GA 337a

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER DAS SOZIALE LEBEN UND
DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

Soziale Ideen
Soziale Wirklichkeit
Soziale Praxis

Frage- und Studienabende des Bundes
für Dreigliederung des sozialen Organismus
in Stuttgart zwischen dem 25. Mai 1919
und 15. September 1920

GA 337a

1999

Inhaltsverzeichnis


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VORBEMERKUNG DER HERAUSGEBER

Das rücksichtslose, couragierte Verfol­gen der Wahrheit: Das sollte eigentlich als eine Devise, als ein Motto vor die Studien dieser Abende geschrieben werden.

(Vortrag Stuttgart, 30. Juli 1919)

Es war ja eines der herausragenden Kennzeichen für das Wirken Rudolf Steiners, daß es ihm nicht um das Seelenheil von einzelnen Menschen ging, sondern daß er immer die Menschheit als Gesamtes im Auge hatte. Das eigene Tun in Verbindung mit den allgemeinen Zeiterfordernissen zu bringen - das war ihm ein großes Anliegen. So erstaunt es nicht weiter, wenn sich Rudolf Steiner durch die große Gesellschaftskrise nach dem Ende des Ersten Weltkrie­ges veranlaßt fühlte, für eine grundlegende gesellschaftliche Erneuerung zu wirken. In der Einleitung zu seinem Buch «In Ausführung zur Dreigliederung des sozialen Organismus», das im Oktober 1920 erschien, schrieb er (in GA 24):

«Anfang März 1919 ist mein erschienen. Fr wollte in Kürze zum Ausdruck bringen, was nottut, um dem niedergehenden Leben, das in der Weltkatastrophe seine Krankheitserscheinungen enthüllt hatte, gesundende Kräfte zuzuführen. Zahlreiche Persönlichkeiten Deutschlands, Österreichs und eine Anzahl Schweizer haben unter diesen Aufruf ihre Unterschrift gesetzt und damit bezeugt, daß sie die in ihm angesprochenen Äußerungen für etwas hielten, das auf die Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und der nächsten Zu­kunft hinweist. Eine weitere Ausführung habe ich dann diesen Anregungen in meinem Buche gegeben. Um für sie in nach­haltiger Weise einzutreten und das Angeregte im praktischen Leben zur Durchführung zu bringen, ist dann in Stuttgart [..] der begründet worden. »

Der Bund für Dreigliederung wurde am 22. April 1919 in Stuttgart begrün­det - zwei Tage nach der Ankunft Rudolf Steiners in Stuttgart. Seine Anwe­senheit wirkte wie ein zündender Funke für das, was sich in den nächsten Tagen und Wochen zu einer Massenbewegung entwickeln sollte: die Bewegung

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für die Dreigliederung des sozialen Organismus. Im Mai 1919 hatte diese Bewegung einen ersten Höhepunkt erreicht, indem sich vor allem die Arbei­terschaft im Umkreis von Stuttgart für die Dreigliederungsidee begeistern ließ. Auslösend für diese Begeisterung war Steiners Vortrag vom 25. April 1919 vor den Arbeitern der Daimler-Werke: «Was und wie soll sozialisiert werden?» (in GA 330). Für viele Menschen von damals bedeutete Sozialisierung auch die Einrichtung von Betriebsräten in den einzelnen Unternehmungen. Dieser Gedanke wurde vom Bund für Dreigliederung aufgenommen, indem versucht wurde, die Arbeiter für die Einführung einer autonomen, assoziativ gestalteten Betriebsräteschaft im Sinne der Dreigliederung zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurden Diskussionsabende mit Rudolf Steiner und mit den Arbeiter­ausschüssen der großen Betriebe Stuttgarts veranstaltet; die beiden ersten Diskussionsabende fanden am 22. Mai und am 28. Mai 1919 statt (in GA 331).

Im damaligen Deutschland herrschte eine ausgeprägte Spaltung zwischen der Arbeiterschaft und dem Bürgertum. Um nun der Gefahr der sozialen Einseitigkeit zu begegnen und um auch Menschen aus bürgerlichen Kreisen für die Dreigliederungsidee zu gewinnen, wurden zwei Frageabende für ein bürgerliches Publikum durchgeführt, für die sich Rudolf Steiner ebenfalls zur Verfügung stellte: am 25. Mai für einen engeren Kreis und am 30. Mai 1919 für eine breitere Zuhörerschaft. Am folgenden Tag, am 31. Mai 1919, hielt Rudolf Steiner dann den wichtigen Vortrag «Der Impuls zum dreigliederigen Orga­nismus - kein bloßer Idealismus, sondern praktische Forderung des Augen­blicks» (in GA 330), der auf ein bürgerliches Publikum ausgerichtet war und sozusagen das Gegenstück zum «proletarischen» Daimler-Vortrag darstellte. Und nicht nur das: um der einseitigen Betonung des Wirtschaftlichen entge­genzuwirken, wurde am 29. Mai 1919 vom Bund für Dreigliederiing die erste Versammlung zur Begründung eines freien, nicht-staatlichen Kulturrates ein­berufen (in GA 330a).

Erreichte die Dreigliederungs-Bewegung in diesen letzten Maitagen ihren Höhepunkt, zeigte sich bereits ab Mitte Juni1919 deutlich, daß ein sofortiger Durchbruch - wegen der zunehmenden Gegnerschaft aus allen politischen Lagern - nicht zu erzielen war. Auch wenn die äußeren Aktivitäten vorerst weitergeführt wurden, drängte sich doch eine innere Neuorientierung auf. Es entstand das Bedürfnis nach einer Vertiefung der Dreigliederungsidee. Am 17. Juli 1919, zu Beginn des siebenten Diskussionsabends mit den Arbeiteraus­schüssen (in GA 331), teilte der Leiter der Versammlung mit, daß beabsichtigt sei, «Studienabende einzuführen, an denen Erläuterungen zur Idee der Drei-gliederung des sozialen Organismus gegeben werden sollen und an denen insbesondere das Buch gründlich bespro­chen werden soll.»

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Der erste solche Studienabend, der vom Bund für Dreigliederung veran­staltet wurde, fand am 30. Juli 1919, an seinem Sitz in der Champignystraße 17 (heute Heinrich-Baumann-Straße) statt. Damit war eine Institution begrün­det worden, die über die nächsten zwei Jahre Bestand haben sollte. Am ersten Studienabend war Rudolf Steiner persönlich anwesend. Mit seinem einleiten­den Vortrag zur Geschichte der sozialen Bewegung wollte er für die Anwesen­den einen inneren Orientierungspunkt setzen. Aus dem Verständnis der gro­ßen sozialen Zusammenhänge sollte die Kraft gewonnen werden für die Weiterarbeit. Rudolf Steiner (in diesem Band):

«Das aber müssen wir uns sagen, daß wir ernstlich arbeiten müssen, sonst werden wir nicht überführen unser Wollen in die TaL Und darauf kommt es an, daß wir unser Wollen in die Tat überführen. [...] Denn nichts anderes kann vom Wollen zur Tat führen, als das rücksichtslose, couragierte Verfol-gen der Wahrheit. Das sollte eigentlich als eine Devise, als ein Motto vor die Studien dieses Abends geschrieben werden. »

Was bedeutete nun diese Forderung - das Suchen nach dem Wahrheitskern einer Sache - konkret für die geplante Studienarbeit? Für Rudolf Steiner konnte das nur heißen: von einer bestimmten Sache einen wirklichen Begriff entwickeln, einen «Begriff mit Tatsachenlogik». Was er meinte, erlauterte Rudolf Steiner am Beispiel des Kapitalbegriffes. Kapital etwa als «aufgespei­cherte Arbeit» zu definieren, war für ihn kein Wirklichkeitsbegriff; zu einem solchen konnte nur die Aussage führen: «Kapital verleiht die Macht, jederzeit neu entstehende Arbeit in seinen Dienst zu stellen». Und das erhoffte sich Rudolf Steiner von diesen Studienabenden, daß die Teilnehmer die in den «Kernpunkten» veranlagte lebendige Begrifflichkeit herausarbeiten würden. Rudolf Steiner in seinem Vortrag vom 30. Juli 1919: «Und wer dann dazu beitragen kann, [..]zu verstehen> was die Denkweise, die Grundlage dieses Buches ist, der wird sehr Gutes beitragen zu diesen Studienabenden.»

In der Folge fanden nun regelmäßig solche Studienabende statt. Im Rund­brief Nr. 14 des Dreigliederungsbundes vom ii. August 1919 heißt es im Hinblick auf den Erfolg dieser Abendveranstaltungen: «Die Studienabende nehmen einen regen, recht günstigen Verlauf, und es kommen mehr Teilneh­mer, als wir erwartet haben. Das Interesse, in die Einzelheiten des Buches einzudringen, ist wohl deshalb groß, weil die Mitarbeiter inzwischen gesehen haben> wie ungünstig es ist, wenn sie bei vorkommenden Frage nicht genaue­stens Auskunft geben können.» Der Zustrom der Interessenten hielt an, so daß man sich schließlich gezwungen sah, die Studienabende ab 15. Oktober 1919 in einen größeren Saal zu verlegen. In einem Rundbrief des Bundes schrieb

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Geschäftsführer Hans Kühn: «Nachdem die vor einigen Wochen begonnenen Studienahende über einen immer größe­ren Umfang anzunehmen scheinen, haben wir dieselben in den großen Saal der Landhausstraße 70 verlegL »

Die ersten Abende waren dem allgemeinen Studium der «Kernpunkte» gewidmet. Fast gleichzeitig mit der Verlegung des Versammlungslokals wurde unter den Teilnehmern der Wunsch laut, die Abende einem ausgewählten Problem zu widmen. So wurde jeweils ein einführendes Referat gehalten, an das sich eine Diskussion anschloß. Damit erhielt das Gespräch einen größeren Raum. Diese neue Form wurde ab dem 11. Studienabend, das heißt ab 22. Oktober 1919, eingeführt. Im Rundbrief Nr. 26 vom 5. November 1919 wurde darüber berichtet: «Auf Anregung der Teilnehmer wird jetzt regelmäßig von verschiedenen Persönlichkeiten ein Referat über irgendein Thema übernom­men und darüber nachher diskutiert. Solche Themen sind zum Beispiel , , , , und derglei­chen oder allgemeine Wirtschaftsthemen wie zum Beispiel , worüber kürzlich einer unserer auf wirtschaftlichem Gebiet gut unterrichteten Freunde referierte. »

Wurden diese Studienabende zunächst im Namen des - gesamtdeutschen -Bundes für Dreigliederung veranstaltet, übernahm im April 1920 die erst zu diesem Zeitpunkt gegründete Dreigliederungs-Ortsgruppe Stuttgart die Ver­antwortung für diese Abende, die weiterhin regelmäßig an der Landhausstraße 70 stattfanden. Nach wie vor wurde ein kurzer Vortrag über ein bestimmtes Gebiet der Dreigliederung gehalten, worauf die Gelegenheit zu freier Ausspra­che geboten wurde. Emil Leinhas als Vertreter der Stuttgarter Ortsgruppe schrieb an die Mitglieder: «Die schweren Zeitereignisse bestätigen immer mehr die Notwendigkeit einer völligen Neugestaltung unseres sozialen Lebens durch die Dreigliederung. In einer solchen Zeit müssen wir es als unsere schwere, aber auch große und schöne Aufgabe betrachten, die Menschen mit dem rettenden Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus vertraut zu machen. »Und er schloß mit dem Appell: «Wir hoffen, daß auch Sie sich an dieser Arbeit recht rege beteiligen werden.»

Aber die Situation innerhalb der Dreigliederungsbewegung hatte sich ent­schieden verändert. Es war nun endgültig klar, daß sich die Dreigliederung auf gesamtgesellschaftlichen Gebiet vorläufig nicht durchsetzen ließ. Deshalb waren seit Oktober 1919 Bestrebungen im Gange, wirtschaftliche Muster-unternehmungen zu begründen, die durch ihre ganz neue Geschäftspraxis beispielgebend wirken sollten. Und diese Bemühungen hatten zunächst Erfolg:

am 13. März 1920 war in Stuttgart die Aktiengesellschaft «Der Kommende

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Tag> gegründet worden. Die Dreigliederungsbewegung war damit vor die Aufgabe gestellt, wenigstens für dieses Unternehmen ein möglichst günstiges Umfeld zu schaffen. Und das bedeutete: Überzeugungsarbeit leisten, die Dreigliederungsidee in möglichst viele Köpfe bringen. Und für die Schaffung eines solchen Ideenfundamentes sollten die regelmäßigen Studienabende einen wichtigen Beitrag leisten.

Natürlich konnte Rudolf Steiner nicht an all diesen Studienabenden teil­nehmen. Aber immer, wenn er sich in Stuttgart aufhielt, besuchte er diese Abende und beteiligte sich an den Diskussionen. In der Zeitspanne von 1919 bis 1920 waren es insgesamt sieben Studienabende, an denen er teilnahm oder wo er sogar selber den Hauptvortrag hielt. Die Themen waren sehr weitge­spannt: Sie reichten von der historischen Analyse des politischen Tagesgesche­hens bis zu Fragen der langfristigen Strategie in der Überzeugungsarbeit. Alle die Äußerungen von Rudolf Steiner sind im vorliegenden Band (GA 337a) wiedergegeben. Auch im Jahre 1921 wurden die Studienabende durch die Stuttgarter Ortgruppe zunächst weitergeführt, aber wegen anderen wichtigen Veranstaltungen oder aus anderen Gründen mußten sie oft ausfallen. In einem Inserat vom 7. Juni 1921 zum Beispiel gab die «Ortsgruppe Stuttgart des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus» bekannt: «Die Studien-abende fallen bis auf weiteres wegen den Bauarbeiten in der Landhausstraße 70 aus.» So kam es nach 1920 nie mehr zu einer Teilnahme Rudolf Steiners an einem Studienabend.

Wie lange diese von der Stuttgarter Ortsgruppe noch fortgeführt wurden, ist nicht bekannt. Es ist sehr gut möglich, daß nach der Beendigung dieser Umbauarbeiten die Studienabende in der bisherigen Form nicht wieder aufge­nommen wurden, war doch nach den verschiedenen erfolglosen Bemühungen

- zum Beispiel dem Fehlschlag der Oberschlesischen Aktion Anfang 1921 -die Bereitschaft der Menschen immer stärker abgeklungen, sich weiter für die Dreigliederungsidee einzusetzen.

Hatte Rudolf Steiner am ersten Studienabend vom 30. Juli 1919 noch gehofft, daß sich durch diese Studienarbeit «Gedanken, die Tatenkeime in sich tragen» fruchtbar in die Welt hineinstellen ließen, so äußerte er am 10. September 1921, in der Versammlung der Betriebsräte des Kommenden Tages, weniger hoffnungsfroh. Der Weg «zur sachgemäßen Behandlung der Fragen» war für ihn noch zu wenig gefunden worden, und er bemerkte am 10. September 1921 in einer Versammlung den Betriebsräten des Kommenden Tages (in GA 337d):

«Bei den früheren Studienabenden zum Beispiel hätte man Tagesfragen

behandeln sollen anhand der und nicht über die

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selbst diskutieren sollen. Es wäre heute notwendig, diese Studienahende in

der richtigen Weise weiterzuführen. »

Wie ist diese Äußerung von Rudolf Steiner zu verstehen? Er hatte ja darauf hingewiesen, daß die sozialen Ideen nicht nur richtig, sondern auch wirklich­keitsgemäß sein müßten. Um solche Ideen zu verwirklichen, brauche es aber

- so in dieser Versammlung vom 10. September 1921 - das Vertrauen von Mensch zu Mensch: «Nur mit Vertrauen können wir weiterkommen. » Offen­bar sah Rudolf Steiner im Behandeln der Tagesfragen die Möglichkeit, den Blick für das Wirklichkeitsgemäße, Sachgemäße zu schärfen und damit auch die Grundlage für das Entstehen von sozial tragenden Vertrauensverhältnissen zu schaffen. Ein couragiertes Verfolgen der Wahrheit kann ja letzten Endes nur beides beinhalten.

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I FRAGEABENDE DES BUNDES FÜR DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

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ERSTER FRAGEABEND Stuttgart, 25. Mai 1919

Fragen zur Dreigliederung des sozialen Organismus I

Emil Molt: Ich habe die Ehre, Sie heute Abend zu begrüßen und Ihnen zu danken für den zahlreichen Besuch, der uns zeigt, daß unsere Einladung auf den richtigen Boden gefallen ist. Der «Bund für Dreigliederung des sozia­len Organismus» hat es für richtig gehalten, eine Anzahl von Persönlich­keiten auf den heutigen Abend hierher einzuladen, um alle die Fragen, die der einzelne von Ihnen auf dem Herzen hat - Fragen, die sich zum Beispiel ergeben haben aus den Vorträgen - vorzubringen, damit diese Fragen durch Herrn Dr. Steiner selbst geklärt werden können. Wir sind der Mei­nung, daß die Vorträge, die seit vier bis sechs Wochen hier in Stuttgart gehalten werden, nicht nur gehalten werden, um etwas Interessantes an die Hörer heranzubringen, sondern vor allen Dingen, um in den Hörern etwas reifen zu lassen, das zu Taten werden kann. Wir sind auch der Meinung, daß, um eine solche Bewegung ins Leben zu rufen, es nicht genügt, wenn nur einige wenige Menschen als Triebfeder da sind, sondern daß wir Mitarbeiter brauchen aus allen Schichten der Bevölkerung.

Nun bitte ich Sie, das Wort zu ergreifen, und ich bitte Herrn Dr. Stei­ner, alle Fragen, die sich ergeben, zur Beantwortung zu bringen.

Herr Dr. Schmucker: Ich bemerke zunächst, daß ich als reine Privat-person frage. In der Resolution, die bei den verschiedenen Vorträgen gefaßt worden ist, wird die Regierung aufgefordert, Herrn Dr. Steiner zu berufen, so schnell als möglich die von ihm propagierte Dreigliederung des sozialen Organismus durchzuführen. Nun muß ich ehrlich gestehen, daß ich noch nicht Zeit genug gehabt habe, mich in sein Buch zu vertiefen und alle Vorträge zu verfolgen. Ich bitte also um Entschuldigung, wenn ich durch meine Frage verrate, daß ich nicht weiß, ob Herr Dr. Steiner vielleicht schon Stellung genommen hat zu der Sache, die mir am Herzen liegt.

Meine Frage: Nehmen wir an, die Regierung stellt sich eines Tages auf den Standpunkt, wir wollen mit Herrn Dr. Steiner zusammenarbeiten; nehmen wir an, Herr Dr. Steiner kommt in irgendein Ministerium, zum Beispiel ins Arbeitsministerium, er wird in eine Stube gesetzt, die reichlich

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mit Regierungspapieren und Kommentaren ausgestattet ist, er findet also namentlich alle die Gesetzbücher vor, die sich mit der Lösung der sozialen Frage beschäftigen, zum Beispiel das Arbeiterschutzgesetz, das Gesetz über die Angestelltenversicherung und so weiter, vor allem aber die vielen Ge­setze, die nach der großen Umwälzung von der neuen Regierung zutage gefördert worden sind, und die doch alle in eine Richtung gehen, nämlich in die Richtung, möglichst viel von den sozialen Wünschen der Arbeiter-und Angestelltenschaft zu befriedigen. Wie stellt sich nun Herr Dr. Steiner diese Arbeit vor - die Überführung der bisherigen Regierungsweise in die zukünftige? Was soll geschehen mit den jetzigen Volksvertretungen, mit den Landesversammlungen, mit der Nationalversammlung?

Rudolf Steiner: Sie haben die Frage angeschnitten von einer ge­wissen Seite her, von der Regierungsseite her. Daher kann ich sie auch nur von dieser Seite her beantworten. Und da stellt sich dann die Antwort zunächst so dar, daß man selbstverständlich bei der ersten Regierungshandlung noch absehen müßte von sehr vielem, das erst geschehen könnte in der Folge dieser ersten Regierungs­handlung.

Als erste Regierungshandlung würde ich mir etwas zu denken haben - nicht wahr, wir reden ja natürlich hier ganz offen -, was selbstverständlich mit der Frage wenig zu tun hat, was ich machen würde, wenn ich, meinetwillen, ins Arbeitsministerium gesetzt würde, dadrinnen Gesetzbücher und dergleichen vorfände und nun dort weiterzuarbeiten hätte. Ich bemerke da nur zum voraus for­mell, daß ich mit der Abfassung der Resolution, von der Sie spre­chen, nicht das Geringste zu tun gehabt habe. Ich würde diese Interpretation der Resolution nicht annehmen können, sondern nur meinen Standpunkt charakterisieren können zu dieser Frage.

Zum Beispiel würde ich zunächst feststellen müssen, daß ich überhaupt in ein Arbeitsministerium durchaus nicht hineingehöre, daß ich da nichts zu tun hätte, aus dem einfachen Grunde, weil es ein Arbeitsministerium innerhalb der einheitlichen staatlichen Ge­meinschaft in der nächsten Zukunft schon nicht mehr geben kann. Daher habe ich neulich einmal davon gesprochen in einem Vortrag, daß die erste Regierungshandlung darin bestehen müßte, die Initiative

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zu verschiedenen Dingen zu ergreifen, um damit zunächst einmal eine Grundlage für [das weitere Vorgehen] zu schaffen.

Erstens muß man verstehen, daß eine heutige Regierung gewisser­maßen die Fortsetzung desjenigen ist, was sich als Regierung aus frü­heren Zuständen ergeben hat. In der gradlinigen Fortsetzung der früheren Zustände liegt aber lediglich ein Teil dieser Regierung, und zwar derjenige, der etwa umfassen würde das Justizministerium, das Ministerium des Innern - für innere Sicherheit - und das Ministe­rium für Hygiene. Diese Dinge würden in der Fortsetzung desjeni­gen liegen, was aus früheren Regierungsmaximen sich ergeben hat. Für alles übrige müßte eine solche Regierung die Initiative ergreifen, ein Liquidierungs-Ministerium zu werden, das heißt ein Ministe­rium, das nach links und nach rechts bloß die Initiative ergreift, um den Boden zu schaffen für ein freies Geistesleben, das auf seiner eigenen Verwaltung und Verfassung beruhen würde und das sich aus sich selbst heraus zu organisieren haben würde, wenn der Übergang überwunden ist von den jetzigen zu den folgenden Zuständen. Da würde diese Verwaltung auch eine entsprechende Vertretung haben, die dann natürlich nicht so gestaltet sein könnte wie die heutigen Volksvertretungen, sondern die herauswachsen müßte aus den be­sonderen Verhältnissen des geistigen Lebens. Das würde sich bilden mussen rein aus der Selbstverwaltung des geistigen Lebens heraus; es kommt dabei besonderes das Unterrichts- und das Kultuswesen in Betracht - das müßte nach der einen Seite hin abgegeben werden an die Selbstverwaltung des geistigen Lebens.

Nach der anderen Seite müßte wiederum ein Liquidierungs-Ministerium an das autonome Wirtschaftsleben alles das abgeben, was zum Beispiel Verkehr und Handel ist; auch das Arbeitsmini­sterium müßte seine Verwaltung finden in Organisationen, die sich aus dem Wirtschaftsleben herausbilden würden. Das wären natür­lich sehr radikale Dinge, aber von dieser Seite aus können das nur radikale Dinge sein. Erst dann würde ein Boden geschaffen sein für irgendeine Behandlung von konkreten Fragen.

Mit dem, was ich jetzt auseinandergesetzt habe, wird ja nichts geändert mit Bezug auf das, was von unten herauf gebaut ist. Es ist

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nur der Weg angegeben, auf dem aus dem bereits Bestehenden heraus Neues geschaffen werden kann. Dann erst, wenn jene Organisationen aus dem Wirtschaftsleben heraus geschaffen wären, welche das fortsetzen würden, was in den von Ihnen angeführten Gesetzbüchern steht, dann erst könnte [weiteres] in Angriff ge­nommen werden. Das würde erst ein Schritt sein, der nachher kommen könnte. Ich denke mir nicht ein Programm, sondern eine Aufeinanderfolge von Schritten, die alle reale Taten, reale Vorgänge sind. Alles, was ich in meinen Büchern und Vorträgen meine, sind nicht Angaben, wie man es machen soll, sondern wie die Verhält­nisse geschaffen werden sollen, damit die Menschen in die mögli­chen Zusammenhänge hineinkommen, um die Dinge zu schaffen. Wirtschaftliche Gesetze können nur aus dem Wirtschaftsleben selbst herauswachsen, und nur dann, wenn in dem Wirtschafts­leben alle diejenigen Korporationen in ihren Impulsen zum Aus­druck kommen, die aus den einzelnen konkreten Verhältnissen des Wirtschaftslebens heraus etwas beitragen können zur Gestaltung dieses Wirtschaftslebens selbst.

Also von seiten der Regierung würde ich eben das als ersten Schritt betrachten: zu verstehen, daß es sich um eine Liquidie­rungs-Regierung handeln muß.

Ich bin gerne bereit, auf weitere spezielle Dinge, die sich daran anknüpfen, einzugehen.

Herr Dr. Schmucker: Angenommen, man würde zur Regelung des wirt­schaftlichen Lebens eine Art von Selbstverwaltung bekommen. Könnten zu dieser Selbstverwaltung die Betriebsräte, die jetzt nach dem Reichsgesetzes-entwurf eingeführt werden sollen für die einzelnen Betriebe, als Mittel dienen, wenn - was jedenfalls die Absicht ist - die Betriebsräte nach oben ausgebaut würden, etwa durch eine Zusammenfassung der württembergi­schen Betriebsräte in einen Landesarbeiterrat oder Landesbetriebsrat und als höchste Spitze zu einem Reichsbetriebsrat oder Reichswirtschaftsrat? Der Gesetzentwurf braucht den Ausdruck «Betriebsrat» für eine Vertre­tung, die eine reine Arbeitervertretung würde, in der Unternehmer nicht darin sein würden. Wie der Betriebsrat mit dem Unternehmer zusammen-arbeitet, so könnten auch in der höheren Landesinstanz Unternehmer und

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Arbeitnehmer zusammensitzen, und dann würden in einem Reichswirt­schaftsrat auch nicht bloß Arbeitnehmer, sondern auch Unternehmer ver­treten sein, so daß auch hier wieder eine paritätische Vertretung vorhanden wäre. Könnte Herr Dr. Steiner den Gedanken gangbar finden, daß mit einer solchen Organisation ein Teil der Wünsche des Wirtschaftslebens er­füllt würde und daß diesen wirtschaftlichen Selbstverwaltungs-Korporatio­nen alle weiteren Aufgaben zugewiesen würden, die nach Meinung von Herrn Dr. Steiner von Wirtschaftskorporationen als Selbstverwaltungs­Korporationen zu besorgen wären?

