemisieren kann - eine Tatsache, die eigentlich unerhört ist. Er hat nämlich gesagt, daß der Mensch, wenn er die Natur erkenne, seinen Kopf fortwährend leichter mache. Ich werde versuchen, von meinem Standpunkt aus dazu Stellung zu nehmen, denn selbstverständlich ist das etwas, was man nicht einfach hinnehmen kann, denn entweder ist es gänzlich aus der Luft gegriffen oder es führt in Begriffe der Menscherkenntnis hinein, die eben ganz besondere sind. Man muß zu all diesen Dingen Stellung nehmen, aber das wird von der äußeren Wissenschaft nicht getan; die Leute sind taub.

Es wird von Dr. Steiner behauptet, daß der Kopf leichter wird dadurch, daß der Mensch Naturerkenntnis treibt, aber schwerer wird dadurch, daß der Mensch nicht Naturerkenntnis treibt. Nun ist das eine Behauptung, die man irgendwie verarbeiten muß. Und ich will versuchen, zur Verarbeitung dieser Tatsache heranzuziehen dasjenige, was von Dr. Steiner in der «Philosophie der Freiheit» durchaus schon gesagt worden ist - das heute Gesagte ist nur die Ergänzung auf dem Gebiete der Physiologie dazu. [Schluß fehlt]

77 daß heute die Zeit gekommen ist, zur Aktivität des Urteils, das heißt zur Be­wußtheit, überzugehen: In seinem Aufsatz «Das geistige Erbe und die Gegen­wartsforderungen», erschienen am 8. Juni 1920 in der Nr. 49 der Dreigliede­rungszeitung, schrieb Rudolf Steiner (in GA 24): «Es ist heute auch für die kleinste wirtschaftliche Einrichtung nötig, daß derjenige, der sich leitend an ihr beteiligt, sich Gedanken darüber machen könne, wie sich diese Einrichtung in den Gesamtprozeß der Mensebheitsentwicklung hineinstelle. Solche Gedanken können niemals in ehrlicher, aufrichtiger Art bei dem sich einstellen, der mehr oder weniger bewußt sein Denken nach der materialistischen Richtung der neu­en Zeit orientiert. Er bemerkt eben zumeist gar nicht, wie dieses materialistische Denken in die Antriebe seines sozialen Wirkens hineinarbeitet.« Und weiter:

«Deshalb muß immer wieder hetont werden: Auf jenen inneren Mut kommt es heute an, der sich dazu aufrafft, in dem Wege zu einem neuen Geiste eine wahre Lehenspraxis und in der Ahirrung von diesem Wege die Ursachen unseres Nie­dergangs zu sehen. Die so urteilen können, sind allein die Zukunftsmenschen; die andern sind die Reaktionäre, und wenn sie sich auch noch so marxistisch-radikal gebärden. Aher das Urteil muß bereit sein, zur Tat, zur energischen Lehenspraxis zu werden.»

78 Oswald Spengler, 1880-1936, deutscher Schriftsteller und Philosoph. Er wurde vor allem durch sein zweibändiges Hauptwerk «Der Untergang des Abend­landes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte» bekannt. Der erste Band, «Gestalt und Wirklichkeit« erschien 1918 in München, der zweite Band, «Welthistorische Perspektiven», 1922, ebenfalls in München. Rudolf Steiner setzte sich sehr intensiv mit der von Spengler vertretenen Weltanschauung auseinander.

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So zum Beispiel im öffentlichen Stuttgarter Vortrag vom 15. Juni1920 (vorgesehen für GA 335) oder in den vier im August und September 1922 in der Zeitschrift «Das Goetheanum» erschienenen Aufsätzen «Spenglers Welthistori-sehe Perspektiven», «Die Flucht aus dem Denken», «Spenglers Physiognomische Geschichtsbetrachtung» und «Spenglers geistverlassene Geschichte» (alle in GA 36). Rudolf Steiner im dritten «Goetheanum»-Aufsatz: «Spengler denkt zu Ende, was in anderen zur Hälfte oder zu einem Viertel seelisch durchlebt wird. Dieses Denken kann die geistigen Entwicklungskräfte nicht finden, die in der Menschheit von deren Anbeginn im Erdendasein bis in zu erahnenden Zukünfte hinein wirken. Diese Kräfte leben sich in den einzelnen Kulturen aus, so daß eine jede Kultur Kindheit, Reife, Verfall durchmacht und schließlich dem Tode verfällt. Aber innerhalb jeder Kultur bildet sich ein Keim, der in einer nächsten aufgeht, um in diesem Aufgehen die Menschheit durch ein ihr notwendiges Entfaltungsstadium hindurchzuführen. Gewiß haben die Abstraktlinge unrecht, die in dieser Entwicklung nur ein Fortschreiten zu immer höhern Stufen sehen. Manches - Spätere erscheint gegenüber berechtigten Bewertungen als ein Rück­schritt. Aber die Rücksehritte sind notwendig, denn sie führen die Menschheit durch Erlebnisse hindurch, die gemacht werden müssen.«

78 daß es in der Konsequenz der gegenwärtigen Wissenschaft liegt, die Erde sei ausgegangen von einem Weltennebel und würde in irgendeinen Wärme-End­zustand kommen: Diese Meinung vertraten die Anhänger der Kant-Laplace-sehen Theorie, so benannt nach dem deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) und dem französischen Mathematiker und Astronomen Comte Pierre de Laplace (1749-1827). Kant hatte in seinem Werk «Allgemeine Natur­geschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung von dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grund­sätzen« (1755) die sogenannte Nebularhypothese vertreten, in der er aus der gleichmäßigen Bewegungsrichtung der Planeten um ihre Zentralkörper und um sich selbst folgerte, daß diese aus einer in demselben Sinne bewegten und über den gesamten Raum verstreuten Urmaterie hervorgegangen wären. In seinem Werk «Exposition du systeme du monde» (Paris 1796) bezog sich Laplace auf die Hypothese von Kant und verbesserte sie in einigen Punkten. Später wurde diese Theorie erweitert durch die Physiker William Thomson (Lord Kelvin) (1824-1907), Peter Tait (1831-1901) und James Maxwell (1831-1879), die sich alle mit der Wärmetheorie befaßten. Als »Entropie» bezeichneten sie denjenigen Teil der Gesamtenergie, der sich noch in Arbeit umwandeln läßt, und sie kamen zum Schluß, daß die Entropie des Weltalls dereinst verschwinden werde, daß also das Weltall in eine Art Wärme-Endzustand gelangen werde.

79 Und gerade in diesen Tagen erleben wir wiederum das Tragische: Am 14. August 1920 wurde ein politischer und militärischer Bündnisvertrag zwischen der Tschechoslowakei und Südslawien (später Jugoslawien) geschlossen - beides aus dem Territorium der ehemaligen österreichisch-ungarischen Doppelmonar­chie gebildete Staaten. Dieser Vertrag war gegen mögliche revisionistische Be­strebungen, vor allem von seiten Österreichs und Ungarns, gerichtet. Im April 1921 schloß sich Rumänien diesem Bündnis an, womit sich der Kreis der Mit­glieder der sogenannten «Kleinen Entente» geschlossen hatte. In den Marien­bader Verträgen vom 31. August 1922 verpflichteten sich die drei Staaten zur Aufrechterhaltung der politischen Zustände in Mittel- und Osteuropa. Mit die­ser Bekräftigung des Bündnisses wollte man den Anschluß Deutschösterreichs

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an Deutschland sowie die Wiederbelebung der alten Donaumonarchie durch Bildung einer Donaukonföderation verhindern - eine Negativ-Zielsetzung, die erreicht wurde und in dieser Form bis heute ihren Bestand hat. 1926 wurde der ursprünglich von Frankreich unterstützte Bündnisvertrag erneut um drei Jahre verlängert, aber wegen der unterschiedlichen Interessenlage der beteiligten Staa­ten verlor er schnell an Bedeutung.

80 was heute in acht Tagen: Eine Woche später, das heißt am 23. August 1920, fand ein weiterer Studienabend statt (in diesem Band); Thema dieses Abends war das Testament Peters des Großen.

81 Ludwig Polzer-Hoditz hält einen Vortrag: Der Vortrag von Polzer-Hoditz wurde nicht nachgeschrieben. Es gibt lediglich ein paar Stichworte im Notiz­buch von Rudolf Steiner, aus denen sich aber der Inhalt des Vortrags nicht rekonstruieren läßt. Zwei Monate vorher, am Studienabend vom 23. Juni 1920 in Stuttgart, hatte Polzer-Hoditz ebenfalls einen Vortrag über das «Testament Peters des Großen» gehalten; seinem Inhalt nach ist auch dieser Vortrag nicht bekannt. Zum Vortrag von Polzer-Hoditz ist Stuttgart sprach Rudolf Steiner ebenfalls ein ergänzendes Schlußwort (in CA 337a).

Peters des Großen: Siehe CA 337a, Hinweis zu S. 261.

Testament Peters des Großen: Das angeblich von Zar Peter I. verfaßte politische Testament ist eine polnische Fälschung aus der Zeit der Französischen Revolu­tion (siehe CA 337a, Hinweis zu S. 238). Der ursprüngliche, von Sokolnicki stammende Text hatte folgenden Wortlaut (Ubersetzung aus dem Französischen durch die Herausgeber):

Zusammenfassung des Planes zur Vergrößerung Rußlands

und zur Unterwerfung Europas,

ausgearbeitet von Peter I.

1. Nichts vernachlässigen, um der russischen Nation europäische Formen und Sitten zu geben; in diesem Sinne die verschiedenen Höfe und besonders die Gelehrten Europas gewinnen; es gibt verschiedene Wege, dieses Ziel errei­chen, sei es mittels Spekulierens auf ihr Interesse oder sei es aufgrund phil anthropischer Grundsätze aus der Philosophie oder aus anderen Motiven.

2. Den Staat in einem System von beständigem Kriegszustand halten, um den Soldaten an den Krieg zu gewöhnen und die Nation immer in Atem und bereitzuhalten, beim ersten Zeichen zu marschieren.

3. Mit allen möglichen Mitteln anstreben, sich gegen Norden, längs des Balti­schen Meeres und gegen Süden auszudehnen.

4. Die Eifersucht Englands, Dänemarks und Brandenburgs gegen Schweden erregen, wodurch diese Mächte die Augen verschließen werden gegenüber unseren Ubergriffen, denen man dieses Land aussetzen wird, bis man es schließlich unterworfen hat.

5. Das Haus Osterreich daran interessieren, die Türken aus Europa zu vertrei­ben. Unter diesem Vorwand eine ständige Armee unterhalten und Stütz­punkte an der Küste des Schwarzen Meeres errichten und sich schließlich durch immer weiteres Vorrücken bis nach Konstantinopel ausdehnen.

6. Die Anarchie in Polen begünstigen und erhalten. Seine Landtage und den Reichstag und vor allem die Wahl seiner Könige beeinflussen. Es bei jeder Gelegenheit zerstückeln und schließlich ganz unterwerfen.

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7. Mit England ein enges Bündnis eingehen und direkte Beziehungen mit ihm unterhalten mittels eines Handelsvertrages. Ihm erlauben, sogar eine Art Monopol im Inneren auszuüben, was unmerltlich zu einem geselligen Ver­kehr der eigenen Staatsangehörigen mit den englischen Kaufleuten und Matrosen führen wird. Diese werden alle Mittel zur Vervollkommnung und zur Vergrößerung der russischen Flotte beibringen, mit Hilfe welcher man sogleich die Vorherrschaft im Baltischen und im Schwarzen Meer ins Auge fassen muß - ein Hauptpunkt, von dem das Gelingen und das Beschleunigen dieses Planes abhängt.

8. Um jeden Preis, sei es durch Gewalt, sei es durch List, sich in die europäi­schen Streitigkeiten mischen, und besonders in diejenigen Deutschlands.

9. Immer als Verbündete Österreichs erscheinen. Jede noch so kleine Einfluß-möglichkeit ausnützen, um es in verderbliche Kriege zu verstricken und es stufenweise zu schwächen. Es sogar manchmal unterstützen, aber dabei nicht aufhören, ihm heimlich Feinde zu schaffen im Innern seines eigenen Reiches, indein man die Eifersucht der [deutschen] Fürsten gegen es erweckt.

Nota: Dieser Artikel wird umso leichter zu erfüllen sein, weil das Haus Österreich bis jetzt nicht aufgehört hat, sich durch den Plan verlocken zu lassen, die universale Monarchie zu erobern oder wenigstens das abendlän­dische Kaiserreich wiederherzustellen, und zu diesem Zwecke muß es vor allem beginnen, Deutschland zu unterwerfen.

10. Es sollen immer unter den deutschen Prinzessinnen Gemahlinnen für die russischen Prinzen gesucht werden, um auf diese Art die Verbindungen durch Familienbeziehungen und Interessengemeinschaft zu vervielfältigen und überall Einfluß in diesem Reiche zu gewinnen.

11. Sich des Einflusses der Religion bei den nicht-unierten oder schismatischen Griechisch-Orthodoxen, die sich zerstreut in Ungarn, der Türkei und den südlichen Teilen Polens finden, bedienen, sie an sich binden mit allen ver­fänglichen Mitteln, sich ihre Beschützer nennen lassen und das Recht auf die priesterliche Oberhoheit gewinnen. Und nachdem die Türkei unterjocht und Polen niedergekämpft ist unter diesem Vorwand und mit diesem Mittel, so wird die Eroberung Ungarns nur noch ein Spiel sein; Österreich wird man Entschädigungen in Deutschland versprechen, während der übrige Teil Polens, der sich weder aus eigenen Kräften noch durch seine politischen Verbindungen halten kann, sich von selbst unter das Joch beugen wird.

12. Von da an wird jeder Augenblick wertvoll sein: man muß im geheimen alle Geschütze in Stellung bringen, um den großen Schlag zu führen; man muß sie spielen lassen in klarer Ordnung, verbunden mit einer Voraussicht und einer Raschheit, welche Europa keine Zeit geben wird, sich zu besinnen. Man muß - sehr geheim und mit der größten Umsicht - damit beginnen, getrennt, zuerst dem Hof in Versailles und dann demjenigen in Wien, vor­zuschlagen, mit einem von ihnen die Weltherrschaft zu teilen. Man wird sie darauf aufmerksam machen, daß Rußland faktisch schon den ganzen Osten beherrscht und nur noch den Rechtstitel dafür zu gewinnen hat - dieser Vorschlag kann ihnen keineswegs verdächtig erscheinen. Es ist im Gegenteil außer Zweifel, daß dieser Vorschlag nicht verfehlen wird, ihnen zu schmei­cheln und unter ihnen einen Krieg auf Tod und Leben entfachen wird. Die­ser Krieg wird bald ein allgemeiner werden angesichts der Verbindungen und verbreiteten Beziehungen dieser beiden rivalisierenden Höfe und natürlichen Gegner und angesichts des Interesses, das alle übrigen Mächte Europas ver­anlassen würde, an diesen Streitigkeiten teilzunehmen.

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13. Inmitten dieser allgemeinen Erbitterung wird Rußland sich um Hilfe bitten lassen, bald von der einen, bald von der anderen der kriegführenden Mächte. Nachdem es lange die Waage gehalten hat zwischen den Kriegführenden, um diesen Zeit zu geben, sich richtig zu erschöpfen, und sich selbst, um seine Kräfte zu sammeln, wird es sich schließlich für das Haus Österreich ent­scheiden. Und während es seine Linientruppen bis zum Rhein vorrücken läßt, wird es sofort einen Riesenschwarm seiner asiatischen Horden folgen lassen. Je nach dem Ausmaß deren Vordringens in Deutschland werden zwei beachtliche Flottenverbände, der eine aus dem Asowschen Meere, der andere aus dem Hafen von Archangelsk, abfahren, beladen mit einer Anzahl der gleichen asiatischen Horden und begleitet von den Kriegsflotten des Schwar­zen und Baltischen Meeres. Sie werden unverhofft in das Mittelmeer und in den Ozean vorstoßen, um diese wilden und beutegierigen Nomadenvölker auszuspeien und Italien, Spanien und Frankreich zu überfluten; sie werden einen Teil der Bevölkerung niedermachen, den anderen in die Sklaverei schleppen, um durch ihn die menschenleeren Teile Sibiriens zu bevölkern, und den Rest außerstand zu setzen, das Joch abzuschütteln.

81 Anschließend an die Diskussion: Die Ausführungen der Diskussionsteilnehmer wurden nicht mitgeschrieben.

den Preußisch-Österreichischen Krieg vom Jahre 1866: In dieser militärischen Auseinandersetzung zwischen Preußen und Osterreich ging es um die Vorherr­schaft in Deutschland. Sie endete nach kurzer Zeit mit der Niederlage Öster­reichs und seiner deutschen Verbündeten; Österreich wurde von einer Mitwir­kung an der Bildung des deutschen Nationalstaates ausgeschlossen und politisch auf den Balkan verwiesen. Es blieb aber eine Großmacht, allerdings in der staats­rechtlich umgestalteten Form einer Doppelmonarchie (Osterreich-Ungarn). Als Folge seines Sieges gründete Preußen 1867 den unter seiner Führung stehenden Norddeutschen Bund - die Grundlage für das 1871 entstandene Deutsche Kai­serreich.

in den Jahren der Regierung des Grafen Taaife in Österreich: Siehe GA 337a, Hinweise zu S. 236.

82 in der Österreich vom Berliner Vertrag das Mandat erhalten hatte, Bosnien und die Herzegowina zu okkupieren: Siehe CA 337a, Hinweis zu S. 230.

der hahshurgischen Hauspolitik: Die Hausmachtpolitik der Habsburger-Dyna­stie zielte auf eine beständige Vergrößerung ihres Herrschaftsgebietes. Der Grundstein für die hahiburgische Hausmacht in den österreichischen Landen wurde 1282 gelegy, als der deutsche König Rudolf seine beiden Söhne Albrecht und Rudolf mit Osterreich und der Steiermark belehnte. Im Laufe der Jahrhun­derte entwickelte sich daraus die österreicbiseb-ungariscbe Monarchie, indem die Habsburger-Dynastie durch Personalunion eine Vielzahl von Ländern unter ihre zusammenfassende Herrschaft brachte. Vom Gesichtspunkt dieser Haus-machtpolitik aus befürwortete Kaiser Franz Josepb I. die Okkupation von Bos­nien und der Herzegowina; sie schien ihm eine Mehrung der dynastisehen Macht zu bedeuten.

Es war ja ein richtiger Zankapfel diese Okkupation von Bosnien und der Her­zegowina: Die bedeutenden Opfer und Kosten der bosnischen Okkupation rie­fen sowohl in Osterreich als auch in Ungarn große Unzufriedenheit hervor.

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Insbesondere ein Großteil der deutschen Liberalen - die damals in der soge­nannten Verfassungspartei organisiert war -, lehnte unter der Führung von Eduard Herbst und Karl Giskra die bosnische Okkupation ab, bedeutete sie doch eine Stärkung des südslawischen Bevölkerungsanteils und damit neue Be­lastungsproben für den Vielvölkerstaat. Diese Opposition führte schließlich zum Sturz der Regierung unter Adolf Fürst von Auersperg im Juli 1878. Sein Nach­folger, Sisinio Freiherr de Pretis-Cagnodo, konnte sich im Abgeordnetenhaus mit seinem Okkupationsprogramm vom 22. Oktober 1878, das die militärische Besetzung aufrechterhalten wollte, nicht durchsetzen. Die Mehrheit des Abge­ordnetenhauses richtete vielmehr am 29. Oktober 1878 eine Adresse an den Kaiser, in der die Okkupation vom politischen und finanziellen Gesichtspunkt aus getadelt wurde. Aber Kaiser Franz Joseph I. und der österreichisch-ungan-sehe Außenminister Gyulá Andrássy befürworteten die Aufrechterhaltung der Okkupation aus machtpolitischen Gründen. Trotzdem setzten Herbst und Gis­kra ihre Opposition fort. Im Januar 1879 beantragten sie im Abgeordnetenhaus nicht bloß die Verwerfung des Berliner Vertrages, sondern auch die Ablehnung der Verlängerung des Wehrgesetzes und die Bewilligung der Steuererhebung für 1879 nur auf einen Monat. Alle drei Anträge wurden aber abgelehnt, da sich ein Teil der Liberalen - die sogenannte bosnische Linke - unter der Führung von Ernst von Plener von der Verfassungspartei abgespalten hatte. Diese Spaltung war schließlich dafür verantwortlich, daß die Liberalen 1879 endgültig aus der Regierungsverantwortung gedrängt wurden.

82 im österreichischen Reichsrat: Siehe CA 337a, Hinweis zu S. 233.

der sogenannten deutschen Linken: In dem 1873 neu gewählten österreichischen Abgeordnetenhaus bezeichneten sich die Anhänger des Liberalismus als «deut­sche Linke», da die Bewegung des Liberalismus zu einem Großteil von Men­schen deutscher Nationalität getragen wurde.

der Abgeordnete Herbst: Siehe CA 337a, Hinweis zu S. 232. 83 Bismarck: Siehe CA 337a, Hinweis zu S. 231.

Hohenzollern: Die Angehörigen des preußischen Königshauses (seit 1871 gleich­zeitig auch des deutschen Kaiserhauses) gehörten der fränkischen Linie des deutschen Füritengeschlechts der Hohenzollern an. 1415 erhielten die Hohen­zollern die Kurwürde von Brandenburg und legten damit die Grundlage des preußischen Staates.

der jüngere Plener: Siehe CA 337a, Hinweis zu S. 232.

84 was man englischen Parlamentarismus nennt: In Großbritannien herrschte das System der parlamentarischen Monarchie; das Mitbestimmungsrecht den Krone war nur noch formeller Art. Das bedeutete, daß die Regierung vom Vertrauen der Parlamentsmehnheit abhing; ging dieses verloren, mußte sie zurücktreten. Auch die Verabschiedung von Gesetzen bedurfte der Zustimmung der Parla­mentsmehrheit. Das englische Parlament bestand aus zwei Kammern: dem Oberhaus, dem «House of Lords», und dem Unterhaus, dem «House of Com­mons». Das Oberhaus war die Vertretung des Adels und der Staatskirche; die meisten Mitglieder des Oberhauses hatten Einsitz aufgrund ihres Adelstiteis oder ihres hohen Kirchenamtes. Entscheidend war aber das Unterhaus, die Ver­tretung der Grafschaften, der Städte und der Universitäten. Zunächst galt das

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Wahlrecht nur für Männer und war an bestimmte Besitzesvoraussetzungen ge­bunden. 1918 wurde es auch auf Frauen ausgedehnt, wobei die Besitzesbestim­mungen, wenn auch nicht abgeschafft, so doch wesentlich gelockert wurden. Diejenige Partei, die in den Unterhauswahlen die Mehrheit der Sitze eroberte, konnte aufgrund dieses Systems sowohl die Gesetzgebungs- wie die Regierungs­tätigkeit in einer Hand vereinigen und damit für eine bestimmte Legislatur­periode die unumachränkte Macht ausüben. Der Einfluß der Regierungspartei wurde noch dadurch verstärkt, daß Großbritannien zentralistisch regiert wurde. Die Debatten im englischen Unterhaus vollzogen sich nach einem festen Ritual unter dem Vorsitz des «Speakers»

85 Franz Joseph I, 1830-1916, aus dem Hause Habsburg-Lothringen, wurde im Dezember 1848 nach der erzwungenen Abdankung seines Onkels als junger Mann Kaiser von Osterreich und König von Ungarn. Obwohl er grundsätzlich konservativ-autokratisch eingestellt war und sich den dynastischen Interessen des Hauses Habsburg verpflichtet fühlte, verstand er sein Herrscheramt als eine Aufgabe im Dienste seiner Völker. So ließ er in der langen Zeit seiner Herr­schaft, die bis November 1916 dauerte, die Einführung eines konstitutionellen Regierungssystems zu, das das Mitspracherecht des Parlamentes verfassungs­mäßig festschrieb. Für den österreichischen Reichsteil gewährte er schließlich sogar das allgemeine Wahlrecht. Aber es gelang ihm nicht, das Zusammenleben der verschiedenen Völker so zu gestalten, daß der Bestand des hababurgischen Vielvölkerstaates für die Zukunft gesichert war. Zwei Jahre nach seinem Tode zerfiel die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie als Folge der revolutio­nären Erschütterungen, die nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg ausgebro­chen waren.

Koalitionsminsterium Windischgrätz: Nachdem es sich gezeigt haue, daß die konservative Mehrheit für das Kabinett des Grafen Taaffe nicht mehr gewähr-leistet war, wurde er im November 1893 entlassen, und es bildete sich unter dem Fürsten Alfred zu Windischgrätz (1851-1927) eine Koalitionsregierung zwi­schen den konservativen und liberalen Kräften. Die Alttschechen gehörten nicht mehr der Regierung an, hingegen immer noch die Polen und Klerikalen, aber neu nun auch die Deutschliberalen. Diese Koalition hielt allerdings nicht lange, zumal die Deutschliberalen - bedrängt durch die oppositionellen Christlich-sozialen - politisch immer mehr an Boden verloren und sich schließlich aus der Koalition zurückzogen. Aber auch die außerparlamentarische Agitation der Sozialisten und Jungtschechen brachte die Regierung immer mehr in Bedrängnis. Im Juni 1895 sah sich Windischgrätz gezwungen, seinen Rücktritt einzureichen, ohne die Frage der Wahlrechtsreform, an der schon Taaffe gescheitert war, ge­löst zu haben.

das zweite Ministerium des Grafen Taaife: Gemeint ist dasjenige Kabinett von Graf Taaffe, das von August 1879 bis November 1893 im Amte war (siehe Hinweis zu S. 81). Taaffe war bereits früher einmal vorübergehend Ministerprä­sident, und zwar von September 1868 bis Januar 1970.

mit dem sogenannten Bürgerministerium von 1867 bis 1870 versucht worden, zunächst mit dem Fürsten Carlos Auersperg: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 231.