Rudolf Steiner: Ich bitte, die paar Einleitungsätze, die ich sagen werde, nicht als Abstraktionen aufzufassen, sondern als Zusam­menfassung von Erfahrungen. Diese können eben nur in solchen Sätzen zusammengefaßt werden.

So wie sich die Struktur des Wirtschaftslebens entwickelt hat, so leidet dieses Wirtschaftsleben daran, daß eine Harmonisierung der Interessen innerhalb der bestehenden Struktur gar nicht möglich ist. Ich will nur einiges davon andeuten. Unter der Entwicklung unseres Wirtschaftslebens wird zum Beispiel der Arbeiter gar nicht interessiert an der Produktion - ich sehe ab von der wirklich tö­richten Interessiertheit etwa durch Gewinnbeteiligung, die ich für unpraktisch halte. Der Arbeiter ist am Wirtschaftsleben, so wie die Dinge heute liegen, lediglich interessiert als Konsument, während der Kapitalist wiederum im Grunde genommen am Wirtschafts­leben nur interessiert ist als Produzent, und auch nur wiederum als Produzent vom Standpunkt des Ertrages - das ist sein Standpunkt, wirtschaftlich gesehen, es kann nicht anders sein. So haben wir heute gar keine Möglichkeit, eine wirkliche Harmonisierung der Konsumenten- und Produzenteninteressen irgendwie zu organisie­ren; sie ist nicht drinnen in unserer wirtschaftlichen Struktur.

Was wir erreichen müssen, ist, daß wir tatsächlich diejenigen Menschen, die an der Gestaltung der Wirtschaftsstruktur beteiligt sind, gleichermaßen interessieren für Konsum und Produktion, so daß bei niemandem, der gestaltend eingreift - nicht nur durch Urteil, sondern durch Tätigkeit -, ein einseitiges Produktions- oder Konsuminteresse bloß vorhanden ist, sondern daß durch die Organisation

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selbst gleichermaßen Interesse vorhanden ist für beides. Das ist nur dann zu erreichen, wenn wir in die Lage kommen, aus dem Wirtschaftsleben heraus selbst, und zwar aus allen Formen des Wirtschaftslebens heraus, die Menschen allmählich zunächst zur Bildung von kleinen Korporationen kommen zu lassen, die sich natürlich dann weiter zusammensetzen. Korporationen müssen es sein, aus dem Grunde, weil Vertrauen festgesetzt werden muß. Das ist nur dann möglich, wenn größere Korporationen einheitlich aus kleineren allmählich aufgebaut werden, also nur dann, wenn wir aus allen verschiedenen Formen des Wirtschaftslebens heraus die Persönlichkeiten mit ihren Urteilen und auch mit ihrem auf der wirtschaftlichen Grundlage bedingten Einfluß haben, die allseitig durch die Eignung für die Leitung des Wirtschaftslebens als solche sozial wirken. Wenn wir also sozialisieren wollen, so können wir das Wirtschaftsleben nicht sozialisieren durch Einrichtungen, son­dern nur dadurch, daß wir die Menschen in der geschilderten Weise interessieren können an den Einrichtungen und sie fortwährend teilnehmen an diesen.

Daher betrachte ich es heute als das Allernotwendigste, daß wir uberhaupt nicht Gesetze schaffen, durch welche Betriebsräte ein­gesetzt werden, sondern daß wir die Möglichkeit haben, aus allen Formen des Wirtschaftslebens heraus Betriebsräte zu schaffen - so daß sie zunächst da sind - und aus diesen Betriebsräten hervor­gehen zu lassen eine Betriebsräteschaft, die erst einen wahren Sinn dann hat, wenn sie die Vermittlung bildet zwischen den einzelnen Produktionszweigen. Eine Betriebsräteschaft, die bloß für einzelne Zweige da ist, hat nicht viel Bedeutung, sondern erst, wenn haupt-sachlich zwischen den Produktionszweigen, die in Wechselwir­kung stehen, die Tätigkeit der Betriebsräte sich entfalten wird, dann haben sie einen Sinn.

Ich sagte deshalb: Der einzelne Betriebsrat hat eigentlich mehr oder weniger im Betrieb nur einen Sinn, wenn er eine informato­rische Bedeutung hat. Das, was aus dieser Betriebsräte-Idee ge­macht werden muß im Wirtschaftsleben, das kann eigentlich nur die Betriebsräteschaft als ganzes machen, denn es kann in der Zukunft

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nur ein Segen für die einzelnen Betriebe resultieren, wenn die Betriebsräte hervorgehen aus der Struktur des ganzen Wirtschafts­lebens. So denke ich mir, daß tatsächlich in der Betriebsräteschaft als ganzes das Schwergewicht liegt, also in dem, was zwischen den Betriebsräten der einzelnen Fabriken verhandelt wird, und nicht in dem, was nur in den einzelnen Fabriken geschieht.

Dann aber kann ich mir nur einen Segen von dieser Einrichtung versprechen, wenn diese Betriebsräte - die natürlich auf Grundlage der bestehenden Verhältnisse eingerichtet werden müssen, die nicht aus blauen Wolkenkuckucksheim-Hoffnungen hervorgehen dür­fen, die aus dem, was heute existiert, hervorgehen müssen -, wenn sie zum Beispiel gewählt sind aus allen Arten der irgendwie am Betrieb Beteiligten. Ich will nicht von «Unternehmer» und «Ar­beitnehmer» sprechen, aber von Menschen aus dem Kreis all der­jenigen, die nun wirklich mit geistiger oder physischer Arbeit an dem Betriebe beteiligt sind. Also all das, was am Betrieb teilnimmt, würde die Grundlage bilden, um solche Räte aus sich heraus zu gestalten. Dadurch würden selbstverständlich, wenn man aus den wirtschaftlichen Verhältnissen die Sache so angreifen würde, die einsichtigen bisherigen Arbeitgeber in ihrer Eigenschaft als geistige Leiter drinnen sein, und wir würden eine Betriebsräteschaft haben, die zunächst wenigstens nicht von allen [Bereichen] gewählte Ver­treter hätte - das würde erst nach einiger Zeit der Fall sein -, die aber die Interessen der verschiedensten Leute, die am Wirtschafts­leben beteiligt sind, vertreten könnte. Ich könnte mir aber aller­dings nur denken, daß eine solche Betriebsräteschaft ihr Haupt­augenmerk trotzdem auf die Produktionsbedingungen richten würde, so daß ich mir eigentlich nicht denken kann, daß eine bloße Betriebsräteschaft schon etwas Bedeutungsvolles wäre. Ich kann mir nur denken, daß außer der Betriebsräteschaft - wobei ich den Einwand nicht übersehe, daß man sagen wird: Wo soll noch gear­beitet werden, wenn das alles gemacht werden soll in der Praxis? -ich kann mir nur denken, daß die Betriebsräte ergänzt werden durch Verkehrsräte und durch Wirtschaftsräte, weil die Betriebsrä­teschaft vorzugsweise mit der Produktion zu tun haben wird, aber

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die Wirtschaftsräteschaft mit der Konsumtion im weitesten Sinne. Zum Beispiel würde die Konsumtion auch zu umfassen haben all dasjenige, was wir vom Ausland konsumieren, was man einführt; alles Eingeführte würde der Wirtschaftsräteschaft unterstehen. Ich will nicht behaupten, daß [damit] heute schon alles musterhaft wäre, aber es sind dies die drei wichtigsten [Arten von] Betriebs-räten, die zunächst dasein müssen: Betriebsräteschaft, Verkehrs­räteschaft, Wirtschaftsräteschaft. Dazu würde nur ein Flügel der Regierung die Initiative zu ergreifen haben, [sie würde aber] keine Gesetze zu schaffen haben, sondern [müßte] nur zusehen, diese Betriebsräte auf die Beine zu stellen. Diese müßten dann anfangen, sich ihre Verfassung zu geben, also das zu schaffen, was aus dem unabhängigen Wirtschaftsleben herausfließt, was sie darin erfahren haben. Die Konstitution der drei Räteschaften würde ganz aus den Verhältnissen selbst heraus sich ergeben. Das ist dasjenige, was ich als ersten Schritt betrachten würde: die Schaffung der Betriebsräte aus den Verhältnissen heraus. Erst dann würden sich diese ihre Verfassung, ihre Konstitution zu geben haben. Das würde ich in der Praxis nennen die Losgliederung des Wirtschaftslebens auf einem Gebiet. Also solange die Meinung besteht, daß man von einer zentralen Regierung aus Gesetze über Betriebsräte gibt, betrachte ich das als etwas, was nichts zu tun hat mit dem, was geschehen soll. Erst den ersten Schritt machen - das ist es, was die Zeit von uns fordert.

Herr Dr. Schmucker: Nach meiner Auffassung setzt diese Arbeit, die die Beteiligten selbst vollziehen sollten, um Organisationen zu bilden und selbst zu verwalten, eine geistig hochentwickelte Arbeiter- und Angestell­tenschaft voraus. Die Erfahrungen aber, die wir mit den Betriebsbeleg­schaften während des Krieges und mit der Arbeiterschaft in den letzten Monaten gemacht haben, lassen mich davor zurückschrecken anzunehmen, daß die Arbeiterschaft in ihrer Mehrzahl - mit ihrer überwiegenden Mehr­zahl, das müßte ja wohl sein - dieser großen Aufgabe gewachsen ist. Wenn man solche Erfahrungen macht wie diejenigen, die wir in letzter Zeit ge­macht haben, daß die Arbeiterschaft eines Betriebes kommt und unter Gewaltandrohung vom Arbeitgeber verlangt: Du hast jetzt soundso viel

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Profit gemacht. Dir geht es jetzt zwar schlecht, aber der Staat nimmt dir, wenn du nicht teilst, einen großen Teil dessen, was du verdient hast. Wir verlangen jetzt Teuerungszulage! - Dieser ganze Prozeß ist ja allen be­kannt, dieses fortgesetzte Steigern der Löhne, der Lebensmittelpreise und so weiter, das eine verteuert das andere. Diese Erfahrungen lassen Zweifel daran entstehen, ob Arbeiter und Angestellte auf dieser hohen Entwick­lungsstufe stehen, um die Aufgabe, die von ihnen hier verlangt wird, zu erfüllen.

Rudolf Steiner: Wenn wir von dem Grundsatz ausgehen, daß wir mit Bezug auf irgendeine Sache immer das Beste machen wollen, das wir uns nur ausdenken können oder das wir uns in irgendeiner idealen Weise ausmalen, dann werden wir niemals in der Praxis das ausführen, was wirklich durchgeführt werden muß. Ich gebe Ihnen dann natürlich zu, daß ein großes Stück von dem, was Sie jetzt gesagt haben, absolut richtig ist. Aber ich bitte Sie, einmal das fol­gende zu bedenken: Ich habe in den letzten Wochen oder Monaten die Gelegenheit gehabt, auch mit sehr vielen Arbeitern zu sprechen, und ich habe gefunden, daß der Arbeiter, wenn man wirklich in seiner Sprache mit ihm spricht, immer wieder dann kommt mit Dingen, die nun wirklich eine reale Grundlage haben. Ich habe gefunden, daß er dann sich innerlich als zugänglich erweist und einsieht, daß dasjenige, was gemacht werden soll, ja doch nur ein solches sein kann, welches das Wirtschaftsleben nicht abgräbt oder es nicht absterben läßt, sondern aufbaut. Es ist außerordentlich leicht, dem Arbeiter begreiflich zu machen, was zu geschehen hat, wenn man auf dasjenige eingeht, was er selbst erfahren hat. Und von da ausgehend wird er leicht gewisse Zusammenhänge im Wirt­schaftsleben begreifen. Es ist natürlich dabei noch immer sehr vie­les, was er nicht begreifen kann, aus dem einfachen Grunde, weil die Verhältnisse ihn niemals haben hineinschauen lassen in gewisse Zusammenhänge, in die man eben nicht hineinschauen kann, wenn man von morgens bis abends an der Maschine steht. Das weiß ich schon auch.

Nun aber kommt selbstverständlich etwas dazu, daß sogar un­sere erfahrenste Prinzipalschaft sich nicht sehr gründlich einläßt

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auf die wirklichen Bedingungen des Wirtschaftslebens. Ich möchte Ihnen Rathenau nicht als [auf das Gesamte hin orientierten] Wirt­schaftler anführen, sondern geradezu als Prinzipal, denn seine Schriften verraten eigentlich auf jeder Seite, daß er wirklich vom Standpunkt des Prinzipals, des industriellen Unternehmers aus spricht. Nun, nicht wahr, im Grunde genommen sind von diesem Gesichtspunkt aus gegen diese Ausführungen keine absoluten Einwände zu machen, weil im Grunde genommen alle die Sachen richtig sind. Ich möchte nur eines anführen: Rathenau rechnet aus, wie es eigentlich mit dem Sinn vom Mehrwert ist. Nun kann man natürlich heute sehr leicht ja beweisen, daß dasjenige, was man vor einiger Zeit hatte ausrechnen können als Mehrwert, daß das längst uberholt ist. Nun, Rathenau macht auch im einzelnen diese Rech­nung sehr schön, kommt zu dem ganz richtigen Resultat, daß eigentlich im Grunde genommen der ganze Mehrwert nicht in An­spruch genommen werden kann. Denn bekommt der Arbeiter ihn, so müßte er es zurückgeben, denn die Einrichtungen machen es notwendig, daß er als Rücklage verwendet wird. Diese Rechnung ist natürlich einfach richtig. Es handelt sich darum, ob nun dem Resultat dieser Rechnung zu entkommen ist, ob man wirtschaftlich eine Möglichkeit findet, dem Resultat dieser Rechnung zu ent­kommen. Da handelt es sich darum, daß man dem, was Rathenau ausrechnet, auf keine andere Weise entkommt, als wenn man das realisiert, was ich in meinem Buch als Antwort gegeben habe: Daß in dem Augenblick, wo irgendeine zusammengehörige Summe von Produktionsmitteln fertig ist, sie nicht mehr [weiter] verkaufbar ist, also keinen Kaufwert mehr hat. Dann fällt die ganze Rechnung zusammen, denn die Rathenau-Rechnung ist nur möglich zu machen, wenn eben die Produktionsmittel jederzeit wiederum ver­kauft werden können für einen ganz bestimmten Wert. So fehlt für die eigentliche Konklusion die richtige Voraussetzung, für die die Prinzipalschaft heute noch nicht zu haben ist. Sie müßte erst ver­stehen, daß wir nicht weiterkommen, weil wir in einer Sackgasse sind, wenn wir nicht große Umänderungen herbeiführen. Und man würde also gleich sehen, wenn man sich auf einen gemeinsamen

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Boden zusammenfände, aber auf einem Boden, wo man bloß das Interesse hat, das Wirtschaftsleben weiterzuführen und nicht dem Interesse der einzelnen zu dienen; man würde sehen, daß die Prin­zipale etwas wissen, daß sie aber einseitiges Wissen haben, das ergänzt werden kann durch die anderen.

Ich glaube sagen zu können mit Bezug auf all das, was der einzelne Mensch geistig an schönen Idealen hervorbringen kann: «Oaner is a Mensch, zwoa san Leit', san's mehra, san's Viecher.» - Sobald wir aber auf dasjenige Denken kommen, das in der sozialen Einrichtung sich verwirklichen soll, gilt der umgekehrte Grundsatz: «Ein einzel­ner ist nichts, mehrere sind ein bisserl was, und viele sind die, die es dann machen können.» - Weil, wenn zwölf zusammensitzen aus den verschiedensten parteipolitischen Richtungen mit dem guten Willen, ihre einzelnen Erfahrungen als Teilerfahrungen zusammenzufassen, so haben wir nicht bloß eine Summe von zwölf verschiedenen Mei­nungen, sondern indem diese Meinungen wirklich in Aktion treten, entsteht eine Potenzierung dieser zwölf Impulse. Also eine ganz ungeheure Summe von wirtschaftlichen Erfahrungen bildet sich ein­fach dadurch, daß wir die Menschenmeinungen sozialisieren in die­ser Weise. Das ist dasjenige, worauf es ankommt. Also, das muß ich sagen, ich glaube, daß das, was Sie sagen, richtig ist, solange Sie es in der Form zu tun haben mit einer Arbeiterschaft, die einfach von ihrem Standpunkt als Konsument fordert. Denn dadurch, daß sie Forderungen hat, wird sich natürlich überhaupt nichts ergeben, das zu irgendeiner möglichen Sozialisierung führen kann. So kommen Sie nur zum Abbau des Wirtschaftslebens. Wir müssen uns nicht vorstellen, daß wir dann übermorgen ideale Zustände bekommen, sondern einen Zustand, der lebensmöglich ist, wenn wir die Dinge so machen. Gerade bei diesem Punkte müßte man denken: Was ist lebensmöglich? -, und nicht: Sind die Leute gescheit genug? -. Neh­men wir die Leute, wie sie sind und machen wir das Beste, was daraus zu machen ist, und spintisieren wir nicht darüber, ob die Leute hoch-entwickelt sind, denn schließlich, etwas muß ja immer geschehen. Einfach nichts tun können wir nicht; von irgendeiner Seite muß etwas geschehen.

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Ich sehe nicht ein, wenn wir aus dem Wirtschaftsleben heraus die Menschen nehmen, warum die gerade weniger hochentwickelt sein sollen als zum Beispiel die Regierungsleute und die Abgeord­neten des ehemaligen deutschen Reichstages in all den Jahren, in denen das eben geschehen ist, was sich dann furchtbar ausgewirkt hat. Da ist ja auch nur das Mögliche geschehen. Es handelt sich darum, daß wir mit der Mehrzahl von Menschen, die da sind, das Mögliche tun. Ich bilde mir nicht ein, daß ein Idealzustand geschaf­fen werden könnte, aber ein lebensmöglicher Organismus.

Herr Dr. Riebensam: Ich spreche die Frage der Betriebsräte an. Was gibt uns noch die Möglichkeit, mit den Arbeitern zu sprechen? Die Sache stei­gert sich jetzt so, daß ein Blitzableiter gefunden werden muß. Ich will die Sache auf einen praktischen Punkt bringen und fragen: Warum wollen Sie einen Kraftwagen auf die Straße setzen ohne Steuer? Eine solche Maschine ist meiner Ansicht nach unsere Arbeiterschaft. Ich habe mit vielen darüber gesprochen und dahin meine Ansicht geäußert, daß ich es für unmöglich halte, mit einer großen Arbeiterschaft auf diese Weise zu irgendeiner Zu­sammenarbeit zu kommen. Denn jeder Vorstand eines Arbeiterschaftsaus­schusses wird im Augenblick, wo er sich zum Vertreter einer bestimmten Meinung macht, von den Arbeitern gesteinigt. Sie setzen auf seiten der Ar­beiterschaft einen guten Willen voraus. Ich habe alles versucht, zunächst nicht ohne Erfolg, denn ich habe das Vertrauen der Arbeiterschaft, seitdem ich mit ihr sprechen kann und seit sie mich hören können. Aber die Leute, die nicht kommen, sind in der Mehrzahl. Ich kann vielleicht mit zweitau­send sprechen, die anderen haben nicht den guten Willen. Aus Erfahrung weiß ich, daß die große Menge imstande ist, die zunächst Überzeugten wie­derum zu verwirren. Die Klügsten aus den Arbeiterausschüssen, mit denen ich privat gesprochen habe und die positive Ansichten äußerten, sind heute wieder auf dem Standpunkt, daß ich mir sage: Ist denn die ganze Arbeit, die ich seit sechs Monaten geleistet habe, umsonst gewesen? Ich habe der Regie­rung gewisse Vorschläge gegeben in der Absicht, daß das ungefähr in dem Sinn geschieht, daß die Arbeiter befriedigt sind. Sollten diese als Verord­nung von der Regierung kommen, ist die ganze Arbeit umsonst; aber ohne jedes Steuer Betriebsräte zu gründen, halte ich für nutzlos, da kommen die tollsten Sachen heraus. Da Sie selbst sagen, wir müssen irgendwann be­ginnen, müßte man es so beginnen, daß es durchführbar wäre.

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Rudolf Steiner: Alles das, was Sie gesagt haben, läuft ja eigent­lich darauf hinaus, daß es im Grunde genommen gegenwärtig nicht möglich ist, daß die Leitung der Betriebe mit der Arbeiterschaft fer­tig wird. Das ist natürlich nicht ohne Voraussetzung so gekommen, das ist natürlich erst nach und nach so geworden. Ich glaube, daß Sie die Lage verkennen, wenn Sie zuviel darauf geben, auf den guten Willen der Arbeiterschaft zu rechnen. Denn den guten Willen, den wird die Arbeiterschaft von Ihnen fordern, aus dem Grunde, weil sie durch die Agitation - bis zu einem gewissen Grade mit Recht - ge­lernt hat, daß daraus doch nichts wird. Die Arbeiter werden sagen: Diesen guten Willen können wir haben, der Unternehmer wird ihn doch nicht haben. - Dieses Mißtrauen ist heute schon zu groß. Daher gibt es nach dieser Seite kein anderes Mittel, als soviel Vertrauen zu gewinnen, wie es geht. In dem Augenblick, wo auch nur für zweitau­send Arbeiter - oder meinetwillen für achttausend Arbeiter - jemand da ist, der nun wirklich etwas zu sagen weiß von sozialen Zielen, die der Arbeiter einsehen kann, wo nicht nur mit dem guten Willen gerechnet wird, sondern mit der Einsicht, dann ist die Sache doch anders. Gewiß, wenn Sie mit zweitausend Arbeitern sprechen, kön­nen diese von der anderen Seite wiederum verwirrt werden, aber die Sache wird sich doch so herausstellen: Wenn Sie wirklich zu dem Arbeiter über das sprechen, was er versteht, so sprechen Sie nicht bloß mit zweitausend, die verwirrt sind durch Leute, mit denen sie zuletzt gesprochen haben, sondern diese werden auf die anderen wiederum zurückwirken.

Wenn wir uns aber fragen, ist denn dieser Weg überhaupt schon betreten worden, so muß man sagen, er ist im Grunde genommen nicht betreten worden. Und es wird auch alles getan, um diesen Weg immer und immer wieder zu verleiden. Natürlich, wenn der Arbeiter heute sieht, daß ihm von oben herab durch Gesetze die Betriebsräte dekretiert werden, so ist das ein Stück absoluten Hinwegfegens des Vertrauens. Also lassen Sie heute in wirklich hörbarer Weise von den zentralen Stellen aus etwas kommen, was Rand und Fuß hat, so daß der Arbeiter einsieht, das hat Hand und Fuß, dann arbeitet er auch selbstverständlich mit, wirklich mit.

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Aber so etwas geschieht ja nicht. Und aus diesem Grunde ist ja eigentlich die Bewegung für die Dreigliederung des sozialen Orga­nismus da, weil einmal etwas geschaffen werden soll, das nun wirk­lich ein vorstellbares Ziel ausmacht. Dem Arbeiter kommen Sie nicht bei, wenn Sie nur von konkreten Einrichtungen sprechen, denn er ist so und so hinausgedrängt worden in einen bloßen Kon­sumentenstandpunkt. Dies wird dem Arbeiter von niemandem er­klärt. Alles, was gemacht wird, bewegt sich genau in der entgegen­gesetzten Richtung. Lassen Sie heute die Einrichtungen von sich aus entstehen. Wenn diese Betriebsräteschaft wirklich konstituiert werden soll, lassen Sie sie einfach kommen, vielleicht auch nur in der Form von Vorschlägen - es können ja hierbei auch viele Vor­schläge vorgebracht werden -; es kann nicht nur eine einzige Art von Gesetzesvorlage kommen. Das ist natürlich das beste Mittel, um die ganze Arbeiterschaft gegen die Betriebsräte zu haben. Heu­te gibt es keine Möglichkeit mehr, auf diesem Weg irgendwie vor-wärtszukommen. Heute gelingt es nur, wenn wir etwas anderes wollen, als Gewalt gegen Gewalt zu setzen, nämlich Persönlich­keiten Persönlichkeiten gegenüberzustellen, persönliches Vertrauen zu erwerben. Das ist das, was dem Arbeiter möglich ist. Derjenige, der versteht, zu dem Arbeiter in seiner Sprache so zu reden, daß dieser merkt, es kommt nichts dabei heraus, wenn er nur immer die Lohnskala in die Höhe treibt, und er auch sieht, daß ein Wille dazu da ist, endlich nach dieser [neuen] Richtung hin sich zu bewegen, dann geht er mit und arbeitet auch. Er arbeitet nicht mit, wenn man ihm bloß Gesetzesvorschläge macht, sondern er will sehen, daß die Persönlichkeiten in der Regierung tatsächlich den Willen haben, sich in einer gewissen Richtung zu bewegen.

Das ist das, was der jetzigen Regierung auch zum Vorwurf ge­macht wird; man hat zwar die Ahnung, daß sie etwas tun will; das aber, was geschieht, bewegt sich alles in denselben Geleisen fort wie früher. Es ist nirgendwo etwas Neues drin. Auf der anderen Seite handelt es sich wirklich bei dem, wo Menschen dabei sind, nicht darum, einen Kraftwagen irgendwie in Bewegung zu setzen und ihm kein Steuer zu geben. Der muß wirklich sein Steuer haben,

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wenn er bewegungsfähig sein will. Wir können gar nicht anders als uns sagen: Entweder versuchen wir vorwärtszukommen und gehen so weit, als es geht, oder wir gehen eben dem Chaos entgegen. Auf andere Weise läßt es sich nicht machen.