86 dann kam die Episode unter Potocki und Hohenwart: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 231

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86 Dann kam aber 1871 bis zum Ende der siebziger Jahre das Ministerium unter Fürst Adolf Auersperg: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 231.

Die Länder diesseits der Leitha: Die Leitha ist ein Nebenfluß der Donau südlich von Wien. Da die Leitha an zwei Stellen die Grenze gegen Ungarn bildete, bezeichnete man die beiden Reichshälften der österreichisch-ungarischen Dop­pelmonarchie als Zisleithanien (Länder diesseits der Leitha: österreichische Reichshälfte) und Transleithanien (Länder jenseits der Leitha: ungarische Reichshälfte).

«die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder«: Gemeint sind alle die­jenigen Gebiete, die Vertreter in das Parlament für die österreichische Reichs-hälfte, den Reichsrat, entsandten. Die österreichische Reichshälfte war nach außen föderalistisch aufgebaut; sie bestand aus 17 beziehungsweise 15 Ländern oder Königreichen - je nachdem die verwaltungsmäßig zusammengefaßten Ge­biete einzeln gezählt wurden oder nicht: Erzherzogtum Niederösterreich (unter der Enns), Erzherzogtum Oberösterreich (ober der Enns), Herzogtum Salzburg, Herzogtum Steiermark, Herzogtum Kärnten, Herzogtum Krain, Küstenland (Gefürstete Grafschaft Görz und Gradisca, Markgrafschaft Istrien, Stadt und Gebiet Triest), Gefürstete Grafschaft Tirol, Land Voralberg, Königreich Böh­men, Markgrafschaft Mähren, Herzogtum Schlesien, Königreich Galizien und Lodomerien, Herzogtum Bukowina, Königreich Dalmatien. Alle diese Länder hatten ihre eigenen Volksvertretungen, die Landtage.

«die Länder der Heiligen Stephanskrone»: Seit dem Ausgleich von 1867 wurde die ungarische Reichshälfte zentralistisch regiert; die Selbstverwaltung aller un­garischen Nebenländer, zum Beispiel von Siebenbürgen, wurde aufgehoben; nur Kroatien und Slawonien sowie Fiume konnte sich eine gewisse beschränkte innere Selbstverwaltung bewahren. Als Länder der ungarischen Krone galten somit: das Königreich Ungarn, das Königreich Kroatien und Slawonien, die Stadt Fiume. Die ungarischen Krone trug den Namen «Stephanskrone« in Erin­nerung an den Heiligen Stephan (István), den ersten christlichen König Ungarns (997-1038).998 war er zum Christentum übergetreten und im Jahre 1000 zum «Apostolischen» König Ungarns gekrönt worden.

88 Julian Ritter von Dunajewski, 1822-1907, österreichisch-polnischer Politiker und Volkswirtschafter. In Galizien beheimatet, wirkte er nach seinen Universi­tätsstudien seit 1852 als Professor der politischen Wissenschaften und der Stati­stik, zunächst in Preßburg (heute Bratislava), ab 1860 in Lemberg und schließ­lich ab 1861 endgültig in Krakau. Von 1873 an wirkte er im österreichischen Reichsrat, wo er als entschiedener Gegner der Deutschen der Polenpartei ange­hörte. Im zweiten Kabinett des Grafen Taaffe, das aus einer Koalition der Ka­tholisch-Konservativen mit den Polen und Tschechen bestand und vom August 1879 bis Oktober 1893 im Amt war, übte er von 1880 bis 1891 die Funktion eines Finanzministers aus.

Aloys Freiherr von Prazik, 1820-1901, österreichisch-tschechischer Politiker, in Mähren lebend. Beruflich als Rechtsanwalt tätig, war er in der Revolutionszeit von 1848 bis 1849 Mitglied des verfassungsgebenden Reichstages in Wien. Nach vorübergehendem Rückzug aus der Politik gehörte er von 1861 bis 1892 - ab­gesehen von einem zehnjährigen Unterbruch zwischen 1864 und 1874 - dem österreichischen Abgeordnetenhaus an; anschließend wurde er als lebenslängliches

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Mitglied in das Herrenhans berufen. Politisch fühlte sich Prazák der Rich­tung der gemäßigten Tschechen zugehörig; im zweiten Ministerium des Grafen Taaffe spielte er eine wichtige Rolle: zunächst von 1879 bis 1881 als Minister ohne Portefeuille, von 1881 bis 1888 als Justizminister und schließlich von 1888 bis 1892 als tschechischer Landsmannminister. Durch seine Sprachenverordnun-gen von 1881 und 1886 förderte er die Bestrebungen in Böhmen und Mähren. die Gerichte zu tschechisiercn

88 Franciszek (Franz) Smolka, 1810-1899, österreichisch-polnischer Politiker, aus Galizien, war von Beruf Advokat. Als Führer des jung polnischen Geheimbun­des, der die Wiederaufrichtung des alten polnischen Reiches plante, wurde er 1841 verhaftet, 1845 zum Tode verurteilt, schließlich aber begnadigt. Im Revo­lutionsjahr von 1848 stellte er sich an die Spitze der nationalpolnischen Be­wegung in Galizien und vertrat von 1848 bis 1849 deren Interessen in der ver-fassungsgebenden Versammlung für die slawischen und deutschen Reichsteile Osterreichs, im Reichstag. Für kurze Zeit war er sogar Präsident des Reichs­tages. 1849, nach dessen Auflösung, kehrte Smolka nach Galizien zurück. 1861 wurde er in das österreichische Abgeordnetenhaus gewählt, wo er - abgesehen von einem Unterbruch zwischen 1863 und 1867 - bis 1893 blieb; von 1881 bis 1893 bekleidete er sogar das Amt eines Präsidenten des Abgeordnetenhauses. Nach seinem Rücktritt gehörte er bis zu seinem Tode dem österreichischen Herrenhaus an. Politisch vertrat Smolka die Zielsetzungen der polnischen Frak­tion; neben Grocholski gehörte er zu den führenden Persönlichkeiten dieser Richtung. Er befürwortete den Umbau des österreichisch-ungarischen Doppel-staates in einen Bund von fünf Staaten durch zusätzliche Gewährung von Autonomie für die polnischen, tschechischen und südslawischen Reichsteile.

Bartholomäus Ritter von Carneri 1821-1909, deutschösterreichischer Schrift­steller, dessen Werk von den Ideen Darwins beeinflußt war. Carneri war auc politisch tätig: Dem freiheitlichen Gedankengut verpflichtet, war er von 1870 s 1890 ein herausragendes Mitglied der liberalen Fraktion im Abgeordnetenh us des österreichischen Reichsrates.

aus meinem Buche «Vom Menschenrätsel»: In seinem Buch «Vom Menschen ät­sel» (GA 20) - erstmals erschienen 1916 - ging Rudolf Steiner im Kapitel «Bi er aus dem Gedankenleben Osterreichs« auch auf die Persönlichkeit von Car eri ein. Er schrieb: «Aus dem österreichischen Geistesleben der zweiten Hälfte es neunzehnten Jahrhunderts taucht empor eine Denkergestalt, die tiefbedeutsame Züge des Weltanschauungsinhaltes der neueren Zeit zum Ausdrucke bringt:

der Ethiker des Darwinismus Bartholomäus von Carneri Ein Denker, der das öffentliche Leben Österreichs wie selbsterlebtes Glück und Leid miterlebte und durch viele Jahre als Reichsratsabgeordneter an diesem Leben mit aller Kraft seines Geistes tätigen Anteil nahm«.

Otto Hausner: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 232.

Edvard Grégr (Eduard Gröger), 1829-1907, österreichisch-tschechischer Politi­ker. Er war seit 1861 - mit faktischem Unterbruch zwischen 1863 und 1879 -Abgeordneter im österreichischen Reichsrat und gehörte dem radikalen Flügel der tschechischen Partei, den Jungtschechen, an. Edvard Grégr war der ältere Bruder von Julius Grégr (1831-1896), der wie sein Bruder 1861 ebenfalls in den Reichsrat delegiert wurde. Er trat aber als Politiker weniger in den Vordergrund;

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seine Hauptleistung lag auf journalistischem Gebiet; er war zusammen mit Palacky und Rieger der Begründer der ersten selbständigen politischen Zei­tung in tschechischer Sprache, der «Narodni Listy» - das Parteiorgan der Jung­tschechen. Im IV. Kapitel von «Mein Lebensgang» (GA 28) beschrieb Rudolf Steiner seinen Eindruck von Grégr: «Man hatte bei ihm das Gefühl, einen halben Demagogen vor sich zu haben.»

89 Arlbergbabn: Durch den 1880 begonnenen Bau des 10 km langen, 1884 eröffne­ten Arlbergtunnels wurde eine Bahnverbindung zwischen dem österreichischen Land Voralberg und der Grafschaft Tirol geschaffen. Dieser Tunnel war von großer wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung, wurden doch durch diese Eisenbahnverbindung die Länder der Doppelmonarchie mehr an den Westen Europas angebunden. Otto Hausner trat in einer Rede vom 12. März 1880 im Wiener Abgeordnetenhaus für den Bau der Arlbergbahn ein, weil er sich davon für Österreich eine größere Bündnis-Wahlfreiheit - gegen die einseitige außen-politische Abhängigkeit von Deutschland durch den Abschluß des Zweibundes

- versprach.

eine Rede> die Hausner gehalten hat: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 233. Dzieduszycki: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 234.

90 In der Zeit, als in Österreich das von den Liberalen schon ruinierte Schulgesetz vollends ruiniert werden sollte: In der Zeit des zweiten, konservativ-föderalisti­sehen Ministeriums Taaffe, das vom August 1879 bis November 1893 im Amt war und das den Anspruch eines Versöhnungsministeriums erhob, mußte immer wieder mühsam - durch Konzessionen von Fall zu Fall - der Ausgleich zwi­schen den an der Regierung beteiligten Deutschklerikalen und den Slawen ge­funden werden. Die Klerikalen zum Beispiel konnten zwar die grundsätzliche Einführung der konfessionellen Schule nicht durchsetzen, wurden aber 1883 durch eine Änderung des Schulgesetzes zufriedengestellt, welche die Entschei­dung über die Herabsetzung der Schulpflicht von acht auf sechs Jahre den Gemeinden überließ und zusätzlich bestimmte, daß der Schulleiter die gleiche Konfession wie die Mehrheit der Schüler haben sollte. Damit war die Voraus­setzung für eine Stärkung des katholischen Einflusses auf die Schulen gegeben. Der wesentlich weitergehende Antrag des Prinzen Alois von Liechtenstein aus dem Jahre 1888 - er war der geistige Leiter der katholisch-klerikalen Zentrums-partei und befürwortete die Einführung der konfessionellen Schulen - scheiterte aber zur Freude des jungen Rudolf Steiner, der in seinem Kommentar zur Woche vom 25. bis 31. Januar 1888 in der «Deutschen Wochenschrift» (6. Jg. Nr.5) geschrieben hatte: «Glücklicherweise stehen alles in allem die Aussichten für das Zustandekommen des Gesetzes bisheran schlecht genug.»

und es ist dem späteren Unterriehtaminister Gautsch: Paul Freiherr Gautsch von Frankenthurm (1851-1918), deutschösterreichischer Politiker. Nach dem Studi­um der Rechte war er zunächst als höherer Beamter tätig, übernahm schließlich 1885 die Leitung des Ministeriums für Kultus und Unterricht im zweiten Kabi­nett Taaffe, in dessen Sturz er hineingezogen wurde. Sein Wirken als Unter­richtsminister beurteilte bereits der junge Rudolf Steiner äußerst kritisch; in seinem Aufsatz «Das deutsche Unterrichtswesen (in Österreich) und Herr von Gautsch«, erschienen in der «Deutschen Wochenschrift» (6. Jg. Nr. 33), (in GA 31) schrieb er: «Wenn wir uns fragen, in welcher Weise hat Herr von

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Gautsch in diese Entwicklung unseres Schulwesens eingegriffen, so können wir nur sagen, seine Maßregeln sind in dem, was bürokratischer Geist zu bieten vermag, am weitesten gegangen. Obwohl alle seine Verordnungen mit den Worten beginnen: Aus pädagogisch-didaktischen Gründen erscheint es nötig anzuordnen ... und so weiter, so tragen sie doch alle die eine Tendenz in sich:

den Lehrer in der Freiheit seines Wirkens einzuengen.» Nach seinem Rücktritt war Gautseh wieder als höherer Beamter tätig; 1895 wurde er ins Herrenhaus aufgenommen. Im gleichen Jahr wurde er zum zweiten Mal Unterrichtsminister, diesmal im Ministerium von Kasimir Graf von Badeni. Nach dessen Sturz stand er einem reinen Beamtenkabinett vor, das vom November 1897 bis März 1898 im Amte war. Da es auch ihm nicht gelang, mit seinen Sprachenverordnungen die Nationalitätenfrage zu lösen, mußte er zurücktreten und wurde Präsident des Obersten Rechnungshofes. Diese Stellung gab er vorübergehend - von Dezember 1904 bis April 1906 - zugunsten einer zweiten Ministerpräsident-schaft auf. Von Juni bis Oktober 1911 bekleidete er zum dritten Mal das Amt eines Ministerpräsidenten. Gautseh von Frankenthurm galt als besonderer Ver­trauensmann Kaiser Franz Josephs I.

90 der Urklcrikale Leo Graf Thun: Leo Graf von Thun und Hohenstein (1811-1888), österreichischer Staatsmann. Aus deutsch-böhmischen Hochadel stam­mend, trat er nach einer juristischen Ausbildung in den staatlichen Dienst, war aber zeitweise auch als Schriftsteller tätig. 1849 wurde er als Minister für Kultus und Unterricht ins Kabinett des Fürsten Felix zu Schwarzenberg berufen. Dieses Amt übte er auch in den beiden Folgeministerien unter Karl Ferdinand Graf von Buol-Schauenstein und Johann Bernhard Graf von Rechberg aus, bis er 1860 seines Amtes enthoben wurde. Nach seiner Entlassung wurde er 1861 zum Mitglied des Herrenhauses ernannt, wo er bis zu seinem Tode als Hauptvertre­ter für die klerikalen und feudalen Interessen wirkte. Graf Thun betrieb zwar einerseits den Abschluß eines Konkordats mit dem Heiligen Stuhl - es kam 1855 zustande und brachte eine Stärkung des Einflusses der katholischen Kirche im offentlichen Leben -, aber er machte sich auch vor allem um die grundlegende Neugestaltung des Mittelschulunterrichts verdient, indem er neben dem klassischen Gymnasium die Realschule einführte - das Gymnasium mit besonderer Betonung moderner Sprachen, der Mathematik und der Naturwissenschaften. Daneben griff er auch reformierend ins Hochschulwesen ein, wo es ihm gelan , die akademische Freiheit zu schützen und unabhängige Gelehrte, überwiegen aus Deutschland, zu berufen. In seinen Reformbemühungen standen ihm di beiden Universitätsprofessoren Franz Exner und Hermann Bonitz beratend zur Seite. Rudolf Steiner hatte viel Sympathie für die damaligen Reformen, schrieb er doch bereits als junger Mann in seinem Aufsatz «Das deutsche Unterrichts­wesen (in Österreich) und Herr von Gautseh« (in GA 31) über die Tätigkeit des Grafen Thun: »Es ist noch in aller Erinnerung, welcher Geist damals in unser Gymnasialwesen drang und wie Thun, selbst mit Außerachtlassung seiner per­sönlichen Meinungen und seines klerikalen Standpunktes, es sich angelegen sein ließ, das höhere Unterrichtswesen dadurch zu heben, daß er die Individualität, wo er sie finden konnte, heranzog.« Im Gegensatz dazu beurteilte er die Schul­politik der Liberalen ablehnend: «Aber es ist eine unumstößliche Wahrheit, daß Thun das Individuum, die liberale Schulgesetzgebung der letzten Dezennien aber den Paragraph in den Vordergrund stellte.»

91 des Alttschechen Rieger: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 234.

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91 kamen die Tachechen nicht ins Wiener Parlament: Bereits seit 1863 boykottierten die tschechischen Vertreter den gesamtösterreichischen Reichsrat; ihre Politik der Ablehnung setzten sie verstärkt nach dem österreichisch-ungarischen Aus­gleich von 1867 fort, da sie die gleiche Autonomie für Böhmen und Mähren forderten, wie sie Ungarn gewährt worden war. Erst 1879, nach dem endgültigen Sturz der liberalen Regierung und der Bildung der konservativ-föderalistisch eingestellten Regierung Taaffe - dem sogenannten Versöhnungsministerium -, erklärten sich die Tschechen wieder zur parlamentarischen Mitarbeit im Reichs­rat bereit.

des Grafrn Andrássy: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 237.

92 westländisches Wesen in Rußland einzuführen: Nach der Rückkehr von seiner großen Auslandsreise in den protestantischen Westen Europas im Jahre 1698 traf Zar Peter I. zahlreiche einschneidende, vom einem kommerziell-rationalen Den­ken geprägte Reformmaßnahmen, die viele Neuerungen für die bisher in einer mittelalterlichen Geistesverfassung verharrende russische Gesellschaft brachten. Er verlegte das Zentrum des Reiches nach St. Petersburg, betrieb die staatliche Förderung der Industrie durch die Gründung von Manufakturen, vergrößerte das Landheer beträchtlich und stampfte eine starke Kriegsflotte aus dem Boden. Seine Reformen erstreckten sich aber auch auf die Gesellschaft: Er setzte west­liche Sitten durch, indem er die russischen Männer zum bisher von der Kirche untersagten Bartscheren zwang; er führte für den Adel die Ein-Erbfolge ein und schuf gleichzeitig die Grundlagen für die Entstehung eines Dienstadels. Der politische Einfluß der Stände wurde zurückgedrängt und die Grundlage für eine zentralistische Landesverwaltung gelegt. Gleichzeitig unterwarf Zar Peter die Kirche der Macht des Staates, indem nicht mehr ein Patriarch, sondern ein geist­liches Kollegium als eine Art staatliche Behörde an der Spitze der Kirche stehen sollte.

93 Ich habe versucht nachzuweisen: Der Aufsatz Rudolf Steiners erschien ur­sprünglich im 7. Band der «Schriften der Goethe-Gesellschaft« (Goethe­Jahrbuch, Weimar 1892) unter dem Titel «Zu dem über die Natur» (in GA 30).

wie der Goethesche Aufsatz: Im Tiefurter Journal um 1782/1783 erschienen, im 7. Band des Goethe-Jahrbuchs wieder abgedruckt, zunächst mit «Fragment« überschrieben, später unter dem Titel «Die Natur. Aphoristisch» erschienen. Siehe dazu GA 1b, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften II.

Schweizer Tobler: Georg Christoph Tobler (1757-1812), Übersetzer und Theo­loge, aus dem Kanton Zürich. Er war ein Freund Goethes und hielt sich 1781 in Weimar auf; er war der eigentliche Verfasser des Aufsatzes über die Natur.

ist das Testament eine Fälschung: Siehe Hinweis zu S. 81.

97 Ernst Uehli spricht einleitend über das Thema: Über den Inhalt des Vortrages von Ernst Uehli ist nichts bekannt.

Anschließendfsndet eine Diskussion statt: Die Voten der einzelnen Diskussions­teilnehmer wurden nicht mitstenografiert.

98 Lenin oder Trotzki: Siehe Hinweise zu S. 22.

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103 dieser Dornacher Bau, der mußte ja entstehen, er mußte entstehen aus emer gewissen Kultur- und Zivilisationsaufgabe der Gegenwart heraus: Im Oktober 1914 hielt Rudolf Steiner eine Reihe von Vorträge, in denen er die kulturelle Bedeutung des Dornacher Baues - damals hieß er noch «Johannesbau» - be­leuchtete. In der Gesamtausgabe sind diese Vorträge in GA 287 unter dem Titel »Der Dornacher Bau als Wahrzeichen geschichtlichen Werdens und künstleri­scher Umwandlungsimpulse» erschienen.

104 Lustspielen eines Paul Lindau, eines Blumenthal: Paul Lindau (1839-1919), deut­scher Theatermann und -dichter. Von der Herkunft Pfarrerssohn, studierte er Philosophie und Literatur und war zunächst als Journalist und Redakteur, dann als Theatermann tätig: 1899-1903 Direktor des Berliner Theaters, 1904-1905 des Deutschen Theaters, schließlich Erster Dramaturg der Königlichen Schauspiele Berlin. Lindau war ein sehr schaffensreicher Dichter und Dramatiker, der nicht nur Novellen, sondern auch zahlreiche Bühnenstücke ernster und heiterer Art verfaßte. Zu seinem Zeitgenossen Oskar Blumenthal siehe Hinweis zu S. 48.

106 Impressionismus: So lautete die ursprünglich abwertend gemeinte Bezeichnung für die neue Richtung der Malerei, die sich in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich entwickelte und gegen die offizielle Malerei der Atelierkunst gerichtet war. Im Gegensatz zu einer jahrhundertealten Tradition malten die Impressionisten im Freien; ihre Bilder zeichneten sich durch eine reiche Farbigkeit und unscharfe Konturen aus. Die bedeutendsten Impressioni­sten waren Claude Monet, Gamille Pissaro, Pierre Auguste Renoir, Edgar Degas und Alfred Sisley.

Expressionismus: Es handelt sich um eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts ent­standene neue Kunstrichtung in der Malerei, die nach dem Ausdruck des seeli­schen Lebens selbst im Bild strebte. Die Bildmittel - Farbe und Form - erhielten einen eigenständigen Ausdruckswert; die äußerlich gegebenen Formen und Far­ben wurden umgebildet, verzerrt oder ganz aufgelöst. Als Väter des Expressio­nismus gelten Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Paul Cézanne; ihr Schaffen beeinflußte weite Künstlerkreise, zum Beispiel die beiden Künstlergruppen «Die Brücke« und «Der Blaue Reiter» mit den bekannten Malern Ernst Ludwig Kirchner, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter und Franz Marc sowie Paul Klee und August Macke. Der Expressionismus bildete den Ausgangspunkt für die moderne abstrakte Malerei.

107 In der Theosophischen Gesellschaft wird von der «Gleichheit der Religionen» geredet: Als Beispiel für die Haltung der Theosophischen Gesellschaft können die Ausführungen von Annie Besant gelten, die sie in ihrem auf deutsch erschie­nenen Büchlein «Theosophie in Beziehung zum menschlichen Leben« (Leipzig 1907) machte. Es handelt sich um die Wiedergabe von vier Vorträgen, die sie

1904 in Benares gehalten hatte. Im Vortrag Die Theosophie in Beziehung zur Religion« sagte sie:« Die Theosophie macht keine Konvertiten! Das ist ihr Ruhm! Sie regt einen jeden an, seinem eigenen Bekenntnis gemäß zu leben, zu glauben, zu spiritualisieren. Sie erklärt, daß es nur eine Religion gibt, aus der alle Rcligionsbekenntnisse entspringen, und daß diejenigen am nächsten dem Her­zen des Seins sind, die da voll Liebe, voll Mitleid, voll Toleranz sind. Die Theo-sophie ist so der Friedensbringer inmitten der Religionen, sie lehrt ihre zugrun­deliegende Einheit inmitten der äußern Mannigfaltigkeit; sie läßt einer jeden Religion ihre eigenen Besonderheiten; sie erklärt sie nur und macht sie so verständlich;

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sie befähigt sie, auf diese Weise sich gegen die Angriffe kurzsichtiger Religionsforscher zu verteidigen, die andern Religionen der Welt angehören, sowie auch gegen die Angriffe des Materialismus und des Aberglaubens.«

108 Henrik Ibsen, 1828-1906, norwegischer Dichter.

Lew (Leo) Nikolajewitsch Graf Tolstoi, 1828-1910, russischer Dichter. Rabindranath Tagore: Siehe Hinweis zu S. 31.

das hat sich auch in der Rede des Herrn Baumann ergeben: Paul Baumann muß in der Diskussion nach dem Vortrag von Ernst Uehli ein längeres Votum abge­geben haben, von dem jedoch keine Nachsehrift vorliegt.

110 Paul Baumann leitet den Diskussionsabend: Über den Inhalt seines esnleitenden Vortrages ist nichts bekannt.

Lorcher Nachrichten: Es handelt sich um das Monatsblatt »Der Leuchtturm Brief über praktische und übersinnliche Wissenschaft, Philosophie und Religion und Urteile über das geistige Leben der Gegenwart. Sammlung von Tatsachen, Begriffen und Forschungsergebnissen, die zum Aufbau einer lebensbejahenden, gottgläubigen und gottfrohen Weltanschauung dienen». Als Leser waren nur Menschen «germanisch-christlicher Rasse« erwünscht. Der «Leuchtturm« war ein antisemitisches Hetzblatt, das in Lorch von Karl Rohm im Selbstverlag her­ausgegeben wurde. Eines der bevorzugten Ziele seiner Schmähartikel waren Rudolf Steiner und die antheoposophische Bewegung.

ein Artikel erschienen ist, er heißt: Der von Karl Rohm verfaßte Artikel «Die gestohlene Dreigliederung» erschien im 14. Jahrgang, in der Nummer 12 (Juni) des «Leuchtturms» In der Zeitschrift »Dreigliederung des sozialen Organis­mus« vom 14. September 1920 (2. Jg. Nr. 11) erschien eine Erwiderung von Ernst Uehli auf den Lorcher Schmähartikel unter der Überschrift «Die gestoh­lene Dreigliederung». Uehli gab Rohm den Rat, «sich einen zeitungapapierenen Napoleonshut (im Leuchtturmformat) aufs Haupt zu stülpen und damit in Lorch oder, wo es ihm belieben mag, spazieren zu gehen.«

Den Herausgeber dieses Blattes, der in Wirklichkeit Rohm heißt, habe ich öifent­lieb in einem Vortrag in Stuttgart in einer Art Vergleich als ein «Schwein« be­zeichnen müssen: Nach dem öffentlichen Vortrag vom 8. Juni 1920 unter dem Titel »Der Weg zu gesundem Denken und die Lebenslage des Gegenwartsmen-schen» (vorgesehen für GA 335), den Rudolf Steiner im Gustav-Siegle-Haus vor mehr als tausend Menschen gehalten hatte, nahm er in einem Nachwort Stellung zu den verschiedenen persönlichen Verunglimpfungen, unter anderem auch zu den lügenhaften Angriffen von Karl Rohm. Er sagte: «Sehen Sie, in einen sol­eben Sumpf hinein kommt jene Verlogenheit, die, weil sie nicht auf Sachliches einzugehen in der Lage ist, sich nur an die persönliche Verunglimpfung heran-wagt. Es tut mir leid, daß ich Sie, nachdem ich meinen Vortrag gehalten habe, mit diesen Dingen behelligen muß, aber was würde man sagen, wenn darauf ganz geschwiegen würde? Es gibt auch Leute, die sagen: Warum klagst du nicht?

- Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, es gibt Dinge, denen gegenüber man eigentlich, wenn man mit ihnen zu tun hat, sich darauf beschränkt, sich hinter­her die Hände zu waschen. Klagen, wenn die Sache so liegt? Verzeihen Sie, ich möchte jetzt vom eigentlich Konkreten der Sache übergehen nur zu einem Vergleich:

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Ich war noch sehr jung, da kam ich einmal in einen Bauernhof. Das erste, was mir entgegenkam, neben dem, daß ich sonst sehr gut aufgenommen wurde, war ein wildes Schwein. Das wilde Schwein kam auf mich los und - verzeihen Sie, in England sagt man das Wort nicht, aber in Deutschland kann man es aussprechen - meine Hose, zerriß mir auch meine Hosen. Meine sehr verehrten Anwesenden, ich klagte das Schwein nicht an. (Starker Beifall)«

- In der Dreigliederungszeitung vom 29. Juni 1920 (1. Jg. Nr.52) veröffentlichte Ernst Uehli diese Antwort von Rudolf Steiner auf die Angriffe von Rohm in einem mit «Die Handschrift von Lorch» betitelten Artikel. Bereits in der Num­mer vom 18. Mai 1920 (1. Jg. Nr. 46) hatte Uehli in einem gleich betitelten Artikel Rudolf Steiner gegen die Angriffe von Karl Rohm verteidigen müssen.

111 Das Schrtftchen, das ich vor acht Tagen durch Herrn Uehli: Es handelt sich um die Schrift von Elisabeth Mathilde Metzdorff-Teschner «3:5, 5:8 = 21:34. Das Geheimnis, die Schuldenlast in absehbarer Zeit tilgen zu können», die 1920 im Selbstverlag in Sooden an der Werra erschien und angeblich den zweiten Teil eines mit «Von der Revolution zur II. Reformation in ein wirtschaftliches Neu­land« betitelten Vortrags über die Wege zur Schuldentilgung enthalten sollte.

112 Auguste (August) Forel, 1848-1931, schweizerischer Psychiater und Lebens-reformer. Nach dem Medizinstudium wirkte er von 1879 an als Professor für Psychiatrie und Direktor der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich. Als überzeugter Anhänger Darwins erwartete Forel vom Einblick in das Leben des Gehirns eine vertiefte Kenntnis der seelischen Erscheinungen und damit die Möglichkeit, den einzelnen und die Menschheit zum Glück zu führen. Als neue Heilmethode für psychische Erkrankungen führte er die Hypnose ein. Über­zeugt, daß nichts so sehr die Höherentwicklung der Menschheit hemmt wie der Alkohol, wurde er selber Abstinent und führte 1892 den Guttemplerorden in der Schweiz ein. Weil sich Forel verpflichtet fühlte, als «Apostel der Wahrheit« ganz dem Wohl der Menschheit zu dienen, zog er sich 1897 von all seinen öffentlichen Ämtern zurück. Im Ersten Weltkrieg setzte er sich für den Frieden und die Gründung der «Vereinigten Staaten der Erde» ein; in der Zeit der Nach-kriegswirren setzte er seine Hoffnung auf eine internationale sozialistische Revolution, später auf die Bahai-Religion, der er 1920 beitrat.

das ist alles erstunken und erlogen: In seinem Buch «Die christlichen Gegner Rudolf Steiners und der Anthroposophie, durch sie selbst widerlegt» (Stuttgart 1924) klärte Louis Werbeck die Hintergründe dieser Verleumdung auf. Er schrieb im Anhang unter der Überschrift «Ergänzung III«: «Frau Metzdorff­Teschner hatte sich vor Jahren an eine Münchener Philanthropin mit der Bitte um eine Geldhilfe für die Drucklegung einer von ihr verfaßten kleinen Schrift gewandt. Diese in der damaligen Münchner Gesellschaft bekannte Mäzenatin übergab einem bei ihr zu Besuch weilenden Vetter, der ehrenamtlich in der Philanthropischen Gesellschaft in Hamburg tätig war, das Manuskript zur Prü­fung, damit die Unterstützungswürdigkeit der Frau festgestellt werde. Dieser Herr nahm das kleine Manuskript mit nach Hamburg, prüfte es, fand es albern und inhaltlos und gab die Blätter nach wiederholter Abforderung der Eignerin zurück.« Und weiter: «Zu einem Frauenkongreß nach Hamburg gekommen,

>entdeckte> Frau Metzdorff-Teschner, daß sich das kleine Büro des damaligen Bundes für Dreigliederung, Zweigstelle Hamburg, in einem Hause befand, in dem vor Jahren auch die Philanthropische Gesellschaft ein Büro besessen hatte, ja, es wurde ihr gewiß, daß auch der Prüfer ihres Manuskriptes Interesse an der

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Dreigliederungsbewegung nahm. Und so verdichtete sich ihr törichter Wahn zu der Uberzeugung: der Manuskriptprüfer habe ihre Dr. Steiner mitgeteilt, dieser habe dadurch sein Buch schreiben können und später den Bund gegrün­det.»

115 General Lüttwitz: General Walter von Lüttwitz war der militärische Hauptver­antwortliche für die Durchführung des Kapp-Putsches; siehe Hinweis zu S. 37.

116 daß man die Leute, die in der Regierung sitzen, mit den schönen Namen be­zeichnet: Mörder, Gauner, Schieber, Rechtsbrecher: Solche maßlosen Beschimp­fungen gehörten durchaus zum politischen Stil der Weimarer Zeit. So wurde zum Beispiel der ehemalige Reichsfinanzminister und katholische Berufspoliti­ker Matthias Erzberger im rechtsradikalen «Miesbacher Anzeiger» als «feist­gefressener Lump, das Urbild schmutziger Käuflichkeit» gebrandmarkt.

Gustav Noske, Oberpräsident von Hannover: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 166.

wie der Enquete, die in einer Volksschule Berlins angestellt worden ist: Näheres konnte nicht ermittelt werden.

117 äußern sich unter andern auch Roman Boos und Paul Baumann: Über den Inhalt ihrer Voten ist nichts bekannt.

Mission der kleinen Zwischenvölker wie Livlander, Estlän der, Litauer und so weiter: Im Laufe der Freiheitskriege von 1918 bis 1920 gegen bolschewistische Interventionstruppen war es den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gelungen - zum Teil unter Mithilfe von deu utschen Freikorps-Truppen, aber auch im Kampf gegen sie-, sich aus dem Herrschaftsbereich Rußlands zu lösen und die erlangte staatliche Selbständigkeit in den Friedensverträgen von 1920 zu bewahren. Dabei bildete die historische Landschaft Livland keinen eigenen Staat; der nördliche Teil fiel an Estland, der südliche an Lettland.

118 Und wenn ich gesprochen habe von den verschiedenen Differenzierungen der Menschen über die zivilisierte Erde hin: Es gibt zahlreiche Vorträge von Rudolf Steiner, in denen er über die «Differenzierung zwischen der Westmenschheit, der Mittelmenschheit und der Ostmenschheit« sprach und dabei die verschie­densten Gesichtspunkte entwickelte, zum Beispiel in der Ansprache vom S. Juni 1913 in Helsinki (in GA 158) oder in den Mitgliedervorträgen vom 7. und

14. Oktober 1916 (in GA 171) sowie vom 2. und 3. November 1918 (in GA 185) in Dornach, wo er vor allem auf die geistige Gegensätzlichkeit zwischen dem Westen, der Mitte und dem Osten einging. Der von ihm an diesem Studienabend angesprochene Gesichtspunkt findet sich vor allem im Dornacher Mitglieder-vortrag vom 23. Oktober 1920 (in GA 200) noch einmal zusammengefaßt: «Im Westen sehen wir, von der Wirtschaft ganz aufgesogen, das Staatselement, und

das Geistige ist ja nur in der Form der Naturwissenschaft da, wenn man eben absieht von em unwahren Puritanertum. In der Mitte haben wir einen schon alternden Staat ehabt, der Wirtschaft und Geistesleben aufsaugen wollte und deshalb nicht leben konnte. Und im Osten haben wir nichts anderes als den ersterbenden Geist der alten Zeit, der galvanisiert werden soll durch allerlei Maßnahmen des Westens [...].« Nur die Idee der sozialen Dreigliederung helfe, diese Erstarrung zu überwinden: »Dann kann zu dem Wirtschaftsleben des Westens, wozu der Westen besonders durch seine Natureigenschaften organi­siert ist, auch das staatliche und geistige Leben treten. Dann kann die Mitte

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neben dem staatlichen Leben, das, wenn es antliroposophisch orientiert wird, aus ganz anderen Grundsätzen heraus aufgebessert wird, als früher da waren, dann kann die Mitte wirklich ein Wirtschafts- und ein Geistesleben aufnehmen. Und dann kann der Orient wiederum befruchtet werden. Das Geistesleben, das im Abendlande blüht, das wird der Orient verstehen, wenn man es ihm nur in der richtigen Weise bringt.»

120 Sie haben stattdessen vielfach vorgezogen, die äußerste Reaktion bei sich zu kultivieren: Die drei neuen baltischen Republiken gaben sich demokratische Verfassungen, die mit kleineren inhaltlichen Unterschieden ein parlamentari sches Regierungssystem einführten. Gleichzeitig wurde in den drei Ländern eine Agrarreform durchgeführt, um der kommunistischen Agitation den Boden zu entziehen und den politischen Einfluß der konservativen, deutsehbaltischen und polnischen Großgrundbesitzer zu beschneiden. Gerade diese meist adlige Ober­schicht war reaktionären Grundwerten verpflichtet, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das politische Klima in den baltischen Gebieten Rußlands prägten. Die Revolution von 1905 in Rußland griff auch auf den baltischen Landesteil Rußlands über und führte zum Niederbrennen zahlloser Gutshäuser. Die nun folgende gewaltsame und blutige Unterdrückung des sozial und natio­nal bedingten Aufstandes lag durchaus im Sinne der baltischen Oberschicht. Diese reaktionäre Grundhaltung lebte zum Teil nach dem Krieg im Geist der im Baltikum operierenden deutschen Freikorps-Truppen weiter.

in einem baltischen Parlament noch der Antrag gestellt worden ist, die Sklaverei in vollem Umfange wieder einzuführen: Mit der Wiederherstellung der Sklaverei meinte Rudolf Steiner die Wiedereinführung der Leibeigenschaft. Diese war im estnischen und lettischen Teil des Baltikums bereits zwischen 1817 und 1820 abgeschafft worden - im Gegensatz zum übrigen Rußland einschließlich Litau­en, wo dies erst 1861 geschah. Die Bauern waren zwar nun persönlich frei, aber sie blieben ökonomisch weiterhin völlig von den Gutsbesitzern abhängig, weil sie gezwungen waren, als Entgelt für das gepachtete Land Fronarbeit zu leisten. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts - endgültig 1865 - erhielten die Bauern das Recht, den Boden auch käuflich zu erwerben, was nur langsam zu einem Abbau der ungleichen Bodenverteilung führte. In welchem Rahmen und vom wem die­se Forderung nach Wiedereinführung der alten Verhältnisse erhoben wurde, konnte nicht ermittelt werden.

121 es ist von mir öfter seit dem Anfang der Kriegskatastrophe ausgesprochen worden zu den verschiedensten Menschen: Uber die Bedeutung einer führenden Rolle der Schweiz - gerade im Hinblick auf die Schaffung einer neuen tragenden Sozialordnung, zum Beispiel durch Verwirklichung der Dreigliederungsidee -äußerte sich Rudolf Steiner bei verschiedenen Gelegenheiten. So im Mitglieder-Vortrag vom 14. April 1919 in Dornach (in GA 190): «Oh, wenn gerade auf diesem Boden hier, bevor auch hier den Leuten das Wasser in den Mund rinnt, Verständnis entwickelt würde dafür, aus freiem Willen heraus diese Ideen zu entwickeln, dann würde die Schweiz das Blütenland Europas werden können, denn durch ihre geographische Lage ist sie dazu ausgerüstet. Sie ist ausgerüstet mit einer riesigen Mission, trotz ihrer Kleinheit. Aber diese Mission wird sie nur erfüllen können, wenn sie aus freiem Willen das vollbringt, was weder die Ost-und Mittelstaaten heute mehr aus freiem Willen vollbringen können - da hätten sie früher angreifen müssen - und was die Weststaaten nicht tun werden, weil sie dazu nicht die genügende Anlage haben. Hier wären die Anlagen, hier wäre

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die geographische Voraussetzung, hier wäre alles vorhanden. Hier ist nur not­wendig: der gute Wille zum freien menschlichen Entschluß.»

124 Ernst Schaller hält einen Vortrag: Der Wortlaut des Vortrages von Ernst Schal­1er, einem der beiden Prokuristen der Futurum A.G., ist nicht überliefert.

125 Walther Rathenau: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 30.

was Walther Rathenau über Assoziationen spricht: Für Rathenau sollte die Wirt­schaft der Zukunft nicht mehr eine Privatsache sein, sondern ihm schwebte die Verwirklichung einer «Gemeinwirtschaft vor. In seiner Schrift «Die neue Wirt­schaft» (Berlin 1918) stellte er ausführlich dar, mit Hilfe welcher Einrichtungen er sich in der Wirtschaft die «Vereinigung in einem Gedanken» versprach:

«Denken wir uns alle gleichartigen Betriebe der Industrie, des Handwerks und des Handels für sich zusammengefaßt, etwa alle Baumwollspinnereien für sich, alle Eisendrahtwalzwerke für sich, alle Schreinereien für sich, alle Großhandlun­gen für Weißwaren für sich; denken wir uns ferner jede dieser Vereinigungen zusammengefaßt mit ihren vorverarbeitenden und nachverarbeitenden Gewer­ben, also das gesamte Baumwollgewerbe, das Eisengewerbe, das Holagewerbe und das Leinengewerbe zu gesonderten Gruppen verbunden; die ersten dieser Organismen mögen Berufsverbände, die zweiten Gewerbsverbände heißen. [...] Vereinigungen dieser Art gibt es schon jetzt in großer Zahl und auf jedem Gebiet, doch dienen sie nur gemeinsamen Interessen, nicht gemeinsamer Wirt­schaft. Berufsverbände und Gewerbsverbände seien staatlich anerkannte und überwachte, mit weiten Rechten ausgestattete Körperschaften.» Und weiter:

«Die wichtigere der beiden Organsiationsformen ist der Berufsverband; er ist es, durch den die wirtschaftliche Einheitsgruppe geschaffen wird, durch den sie einheitliche Kraft und Leben, Augen, Ohren, Sinn, Willen und Verantwortung erhält. Diese Einheit tritt nicht nur in ein festes Verhältnis zu ihren benachbar­ten Gruppen, sondern auch zur Arbeiterschaft, zur Öffentlichkeit und zum Staat, worunter hier allemal nicht der Einzelstaat, sondern das Reich zu verste­hen ist.«

Wie stellte sich Rathenau das Funktionieren einer solchen Gemeinwirtschaft vor? Rathenau in der gleichen Schrift: «Am einfachsten läßt sich der Berufsver­band seiner Form nach als Aktiengesellschaft, seinem Handeln nach als Syndikat denken. An der Aktiengesellschaft sind die Einzelunternehmungen nach Lei­stungsverhältnis beteiligt; sie erwählen die Verwaltung, und diese ernennt die Leiter. Uber das Grundkapital hinaus kann der Verband sich in jedem erforder­lichen Umfang seine Mittel durch Anleihen verschaffen, die notfalls von den Beteiligten oder vom Staat gewährleistet werden. An das Syndikat liefert jedes Unternehmen seine Waren ab, soweit sie zum Wirtschaftskreise des Verbandes gehören; was zur eigenen Weiterverarbeitung bestimmt ist, wird verrechnet. Die Abrechnung der abgelieferten wie der zurückgehaltenen Waren geschieht zu Selbstkosten zuzüglich eines mäßigen und gleichförmigen Nutzens; den Verkauf besorgt der Verband zu Preisen, die für kleine und große Verbraucher, für Händler und Weiterverarbeiter abgestuft sind; auch der Selbstverbraucher hat den Weiterverarbeitungspreis zu zahlen.» Und zur Rolle des Staates in diesem Syndikatssystem: «Der Staat überträgt dem Berufsverbande bedeutende Rechte, die zum Teil an Hoheitsrechte grenzen: das Recht der Aufnahme oder Ableh­nung Neuhinzutretender, das Recht des Alleinverkaufs inländischer und einge­führter Ware, das Recht der Stillsetzung unwirtschaftlicher Betriebe gegen Ent­schädigung, das Recht des Aufkaufs von Betrieben zur Stillsetzung, Umwandlung

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oder Fortführung. [...) Als Gegenleistung beansprucht der Staat mitwir­kende Aufsicht in der Verwaltung, soziale Leistungen und Gewinnabgaben. Diese Gewinnabgaben bilden die Grundlage eines gewaltigen Staatseinkom­mens, das die Ware bei ihrer Entstehung und in allen ihren Stufen erfaßt, das den gesamten Umsatz des Landes besteuert und dennoch nicht verkümmert, weil er auf jeder Produktionsstufe sich selbsttätig der Tragkraft anpaßt. [...] Hiernach ergibt sich folgendes Verhältnis der Ansprüche: aus dem Gewinn des Verbandes wird zunächst eine angemessene Verzinsung des gesamten arbeitenden Kapitals bestritten; der Überschuß wird in einem festzusetzenden Staffelverhältnis geteilt, so zwar, daß ein Teil dem Staate gehört, ein Teil sozialer Fürsorge oder Lohn­aufbesserung zukommt, ein Teil den Produzenten verbleibt und ein Teil zur Verbilligung der Ware durch Minderung der Verkaufspreise verwendet wird.

125 Rathenau ist ein Abstraktling furchtbarster Art: Die Art, wie Rathenan sich mit den herrschenden sozialen Verhältnissen auseinandersetzte, hatte einen eigen­tümlich pathetischen, von der Wirklichkeit losgelösten Bezug. In seiner Schrift »Die neue Gesellschaft» (Berlin 1919) zum Beispiel, stellte er im S. Kapitel die Situation des deutschen Volkes nach der Niederlage mit den folgenden Worten dar: «Den dürftig gewordenen Völkern des europäischen Mittellandes stieg der rasche Wohlstand zu Kopf, sie erlagen den Giften des Kapitalismus und der Mechanisierung, sie fanden nicht, wie die naiven Amerikaner, die Kraft, den neuen Zustand in Selbstverantwortung umzusetzen; in der Gier, von dem himm­lischen Manna so viel wie möglich in die privateigene Scheuer zu heimsen, über­ließen sie ihr Geschick einem überalteten, angefressenen Feudalstande und einem gierig strebenden Großbürgertum; sie ließen sich durch politische Kata­strophen nicht belehren und verloren in kriegerischer Katastrophe zugleich mit ihren Einbildungen ihre geschichtliche Macht und die wirtschaftliche Grundlage ihres Daseins.»

wenn man ein solcher abstrakter Salon-Sozialist ist wie Rathenau: Was Rathenau mit «Sozialisierung» meinte, erläuterte er zum Beispiel im erstem Kapitel seiner Schrift »Die neue Gesellschaft» (Berlin 1919): »Das politische Ziel, Aufhebung der proletarischen Verhältnisse, läßt sich [...] in großer Annäherung erreichen durch geeignete Vermögens- und Erziehungspolitik, vor allem durch Beschrän­kung der Erblichkeit. Einer Sozialisierung im engeren Sinne bedarf es nicht. Doch wird weitreichende Sozialisierungspolitik - nicht mechanische Verstaatli­chung der Produktionsmittel ist hier gemeint, sondern radikaler Ausgleich der Wirtschaft und Gesellschaft - deshalb nötig und dringlich, weil sie Verantwor­tungen weckt und schult und weil sie die Zeit- und Wegbestimmungen aus den zögernden Händen der herrschenden Klassen in die gerechteren Hände der Gesamtheit legt, die heute vor lauter Demokratie nichts zu sagen hat. Denn Demokratie ist Volksherrschaft nur in den Händen eines politischen Volkes; in den Händen eines unerzogenen und unpolitischen Volkes ist sie Vereinsmeierei und kleinbürgerlicher Stammtischkram. Das Symbol deutscher Bürgerdemokra­tie ist das Wirtshaus - das Wirtshaus als Sitz der Aufklärung und Urteilsbildung, als Heimstätte des Parteivereins, als Rednerforum, als Wahllokal. Merkmal des vollzogenen Zustandes dieser weitreichenden Sozialisierung aber ist das Er­löschen des arbeitslosen Einkommens. Merkmal sage ich, nicht alleinige Voraus­setzung. Denn vorausgesetzt muß werden vollkommene und wahrhafte Demo­kratisierung des Staates und der Wirtschaft und allen gleichmäßig zugängliche Erziehung: erst dann ist das Monopol der Klasse und der Bildung gebrochen.

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Das Aufhören des arbeitslosen Einkommens aber beweist den Sturz des letzten ständischen Monopols, des plutokratischen.»

125 Anton Günther, 1783-1863, katholischer Theologe und Philosoph deutschöster reichischer Herkunft. Sein Streben ging dahin, den katholischen Offenbarungsglauben als Vernunftwissenschaft zu begründen und den Monismus Hegeis zu überwinden. Sein Menschenbild war ein streng dualistisches; er unterschied zwischen dem Menschen als Naturwesen und als Geistwesen. Günther gewann viele Schüler, zu denen auch Universitätslehrer gehörten; sie alle bekannten sich zum «Güntherianismus». Seine Schriften kamen 1857 auf den Index der ver­botenen Bücher der katholischen Kirche. Der Grund dafür war, wie Rudolf Steiner in seinem Berliner Mitgliedervortrag vom 12. Dezember 1922 (in GA 115) ausführte, nicht nur dasjenige, «was wissenschaftliche Bedenken ergeben, sondern bei Günther hat diese Dreigliederung der menschlichen Natur in Leib, Seele und Geist im wesentlichen die Gründe abgegeben, daß seine von diesem Gesichtspunkt aus interessanten Bücher in Rom auf den Index der verbotenen Schriften gesetzt worden sind.» Günther zog sich daraufhin von jeder öffent­lichen Wirksamkeit zurück. In der Schrift «Süd- und Nordlichter am Horizont spekulativer Theologie» (Wien 1832) hatte er sich auch mit staatsphilosophi­sehen Fragen auseinandergesetzt. Vincenz Knauer schrieb in seiner «Geschichte der Philosophie» (Wien 1882, 2. verbesserte Auflage), die auch von Rudolf Stei­ner benutzt wurde, zur Anschauung Günthers in dieser Frage: »Zwei Faktoren ringen im Menschen nach Geltung, Natur und Geist. Auf dem ersten beruht das Erbrecht, die Familie, die Nation und das Nationalgefühl, der Adel und das erbliche Königtum. Durch seine freie, geistige Wesenheit aber ist derselbe Mensch angewiesen, sich innerhalb seiner naturnotwendigen Grenzen frei zu betätigen und zu veredeln in Kunst, Wissenschaft, Industrie, in Staat und Kir­che. Das Vehikel hierzu ist die Assoziation mit ihrer hierarchischen Gliederung in Genossenschaften, Akademien, Universitäten, dem Beamtenstand, der Volks­vertretung durch frei gewählte Repräsentanten und dergleichen, während dem Naturleben die organische Gliederung entspricht, in der oft gerade die schwä­cheren Teile (wie im Leib das Auge) den vornehmsten Platz einnehmen. [...] Dem Menschen als Synthese von Geist und Natur aber entspricht, als die seinen beiden Faktoren Rechnung tragende Regierungsform diejenige, die man als den modernen Staat zu bezeichnen liebt, die gemäßigte Monarchie mit erblichem Thron und Adel und mit gewissenhafter Vertretung aller im Staat vorhandenen geistigen Potenzen.»

126 man kann die Sache in einer gewissen Weise schon so darstellen: Es handelt sich um eine heute noch gängige Erklärung der Konjunkturschwankungen, die die Ursachen auf ökonomische Gesamtgrößen zurückführt und für die das Wollen des Einzelnen im Grunde bedeutungslos ist. Als Beispiel für eine solche Kon­junkturerklärung mag die Theorie des damals wirkenden Nationalökonomen Werner Sombart (1863-1941) gelten, der die Ursache von Wirtschaftskrisen entweder - auf der Nachfrageseite - in der Abnahme der kauffähigen Nachfrage (einfache Absatzkrise) oder - auf der Angebotsseite - im Mangel oder Überfluß an Kapital (Kapitalkrise) sah.

127 die Krise von 1907: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 270.

finanzielle Vorgänge dieser Art: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 272.

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127 Privatdiskont: Durch Kapitalmangel bedingt, stieg der offizielle Diskontsatz der Deutschen Reichsbank in den Jahren 1906 und 1907 - der Zinssatz für die vor­zeitige Einlösung von Wechseln der Geschäftsbanken durch die Notenbank - zeitweise auf 7 %, ja sogar auf 7 1/2 % was einer bis dahin nie erreichten Höhe entsprach. Damit schnellte auch der Privatdiskontsatz - der Zinssatz für die vorzeitige Einlösung von privaten Wechseln durch die Geschäftsbanken - in die Höhe.

von emem amerikanischen Geldmagnaten-Konsortium: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 272.