Herr Dr. Riebensam: Ich unterschreibe das alles. Ich gehe auf diese Idee ein, daß dem Arbeiter zunächst dieses Ziel gezeigt, aber nicht fortgefahren werden soll in den alten Geleisen. Ich halte es für möglich, daß Sie heute erleben werden, daß die Arbeiter in einer Fabrik sehr viel zusammen-schmeißen. Es wäre aber vielleicht doch möglich, einen Weg zu finden für ein fruchtbares Mitwirken der Arbeiter. Wir sind bereit, die Arbeiter zu beachten, aber sie müssen auch auf unsere Gesichtspunkt Rücksicht neh­men, wenn nicht ganz der Glaube an eine Verständigungsmöglichkeit schwinden soll. Man muß irgendwie Wege finden. [Aber das ist nicht so einfach.] Wenn die Arbeiterschaft daherkommt, um Betriebsräte zu grün­den, und wir ihnen sagen, kommt, wir wollen uns zusammensetzen und das Richtige machen, dann ist das im Grunde genommen eine abstrakte Scha­blone; sie kommen unserem Rat gar nicht entgegen. Neulich war ich an einer Arbeiterversammlung, da haben die Arbeiter zu viel gefordert. Sie haben gesagt, man solle nicht mit kleinlichem Denken die Sache anfassen; es hätte keinen Zweck mehr, irgendwelche Regelungen zu treffen; sie woll­ten in Zukunft ganz allein bestimmen. Diese Erkenntnis muß für mich die Grundlage meines künftigen Tuns sein. Allerdings könnte ich mir womög­lich einen Betriebsrat denken, der alle acht Tage zusammenkommt und mit dem ich alles durchspreche, bevor Spannungen eintreten. Aber wir sollen auch das den Arbeitern sagen: Wir können nicht einfach allein einen Betriebsrat machen.

Rudolf Steiner: Sehen Sie, in diesen Dingen kommt es darauf an, daß man nicht unsystematische Erfahrungen nimmt, sondern syste­matische. Wir haben doch, weil eine andere Möglichkeit uns nicht geboten wurde, eine ganze Reihe von Arbeiterversammlungen, fast Tag für Tag, gehabt, und bei diesen Arbeiterversammlungen hat sich eine Sache immer wieder ergeben. Man konnte es sehr genau merken, daß aus der Arbeiterschaft selbst heraus wie ein Extrem sich ergeben hat: Ja, wenn wir bloß allein sind, wie sollen wir denn überhaupt in der Zukunft fertig werden? Wir brauchen selbstverständlich

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diejenigen, die leiten können; wir brauchen den geistigen Arbeiter. - Diese Sache, die ergibt sich nicht dadurch, daß man diktiert, sondern nur dadurch, daß man wirklich mit den Leuten arbeitet. Deshalb hielt ich die Tatsache [für wichtig] - Molt wird es mir bestätigen können -, daß ich ganz von Anfang an, als er mit anderen Freunden kam, um diese Sache in Wirksamkeit umzu­setzen, ihm sagte: Das erste Erfordernis ist, daß zunächst einmal das ehrliche Vertrauen erworben wird, aber nicht in der Weise wie bisher üblich mit: Ich bin Prinzipal, du bist Arbeiter -, sondern von Mensch zu Mensch, so daß wirklich der Arbeiter nach und nach in concreto eingeweiht wird in die Leitung des ganzen Betrie­bes und auch eine Ahnung davon bekommt, wann der Betrieb aufhört, wirtschaftlich möglich zu sein. Das ist etwas, was [uner­läßlich ist], und ich stelle offen die Frage: Wo ist es denn so gesche­hen? Wo wird es so gemacht? - Es wird heute sehr viel gemacht in der Regierung, indem sich einzelne Kommissionen zusammenset­zen und nachdenken über die beste Art, das oder jenes zu machen. In diesem Fall - verzeihen Sie das harte Wort - wird das Pferd beim Schwanz aufgezäumt. Es ist unmöglich, damit vorwärtszu­kommen. Heute ist nötig, ein lebendiges Verbindungsglied zu schaffen zwischen denjenigen, die etwas [mit den Händen arbei­ten], und denjenigen, die es verstehen können. Viel notwendiger als Ministeriumssitzungen abzuhalten, ist es, daß einzelne Männer ins Volk gehen und von Mensch zu Mensch reden. Das ist der Boden, auf dem man zunächst beginnen muß. Man darf es sich nicht ver­drießen lassen, wenn der Erfolg sich nicht aufs erste Mal einstellt; er wird sich ganz gewiß einstellen das vierte oder fünfte Mal. Also, nicht wahr, wäre nur zunächst irgendein Anfang gemacht worden in dem, was heute das eigentlich Praktische ist, würde man sehen können, [daß etwas entsteht]; aber es ist kein Anfang da, man sträubt sich dagegen.

Emil Molt: Der Anfang ist gemacht. Darf ich diejenigen Herren, die sich dafür interessieren, darauf aufmerksam machen, daß wir diese Art der Betriebsräte schon seit Wochen eingeführt haben. Wenn ich mir auch durchaus bewußt bin, daß die Sache noch stümperhaft ist, so hat sich doch

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gezeigt, daß wir - während wir hier darüber verhandeln, wie das Vertrauen zu gewinnen wäre - das Vertrauen bereits gewonnen haben. Das ist we­sentlich, weil wir darauf ausgegangen sind, weniger Zigaretten als Men­schen zu machen. Wir haben den Betrieb dazu benützt, Menschen zu machen. Zigaretten zu machen, ist nur Mittel zum Zweck. Wir sind darauf ausgegangen, wirklich mit den Menschen in Berührung zu kommen, und dies während der Arbeitszeit durchzuführen. Man muß sich diese Zeit eben nehmen. Es kommt darauf an, die Dinge von unten herauf zu verwirk­lichen. Wenn die Dinge anderorts jetzt so liegen - es ist eben viel versäumt worden in den letzten sechs bis acht Wochen. Hätte man die Sache schon früher angefangen, wäre jetzt vieles vermieden.

Jetzt liegt die Sache so: Die Menschen, die im Betrieb sind, wollen nicht nur arbeiten, sie wollen auch wissen. Wir müssen uns darüber im klaren sein: Je mehr man diesem Drang nachgibt und sich nicht scheut, als Steu­ermann diesen Kraftstrom in die richtigen Kanäle zu leiten, desto mehr läßt sich diese Kraft auch wieder ausnützen. Daher sollte man nicht zurück­scheuen, jedem Fabrikanten zu sagen, seinen Betrieb wie ein offenes Buch hinzulegen, denn damit beginnt das Vertrauen praktisch zu werden. Solan­ge wir nur davon reden, was wir tun sollen, solange werden wir das Ver­trauen der Leute nicht gewinnen. Wir müssen Einblick gewähren und ih­nen zeigen: Wir haben heute nichts mehr zu verschleiern. Früher hatte der Fabrikant mehr zu verbergen. Jetzt kann der Arbeiter höchstens sehen, daß nichts verdient wird. Nur wenn er selber darauf kommt, glaubt er es - dem Fabrikanten glaubt er es doch nicht. Wenn die Leute Lohnforderungen stellen, haben sie nur den Drang nach Wissen, sie wollen Einblick gewin­nen. Man muß aber selber der Steuermann sein und Einblick in die Fabri­kation geben, dann wird man sehen, daß die Leute sich mit anderen Fragen als mit Lohnfragen beschäftigen werden. Ich bitte Sie hinzuzunehmen, daß wir [von der Waldorf-Astoria] nicht als Theoretiker sprechen; wir haben Erfahrung, wir haben Beweise dafür. Wenn auch bisher nicht alle Ideale verwirklicht sind, so sind wir doch auf dem Wege dazu. Und die Schwie­rigkeiten, die andere Betriebe jetzt haben - die werden wir nie bekommen.

Gestern sprach ich vor einer großen Arbeiterschaft eines anderen Be­triebes. Ich habe gesehen, mit welcher Begeisterung die Leute meinen Be­richt aufgenommen haben, sobald die Dinge von einem umfassenden Ge­sichtspunkt beleuchtet werden. Ich habe heute von meiner Arbeiterschaft gehört, daß sich die Nachricht von dieser Zusammenkunft wie ein Lauf­feuer unter der Arbeiterschaft verbreitet. Die Leute sehen selbst, wenn es

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überall so wäre, hätte man ganz andere Verhältnisse. Wir haben seit Tagen fortgesetzt Besuch von den Arbeiterausschüssen aller großen Werke und diese sagen: Ja, wenn es das bei uns gäbe! Es liegt ein großes Versäumnis von seiten des Bürgertums vor; reden Sie wirklich mit unseren Kollegen, Sie werden überall auf Scheuklappen, auf Borniertheit treffen.

Herr Dr. Schmi'cker: Den Gesetzesentwurf der Regierung hatte ich mir wohl schauderhaft vorgestellt, aber doch nicht so schauderhaft; es ist eine rechte Mißgeburt. Wenn man die Sache studiert, so sieht man, daß die Gesetzesmacher in Berlin die Verhältnisse nicht kennen; sie wissen gar nicht, worum es sich handelt. Jetzt wollen sie die Angestellten- und Arbei­terausschüsse abschaffen und dafür Betriebsräte von 40 bis 80 Köpfen einsetzen, die arbeitsunfähig sind.

Herr Geyer: Es gibt keinen der Anwesenden, der nicht von den Vorschlä­gen von Dr. Steiner sympathisch berührt wird. Aber ich muß offen geste­hen, ich beschäftige mich jeden Tag mit der Frage, warum wir immer, wenn ich glaube, über den Berg zu sein, vor neuen Problemen stehen. Wir sind mitten in einer geistigen Revolution darin. Es beschäftigen sich die Men­schen immer mehr mit der geistigen Seite der gesellschaftlichen Struktur, als es bisher der Fall war, wo das Interesse des Einzelnen im allgemeinen doch nur auf eine wirtschaftliche Revolution gerichtet war. Aber ich muß sagen, diese geistige Revolution bewegt sich meines Erachtens nicht in die ideale Richtung. Der Arbeiter und viele Angestellte sind sich keineswegs bewußt, worum es heute geht. Ihr Konsuminteresse hält sie in ihren Über­legungen so fest gefangen, daß sie nicht dazu kommen, auch andere Men­schen, die nicht mit der Hand arbeiten, neben sich gelten zu lassen. Es ist richtig, wenn Herr Dr. Steiner sagt, von oben treibt man keine soziale Politik. Wir müssen aber dazu kommen, daß der Mensch zum Menschen in eine nähere Beziehung tritt. Aber wir sind leider schon so einseitig in der Kultur und im staatlichen Organismus und im Weltorganismus drin, daß eine Zurückführung auf die Urkultur, auf den Urzustand nötig ist - nicht in geistiger Hinsicht, aber in bezug auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Es ist kein Steuer mehr da, das über den Menschen steht. Alle Menschen sollten miteinander in Beziehung treten, kleine Kreise, eine Art Kristalle, bilden, die sich zu größeren Einheiten zusammenschließen. Die­ses Kristallbilden sollte dann immer mehr werden, bis wir am Gipfel an­gekommen sind, wo die Liquidation des Staatsorganismus zu ihrem Ende

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gekommen ist. Ich glaube, so denkt sich Herr Dr. Steiner wohl den Vor­gang, bis die Dreigliederung da ist. Dazu wird aber geraume Zeit vergehen, [und es wird sich ein Problem ergeben]: Es werden Räte gebildet, aber diese Räte werden sehr oft wechseln, wie jetzt schon die Leute bereits häufig ihre Posten wechseln, so daß es zu einem Chaos kommen wird. Es wird nicht nur Reibereien zwischen den kleinen Organisationen geben, sondern auch Kollisionen innerhalb des Liquidierungsministeriums. Das kann dazu füh­ren, daß der ganze Turm, der von unten gebaut werden soll, zusammen-stürzt. Ich glaube, daß unsere allgemeine Volksbildung als Voraussetzung [für dieses Reformwerk] es noch nicht ermöglicht, daß man sich das Ent­stehen echten Vertrauens zwischen den Menschen erhoffen könnte. Ich meine, eine allgemeine Volksaufklärung müßte vorher einsetzen, allerdings gebe ich gerne zu, daß auch dieser allgemeinen Volksaufklärung sich Hin­dernisse von oben und unten entgegenstellen werden. Derjenige, der sich aufklären lassen soll, der Arbeiter, der betrachtet nicht nur den Arbeitgeber als Feind, sondern jeden, der geistig höhersteht, weil er fürchtet, daß er ihn zu etwas überzeugen soll, was mit seinen Interessen im Widerspruch steht. Diese Erfahrung macht man vielfach. Ich glaube nicht, daß, wenn auch Molt in seinem Betrieb mit den Betriebsräten gute Erfahrung gemacht hat, es auch immer so bleiben wird. Der Mensch ist Mensch, und seit ich den Menschen kenne in seiner zehntausendjährigen Entwicklung, muß ich sagen: Der Mensch ist nicht ein bloßes Erdengebilde, sondern ein Wesen, das einmal zu dem Punkt der Kultur kommt, wo man wirklich sagen kann, jetzt ist der Mensch kulturell so gebildet, daß sein Erdendasein ein glück­liches sein wird. Um das herbeizuführen, müßte allerdings ein Mensch kommen, der über übermenschliche geistige Kräfte verfügt. um die Seelen der Menschen gefangenzunehmen.

Rudolf Steiner: Ich möchte sagen, das alles könnte eigentlich ja verwendet werden, um eine Anschauung über den Wert des Men­schen vorzubringen. Aber für denjenigen, der praktisch daran denkt, was in der chaotischen Zeit zu machen ist, kann es sich ja wirklich nicht darum handeln, ob der Mensch genügend kulturell gebildet ist oder gebildet werden kann, sondern nur darum, dasje­nige aus den Menschen zu machen, was eben aus ihnen zu machen ist. Und vor allen Dingen, wenn wir vom sozialen Organismus sprechen, sollten wir die Anschauung von vornherein aufgeben, als

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ob wir das Glück irgendwie begründen wollten mit dem sozialen Organismus oder den Menschen das Glück bringen wollten durch soziale Einrichtungen. Es handelt sich also bei sozialen Umgestal­tungen durchaus nicht darum, glückliche Menschen zu schaffen, sondern darum, die Lebensbedingungen des sozialen Organismus kennenzulernen, das heißt einen lebensfähigen sozialen Organis­mus zu schaffen. Daß wir mit der Volksbildung, wie sie heute ist, nicht vorwärtskommen können, das hat ja eben für die Impulse der Dreigliederung dahin geführt, für die Volksbildung die totale Emanzipation von den anderen Gliedern zu verlangen.

Nun, wer die Menschen wirklich kennen will, darf nicht von Zehntausenden oder Tausenden von Jahren sprechen, sondern von dem, was wirklich überschaubar ist. Wer sich die Entwicklung der Volksbildung in den letzten Jahrhunderten vergegenwärtigt - drei bis vier Jahrhunderte braucht man nämlich bloß zu nehmen, wenn man eindringen will in das, was die heutigen Schäden sind -, der kann sich sagen: Durch die immer weiter getriebene Verstaat­lichung des gesamten Bildungswesens haben wir es zu jener Volks-Unbildung gebracht, die wir heute haben. Wir haben es dahin ge­bracht, daß wir nach und nach von seiten unserer leitenden Kreise eine Bildung geschaffen haben, die zu lauter verkehrten Begriffen führt. Denken Sie doch, daß die leitenden Kreise den Arbeiter in das bloße Wirtschaftsleben getrieben haben. Denn, was Sie ihm an Brocken abwerfen von Volksbildung, das versteht er nicht. Ich war Lehrer an der Arbeiterbildungsschule und weiß, was der Arbeiter verstehen kann und was unrichtig gemacht wird. Ich weiß, daß er nur etwas verstehen kann, was nun nicht genommen ist aus der bürgerlichen Bildung, sondern aus der allgemeinen Menschenwe­senheit heraus. Sie haben gesagt, der Arbeiter betrachte jeden als Feind, der geistig höher steht. Selbstverständlich betrachtet er jeden als Feind, der bloß ein Geistesleben vertritt, das durch die soziale Struktur einer geringzahligen Kaste und Klasse [bedingt] ist. Das verspürt er in seinem Instinkt sehr gut. Sobald er sich demjenigen geistigen Leben gegenübersieht, das aus dem ganzen Menschen heraus geschöpft wird, ist gar keine Rede davon, daß er ein Feind

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des geistig Höherstehenden wäre; davon kann nicht die Rede sein; im Gegenteil, er merkt sehr wohl, das ist sein bester Freund. Wir müssen die Möglichkeit finden, durch die Emanzipation des Gei­steslebens zu einer wirklich sozialen Volksbildung zu kommen. Da muß man sich nicht scheuen vor einem gewissen Radikalismus. Man muß eine Ahnung davon haben, wie Begriffe, Vorstellungen, wie das ganze Wesen desjenigen, was heute unsere Bildung ist, trivial gesagt, auf den Menschen abgefärbt hat. Es ist viel diskutiert worden über das Gymnasialwesen. Dieses Gymnasialwesen, was ist es denn? Wir haben es eingerichtet, indem wir eine Art Paradoxie in Szene gesetzt haben. Das, was geistiges Leben ist, ist ja ein gan­zes. Die Griechen haben aus allem geistiges Leben aufgenommen, weil es zu gleicher Zeit das geistige Leben war, das auf die Verhält­nisse gepaßt hat. Wir lehren nichts in der Schule von dem, was drin in der Welt ist, sondern was für die Griechen in der Welt war, das ist unserer Kultur eingebildet. Aus dieser Paradoxie verlangen wir nun: Wir wollen Volksaufklärung den Menschen bieten. Wir kön­nen ihnen das nur bieten, wenn wir heute gänzlich auf diesem Gebiete auf uns selbst zurückgehen, wenn wir als Menschen dem Menschen nähertreten. Es soll nicht zu einem spekulativen Ur­zustand zurückgekehrt werden; es kommt da nur in Betracht, was die Zeit fordert. Heute ist notwendig, daß wir wirklich von solchen Dingen lernen. Wenn ich meinen Schülern - ich kann sagen, es war eine sehr große Schülerzahl - dasjenige beigebracht habe, was ich nicht haben konnte aus irgendeinem Zweig des Gymnasialwissens oder der Gymnasialbildung, sondern was neu aufgebaut werden mußte, da lernten sie eifrig mit. Natürlich, weil sie ja auch aufneh­men das Urteil der Gebildeten, das [eigentlich aus dem Gymna­sialwissen stammt], da wußten sie genau, daß das eine Kulturlüge ist; davon wollen sie natürlich nichts lernen.

Wir kommen nicht zur Möglichkeit, tatsächlich vorwärtszuge­hen, wenn wir nicht imstande sind, den radikalen ersten Entschluß zu fassen, diese Dreigliederung durchzuführen, das heißt das Gei­stesleben und das Wirtschaftsleben wirklich zu entreißen dem Staatsleben. Ich bin überzeugt, daß heute sehr viele Leute sagen,

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diese Dreigliederung würden sie nicht verstehen. Sie sagen das wohl deshalb, weil sie ihnen zu radikal ist, weil sie keinen Mut haben dazu, nun wirklich im einzelnen die Sache zu studieren und durchzuführen. Nicht wahr, darum handelt es sich wirklich, daß wir es nicht zu tun haben mit Übermenschen, sondern mit den Menschen, wie sie wirklich sind, und das zu machen, was man eben mit ihnen machen kann. Dann kann man sehr viel machen, wenn man nicht ausgehen will von diesem oder jenem Vorurteil. Man müßte wirklich einmal das Unterrichtswesen auf die eigene Basis stellen und es von denjenigen bloß verwalten lassen, die darinste­hen. Aber die Leute können sich kaum etwas darunter vorstellen, während es doch eigentlich eine Sache ist, die, wenn man sie sich vorstellen will, bereits gegeben ist.

Also, das Schulwesen muß zunächst ganz getrennt vom Staats­wesen gedacht werden. Es ist ganz ausgeschlossen, daß wir weiter­kommen, wenn wir uns nicht zu diesem radikalen Denken auf­schwingen, die Schule, ja das ganze Bildungswesen herauszubrin­gen aus dem Staat.

Herr Dr. Riebensam: Ich will auf den realen Boden zurückkehren, zu dem, was wir beabsichtigen. Ich möchte ganz persönlich sprechen und Herrn Molt erwidern, daß ich seine Auffassung - obwohl er es erlebt hat in seiner Fabrik - für etwas unwirklich halte. Sie fußt auf Erfahrungen in einem kleinen Kreis. Schon vor zwanzig Jahren habe ich in einer kleinen Fabrik Grundsätze durchgeführt, an die damals noch kein Mensch dachte. Ich habe offen gezeigt, was ich machte im Betrieb. Wir haben das Taylor-System gehabt, was gut scheint. Ich habe dann dasselbe in einer wesentlich größeren Fabrik versucht - die Leute gingen mit mir. Ich habe die Sache dann hier versucht - es fehlte das Vertrauen. Aufgrund dieser Verhältnisse habe ich meine Bedenken ausgesprochen, daran muß ich festhalten. Kehren wir zurück zu dem, was wir wollen. Es wurde gefragt: Wie sollen wir beginnen? Ich will einmal annehmen: wir rufen die Arbeiterschaft zusam­men, mit dem Ziel, Betriebsräte zu gründen. Wie machen wir das? Es ist möglich, daß Sie, Herr Dr. Steiner, mir sagen, wir könnten der Arbeiter­schaft sogar die Selbstverwaltung geben. Davon bin ich noch nicht über­zeugt, daß dies geht. Ich bitte um ein konkretes Beispiel für eine Betriebs­ratsbildung in einer großen Fabrik.

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Rudolf Steiner: Ich möchte vorausschicken, daß alles, was heute im einzelnen innerhalb eines Betriebes gemacht werden kann, ja wirklich nur die Vorbereitung sein kann zu dem, was die Betriebs­räteschaft bedeutet. Ich möchte nur, weil Herr Dr. Riebensam von dieser Sache ausgegangen ist, eben sagen: Gewiß, Erfahrungen, die in solch einem kleinen Kreis gemacht werden, wie sie Herr Molt dargestellt hat, sollten nicht zu früh als ein Sieg gefeiert werden. Aber täuschen wir uns nicht: Das, was zunächst durch diese Erfah­rungen bewiesen werden kann, ist, daß man in einem gewissen Kreis Vertrauen begründen kann. Und das ist ja das, was Herr Molt zunächst vorzugsweise gemeint hat. Ein Sieg kann es nicht sein, weil überhaupt, wenn an eine systematische Sozialisierung gedacht wird, nicht in einem einzelnen Betriebe ein Sieg errungen werden kann. Der Sieg eines einzelnen Betriebes, selbst wenn er darin bestehen würde, das Niveau der Lebenshaltung seiner Arbei­terschaft zu erhöhen -, wenn einseitig ein einzelner Betrieb das erreichen würde, könnte es nur auf Kosten der Allgemeinheit geschehen.

Sozialisierung ist überhaupt nicht von einzelnen Betrieben aus in Angriff zu nehmen. Denn ich will Sie auf eines aufmerksam machen: Dinge, die unter gewissen Voraussetzungen zu etwas Heilsamem führen können, werden unter entgegengesetzten Vor­aussetzungen vielleicht zum größten Schaden gereichen können. Ich kann mir von der Anwendung des Taylor-Systems in unserer gegenwärtigen Wirtschaftsordnung überhaupt nichts anderes ver­sprechen, als daß durch die immer gesteigerte Anwendung dieses Systems zuletzt eine solche Erhöhung der Industrieproduktion stattfindet, daß diese Erhöhung es uns in jeder Weise unmöglich macht, zu einer irgendwie notwendigen oder auch nur möglichen Gestaltung der Preislage für diejenigen Güter im Leben zu kom­men, welche nicht der Industrie entstammen, sondern zum Beispiel [der Landwirtschaft].

Herr Dr. Riebensam: Ich wollte nicht ausführlich vom Taylor-System sprechen.

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Rudolf Steiner: Ich meinte nur, daß dieses Taylor-System unter Umständen, wenn es unter anderen Voraussetzungen angewendet würde, zu etwas Positivem führen könnte; unter unserem jetzigen System aber würde es alle Schäden des Systems nur erhöhen.

Zu der konkreten Frage: Wie machen wir es in bezug auf die Betriebsräte? - Vergessen wir nicht, daß wir nur das machen wollen, was als eine Forderung auftritt. Wir mussen die Forde­rungen beobachten und die wesentlichen von den unwesent­lichen unterscheiden. Das Rätesystem ist heute tatsächlich eine gegebene Wirklichkeit, das heißt, vielleicht ist es im Keim erst vorhanden, aber wer die sozialen Kräfte, die in unserem sozialen Organismus wirksam sind, richtig beobachtet, versteht dies. So ist es mit dem Räte-Gedanken auch in diesem speziellen Fall: Betriebsräte, Verkehrsräte und Wirtschaftsräte werden sich von selbst geltend machen. Nun haben wir zunächst damit nur eine Vorempfindung der Arbeiterschaft. Es handelt sich nun wirklich darum, daß die soziale Konstituierung der Betriebsräteschaft entstehen soll, daß dafür nicht allgemeine Grundsätze aufgestellt werden können. Tatsächlich handelt es sich darum, daß wir uns endlich gewöhnen, Initiativen möglich zu machen, und solche Initiativen werden Sie in dem Augenblick haben, wo sie ent­fesselt werden. Sie brauchen überhaupt nichts anderes zu tun, als den Betriebsrätegedanken populär zu machen - und darauf kommt heute sehr viel an. Dann wird sicher in den verschieden­sten konkreten Betrieben in der unterschiedlichsten Weise die Frage beantwortet werden müssen: Wie machen wir das? - Es kann in einem Betriebe so, in anderen anders gemacht werden, je nach den Zielen und Menschen. Wir müssen zu der Möglichkeit kommen, daß aus den Betrieben heraus eine Betriebsräteschaft konstituiert wird, daß sich von den Betrieben absondert eine Betriebsräteschaft, die zwischen den Betrieben wirkt. Da beginnt eigentlich erst die Arbeit der Räteschaft. Die Frage, wie machen wir das, die müßten Sie im einzelnen Fall dann lösen. Wir müssen nur den Gedanken im allgemeinen verstehen und im einzelnen Falle ausführen.