129 zu meinem Aufsatz über das Kreditwesen im vierten Heft der «Sozialen Zu­kunft»: Im vierten Heft der Zeitschrift «Soziale Zukunft» - herausgegeben vom Schweizer Bund für Dreigliederung und erschienen ungefähr Mitte Februar 1920

- veröffentlichte Rudolf Steiner den Aufsatz: «Dreigliederung und soziales Ver­trauen (Kapital und Kredit)« (in GA 24).

131 in einem öifentlichen Blatt die blödsinnige Behauptung von der «gestohlenen Dreigliederung»: Mit dem öffentlichen Blatt ist das Monatsblatt «Der Leucht­turm« gemeint; siehe Hinweis zu S. 110.

die Schmutzartikel des Herrn Pfarrer Kully: Der katholische Pfarrer in Arles-heim, Max(imilian) Kully (1878-1936), war ein scharfer Gegner der Anthropo-sophie und von Rudolf Steiner. Unter anderem schrieb er Unter dem Pseudonym «Spektator» eine polemische und haßerfüllte Artikelserie gegen das Goetheanum und die von ihm ausgehenden Bestrebungen - «Theosophie. Historisches Drama in vier Akten« - , die er im Mai / Juni1920 im «Katholischen Sonntagsblatt des Kantons Baselland und seiner Umgebung» (9. Jg. Nr.20 bis 24) abdrucken ließ. Kurze Zeit danach erschienen diese Hetzartikel in Basel als erweiterter Sonder­druck unter dem Titel: «Das Geheimnis des Tempels von Dornach. Geschicht­liche Aufklärung über alte und moderne Theosophie oder und ihre Ableger». Zur Absicht dieser Schrift erklärte er im Vorwort: «Was wir bieten, soll ein gründlicher Beitrag sein zur Aufklärung der Bevölkerung von Dornach-Arlesheim, der engeren Umgebung weitester Kreise im Schweizerland über die theosophische Bewegung, speziell die Steinersche . Sie soll und wird den Schleier über dem >Geheimnis des Tempels in Dornach> lüften.« Und: «Die bescheidene Broschüre will keine Streitschrift sein. Sie soll in erster Linie zur Aufklärung dienen, ein Versuch sein, der Wahrheit zu ihrem Rechte zu verhelfen, andern zur Warnung und vielleicht auch zur Rettung.»

ich meine das «Katholische Volksblatt»: Es handelt sich um die Wochenzeitung «Katholisches Sonntagsblatt des Kantons Baselland und seiner Umgebung», in der Max Kully schon verschiedentlich gegnerische Artikel veröffentlicht hatte. In der Nummer vom 12. September 1920 (9. Jg. Nr.37) erschien erneut ein Artikel von Pfarrer Kully unter dem Titel «Die gestohlene Dreigliederung. Eine sensationelle Enthüllung«. In diesem Artikel war zu lesen: «Steiner wird von seinen Anhängern himmelhoch erhoben, als ob er mit der >Dreigliederung> den

>Stein der Weisen> gefunden hätte. Die Sache wurde so dargestellt, als ob es sich um eine >Originalerfindungeinsame Denker von Dornach> eine selbständige, große Idee >ausgeklügelt> habe. Mitten in diesen Enthusiasmus kommt eine überraschende Nachricht. Die Schleier über das Steinersche Wun­derrezept lüften sich. Der >Leuchtturm>, ein in Lorch (Württemberg) monatlich

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erscheinendes Blatt, das neben anderm den Kampf gegen Steiner und die Theo­sophie führt, deckt das Geheimnis auf. Wir bringen den Anklageartikel ohne weiteren Kommentar, die Verantwortung überlassen wir dem Redaktor Rohm.»

131 die im Jahre 1920 erschienene Broschüre der Frau Elisabeth Mathilde Metzdorff­

Teschner: Siehe Hinweis zu S. 111.

die Schmutzereien des Herrn Robm in Lorch: Siehe Hinweis zu S. 110.

132 »Haeckel schließt das V. Kapitel>: Zitat aus der Broschüre von Elisabeth Mathilde Metzdorff-Teschner «3:5, 5:8 = 21:34. Das Geheimnis, die Schuldenlast in abseh­barer Zeit tilgen zu können» (Sooden 1920), erster Zusatz zum Hauptkapitel «Von der Revolution zur II. Reformation in ein wirtschaftliches Neuland II. Auszug». Im gleichen Kapitel sind auch die beiden folgenden Zitate zu finden.

133 ich habe ihn in einem öifentlichen Vortrag ein «Schwein> genannt: Siehe Hin­weis zu S. 110.

139 im Rahmen des Kurses «Anthroposophie und Fachwissenschaften»: In der Zeit vom 24. März bis 7. April 1920 wurde am Goetheanum in Dornach ein öffent­licher Kursus über «Anthroposophie und Fachwissenschaften» veranstaltet. Rudolf Steiner hielt selber drei Vorträge und sprach auch verschiedene Schluß-worte zu den Ausführungen der anderen Vortragsredner (vorgesehen für GA 73a). Eugen Kolisko berichtete in der Zeitschrift »Dreigliederung des sözialen Organismus» vom 11. Mai 1920 (1. Jg. Nr.45) über diese Veranstaltung: «Mit diesen Vorträgen wurde zum ersten Mal in umfassenderer Weise versucht, der Öffentlichkeit zu zeigen, daß vom Standpunkte der anthroposophisch orientier­ten Geisteswissenschaft ganz neue und bedeutende Gesichtspunkte für alle Fachwissenschaften vorgebracht werden können. Es wird bald den Vertretern der gegenwärtigen Wissenschaft nicht mehr möglich sein, diese Gesichtspunkte einfach nicht zu beachten.»

Roman Boos hält im Rahmen: Der Wortlaut des Vortrages von Roman Boos ist nicht bekannt. Es gibt einzig nur ganz wenige bruchstückhafte Notizen von Rudolf Steiner, aus denen sich der Inhalt des Vortrages nicht rekonstruieren läßt.

diese Anschauung, die muß für die Physiologie überwunden werden: Zwischen dem 21. März und dem 9. April 1920 fand ein Kurs für Ärzte und Medizinstu­dierende, der sogenannte erste Medizinische Kurs, statt. Im zweiten Vortrag dieses Kurses, im Vortrag vom 22. März 1920 (in GA 312), äußerte sich Rudolf Steiner eingehend zur herrschenden medizinischen Lehre. die das Herz als Pum­pe auffaßt.

140 Alt ich einiges veröifentlicht und in der verschiedenen Weise über Dreigliederung gesprochen hatte: Seit Februar 1919 trat Rudolf Steiner in Wort und Schrift vor allem in der schweizerischen und deutschen Öffentlichkeit für die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus ein. Siehe Hinweise zu S. 202.

da kam unter anderen auch der Einwand: Im öffentlichen Vortrag vom 7. Januar 1921 in Stuttgart (vorgesehen für GA 335) kam Rudolf Steiner auch auf diesen Einwand zu sprechen: «Man hört heute manchmal das Urteil - ich habe es wenigstens zehnmal gehört, und das weist mich immer nur darauf hin, wie sehr es verbreitet ist -: Was soll aus dem Staat, aus dem Rechtsleben in der Mitte werden, wenn das Geistesleben und das Wirtschaftsleben abgegliedert werden?

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Ein berühmter Rechtsanwalt der Schweiz, der bedeutendste Rechtslehrer der Schweiz und der Gegenwart, hat selbst dieses gesagt, als er die Dreigliederung kennenlernte. Er sagte, die Dreigliederung wäre ihm sympathisch, aber er könne nicht verstehen, was dann noch zwischen Wirtschafts- und Geistesleben für den Staat übrigbleiben solle.« Es handelt sich um den schweizerischen Rechtsprofes­sor Eugen Huber (1849-1923), der maßgeblich an der Ausarbeitung des Schwei­zerischen Zivilgesetzbuches beteiligt war. Ihn hatte Roman Boos aufgesucht, um seine Unterschrift für den «Aufruf» zu gewinnen, aber Huber konnte sich nicht zu einer Unterschrift entschließen.

140 Rudolf Stammler, 1856-1938, deutscher Rechtsprofessor. Von 1885 an wirkte er in Halle und ab 1916 - bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1921 - in Berlin. Sein bekanntestes Werk war »Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Auf­fassung» (Leipzig 1896), das in mehreren Auflagen erschien.

144 eine jetzt allerdings schon ältere Schrift, »Das Recht in der Strafe», von Ludwig

Laistner: Ludwig Laistner (1845-1896), deutscher Schriftsteller, hatte Theologie studiert und im Fach Philosophie doktoriert. Seine Dissertation erschien 1872 in München unter dem Titel »Das Recht in der Strafe. Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Versuch einer Dialektik des Strafrechtsproblems». Seit 1880 war Laistner als freier Schriftsteller tätig. Bekannt wurde Laistner durch seine Veröffentlichung »Das Rätsel der Sphinx. Grundzüge einer Mysteriengeschich­te« (Berlin 1889). Rudolf Steiner war mit Laistner befreundet; im XV. Kapitel von «Mein Lebensgang« (GA 28) schildert er seine Begegnung mit ihm: »Eine feine, auf die schönste Art im Geistigen lebende, in sich harmonische Persön­lichkeit.» Durch die Vermittlung von Laistner - er war literarischer Beirat der Cotta'schen Verlagsbuchhandlung - wurde Rudolf Steiner die Herausgabe der Werke Arthur Schopenhauers und Jean Pauls anvertraut.

und er kommt dann zu seiner eigenen Theorie: In seinem Buch, im zweiten Teil über die «Dialektik des Strafrechtsproblems«, schreibt Laistner über das von ihm vertretene Strafrechtsprinzip: »Das Verbrechen wird nämlich nun, ohne Rücksicht auf seine praktische oder logische oder ästhetische Bedeutung, unmit­telbar durch seine Verübung als eine Verflechtung des Verbrechers mit dem Verletzten betrachtet, als Eingehung eines Verhältnisses, dessen von jeder Will­kür unabhängiger Kehrseite die Straffälligkeit ist, als eine Art Verpfändung, Verhaftung, welche durch die Strafe gelöst werden kann, aber nicht muß.» Und etwas weiter: »Gerade umgekehrt, nicht als Ausstoßung und Lossagung von dem allgemeinen Willen, sondern als Unterwerfung unter den Willen des Ver­letzten, der zunächst der betroffene Einzelne, dann auch der Staat ist, muß die Konsequenz des Verbrechens gedacht werden. Indem der Verbrecher in eine fremde Willenssphäre eindringt, ist er, seiner Absicht nach als Herr, darin; der Verletzte aber akzeptiert hievon nur das eine, daß jener in den Bereich seines eigenen Willens hereingehöre, und betrachtet ihn als einen seiner Verfügung Unterworfenen. Diese Verfügung oder, von der andern Seite gesprochen, die Unterwerfung ist etwas objektiv in der Tat, wenn auch nicht subjektiv im Willen des Täters Liegendes, das Gefangensein in der fremden Sphäre ist nur die Kehr-seite und notwendige Folge des Eindringens; und weil es ein lediglich objektiver Vorgang ist, so kommt erst als ein zweites hinzu, ob der Verletzte von dem ihm zugewachsenen Verfügungsrechte Gebrauch machen wolle oder nicht - jenes das Strafen, dieses das Verzeihen.«

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147 anläßlich des ersten anthroposophisehen Hochsehulkurses: Der erste anthroposo­phische Hochschulkurs in Dornach fand vom 27. September bis 16. Oktober 1920 statt. Während dieser drei Wochen dauernden Veranstaltung legten Persön­lichkeiten aus den verschiedensten Lebensgebieten die Ergebnisse ihrer von der Anthroposophie befruchteten Erkenntnisbemühungen der Zuhörerschaft dar. Rudolf Steiner hielt eine Vortragsreihe unter dem Titel «Die Grenzen der Naturerkenntnis« (GA 322).

die beiden Vorträge von Arnold Ith: Unter dem Titel «Bankwesen und Preis­gestaltung in ihrer heutigen und zukünftigen Bedeutung für das Wirtschafts­leben» hielt Arnold Ith, Direktor der Futurum A.G., im Rahmen des ersten Hochsehulkurses in Dornach am 4. und S. Oktober zwei Vorträge. Der Wort­laut dieser beiden Vorträge ist nicht erhalten. Wie die Diskussion zeigt, war der Inhalt der Vorträge umstritten - Ith hatte die Löhne als Unkostenfaktor auf­geführt -, was ein Grund dafür gewesen sein mag, daß sie später - im Gegensatz zu anderen Beiträgen - nicht veröffentlicht wurden.

Rudolf Toepel geht von zwei Stellen: Die Ausführungen von Rudolf Toepel wurden von der Stenografin Helene Finckh nicht mitgeschrieben, sondern pau­schal einfach als «Redneritis« bezeichnet. Den gleichen Ausdruck vermerkte sie auch in bezug auf die Ausführungen von Werner Zimmermann.

148 Werner Zimmermann, 1893-1982, Schriftsteller und Lebensreformer aus der Schweiz. Ursprünglich Primarlehrer, arbeitete er seit 1920 für eine umfassende Lebens- und Gesellschaftserneuerung. Er war Anhänger der Freigeld- und Frei­landtheorie von Silvio Gesell, Befürworter des Vegetarismus, der Abstinenz und des Naturismus sowie des biologischen Landbaus, Befürworter der Fraueneman­zipation durch eine befreite Sexualität, Gegner der Nutzung der Kernenergie. Zimmermann interessierte sich auch für östliche Spiritualität. Er gehörte zu den Mitbegründern der schweizerischen FKK-Bewegung (1927) und des Wirtschafts­ringes «WIR« (1934), einer heute noch bestehenden Selbsthilfeorganisation, die durch Herausgabe eigenen Geldes, des «WIR-Geldes«, der staatlichen Defla­tionspolitik und damit der Wirtschaftskrise entgegenzuwirken versuchte.

Freigeld- und Freilandtheorie von Silvio Gesell: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 190.

Auch unter den Anthroposophen fanden die Ideen Gesells Eingang, meist in Form einer Synthese mit der Dreigliederungsidee. So schrieb zum Beispiel Hein­rich Nidecker in der Einleitung zu seiner noch zu Lebzeiten Steiners verfaßten Schrift «Gesundung des sozialen Organismus nach den Vorschlägen von Rudolf Steiner und Silvio Gesell oder Dreigliederung und Freiwirtschaft« (Bern 1926):

»Im folgenden wird die Rede sein von Rudolf Steiners System der Dreigliede­rung. Es soll versucht werden, diejenigen Gedanken daraus hervorzuheben, die sich mit solchen von Silvio Gesell als dem Vertreter der freiwirtschaftlichen Bewegung nahe berühren oder geradezu decken.» Und er kam zum Schluß: »Die Forderungen Freiland, Freigeld und feste Währung stehen zwar nicht im Mittel­punkte der Steinerschen Betrachtungen, aber sie sind entweder darin enthalten oder ergeben sich daraus als Konsequenz.«

Aber längst nicht alle Anthroposophen teilten diese Sympathie; zum Beispiel der Sozialwissenschaftler und enge Mitarbeiter von Rudolf Steiner, Roman Boos, lehnte die Ideen von Silvio Gesell mit aller Entschiedenheit ab. Skeptisch, wenn nicht ablehnend standen zunächst die Freiwirtschafter den sozialen Ideen

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Rudolf Steiners gegenüber. So hieß es im Organ des Schweizer Freiland-Frei­geld-Bundes, in der »Freistatt» am 15. Januar 1921(5. Jg. Nr. 1) zum Thema , wurde im Zusammenhang mit den Anthroposophen von Dornach auch Silvio Gesell genannt und gesagt, daß [das], was Dr. Steiner Gutes und Richtiges über volkswirtschaftliche Fragen sage, er von Gesell und andern angenommen habe. Es wird uns immer aufrichtig freuen, wenn jemand bei Gesell lernt, denn das Freigeld halten wir für ein modernes, außerordentlich leistungsfähiges Tauschmittel, das nie streikt und allen Arbeitenden Vorteile bringt. Es ist ein Werkzeug, das wir der vom heuti­gen Geld verpfuschten Volkswirtschaft je eher je lieber zur Verfügung stellen möchten, und es ist uns dabei vollständig gleichgültig, wer für die Einführung eintritt, da seine Wirkung in den Händen von Schweizern oder Schwaben, Theo­sophen oder Christen die gleiche bleibt, wie ja auch das heutige Geld die Un­terschiede zwischen Christen, Türken, Juden oder Heiden in der Volkswirt­schaft verschwinden ließ. Immerhin befürchten wir, daß es den Dornacher Anthroposophen durch ihre Gönner, hauptsächlich durch Herrn Hirter, den Präsidenten des Bankrates der Schweizerischen Nationalbank, unmöglich ge­macht werden könnte, für das Freigeld einzutreten. Das Buch von Dr. Steiner

>Die Kernpunkte der sozialen Frage> ist denn auch so verworren, widerspruchs­voll und unklar, daß es vollkommen unverständlich bleibt. Noch nachdenklicher muß es stimmen, als unserm Bundesgenossen Werner Zimmermann nach einem Vortrag in Dornach über Preisgestaltung das Wort in der Diskussion einfach entzogen wurde, als er sich als Freigeldler entpuppte. Daß wir einzig die Stel­lung der Anthroposophen zu Arbeitseinkommen und arbeitslosem Einkommen tadeln und damit kein Werturteil über ihre übrigen Lehren abgeben wollen, ist selbstverständlich.'<

149 daß man einfach durch eine Reduktion oder Expansion der Geldmenge: Diese Vorstellung beruht auf der Quantitätstheorie des Geldes, die davon ausgeht, daß bei gleichbleibender Gütermenge und gleichbleibender Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes das durchschnittliche Preisniveau steigt, wenn die Geldmenge ver­mehrt wird und umgekehrt. Die Quantitätstheorie ist eine alte Theorie, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Ein bekannter Vertreter der Quantitätstheorie des Geldes war der zur klassischen Schule gehörende englische Nationalökonom John Stuart Mill (1806-1873). Eine wichtige Rolle spielt die Quantitätstheorie auch in den freiwirtschaftlichen Anschauungen. Die hauptsächliche Schwäche dieser Theorie besteht darin, daß realwirtschaftliche Vorgänge ausgeklammert bleiben.

150 der ganze Gedanke von der Indexierung des Geldes: Wichtiger Grundgedanke der Gesellschen Freiwirtschaftstheorie: Sicherung der Kaufkraft des Geldes ge­gen Deflation und Inflation durch Reduktion und Expansion der Geldmenge als Aufgabe eines unabhängigen Währungsamtes. Von einer Indexierung des Geldes wird deshalb gesprochen. weil der Preisindex maßgebend für die Größe der Geldmenge ist.

151 Einige Zeit vor dem Kriege, da war ein Mitglied von uns: Julius Ritter von Rainer war ein altes Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und Besitzer des Schloßes Mageregg bei Klagenfurt. Zu seinem Gutsbesitz gehörte auch eine Mühle mit Bäckerei, wo ein Qualitätsbrot hergestellt wurde, das Rainer-Brot. In der Zeitschrift »Ceres» vom 7. Mai 1913 (1. Jg. Nr.2) wurde unter dem Titel »Theosophische Produktion'> über die Eindrücke beim Besuch des Betriebes auf

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Schloß Mageregg berichtet: «Und eigentümlich kann es einen berühren, wenn man den ausgezeichneten, ebenfalls theosophischen Müller ganz ernsthaft erzäh­len hört, wie er dem Mahlstein gut zureden muß, wenn er sich nicht in der rechten Weise in die Rhythmen des Ganzen schicken will. Statt recht herzhaft zu fluchen, wenn die Geschichte nicht funktioniert, wie es der mit gutmütigem Gebrumm wieder schicken. Das hat noch den weiteren Vorzug, daß man, statt vor Ärger blind zu werden, sich selber offen hält und Fehler daher leichter findet. Ähnlich ist es in der Backstube mit dem Feuer, kurz im ganzen Betriebe. Man hat das Gefühl, die guten Hein­zelmännchen sind wieder da und helfen dem Menschen, der sie schonend und liebevoll versteht und nicht täppisch und zudringlich sie stört.«

151 da irgend etwas zu machen, was zunächst einmal eine Art Musterbeispiel sein könnte: Am 6. Februar 1913 fand in Berlin eine Versammlung statt, wo die Möglichkeit praktischen Wirtschaftens aus anthroposophischen Gesichtspunk­ten - im Sinne von Rudolf Steiners Aufsatzreihe «Theosophie und Soziale Fra­ge« (in GA 34) - besprochen wurde. Es gab bereits verschiedene Projekte; von Bremen aus wollte man einen Handelsverein begründen (die spätere Handels-Vereinigung Ceres G.m.b.H.), auf der andern Seite suchte man zum Beispiel für das Rainer-Brot einen größeren Absatzmarkt. Dazu meinte Rudolf Steiner grundsätzlich (vorgesehen für GA 332): «Nicht eine Gesellschaft zur Unter­bringung des Rainer-Brotes sollen wir gründen, das wäre nicht praktisch; prak­tisch wäre es, wenn wir es vor allem essen würden, so daß wir auch bald Semmeln bekommen! Nur Systematisierung von dem, was schon immer im kleinen Kreise gemacht worden ist, ist wirkliche Organisation.« Und weiter:

«Das Einzige, worum es sich handelt, ist, daß sich die Sache rentiert. Ande­rerseits soll der Produzent sich nicht an anthroposophische Kundschaft aus­schließlich wenden. Wir sollen uns nicht kommerziell abschließen wollen, sondern unsere eigene Produktion unterstützen.» Schließlich: «Ein ganzer Sack von Rainer-Brot könnte in die Berliner Loge allein kommen. Aber man soll sich nicht bloß für eine Sache begeistern, sondern auch ausdauern, bei der Sache bleiben. Man soll auch bedenken das Neue an der Sache und daß die Dinge, die gut enden, oft zuerst mit einer Schattenseite auftreten. Man hat gesagt, das Rainer-Brot war zuerst verschimmelt; nun, das beweist nur, daß es ein guter Grund ist, auf dem Bazillen wachsen!« Die von Rudolf Steiner an­geregte konkrete Assoziationsbildung zwischen den Mitgliedern der Anthro­posphischen Gesellschaft - den Konsumenten - und Herrn von Rainer - dem Produzenten - kam allerdings nicht zustande. Nicht einmal durch die schließ­lich begründete Ceres G.m.b.H. wurde das Brot vertrieben. Das hing nicht nur mit dem verhältnismäßig hohen Preis des Brotes und dem geringen Interesse der Anthroposophen zusammen, sondern auch mit der schwierigen Persönlich­keit des Herstellers, die eine fruchtbare Zusammenarbeit ausschloß. In der Februar-Versammlung zum Beispiel führte er als Begründung für den hohen Verkaufspreis seines Brotes, der von einigen der Anwesenden in Frage gestellt wurde, an: «Ich mußte das Brot fragen, ob es sich so verkaufen lassen will. Es hat mir gesagt, das ist ein wunder Punkt, das paßt dem Brot nicht, davon will das Brot auch nichts wissen; möglichst niedrige Preise passen dem Brot auch nicht. Das Brot ist ein Gegner gegen alle diese Vergünstigungen, weil sie in einem gewissen Sinne gegen das okkulte Gesetz verstoßen, unter dem es steht.»

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Kurz, in der eigenen schriftlichen Zusammenfassung von Ritter von Rainer:

Das Brot fühlte sich einfach beleidigt.

151 Philosophisch-Anthroposophischen Verlag in Berlin: Siehe GA 337a, Hinweis zu

S. 287.

155 wenn auch Herr Ith die Dinge zweifellos: Siehe Hinweis zu S. 147.