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Der ganze Tenor, den wir hier heute gehört haben, wir haben die Erfahrung gemacht, wir gewinnen kein Vertrauen - das ist etwas, von dem ich glaube, daß man in jedem einzelnen Fall, wenn man ihn untersuchen würde, dazu käme zu sehen, daß die Sache doch noch anders angepackt werden müßte. Zuerst müßte man sich wirklich einlassen auf die volle Notwendigkeit, das Wirtschafts­leben auf seine eigenen Füße zu stellen. Bedenken Sie doch nur, wenn man das tut, dann ist doch bloß Ware und Warenerzeugung drin; man hat es dann ja gar nicht mehr mit dem Lohn zu tun. Gewiß, das kann nicht von heute auf morgen eingerichtet werden. Aber das versteht der Arbeiter, wenn Sie ihm sagen: Man kann das Lohnsystem nicht von heute auf morgen abschaffen. - Aber wenn die Tendenz dazu da ist, das Lohnsystem abzuschaffen, dem Arbei­ter wirklich seine Arbeitskraft in den Rechtsstaat hineinzuverlegen, so daß dort über sie entschieden wird - denn sie gehört nicht in das Wirtschaftsleben hinein -, dann steht bloß ein Vertrag über Ver­teilung zwischen Leitung und Arbeiter da. Das ist eine konkrete Sache, das muß zunächst wirklich real werden, es muß hineingetra­gen werden in jeden einzelnen Betrieb; dann kommt man mit den Leuten vorwärts. Dazu ist aber leider nicht der Wille vorhanden. Es ist zum Beispiel kein Verständnis [bei den Unternehmern] dafür vorhanden, daß das Lohnsystem abgelöst werden kann. Man be­trachtet das als eine conditio sine qua non des Wirtschaftslebens.

Herr Dr. Riebensam: Ich sage, die Arbeiter haben wohl Betriebsräte [im Kopf, aber sie rechnen] nicht mit dem [grundsätzlichen] Ziel. [Dieses müßte man ihnen aufzeigen]. Sie tun das hier, indem Sie Vorträge halten.

Rudolf Steiner: Nicht bei den Führern [der Arbeiter], die denken in den alten Bahnen, die denken bürgerlich.

Herr Dr. Riebensam: Gewiß müssen wir all diese Dinge der Arbeiter­schaft sagen, aber zuvor muß ich mir selbst klar darüber sein, ich muß diese Gedanken nachdenken. Dann kann ich auch versuchen, mit den Arbeitern zu sprechen und sie zu beeinflussen. Aber da möchte ich Sie fragen, ob Ihnen auch die Betriebsräte in den andern Fabriken bekannt sind?

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Rudolf Steiner: Ich kenne nur das System Molt, das ist aufgrund dieser Jdee [über die Betriebsräteschaft eingeführt].

Emil Molt: Wir haben eines schönen Tages, weil wir sahen, daß ein Be­dürfnis vorliegt, die Leute einberufen, haben Ziel und Zweck erörtert und dann gesagt: Es können in den Betriebsrat die Tüchtigsten hineinkommen, aber sie mussen wissen, daß sie erst noch zu lernen haben. Diejenigen, die hereinkommen, müssen lernen vom ersten Tage an, aber unter Leitung. Sie müssen das lernen, was notwendig ist zur Führung eines Betriebes. Es kommt das Vertrauen, die Leute sehen dann, daß es nicht so leicht ist, einen Betrieb zu leiten, wie auch die Leute heute einsehen, daß es nicht so leicht ist, eine Regierung zu machen. Die Leute begreifen dann, daß der Direktor der erste Betriebsrat seines Geschäftes ist, weil er der einzige ist, der den Betrieb von unten herauf kennt. Dann arbeitet man mit den Leuten funda­mentale Fragen durch, damit sie spüren, so sind die Imponderabilien.

Herr Dr. Riebensam: Wie viele Leute haben Sie in ihrem Betrieb?

Emil Molt: Siebenhundert.

Herr Dr. Riebensam: Mit wem soll ich mich zusammensetzen?

Emil Molt: Die kommen von selbst.

Dr. Carl Unger: Ich könnte einige, wenn auch nur spezifische Erfahrun­gen beitragen, weil es sich bei meinem Betrieb um Metallarbeiter handelt, die haben eine etwas andere Mentalität als die andern Arbeiter. Meine Er­fahrungen gehen dahin, daß wir ein Programm aufgesetzt haben, das an und für sich kein Programm ist, sondern es geht bloß darum, die Grund­züge für eine Betriebstäteschaft zu erarbeiten, ehe die Regierung kommt, weil sonst nichts draus wird. Sie haben gesagt, Sie halten es für wesentlich, daß der Betriebsrat Verbindung nach außen sucht, sich in Verbindung setzt mit andern Betriebsräten. Die Voraussetzung war der damals erschienene Aufruf, der in unserem Betrieb zirkulierte. Bei all den möglichen Fragen, die jetzt hier erörtert wurden, wurde stets nach dem Gesichtspunkt der Dreigliederung gesucht. [In unserem Betrieb waren wir aber gezwungen], es nach der alten Weise zu machen - das gehört aber eigentlich nicht hier herein. [Die ganze Sache mit den Betriebsritenl muß vom Rechtsstandpunkt

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aus gemacht werden. [Und es ist eigentlich auch gut, wenn] die Leute nach der Dreigliederung fragen, denn auf diese Weise werden sie instruiert, und geben ihr Wissen in ihrem Kreis weiter, denn die Dreiglie­derungs-Idee ist etwas, was von Mann zu Mann wirken muß.

Dr. Fritz Elsas: Herr Dr. Schmucker hat zunächst die Frage an Herrn Dr. Steiner gerichtet, was er tun würde, wenn er nunmehr gemäß der Re­solution der Arbeiter in die Regierung berufen worden wäre. Ich möchte rein persönlich, nicht politisch sprechen, denn vom politischen Standpunkt aus halte ich dieses Verlangen nicht für glücklich, und zwar deshalb nicht, weil es nichts anderes bedeuten würde, als das Verlangen an die Regierung zu richten, sich selbst abzusetzen. Denn eine solche Regierung wird, ohne sich selbst zu desavouieren, den Vertreter der neuzeitlichen Gedanken nicht berufen, ohne abzudanken. Da das nicht zu verantworten wäre und da eine solch bedeutende Bewegung nicht entstehen sollte mit etwas, was [von vornherein] keinen Erfolg hat, so habe ich diese Bedenken nie ver­hehlt und bedaure, daß eine solche Resolution überhaupt beschlossen wurde. Allerdings sollte uns das nicht davon abhalten, aus diesem nicht-richtigen Verlangen das herauszuschälen, was zweckmäßig ist. Soviel ich weiß, sitzt Dr. Schmucker im Arbeitsministerium. Wir haben während dem Krieg und nachher Minister bekommen, die früher nicht da waren; das sind Zeichen, daß der alte Beamtenstaat, der alte Lakaienstaat nicht Meister geworden ist dieser ungeheuren, seit 60 Jahren aufkommenden Wirtschaft, die andere Formen suchen muß, ob wir wollen oder nicht, weil diese For­men jetzt tatsächlich ein Fiasko erlitten haben. Die Staaten haben selbst gezeigt, daß es unmöglich ist, wenn sie sich in der Weise zu Wirtschafts­staaten aufbauen. Das ist der Sinn dieser Katastrophe.

Nun sind alle Herren mit vollem Recht, besonders Herr Dr. Riebensam, davon ausgegangen, daß wir in einer ungeheuer schweren Situation sind, bei der das ganze Gebäude zugrundegehen kann. Wir sind in einem Über­gangsstadium und müssen zunächst auf dem Gebiet bleiben, welches Ak­tualität hat und das sofort in Angriff genommen werden muß. Das sind nicht geistige Fragen, sondern wirtschaftliche. Herr Molt hat das Vertrauen seiner Arbeiter erworben; die sind aber nicht von der Struktur der Metall­arbeiter. Diese sind tatsächlich - wie wir hören - schon auf dem Stand­punkt des Nihilismus angelangt, der die schärfsten Gefahren für Württem­berg herbeiführt. Eine dieser Gefahren liegt darin, Herr Dr. Riebensam, daß Sie die Sache zu scharf vom rein industriellen Standpunkt ansehen, weil

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Sie vergessen, daß das Land Württemberg doch nicht bloß die 8 000 [Daim­ler-] und die 5 000 Bosch-Arbeiter hat, sondern auch Bauern. Und wenn die kommen, dann haben wir den Bürgerkrieg. Was dann geschehen soll, das weiß ich nicht.

Die Frage stellt sich: Wenn die Arbeiter unbegründet Maßloses verlan­gen, nicht allein die Arbeiter, sondern auch das Beamtentum, wenn sie sich auf den bloßen Konsumentengesichtspunkt stellen, [was geschieht dann]? Wir müßten den Versuch machen und den Arbeitern nun sagen im Sinne der Dreigliederung: Ihr Metallarbeiter - und zwar sämtlicher Betriebe -, geht jetzt einmal zusammen, bildet eine Produktionsgenossenschaft - das ist etwas ganz Neues -, Sie bringen alle Sacheinlagen Ihres Betriebes mit, Ihre Arbeitskraft, und es entsteht eine neue Organisation. Ich will nicht sagen, daß das nötig ist, aber ich kann mir denken, daß der Arbeiter dafür zu gewinnen ist, für die Abschaffung des Lohnes als Äquivalent der Arbeit einzutreten, ohne daß man eine letztgültige Entscheidung zu treffen braucht, denn ein einzelner Staat kann den Lohn fast nicht abschaffen. Wenn nun diese Betriebe, die in Württemberg von Bedeutung sind, einen solche Produktionsgenossenschaft zusammenstellten und dadurch die Ar­beiter beruhigt würden, hätten wir Zeit gewonnen für die Durchführung der Ideen Dr. Steiners. Dieser Zusammenschluß wäre ein organisierter Zusammenschluß, der in irgendwelchen Rechtsformen sich äußert. Das könnte bei Ihnen, Herr Dr. Riebensam, anders organisiert sein als in Klein-betrieben.

Und nun die andere Frage: Kann ein kleiner Staat, ein mittlerer Staat wie Württemberg, das einem abgeschlossenen Wirtschaftsgebiet [mit eigenem Geld angehört], überhaupt eine derartige Gliederung für sich bilden? Wird das Ausland derartigen Genossenschaften Rohstoffe liefern? Die Gefahr liegt darin, daß die ausländischen Staaten, die viel größere und stärkere «Kapital-Staaten» sind als Deutschland im Augenblick, zum Entschluß kommen werden, mit einem derartigen Gebilde nicht in Wirtschaftsbezie­hungen zu treten. Wir können uns aber selbst nicht ernähren. Also die Frage muß geprüft werden: Wo beginnen wir mit diesen Organisationen?

Rudolf Steiner: Nicht wahr, es würde vielleicht zu weit führen, wenn ich auf Einzelheiten der vorherigen Zusammenfassungen eingehen wollte, ich will lieber auf die Fragen eingehen.

Als eine besondere Verwirklichung desjenigen, was mit der Dreigliederung gemeint ist, würde das noch nicht gelten können,

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wenn meinetwillen alle Metallarbeiter Württembergs in der Weise behandelt würden, wie Sie gesagt haben, obwohl es sich formal durchaus durchführen ließe. Aber ich muß, wenn ich von der Drei-gliederung spreche, ausdrücklich betonen, daß ich eine einseitige Abgliederung des Wirtschaftslebens vom Staatsleben unter Verblei­ben des geistigen Lebens beim Staatsleben für das Gegenteil des Erstrebten ansehe, weil ich eine Zweigliederung für ebenso schäd­lich wie eine Dreigliederung für notwendig halte. Wenn durch solche Dinge ein einzelner Wirtschaftszweig abgegliedert würde, würde ich das durchaus nicht als im Sinne der Dreigliederung an­sehen. Es könnte sich allerdings formell in einem sozialen Organis­mus, der nach der Dreigliederung hinarbeitet, so etwas auch voll­ziehen. Nun, nicht wahr, es würde ja auch eine grundsätzliche Probe aufs Exempel abgeben, wenn man solche Dinge ins Auge fassen könnte.

Als Einzelheit möchte ich nur bemerken, daß die Abschaffung des Lohnes, konsequent durchdacht, durchaus nicht zu der An­schauung führt, daß ein einzelner Staat den Lohn nicht abschaffen kann, weil das Verhältnis der Wirtschaft in einem solchen Staate, der den Lohn abschafft, zur gesamten wirtschaftenden Außenwelt sich gar nicht zu ändern braucht. Ob im Innern der Arbeiter im Sinne des wirtschaftlichen Liberalismus zu seinem Einkommen kommt oder ob er in einer anderen Form dazu kommt, zum Bei­spiel aus dem Erträgnis dessen, was er hervorbringt, für das er bereits Kompagnon ist mit dem Leiter, das ändert nichts an den sonstigen Wirtschaftsbeziehungen nach außen hin. Es ist also nicht richtig, daß ein einzelner Staat den Lohn nicht abschaffen kann. Ebensowenig aber ist die Ansicht aufrechtzuerhalten, daß ein Kleinstaat oder ein Großstaat für sich diese Sache nicht durchfüh­ren kann. Im Gegenteil, in einem Klein- oder Großstaat können Sie gewiß nicht sozialisieren in dem Sinne, wie die alten Sozialisten gedacht haben. Ich glaube überhaupt, daß Sozialisieren im Sinne der alten Sozialisten zu nichts anderem führen kann als zur abso­luten Abschnürung und Einschnürung eines einzelnen Wirtschafts-gebietes. Zieht man die äußersten Konsequenzen aus der alten

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Sozialisierung, so ist eigentlich im Grunde genommen ein einzelnes Wirtschaftsgebiet nichts anderes als das, was von einem einzelnen Hauptbuch beherrscht wird. Damit können Sie niemals zu einer positiven Handelsbilanz kommen, sondern nur zu einer allmäh­lichen, völligen Entwertung des Geldes. Dann können Sie das Geld abschaffen. Dann hört die Möglichkeit einer äußeren Verbindung uberhaupt auf.

Also alle diese Dinge sind die Grundlage dafür gewesen, an diese Dreigliederung zu denken, weil sie die einzige Möglichkeit gibt, daß jedes einzelne Gebiet, das Wirtschafts-, das Rechts- und das Geistesgebiet, die Sache durchführen kann. Die Beziehungen nach außen hin werden sich in keiner anderen Weise ändern, als daß es nicht mehr möglich sein wird, daß zum Beispiel die politischen Maßnahmen die Wirtschaft stören. Es wird das Wirtschaftsgebiet nach außen wirtschaften, und es werden nicht mehr die Dinge auftreten können, die zum Beispiel im Bagdadbahn-Problem alle drei Interessen in einen Knäuel zusammengedrängt haben, so daß zum Schluß das Bagdadbahn-Problem zu einer der wichtigsten Kriegsursachen geworden ist. Da sehen Sie diese drei Dinge zusam­mengeschnürt.

Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß die Dreiglie­derung außenpolitisch gedacht ist, also gedacht worden ist, um die Möglichkeit zu bieten, über die politischen Grenzen hinaus nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten das Wirtschaftsleben zu betreiben, so daß ihm niemals das politische Leben ins Gehege kommen kann. Das heißt, es würden auf den Gebieten, die die Dreigliederung nicht durchführen, die Schäden da sein, aber es läge zunächst für das [abgegliedertel Wirtschaftsleben kein eigentlicher Grund vor, daß das Ausland sich nicht auf [wirtschaftliche Beziehungen] einließe, wenn sonst das Wirt­schaftliche sich rentiert für das Ausland. Davon wird es ja nur abhängen, selbst wenn ein Wirtschaftsgebiet nicht unabhängig ist, wenn es ganz vom Politischen impulsiert ist; denn alle diese Dinge, die das Ausland berühren, werden nicht berührt von der Dreigliederung.

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Heute besteht die große Sorge: Nehmen wir einen konkreten Fall an. Nehmen wir an, Bayern würde seine Sozialisierung jetzt durchführen, dann würden mit einer solchen bürokratisch-zentra­listisch gedachten Sozialisierung eine ganze Menge von freien Ver­bindungen von inländischen Betrieben mit der ausländischen Indu­strie alle unmöglich gemacht, untergraben. Dagegen wird durch die Dreigliederung die Arbeitskraft herausgenommen aus dem Wirt­schaftsgebiet, was also dem Arbeiter die Möglichkeit gibt, als freier Kompagnon dem Arbeitsleiter gegenüberzutreten. Dadurch aber kommt der Arbeiter dazu, wirklich den Anteil haben zu können, der sich innerhalb des Wirtschaftsgebietes ergibt, wenn man nicht mehr alles durcheinanderbringt. Man hat heute eigentlich nicht mehr objektive Preise, sondern man hat da drin das Lohnverhältnis im Wirtschaftsleben. Nehmen Sie dieses heraus, so haben Sie auf der einen Seite die Beunruhigung durch die Arbeiter herausgenom­men. Und nehmen Sie jetzt [auf der anderen Seite] heraus das Kapitalverhältnis, dadurch, daß Sie den geistigen Organismus da haben, der immer zu sorgen hat für die Fähigkeiten derjenigen, die da sein sollen, um die Betriebe zu leiten. So haben Sie die zwei hauptsächlichen Steine des Anstoßes aus dem Wirtschaftskörper herausgenommen, und Sie haben doch nicht etwas tangiert, was sich im Wirtschaftsverkehr mit dem Ausland abspielt. Daher ist kein Grund vorhanden, daß das Ausland sich ablehnend verhält, denn es verliert nichts, es kann das Wirtschaftsleben betreiben genau wie früher.

Diese Neuordnung [durch die Betriebsräteschaft] ist gerade unter dem Gesichtspunkt des Wirtschaftslebens gedacht. Wenn an Deutschland gedacht wird, werden eine ganze Unsumme von feinen Fäden, die mit dem Ausland bestehen, sich mit einem Schlag organisieren, aus allen Betrieben. Man kann tatsächlich nichts an­deres tun, als eine Umschichtung vornehmen im sozialen Leben, die es möglich macht, daß in der Zukunft tatsächlich Ware durch Ware sich reguliert, so daß ein genauer Index dasein wird, um den sich die Waren gruppieren in ihrem Wert. Dadurch wird die Mög­lichkeit geschaffen, daß das, was der einzelne produziert, den Wert

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hat, welchen alle die Produkte haben müssen, die er braucht zu seiner Lebensgestaltung. Bei unserem arbeitsteiligen Organismus muß alle Sozialisierung ja darauf hinauslaufen, daß das, was der einzelne Mensch produziert im Verlauf des Jahres, gleichkommt dem, was er braucht für seine Lebenserhaltung. Werfen wir heraus das Lohn-, das Kapitalverhältnis, dann kriegen wir das reine Wa­renverhältnis. Das ist allerdings etwas, was ganz durchzudenken man sich entschließen muß. In dem Augenblick wird man finden, daß das ganz leicht ist.

Dr. Fritz Elsas: Ich bin nicht dagegen, daß der geistige Organismus sich selbst verwaltet; ich sage nur, das wird länger dauern und ist nicht dringend.

Rudolf Steiner: Es ist deshalb dringend, weil wir die Notwendig­keit haben, eine Grundlage zu schaffen gerade für die Erziehung von geistigen Arbeitern, die wir mit unserem jetzigen staatlichen Geistesleben nicht hervorbringen. Das ist ja heute das Schreckliche, daß unser staatlich gestempeltes Geistesleben dem wirklich prakti­schen Leben ganz fern steht. Selbst an den Hochschulen werden die Leute so ausgebildet - sie werden nicht praktisch, sondern nur theoretisch ausgebildet -, daß sie nicht im Leben drinstehen. Nicht wahr, ich denke mir zum Beispiel dieses Schulwesen in der Zukunft so, daß der Praktiker, der in der Fabrik, im Betrieb steht, sich besonders eignen wird als Lehrer, und eventuell, so denke ich, diese [Lehrer] fortwährend im Wechsel [zwischen Schule und Betrieb].

Herr Dr. Stadler: Ich bin durch einen Zufall heute hierhergekommen, und ich möchte mit erlauben, als Gast meine Meinung zum Ausdruck zu bringen. Das, was Sie hier tun, wird zur Zeit in vielen Teilen Deutschlands an allen Ecken und Enden in ähnlicher Weise auch gemacht. Was ich in Berlin zur Zeit erlebe, ist ein unerhörtes geistiges Ringen des deutschen Volkes mit den Problemen der Revolution. In Berlin sind massenhaft Zir­kel, Organisationen, Vereinigungen, lose Gruppierungen, die alle in ähn­licher Weise wie Sie heute Abend zusammentreten und über diese Sache sprechen. Wir erleben nämlich in Deutschland nicht nur den politischen

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und wirtschaftlichen Zusammenbruch, sondern die geistige Auflösung des ganzen alten Systems. Und bei diesem Zusammenbruch ist das deutsche Volk schon wieder so weit, daß es seinen selbständigen Weg zu gehen versucht. Die Praktiker machen den Theoretikern Schwierigkeiten und durchkreuzen mit ihren praktischen Fragen deren Ziele. Sie haben auch recht, denn sie leben in der Praxis. Die Schwierigkeit besteht überhaupt darin, daß in ganz Deutschland Fernziele aufgestellt werden, zu deren Ver­wirklichung ein bis zwei Generationen Arbeit nötig wären, während wir mitten im tatsächlichen Zusammenbruch stehen. Wenn ich im Gegensatz zu Rudolf Steiner und anderen feststelle, daß Herr Dr. Steiner einen Ge­danken eigentlich ausgedacht hat, dem ein großer Teil der Anwesenden gefühlsmäßig zustimmen kann, mit dem sich aber die reinen Praktiker nicht begnügen können - ich sage Praktiker, weil der eine Regierungsrat [Herr Dr. Schmucker], der andere ein Spitzenunternehmer [Herr Dr. Rieben­sam] ist -, denn die müssen sich fragen: Wie ist der Weg morgen, denn damit kommen wir nicht weiter? Die Lösung wird nicht [so einfach] gefun­den werden können; sie ist so außerordentlich kompliziert, daß man mit einem Gedankensystem im Irrealen verbleibt und es für die Lösung realer Fragen nicht mehr paßt. Alle diese Aktionsprogramme stoßen immer wieder auf den oder jenen Widerstand bei Industriellen, Politikern und Juristen. Das Glückliche in Deutschland ist, daß überhaupt gedacht und gesucht wird im Gegensatz zu Rußland, wo während der ganzen Revolu­tionszeit eigentlich nicht gedacht worden ist. So ist Rußland tatsächlich im Untergang - staatlich und wirtschaftlich. Ich vermute, daß es uns in Deutschland trotz der vielen geistigen Bemühungen auch so gehen wird, weil der Gang der Dinge es uns unmöglich macht, rechtzeitig zur politi­schen Synthese zu kommen. Es gibt eben Theoretiker, die an irgendeinem System festhalten, während es Praktiker gibt, die bremsen; es kann also nur mit Gewalt geschehen, weil zwischen den zwei Extremen die deutsche Politik sich nur noch treiben und alles geschehen läßt. Unsere Parteipo­litiker haben vom Geistigen keine Ahnung. Ich habe die Ehre, führende Staatsmänner persönlich zu kennen. Ich gehe mit dem traurigen Glauben davon, daß sie nichts vom dem Geiste der Zeit in sich haben, nichts vom Glauben an die Zukunft in sich tragen und nur überlegen, wie sie von heute auf morgen gerade noch sich am Ruder halten.

Sie müßten sich aber überlegen, oh es nicht Möglichkeiten gibt, das, was Sie hier versuchen, möglichst schnell in Verbindung mit ähnlichen Bestre­bungen zu setzen, die in ganz Deutschland getätigt werden, damit Sie sich

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nicht isoliert vorkommen. Es wäre richtig, wenn Sie sich dessen bewußt wären, daß Deutschland nicht der kleine Kreis ist, der hier augenblicklich versammelt ist. Wenn es nicht gelingt, eine Phalanx zu bilden, ist dieser Versuch, weil er nur ein lokaler sein kann, zum Mißerfolg verurteilt. Sie können nicht in Württemberg etwas gestalten, die Dreigliederung vorneh­men, wenn ganz Deutschland zum Teufel geht. Sie können nicht Betriebs­räte einführen, wenn die gesamte Politik nicht mitkommt. Entweder Sie schließen sich zu einer geistigen Erneuerungsbewegung zusammen und verzichten, auf die Realpolitik des Tages einzugehen - Sie haben dann in Kauf zu nehmen Untergang, Chaos -, oder Sie wollen nicht nur eine Er­neuerung anstreben, sondern zugleich auch praktisch, realpolitisch für heu­te, morgen wirken, dann müssen Sie mit all den gleichgerichteten Kräften des deutschen Volkes eine Phalanx bilden und Zugeständnisse an die Rea­litäten des Lebens machen. Das heißt, Sie müssen [zum Beispiel] beginnen, ein ganz konkretes Betriebsrätesystem auszuarbeiten, konkrete außenpo­litische Vorschläge zu machen. Entschuldigen Sie, wenn ich als Außenste­hender kritisiere, aber ich meine es gut mit Ihnen und mit dem deutschen Volk, an dessen Erhaltung mir gelegen ist.

Herr Jaeger: Ich möchte mich kurz fassen. Ich habe in der Diskussion den Eindruck gewonnen, daß ziemlich allgemein die Tendenz nach der Frage hingeht: Wie beschreiten wir zunächst praktisch den Weg, der zu dem Ziel führt, wie es uns Herr Dr. Steiner vor Augen führt? Diese Frage beschäftigt uns alle. Wenn nun schon die Schaffung der Betriebsräte, wie sie Herr Dr. Steiner fordert, so viel Schwierigkeit macht, so müssen wir nicht vergessen, daß damit erst ein ganz kleiner Anfang gemacht ist. Wir brauchen, um das Wirtschaftsleben zu gestalten, nicht nur Betriebsräte für die Fabriken, sondern ein ganzes Rätesystem überhaupt. Aber wenn wir heute davon sprechen, so mussen wir doch nun darüber klar sein, daß noch gar kein Rätesystem existiert, denn was bei uns bis jetzt von den Räten praktiziert wurde, ist ja eben noch gar kein System; es ist Systemlosigkeit. Wir müßten zunächst einzelne Fragen besprechen und uns jetzt schon bemühen, einen Anfang zu machen und mit diesen Räten beginnen.