Lohn gibt es ja natürlich nicht: Zur Frage des Lohnes aus der Sicht der Dreiglie­derungsidee hat sich Rudolf Steiner viele Male geäußert, so zum Beispiel auch im öffentlichen Vortrag in Zürich vom 25. Oktober 1919 (in GA 332a): Man denkt so stark im Sinne der heutigen Gesellschaftsordnung, der heutigen sozialen Ordnung, daß man in weitesten Kreisen überhaupt nicht gewahr wird, wie der Lohn als solcher ja in Wirklichkeit eine soziale Unwahrheit ist. In Wirklichkeit besteht das Verhältnis so, daß der sogenannte Lohnarbeiter zusammenarbeitet mit dem Leiter der Unternehmung, und was stattfindet, ist in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung - die nur kaschiert wird durch allerlei täuschende Verhält­nisse, durch Machtverhältnisse meistens und so weiter - über die Verteilung des Erlöses. Wenn man paradox sprechen wollte, so könnte man sagen: Lohn gibt es ja gar nicht, sondern Verteilung des Erlöses giht es, nur daß in der Regel derjenige heute, der der wirtschaftlich Schwache ist, sich bei der Teilung übers Ohr gehauen findet. Das ist das Ganze. Es handelt sich darum, hier nicht etwas, was nur auf einem sozialen Irrtum beruht, auf die Wirklichkeit zu übertragen.» Sowohl in der Futurum - Arnold Ith war ja Direktor der Futurum - wse auch im Kommenden Tag hatten sich diese Vorstellungen nicht verwirklichen kön­nen; in beiden Unternehmungen wurden die Entschädigungen für die Mitarbei­ter in der Bilanz als Unkostenfaktoren geführt.

in denen überwunden wird auf der einen Seite das einseitige Bankprinzip: Im Oktober 1919 war eine Reihe von Anthroposophen in Dornach zusammenge­kommen und hatte den Plan gefaßt, zur Finanzierung des Goetheanum-Baues eine internationale Finanzgesellschaft zu gründen. In der Versammlung vom 15. Oktober 1919 hatte es Rudolf Steiner übernommen, eine Denkschrift über die Gestaltung einer solchen Finanzgesellschaft zu verfassen. Im Laufe des Novem­bers 1919 verfaßte er die Denkschrift «Eine zu gründende Unternehmung» (in GA 24). Gleich zu Anfang machte er in bezug auf die notwendige Zielsetzung dieses Unternehmens klar: «Unterschieden von den gewöhnlichen Bankunter­nehmungen soll dieses dadurch sein, daß es nicht nur den finanziellen Gesichts­punkten dient, sondern den realen Operationen, die durch das Finanzielle getra-gen werden. Es wird daher vor allem darauf ankommen, daß die Kredite etc. nicht auf dem Wege zustandekommen, wie dies im gewöhnlichen Bankwesen geschieht, sondern aus den sachlichen Gesichtspunkten, die für eine Operation in Betracht kommen, die unternommen werden soll. Der Bankier soll also weniger den Charakter des Leihers als vielmehr den des in der Sache drinnen-stehenden Kaufmanns haben, der mit gesundem Sinne die Tragweite einer zu finanzierenden Operation ermessen und mit Wirklichkeitssinn die Einrichtun­gen zu ihrer Ausführung treffen kann.«

159 Vorträge von Roman Boos: Die drei Vorträge von Roman Boos über «Phänome­nologische Sozialwissenschaft« sind nicht vollständig, sondern nur bruchstück­haft mitgeschrieben. Am Anfang seines dritten Vortrages vom 6. Oktober 1920 sagte Roman Bons: «Heute möchte ich in einer gewissen Weise die Gruppe der

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drei Vorträge zu einen Abschluß bringen. Beim ersten der Vorträge haben wir uns beschäftigt mit der Rechtsphilosophle des Adolf Reinach, der diese Rechts-philosophie als eine phänomenologische bezeichnet. In dem zweiten Vortrag wurde versucht, den historischen Faden oder das historische Fadengewebe auf­zuzeigen, das hinführt bis zu jenen Phänomenen, die darin bestehen, daß eine Rechtsphilosophie von Reinach heute in einer solchen Weise abstrakt entwickelt werden kann, die für das soziale Leben unbrauchbar ist und daß zweitens im äußeren sozialen Leben in denjenigen Kreisen, die die Führerschaft bilden der sozialen Bewegung ein solches Denken Anklang findet.« Und abschließend:

«Heute hat ein Mensch mit juristischem Temperament keine andere Möglichkeit als das ganze juristische Wesen auf die Seite zu schieben. Man kann mit gutem Gewissen nicht Jurist sein. Das juristische Temperament schleudert den Men­schen aus dem reinen Rechtsleben heraus. Bei Reinach spürt man das. Aber er sollte sich nicht heraussehleudern lassen in eine abstrakte Sphäre, sondern er sollte sich in eine Selbstbesinnung hineinschleudern lassen, in die Aufgaben, die gestellt werden.»

159 von Dr. Thomastik zum Beispiel sei ein Aufruf verbreitet worden: Als «Wort­führer der neuen Wahlgesetzbewegung» verbreitete Franz Thomastik, Mitglied der Führungsgruppe des österreichischen Dreigliederungsbundes, im September 1920 einen Aufruf an die «Deutschösterreicher», und zwar im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen in den österreichischen Nationalrat. Er schrieb: »Wenn Neuwahlen unter den jetzigen Umständen einen Sinn haben sollen, so müssen sie neue Menschen mit neuen Ideen ins Parlament bringen. Das ist aber unmög­lich, solange das jetzige Wahlgesetz bestehen bleibt. Daher muß es verschwin­den.» Und weiter die Forderung nach Einführung eines reinen Proporzsystems:

«Fort mit dem Zwang der Wahlkreiseinteilung! Wir wollen keine offizielle Fäl­schung des Wahlergebnisses durch ! In die Reichsvertretung muß ganz Deutschösterreich als einziger Wahlkreis wählen, sonst werden wir den Egoismus der Länder, Bezirke und Städte nie überwinden.» Im ganzen Aufruf fand der Name Rudolf Steiners und seine Idee der sozialen Dreigliede­rung keine Erwähnung, obwohl Thomastik auch ein Anhänger der Dreigliede­rungsidee war. Mit dem Flugblatt wurden auch Stimmzettel für den Wahltag abgegeben, mit denen gegen das bestehende Wahlsystem protestiert und die gesonderte Zählung dieser Protestatimmen verlangt wurde. Wie vorauszusehen war, fand der Aufruf von Thomastik keinen großen Widerhall. Die Wahlen in den Nationalrat vollzogen sich am 17. Oktober nach dem geltenden Wahlgesetz.

160 in meinen gesammelten Aufsätzen über die Dreigliederung: Rudolf Steiner be­zieht sich auf seinen Ende September 1920 unter dem Titel »In Ausführung der Dreigliederung« erschienenen Sammelband (Teil von GA 24). Siehe auch GA 337a, Hinweis auf S.311.

dann rede ich ganz gern überall da, wo man mich ruft: Dadurch, daß Rudolf Steiner seit Februar 1919 in Deutschland und in der Schweiz zahlreiche öffent­liche Vorträge über die Dreigliederung gehalten hatte, nahm die Dreigliede­rungsbewegung erst richtig ihren Aufschwung.

161 zum Beispiel mit Vorschlägen über Modifikationen dieses oder jenes Wahlgeset­zes: Steiner bezieht sich auf den Aufruf von Franz Thomastik; siehe Hinweis zu

S. 159.

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163 ich habe höchstens einen Vortragskursus gehalten, Seminarien abgehalten: Vor der Eröffnung der Freien Waldorfschule am 7. September 1919 hielt Rudolf Steiner für die Lehrerschaft vom 21. August bis 6. September 1919 einen vor­bereitenden pädagogischen Kurs, der drei Teile enthielt:

erstens eine fortlaufende Auseinandersetzung über allgemein-pädagogisclie Fragen (GA 293, «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik»); «zweitens eine Auseinandersetzung über speziell-methodische Fragen der wichtigsten Unterrichtsgegenstände» (GA 294, «drittens eine Art seminaristisches Arbeiten innerhalb dessen, was unsere Lehr-aufgaben sein werden. Solche Lehraufgaben werden wir ausarbeiten und in Disputationsübungen zur Geltung bringen.» (GA 295, «Erziehungskunst. Semi­narbesprechungen und Lehrplanvorträge»).

Hier im Kanton Solothurn könnte man es ja bekanntlich nicht: Im Kanton Solothurn war die Gründung und Führung von freien Volksschulen aufgrund des Artikels 12 der Kantonsverfassung von 1887 verboten: «Der gesamte im Kanton erteilte Unterricht steht unter der Aufsicht des Staates.» So anerkannte das solothurnische Schulgesetz vom 3. Mai 1873 nur die öffentlich-staatliche, nicht aber die öffentlich-private Volksschule. Diese gesetzlichen Bestimmungen trugen den Stempel des «Kulturkampfes»; mit ihrer Hilfe sollte die Bildung von konfessionellen Schulen verhindert und der Einfluß der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche, zurückgedrängt werden. Obwohl diese gesetzlichen Bestimmungen bekannt waren, wurde am 1. Februar 1921 auf Initiative von einigen Dornacher Eltern die erste Waldorfschule in der Schweiz begründet, die sogenannten «Fortbildungskurse am Goetheanum». Sie bildeten eine der wirt­schaftlich-geistigen Abteilungen der Futurum A.G. Der sonderbare Name dieset Schule rührt daher, daß im Kanton Solothurn einzig die Führung von privaten Fortbildungsschulen für nicht mehr schulpflichtige Jugendliche erlaubt war. Offensichtlich wollte man mit dieser Namengebung die staatlichen Bestimmun­gen umgehen, und in der Tat gehörten zu den Schülern auch Jugendliche, die der Schulpflicht entwachsen waren. Aber aufgrund einer Anzeige schritt das solo­thurnische Erziehungsdepartement im November 1921 ein und setzte durch, daß alle schulpflichtigen Kinder diese Schule zu verlassen hatten. Auf I. Juli 1922 wurden die «Fortbildungskurse am Goetheanum« vom «Verein des Goethe­anum« übernommen und in dieser Form bis I. Februar 1928 weitergeführt.

164 Wir haben in Stuttgart damit angefangen, einen sogenannten Kulturrat zu be­gründen: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 96.

man fand wenig Gegenliebe: Es gibt verschiedene Äußerungen von Rudolf Stei­ner, wie diese Bemühungen zur Verwirklichung eines freien Geisteslebens ge­rade von den Hochschullehrern aufgenommen wurden, so zum Beispiel in der Ansprache für Studenten, die er am I. Oktober 1920 anläßlich des ersten anthro­posophischen Hochsehulkurses hielt (in GA 217a). Dort erzählte er: «Nun, [...] ein wirklich tatkräftiges Mitgehen wurde nicht gefunden. Aber umso öfter konnte man hören, wie die Herren in eigentümlicher Weise sich äußerten. Sie sagten nämlich: Ja, wenn diese Dreigliederung des sozialen Organismus mit ihrem freien Geisteslebens da wäre, dann würde es ja dahin kommen, daß statt des Unterrichtsministers mit seiner Beamtenschaft die Lehrer an den Universi­täten selber eine Art Administration des gesamten Erziehungswesens ausüben würden. Nein, sagten die Herren, da stehe ich doch lieber unter dem Unterrichtsminister

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und seinen Referenten, als daß ich mich einlassen würde auf die Verfügungen und Maßnahmen, die meine Herren Kollegen treffen.- Und man konnte ganz sonderbare Aussagen hören über die Herren Kollegen.»

167 Wir wollten aber den Begriff der Betriebsräte, die Institution der Betriebsräte, im Sinne der Dreigliederung haben: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 26.

als in Ungarn die Räterepublik eingefuhrt worden war: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.246.

das außerordentlich interessante Buch von Varga: Siehe GA 337a, Hinweis zu

S.246.

wie es jetzt auch in den ganz unmöglichen deutschen Gesetzen gemacht worden ist: Das Betriebsrätegesetz wurde am 13. Januar 1920 gegen den Widerstand der Anhänger der radikalen Arbeiterparteien von der deutschen Nationalversamm­lung verabschiedet - die Großdemonstration der USPD und der KPD vor dem Berliner Reichstagsgebäude wurde mit Maschinengewehrfeuer auseinanderge­trieben - und schließlich am 4. Februar 1920 in Kraft gesetzt. Am 15. Februar 1922 wurde es durch ein Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitglie­dern in den Aufsichtsrat ergänzt. Mit diesen Gesetzen wurde den Betriebsräten zwar das Recht zur Mitentscheidung und Mitberatung in bestimmten sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten eingeräumt, doch einen maßgebenden Einfluß konnten sie nicht entfalten - sie blieben bloße Dekoration. Auf der Seite der Befürworter der Dreigliederungsidee war man sehr enttäuscht, war doch nun der Weg für die Errichtung von Betriebsräteschaften als Selbstverwaltungs-organe der Wirtschaft endgültig verbaut. So hieß es im Rundbrief Nr.37 des Dreigliederungsbundes vom 23. Januar 1920:

168 Das ist von mir wirklich an jedem Diskussionsabend: Es fanden insgesamt sechs Veranstaltungen mit den

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168 stellte sich ein Mann hin zur Diskussion: Näheres ist nicht bekannt.

169 Im Vortrag von Herrn Ith: Siehe Hinweis zu S. 147.

172 Ihr habt ja den Kulturrat in Angriif genommen: Siehe Hinweis zu S. 164.

daß die Leute ins Spintisieren hineinkamen und gefragt haben: Am Diskussions­abend vom 19. Juli 1920 in Dornach (im vorliegenden Band) wurde Rudolf Steiner zum Beispiel gefragt: « Seine Antwort: «Man kann, wenn es sich um so große Fragen wie in der Gegenwart handelt, wirklich nicht die Antwort aus einem ganz beschränkten Kreise nehmen; das ist unmöglich. Ich garantiere Ihnen, Sie werden schon, wenn die Dreigliederung des sozialen Organismus durchgeführt ist, auch ein Verhältnis zu ihrer Nähmaschine haben, das befriedi­gend ist.»

173 daß mit den Vertretern des Geisteslebens: Siehe Hinweis zu S. 164.

mit dem Proletariat nichts anzufangen war: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 168.

fünfzig Menschen zu finden seien: Im Zusammenhang mit der Frage, auf welche Weise die Dreigliederungsidee wirkungsvoller propagiert werden könnte, ent­stand Anfang März 1920 die Idee, im Hinblick auf eine solche Aufgabe einen ausgesuchten Kreis von Persönlickeiten - ungefähr vier Dutzend Menschen -unter der Leitung von Rudolf Steiner zu schulen. So schrieb Hans Kühn, der Leiter der Geschäftsstelle des Dreigliederungsbundes, im Rundbrief Nr.43 vom S. März 1920: «Es ist notwendig, nur die Dreigliederung als Ganzes zu propa­gieren und dafür vor allen Dingen solche Menschen zu gewinnen, die als Redner sich eventuell völlig zur Verfügung stellen können. Es ist in Ausicht genommen, in einigen Wochen einen Kursus für solche Persönlichkeiten abzuhalten.» Auf diesen Appell erfolgten einige Anmeldungen, aber diese Zahl genügte noch nicht. Im Brief Nr.48 vom i. April 1920 doppelte Kühn nach: «Wir wiederholen daher, daß wir daran denken, eine großzügige Propaganda so in die Wege zu leiten, daß wir mehrere Dutzend gut geschulte Redner, die die Dreigliederung absolut beherrschen lernen werden, hinaussenden, um erstens dem großen Be­dürfnis der Ortsgruppen nach Rednern entgegenzukommen und zweitens unse­rer Bewegung den Schwung zu verleihen, der unbedingt notwendig ist, wenn sie sich von der rein literarischen Propaganda zu einer wirklich durchgreifenden Bewegung aufschwingen will.» Gleichzeitig stellte er als Datum für diesen Kurs

- er sollte vierzehn Tage dauern - die zweite Aprilhälfte in Aussicht. Aber der Kurs fand nicht statt; es hatten sich zu wenige Menschen gemeldet, die bereit waren, sich für einige Monate ganz für diese Sache zur Verfügung zu stellen. Im Rundbrief Nr.51 vom 24. April 1920 mußte Kühn eingestehen: «Die Durchfüh­rung dieser Pläne scheint momentan verfrüht, so daß jetzt höchstens die Frage kommen kann, diejenigen Redner auszubilden, die nachher im Bereiche ihrer Ortsgruppen auftreten werden und in Stuttgart Kenntnisse und Erfahrungen sammeln wollen.» Ein solcher Rednerkurs war für Ende Mai oder Anfang Juni vorgesehen - wenn es die Zeit Rudolf Steiners erlaubte. Aber es sollte noch mehrere Monate dauern, bis er schließlich im Februar 1921 stattfand (in GA 338). Am I. August 1920, in einer Ansprach anläßlich der Amtseinführung von Walter Kühne als dem neuen Leiter der Dreigliederungs-Geschäftsstelle, äußerte

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sich Rudolf Steiner zu diesem nicht zustandegekommenen Projekt (vorgesehen für GA 337): «So wurde in diesem Frühling daran gedacht, einen Kursus hier zu halten, welcher ungefähr das bringen sollte als Unterlage, was heute ein Mensch wirklich wissen soll, der nicht mit sozialistischen Phrasen geimpft und mit Par­teischlagworten ausstaffiert vor die Öffentlichkeit treten soll, um von dem zu reden, was der heutigen Zeit nottut. Es handelte sich dabei nicht - wie irrtüm­licherweise angenommen wurde - um einen Rednerkurs, sondern um etwas, was in dieser Richtung wirken sollte. Als dann daran gegangen wurde, auszusuchen die Menschen, die an einem solchen Kurse teilnehmen sollten, ergab sich das Resultat, daß der Kurs nicht begonnen werden konnte, weil keine geeigneten Zuhörer für einen solchen Kurs in dem Gebiet zu finden sind, das uns zunächst zugänglich ist.«

173 eine solche Nationalversammlung: Nach dem Sturz der deutschen Monarchie wurden am 19. Januar 1919 Wahlen für eine verfassunggebende Nationalver­sammlung durchgeführt. Diese trat erstmals am 6. Februar 1919 in Weimar zusammen. Bereits am 31. Juli 1919 wurde die neue deutsche Verfassung von der Nationalversammlung verabschiedet und trat am 11. August 1919 in Kraft. Nach der Verabschiedung der Verfassung tagte die Nationalversammlung in Berlin. Die Amtsdauer der Nationalversammlung endete am 6. Juni 1920, dem Tag der Wahl für den ersten Reichstag. In der 423 Sitze zählenden Nationalversammlung war die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) mit 165 Mandaten die größte Partei, gefolgt vom Z (Zentrum) mit 91 Sitzen, der DDP (Deutsche Demokratische Partei) mit 75 Sitzen und der DNVP (Deutsehnationale Volks-partei) mit 44 Sitzen.

175 einen kleinen Betrieb der Maschinenbranche: Carl Unger nimmt bezug auf seine eigene Firma, die Werkzeugmaschinenfabrik «Carl Unger», die er zusammen mit Friedrich Böhm unter der Rechtsform einer offenen Handelsgesellschaft betrieben hatte. Mit Wirkung vom 1. Januar 1920 an gehörte sie zum Unterneh­mensverband des Kommenden Tages; der offizielle Firmenname lautete nun:

«Der Kommende Tag A.G. vormals Carl Unger Werkzeugmaschinenfabrik».

1907 zur großen Krise: Siehe GA 337a, Hinweis zu S. 270

178 Die Herren, mit denen ich einmal im Januar dieses Jahres in Stuttgart zusam­mensaß: Im Januar 1920 wurde die Möglichkeit abgeklärt, ob nicht der Bankier Adolf Koch aus Darmstadt der geeignete Mann für die Führung des geplanten Stuttgarter Bankinstitutes sei. Die Leitung des Kommenden Tages wurde dann aber einem dreiköpfigen Direktorenkollegium anvertraut; Koch übernahm die Führung der Bankabteilung des Kommenden Tages, des «Bankhauses Der Kom­mende Tag Adolf Koch & Co.«, die am 14. Februar 1921 als Kommanditgesell­schaft begründet wurde.

179 Und daher ist es notwendig, daß das assoziative Prinzip tatkräftig, in sachlicher

Weise sofort in Angriif genommen wird: Als Versuch in dieser Richtung war die

Gründung der «Der Kommende Tag A.G.« in Deutschland und der «Futurum

A.G.» in der Schweiz gedacht (siehe GA 337a, Hinweise auf S. 312f.).

nachdem wir die Erfahrungen gemacht haben, die wir seit dem April des vorigen Jahres haben machen können: Schon verhältnismäßig schnell nach dem Beginn der öffentlichen Agitation für die Dreigliederungsidee im April 1919 hatte es sich gezeigt, daß es den Leuten schwerfiel, vom Reden zum wirksamen Tun zu

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schreiten. Die in diesen Monaten praktisch betriebenen Dreigliederungsinitiati­ven - die Gründung einer Betriebsräteschaft und eines Kulturrates als Selbstver­waltungsorgane der entsprechenden Lebensgebiete - wurden im Grunde bloß zerredet, ohne daß eine wirklich praktische Arbeit geleistet wurde (siehe Hin­weise zu S. 164 und S. 173).

180 das Ziel einer Sprengung der Gewerkschaften: Rudolf Steiner war nicht an sich gegen die sozialen Zielsetzungen der Gewerkschaften - die Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiterschaft - eingestellt, sondern er lehnte den gewerk­schaftlichen Weg als ungenügend und als zu wenig weitgehend für die Errei­chung dieser Ziele ab. Das hing damit zusammen, daß die Gewerkschaften nach wie vor von der Idee der Arbeitskraft als Ware ausgingen, die sie durch das Mittel des kollektiven Zusammenschlusses möglichst teuer zu verkaufen such­ten. Damit waren sie aber grundsätzlich am Weiterbestehen des Gegensatzes von Kapital und Arbeit interessiert und wirkten damit - wenn auch zum Teil wider Willen - systemstabilisierend. Für Rudolf Steiner war klar, daß das Weiterbeste­hen der Gewerkschaften in der bisherigen Form, mit der ganzen Machtentfal­tung ihrer Führerschaft, die Bildung von Assoziationen - nach ihm die einzig wirklichkeitsgemäße Grundlage für eine solidarische Wirtschaft und damit einer Beseitigung des sozialen Elends - hintertreiben mußte. Diese Erfahrung hatte er gerade im Zusammenhang mit dem Versuch von 1919, eine autonome Betriebs­räteschaft einzuführen, machen können, was seine scharfe Ablehnung der ge­werkschaftlichen Organisation erklärt (siehe Hinweis zu S. 166)

182 Hugo Stinnes, 1870-1924, war einer der mächtigsten Wirtschaftsführer Europas;

1892 hatte er sein erstes eigenes Unternehmen begründet. Ausgehend von der Bergbauindustrie, gebot er 1920 über einen Riesentrust von sich gegenseitig ergänzenden in- und ausländischen Unternehmungen aus allen möglichen wirt­schaftlichen Branchen. Insgesamt gehörten ihm am Schlusse seines Lebens über 4500 Betriebe. Über seine Zeitungen übte Stinnes einen bedeutenden politischen Einfluß aus; als Vertreter der rechtsliberalen Deutichnationalen Volkipartei saß er von 1920 bis 1924 im Deutschen Reichstag. Nach seinem Tode zerfiel der Stinnes-Trust, nachdem er bereits durch die Hyperinflation von 1923 in Mitlei­denschaft gezogen war.

in der Art, wie gestern Herr Dr. Steiner geschildert bat: Am Frageabend vom 10. Oktober 1920 (im vorliegenden Band) wies Rudolf Steiner darauf hin, daß Assoziationen - richtig verstanden - sowohl den Produktions- wie den Kon­sumtionsbereich umfassen mussen.

dieses üble Betriebsrätegesetz: Siehe Hinweis zu S. 167.

184 Bund für Hochschularbeit: Im Juli1920 schlossen sich die einzelnen Arbeits­gruppen von anthroposophisch orientierten Studenten zu einem «Bund für an­throposophische Hochschularbeit» zusammen. Der Bund hatte seinen Sitz in Stuttgart, an der Champignystraße 17, am gleichen Ort wie der Bund für Drei-gliederung und der Vorstand des Kommenden Tages. Geleitet wurde der Bund von einem Arbeitsausschuß; das Sekretariat besorgte zunächst Werner Rosen­thal; seine Aufgabe übernahm im August 1921 Hans Erhard Lauer, der sie aller­dings bereits wieder im Januar 1922 an René Maikowski abgab. In den einzel­nen Universitätsstädten Deutschlands und den angrenzenden Ländern gab es Arbeitsgruppen; die schweizerische Gruppierung konstitutierte sich als eigenständiger

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«Schweizer Bund für anthroposophische Hochsehularbeit« und wurde von Willy Stokar geleitet. Zielsetzung des Bundes war nicht nur die Pflege der Wissenschaften im Sinne der Anthroposophie, sondern auch eine Befreiung des Hochschulwesens von staatlicher Bevormundung. Der Bund für Hochsehul­arbeit war der Mitveranstalter von verschiedenen Hochsehulkursen, unter ande­rem der beiden Hochschulkurse und des Sommerkurses am Goetheanum in den Jahren 1920 und 1921. Durch einen geharnischten Aufruf an die «Kommilito­nen» vom Oktober 1920 handelte er sich unter der Professorenschaft der deut­schen Universitäten eine große Gegnerschaft ein. Rudolf Steiner selber beurteilte das Wirken des Hochsehulbundes kritisch, zum Beispiel im Mitgliedervortrag vom 4. Februar 1923 (in GA 259). «Was ist aus dem Hochsehulbund geworden? In Deutschland ist etwas daraus geworden, was nur die Vertreter des Alten ärgert, zu Feinden macht, weil eben das energische Wollen nicht dahinterstand. In der Schweiz ist der Hochsehulbund überhaupt niemals richtig geboren wor­den; daher konnte auch nicht ein durchgreifendes Wollen so etwas durchzucken wie dasjenige, was den ersten Veranstaltungen innerhalb unseres untergegange­nen Goetheanum den Charakter gegeben hat: die Hochsehulvorträge. Sie sind, weil keine Stoßkraft dahintersteckt, im Grunde genommen doch ganz unwirk­sam geblieben. Sie haben aber Feinde gemacht.« Und im Dreißigerkreis am S. Februar 1923 (in GA 259): «Der Hochachulbund ist die sterilste und eine der schädlichsten Gründungen: steril, da nichts getan; schädlich, weil Kundgebun­gen [veranstaltet wurden], hinter denen niemand stand.» Der Hochschulbund verschwand im Laufe des Jahres 1923 stillschweigend von der Bildfläche.

185 «stets das Böse will und stets das Gute schafft»: Zitat aus «Faust. Erster Teil», Verse 1336-1337, von Johann Wolfgang von Goethe:

«Mephistopheles. Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.»

186 beim Kommenden Tag eine ständige wirtsehaftswissenschaftliche Abteilung: Eine solche Abteilung wurde nie begründet.

187 den Eichenstämmen aus der Horner Gegend - ich kenne dort die Leute: Die Eltern von Rudolf Steiner stammten aus dem Bezirk Horn in Niederösterreich. Dazu Rudolf Steiner in «Mein Lebensgang» (GA 28, I. Kapitel): «Meine Eltern hatten in Niederösterreich ihre Heimat. Mein Vater ist in Geras, einem ganz kleinen Ort im niederösterreichischen Waldviertel, geboren, meine Mutter in Horn, einer Stadt in der gleichen Gegend.« Wegen der beruflichen Laufhahn des Vaters mußten die Eltern von Rudolf Steiner ihre Heimat verlassen. Aber: «Als dann mein Vater nach einem arbeitsreichen Leben sich in den Ruhestand verset­zen ließ, zogen sie sogleich wieder dahin - nach Horn.» Rudolf Steiner wurde in Kraljevec (heute Kroatien) geboren. In den amtlichen Dokumenten aus der Schweiz wird er aber als von «Geras, (Bezirk Horn, Niederösterreich)» stam­mend bezeichnet.