Und nun eine konkrete Frage: Es ist sehr viel von dem Vertreter der Daimler-Werke über den dortigen Betriebsrat und über das Verhältnis zu den Arbeitern gesprochen worden. Herr Dr. Riebensam hat die Frage ge­stellt, wie er vorgehen solle, um mit den Arbeitern bei Daimler richtig in Fühlung zu kommen und das Vertrauen dieser Arbeiterschaft zu gewinnen.

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Ich meine, wenn man zu einem großen Ziel kommen will, man erst im kleinen schauen muß, indem man wie Herr Molt einen praktischen Schritt tut. [So möchte ich fragen]: Ist es denn nicht möglich, wenn Herr Dr. Steiner gemeinsam mit den Herren, die diese Anregung wünschen, sich selbst praktisch bei der Arbeiterschaft der Daimler-Werke betätigen würde, um durch dieses erreichte Ziel andere anzuregen? Wir brauchen nicht nur das Vertrauen der Arbeiter, sondern auch das Entgegenkommen der In­dustriellen, der Betriebsleiter, die [solchen Dingen zunächst] ablehnend gegenüberstehen.

Rudolf Steiner: Auf diese Frage kann nur geantwortet werden, wenn nun wirklich dieser praktische Versuch gemacht werden könnte - er könnte gewiß gemacht werden -, aber ich möchte meinen, man müßte ja erst drinnen sein in den Daimler-Werken.

Ein Diskussionsredner: Wenn man drinnen ist, fehlt es eben am Vertrauen, das ist die Schwierigkeit. Leitende Persönlichkeiten haben es schwer, Ver­trauen zu gewinnen. Die, die von der Arbeiterschaft gewählt sind, werden ja, wenn sie mit der Direktion sich verständigen, wieder bekämpft. Es handelt sich darum, den Arbeitern zu erklären: Durch diese Dreigliederung können wir zu praktischen Zielen kommen; wir wollen nur Verbindungsglied sein, um euch zusammenzubringen, um euch den Weg zu zeigen.

Rudolf Steiner: Das läßt sich nur so ausführen, daß man zum Beispiel die Arbeiterschaft gewinnen würde für das Verständnis eines gemeinsamen Zieles, das sich ausführen läßt außerhalb der Mauern des betroffenen Betriebes. Würde man weitergehen wollen

- und dadurch würde es erst einen Zweck haben; es müßte ja möglich sein, zu diesem Ziel die Arbeiter hinzuführen -, müßte man versuchen, auch irgendwie selber etwas zu realisieren. Das würde lediglich dahinführen, daß einen die Betriebsleitung der Daimler-Werke herauswerfen würde. Mir wurde gesagt, es sei doch höchst eigentümlich, daß ich das Vertrauen der Arbeiterschaft be­komme, und ich würde es eigentlich ganz anders machen, als es sonst gemacht wird. Dieses Anders-Machen beruht darauf, daß ich im Grunde genommen den Arbeitern nichts verspreche, sondern

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ihnen nur die Vorgänge erkläre und dergleichen. Das ist der große Unterschied: Tatsächlich, ich verspreche nichts - ich kann ja das bis zu dem Grade auch mit den Arbeitern der Daimler-Werke wirklich so machen, wie ich es jetzt tue -, versprechen kann ich nichts, weil ich bestimmt weiß, daß ich mit Versprechungen von der Betriebs­leitung hinausgeworfen werde. Wir dürfen nicht vergessen, heute handelt es sich nicht um irgendwelche nebelhaften Abstraktionen wie «ganz Deutschland» oder «das, was zusammenfällt», sondern es handelt sich darum, daß tatsächlich der einzelne Punkt zum Verständnis gebracht wird, daß von dem einzelnen Punkt aus ge­arbeitet wird. Würde nur einmal in einem einzelnen Punkte ein wahres Verständnis für die in den wirklich realen Verhältnissen liegenden Forderungen und ihre Befriedigung erweckt, so würde nicht immer wiederum das Vorurteil aufkommen: Das ist etwas allgemein Idealistisches, das hat mit Praxis nichts zu tun. - Würde man sich die Mühe nehmen, den eigentlich praktischen Impetus dieses nicht Gedanken-, sondern Lebensprinzips zu studieren, dann würden wir weiterkommen. Das, was uns heute schadet, ist, daß man dieses sogenannte System, das kein System ist, sondern wirklich etwas anderes, was im realen Leben fußt, an allen Ecken und Enden bloß als Gedankensystem nimmt. Ich kann nichts an­deres tun, als was in realen Verhältnissen begründet ist. Darin wäre aber heute schon begründet der richtige Impetus, die gesamte Ar­beiterschaft der Daimler-Werke zu gewinnen. Der nächste Schritt müßte aber der sein, zu etwas zu kommen in Gemeinschaft mit der Betriebsleitung. Die würde einen aber hinausschießen. Und das macht es unmöglich für den, der außerhalb steht, etwas zu realisie­ren. Es kommt darauf an, daß wir daran arbeiten, diese Dinge zum wirklichen Verständnis zu bringen. Dann wird es weitergehen. Ich glaube aber nicht, daß wir mit bloßen Abstraktionen weiterkom­men. Das ist auch eine Abstraktion, wenn man sagt, es solle der praktische Versuch gemacht werden solange gar kein Boden da ist dafür.

Herr Jaeger: Ich muß darauf beharren, daß, wenn das Verständnis der Arbeiter gewonnen ist, die Direktion die Persönlichkeit nicht hinausschießen

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würde, sondern wenn die Persönlichkeit das Vertrauen gewonnen hat, dann würden diese Vorschläge von beiden Teilen aufgenommen werden. Es handelt sich hier nicht um Versprechungen, sondern nur darum, daß der Betriebsrat zuerst eine Einigung unter der Leitung und eine Verständigung zwischen der Leitung und der Arbeiterschaft erzielt.

Rudolf Steiner: Die ganze Sache ist aussichtslos, wenn nicht Ver­ständnis vorhanden ist für die wirkliche Dreigliederung. Dieses Verständnis finden Sie heute in der Regel bei der Arbeiterschaft, aus dem Grunde, weil diese Menschen nicht hängen an irgend etwas, was herüberreicht aus alten Verhältnissen, sondern nichts anderes besitzen als sich selber und ihre Arbeitskraft. Allerdings fehlt dieses Verständnis bei den anderen [Menschen] heute noch, die werden vielleicht doch erst dadurch, daß sie unter die Räder kommen, gezwungen werden, von dem abzulassen, was nur im Hängen an den alten Verhältnissen besteht. Sie finden heute tat­sächlich bei der Arbeiterschaft ein weitgehendes Verständnis für die Dreigliederung, wenn auch die Führer der Arbeiterschaft durchaus nicht im Sinne eines fortschrittlichen Denkens denken können, sondern im Grunde genommen viel bürgerlicher denken als das Bürgertum.

Wenn die Leute sagen, ja, diese Dinge kann man nicht verstehen, sie sind zu abwegig, dann rührt das davon her, daß die Leute ver­lernt haben, aus dem Leben heraus eine Sache zu verstehen. Bei diesen Dingen, die aufs Leben gehen, da müssen die Menschen mit Erfahrungen des Lebens antworten. Heute antworten sie nur mit dem, was sie aus Parteiurteilen und -begriffen heraus haben. Wenn aber jemand nichts davon hat, sondern nur das, was aus der ganzen Breite des Lebens heraus ist, dann sagt man: das ist unpraktisch, das antwortet nicht auf einzelne Fragen, man hätte gerne einzelne konkrete Fragen beantwortet. Meine «Kernpunkte» sind nicht geschrieben worden, um [die soziale Frage] ins Theoretische oder Philosophische zu lenken, sondern um irgendwo anzufangen. Wenn man anfängt, wird man sehen, daß es weitergeht.

Herr Dr. Riebensam: Ich denke nicht, daß Herr Dr. Steiner von mir hin­ausgeworfen würde - maßgebend bin ich, aber die kaufmännische Leitung

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hat auch etwas zu sagen -, wahrscheinlich würde aber der jetzige Arbeiter­ausschuß Herrn Dr. Steiner hinauswerfen. Es erscheint so, als hätte ich mit meinen realen Bedenken die Ideen Herrn Dr. Steiners durchkreuzen wol­len. Das war nicht das Ziel und die Absicht meiner Erklärung. Ich wollte nur die ganze Sache hier erörtern. Meine Ansicht ist die, daß wir heute irgendeinen Weg brauchen, um den Kampf mit der Arbeiterschaft mög­lichst zu vermeiden. Nun ist es eine Tatsache, daß Herr Dr. Steiner heute bei einer großen Zahl von Arbeitern Vertrauen errungen hat. Und das dürfte in Stuttgart genug sein, um weitere Schritte einzuleiten. Damit könnte auch der Weg gegeben sein, der vielleicht ohne Kampf eine Weile weiterführt. Die Arbeiterschaft ist bereit mitzugehen, sogar mit den Be­triebsleitern. Es wäre sehr verfehlt, einen solchen Weg nicht zu verfolgen. Das ist meine persönliche Ansicht.

Herr Reitz: Wie läßt sich das machen?

Emil Molt: Um das zu beantworten, dafür sind wir zusammengekommen. Nachdem Herr Dr. Riebensam ein bedeutsames Wort ausgesprochen hat, nachdem der Weg klar vorgezeichnet ist, wie sich zwei Klassen zusammen­finden zu einem Menschentum, nachdem diese klaren Wege hier vor­gezeichnet sind, liegt es nun an jedem einzelnen, den Weg auch wirklich zu beschreiten. Der Tod bei all diesen Sachen ist immer der, daß viel mehr geredet als getan wird. Herr Dr. Stadler hat recht, wenn man nur zusam­menkommt und redet, ohne zur Tat zu schreiten, dann eilt die Zeit so, daß die Ereignisse über uns hinweggehen. Wir sind alle der Meinung, daß in drei bis vier Wochen der große Zusammenbruch kommt, wo wir mit der Tat bereitstehen müssen, um das Neue zu verwirklichen. Dazu brauchen wir ja jeden einzelnen Menschen, so daß die Gedanken auch in dem täg­lichen Leben stündlich und minütlich in die Tat umgesetzt werden können. Deshalb bitten wir Sie sehr darum, im Interesse des Volkes, der Mensch­heit, nicht nur zu fragen, wie denkt Herr Dr. Steiner darüber, sondern daß jeder einzelne sich ganz klar darüber ist, daß in ihm selber der Weg vor­gezeichnet liegt und er ihn bloß beschreiten muß. An diesem Nichtbe­schreiten ging das alte Deutschland zugrunde und wird das gegenwärtige Deutschland zugrundegehen. Ich glaube, wenn wir heute nach Hause gehen, sollten wir es tun mit dem festen Entschluß, überzugehen von den bloßen Erwägungen zu dem Handeln, auch wenn es nicht vollkommen sein kann - ein unvollkommenes Handeln ist noch besser als ein ganz gescheites Denken, mit dem wir nur wieder an der Oberfläche bleiben und nicht die

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Dinge in der Wirklichkeit umgestalten, denn um die Umgestaltung der Dinge handelt es sich heute.

Vielleicht besteht noch das Bedürfnis, sich zu der kulturellen Seite der Probleme zu äußern. Dazu möchten wir bald Gelegenheit schaffen; viel­leicht könnten einzelne Gebiete getrennt oder gemeinschaftlich bearbeitet werden. Darüber hätte ich gerne Ihre Meinung gehört, damit wir mit einem Ergebnis heimgehen können.

Herr Dr. Weiss: Ich bin sehr dafür, daß eine Aussprache in diesem Sinne fortgesetzt würde. Ich fände es aber besser, wenn die einzelnen Gebiete nicht getrennt bearbeitet würden; es ist für uns, die wir weder Unterneh­mer noch Handwerker sind, wichtig, daß wir in alle Fragen hineingehen. Es sollte die Möglichkeit geschaffen werden, daß alle Fragen zusammen be­arbeitet werden, auch auf die Gefahr hin, daß sich die Reihen lichten. Wir sollten nicht nur sprechen, sondern auch versuchen, durch die Presse zu wirken. So sollten wir einen ganz lose gefügten Presseausschuß haben, der in den verschiedenen Parteiorganen, nicht um die Polemik anzuheizen, Stellung nimmt. Es müßte auch ein besonderes Organ des Bundes für Dreigliederung bereit sein, die Manuskripte zu überprüfen, ehe man sie an die betreffende Redaktion schickt, damit nicht das spätere Vorgehen er­schwert wird. Es soll natürlich der Bund für Dreigliederung nicht die freie Meinungsäußerung einschränken, aber wir müssen so etwas schaffen; jeder soll seine Beziehungen zur Presse dazu benützen, in den betreffenden Fragen Stellung zu nehmen, aber die Artikel sollten vorher eingeschickt werden, damit wir konzentrisch vorgehen können.

Emil Molt: Gerade das wird von uns angestrebt; wir müßten eigentlich jeden Tag Stellung nehmen.

Ein Diskussionsredner: Wir sind heute hierher zu einer Aussprache ge­kommen. Es wäre wünschenswert, wenn eine Anzahl von Industriellen als Vertreter der Besitzer, von Betriebsleitern und von Angestellten als Vertre­ter der Angestelltenausschüsse zusammenkämen, um sich über diese Sache auszusprechen.

Emil Molt: Dies sollte meines Erachtens wirklich versucht werden; es wäre der erste Schritt zur Vorbereitung einer funktionierenden Betriebsräteschaft.

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Herr Dr. Riebensam: Ich denke, der Weg müßte ein etwas anderer sein; Ihre Betriebsräte sollten unsere Arbeiterausschüsse einladen.

Emil Molt: Man kann beides machen; die Arbeiter müßten sehen, daß die Initiative von den Fabrikanten ausgeht.

Herr Dr. Riebensam: Sie müßte von den Arbeiterausschüssen ausgehen, nicht von den Fabrikanten.

Emil Molt: Die Fabrikanten würden aber sonst nicht kommen; aber am besten besprechen wir das nachher.

Ein Diski'ssionsredn er: Könnte man nicht sozusagen gewisse Richtlinien herausgeben, damit die Fabrikanten Anhaltspunkte haben? So könnten dann die Geschäftsleitungen in den großen Betrieben die Sache verarbeiten und mit den Arbeiterausschüssen besprechen. Dies würde vielleicht einen Weg abgeben, um die ganze Sache abzukürzen.

Auf die Frage, ob man am nächsten Donnerstag wieder zusammentreffen wolle, wird beschlossen, sich an diesem Tag um 7 Uhr abends wieder zu versammeln.

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ZWEITER FRAGEABEND Stuttgart, 30. Mai 1919

Fragen zur Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus II

Wilhelm von Blume: Sehr verehrte Anwesende, im Namen des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus heiße ich Sie auch heute wieder willkommen. Wir haben für heute angesetzt einen Abend, an dem Fragen beantwortet werden sollen, die aus der Mitte der Versammlung heraus ge­stellt worden sind oder etwa noch gestellt werden, und ich bitte zunächst Herrn Dr. Steiner, das Wort zu nehmen zu einigen einleitenden Bemer­kungen.

Rudolf Steiner: Sehr verehrte Anwesende, der heutige Abend soll ja vor allen Dingen gewidmet sein der Beantwortung der Fragen, welche aus dem verehrten Zuhörerkreis hervorgegangen sind in Anknüpfung an den Impuls, der mit der Idee der sozialen Dreiglie­derung gegeben worden ist. Morgen werde ich dann einen der Haupteinwände zu behandeln haben in einem hier zu haltenden Vortrag, den Einwand, daß es sich bei dem Impuls des dreiglied­rigen sozialen Organismus nur handle um irgendeine ausgeklügelte Idee, um irgendeine Ideologie oder Utopie, und ich werde morgen zu beweisen versuchen, daß es sich wirklich um die praktischste Angelegenheit in unserer Gegenwart handelt. Heute gestatten Sie mir nur, daß ich mit ein paar Worten die Fragenbeantwortung, die den Inhalt der heutigen Tagesordnung ausmacht, einleite.

Es ist im Grunde genommen, meine sehr verehrten Anwesen­den, noch wenig bemerkt worden, daß mit dem Impuls zum drei­gliedrigen sozialen Organismus hingewiesen werden soll auf die allerbedeutsamste Aufgabe, welche aus den Entwicklungsverhältnissen heraus in der neueren Zeit dieser Menschheit gestellt worden ist. Es ist wahrhaftig nicht heraus aus einem übertriebenen Pessi­mismus, wenn man seine Anschauung heute dahin ausspricht, daß noch allzuwenig - wahrhaftig allzuwenig - der große Ernst der

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Zeit, der große Ernst der Zeitforderungen in den weitesten Kreisen eingesehen wird. Wir stehen eben wirklich vor einer Aufgabe, welche schier riesengroß ist. Denn die ganze Entwicklung der neueren Menschheit spitzte sich so zu, daß sich diese Aufgabe ein­mal stellte, und sie ist der Menschheit gestellt worden aus den bedeutungsvollen Ereignissen dieser Weltkriegskatastrophe heraus. Begriffen aber ist die ganz außerordentliche Bedeutung dieser Aufgabe heute in weitesten Kreisen keineswegs, und man möchte glauben, daß es selbst wiederum eine Aufgabe ist, den Ernst dieser Aufgabe den Menschen der Gegenwart vollständig zum Bewußt­sein zu bringen. Die Aufgabe tritt ja zunächst hervor in den Er­scheinungen, in den Tatsachen der Zeit. Zu diesen Erscheinungen, zu diesen Tatsachen der Zeit nehmen die Menschen aus den ver­schiedensten Klassen, aus den verschiedensten Gesellschaftskreisen und auch aus den verschiedensten Parteien heraus ihre Stellung. Aus alle dem, was sich aus solchen Stellungnahmen heraus bis heute ergeben hat, tritt einem eigentlich ein Zweifaches entgegen, und dieses Zweifache möchte ich in diesen paar einleitenden Wor­ten charakterisieren; auf alles Nähere will ich dann morgen weiter eingehen. Ich möchte dies einleitungsweise charakterisieren, weil ja, wie es auch wünschenswert ist, bei der heutigen Fragestellung mehr einzelne, konkrete, praktische Fragen zur Besprechung kom­men sollen. Aber es ist heute für den Menschen einmal notwendig, auf das Große, Umfassende der Aufgabe immer wieder und wie­derum hinzuschauen, schon darum, damit die Verantwortlichkeit gegenüber den großen Zeitfragen in den Menschen aufgerüttelt werde.

Ein Zweifaches, sagte ich, kann man bemerken, wenn man die Stellungnahmen der verschiedensten Kreise heute zu dieser großen Aufgabe in Betracht zieht. Man kann sagen: Die eine Art der Menschen, die Stellung nimmt, sie hat vor allen Dingen ein Inter­esse daran, in einer gewissen Weise dasjenige wieder herzustellen in irgendeiner Form - in einer Form, in der man es annehmbar findet -, was durch die bedeutsame Weltkriegskatastrophe zerstört worden ist. Und die andere Art von Menschen, von ganz anderer

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Seite herkommend, sie hat vor allen Dingen ein Interesse, alles anders zu machen, als es vor der Weltkriegskatastrophe war - zum Teil dem Ziele nachgehend, daß solch Furchtbares über die Menschheit nicht mehr hereinbrechen könne, zum Teil auch aus der Empfindung und Überzeugung heraus, daß auf Grundlage der alten Wirtschafts-, Staats- und Geistesordnung eben nicht weiterzukommen ist, daß ein Neubau ganz ernstlich in Angriff genom­men werden muß. Wenn wir die eine Art von Menschen - gegen­über den ja ganz neuen Forderungen - mehr die konservativen Menschen nennen wollen, so wird unser Blick gelenkt auf alle die­jenigen Kreise, welche mehr oder weniger den alten sozialen Welt­anschauungen angehören, die irgendwie verquickt sind mit dem­jenigen, was die alten Weltanschauungen vor allen Dingen auch an wirtschaftlichen Ordnungen der Menschheit gebracht haben. Auf der anderen Seite sehen wir die vorwärtsstürmenden Parteien, wel­che namentlich sich zusammensetzen aus dem Proletariat heraus, und da sehen wir dasjenige, was in einer ganz anderen Weise Stel­lung nimmt zu der großen Aufgabe und was in einer solchen Art Stellung nimmt, daß die eine Art von Menschen die andere nicht mehr versteht. Sucht man nach den Gründen dieses Nichtverste­hens - ich will sie heute nur skizzenhaft anführen -, sucht man nach den Gründen dieses Nichtverstehens, dann wird man finden, daß auf der einen Seite die Vertreter des Alten, die in irgendeiner Weise mit diesem Alten weiter zusammenhängen möchten, im Laufe der neueren Geschichte verloren haben ein eigentliches Kul­turziel und behalten haben eine alte Kulturpraxis, in der sie fort-gearbeitet haben. Diese Leute, sehr verehrte Anwesende, die haben eine Praxis, aber diese Praxis ist nicht mehr durchdrungen von zielvollen Impulsen. Diese Praxis, sie drückt sich immer darin aus, daß, wenn man diese Menschen fragt: Wie wollt Ihr eigentlich jetzt, wo die großen Aufgaben kommen, vorwärtsdringen? -, sie irgend­wie doch mit dem antworten, was nur eine Fortsetzung des Alten bedeutet; sie antworten aber auch nicht mit irgendeinem großen Ziele; sie antworten im Grunde genommen nur mit dem, was sich ihnen aus der Routine der bisherigen Praxis ergeben hat. Sie haben

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eine Praxis ohne ein Ziel. Auf der anderen Seite steht das Prole­tariat. Das hat ein Ziel, ein Ziel, das man ja in der verschiedensten Weise zum Ausdruck bringen kann, aber es ist ein Ziel. Aber dieses Proletariat hat keine Praxis; diesem Proletariat fehlt alle praktische Möglichkeit, dasjenige, was es als seine Ziele irgendwie definiert, in die Wirklichkeit umzusetzen. So steht auf der einen Seite alther­gebrachte Praxis ohne Ziel, auf der anderen Seite ein neues Ziel ohne Praxis. Das Proletariat ist ferngehalten worden von der Pra­xis, nur hingerufen worden zur Maschine, nur eingespannt worden in die Fabrik und in den Kapitalismus. Daraus ist ihm sein Ziel erwachsen, indem es, ich möchte sagen anstürmt gegen das, was es erfahren hat, aber es ist niemals verbunden mit der Leitung, mit der Führung der Wirtschaftsformen selber. Es fordert heute neue Le­bensformen; es weiß aber nichts von einer Praxis. Woher kommt diese Kluft?

Diese Kluft kommt eben davon, daß wir vor das größte Problem der neueren Zeit gestellt sind, und dieses größte Problem der neue­ren Zeit, es ist aufgegangen eben in dem Zeitalter, das den Indu­strialismus zu seiner höchsten Blüte gebracht hat. Es liegt dieses Problem zunächst auf wirtschaftlichem Gebiete verborgen, es streckt aber nach den anderen Lebensformen seine verschiedenen Zweige aus. Dieses Problem ist so bedeutsam, daß selbst ein so scharfer Kopf wie zum Beispiel Walter Rathenau höchstens ein wenig daran getippt hat, aber nicht zu irgendeiner klaren Anschau­ung über dieses einschneidende Problem der Gegenwart kommt, über dieses Problem, an dem wir alle kranken, über dieses Problem, das gebieterisch seine Lösung fordert. Wenigstens ins Auge fassen möchte vorurteilsfrei und lebensvoll der Impuls für die Dreigliede­rung des sozialen Organismus dieses Problem. Und wenn ich es mit ein paar Worten andeuten soll, gewissermaßen als Einleitung zu dem morgigen Vortrage, der es in seinen speziellen Formen behandeln soll, dann muß ich sagen: Dieses Problem, es mußte heraufziehen langsam in der Menschheit, mußte sich gewisser­maßen bis zu seiner höchsten Entfaltung erheben in der Zeit des sich immer mehr ausbreitenden Industrialismus und der modernen

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Technik und steht heute fragend und drohend vor uns. Es besteht darinnen, daß aller Industrialismus in der Volkswirtschaft mit einem Passivum arbeitet - das ist so und nicht anders. Die Volks­wirtschaft muß darauf eingestellt sein, das man weiß: Aller Indu­strialismus, insofern er sich durch seine Produktionsmittel immer weiter und weiter entwickelt, arbeitet gegenüber dem, was Volks­wirtschaft der Menschheit ist, mit Unterbilanz. Insofern der Indu­strialismus mit Unterbilanz arbeitet, muß in der menschlichen Volkswirtschaft das Fehlende von anderer Seite ersetzt werden. Das ist das große Problem der Gegenwart, daß aller Industrialis­mus mit Unterbilanz arbeitet und daß die Frage nicht von mir oder anderen gestellt werden kann, ob diese Unterbilanz gedeckt wird, sondern das Leben ist fortwährend dazu aufgefordert, die Unterbi­lanz des Industrialismus zu decken. Woher wird sie denn gedeckt? Allein vom Boden wird sie gedeckt, meine sehr verehrten Anwe­senden, allein durch dasjenige, was der Boden hervorbringt. In der neueren Volkswirtschaft stehen wir fortwährend in diesem Wech­selprozeß [zwischen Industrie und Bodenproduktion] drinnen - der durch sekundäre Vorgänge überdeckt wird -, indem die Unterbilanz der Industrie durch die Überbilanz der Bodenproduktion im weitesten Sinne gedeckt werden muß. Alles dasjenige, was als Lohnfrage, was als Kapitalfrage, was als Preisfrage innerhalb des modernen Lebens drinnen ist, das ist lediglich herrührend davon, daß hinüberwandern muß von der Bodenproduktion der Über­schuß in die Unterbilanz der Industrie.