188 ich habe den Daimler- Vortrag gehalten: Im Hinblick auf sein Bemühen, das Proletariat für die Dreigliederungsidee zu gewinnen, hielt Rudolf Steiner am 25. April 1919 - kurz nach dem Beginn seines öffentlichen Wirkens für die Dreigliederung in Stuttgart - vor den Arbeitern der Daimler-Werke einen Vor­trag unter dem Titel «Was und wie soll sozialisiert werden?« (in GA 330). Der Vortrag fand großen Widerhall unter der Belegschaft, und auch diese unterstütz­te die seit dem 23. April zirkulierende Resolution, daß Rudolf Steiner in die württembergische Regierung berufen werden möge zwecks sofortiger Verwirklichung der Dreigliederung.

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188 Stattdessen wurde der Daimler-Vortrag gedruckt: Er wurde in Großauflage als Broschüre vom Stuttgarter Bund für Dreigliederung gegen Ende Juni1919 unter die Leute gebracht; Anfang August doppelte der Schweizer Bund nach. In der Broschüre ist übrigens ein falsches Vortragsdatum angegeben; er fand am 25. und nicht - wie angegeben - am 26. April 1919 statt.

189 Ich wollte hahen eine agitatorische Gemeinschaft: Siehe Hinweis zu S.173

190 Vielleicht kann man in den nächsten Tagen noch einmal eine Veranstaltung machen: Am 13. Oktober 1920 fand noch einmal eine Zusammenkunft statt, die wirtschaftlichen Fragen gewidmet war und wo über die Futurum und den Kom­menden Tag orientiert wurde (vorgesehen für GA 337c).

191 üher die Aushildung der Agitatoren sollte noch einmal gesprochen werden: Für die in Oberschlesien wirkenden Mitarbeiter der Dreigliederungsbewegung wur­de anfangs Januar 1921 ein besonderer Agitationskurs abgehalten, der «Schu­lungskurs für Oberschlesier» (in GA 338).

192 Bei mir war erst jüngst eine Geheimer Regierungsrat: Näheres über diese Begeg­nung konnte nicht herausgefunden werden.

194 Vortrag morgen Abend: Es handelt sich um den Frageabend vom 10. Oktober

1920 (im vorliegenden Band). Weil so viele Fragen eingingen, mußte Rudolf Steiner noch einen zweiten Abend aufwenden, um sie alle zu beantworten.

195 Zusammenkunft von Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft: Am Sonntag, den 10. Oktober 1920, um 10 Uhr morgens, fand eine Versammlung von Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft statt. Es handelte sich nicht um eine offizielle Versammlung, sondern um eine von Mitgliedern ge­wünschte Aussprache. Von dieser Versammlung gibt es nur eine bruchstück-hafte Nachschrift.

schon eine ganze Anzahl von Generalversammlun gen im Laufe der Jahre: Ge­meint sind vor allem die elf ordentlichen Generalversammlungen der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und die zwei ordentlichen Generalver-sammlungen der Anthroposophischen Gesellschaft vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Protokolle dieser Generalversammlungen sind abgedruckt im «Vahan» (I. Generalversammlung von 1903), in »Lucifer-Gnosis» (II. General-versammlung von 1904) und in den «Mitteilungen für die Mitglieder der Deut­schen Sektion der Theosophischen Gesellschaft» («Scholl-Mitteilungen») (III. bis XI. Generalversammlung der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesell­schaft von 1905 bis 1913; 1. und II. Generalversammlung der Anthroposophi­schen Gesellschaft von 1913 und 1914).

von einer gewissen Seite her: Der hauptsächliche Förderer der anthroposophi­schen Hochschulkurse am Goetheanum in Dornach war Roman Boos; er war der Präsident des «Vereins Goetheanismus«, der nach außen als nomineller Veranstalter auftrat. Als Mitveranstalter zeichnete der Bund für anthroposophi­sche Hochschularbeit.

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196 es bleiben uns ja noch acht Tage Zeit für diese Hochsehulkurse: Die Hochsehul­kurse sollten drei Wochen dauern; es war vorgesehen, sie am Samstag, den 16. Oktober 1920, zu beenden.

Wir sind jetzt vierzehn Tage beisammen: Die Hochsehulkurse wurden am Montag, den 27. September 1920, mit einem Vortrag von Rudolf Steiner eröff­net. Während der Hochsehulkurse wurden vier Vortragsreihen zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen gehalten. In der ersten Woche sprach Emil Molt über «Der Industrielle in Vergangenheit und Zukunft vom Gesichtspunkt der Gei­steswissenschaft« (27., 28. und 30. September 1920), in der zweiten Woche waren es dann drei Redner, die Vorträge hielten: Arnold Ith über «Bankwesen und Preisgestaltung in ihrer heutigen und zukünftigen Bedeutung für das Wirt­schaftsleben» (4. und 5. Oktober 1920), Roman Boos über «Phänomenologische Sozialwissenschaft« (4., 5. und 6. Oktober 1920) und Emil Leinhas zu «Licht-und Schattenseiten des modernen Kapitalismus» (7. und 8. Oktober 1920). Emil Leinhas schrieb rückwirkend in seinen Erinnerungen («Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner», Basel 1950, S.95) über die verschiedenen Beiträge: «Was über das Thema Wirtschaftsleben auf dem ersten Hochschulkurs vorgetragen wurde, zeigte sich wohl überhaupt als der schwächste Teil der ganzen Veranstaltung. Der Eindruck war unverkennbar, daß dieses Lebensgebiet sich der Durchdrin­gung mit anthroposophischen Ideen und Impulsen als am schwersten zugänglich erwies.«

Wir haben verschiedentliche Seminararbeiten gehabt: In der zweiten Woche tauchte der Wunsch nach seminaristischen Zusammenkünften auf, wo Fragen zur wirtschaftlichen Praxis besprochen werden sollten. Die erste solche Veran­staltung fand am 5. Oktober, die zweite am 7. Oktober statt (im vorliegenden Band); an diesen Veranstaltungen nahm auch Rudolf Steiner teil. In der dritten Woche, am 11. Oktober, wurde eine weitere Seminarveranstaltung durchgeführt (im vorliegenden Band); am 13. Oktober fand eine Orientierung über den augenblicklichen Stand der beiden Unternehmensgründungen Futurum A.G. und Der Kommende Tag A.G. statt (vorgesehen für GA 337c).

kleine Entgleisun gen: Rudolf Steiner bezieht sich auf den Vortrag von Arnold Ith, einem der beiden Direktoren der Futurum, über Preisgestaltung. In seinen Ausführungen hatte Ith den Lohn als Kostenbestandteil aufgelistet. Am Semi­narabend vom 5. Oktober bezeichnete Rudolf Steiner diese Auffassung als «Ent­gleisung».

durch einen Mitarbeiter-Praktiker, um gerade im Sinne der Arbeit unserer Hochsehulkurse etwas Günstiges vor der Welt zu bewirken: Um welche Persön-lichkeit es sich handelt, konnte nicht ermittelt werden.

heute früh wiederum ein Couvert zustandegekommen ist mit diesem Packen von Fragen: Vor dem Morgenvortrag, den Rudolf Steiner am 9. Oktober anstelle des weggebliebenen Dr. Ludwig Noll über das Thema «Physiologisch-Therapeuti­sches auf Grundlage der Geisteswissenschaft« halten mußte (in GA 314), er­klärte er sich bereit, Fragen und Wünsche im Hinblick auf den am nächsten Tag geplanten Dreigliederungs-Vortrag entgegenzunehmen. Es kamen insgesamt 39 Fragen zusammen. Diese Fragen sind im Original nicht mehr erhalten, aber Rudolf Steiner übertrug sie stichwortartig in sein Notizbuch (siehe Wiedergabe der Notizbucheintragungen auf S 265ff).

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196 es seien einige Male um 7 Uhr morgens oder zu einer anderen Stunde: Näheres ist nicht bekannt.

197 Die schlagen sich alle die Schädel ein, weil sie alle verschiedener Meinung sind, und nicht zum Ausdruck bringen können, was eine Assoziation ist und derglei­chen: In seinen ungekürzten Erinnerungen, im Kapitel «Das Jahr 1920«, berich­tet Emil Molt über die damaligen von Rudolf Steiner gemeinten Vorgänge: «Als ich als das Wesen der Zukunftsentwicklung die Assoziation hinstellte, wie ich sie verstand, wurde meine Auffassung in Ausführungen Dr. Steiners kurz darauf ad absurdum geführt, was bei mir wiederum zu Emotionen führte statt zu Er­kenntnissen. Es fehlte nicht viel, und ich hätte in meiner Mißstimmung das Panier verlassen, wenn nicht Rudolf Steiner selbst mir zur Umkehr verholfen hätte. Diese Tage waren Zeiten der schwersten Prüfung für mich. Zahlreiche Zuhörer, besonders viele junge Leute und Studenten, spendeten meinen Vorträ­gen aus Sympathie warmen Beifall. Da war es nun Benkendoerfer, der überall zu vernichtender Kritik aufrief und für Gegenstimmung bei den jungen Menschen in der Kantine sorgte.»

Es würde sich vielmehr darum handeln, daß die Praktiker im anthroposo­phischen Sinne wirklich mitarbeiten: Im Dornacher Mitgliedervortrag vom 29. Oktober (in GA 200) kam Rudolf Steiner noch einmal auf seine Erwartungen zu sprechen: »Aber ich deute wirklich nur auf etwas hin, was gewissermaßen als eine Aufforderung zu gelten hat, nun wirklich von allen Seiten mitzuarbeiten und ja nicht hinter die reaktionäre Praxis sich zu verschanzen, [nicht] hinter den Schanzen der reaktionären Praxis Anthroposophie im Grunde genommen zu vernichten, trotzdem man ihr vielleicht aufhelfen will.« Eine solche Gefahr sah Rudolf Steiner ganz real: «Allerdings, ich würde selbstverständlich nicht hindeu­ten, wenn ich nicht allerlei Rauchwolken heraufsteigen sehen würde.»

199 am nächsten Dienstag um 8 Uhr: Der zweite Teil des Frageabends fand am Dienstag, den 12. Oktober 1920, statt (in diesem Band gedruckt).

trotzdem ich es schon einmal hier in später Abendstunde getan habe: Am zweiten Seminarabend vom 7. Oktober 1920 (in diesem Band gedruckt), wo Rudolf Stei­ner einmal mehr darauf hinwies, daß seine Schriften zur Dreigliederung prak­tisch und nicht utopistisch gemeint seien.

im Stuttgarter Verlag »Der Kommende Tag»: Spätestens seit Oktober 1919 hat­ten die Leute vom Bund für Dreigliederung in Stuttgart die Absicht, einen Verlag zu gründen, der vor allem den Zielen der Dreigliederungsbewegung die­nen sollte. Dementsprechend wurde im Zusammenhang mit der Gründung des Kommenden Tages im März 1920 auch eine Verlagsabteilung ins Leben gerufen:

«Der Kommende Tag A.G. Verlag»; Leiter dieses neuen Verlages war Wolfgang Wachsmuth. Rudolf Steiner unterstützte dieses Unternehmen und ließ in diesem Verlag die vierte, überarbeitete Auflage der «Kernpunkte» sowie seine zweite soziale Schrift, «In Ausführung der Dreigliederung», erscheinen; entsprechende Lizenzverträge hatte er im Oktober und November 1920 mit dem Verlag abge­schlossen. Bald einmal zeigte es sich aber, daß der Kommende-Tag-Verlag sich immer mehr zu einem Konkurrenzunternehmen für den von Marie Steiner ge­leiteten Philosophisch-Anthroposophischen Verlag entwickelte. Deshalb wollte Rudolf Steiner nichts zur Rettung des Kommenden-Tag-Verlages beitragen, als am 15. Juli 1924 auf der Generalversammlung des Kommenden Tages die Abstoßung

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der wirtschaftlich-geistigen Abteilungen beschloßen wurde; im Vertrag vom 6. August 1924 (in GA 260a) übernahm Rudolf Steiner für den Philo­sophisch-Anthroposophischen Verlag - von wenigen Ausnahmen abgesehen -lediglich seine eigenen Titel. Der Versuch im September 1924, den übriggeblie­benen Verlag in seiner Gesamtheit zu verkaufen, schlug fehl, und Wolfgang Wachsmuth trat auf Ende 1924 von seinem Posten zurück. Es blieb Emil Lein­has als dem nun einzigen Direktor überlassen, die Bestände in mühsamer Klein­arbeit allmählich zu liquidieren, bis auf Ende 1926 der restliche Büchervorrat schließlich einfach abgeschrieben wurde.

200 Ich möchte Sie aufmerksam machen auf eine Bemerkung: Im Zusammenhang mit der Frage, wie denn die Übertragung von Kapitaleigentum geregelt werden müsse, schrieb Rudolf Steiner im dritten Kapitel der «Kernpunkte» (GA 23):

«Man kann sich vorstellen, daß die Vertreter im Rechtsstaate zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene Gesetze geben werden über die Überleitung des Eigen­tums von einer Person oder Personengruppe an andere.« Und weiter: «Vielleicht findet mancher in dem hier Dargestellten Unvollkommenheiten. Die mögen gefunden werden. Es kommt einer wirklichkeitsgemäßen Denkart nicht darauf an, vollkommene ein für alle Male zu geben, sondern darauf, die Richtung zu kennzeichnen, in der praktisch gearbeitet werden soll. Durch sol­che besondere Angaben, wie sie die hier gemachten sind, soll eigentlich nur wie durch ein Beispiel die gekennzeichnete Richtung näher erläutert werden. Wenn dies nur in der angegebenen Richtung geschieht, dann kann ein fruchtbares Ziel erreicht werden.«

Es war vor allen Dingen meine Meinung, daß, nachdem dieses Buch erschienen war, sich Lebenspraktiker daranmachen würden: In den «Vorbemerkungen« zu den «Kernpunkten» (GA 23) schrieb Rudolf Steiner über die Zielsetzung dieser Schrift: »Sie möchten von dem sprechen, was geschehen sollte, um die Forde­rungen, die von einem großen Teile der Menschheit gegenwärtig gestellt werden, auf den Weg eines zielbewußten sozialen Wollens zu bringen.» Allerdings be­dürfe es dazu einer erneuerten, nicht der gewohnten Lebenspraxis: »Wenig be­friedigt von den Ausführungen des Verfassers werden zunächst auch diejenigen Persönlichkeiten sein, die sich in der Weise als Lebenspraktiker ansehen, wie man unter dem Einflusse mancher liebgewordenen Gewohnheiten die Vorstel­lung der Lebenspraxis heute nimmt. Sie werden finden, daß in dieser Schrift kein Lebenspraktiker spricht. Von diesen Persönlichkeiten glaubt der Vetfasser, daß gerade sie werden gründlich umlernen müssen. Denn ihm erscheint ihre als dasjenige, was durch die Tatsachen, welche die Menschheit der Gegenwart hat erleben müssen, unbedingt als ein Irrtum erwiesen ist.«

201 indem ich mich durch Jahrzehnte hindurch der Anschauung der modernen, der gegenwärtigen Verhältnisse gewidmet habe: Von 1884 bis 1890 war Rudolf Stei­ner als Hauslehrer in der jüdischen Kaufmannsfamilie Specht tätig. Da er in die Familie aufgenommen wurde, konnte er die geschäftliche Tätigkeit des Vaters, Ladislaus Specht, aus der Nähe verfolgen. Im VI. Kapitel seiner Autobiographie «Mein Lebensgang« (GA 28) schrieb er darüber: «Der Vater [...] war als Agent für indische und amerikanische Baumwolle tätig. Ich konnte einen Einblick ge­winnen in den Gang des Geschäftes und in vieles, das damit zusammenhängt. Auch dadurch lernte ich vieles. Ich sah in die Führung eines außerordentlich interessanten Importgeschäftszweiges hinein, konnte den Verkehr unter Ge­schäftsfreunden, die Verkettung verschiedener kommerzieller und industrieller

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Betätigungen beobachten.» Schon im Mitgliedervortrag vom 23. Januar 1921 (in GA 203) hatte Rudolf Steiner ausführlich über seine wirtschaftlichen Erfahrun­gen in jener Zeit gesprochen: «Und in der Zeit [...] war ich acht Jahre hindurch Erzieher in einem Hause, durch welches eben nur Baumwolle von Indien und Amerika nach Europa verfrachtet worden ist, in welchem nur Baumwollagenten und Fabrikanten von solchen Dingen verkehrten, die aus Baumwolle gearbeitet werden, und man lebte da ganz in den Interessen, die sich über alles das ausspan­nen, was eben von diesen Dingen kommt.« Es war dies eine «Zeit, während ich mich intensiv interessierte für die Muster der amerikanischen und indischen Baumwolle, die da ankamen, die im Kontor wirklich ganz hoch aufgestapelt waren, jedes mit seiner Spezifikation, mit seinem Papierstreifehen, worauf ganz interessante Dinge standen». So konnte Rudolf Steiner durchaus berechtigt von sich sagen, »daß ich durchaus das Verkehrswesen mitgemacht habe, Frachtbriefe geschrieben habe - wie ich noch Tintenkleckse darauf gemacht habe, außer den Zeichen, die ich auf die Frachtbriefe habe schreiben müssen -, daß ich miterlebt habe die Baumwollindustrie und den Baumwollhandel und daß aus diesen Din­gen heraus, die gerade zusammenhängen mit dem ganzen Nerv des Lebens der neueren Zeit, das entstanden ist, was meine wirtschaftlichen Anschauungen sind.»

202 als wir im vorigen Jahr begannen, vom April ab von Württemberg aus im Sinne des von mir verfaßten »Aufrufes» und meiner «Kernpunkte» für eine Gesundung unseres sozialen Lebens zu wirken: Das öffentliche Eintreten für die Dreigliede­rungsidee in Deutschland nahm seinen Anfang mit der Bekanntmachung von Rudolf Steiners Aufruf »An das deutsche Volk und an die Kulturwelt« (in GA 23). Diesen Aufruf hatte Rudolf Steiner - aufgrund von Gesprächen mit Emil Molt, Roman Boos und Hans Kühn in Dornach - am 2. Februar 1919 verfaßt; am 12. Februar 1919 erwähnte ihn Rudolf Steiner zum ersten Mal in der Öffent­lichkeit, und ab 5. März fand er als Flugblatt und als Inserat in den deutschspra­chigen Ländern eine weitgehende Verbreitung. Am 22. April 1919 hielt Rudolf Steiner seinen ersten öffentlichen Vortrag in Stuttgart über die Dreigliederungs­idee, dem in den folgenden Tagen und Wochen zahlreiche weitere folgten. Die ganze Vortragsaktion, die sich über den Umkreis Stuttgarts ausdehnte und von weiteren anthroposophischen Rednern mitgetragen wurde, erfolgte im Namen des an diesem 22. April 1919 gegründeten Bundes für Dreigliederung des sozia­len Organismus. Dieser war auch um die Verbreitung der auf Ende April 1919 erschienenen Schrift von Rudolf Steiner »Die Kernpunkte der Sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft« bemüht. Eine Chro­nologie der Vorgänge findet sich in den «Beiträgen zur Rudolf Steiner Gesamt­ausgabe» Nr.24/25, «50 Jahre >Die Kernpunkte der Sozialen Frage>: April 1919

- April 1969«, und Nr.27/28, »1919 - das Jahr der Dreigliederungsbewegung und der Gründung der Waldorfschule».

was wie eine Art revolutionäre Welle über Europa ging: In Mittel- und Ost­europa mündete die Teilnahme am Weltkrieg in revolutionäre Erschütterungen aus: In Rußland waren es die Februarrevolution und die Oktoberrevolution von 1917, die den Sturz des Zarentums und die Übernahme der Macht durch die Bolschewisten brachte; in Deutschland führte die Novemberrevolution von 1918 zur Abdankung des Kaisers und zur Ausrufung der Republik; in Österreich-Ungarn setzte die Auflösung des österreichisch-ungarischen Gesamtstaates be­reits im Oktober 1918 ein und führte ebenfalls zum Sturz der Monarchie. Damit

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waren die revolutionären Bestrebungen aber noch nicht abgeschlossen, strebten doch die radikalen, kommunistischen Linken nach der Diktatur des Proletariats und der vollständigen Entmachtung des Bürgertums. Aber die kommunistischen Aufstandsversuche in Mitteleuropa, die zum Teil in der Bildung von Räterepu­bliken gipfelten, wurden blutig niedergeschlagen. Nur in Rußland und seinen Randgebieten wurde eine sozialistische Gesellschaftsordnung verwirklicht, die allerdings sehr schnell in eine Parteidiktatur ausartete. Von den ursprünglich großen Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellschaftsordnung blieb schließlich kaum mehr etwas übrig.

203 man kam gerade im April und Mai in eine soziale Welle hinein: Auch die deut­sche Revolution spielte sich in zwei Phasen ab: nach einer eher gemäßigten ersten Phase in den Monaten November und Dezember nahm die Dynamik der Revolution zu, indem große Teile der Arbeiterschaft - enttäuscht über das Ausbleiben einer wirklichen «Sozialisierung» der Gesellschaft - sich weiter radikalisierte und entschieden gegen die neue republikanische Regierung Front machte. In den Monaten zwischen Januar und Mai 1919 kam es zu großen Streikaktionen, zur Besetzung von Betrieben, Zeitungshäusern und öffentlichen Gebäuden und in Bremen und München sogar zur Ausrufung von Räterepubli­ken. Der Reichsregierung gelang es schließlich, diese linken Massenbewegungen durch den Einsatz von Freiwilligentruppen mit Gewalt zu beenden. In den damaligen Wochen war die Politik des Bürgertums durch die Angst vor dem vollständigen sozialen Umsturz geprägt und die bürgerlich Gesinnten waren deshalb auch bereit, auf die Forderung nach Sozialisierung - zumindest teilweise

- einzugehen. Diese Bereitschaft schwand aber immer mehr, nachdem es sich gezeigt hatte, daß sich die radikalen Linken nicht durchsetzen konnten. Die Weimarer Republik geriet nun immer mehr unter Beschuß der rechtsradikalen Seite, die ihrerseits mit antisemitischen und völkischen Parolen auf den Sturz der bestehenden Ordnung hinarbeitete. Diese völkische Agitation richtete sich auch gegen Rudolf Steiner und verunmöglichte schließlich ab 1922 jedes weitere Wir­ken in der deutschen Öffentlichkeit.

204 Daher hat man so wenig das erste Drittel meiner «Kernpunkte der sozialen Frage« verstanden, jenes erste Drittel, welches sich vorzugsweise bemüht darzu­stellen jene »doppelte Buchführung«: Im ersten Kapitel der «Kernpunkte« (GA 23) ging es Rudolf Steiner vor allem um die Darstellung der inneren Widersprüchlichkeit der Situation, in der der moderne Proletarier lebt: «Er baut in Wirklichkeit sein Leben auf die Gedanken, empfindet diese aber als unwirk­liche Ideologie.« Und weiter: »Aber diese Tatsache wird weder von dem nicht-proletarischen Teile der Menschheit richtig erfaßt noch von dem proletarischen. Denn der nicht-proletarische leidet nicht unter dem ideologischen Gepräge des modernen Geisteslebens, das er selbst herbeigeführt hat. Der proletarische Teil leidet darunter. Aber dieses ideologische Gepräge des ihm vererbten Geistes­lebens hat ihm den Glauben an die tragende Kraft des Geistesgutes als solchen geraubt.»

ich meine jetzt nicht diejenige, von der Herr Leinhas hier gesprochen hat: In der zweiten Woche des Hochschulkurses, am 7. und 8. Oktober 1920, sprach Emil Leinhas über «Licht- und Schattenseiten des modernen Kapitalismus» und muß in diesem Zusammenhang auch den Begriff der doppelten Buchhaltung erwähnt haben; der Inhalt seines Vortrages ist allerdings nicht erhalten geblieben.

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205 In diesem Buche wollte ich darauf aufmerksam machen: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.123.

207 Ich habe von den Assoziationen einmal in einem Kreise von Proletariern zn Stuttgart gesprochen: Es konnte nicht herausgefunden werden, welchen Anlaß Rudolf Steiner genau meint.

208 wie das - vielleicht nicht immer pedan tisch mit Theorien, wohl aber dem ganzen Geiste nach - das dritte Drittel meines Buches »Die Kernpunkte der Sozialen Frage» tut: Im dritten Kapitel der »Kernpunkte» (GA 23) ging Rudolf Steiner auch auf das Preisproblem ein, das heißt insbesondere auf die Frage nach dem richtigen Preis einer Ware: «Der rein wirtschaftliche Wert einer Ware (oder eines Geleisteten), insofern er sich ausdrückt in dem Gelde, das seinen Gegen­wert darstellt, wird von der Zweckmäßigkeit abhängen, mit der sich innerhalb des Wirtschaftsorganismus die Verwaltung der Wirtschaft ausgestaltet. Von den Maßnahmen dieser Verwaltung wird es abhängen, inwiefern auf der geistigen und rechtlichen Grundlage, welche von den andern Gliedern des sozialen Orga­nismus geschaffen wird, die wirtschaftliche Fruchtbarkeit sich entwickeln kann. Der Geldwert einer Ware wird dann der Ausdruck dafür sein, daß diese Ware in der den Bedürfnissen entsprechenden Menge durch die Einrichtungen des Wirtschaftsorganismus erzeugt wird.» In der vierten, ergänzten Auflage der »Kernpunkte» erläuterte Rudolf Steiner in einer Anmerkung, was er unter einem »gesunden Preisverhältnis» verstand: »Dieses muß so sein, daß jeder Arbeitende für sein Erzeugnis so viel an Gegenwert erhält, als zur Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse bei ihm und den zu ihm gehörenden Personen nötig ist, bis er ein Erzeugnis der gleichen Arbeit wieder hervorgebracht hat. Ein solches Preis-verhältnis kann nicht durch amtliche Feststellungen eifolgen, sondern es muß sich als Resultat ergeben aus dem lebendigen Zusammenwirken der im sozialen Organismus tätigen Assoziationen.»

Dieses Verhältnismäßige, das ist dasjenige, was zuletzt zum Preisproblem führt:

Dieses Gesetz der Verhältnismäßigkeit der Preise zueinander bezeichnete Rudolf Steiner als die »Urzelle des Wirtschaftslebens» So zum Beispiel im öffentlichen Vortrag vom 15. September 1919 in Berlin (in GA 333): »Und gleichsam die Urzelle dieses Wirtschaftslebens, das nur auf Sachkenntnis und Fachtüchtigkeit gegründet sein soll - die Preisbildung -, wie wird sie sich voll­ziehen müssen? Nicht durch den Zufall des sogenannten freien Marktes, wie bisher in der Volkswirtschaft und in der Weltwirtschaft der Fall war.« Und weiter: »Es wird in der Zukunft [...] ungefähr innerhalb des Wirtschaftslebens sich zutragen müssen, daß der Mensch für irgend etwas, was er arbeitend voll­bringt, so viel an Austauschwerten erhält, daß er seine Bedürfnisse dadurch befriedigen kann.» Und wie sich dieses Gesetz der »Urzelle» in der wirtschaft­lichen Praxis ausnimmt, erläuterte Rudolf Steiner im gleichen Vortrag: »Nehmen wir an, irgendein Artikel habe die Tendenz, zu teuer zu werden. Was bedeutet das? Es wird zu wenig von diesem Artikel erzeugt; es müssen nach den Produk­t]onszweigen Arbeiter durch Verträge hingeleitet werden, welche diesen Artikel erzeugen können. Wird andererseits ein Artikel zu billig, so müssen Betriebe stillgelegt werden und die Arbeiter davon. abgezogen werden und durch Rege­lung in andere Betriebe hineinkommen.» Uber das Prinzip der Urzelle äußerte sich Rudolf Steiner in zahlreichen weiteren Vorträgen, zum Beispiel im Frage-abend vom 30. Mai 1919 in Stuttgart (im vorliegenden Band) oder im Vortrag vom 2. Juni 1919 in Tübingen (in »Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe»

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Nr.103) oder am Diskussionsabend mit den Arbeiteraussehüssen vom 5. Juni 1919 (in GA 331)>

213 Wir wollten einmal selbst einen Konsumzusammenhang für Brot in der Anthro­posophischen Gesellschaft herstellen: Siehe Hinweise zu S.151.

217 Und bei all denjenigen «Zöpfen», die nichts wissen wollten von unserem Kultur­rat: Siehe Hinweis zu 5> 164>

für den nächsten Dienstag: Siehe Hinweis zu S.199>

218 daß es sich wahrhaftig nicht um etwas Utopistisches handelt: In seinen «Vorbe­merkungen über die Absicht dieser Schrift« - gemeint sind die «Kernpunkte> (GA 23) - schrieb Rudolf Steiner: »Eine Anregung zu einem Wege nach sozialen Zielen, die der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit und Lebensnotwendigkeit ent­sprechen, möchte der Verfasser geben. Denn er meint, daß nur ein solches Stre­ben über Schwarmgeisterei und Utopismus auf dem Gebiete des sozialen Wol­lens hinausführen kann. Wer doch etwas Utopistisches in dieser Schrift findet, den möchte der Verfasser bitten zu bedenken, wie stark man sich gegenwärtig mit manchen Vorstellungen, die man sich über eine mögliche Entwickelung der sozialen Verhältnisse macht, von dem wirklichen Leben entfernt und in Schwarmgeisterei verfällt. Deshalb sieht man das aus der wahren Wirklichkeit und Lebenserfahrung Geholte von der Art, wie es in dieser Schrift dazustellen versucht ist, als Utopie an. Mancher wird in dieser Darstellung deshalb etwas

>Abstraktes> sehen, weil ihm nur ist, was er zu denken gewohnt ist, und

>abstrakt> auch das Konkrete dann, wenn er nicht gewöhnt ist, es zu denken»

Nähmaschinenbesitzerin: siehe Hinweis zu S.172.

220 dss nächste Mal, übermorgen: siehe Hinweis zu S.199.

222 daß dem heutigen Vortrag eine Diskussion folgen wird: Ob eine solche Diskus­sion nach dem Vortrag von Rudolf Steiner überhaupt stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls liegen weder entsprechende Nachschriften noch entspre­chende Notizen von Rudolf Steiner vor>

vorgestern: Gemeint ist der erste Frageabend vom Sonntag, den 10> Oktober 1920 (im vorliegenden Band).

223 unter den 39 Fragen: Siehe Hinweis zu 5> 196>

225 Ich war Jahre hindurch Lehrer an einer Arbeiterbildungsschule: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.40.

229 Diese gewerkschaftliche Bewegung der Proletarier: Mit der Aufhebung der So­zialistengesetze im Jahre 1890 begann der eigentliche Aufstieg der sozialdemo­kratisch orientierten Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Gefördert wurde er durch den noch im gleichen Jahr erfolgten Zusammenschluß der «Freien Ge­werkschaften>, der verschiedenen zentralen Berufsverbände einzelner Branchen, zu einer gemeinsamen Dachorganisation, der »Generalkommission der Gewerk­schaften in Deutschland». Obwohl grundsätzlich der sozialdemokratischen Weltanschauung und ihren Zielsetzungen verpflichtet, waren die Gewerkschaf­ten pragmatisch orientiert; sie verzichteten auf theoretische Erörterungen und waren daran interessiert, durch kollektive Verhandlungen mit den Arbeitgebern

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Verbesserungen für die Arbeiterschaft herbeizuführen - zum Beispiel höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten. Sie wirkten damit systemstabilisierend, da sie die herrschende Staats- und Gesellschaftsordnung nicht in Frage stellten.

230 die Entwicklung der so sterilen, so unfruchtbaren, so korrupten Revolutionen der Gegenwart : Siehe Hinweise zu S.202 und 203.

231 unseres Philosophisch-Anthroposophischen Verlags: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.287.

wenn irgend jemand sich daran machen und tausend Leute zusammensammeln würde: Rudolf Steiner spielt auf den 1913 gemachten Versuch an, den Absatz für das vom Theosophen von Rainer hergestellte Qualitätsbrot unter den Anthro­posophen zu organisieren - ein Versuch, der allerdings fehlschlug; siehe Hinweis zu 5. 151.

233 Ich wurde neulich von einem Menschen, der es mit dem Wirtschaftsleben zu tun hat, gefragt: Näheres ist nicht bekannt.

in Württemberg merken konnte, wo ein sozialistisches Ministerium war: Nach der Abdankung des Königs am 29. November 1918 übernahm eine Revolutionsregie­rung die Macht, die zunächst unter der gemeinsamen Führung der Mehrheits­sozialisten und der Unabhängigen Sozialisten stand. Die Regierung war aller­dings nicht rein sozialistisch, sondern ihr gehörten auch Mitglieder des Zentrums sowie der demokratischen und der liberalen Richtung an. Vorsitzender der Pro­visorischen Regierung war der Mehrheitisozialist Wilhelm Blos (1849-1927). Im Januar 1919 traten die Unabhängigen aus der Koalitionsregierung aus> Im März 1919 wurde BIos zum Staatspräsidenten - das war die damals übliche amtliche Bezeichnung für das Amt des württembergischen Ministerpräsidenten - gewählt, obwohl die Wahlen in die verfassunggebende Nationalversammlung eine bürger­liche Mehrheit ergeben hatten. Im Mai 1920 allerdings trat er - nach der erneuten Wahlnicderlage der linken Parteien - zurück, und im Juni 1920 wurde eine bür­gerliche Regierung unter Staatspräsident Johannes Hieber gebildet.

235 So aber, wie die Sache jetzt steht> so haben wir alle, die wir arbeiten für die Dreigliederungszeitung, unnötige Arbeit geleistet: Etwa einen Monat nach diesem Frageabend, am 17. November 1920, anläßlich der Amtseinführung von Eugen Benkendoerfer als Generaldirektor des Kommenden Tages, erklärte Rudolf Steiner den versammelten Mitarbeitern der Dreigliederungs-Zentrale in Stuttgart (vorgesehen für GA 337d): »Zum Beispiel dürfen wir nicht vergessen, eine Lehre zu ziehen aus einer solchen Tatsache, daß unsere Dreigliederungsxei­tung vor vielen Monaten genau dieselben 3000 Leser hatte, die sie heute noch immer hat.» Und im Dornacher Mitgliedervortrag vom 16. Januar 1921 (in GA 203) wies er auf die Gründe für diese Tatsache hin: «Aber das liegt doch vor, daß unsere Zeitschrift für Dreigliederung seit dem [vergangenenl Mai um fast keinen einzigen Abonnenten vorwärtsgekommen ist. Und dabei sind wir eine Gesellschaft, die Tausende und Tausende von Mitgliedern hat.» Es lag also nicht nur an der mehrheitlich ablehnenden Außenwelt, daß das Ziel einer Tages­zeitung nicht erreicht wurde, sondern gerade auch unter den Anthroposophen stieß sie auf mangelndes Interesse.

236 daß diese Dreigliederungsbewegung aus der Anthroposophischen Gesellschaft herausgewachsen ist: Wohl hatten einzelne Anthroposophen wie zum Beispiel

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Otto Graf von Lerchenfeld oder Emil Molt oder Roman Booi durch ihre Fragen Rudolf Steiner veranlaßt, die Idee der sozialen Dreigliederung in die Öffentlich­keit zu tragen. Aber dazu erklärte Rudolf Steiner im öffentlichen Vortrag vom 4. März 1920 in Stuttgart (vorgesehen für GA 335): «Es ist nicht durch die Laune oder durch die Willkür einzelner Persönlichkeiten der Impuls der Drei-gliederung des sozialen Organismus hinzugefügt worden zu dem, was hier seit Jahrzehnten schon vertreten wird als anthropoiophisch orientierte Geisteswis­senschaft; es hat sich als eine Selbstverständlichkeit ergeben> Ei hat sich so er­geben, daß man empfinden mußte, daß derjenige innerlich unwahr wäre, der nui mit seiner Seele nach dieser Geisteswissenschaft zu streben vorgibt und kein Herz haben könnte für das, was als Soziale Frage die ganze Menschheit durch­bebt und erschüttert oder wenigstens durchbeben und erschüttern sollte>«

236 Gewiß, die Leute haben es einem übelgenommen, wenn zum Beispiel nur für eine bestimmte Anzahl vorbereiteter Leute diese oder jene Zyklen verabreicht worden sind: Zu den Gründen, warum die Privatdrucke von Rudolf Steiners Vorträgen nur an Mitglieder abgegeben wurden, schrieb Rudolf Steiner im XXXV. Kapitel von «Mein Lebenigang« (GA 28): «Es waren dies Nachichrif­ten, die bei den Vorträgen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die

- wegen mangelnder Zeit - nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir wäre ei am liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich gespro­chenei Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so hätte vom Anfange an die Einschränkung >Nur für Mitglieder> nicht zu be­stehen gebraucht.« Im Zusammenhang mit der Neubegründung der Anthropo­sophischen Gesellschaft an Weihnachten 1923 wurde diese Einschränkung fallen gelassen. Bereits im Dornacher Mitgliedervortrag vom 4. März 1923 hatte Ru­dolf Steiner erklärt (in GA 257): «Die alte Art, über die Dinge zu denken, ist heute nicht mehr tunlich. Es gibt durchaus Antiquariate, die Einrichtungen haben, daß man gegen ein Entgelt Zyklen ausborgen kann> f»>] In dieser Bezie­hung ist unser Zeitalter tatsächlich auch geistig demokratisch geworden>«

237 ich habe zum Beispiel den Vortrag gehalten vor den Arbeitern der Daimler-Werke in Stuttgart: Siehe Hinweis zu S.188>

238 Ich wurde gerufen, um einen anthroposophiscben Vortrag zu halten in einem Berliner Spiritistenverein: Es handelt sich um die Berliner Zweigstelle des «Deut­schen Spiritisten-Vereins« mit Hauptsitz in Köln> Der Vortrag fand im Jahre 1904 statt, möglicherweise im November 1904; genauere Anhaltspunkte fehlen aber.

Der Vortrag hat den Leuten so gut gefallen, daß sie mich hinterher zum Präsi­denten gewählt haben: In einem Brief vom 15> Dezember 1904 erhielt Rudolf Steiner die Mitteilung, daß er zum Bezirksleiter des «Deutschen Spiritisten-Vereins Provinz Brandenburg und Berlin« ernannt worden sei> Am 2> Januar 1905 wurde seine Ernennung brieflich noch einmal bestätigt, aber da Rudolf Steiner immer noch nichts von sich hören ließ, erhielt er schließlich den Be­scheid, daß ein gewisser Dr> med. Bernhard Meißner die Bezirksleitung über­nommen habe>

239 in einer kleineren Versammlung gestern: Gemeint ist die dritte Seminarveranstal­tung zu Fragen der wirtschaftlichen Praxis vom 11. Oktober 1920 (in diesem Band).

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239 wo ein Herr, der ganz gründlich im Wirtschaftsleben drinnensteht, sagte: Ver mutlich handelt es sich um den Bankier Adolf Koch; siehe Hinweis zu S.178

die möglichst bald in eine Tageszeitung verwandelt werden muß: Um stärker für die Dreigliederungsidee wirken zu können, war es immer das Ziel von Rudolf Steiner gewesen, die Dreigliederungsxeitung von einer Wochenzeitung in eine Tageszeitung umzuwandeln. Bereits am Stuttgarter Studienabend vom 3. März 1920 (in GA 337a) hatte er deshalb erklärt: »Also es handelt sich darum, so viel für die Dreigliederungszeitung zu arbeiten, die jetzt noch ein Wochenblatt ist, daß durch die eigenen Erträgnisse diese Zeitung in eine Tageszeitung umgewan­delt werden kann.»

240 jetzt wieder einmal die Polen die Oberhand haben; früher machten sie ihre Pläne, als die Russen die Oberhand hatten: Mit dem Zusammenbruch Rußlands und der Mittelmächte entstand auch Polen wieder als selbständiger Staat. Seine Ostgrenze gegenüber Sowjetrußland war allerdings nicht festgelegt und bildete den Gegenstand kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den beiden Län­dern. Trotz weitgehender Zugeständnisse durch die russischen Bolschewisten löste Polen unter dem Oberbefehlshaber Jösef Pilsudski am 26. April 1920 eine Offensive aus, die in der Einnahme von Kiew gipfelte> Am 2. Juni 1920 wurde unter General Michail Tuchatschewskij eine sowjetische Gegenoffensive einge­leitet, und die Rote Armee drang weit in den Westen, bis an die Weichsel nach Warschau, vor; gleichzeitig wurde der Beginn der kommunistischen Revolution in Mitteleuropa verkündet. Durch das sogenannte «Wunder an der Weichsel» konnte am 16. August 1920 der russische Vormarsch aufgehalten und die russi­schen Truppen zurückgedrängt werden. Am 12> Oktober 1920 wurde ein Waf­fenstillstand geschlossen und am 18> März 1921 der Friede von Riga unterzeich­net, wobei die ursprünglichen polnischen Gebietsforderungen weitgehend er-füllt wurden: die polnische Grenze verlief weit im Osten und umfaßte auch große nicht-polnische Gebiete in der Ukraine und in Weißrußland>

dasjenige, was da im Osten aufgeht, nicht besiegt ist mit irgendeinem Polensieg. So, wie die Kräfteverhältnisse sich im russischen Bürgerkrieg entwickelt hatten, war es im Oktober 1920 klar, daß sich das bolschewistische Herrschaftssystem in Rußland endgültig durchsetzen würde.

241 wie ich es vorgestern charakterisiert habe: Während des ersten Frageabends am Sonntag, den 10. Oktober 1920 (in vorliegendem Band).

243 da haben sich die modernen Menschen als wirtschaftsimpotent erklärt, haben das Eisenbahnwesen dem Staat übergeben: In der Anfangszeit war der Eisenbahn-bau in den mitteleuropäischen Ländern privaten Unternehmern überlassen. Spe­kulative Bahnbauten und industrielle Krisen brachten verschiedene Gesellschaf­ten an den Rand des Ruins, so daß der Gedanke einer Verstaatlichung des Eisenbahnnetzes Auftrieb erhielt. Aber auch militärstrategische Uberlegungen spielten dabei eine Rolle. In Österreich begann man in den siebziger Jahren und in Deutschland in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Verstaatli­chung privater Hauptbahnen. In der Schweiz setzte dieser Vorgang etwas später, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, ein.

246 auf die Literatur der Dreigliederung: Zu diesem Zeitpunkt lagen von Rudolf Steiner zwei Bücher über die Dreigliederungsidee vor: »Die Kernpunkte der

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Sozialen Frage» und «In Ausführung der Dreigliederung des sozialen Organis­mus» - eine Auswahl von Aufsätzen, die in der deutschen Wochensehrift »Dreigliederung des sozialen Organismus. erschienen waren. Gerade für diese Zeitschrift hatte er zahlreiche Aufsätze verfaßt. Weitere gewichtige Beiträge erschie­nen in der schweizerischen Zeitschrift «Soziale Zukunft». Zusätzlich zu diesen Büchern und Aufsätzen lag eine ganze Anzahl von Vorträgen vor, die Rudolf Steiner über die Soziale Frage gehalten hatte und die vom Bund für Dreigliede­rung in Stuttgart veröffentlicht worden waren>

247 einen Aufruf zu verfassen «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt»: Siehe Hinweis zu S.202.

wo wir eigentlich nicht wissen, wie wir die Waldoffachule weite'fübren sollen:

Am 20. September 1920 hatte das zweite Schuljahr der Waldorfschule begonnen, aber ihre finanzielle Grundlage war immer noch nicht genügend abgesichert. Im Mai 1920 war zwar ein eigener Trägerverein für die Waldorfichule gegründet worden, um zusätzliche Finanzquellen für die Schule zu erschließen - die Wal­dorf-Astoria A.G. war ja nicht mehr in der Lage, die Schule finanziell allein zu tragen -, aber das genügte nicht, um die Finanznöte der Waldorfschule zu be­seitigen, die - ausgelöst durch den zunehmenden Raum- und Lehrerbedarf wegen der steigenden Schülerzahlen - immer wieder auftraten. Eine stabile finanzielle Grundlage konnte nach Meinung Rudolf Steiners nur ein internatio­nal ausgerichteter Weltsehulverein mit dem entsprechenden finanziellen Rück­halt gewährleisten.

wie wir weiter solche Schulen begründen sollen: Am 16. Oktober 1920, vor den Studenten, wiederholte er noch einmal diese Aussage (in GA 217a): «Ich habe, als die Waldoifschule begründet worden ist, gesagt: Die Gründung ist schön, aber sie hat keine Bedeutung, wenn nicht im nächsten Vierteljahr zehn weitere Schulen mindestens begründet werden, denn dann ist sie erst begründet.» Und in der Tat: bereits in der Versammlung des Dreigliederungibundes vom 10. Juli 1919, also noch vor der Gründung der Stuttgarter Waldorfschule, hatte Rudolf Steiner erklärt (in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Nr.103): »Wie gesagt, man kann in kleinem Stile so etwas machen wie die Waldorfschule ist, mit jemand, der wirklich so tiefes Verständnis hat wie unser Freund Herr Molt für dasjenige, was im Sinne der Dreigliederung zu geschehen hat. Der Einzelne kann segensreich wirken, wenn er eine solche Gründung macht. Aber mit einer solchen Einzelgründung iSt heute das Nötige nicht getan. Heute handelt es sich darum, daß in dem weitesten Umkreis in den Menschen das Bewußtsein ent­steht: Dasjenige, was für eine solche Einzelheit beabsichtigt werden kann, es müßte Allgemeingut der Menschen werden, wenn wir nicht in den Untergang der europäischen Kultur hineinsegeln wollen.. Eine völlige Umgestaltung des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens, das war ja das Ziel, das Rudolf Steiner als notwendig erschien. Und ein wichtiger Schritt in dieser Richtung war die Gründung eines »Kulturrates», eines wirklichen Selbstverwaltungsorgans für ein befreites Geistesleben. Aber die ganzen Kulturratsbestrebungen verliefen im Herbst 1919 im Sande (siehe GA 337a, Hinweis zu S.96)>

wie wir dieses Goetheanum zu Ende führen sollen: Einen Tag vor Beginn der Hochsehulkurse, am 26> September 1920, war zwar der Goetheanum-Bau mit einer Feier eröffnet worden, aber er war noch nicht endgültig fertiggestellt.

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249 ein Weltschulverein in allen Ländern der Zivilisation: Die Idee eines Weltschul-vereins hatte Rudolf Steiner bereits am 24. Juli 1920, im engern anthroposophi­schen Kreis anläßlich einer pädagogischen Konferenz geäußert (in GA 300a):

«Da müssen wir einen Weitschulverein gründen, der im Programm nicht die Unterstützung der Stuttgarter Waldorfschule hat, sondern die Gründung von Schulen nach diesen Prinzipien. Der muß es verantworten, daß er zunächst die Waldorfschule unterstützt.« Die Idee war, die Stuttgarter Schule nicht bloß vor Ort zu unterstützen, sondern aus den Kassen einer weltweit tätigen Organisa­tion zur finanziellen Unterstützung nichtstaatlicher Schulen. Aber da versäumt wurde, diese Idee eines Weltschulvereins mit der laufenden Sammelaktion für die Waldorfschule zu verknüpfen, erachtete es Rudolf Steiner als vorerst nicht mehr sinnvoll, sie von Stuttgart aus weiter zu verfolgen. Es war dann an diesem Frageabend vom 10. Oktober 1920 in Dornach, wo Rudolf Steiner diese Idee erneut aufgriff und sich selber an die Öffentlichkeit wandte. Am 16. Oktober 1920 wiederholte er vor den am Hochschulkurs teilnehmenden Studenten sein Anliegen (in GA 217a): «Da muß ich doch darauf aufmerksam machen, daß das von mir ganz ernsthaft gemeint ist, was ich in diesen Tagen als die Begründung eines Weitschulvereins Ihnen angeführt habe. Den denke ich international gebil­det, so daß er gewissermaßen aus dem Denken und Empfinden der heutigen Zeit heraus geschaffen werden soll.» Der Weltsehulverein war also nicht als eine Art Verband bereits bestehender Waldorfschulen gedacht, sondern als eine breite, über die ganze Welt gehende und viele Tausende von Menschen umfassende Organisation, deren Ziel die Propagierung eines von staatlicher Kontrolle freien Geisteslebens und die Finanzierung vor allem von Schulen und Hochschulen sein sollte. Während der Vortragsreise in Holland vom Februar/März 1921 wie­derholte er seinen Appell zur Gründung eines Weltschulvereins> Aber der Welt­schulverein kam nie zustande. An der Mitgliederversammlung vom 4> September 1921 (noch nicht in GA veröffentlicht) äußerte sich Rudolf Steiner zu den Grün­den dieses Fehlschlags: «So aber [...] mußte ich das erleben, was ich die innere Opposition nenne, die gegen meine Absichten eigentlich in sehr starkem Maße vorhanden ist, als ich in der schärfsten Weise im vorigen Jahr im Herbst in Dornach darauf hinwies, welche Notwendigkeit die Begründung eines Welt­schulvereins wäre, und als ich während meiner holländischen Vortragsreise im Winter dieses Jahres mehrfach auf die Notwendigkeit dieses Weltschulvereins hinwies.»

250 Abenddisputation anläßlich des zweiten anrhroposophischen Hochschulkurses. Im zweiten Hocbschulkurs fanden laut Programm sogenannte Abenddisputatio­nen - »anregende soziale, wissenschaftliche, künstlerische Disputatsonen mit kleinen Pikanterien dazwischen» - statt. Diese Abendveranstaltungen sollten «alle Teilnehmer am Kursus zur freien Disputation über die wissenschaftlichen, künstlerischen, sozialen Fragen vereinigen, die in den Vorträgen und Seminarien nicht abschließend erledigt worden sind.»

Die Idee des Weltschulvereins auf internationaler Basis ist ja vor einigen Wochen in Holland: Im Februar/März 1921 hielt Rudolf Steiner in verschiedenen hollän­dischen Städten eine Reibe von öffentlichen Vorträgen unter dem Titel »Die anthroposophische Geisteswissenschaft und die großen Zivilisationsaufgaben der Gegenwart« (noch nicht in GA) und «Erziehungs-, Unterrichts- und prak­tische Lebensfragen vom Gesichtspunkte anthroposophischer Geisteswissen­schaft« (zum Teil in CA 297a). In den pädagogisch ausgerichteten Vorträgen rief

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er erneut zur Bildung eines Weltschulvereins auf, so zum Beispiel am 24. Febru­ar 1921 in Utrecht (in GA 297a), am 27> Februar in Den Haag (in GA 304) und am 28> Februar in Amsterdam (in GA 297a)>

250 Stinnes-Konzern: Siehe Hinweis zu 5> 182>

251 hier vom Goetheanum aus regelmäßig eine Zeitschrift, zum mindesten eine Wochenachrift, erscheinen zu lassen: Schon im Dezember 1920 hatten Gespräche im Hinblick auf die Gründung einer vom Goetheanum ausgehenden Wochen-schrift stattgefunden. Es war hauptsächlich Roman Boos, der auf eine solche Begründung drängte. In einem Rundschreiben vom März 1921 schrieb er: »Ganz besonders aber möchten wir Ihre Aufmerksamkeit auf eine dringende Notwen­digkeit richten, nämlich in der Schweiz ein Organ zu schaffen, durch das wir unmittelbar in die Fragen eingreifen können, die jeder Tag zur Diskussion stellt. Die Ziele des Goetheanum liegen ja nicht abseits von der Welt, sondern sie liegen mitten drinnen in den Aufgaben, die der gegenwärtigen Menschheit gerade durch die katastrophalen Zustände gestellt sind, wie sie sich immer furchtbarer zuspitzen.» Am 3. Mai 1921, in einem andern Rundschreiben, teilte Roman Boos mit: «Die Zeitschrift würde herausgegeben von Albert Steffen und dem Unterzeichneten. Dr. Steiner würde regelmäßig mitarbeiten. [...] Es fehlt uns nur noch die ökonomische Unterlage für die Herausgabe.» Diese wirtschaft­liche Unterlage lieferte die Futurum A.G., indem sie auf den 1. August 1921 eine neue eigene Abteilung gründete, den «Verlag am Goetheanum». Am 21> August 1921 erschien in diesem Verlag die erste Nummer der geplanten Zeitschrift unter dem Titel «Das Goetheanum. Internationale Wochenschrift für Anthroposophie und Dreigliederung». Alleiniger Redakteur war der Schweizer Schriftsteller Albert Steffen; in einer Sitzung vom 5. Juli 1921 war er von Rudolf Steiner für diese Aufgabe endgültig vorgeschlagen worden. Bons selber kam wegen seiner Erkrankung im Mai 1921 als Mitarbeiter nicht mehr in Frage. Wegen der finan­ziellen Schwierigkeiten der Futurum A.G. übernahm ein Jahr später der Verein des Goetheanum den «Verlag am Goetheanum» und damit die Herausgabe der Goetheanum-Wochenschrift. Diese besteht heute noch; der »Verlag am Goc­theanum« hingegen schlief nach kurzer Zeit ein>

Weltwirtschaftsvereinigung: Gemeint ist ein weltumspannender wirtschaftlicher Trägerverein für ein freies Bildungswesen - etwa im Sinne eines Weltschul-vereins.