Das aber, sehr verehrte Anwesende, ist mit etwas anderem ver­knüpft. Es ist damit verknüpft, daß auf der einen Seite alles das­jenige, was im Menschen mit dem Boden zusammenhängt, hinneigt zu einem gewissen Konservativismus. Diese Sache läßt sich streng beweisen, doch ich will sie heute nur einleitungsweise andeuten. Wäre nur der Boden mit seinen Produkten vorhanden, so würden wir mehr oder weniger in bezug auf die Kultur in Urzuständen der Menschheit verbleiben müssen. Der Fortschritt der Menschheit rührt her davon, daß das Industrielle mit seiner weitgehenden Arbeitsteilung diesen Fortschritt begünstigt. Damit aber wird das

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Industrielle zu gleicher Zeit auf den verschiedensten Gebieten zum Träger des Fortschritts, zuerst des Liberalismus, dann des Sozialis­mus. Es überträgt sich also dasjenige, was ausgesprochen ist in dem bedeutsamen, ich möchte sagen buchmäßigen Gegensatz zwischen Boden und industriellen Produktionsmitteln, auf menschliche Gesinnung. Und indem menschliche Gesinnungen miteinander streiten im Leben, ist dieser Streit innig zusammenhängend mit demjenigen, was darunter ist: die gegensätzlichen wirtschaftlichen Interessen des Bodens und der industriellen Produktionsmittel. Aber noch auf eine andere Weise hat in der neueren Zeit sich dieses ganze Problem zugespitzt. Nicht nur, daß in den Parlamenten Liberales und Sozialistisches dem Konservativen gegenübersitzt - herrührend einfach aus den Aktiven und Passiven der gesamten Weltwirtschaft -, nicht nur, daß sich in der neueren Zeit hineinge­schlichen hat das konservative und progressistische Element in die Volksvertretungen der Menschheit, sondern es haben sich hineingeschlichen die wirtschaftlichen Interessen, indem auf der einen Seite alles dasjenige, was mit dem Boden zusammenhängt, für das Stehenbleibende wirkt, auf der andern Seite alles dasjenige, was mit der Industrie zusammenhängt, für das Fortschreitende wirkt. Und so ist man dazu gekommen, daß auf der einen Seite des Menschen Geistesfortschritt, auf der andern Seite des Menschen wirtschaft­liche Interessen chaotisch zusammengewürfelt sind in der neueren Zeit in unserer Einheitsstaatsordnung.

Das ist das große Problem, das heute vor den Menschen steht, riesengroß möchte ich sagen. An diesem Problem doktern herum die links- und die rechtsstehenden Leute. Weil es so riesengroß ist, des­halb ist auch die Verständigung so schwer. Die Menschen auf der einen Seite wollen sich heute nur an das Allernächste halten und nur das praktisch nennen, während die Zeit uns die Aufgabe stellt, den großen buchmäßigen Gegensatz zwischen Bodenprodukten und In­dustrieprodukten, von denen beiden die Menschheit sich nährt, klei­det und andere Bedürfnisse befriedigt, in der neueren Menschheits­entwicklung zu irgendeiner Lösung zu bringen. Alles dasjenige, was aufgetreten ist, das ist zuletzt, ich möchte sagen fast zahlenmäßig

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zurückzuführen auf das angeführte buchmäßige Ergebnis. Aber man braucht wirklich guten Willen, sich auf die Grundkraft des wirklich praktischen Lebens einzulassen, wenn man die Aufgabe auch nur sehen will. Wir sind heute auf dem Boden, daß wir diese Aufgabe sehen müssen, daß wieder auseinandergetrieben werden muß in der rechten Weise dasjenige, was chaotisch durcheinanderwirbelt. Diese Aufgabe will sich der Impuls zum dreigliedrigen sozialen Organis­mus stellen, der in der richtigen Weise einen gesunden sozialen Or­ganismus auf seine gesunden drei Beine stellen will, auf das Geistige, das Rechtliche und das Wirtschaftliche. Einfach aus dem, was in die­ser Entwicklung der neueren Zeit drinnenliegt, ist dieses Problem entstanden. Und mögen die Menschen meinetwillen die nächsten Resultate, zu denen der Impuls für den dreigliedrigen sozialen Orga­nismus gekommen ist, noch anfechtbar finden, man kommt, ohne nach diesen drei Lebensgebieten so zu fragen, daß für ihre sachge­mäße Organisierung in der Zukunft eine Form gesucht wird, man kommt dem größten Problem, das uns gestellt ist, nicht näher; man kommt dem nicht näher, was allein herausführen kann aus dem drohenden Chaos und der drohenden Wirrnis.

Das wollte ich nur einleitungsweise sagen aus dem einfachen Grunde, weil auf der einen Seite gesehen werden soll, wie der Impuls zum dreigliedrigen sozialen Organismus wirklich an das Höchste anknüpft, was der Menschheit als eine große geschicht­liche Entwicklungsaufgabe gestellt ist, und weil auf der anderen Seite die Beantwortung der Frage wird zeigen können, wie viel man heute schon aus einer wirklichen Lebensbeobachtung heraus über dasjenige sagen kann, was sich im einzelnen praktisch aus den heute gestellten Fragen ergeben kann.

Ich werde nun zuerst in die Beantwortung von Fragen eintreten, die mir übergeben worden sind.

Wilhelm von Blume: Wir treten also nunmehr an die Beantwortung der zunächst schriftlich gestellten Fragen heran.

Rudolf Steiner: Sehr verehrte Anwesende, ich werde versuchen, die Fragen, die mir schriftlich übergeben worden sind, in einer

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nicht allzu langen Form zu beantworten, aus dem einfachen Grun­de, weil ich glaube, daß vielleicht nachher auch noch zahlreiche Fragen aus der verehrten Zuhörerschaft mündlich oder schriftlich gestellt werden dürften.

Das erste Fragebündel, das mir vorliegt, trägt die Überschrift «Zur Dreigliederung». Die erste Frage:

In welcher Weise werden Einzelpersonen, Assoziationen und Betriebe den drei verschiedenen Organisationen unterstellt? Einzelne Grenzfälle sind beispielsweise der Zeitungsverleger, Anstalten der öffentlichen Gesund­heitspflege, Theater und Kinounternehmungen.

Nun, sehr verehrte Anwesende, ich will herausheben aus dieser ersten Frage vor allen Dingen das Zeitungsgewerbe. Denn gerade an so etwas wie dem Zeitungsgewerbe wird man ersehen können, wie auf der einen Seite tatsächlich die Dreigliederung des sozialen Organismus zu einer vollständigen Umgestaltung der gegenwär­tigen Verhältnisse führen kann, aber in organischer Weise, und wie auf der anderen Seite sich daraus ergeben kann, daß die Einheit des Lebens gar nicht gestört wird. Im Grunde genommen wird es sich dabei auch zeigen können, daß dasjenige, was die Menschen über das Unverständliche des dreigeteilten sozialen Organismus sagen, eigentlich darauf beruht, daß man sich eben aus den alten Denkge­wohnheiten heraus in der Gegenwart noch nicht einlassen will auf das, was eben notwendig ist. Aber man wird sich entschließen müssen, zu diesem Notwendigen sich zu bequemen.

Sie sehen, sehr verehrte Anwesende, im Zeitungsgewerbe fließen im Grunde genommen alle drei Betätigungsweisen des menschlichen Lebens zusammen. Im Zeitungsgewerbe haben wir auf der einen Seite den Verleger, denjenigen, der dafür zu sorgen hat, daß die Zeitung gedruckt wird, daß sie in der entsprechenden Weise vertrieben wird und so weiter - das ist eine rein wirtschaft­liche Aufgabe. Auf der anderen Seite haben wir diejenigen, welche die Zeitung schreiben. Ich glaube, daß heute doch schon viele Menschen aus unseren merkwürdigen Verhältnissen heraus sich zu der Ansicht bequemen, daß die Zeitungen anders geschrieben werden

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sollten, als sie vielfach geschrieben werden. Denn, sehen Sie, irgend etwas der Menschheit Heilsames kann ja bei dem Zeitungs­schreiben nur herauskommen, wenn dasjenige, was geschrieben wird, lediglich hervorgeht aus den Interessen und Bedürfnissen des geistigen Lebens der Menschheit und aus den Bedürfnissen, die sich dadurch ergeben, daß das geistige Leben auch die ver­schiedenen anderen Lebenszweige anschaut. Der Zeitungsschrei­ber und alles dasjenige, was zum Redaktionstab gehört, gehört dem geistigen Leben an. Und da man es beiderseits, sowohl im wirtschaftlichen Teile des Zeitungsgewerbes wie im geistigen Teile des Zeitungsgewerbes, zu tun hat mit Menschen, die ihrerseits wieder als Menschen in Beziehungen stehen, nicht etwa bloß zu ihren Abonnenten, sondern auch zu der ganzen breiten Öffent­lichkeit, so hat man es dabei zu tun mit Verhältnissen, die von Mensch zu Mensch spielen, das heißt mit Rechtsverhältnissen. Dasjenige, um was es sich handelt, sehr verehrte Anwesende, das ist, daß gerade bei einem solchen Gewerbe wie dem Zeitungs­gewerbe in der Zukunft nicht ineinanderspielt zum Unheile der Menschheit das eine in das andere, das Wirtschaftliche, das Recht­liche und das Geistige, Kulturelle, sonst kommen wir am Ende in der Kulmination des Unheils zu solchen Dingen, wie wir sie zum Beispiel in der Gegenwart erfahren. Neulich ist eine merkwürdige Annonce durch den sogenannten Blätterwald gegangen. Da wird aufgefordert, daß sich insbesondere die Welt der Großindustriel­len und die Welt der Kapitalisten zusammentun zu einer neuen Zeitung. Es wird also geworben für eine neue Zeitung insbesonde­re bei Kapitalisten und Großindustriellen. Die Aufgabe dieser Zei­tung soll sein, mit allen geistigen Mitteln zu kämpfen gegen die Sozialisierung der Produktionsmittel. Also, sehr verehrte Anwe­sende, das Interesse von Kapitalisten und Großindustriellen soll alles dasjenige versklaven, was eigentlich aus dem Urteil, das aus dem Impulse der geistigen Welt kommt, die Menschheit aufklären sollte. Diejenigen, die etwas Erfahrung haben im Leben, werden wissen, wie gerade im Zeitungsgewerbe diese Dinge in der neue­ren Zeit immer ineinander gegangen sind und sich unter den Verhältnissen

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der Gegenwart in einer ganz besonders grotesken Weise ausgebildet haben.

In der Zukunft muß angestrebt werden, daß der Zeitungsver­leger, der Drucker, ein bloßer Wirtschafter ist und der Verwaltung des wirtschaftlichen Teils des sozialen Organismus untersteht. Er wird mit alle dem, was er an Interessen entwickeln kann innerhalb seines Zeitungsgewerbes, drinnenstehen in dem wirtschaftlichen Organismus. Nicht wird in dem wirtschaftlichen Organismus drin­nenstehen der Redaktionsstab, sondern der Redaktionsstab wird ganz und gar der Selbstverwaltung des geistigen Lebens - mit den anderen Zweigen des geistigen Lebens - unterliegen. Der Redak­tionsstab wird eine Einheit bilden mit alle dem, was Unterrichts-, Kunstwesen oder dergleichen ist, was sonstige Zweige des geistigen Lebens sind. Wie ein bestimmter Zeitungsverleger zu einem bestimmten Redakteur wird kommen können, hängt von dem Vertrag ab, welcher abgeschlossen werden kann zwischen dem Zeitungsverleger und dem Redakteur, wobei der Redakteur, weil er der Selbstverwaltung des geistigen Organismus zugehört, mit Bezug auf sein ganzes materielles Leben unabhängig ist von der Zeitungsverlegerschaft. Der Redakteur wird bloß ein Interesse daran haben, überhaupt seinen Beruf ausüben zu können. Ginge er diesem Interesse nicht nach, seinen Beruf auszuüben, so würde er ja brotlos sein. Aber in dem Augenblicke, wo es ihm gelingt, einen Vertrag abzuschließen mit irgendeiner Administration, wird er nicht die Entschädigung für diesen Beruf aus den Interessen dieser Administration heraus erhalten, sondern aus den Interessen des sich selbstverwaltenden Geisteslebens. Wenn irgendwelche Dinge vorliegen, durch die der eine oder andere Teil der Zeitung das Recht verletzt, wird diese Rechtsverletzung den Gesetzen des Rechtsstaates unterstehen. Für einen solchen Produktionszweig wird also in der Zukunft anzustreben sein, daß in ihn hineinspielen die drei großen Verwaltungszweige des geistigen, rechtlichen und wirtschaftlichen Lebens. In den mannigfachsten Produktionszweigen werden zusammenfließen diejenigen Interessen, die von den verschiedensten Richtungen her verwaltet werden. Und das wird

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sich ergeben in dem Zusammenwirken der Menschen, daß diese Interessen - die sich sonst, wenn sie konfundiert werden, wenn sie zusammengeschmolzen werden in einen Knäuel, nur gegenseitig stören -, daß sich diese Interessen gerade gegenseitig moralisieren, ethisieren, stützen werden. Derjenige, der wirklich praktischen Sinn hat, der wird sich sagen: Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß wirklich praktisch eine solche Gliederung eines einzelnen Gewer­bes vorgenommen werden kann. Und durch diese Gliederung des ganzen sozialen Organismus, die in die einzelnen Verhältnisse hineingreift, haben wir dann die Gesundung des gesamten sozialen Lebens. Nur ist es den Menschen heute noch ungewohnt, gerade dasjenige zu denken, was zu einer solchen Gesundung führt. Es ist ihnen auch aus dem Grunde ungewohnt, weil sie von manchem lassen müssen, was sie aus gewissen alten Lebensgepflogenheiten heraus für fast unerläßlich halten. Für unerläßlich betrachtet man heute, daß derjenige, der das wirtschaftliche Risiko für eine Zeitung übernimmt, auch denjenigen, der an der Zeitung im Redaktionsstabe angestellt ist, zu seinem Schreiber macht. Das wird er in der Zukunft nicht tun können. Daraus wird eine groß­artige Unabhängigkeit des Schreibenden gegenüber den wirtschaft­lichen Interessen des Zeitungsverlegers im Zeitungsgewerbe entste­hen, und gerade in diesem Zweige wird eine Gesundung eintreten, die wir wahrhaftig brauchen und von der wir zugeben müssen, daß wir sie brauchen, wenn wir auf die Lebensbedingungen des gesun­den sozialen Organismus eingehen wollen.

Als zweite Frage ist mir vorgelegt:

Wird die Gemeindeverwaltung mit ihren die Dreigliederung durchbrechen­den Betrieben auf dem Gebiete der drei Organisationen - also beispiels­weise Schulen, Gaswerken, Gerichtsbarkeit - aufrechterhalten?

Nun, sehr verehrte Anwesende, nicht darum handelt es sich, daß heute, in der Übergangszeit - in der wir ja noch nicht einmal drin­nen sind, sondern die wir erst anstreben -, schon über die Größe der einzelnen Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsgebiete gesprochen wird, von der ich im letzten Vortrage hier gesprochen habe. In

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bezug auf die äußere Struktur des sozialen Lebens braucht sich bei einer wirklichen Sozialisierung des gesamten menschlichen Lebens gar nicht besonders viel zu ändern. Dasjenige aber, was ich gerade ausgeführt habe für ein einzelnes Gewerbe, das wird ebensogut von irgendeinem Staate, einem Reiche wie von einer einzelnen Gemein­deverwaltung durchgeführt werden können. Schulen, Gaswerke, Gerichtsbarkeit, sie werden ihre verschiedenen Seiten haben zum Teil nach der Rechtsseite, zum Teil nach der Wirtschaftsseite hin - bei den Schulen auch nach der geistigen Seite hin -, und es wird hereinspielen in den einzelnen Betrieb, sei er geistig oder mehr oder weniger bloß materiell, wirtschaftlich, dasjenige, was von den drei Organisationen und ihren Verwaltungen ausgeht.

Die dritte Frage:

Wer entscheidet über die jeweilige Zugehörigkeit zu einem der drei Orga­nismen?

Diese Frage, sehr verehrte Anwesende, geht eigentlich - verzeihen Sie das harte Wort - aus einem gewissen Vorurteile hervor, daß alles von einer Obrigkeit ausgehen muß. In demjenigen, was als gesunder sozialer Organismus für die Zukunft angestrebt wird, ergibt sich nämlich die Zugehörigkeit aus der Sache heraus. Wir haben gerade bei der Besprechung des Zeitungsgewerbes gesehen, wie sich aus der Sache heraus diese Zugehörigkeit ergibt. Aus die­ser Zugehörigkeit heraus wird sich eine viel umfassendere Antwort geben, als man heute denkt. Und eine solche Frage wie diese - man wird sie erkennen als eine solche, die eigentlich aus der obrigkeits­gehorsamlichen Stimmung der Gegenwart heraus fließt, und nicht aus einem wirklich sachlichen Untergrunde.

Die vierte Frage:

Ist neben oder über den Sondervertretungen der drei Glieder noch ein - etwa aus deren obersten Leitung bestehendes oder ein zu wählendes - Parlament (für die Einzelstaaten? für das Reich?) gedacht?

Nun, verehrte Anwesende, da muß zunächst festgehalten werden, daß selbstverständlich - das habe ich ja auch in meinem Buche über

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die Soziale Frage ausgeführt - dasjenige, was Verwaltung oder Ver­tretung in den einzelnen der drei Glieder des sozialen Organismus ist, daß das mit den anderen in irgendeiner Weise zusammengehö­ren muß und daß ein gegenseitiger Austausch stattfinden muß durch die Menschen. Aber man denkt auch in dieser Beziehung vielfach heute schon viel zu schablonenmäßig. So zum Beispiel ist - das steht nicht in dieser Frage - in einem langen Schriftstück, das mir in diesen Tagen übersandt worden ist, ausgeführt worden, daß die Dreigliederung eigentlich notwendig mache drei verschiedene Parlamente: ein Kulturparlament, ein Staatsparlament und ein Wirtschaftsparlament. Nun, ich habe allerdings die Meinung, daß, wenn in solch schablonenhafter Weise drei Parlamente mit drei Ministerien nebeneinander säßen, dann nur die eine Folge entste­hen könnte, daß sich alle drei gegenseitig sabotieren. Das ist gerade dasjenige, was sich ergibt aus einer wirklichen Erkenntnis der tat­sächlichen Verhältnisse, daß der Parlamentarismus - und nur ein demokratischer Parlamentarismus ist ein wirklicher Parlamentaris­mus -, daß dieser Parlamentarismus nur beruhen kann auf dem­jenigen, was zwischen Mensch und Mensch dadurch festgesetzt werden kann, daß der Mensch einfach ein erwachsener, mündiger Mensch ist. Jeder muß teilnehmen können an dem demokratischen parlamentarischen Leben, der ein erwachsener, mündiger Mensch ist. Denn auf dem, was ein normaler, gesunder, erwachsener, mün­diger Mensch ist, auf dem, was er wissen, was er denken, was er fühlen und was er wollen kann, auf dem kann alles dasjenige beru­hen, was im Rechtsleben zum Austrag kommt. Aber in dieses Rechtsleben hat sich hineingemischt das Wirtschaftsleben, was also nicht bloß beruht auf den Empfindungen und Gedanken des er­wachsenen, mündigen Menschen, sondern was beruht erstens auf wirtschaftlicher Erfahrung, die man sich nur im einzelnen konkre­ten Gebiete erwerben kann, zweitens auf den tatsächlichen Grund­lagen, ich möchte sagen auf dem Kredit im umfassendsten Sinne - ich meine nicht Geldkredit, sondern Kredit im umfassendsten Sin­ne, der dadurch in einer Menschengruppe erzeugt wird, daß diese Menschengruppe in einem bestimmten Produktionszweige drinnensteht.

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Weil sich da im Wirtschaftsleben alles entwickeln muß aus tatsächlicher Erfahrung und tatsächlicher Verwaltungsgrund­lage des konkreten einzelnen Zweiges, kann dasjenige, was im Wirtschaftsleben an Organisation vorhanden ist, auch nur auf einer solchen Grundlage erwachsen, das heißt, es kann im Wirtschafts­leben nur eine sachgemäße Verwaltung aus der wirtschaftlichen Erfahrung und aus den wirtschaftlichen Tatsachen, Grundlagen heraus sich entwickeln. Da wird es keine parlamentarische Vertre­tung an der Spitze geben, sondern es wird eine Struktur geben von Assoziationen, Koalitionen, Genossenschaften aus den Berufsstän­den, aus der Zusammengliederung von Produktion und Konsum­tion und so weiter, die sich organisieren, die sich verwalten kön­nen. Und diese Struktur wird auch zu einer gewissen Spitze treiben - ich möchte sagen zu einem Zentralrat treiben. Das kann aber nicht dieselbe Struktur sein, welche zum Ausdruck kommt in dem, was als Rechtsboden selbständig abgegliedert werden muß. Dafür wird natürlich gerade dasjenige, was wieder hereinwirken soll in das Wirtschaftsleben als Recht, das wird gerade dadurch richtig als Recht hereinwirken, daß es nun reinlich, ohne verunreinigt zu sein durch die wirtschaftlichen Interessen, auf dem Rechtsboden aus der Gemeinschaft aller mündig gewordenen Menschen entstehen kann. Und ebensowenig wie in der schablonenhaften, parlamentarischen Weise das Wirtschaftsleben verwaltet werden kann, ebensowenig kann auf diese Weise verwaltet werden das Geistesleben, das wie­derum aus seinen besonderen Verhältnissen heraus eine auf seine eigenen Gesetze sich gründende Organisation entwickeln muß, die ganz anders sein wird als diejenige des Wirtschaftslebens. Dasjeni­ge, was da im Geistesleben als die oberste Spitze sich ergibt, das wird gemeinsam mit alle dem, was in der Mitte steht, auf dem Rechtsboden, was parlamentarisch und ministeriell verwaltet, und mit dem, was als eine Art Zentralrat im Wirtschaftsleben sich er­gibt, die gemeinsamen Angelegenheiten ordnen können. Ich weiß, es sind sehr viele Menschen, die sich so etwas nicht vorstellen können; aber in der Praxis wird es einfacher sein, vor allen Dingen fruchtbarer sein als all dasjenige, was heute an dessen Stelle steht.

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Das zweite Fragebündel trägt die Überschrift «Zum Wirt­schaftsleben». Erstens:

Was geschieht mit dem vorhandenen Vermögensbesitz der Begüterten, insbesondere dem landwirtschaftlichen und dem städtischen Grundbesitz? Die Frage ist klar ausgeführt in meinem Buche über die Soziale Frage. Dasjenige, was uns in die einzelnen Krisen des Wirtschafts­lebens und nun in die große Krise hineingeführt hat - denn eine solche ist die gegenwärtige Weltkatastrophe -, das ist jene Gestalt des modernen Wirtschaftslebens, die ich herauszustellen versuchte in meinem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Frage». In diesem Buche wird beantwortet, wie in der Zukunft auf der einen Seite das Produktionsmittel, das in Boden besteht, und auf der anderen Seite das industrielle Produktionsmittel [anders angesehen werden müs­sen]. Die industriellen Produktionsmittel dürfen nur solange Kapi­tal saugen aus dem Wirtschaftskörper, bis sie fertig sind; wenn sie fertig sind, dann ist auch ihr Saugen des Kapitals aus dem Wirt­schaftskörper fertig. Mit anderen Worten: Kosten können indu­strielle Produktionsmittel nur solange etwas, als an ihnen gearbeitet wird bis zu ihrer Fertigstellung; dann müssen sie übergehen in den Zirkulationsprozeß für Produktionsmittel; dann müssen sie durch­aus dasjenige sein, was Allgemeinbesitz ist. Der Boden aber, der nicht fabriziert wird, sondern schon da ist, der kann überhaupt niemals etwas kosten.

Sehen Sie, sehr verehrte Anwesende, wenn man gesund denkt, ergibt sich das in einer gewissen Weise heute schon, aber eben nur in den einzelnen Fällen, wo man gesund wirtschaftlich denkt. Wir haben als Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach einen Bau aufgeführt, der noch nicht fertig ist, der durch die Weltkriegs-katastrophe in seiner Fertigstellung beeinträchtigt worden ist. Wir haben ihn selbstverständlich aus den gegenwärtigen Wirtschafts­verhältnissen heraus gebaut, aber bei diesem Bau kann die Frage aufgeworfen werden: Wenn wir nun alle einmal tot sein werden, wenn wir alle nicht mehr dabei sein werden, wenn der Bau fertig sein wird, wem wird dann dieser Bau gehören, wer wird ihn einem

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andern verkaufen können? - Diese Frage beantwortet sich für un­seren Bau ganz von selber. Er wird niemandem gehören; er gehört selbstverständlich der Allgemeinheit. Denn er ist aus der gesunden Grundlage heraus gebaut, daß er einmal [in der Zukunft] als Ge­meingut der ganzen Menschheit wird übergehen können auf den, der ihn wiederum verwalten kann. Man muß nur einmal praktisch auf eine solche Sache gekommen sein. Man kann in der gegenwär­tigen Wirtschaftsform nur annähernd dazu kommen, aber man wird sehen, daß dasjenige, was in meinem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» darüber steht, daß jedes Kaufverhältnis aufhört bei einem Produktionsmittel, wenn es fertiggestellt ist, und daß eben in anderen Formen dieses dann nicht mehr käufliche Produk­tionsmittel in die Verwaltung der Gesellschaft übergeht. Und man wird sehen, daß darinnen etwas im eminentesten Sinne Praktisches liegt.

Die zweite Frage:

Wie ist der Kleinhandwerker und das Kleingewerbe zu organisieren?

Es ist nicht anders zu organisieren als das Großgewerbe und das Großhandwerk, aus dem einfachen Grunde, weil sich aus den Gesetzen des Wirtschaftslebens selbst heraus ergeben wird - aus den Gesetzen, die ich neulich im Vortrag ausgeführt habe -, daß ein zu großes Gewerbe oder zu ein großer Betrieb diejenigen schädigt, verhungern läßt, die außer ihm stehen, und daß ein zu kleines Gewerbe, ein zu kleiner Betrieb diejenigen schädigt, die in ihm stehen. Es wird sich die Größe aus den zukünftigen wirtschaft­lichen Verhältnissen von selbst anstreben lassen.

Die dritte Frage:

Soll der Handel, insbesondere der Großhandel für Import und Export, aufhören?

Das wäre natürlich ein völliges Unding, wenn er aufhören würde. Wer wirklich mit einem praktischen Sinn sich durchdenkt dasjeni­ge, was in meinem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» ausgeführt ist, der wird sehen, daß die tatsächlichen Verhältnisse an

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den Grenzen des Wirtschafts-, des Rechts-, des Geistesgebietes keineswegs andere werden. Nicht einmal die Initiative der einzel­nen wird dadurch eine andere, die ja notwendig ist selbstverständ­lich nach außen hin. Dasjenige, was geändert wird, sind nur die sozialen Verhältnisse im Innern. Geändert werden überhaupt nur Dinge, die gar nichts zu tun haben mit demjenigen, was an den Grenzen vorgeht, außer daß an diesen Grenzen dasjenige, was bis­her in so störender Weise wirkte und in den furchtbaren Kriegs­explosionen sich auslebte, sich gegenseitig harmonisieren wird. Dadurch, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse an den Grenzen ausgleichend wirken auf die internationalen Rechtsverhältnisse und auf die internationalen Geistesverhältnisse - zum Beispiel auch an den Sprachgrenzen -, dadurch wird gerade der dreigegliederte so­ziale Organismus in internationaler Beziehung, wie ich in meinem Buche ausgeführt habe, seine große Bedeutung haben. Da wird nur nicht mehr bei Import und Export in bunter Weise sich durchein­andermischen können dasjenige, was auf der einen Seite aus dem Wirtschaftlichen und auf der anderen Seite aus dem Rechtlichen oder aus dem Geistigen, zu dem auch das Nationale gehört, sich entwickelt. Das Unding «nationale Wirtschaft», das wird allerdings aufhören, aus dem einfachen Grunde, weil über die Grenzen hin für Export und Import lediglich wirtschaftliche Verhältnisse maß­gebend sein werden und weil nicht mehr die Möglichkeit bestehen wird, daß solche Weltkonflikte hervorgerufen werden durch das Ineinanderknäueln von wirtschaftlichen und politischen Interessen. In einer solchen Durcheinanderknäuelung von politischen, kultu­rellen, wirtschaftlichen Fragen, wie sie zum Beispiel bei der Sand­schak-Frage oder der Dardanellen-Frage im Südosten des euro­päischen Kontinents oder beim Bagdadbahn-Problem aufgetaucht ist, liegt ein großer Teil von dem, was dann zu der gegenwärtigen Weltkriegskatastrophe geführt hat.

Die vierte Frage:

Tritt für den «Lohn» Naturalwirtschaft an die Stelle des Geldverkehrs?

Daß der Begriff des Lohnes in der Zukunft keine rechte Bedeutung

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mehr hat, indem eine Art Vergesellschaftung eintreten wird zwi­schen dem Handarbeiter und dem geistigen Arbeiter - das habe ich in meinem Buche ausgeführt, auch in Vorträgen vielfach schon angedeutet. Also von einer Rückkehr zur bloßen Naturalwirtschaft kann natürlich nicht die Rede sein. Aber das Geld wird - auch wenn der führende Handelsstaat England an der Goldwährung festhält - zunächst wenigstens im Inlandsverkehr eine andere Be­deutung erhalten. Es wird dasjenige, was heute dem Gelde anhaftet - daß es Ware ist -, das wird wegfallen. Dasjenige, was im Geldwesen vorliegen wird, wird nur eine Art wandelnde Buchhaltung sein über den Warenaustausch der dem Wirtschaftsgebiet ange­hörenden Menschen. Eine Art aufgeschriebener Guthaben wird man haben in dem, was man als Geldunterlage hat. Und ein Abstreichen dieser Guthaben wird stattfinden, wenn man irgend etwas erlangt, was man zu seinem Bedarf braucht. Eine Art Buchführung, wandelnder Buchführung wird das Geldwesen sein. Das Geld, das heute Ware ist und dessen Gegenwert, das Gold, ja nur eine Scheinware ist, das wird in Zukunft nicht mehr Ware sein.

Die fünfte Frage:

Ist Arbeitszwang in Aussicht genommen?

Nun, sehr verehrte Anwesende, wer in den Geist meines Buches «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» eindringt, der wird sehen, daß dasjenige, was nun wirklich jedem einigermaßen menschlich denkenden Menschen - das sage ich hier ganz unverblümt - als das Scheußlichste erscheinen muß, ein bürokratisch angeordneter Arbeitszwang, daß der in der Zukunft [in einem dreigegliederten sozialen Organismus] wegfallen kann. Natürlich ist ja jeder aus den sozialen Verhältnissen heraus gezwungen zu arbeiten, und man hat nur die Wahl, entweder zu verhungern oder zu arbeiten. Einen anderen Arbeitszwang als den, der sich auf diese Weise aus den Verhältnissen ergibt, kann es nicht geben [in einer sozialen Ord­nung], in der doch die Freiheit des menschlichen Wesens eine Grundbedingung ist.

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Die sechste Frage:

Ist Abschaffung jedes Erbrechtes geplant?

Das Erbrecht, insofern Teile desselben bleiben, wird ja höchstens darauf beruhen können, daß in einer Übergangszeit irgendwie gerechnet werden muß mit Pietätsverhältnissen und dergleichen. Aber von einem Erbrecht [im Sinne des bisherigen Erbrechts] wird in der Zukunft nicht mehr gesprochen werden können aus dem einfachen Grunde, weil auf der einen Seite es das nicht mehr geben kann, daß irgend etwas, was eigentlich nicht verkauft werden kann, was nicht käuflich ist, für einen noch einen Wert hat. Auf der anderen Seite wird man das Erbrecht nicht mehr brauchen, weil unter den Einrichtungen des gesunden sozialen Organismus die Menschen diejenigen, die zu ihnen gehören, in einer ganz andern Weise werden für ihre Zukunft abfinden können, als es heute unter dem rein materiellen Erbrecht geschieht - ich habe das in meinem Buche ausgesprochen.

Das dritte Fragebündel ist überschrieben: «Zur praktischen Durchführbarkeit». - Die erste Frage: Wird nicht durch die Zufälligkeit persönlicher Begabung (oft nicht sach­lichen Gehalts, sondern individueller Fähigkeit wie Gewandtheit, Rednergabe und dergleichen) eine Oberschicht geschaffen, bei welcher die Gefahr des Mißbrauches der anvertrauten Macht sowie der Korruption besteht und welcher gegenüber Neid und Mißgunst der Unterschicht bestehen bleibt?

Nun, sehr verehrte Anwesende, derjenige wird niemals zu irgend­einer fruchtbaren Gestaltung des sozialen Organismus irgend etwas beitragen können, der diese Gestaltung nicht haben will, wenn sie nicht dem absolut idealen Zustand entspricht. Der größte Feind aller sozialen Impulse ist der, wenn man durch diese sozialen Im­pulse gewissermaßen das Glück der Menschheit begründen will. Ich möchte da einen Vergleich gebrauchen. Sehen Sie, sehr verehrte Anwesende, nehmen wir den menschlichen Organismus, nehmen wir an, er sei ein sogenannter gesunder Organismus. Den spürt man ja gar nicht, und gerade dadurch, daß man in seinem Organismus

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nichts spürt, ist er ein gesunder Organismus. Freude, Harmo­nie, innere Kultur der Seele muß sich auf der Grundlage eines sol­chen gesunden Organismus erst ergeben. Sie können dem Arzte nicht zumuten, daß er Ihnen außer Gesundheit auch Seelenfreude oder innere Seelenkultur gibt, sondern sie können ihm nur zumu­ten, daß er Ihren Organismus gesund macht. Auf der Grundlage eines gesunden Organismus muß sich dann dasjenige, was innere Seelenkultur ist, erst ergeben. Ist aber der Organismus krank, dann nimmt die Seele teil an der Krankheit, dann ist ihr inneres Leben von dieser Krankheit abhängig. So ist es auch im sozialen Organis­mus. Der kranke soziale Organismus macht die Menschen un­glücklich; der gesunde soziale Organismus kann aber die Menschen noch nicht glücklich machen, sondern es ist erst der Boden geschaf­fen für das Glück der Menschen, das dann entstehen kann, wenn der soziale Organismus gesund ist. Daher ist der Impuls für den dreigliedrigen sozialen Organismus der, die Lebensbedingungen eines gesunden sozialen Organismus zu suchen. Selbstverständlich können auch da Korruptionen oder dergleichen entstehen - das kann nicht in Abrede gestellt werden -, allein solche Korruptionen werden durch Gegenschläge wiederum verbessert werden können, und die größte Aussicht, sie zu verbessern, wenn sie auftreten, liegt eben in der Gesundheit des sozialen Organismus selber. Ich bin ganz fest davon überzeugt: Wenn der soziale Organismus gesund ist, dann werden die Professionsschwätzer mit ihrer Rednergabe einfach die Menschen vertreiben, sie werden nicht viel Zuspruch haben. Gegenwärtig ist aus unseren sozialen Verhältnissen heraus das ja noch nicht der Fall. Insbesondere da, wo das geistige Leben gedeihen soll, da tritt manchmal das ein, daß bei irgendeinem auf einem Lehrstuhl sitzenden Professionsschwätzer die Zuhörer zwar Reißaus nehmen, aber ihre Kollegiengelder müssen sie bezahlen und unter Umständen können sie auch ihre Examina ablegen. Und die Professionsschwätzerei mit ihrer Korruption hat auf das äußere wirkliche Leben, auf die Lebensbedingungen des sozialen Organis­mus eigentlich keine besondere Wirkung. Derlei Dinge werden natürlich wegfallen in der Zukunft, wenn der Mensch angewiesen

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ist, im geistigen Leben darauf zu bauen, daß er sich das Vertrauen seiner Mitmenschen erwerben muß und daß zum Beispiel nur auf diesem Vertrauen seiner Mitmenschen dasjenige beruht, was er leisten kann.

Die zweite Frage, und das ist die letzte Frage, die mir in diesem Fragebündel gestellt worden ist:

Welche Anhaltspunkte bestehen dafür, daß der Kommunismus, welcher nicht die Gleichberechtigung des Proletariats mit der Bourgeoisie, sondern die Herrschaft des Proletariats anstrebt und der Ansicht ist, daß die Bour­geoisie auf ihre derzeitige Stellung nicht freiwillig verzichtet, auf sein Machtprogramm zugunsten der Dreigliederung verzichtet und in einem Entgegenkommen der Besitzenden nicht nur eine Abschlagszahlung erblickt?

Diese Frage ist nicht so ohne weiteres aus der Gestaltung des drei­gliedrigen Organismus heraus zu beantworten, sondern da muß gesagt werden, daß die Kluft, welche aufgerichtet worden ist zwi­schen dem Proletariat einerseits und dem Nichtproletariat anderer­seits, im wesentlichen aus der Schuld der führenden Kreise, also des Nichtproletariats, heraus entstanden ist und daß die nächste Aufga­be dieser führenden Kreise darin bestehen würde, die Forderungen des Proletariats wirklich zu verstehen, wirklich auf sie eingehen zu können; denn das Proletariat wird brauchen vor allen Dingen das­jenige, was die Kraft der geistigen Arbeiter ist. Nicht in irgendwel­chen unmöglichen Ansprüchen von der einen oder andern Seite her sollte man eine Gefahr erblicken, sondern allein in dem mangeln­den guten Willen, über den Abgrund hinüber irgendwelche Brücke zu schlagen.

Es liegen nun noch ein paar andere schriftliche Fragen vor, zum Beispiel die Frage:

Im dreigliedrigen sozialen Organismus wird die menschliche Arbeitskraft den Charakter der Ware verlieren. Einen Lohn in seitherigem Sinne wird es nicht mehr geben. Den Arbeitern eines Betriebes wird ein vertraglich zu vereinbarender Teil des Gesamtertrages des betreffenden Betriebes zukom­men, ein anderer Teil wird den Angestellten und dem Betriebsleiter gehören.

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Auf welche Weise wird nun dafür gesorgt sein, daß dem Arbeiter eine Art Existenzminimum gesichert bleibt, zum Beispiel bei geringer Ertrag-fähigkeit eines einzelnen Betriebes?

Diese Frage ist in meinem Buch behandelt, und ich habe hier nur zu bemerken, daß die Frage im eminentesten Sinne dann, wenn wirklich die drei Glieder des gesunden sozialen Organismus be­stehen, eine Wirtschaftsfrage ist und daß durch die Sozialisierung des Wirtschaftslebens eine große praktische Frage für diejenigen Verwaltungen entstehen wird, welche innerhalb des Wirtschafts­körpers tätig sein werden. Im wesentlichen, möchte ich sagen, re­duziert sich diese Frage auf das folgende: Dasjenige, was man heute ein Existenzminimum nennt, das ist noch immer auf das Lohn-verhältnis hin gedacht. Diese Art des Denkens, die wird beim selb­ständigen Wirtschaftsleben nicht in derselben Weise stattfinden können. Da wird die Frage reinlich aus dem Wirtschaftsleben her­aus gestellt werden müssen. Diese Frage wird sich dann so stellen, daß der Mensch, indem er irgendeine Leistung vollbringt, indem er irgend etwas hervorbringt, für diese Leistung so viel an anderen Menschheitsleistungen durch Austausch wird zu bekommen ha­ben, als er nötig hat, um seine Bedürfnisse und die Bedürfnisse derjenigen, die zu ihm gehören, zu befriedigen, bis er ein neues, gleichartiges Produkt hervorgebracht hat. Dabei muß nur in An­rechnung kommen all das, was der Mensch für seine Familie an Arbeit und dergleichen zu leisten hat. Dann wird man eine gewisse, ich möchte sagen Urzelle des Wirtschaftslebens finden. Und dasje­nige, was diese Urzelle des Wirtschaftslebens zu dem machen wird, was eben den Menschen seine Bedürfnisse wird befriedigen lassen, bis er ein gleichartiges, neues Produkt hervorbringt, das gilt für alle Zweige des geistigen und materiellen Lebens. Das wird so zu ord­nen sein, daß die Assoziationen, die Koalitionen, die Genossen­schaften von der Art, wie ich sie vorhin dargestellt habe, zu sorgen haben werden, daß diese Urzelle des Wirtschaftslebens bestehen kann. Das heißt, daß ein jegliches Produkt im Vergleich mit ande­ren Produkten denjenigen Wert hat, der gleichkommt den anderen

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Produkten, die man braucht zu Befriedigung der Bedürfnisse bis zur Herstellung eines neuen, gleichartigen Produkts. Daß diese Urzelle des Wirtschaftslebens heute noch nicht besteht, das beruht eben darauf, daß im Angebot und Nachfrage des heutigen Marktes zusammenfließen Arbeit, Ware und Recht und daß diese drei Gebiete in der Zukunft getrennt werden müssen im dreigeteilten, gesunden sozialen Organismus.

Dann ist noch folgende Frage gestellt worden;

Wie denkt sich Herr Dr. Steiner die verbesserte Zukunft des Standes der Privatlehrer und -lehrerinnen sowie ähnlicher Berufsarten, deren zum Le­ben notwendige Einnahmen jetzt von der Anzahl der von ihnen persönlich geleisteten Arbeitsstunden abhängig ist? Wie wird es möglich werden, in Zukunft auch deren Arbeitskraft des Charakters der Ware zu entkleiden?

Nun, das macht sich ganz von selbst, denn jeder, der als Lehrer im geistigen Leben tätig ist, der wird, wenn er nicht mehr eingespannt ist in die Staatsmaschine, eigentlich mehr oder weniger gestellt sein in Freiheit, aber dann in gesunder Weise, wie jede geistige Kultur-tätigkeit im dreigegliederten Organismus. Das ist dasjenige, was etwa über eine solche Frage zu sagen ist. Einfach werden solche Personen, wie sie hier gemeint sind, gleichgestellt sein denjenigen, die heute Monopole haben, dadurch, daß sie auf dem Gebiete des Geistigen verquickt sind in ihrer Stellung mit den rein staatlichen Verhältnissen.

Ich glaube, ich werde nun eine Unterbrechung in der Beantwor­tung der schriftlich gestellten Fragen eintreten lassen, damit nicht etwa noch Fragen, die aus dem verehrten Zuhörerkreise herauskom­men sollten, beeinträchtigt werden. Die Fragen, die ich zuerst beant­wortet habe, die lagen mir schon seit längerer Zeit vor, und ich wollte sie heute zunächst beantworten, weil ich glaube, daß sie wirklich für einen größeren Kreis bedeutsam sein könnten. Sollte heute die Be­antwortung der Fragen nicht zu Ende geführt werden können, so kann das ja bei anderer Gelegenheit geschehen. Ich glaube also, es wird gut sein, wenn wir die Fragen, die sich aus dem Zuhörerkreise ergeben könnten, jetzt vielleicht an uns herankommen lassen.

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Wilhelm von Blume: Ich bitte also die verehrten Anwesenden, wenn etwa Ihnen noch Fragen auf dem Herzen liegen, sich jetzt zu äußern und sie soweit irgend möglich schriftlich hier heraufzugeben. Es soll aber auch unbenommen sein, mündlich Fragen zu stellen, nur würden wir dann bitten, hierherzukommen und die Frage von hier zu stellen, damit wir Sie alle vernehmen können.

Vielleicht darf ich inzwischen die eine Frage, die vorhin angeregt worden ist, noch mit einem Worte beantworten, die ich dem von Herrn Dr. Steiner Gesagten hinzufügen möchte, weil mir selbst nämlich diese Frage gelegentlich aufgestiegen ist und ich deswegen wohl begriff, daß sie gestellt wurde. Es ist das die Frage nach der Stellung der Gemeinden in dem zukünf­tigen dreigegliederten Organismus. Vielleicht möchte der Fragesteller noch Genaueres darüber wissen, wie denn eigentlich bei der Dreigliederung des sozialen Organismus in Zukunft die Lage der Gemeinden sein wird. Es ist da gefragt worden: Was wird denn eigentlich mit den Schulen der Gemein­den, was wird mit den Gaswerken und so weiter? Dahinter steckt die Frage:

Ja, was wird denn aus der Gemeinde in Zukunft, wenn nämlich, wie es ja wohl zweifellos ist, das Gaswerk als eine Veranstaltung des Wirtschafts­lebens hineingefügt werden muß in die Gesamtorganisation des Wirtschafts­lebens, also nicht mehr als eine besondere Gemeindeanstalt gelten kann? Etwas anderes ist von dem Herrn Fragesteller nicht erwähnt worden, was aber zum mindesten ebenso wichtig ist, das ist die Frage der Beschaffung von Wohnungen. Wer wird denn in Zukunft zu sorgen haben für die Her­stellung von Wohnungen? Die Herstellung von Wohnungen ist, um es ein­mal so auszudrücken, ein wirtschaftlicher Vorgang, da es sich um «Produk­tion» handelt. Und daß die Überlassung von Wohnungen zum Gebrauch ebenfalls als ein wirtschaftlicher Vorgang anzusehen ist, darüber kann wohl kein Zweifel sein. Diese Angelegenheit wird dann in Zukunft erledigt wer­den müssen durch die Sonderorganisation des Wirtschaftslebens. Man könn­te also meinen, die Gemeinde, die verliert ja dann die Aufgaben alle oder wenigstens ziemlich alle, die sie bis heute gehabt hat - und was wird denn eigentlich aus der Gemeinde? Und dennoch: die Gemeinde bleibt, und die Gemeinde wird auch in Zukunft noch eine außerordentlich wichtige Rolle spielen, genauso wie der Staat ja bleibt und auch in Zukunft noch Aufgaben zu erledigen hat. Daß die Überführung des Gaswerks aus der reinen Ge­meindeverwaltung in eine besondere Wirtschaftsverwaltung doch auch ihre sehr, sehr guten Seiten hat, ich glaube, das wird jeder sofort empfinden, wenn er sich sagt, daß der Preis des Gases, der heute von der Gemeinde

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gefordert wird, nicht etwa festgesetzt wird mit Rücksicht darauf, daß mög­lichst viele Menschen dieses Gas zu dem Preise haben können, der den Kosten der Produktion entspricht, sondern daß das Gaswerk eine erwerben­de Gemeindeanstalt ist und daß [durch den Überschuß] die Gemeindefinan­zen bestritten werden. Genauso ist es mit den Elektrizitätswerken, der Stra­ßenbahn und so weiter. Das heißt also, daß diese Anstalten, die eigentlich ganz bestimmte wirtschaftliche Zwecke verfolgen sollen, auch finanziellen Zwecken der Gemeinde dienen müssen, und zwar häufig genug so, daß der eigentliche Zweck der Versorgung der Gemeindeangehörigen mit diesen überaus wichtigen Gütern aufs allerstärkste beeinträchtigt wird. Also ein Vorteil ist es schon, wenn die Gemeinde in Zukunft nicht mehr solche Anstalten für ihre finanziellen Zwecke benutzen kann, sondern wenn diese nur noch zu rein wirtschaftlichen Zwecken verwendet werden. Aber die Gemeinde bleibt die dem Staat untergeordnete Organisation des gesamten Rechts- und Verwaltungswesens, das heißt insbesondere des Polizeiwesens und der sogenannten Wohlfahrtspflege - der Wohlfahrtspflege, soweit sie sich bezieht auf die Erhaltung der Kraft der einzelnen Menschen. Das wird die Aufgabe der Gemeinde sein, und da hat sie ihre allerwichtigste Aufgabe, wie heute schon. Es ist die Gemeinde eigentlich nur dazu gekommen zu wirtschaften, weil kein anderer sich dieser Aufgabe in richtiger Weise an­nahm, und es ist ein Glück, glaube ich, für ein richtiges Gemeindeleben, wenn in der Zukunft das rein Wirtschaftliche nicht mehr von der Gemeinde besorgt wird. Es ist ein Glück, wenn in Zukunft die Gemeindeverwaltung nicht mehr so organisiert ist, daß die egoistischen Interessen die Herrschaft haben, sondern wenn sie so organisiert wird, daß in der Tat dort jeder einzelne zu seinem Rechte kommen kann.

Was auf der anderen Seite das geistige Leben betrifft, so wird auch das gegenüber der Gemeinde gelten müssen, was allgemein für die Loslösung dieses geistigen Lebens vom Einflusse des Staates gilt. Es ist klar, daß heute die Gemeinden auf diesem Gebiete sehr vieles Gute geschaffen haben, aber die Nachteile des Hineinregierens von wirtschaftlichen Interessen - insbe­sondere in das Kulturgebiet, die sich immer wieder zeigen -, diese Nachteile sind auf dem Gebiete des Gemeindelebens deutlich genug zu spüren. Aber trotzdem bleibt für die Gemeinde noch das ganz große Gebiet, das sie auch schon früher gehabt hat, ehe sie solche Gemeindeanstalten in eigene Regie nahm. Also die Befürchtung, daß die Gemeinde vollständig überflüssig würde, ist geradeso ungerechtfertigt, wie die andere Befürchtung, daß der Staat eigentlich erledigt wäre durch diese Dreigliederung. So ist es nicht.

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Weitere Fragen sind aus der Versammlung bis jetzt nicht gestellt wor­den. Herr Dr. Steiner wird in der Beantwortung der schriftlich gestellten Fragen fortfahren.

Rudolf Steiner: Es liegt weiter die Frage vor:

Die Steinersche Wirtschaftsordnung wird sich in großen Zügen einer be­stimmten Regierungspolitik zu unterwerfen haben, etwa der des Nationa­litätenprinzips, der militaristischen oder pazifistischen Weltordnung. Wird nach diesen führenden Prinzipien die Belastung der Wirtschaft (abgesehen von der gegenwärtigen durch Kriegsschulden und Kriegsentschädigungen) eine andere sein? Wird nicht zum Beispiel eine im alten Denkvorgang nationalistische Politik die Wirtschaft wieder vor allem anderen belasten und die allgemeine Wohlfahrt untergraben?

Nun, sehr verehrte Anwesende, die Frage, sie ist entstanden aus einer noch nicht völligen Durchdringung desjenigen, was eigentlich das Wesen des dreigliedrigen sozialen Organismus ist. Sehen Sie, die Schäden des Einheitsstaates, sie entstehen ja dadurch, daß sich, sagen wir in das Rechtsleben, also im weitesten Umfange in die Politik hineinmischen wirtschaftliche Interessen, daß zum Beispiel die Landwirte einen Bund bilden und als «Bund der Landwirte» sich im Staatsparlament geltend machen und dort aus ihren Inter­essen heraus Einfluß auf das Rechtsleben nehmen. Oder auf der anderen Seite [können Schäden entstehen, wenn] sich eine Korpo­ration, die rein geistige Interessen verfolgt - sagen wir zum Beispiel das katholisch organisierte «Zentrum» - wiederum in das Staats-parlament hineinsetzt und dort die Rechtsinteressen, ich möchte sagen zu umgestalteten geistigen Interessen macht. Nun werden Sie sagen: Gut, in Zukunft bestehen getrennt voneinander die drei Glieder: geistiger Organismus, der sich vollständig selbstverwaltet aus den geistigen Grundsätzen heraus; rechtlicher Organismus, der die Fortsetzung des gegenwärtigen staatlichen Organismus bilden wird, aber eben nicht in sich das geistige Leben und das wirtschaft­liche Leben haben wird, sondern nur das Rechts- und politische Leben; wirtschaftlicher Organismus, der Kreislauf des Wirtschaftslebens.

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Aber, werden Sie sagen, die drei Gebiete haben doch gewis­se Dinge, gewisse Interessen miteinander gemein, und sie hängen ja durch den Menschen selbst zusammen; der einzelne Mensch steht in irgendwelchen Betrieben drinnen, in die die drei selbständigen Verwaltungsgebiete hineinspielen. Sie werden fragen: Ja, könnte denn nicht auch in der Zukunft für das Parlament des Rechtsbo­dens irgendein Klub oder dergleichen sich geltend machen, der die Wirtschaftsinteressen hereinträgt auf den Rechtsboden und im Staatsparlament geradeso seine Interessen geltend macht, wie zum Beispiel beim Einheitsstaat der Bund der Landwirte aus Wirt­schaftsinteressen Rechte machen will oder wie das Zentrum aus religiösen, aus konfessionellen Interessen, also vom Geistesleben aus, Rechte machen will durch Koalitionen mit anderen Parteien?