An diesen Kurs: Gemeint ist der zweite anthroposophische Hochschulkurs in Dornach, der vom 3. bis 10. April 1921 dauerte. Rudolf Steiner hielt eine Reihe von Vorträgen zu den einzelnen Wissensgebieten und sprach jeweils das Schluß­wort zu den Abenddisputationen (in GA 76).

252 mit einer Art Prospekt an alle Gebildeten: Ein solcher Prospekt ist nie zu­standegekommen.

253 Vor etwas weniger als zehn Jahren waren in Berlin ähnliche Besprechungen:

Einige Tage nach der Generalversammlung der Deutschen Sektion der Theo­sophischen Gesellschaft in Berlin hielt Baron Alphonse von Walleen (1863-1941) am 14. Dezember 1911 eine Rede vor den versammelten Mitgliedern über seine Erfahrungen auf Vortragsreisen in Skandinavien und in England. Er wies auf die Hindernisse hin, die besonders die ausländischen Freunde wegen des

354

theosophischen Rahmens hätten, wenn sie im Sinne der geistigen Absichten von Dr. Steiner arbeiten möchten. Es folgten eine Reihe von Besprechungen, die schließlich am 16. Dezember 1911 im Beschluß gipfelten, einen von der Theo­sophischen Gesellschaft unabhängigen «Bund« zu gründen, der alle Freunde der geistigen Bestrebungen Rudolf Steiners inner- und außerhalb Deutsch­lands umfassen sollte. So hieß es in den »Mitteilungen für die Mitglieder der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft» (»Scholl-Mitteilungen») Nr. XIII vom März 1912: «Der Bund stellt sich zur Aufgabe, alle diejenigen zu vereinigen, welche rosenkreuzerische Geisteswissenschaft pflegen wollen.« Einen eigentlichen Namen hatte der Bund vorläufig noch nicht. Rudolf Steiner wurde gefragt, ob er bereit sei, das Lehramt in einem solchen Bund zu über­nehmen. Er stimmte zu, sofern der Bund »in positiver Weise» begründet würde. Es wurde ein Arbeitskomitee unter dem Vorsitz von Carl Unger zur praktischen Durchführung der Gründung bestellt. Weiter wurde verabredet, bei den Ver­anstaltungen im nächsten Sommer in München zu prüfen, inwieweit eine dau­ernde Organisation geschaffen werden könne. Diese Initiative fand jedoch in dieser Form keine Fortsetzung.

254 Im letzten Herbstkursus: Gemeint ist der erste anthroposophische Hochschul-kurs in Dornach, der vom 26. September bis 16. Oktober 1920 dauerte. Die Beiträge Rudolf Steiners sind enthalten in «Grenzen der Naturerkenntnis», GA 322.

255 Unser Goetheanum ist auch eine Schule, eine freie Hochschule: Siehe GA 337a, Hinweis zu S.75.

256 als in Deutschland geschrieben wurde vom «Vaterlandsverrat« durch Rudolf Steiner und die Anthroposophen: Möglicherweise meint Roman Boos den Hetz­artikel, der Anfang Januar von einem Berliner Zeitungsbüro ausging und in verschiedenen deutschen Zeitungen erschien. Die »Breisgauer Zeitung» vom 5. Januar 1920 (72. Jg. Nr.4) veröffentlichte ihn unter dem Titel »Der Theosoph Steiner als Handlanger der Entente». In diesem Artikel heißt es: «Aus zuverläs­sigen Nachrichten geht einwandfrei hervor, daß der Bund für Dreigliederung die Namen aller angeblich im reaktionären Sinne tätigen Offiziere feststellt und gegen diese Material über völkerrechtiwidrige Handlungen an der Hand von Zeugenaussagen sammelt, das dann der Entente zwecks Auslieferung zugestellt werden soll. Die Richtigkeit derartiger Beschuldigungen ist Herrn Steiner und Genossen vollkommen gleichgültig. Und daß sie sogar vor bewußt falschen Angaben nicht zurückschrecken, beweist die Stelle eines Briefes, in dem es heißt:

Beschuldigungen von Diebstählen sind zu unterlassen, da die Unwahrheit hier leichter nachzuweisen ist. Ebenso darf man keine allzu unglaublichen Beschul­digungen wie Verstümmelung von Kindern erheben.« Gegen diese Verdächti­gungen wurde in der Wochenschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus« (i. Jg. Nr.27) vom 6. Januar 1920 eine Erwiderung von Rudolf Steiner und dem Bund für Dreigliederung veröffentlicht, in der festgestellt wurde, «daß diese Nachricht in jedem Satz eine verleumderische Unwahrheit [...] ist.«

258 Vor 1 1/2 Jahren etwa> da wurden einmal eingeladen von der kantonalen Erzie­hungsdirektion die Lehrer von Basel-Stadt: Aufgrund dieser Einladung hielt

Rudolf Steiner am 27. November 1919 vor den Basler Staatsichullehrern einen

Vortrag mit dem Titel «Geisteswissenschaft und Pädagogik» (in GA 297). Der

Vortrag war durch die Vermittlung von Willy Storrer zustandegekommen. In

355

einem Brief vom 17. November 1919 an Rudolf Steiner schrieb er nämlich:

»Heut vormittag war ich auch beim Vorsteher des Basler Erziehungsdeparte­mentes, Regierungsrat Dr> Hauser, und bei dessen, unserer Sache sehr sympa­thisch gegenüberstehenden Sekretär Dr> Weck> Beide haben sich einverstanden erklärt, die Basler Lehrerschaft vom Erziehungsdepartement Basel-Stadt aus zu einem von Ihnen zu haltenden Vortrag über Volkspädagogik oder ein ähnliches Thema über Pädagogik nach den Gesichtspunkten der Geisteswissenschaft ins Bernoullianum einzuladen»>

258 Im Anschluß daran wurde vom Goetheanum aus ein Kurs: Eine Gruppe von über 60 Teilnehmern fühlte sich von Rudolf Steiners Vortrag so angesprochen, daß sie ihn bat, eine ganze Vortragsreihe über Waldorfpädagogik zu halten. Nachdem Rudolf Steiner diesem Vorhaben zugestimmt hatte, erging eine ent­sprechende Einladung an die gesamte Lehrerschaft Basels und Umgebung. Die sich insgesamt über 14 Abende hinstreckende Vortragsreihe, die unter dem Thema »Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswis­senschaft» stand, begann am 20. April und fand ihren Abschluß am 11. Mai 1920 (GA 301).

Vor längerer Zeit war einmal ein Vortrag in St Gallen: Es handelt sich vermut­lich um den Dreigliederungsvortrag vom 25. Januar 1921, den Rudolf Steiner unter dem Titel «Inwiefern ist die Dreigliederung berufen, aus dem heutigen Chaos herauszuführen?« in St. Gallen gehalten hatte (noch nicht in der GA veröffentlicht).

259 Prospekte von Futurum: Es handelt sich um den Prospekt der Futurum A.G. vom 31. Oktober 1920 zur Erhöhung des Aktienkapitals von Fr. 650000>- auf Fr. 6 000 000.-. Dieser Prospekt wurde in drei Sprachen aufgelegt: deutsch, eng­lisch, französisch. Da die Zeichnungen nicht so schnell eingingen, wie ursprüng­lich erwartet, wurde mit Datum vom 20. April 1921 ein neuer Prospekt aufge­legt, der sich vom alten Prospekt nur insofern unterschied, als das neue Aktien­kapital vorläufig auf Fr. 2 000 000.- begrenzt wurde>

»Bund«: Siehe Hinweis zu S.253.

260 Weltschulverein: Siehe Hinweis zu 5> 249.

261 daß sie eine wirklich freie Schule ist, daß sie nicht einmal einen Direktor hat< sondern daß das Lehrerkollegium eine wirklich repräsentative Gemeinschaft ist:

Siehe GA 337a, Hinweis auf S.314>

was gestern hier vorgebracht worden ist: Am Schluß des Disputationsabends vom 7. April 1921, der im Rahmen des zweiten anthroposophischen Hochschul-kurses veranstaltet wurde, kam die Rede auch auf die gegnerischen Umtriebe des rechtsnationalistischen Generalmajors Gerold von Gleich. Dieser war ein schar­fer Kämpfer gegen Rudolf Steiner und versuchte mit allen ihm zur Verfügung stehenden unwahren und verleumderischen Mitteln, das Ansehen Rudolf Stei­ners in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Seine Gegnerschaft war zum Teil familiär begründet, da er sich nicht damit abfinden konnte, daß sich sein Sohn, Sigismund von Gleich (1896-1953) zur Anthroposophie bekannte.

262 aus jener Broschüre, über die gestern hier gesprochen werden mußte: General von Gleich hatte eine Broschüre verfaßt, die 1921 unter dem Titel «Rudolf Steiner

356

als Prophet. Ein Mahnwort an das deutsche Volk» in Ludwigsburg erschie­nen war. Das von Rudolf Steiner erwähnte Zitat findet sich am Anfang seiner Broschüre und lautet vollständig: »Als fast Vierzigjähriger wurde Herr Steiner um die Jahrhundertwende, die auch in der übersinnlichen Welt der Anthropo­sophie einen Einschnitt bildet, durch Winters Vorträge über Mystik allmählich zur Theosophie hinübergeführt, der er sich, wie erwähnt, 1902 unter Patenschaft der Mrs. Besant anschloß.» Als Antwort auf die Hetzschrift seines Vaters hatte Sigismund von Gleich eine Widerlegung geschrieben: «Wahrheit gegen Unwahr­heit über Rudolf Steiner«, die von der Verlagsabteilung des Kommenden Tages herausgegeben wurde (Stuttgart 1921).

262 Vorrede zu jenen Vorträgen, die ich in Berlin im Winter 1900/1901 gehalten habe: Rudolf Steiner hielt vom 6. Oktober 1900 bis zum 27. April 1901 in der Theosophischen Bibliothek der Gräfin und des Grafen Brockdorff in Berlin einen Vortragszyklus über «Die Mystik». Diese insgesamt 27 Vorträge, von denen keine Nachsehrift vorliegt, bildeten die Grundlage für die von Steiner ausgearbeitete Schrift »Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung» (1901). Der zitierte Satz steht am Anfang des Vorwortes zur ersten Auflage (in GA 7).

264 Was in Stuttgart geschehen ist: Am 6. April 1921 hielt General von Gleich vor etwa 3 000 Zuhörern in der Stuttgarter Liederhalle einen Vortrag über seine Broschüre «Rudolf Steiner als Prophet. Ein Mahnwort an das deutsche Volk». Es handelte sich um eine emotionale, auf allen möglichen Unwahrheiten be­ruhende Verunglimpfung Rudolf Steiners In der Dreigliederungszeitung vom 12. April 1921(2. Jg. Nr.41) berichtete Emil Leinhas über diese Veranstaltung:

«Der Versuch einiger Freunde unserer Bewegung, die Kampfesweise des Herrn von Gleich zu charakterisieren, wurden von esnem vielleicht nicht sehr großen, aber außerordentlich lauten und stimmkräftigen Teil der Zuhörer, die sich in der sumpfigen Atmosphäre der Ausführungen des Herrn von Gleich wohlzufühlen schienen, niedergeschrieen.» General von Gleich war allerdings längst nicht der einzige, der in der Öffentlichkeit als Gegner Rudolf Steiners auftrat. Unterstützt wurde er zum Beispiel von einem gewissen Bruno Roos, der am 21. April 1921 einen Vortrag über die Staatsfeindlichkeit der Dreigliederung hielt.

Als Antwort auf all die verleumderischen Bestrebungen veranstaltete die An­throposophische Gesellschaft und der Bund für Dreigliederung am 25. Mai 1921 einen öffentlichen Vortrag mit Rudolf Steiner, der unter dem Titel «Anthropo­sophie und Dreigliederung. Von ihrem Wesen und zu ihrer Verteidigung« ange­kündigt wurde (vorgesehen für GA 337). Wie die beiden gegnerischen Vorträge fand er ebenfalls in der Stuttgarter Liederhalle statt. Am Schluß seines Vortrages sagte Rudolf Steiner: «Dasjenige, was ich vertrete, vertrete ich aus dem Grunde, weil ich aus der innersten Kraft meiner Seele heraus nichts anderes als dieses vertreten kann und weil dasjenige, was ich vertrete, in mir so lebt, daß ich es vertreten muß. Ist es die Wahrheit, so wird es sich durcharbeiten trotz aller Gegnerschaften, ist es nicht die Wahrheit, was mir allerdings durchaus unwahr­scheinlich ist, dann wird es eben von der Wahrheit abgelöst werden.« In ihrer Nummer vom 31. Mai 1921(2. Jg. Nr.48) berichtete die Dreigliederungszeitung über die Wirkung seiner Worte: «Ein Beifall, wie ihn wohl wenige Zuhörer jemals erlebt haben, folgte diesem eindrucksvollen Vortrag. Dieser Vortrag war weit mehr als ein . Es war eine Tat Rudolf Steiners, eine Abrechnung größten Stils, die allen Zuhörern, soweit sie nicht von vorneherein blinde, haßerfüllte

357

Gegner waren, zum Erlebnis wurde, das einen tiefen und, man kann wohl sagen, unvergeßlichen Eindruck gemacht hat. Alles, was Wahrheitssinn und Wollen des Guten im Menschen ist, mußte sich entzünden an diesem Vor­trag, und man konnte, und zwar nicht nur an den gewaltigen Beifallsstürmen, die an vielen Stellen den Vortrag unterbrachen, fühlen, wie in der Tat ein solches Erleben für den größten Teil der Hörer zu einer Realität wurde.» Von Gleich und Roos, die mit ihrer Anhängerschaft ebenfalls anwesend waren, verließen daraufhin den Saal.

358


359

PERSONENREGISTER

(für die Bände GA 337a und GA 337b)

- ohne Namensnennung im Text

Adler, Viktor a: 111

Andrássy, Gyulá {Julius) Graf von a: 233, 237, 239; b: 91

Auer, Ignaz a:111

Auersperg, Adolf Fürst von 5: 231; b: 86

Auersperg, Carlos (Karl) Fürst von 5: 231; b: 86

Bauer, Otto a:166

Bebel, August a:111

Belcredi, Richard Graf von

5: 230

Berger, Johann Nepomuk 5: 232, 239

Berostein, Eduard 117 5:117

Bethmann Hollweg, Theobald von 5:164; b: 33

Beust, Ferdinand Graf von

5: 237, 239

Bismarck, Otto Fürst von 5: 231; b: 83, 89

Blanc, Louis 5:103

Blumenthal, Oskar b: 48, 104

Brentano, Lujo a:130

Carlyle, Thomas 5: 259

Carneri, Bartholomäus Ritter von b: 88

Cromwell, Oliver 5: 261

Czernin von und zu Chudenitz, Ottokar Graf von

5:154, 164, 236

Damaschke, Adolf

5:196*, 197, 198f, 200, 213f

Dunajewski, Julian Ritter von b: 92

Dzieduszycki, Wojciech (Adalbert) Graf von

5: 234, 239; b: 89

Ebert, Friedrich a:166, 261

Engels, Friedrich

5:106, 116, 123

Erzberger, Matthias b: 33

Fercher von Steinwand {Johann Kleinfercher)

5: 240

Ferdinand I. (Habsburg-Lothringen), Kaiser von Österreich

5: 256

Franz Joseph I. (Habsburg-Lothrin­gen), Kaiser von Österreich

b: 85

Fichte, Johann Gottlieh a: 256

Fourier, Charles

5:103, 104, 109, 123

Gautseh von Frankenthurm, Paul Freiherr

b: 90

Gesell, Silvio

5:190; b: 150, 158 George, Henry

5:197

Giskra, Karl 5: 231, 232

Gleich, Gerold von b: 262

Goethe, Johann Wolfgang von 5:128; b: 48, 59ff, 63, 72, 93

360

Goluchowski, Agenor (der jüngere) Graf von

a: 234

Grégr (Gröger), Edvard (Eduard) b: 88

Grimm, Herman

a: 25sf

Grocholski, Kasimir Ritter von a: 234

Günther, Anton b: 125

Haeften, Hans von b: 34

Haller, Albrecht von a: 128

Hamerling, Robert a: 240

Hartmann, Eduard von b: 62

Hausner, Otto

a: 232, 233, 234, 239, 241; b: 88f Heck, Philipp von

a: 131f, 225<:. Heraklit

b: 62 Herbst, Eduard

a: 232, 241; b: 82f, 84, 88 Heydebrand und der Lasa, Ernst von

a: 188, 200 Hirzel, Ludwig

b: 50 Hohenwart, Karl Graf von

a: 231; b: 86

Ibsen, Henrik b: 108

Jakob {James) I. (Stuart), König von England und Schottland a: 238

Jean Paul (Friedrich Richter) b: 72

Kapp, Wolfgang b: 37

Klopstock, Friedrich Gottlieb a: 268

Kropotkin, Pjotr (Peter) Fürst a: 163

Kühlmann, Richard von a: 237; b: 35

Kully, Maximilian b: 131

Laistner, Ludwig b: 144

Lasker, Eduard

a: 231, 232, 239

Lassalle, Ferdinand a: llof

Lasser von Zollheim, Josef Baron von a: 232, 239

Lenin (Uljanow), Wladimir Iljitsch a: 199, 261; b: 22, 25, 54, 98

Lerchenfeld, Otto Graf von b: 35*

Lichtenberg, Georg Christoph a: 279

Liebknecht, Wilhelm a: 111

Lindau, Paul b: 104

Lindemann, Hugo b: 46*

Lloyd George, David b: 33

Ludendorif, Erich b: 34, 35ff

Lueger, Karl a: 235, 240

Lüttwitz, Walter von b: 115

Lunatscharski, Anatolji Wassiljewitsch b: 76

Marx, Karl

a: 106,110,123, 136,273,275,b:49 Max (von Baden), badischer Thron­folger

a: 262<:., b: 34

Metternich, Clemens Fürst von a: 256

Metzdorff Teschner, Elisabeth b: 113, 131ff

Moellendorff, Wichard von a: 152

Morgan, John Pierpoint a: 272, 275, 281

Morgenstern. Christian a: 214

361

Nietzsche, Friedrich a: 257; b: 62

Noske, Gustav a: 166; b: 116

Palacki, Franz a: 234, 239

Pernestorfer, Engelbert a: 111

Peter (Pjotr) I., der Große (Romanow), Zar von Rußland a: 238f, 241, 261; b: 81f, 89, 92ff

Planck, Reinhold a: 217

Plener, Ernst Freiherr von a: 232, 233; b: 84f, 88

Plener, Ignaz Freiherr von a: 232

Potoeki, Alfred Graf von a: 231; b: 86

Prazák, Alays Freiherr von b: 88, 95

Proudhon, Pierre-Joseph a: 103, 104, 123

Rathenau, Walther a: 30, 64, 265; b: 12sf

Renner, Karl a: 145

Rhodes, Ceeil a: 258f

Richter, Eugen a: 232

Rieger, Frantisek (Franz) Freiherr von a: 234,239; b: 91

Rohm, Karl b: 110, 131

Rollett, Hermann a: 236

Rosegger, Peter a: 31*

Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy Comte de

104,109,123

Saitschick, Robert b: sof

Schenck, Adolf a: 222

Schenck, Fritz a: 222

Schiller, Friedrich von b: 59ff, 63, 72

Schmerling, Anton Ritter von a: 230

Schopenhauer, Arthur b: 62

Schröer, Karl Julius a: 240

Seeley, Sir John Robert a: 253f, 258

Singer, Paul a: 111

Smolka, Franciszek (Franz) b: 88

Sokolnicki, (n. n.) b: 93, 94

Spengler, Oswald a: 282; b: 78

Stammler, Rudolf b: 140

Stein, Ludwig b: 49f, 51

Stresemann, Gustav a: 176

Steiner, Rudolf:

Schriften

- Die Philosophie der Freiheit (GA 4) a: 275

- Vom Menschenrätsel (GA 20) a: 240; b: 88

- Von Seelenrätseln (GA 21) a: 224; b: 63

- Die Kernpunkte der Sozialen Frage

(GA 23)

a: 30, 72, 75, 76, 82, 91, 120, 123,

127, 142, 173, 270;

b: 32, 41, 43, 45, 48, 51, 200, 202,

204, 208, 218

- Aufruf an das deutsche Volk (in

GA 24)

a: 244; b: 202, 247

- In Ausführung der Dreigliederung (in GA 24)

b: 160, 199

- Aufsatz «Schattenputsche und Ideenpraxis» (in GA 24) b: 37

- Aufsatz «Dreigliederung und sozia­les Vertrauen (Kapital und Kredit)» b: 129

362

Vorträge:

- 25. April 1919 Stuttgart (in GA 330) b: 188, 237

- 16. Mai 1919 Stuttgart (in GA 330) a: 22, 71

- 26. Mai 1919 Ulm (in GA 333) a: 89

- 31. Mai 1919 Stuttgart (in GA 330) a: 61

- 28. Juli 1919 Mannheim (noch nicht in GA veröffentlicht)

a: 125

- 21. Mai 1920 Aarau (in GA 297) a: 178

- 8. Juni 1920 Stuttgart (noch nicht in GA veröffentlicht)

a: 180, 185

- 15. Juni 1920 (noch nicht in GA veröffentlicht)

a: 201

- 15. August 1920 (in GA 199) b: 72

Sturm, Eduard a: 233

Suess, Eduard a: 233

Taaffe, Eduard Graf von

a: 231, 236, 240; b: 81, 8sf, 88, 91, 92, 94

Tagore (Thakur), Rabindranath b: 31,108

Thales (von Milet) b: 62

Tetxel, Johannes a: 134

Thun und von Hohenstein, Leo Graf von

b: 90 Tisza, István (Stefan)

a: 232* Tisza, Kálmán (Koloman)

a: 232, 239 Tobler, Georg Christoph

b: 93

Tolstoi, Lrw (Leo) Nikolajewitseh Graf b: 108

Traub, Friedrich a: 223

Treitschke, Heinrich von a: 257f

Trotzki (Bronstein), Lew (Leo) Davidowitsch

b: 22, 54> 98

Varga, Jenö (Eugen) a: 246ff, 263; b: 21ff, 167

Vischer, Friedrich Theodor a: 256f

Weitling, Wilhelm a: 109

Wilhelm II. (von Hohenzollern), deutscher Kaiser und preußischer König

b: 32f

Wilson, Thomas Woodrow

a: 262

363

DISKUSSIONSTEILNEHMER

(für die Bände GA337a und GA 337b)


Baumann, Paul b: 97, 108, 110, 116.117

Benzinger, Max a: 263

Blume, Wilhelm von a: 61, 67, 84; b: 181

Boos, Roman b: 53,64,68, 77,80,117,139,147,148, 149,1S9,175,176,184, 186,190,191, 193,22,250,254,256,257, 258

Conradt, Walter a: 161

Dorfner, Siegfried

a: 155, 161, 186, 191f, 263, 285 Dreidax, Franz

b: 190

Eichenberger, Hermann b: 159

Eriksen, Richard b: 43

Elsas, Fritz a: 47, 52

Geyer, Herr a: 38

Grosheintz, Emil b: 28

Heisler, Hermann a: 161, 220, 225

Herberg, Georg a: 155, 187, 192

Hohlenberg, Johannes b: 254

Husemann, Friedrich b: 258

Ith, Arnold

b: 147,148, 149, 155, 169

Jaeger, Herr a: 54, 56

Kaltenbach, Hans a: 219

Klug, Herr a: 161

Koch, Adolf b: 176

Kolisko, Eugen b: 159

Kretsehmar, Paul a: 161, 162

Kühne, Walter a: 285

Leer, Josef van b: 252, 259, 260

Leinhas, Emil

a: 269; b: 28, 185, 186, 204

Molt, Emil

a: 21, 36, 46, 47, 55, 58, 59, 60, 162, 265

Polzer-Hoditz, Ludwig Graf von a: 230, 231, 236, 237, 238, 241; b: 81, 82, 94, 95

Reitz, Herr a: 58

Riebensam, Herr

a: 32, 35, 42, 43, 45, 46, 47, 48, 53, 54, 57, 60

Rihouët, Simone b: 256

Roser, Herr a: 186, 265, 285

Schaller, Ernst b: 124, 126

Schmiedel, Oskar b: 180, 187

Schmucker, Herr

a: 21, 24, 28, 38, 47, 53

Schwedes, Hans

b: 183

364

Seebohm, Richard a: 162

Stadler, Herr a: 52, 58

Stein, Walter Johannes a: 156, 219, 220, 221.223

Toepcl, Rudolf b: 147

Uehli, Ernst

a: 162; b: 97,106, 108, 111 Unger, Carl

a: 99, 156; b: 175

Vreede, Elisabeth

b: 21, 27, 251, 255, 260

Wallach, Robert Wolfgang a: 187

Weiß, Herr a: 59

Wullschleger, Fritz b: 257 Zimmermann, Werner b: 148

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.