Nun, sehr verehrte Anwesende, das Wesen des dreigliedrigen sozialen Organismus, das heute noch so wenig eingesehen wird, das besteht darin, daß man auf dem Gebiete des Wirtschaftsbodens nur wirtschaftliche Maßnahmen wird treffen können, keine Rechtsmaßnahmen und keine Maßnahmen, die mit der Entwick­lung der menschlichen Fähigkeiten etwas zu tun haben, die im Geistesleben zu verwalten sind; auf dem Boden des Rechtslebens wird man überhaupt nur Rechtsfragen zu entwickeln haben. Nehmen wir also an, es würde sich ein Klub mit wirtschaftlichen Interessen finden in dem Parlament des Rechtsbodens, in dem Staatsparlament, so würde er niemals Maßnahmen treffen können, die irgendwie auf das Wirtschaftsleben einen Einfluß haben, da in diesem Parlament überhaupt nur Rechtsfragen zur Verhandlung kommen, die sich auf die Gleichheit aller Menschen beziehen. Sie können also auch nicht aus dem Wirtschaftsleben heraus gedacht sein. Wirtschaftsleben kommt überhaupt nicht in Frage im Rechts-parlament. Es ist jedem unmöglich, auch wenn er mit noch so viel wirtschaftlichen Interessen hineinkommt ins Rechtsparlament, dort drinnen die wirtschaftlichen Interessen zur Geltung zu bringen, weil auf dem Boden des Rechtslebens nichts geschehen kann, was wirtschaftlichen Charakter hat - das kann nur auf dem Boden des Wirtschaftslebens geschehen. Das ist gerade der Sinn, daß nicht

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irgendwie die Menschen in Stände gegliedert werden, sondern daß

- von den Menschen abgesondert - der soziale Organismus selbst gegliedert wird. Also dasjenige, was jetzt Einheitsstaat ist, zerfällt in drei Gebiete, und man wird auf jedem der drei Gebiete die Interessen des andern Gebietes gar nicht geltend machen können, weil die Geltendmachung keine Wirkung haben kann auf diesem Gebiete. Diese Konsequenz ist es gerade, in der das in der Zukunft Heilsame für den sozialen Organismus liegen wird; sie ist auch der Grund, warum dieser dreigeteilte soziale Organismus eine soziale Notwendigkeit ist.

Ich glaube, die Mehrzahl derjenigen, die sich heute schon be­kannt gemacht haben mit dem Impuls des dreigeteilten Organis­mus, betrachten das, was mit ihm gemeint ist, noch viel zu sehr als etwas Ausgeklügeltes, als etwas außerhalb der Praxis Stehendes, als etwas, wo wieder einmal einer nachgedacht hat und dabei ihm ein­gefallen ist: Mit dem Einheitsorganismus ist es schlecht gegangen, na, machen wir ihn zu dreien. - Darum handelt es sich nicht, son­dern das Erkennen des wirklichen Lebens, der wirklichen Lebens­notwendigkeiten, das ist es, was als Konsequenz den dreigeteilten sozialen Organismus ergibt. Man hört heute so sehr häufig die Leute sagen: Ja, was der eigentlich will, verstehen wir nicht. - Man versteht nicht, was eigentlich gewollt ist. Heute sagen so viele Leu­te einem solchen Impuls gegenüber: Das verstehen wir nicht. -Woher rührt das? Sehen Sie, das rührt wieder von etwas her, was durch den dreigegliederten Organismus anders und eben besser werden soll. Heute fehlt bei den Menschen, wenn sie etwas beur­teilen sollen, vor allen Dingen der Zusammenhang mit dem Leben. Wenn man heute aus einer Theorie heraus spricht, aus irgend etwas heraus spricht, was sich mit ein paar allgemeinen Grundsätzen [er­klären läßt], die schließlich für jeden normalen Menschen begreif­lich sind, wenn er mündig geworden ist, [dann verstehen das die Leute]. Wenn man aber heute von so etwas spricht, was sich nicht auf diese Art begreifen läßt, sondern wozu der wahre Zusammen­hang mit dem Leben notwendig ist, wo man appellieren muß an die Lebenserfahrung - da kommen die Leute und sagen, das verstehen

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sie nicht. Woher rührt das eigentlich? Das rührt her vom Einheits­staat, den wir seit vier Jahrhunderten haben; durch diesen Einheits­staat sind die Menschen in ein Leben hineingeworfen worden, wo sie in einem besonderen Lebensgebiete drinnenstehen und in die­sem sich eine gewisse Routine erworben haben. Diese Routine, die nennen sie ihre Praxis. Das wissen sie, was sie durch diese Routine haben. Im übrigen werden sie vom Staate erzogen von der unter­sten Schulstufe auf. Da spielt nicht das in die Erziehung hinein, was in der Zukunft in die Erziehung hineinspielen wird, das wirkliche Leben, sondern da spielen in die Erziehung hinein Verordnungen, Gesetze und so weiter. In das menschliche Denken fließt schon [von der untersten Schulstufe] ein das Abstrakte der Verordnung, des Gesetzes, so daß die Menschen heute nur die Routine irgend­eines einzelnen Zweiges haben, die sie ganz mechanisch hand­haben. Wer mit ihnen darüber nicht einverstanden ist aus einer breiteren Lebenserfahrung, den nennen sie einen Trottel oder einen unpraktischen Menschen. Und daneben haben sie einen Kopf voll Abstraktionen, weil sie nur erzogen worden sind aus Verordnun­gen, Gesetzen, Lehrzielen und so weiter heraus, die nicht aus dem Leben, sondern bloß aus irgendwelcher abstrakten Denkweise heraus entnommen sind, die einzig und allein Berechtigung hat auf dem Rechtsboden, aber auf keinem anderen Lebensboden. Auf dem Rechtsboden hat sie Berechtigung aus dem Grunde, weil auf dem Rechtsboden Berechtigung hat, was jeder normale, mündig gewordene Mensch einfach dadurch, daß er mündig ist, aus sich herausspinnen und als Menschenrecht gegenüber allen anderen Menschen in Anspruch nehmen kann. Aus dem aber kann nicht herausgesponnen werden, was in die Verwaltung des Wirtschafts­lebens, was in die Entwicklung des Geisteslebens einfließen muß. Daher, weil wir entbehrt haben die Freiheit des Geisteslebens, das Auf-sich-selbst-Gestelltsein des Geisteslebens, haben wir heute jene sonderbare Erscheinung, daß die Menschen nur dasjenige begreifen können, was sie sich schon seit langem gedacht haben.

Ich habe neulich in einer Nachbarstadt über dieselben Fragen gesprochen, über die ich jetzt auch hier spreche. Nachher hat sich

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zur Diskussion jemand gemeldet, welcher etwas vorgebracht hat, aus dem man ersehen konnte, daß er einfach von meinen Ausfüh­rungen nur dasjenige aufgenommen und sogar gehört hat, woran er schon seit Jahrzehnten gewohnt war, sogar bis auf die Satzbildung. Was aber nicht in seinem Hirnkästchen schon drinnen war seit Jahrzehnten, das hat der Mensch nicht einmal gehört, das ging so fremd an ihm vorbei, daß er es nicht einmal gehört hat, daß er es in der Diskussion überhaupt abgeleugnet hat. Das kommt daher, weil so etwas wie der Impuls zum dreigegliederten sozialen Orga­nismus appellieren muß nicht an das, was uns anerzogen ist durch abstrakte Verordnungen, Gesetze, Lehrziele, Lehrgänge und so weiter, sondern appellieren muß an das, was der Mensch aus dem Leben selber heraus versteht. Deshalb hat sich heute eine solche Kluft aufgerichtet, wenn man nicht aus utopistischem und ideolo­gischem Denken heraus redet, sondern eben gerade aus dem Leben heraus redet. Je praktischer man heute redet, desto unpraktischer nennen einen die Menschen, weil die Menschen eine wirkliche Lebenspraxis nicht haben, sondern lediglich Lebensroutine und Abstraktionen im Kopfe haben. Das ist es auch, was zu der Furcht führt, daß es in der Zukunft im dreigegliederten sozialen Organis­mus irgendwie zu einer Tyrannei von der einen oder andern Seite kommen könne. Die kann ja gar nicht kommen, weil eine solche Tyrannei, wie ich ausgeführt habe, sich gar nicht einmal geltend machen kann. Man würde, wenn man noch so viel Gesetze gäbe in dem Rechtsparlament, damit gar nichts treffen im Wirtschaftsleben, weil selbst das, was für die Interessen des Wirtschaftslebens gefähr­lich wäre, auf das Wirtschaftsleben nicht wirken könnte, da es sich selbständig verwaltet.

Eine weitere Frage:

Wie werden andererseits die Anforderungen der Sozialpolitik, zum Beispiel Unterstützung der Kriegsinvaliden, Waisen, Schwachen und so weiter ge­regelt? Insbesondere in welchem Maßstabe? Wie werden die Ergebnisse der Wirtschaft verwendet? Kann nicht durch eine entsprechende Konstellation der Regierung die Sozialpolitik von Dr. Steiner illusorisch gemacht wer­den? Wenn auch die Hauptauswüchse des Kapitalismus, die Rentenwirtschaft,

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beseitigt wären, kann nicht die Verteilung der Lasten nach wie vor eine einseitige sein?

Der letzte Teil der Frage ist ja schon mit dem beantwortet, was ich eben gesagt habe. Daß aber ein wirklich auf sich selbst gestelltes Wirtschaftsleben erst recht sorgen kann für Witwen und Waisen und so weiter, das habe ich in meinem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» des breiteren ausgeführt. Ich habe es sogar vorhin schon angedeutet, daß eingerechnet werden muß in die wirtschaft­liche Urzelle dasjenige, was ein jeder als Quote beizusteuern hat zu dem, was Witwen und Waisen, überhaupt sonstige nicht arbeitsfä­hige Menschen - wie in meinem Buche ausgeführt ist, auch für die Kinder, für die ich das Erziehungsrecht in Anspruch nehme -, zu bekommen haben. Der Maßstab dafür wird sich ergeben einfach aus der Lebenshaltung der übrigen Personen. Da man mit der wirt­schaftlichen Urzelle einen Maßstab hat für die Lebenshaltung einer Person nach dem bestehenden wirtschaftlichen Gesamtwohlstande, so ist damit zu gleicher Zeit auch die Möglichkeit gegeben, einen Maßstab zu schaffen für das Leben derjenigen, die wirklich nicht arbeiten können.

Die nächste Frage:

Könnten also die Gefahren der sogenannten Bourgeois-Regierung nicht nach wie vor bestehen bleiben? Werden diese nicht noch bestärkt, daß je nach Zusammensetzung der führenden politischen Richtung die Verteilung der Amter so vor sich gehen kann, daß trotz aller guten Worte die Führung und die Besetzung der Fabriken, Genossenschaften und so weiter auf dem sogenannten «Vetterles»-Weg geschieht? Wer verbürgt bei einer rückstän­digen regierenden Gesellschaft, das heißt im Parlament, die Entfernung des Unfähigen, Faulen aus einer leitenden oder selbständigen Stellung? Kann nicht eine Cliquenwirtschaft die Vorzüge des Steinerschen Systems in kurzem vernichten?

Im Grunde genommen geht auch die Beantwortung dieser Frage aus demjenigen hervor, was ich schon gesagt habe. Denn, sehr verehrte Anwesende, es handelt sich wirklich nicht darum, irgend­einen Idealzustand auszudenken, in dem es nun gar nicht mehr

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vorkommen kann, daß der eine oder andere etwas ausfrißt, sondern es handelt sich darum, den irgendeiner konkreten menschlichen Gesellschaft angepaßten bestmöglichen Zustand herauszufinden. Dasjenige, was etwa hier der «Vetterles»-Weg und dergleichen ge­nannt wird, das würde, wenn Sie nur die Dinge ganz wirklich überdenken - aber praktisch, der Wirklichkeit gemäß überden­ken -, ganz unmöglich. Denn, denken Sie nur daran, daß in diesem dreigliedrigen sozialen Organismus die Zirkulation der Produk­tionsmittel in weitestem Umfange stattfindet, daß ferner die Zu­sammenarbeit der Handarbeiter mit den Geistesarbeitern auf einem völlig freien Vertrag über die Leistungen beruht, daß also bei irgendeiner Vetternwirtschaft die ganze Arbeiterschaft, die geistige und physische Arbeiterschaft eines Betriebes einverstanden sein müßte mit dieser Vetternwirtschaft. Da sind also viel größere Ga­rantien geschaffen als irgendwo anders. Wenn man überdenkt, was zum Beispiel bei einem tyrannisch zum Staatswesen gewordenen großen wirtschaftlichen Genossenschaftswesen alles an Korrupti­on, an Spitzeltum entstehen kann, dann möchte ich wissen, wie sich das vergleichen läßt mit demjenigen, was im dreigegliederten Orga­nismus durch einen Fehler der Menschennatur im einzelnen gewiß da und dort entstehen kann, sich selbstverständlich aber bald wieder korrigieren wird. Die größte Gewähr, daß Schäden, die nun einmal in der menschlichen Natur liegen, nicht zu stark um sich greifen, die wird gerade durch jene Lebendigkeit geboten, welche im dreigegliederten sozialen Organismus stattfindet, weil ja die drei Glieder des sozialen Organismus selber sich wiederum kontrollie­ren. Ein Einheitsorganismus, wenn er noch dazu auf das bloß materielle Wirtschaftsleben gebaut ist, der trägt gerade die Gefah­ren in sich, die mit dieser Frage charakterisiert sind; und weil man diese Gefahren voraussehen kann, ist - wiederum aus einer prakti­schen Notwendigkeit heraus - die Frage entstanden: Wie entfernt man aus einem Einheitswirtschaftskörper die Möglichkeit, daß die­se Schäden entstehen? Dadurch, daß man das Rechtsleben heraus-nimmt, also die Korrektur schafft für dasjenige, was als Unrecht entstehen kann. Wodurch entfernt man die Schäden des wirtschaftlichen

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Produktionswesens auf geistigem Gebiete? Dadurch, daß das geistige Gebiet sich selbst verwaltet; es muß auf dem Vertrauen zu den Mitmenschen beruhen, und der Untüchtige muß sich vom geistigen Leben verabschieden und Handarbeiter oder dergleichen werden. Das alles ergibt sich gerade aus der Dreigliederung des sozialen Organismus, weil diese Dreigliederung zu gleicher Zeit die Möglichkeit der Korrektur für Schäden gibt, die auf dem einen oder anderen Gebiete entstehen.

Hier ist noch eine Frage gestellt:

Wie denken Sie sich die Selbstverwaltung des geistigen Gebiets und von welchen Organisationen wird sie getragen werden?

Nun, sehen Sie, sehr verehrte Anwesende, im einzelnen diese kom­plizierte Selbstverwaltung des geistigen Gebietes Ihnen jetzt zu charakterisieren, das würde lange, lange Zeit in Anspruch nehmen. Ich kann nur andeuten, daß es sich darum handeln wird, daß inner­halb der Selbstverwaltung des geistigen Gebietes als Verwaltende nur stehen werden diejenigen Menschen, die auch in diesem geisti­gen Gebiete selbst tätig sind. Zum Beispiel auf dem Gebiete des Schulwesens wird also nichts anderes in die Selbstverwaltung einfließen als dasjenige, was der Pädagoge über den Pädagogen sachgemäß als Einfluß ausüben muß. Auch die Auswahl der Per­sönlichkeiten für bestimmte Stellen wird nicht auf Examen, Ver­ordnungen und dergleichen, sondern auf die wirklich pädagogische Erkenntnis der Fähigkeiten und so weiter gebaut sein, so daß es von nichts anderem abhängen wird, an welcher Stelle ich im geisti­gen Organismus stehe, als - sagen wir auf dem speziellen Gebiet der Schule - von pädagogischen Gesichtspunkten allein, also von inneren Gesichtspunkten. Niemals wird irgendeine andere Körper­schaft, die Wirtschafts- oder Staatskörperschaft, nach ihren Bedürf­nissen die Schulen einrichten können. Die Schulen werden lediglich eingerichtet nach den menschlichen Bedürfnissen bis zum 15. Jahre und vom 15. Jahre ab nach den Bedürfnissen des sozialen Organis­mus, nach den Bedürfnissen des Lebens dieses sozialen Organis­mus. Dazu gehört aber, daß in der Tat dasjenige, was Verwaltung

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ist, genau von denselben Gesichtspunkten abhängt wie in den Unterrichtsanstalten der Unterricht selber. Es darf nicht in der Zukunft der Mensch von einem Staate an eine Stelle gestellt werden und dann auch den Verordnungen des Staates zu folgen haben, sondern alles dasjenige, was im geistigen Leben sich betätigt, ist nur in eine Verwaltung gestellt, die aus dem Gesichtspunkte dieses geistigen Lebens selbst heraus entstanden ist.

Dann liegt die Frage vor:

Ist vom Bund für Dreigliederung bereits die Gründung eines Kulturrates für das geistige Gebiet in Aussicht genommen? Wenn nicht, dann sollte von der Versammlung die Initiative dazu ergriffen werden.

Nun, sehr verehrte Anwesende, es nützt heute nichts, wenn man nicht auf dem Gebiete der großen Aufgaben, die uns die Gegenwart auferlegt, ganz unbedingt offen und ehrlich redet. Das Wirtschafts­leben hat Formen angenommen, durch die das Proletariat zu einer energischen Vertretung seiner wirtschaftlichen Interessen gebracht worden ist. Es ist ja durch die mannigfachsten Umstände durchaus bekannt, daß heute das Proletariat sehr krankt an dem Umstande, daß es mehr oder weniger ein theoretisches Ziel, aber keine Praxis hat. Dennoch, was da lebt im Proletariat, das ist ein bestimmtes Wollen, das ist auch das Ergebnis einer ganz bestimmten politischen Schulung, die durch Jahrzehnte hindurchgegangen ist. Aus diesein Wollen wird sich heute so etwas formen lassen wie zum Beispiel ein Betriebsrat oder eine Betriebsräteschaft aus geistigen und physischen Arbeitern zusammen. Das wird nicht leicht sein, namentlich da es, wenn es nicht schnell geschieht, zu spät werden könnte.

Aber, ich möchte sagen, es ist heute eine mit immer noch weni­ger furchtbaren Hindernissen kämpfende Arbeit als die Schaffung eines Kulturrats, denn da tritt einem das mannigfachste [an Hin­dernissen] entgegen. Zum Beispiel gibt es heute Parteiführer, die glauben, sozialistisch, ganz sozialistisch zu denken, gar nicht mehr im Sinne der alten Geisteskultur der bevorzugten Klassen zu den­ken, und dennoch haben sie nichts anderes als diese Geisteskultur übernommen. Es lebt in ihren Köpfen nichts anderes als die letzte

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Konsequenz dieser Geisteskultur. Diese Geisteskultur der leiten­den, führenden Kreise, sie kann dadurch charakterisiert werden, daß sie innerhalb der letzten vier Jahrhunderte immer mehr und mehr eingemündet ist in ein solches Verhältnis vom geistigen Le­ben zum Wirtschaftsleben, daß das geistige Leben eigentlich nur-mehr eine Folge des Wirtschaftslebens, eine Art Überbau über das Wirtschaftsleben ist. Aus dieser Erfahrung der letzten drei bis vier Jahrhunderte hat sich nun das Proletariat respektive die proletari­sche Theorie die Anschauung gebildet, daß das Geistesleben über­haupt nur etwas sein darf, was aus dem Wirtschaftsleben hervor­geht. In dem Augenblick, wo man das praktisch machen würde, daß das Geistesleben nur aus dem Wirtschaftsleben hervorgehen dürfe, in dem Augenblicke legt man den Grundstein zu einer völ­ligen Vernichtung des Geisteslebens, zu einer völligen Vernichtung der Kultur. Das Bürgertum kann heute nicht verlangen, daß das Proletariat auf einem andern Standpunkte steht, als alles Heil vom Wirtschaftsleben zu erwarten - aus dem Grunde, weil das Bürger­tum selbst alles zu dem Standpunkte gebracht hat, daß schließlich alles Geistige irgendwie vom Wirtschaftlichen abhängig ist.

Der Gang der Entwicklung war ein solcher, daß zunächst die­jenigen Schäden durch die geschichtliche Entwicklung überwunden wurden, die sich für den Menschen innerhalb der menschlichen Gesellschaft ergeben haben aus der aristokratischen Ordnung heraus. Aus dieser aristokratischen Ordnung heraus haben sich ergeben Rechtsschäden; das Bürgertum kämpfte um Rechte gegen­über demjenigen, was früher aristokratische Ordnung war. Dann hat sich in der geschichtlichen Entwicklung als weiteres ergeben der Gegensatz zwischen Bürgertum und Proletariat, das heißt zwi­schen Besitzenden und Besitzlosen. Der große Kampf zwischen Bürgertum und Proletariat geht dahin, die Arbeitskraft nicht mehr eine Ware sein zu lassen. So wie die Dinge heute liegen, handelt es sich darum, daß das Proletariat energisch verlangt - und das ist nicht allein eine proletarische Forderung, sondern eine geschicht­liche -, daß in der Zukunft die physische Arbeitskraft nicht mehr Ware sein dürfe. Das Bürgertum hat den Liberalismus verlangt,

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weil es die alten aristokratischen Vorrechte nicht mehr wollte, weil es das Recht nicht mehr zu einer Eroberungs- und Kaufsache machen wollte. Das Proletariat verlangt die Emanzipation der Arbeitskraft vom Warencharakter. Wollen wir nicht etwas übrig­lassen, was ganz Mittel- und Osteuropa in den Zustand der Barba­rei bringen würde, so müssen wir heute noch ein weiteres einsehen. Würde sich heute nicht die Forderung aus dem Proletariat heraus ergeben, mit den geistigen Arbeitern verständnisvoll zusammenzu­arbeiten, dann würde das Proletariat zwar die physische Arbeit des Warencharakters entkleiden, aber die Folge davon wäre, daß in der Zukunft eintreten würde ein Zustand, durch den alle geistige Men­schenkraft zur Ware wird. Dieser Zustand darf nicht erreicht wer­den, darf nicht herbeigeführt werden. Es muß der Ernst der Auf­gabe so erfaßt werden, daß mit der physischen Arbeit zu gleicher Zeit auch der geistigen, wirklich geistigen Arbeit ihr Recht werde. Die alte Aristokratie hat herbeigeführt die Rechtlosigkeit des Men­schen, das alte Bürgertum hat herbeigeführt die Besitzlosigkeit des Proletariats. Wenn die bloß materialistisch-wirtschaftliche Auffas­sung der proletarischen Frage bliebe, so würde zurückbleiben die Entmenschtheit des Geisteslebens. Vor dieser Gefahr stehen wir, wenn nicht diejenigen, welche Herz und Sinn haben für das Gei­stesleben, sich auf den Boden stellen, dieses Geistesleben selbst zu befreien. Und dieses Geistesleben kann nur befreit werden, wenn wir von [der Abhängigkeit des] Geisteslebens, das ich ja in der verschiedensten Weise charakterisiert habe, Abschied nehmen und wirklich durch einen ernsthaften Kulturrat eine Neugliederung des Geisteslebens herbeiführen. Da muß aber heute ehrlich und offen gesprochen werden: Das Interesse, das ist auf diesem Boden leider noch viel zu wenig da. Einzusehen, daß eine brennende Frage hier vorliegt, das ist die allernächste, die brennendste Aufgabe. Ein Külturrat muß entstehen.

Bei den Versuchen, die wir gemacht haben, unter anderem ge­stern in einer Sitzung, hat sich nicht gerade sehr Verheißungsvolles ergeben, weil den Menschen noch nicht vor Augen steht, was heute auf dem Spiele steht, wenn wir nicht dazu kommen, die geistige

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Arbeit auf ihre eigenen Füße zu stellen und sie nicht eine Sklavin des Wirtschafts- oder Staatslebens sein lassen. Es ist daher eine dringende Notwendigkeit, daß in der allernächsten Zeit Herz und Sinn erregt werde gerade für einen Kulturrat. Das Unpolitische unserer mitteleuropäischen Menschen, das sich ja leider in so gräß­licher Weise in den letzten vier bis fünf Jahren gezeigt hat, das ist dasjenige, was zu Selbsterkenntnis gerade auf dem geistigen Gebie­te führen müßte. Das ist dasjenige, was den Menschen das geistige, das Seelenauge dafür auftun sollte, wie unser Geistesleben bisher nur ein Geistesleben einer kleinen Clique war, darauf berechnet, daß es sich auf dem Boden breiter Massen entwickelte, die nicht teilnehmen konnten an diesem Geistesleben, und daß heute ge­schaffen werden muß ein Geistesleben, in dem jeder Mensch nicht nur physisch, sondern auch geistig und seelisch ein menschenwür­diges Dasein findet. Sehr verehrte Anwesende, wenn man gerade in den Jahren, die sich als die Jahrzehnte zur Vorbereitung der gegen­wärtigen Weltkatastrophe erwiesen haben, in die Schäden dieses Geisteslebens hineinschaute, da konnte man wahrhaftig von Kultursorgen ergriffen werden.

Dann wurde gefragt:

Wie werden unsere Kinder am besten erzogen?

In der Zeit, in der man sich soviel zugute darauf tat, daß man keiner Autorität huldigen will, wurden die Kinder eben doch so erzogen, daß der blindeste Autoritätsglaube an das Bestehende das Allermaßgebendste war, und den Zusammenhang dieses Bestehen­den mit dem Leben, den konnte man überhaupt gar nicht mehr beurteilen. Man hatte nicht Herz und Sinn dafür, daß zum Beispiel dasjenige, was der Mensch in den letzten Jugendjahren seines Lebens in sich als Denkgewohnheiten aufnimmt, daß das seinen ganzen Menschen durchdringt, seinen ganzen Menschen ausmacht. Nehmen wir da, insofern wir gerade den geistig führenden Ständen angehören, wirklich Lebendiges für die Gegenwart auf?

Sehr verehrte Anwesende, es gilt heute offen und ehrlich und eindringlich über diese Frage zu sprechen. Ein großer Teil unserer

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führenden Leute der Gegenwart nimmt im Gymnasium auf die Gedankenformen der Griechen und Römer, sie nimmt auf, wie die Griechen und Römer über das Leben gedacht haben, wie die Grie­chen und Römer sich das Leben eingeteilt haben. Da war nur der­jenige würdig, ein freier Mensch zu sein, welcher Wissenschaft, Kunst, Politik oder die Leitung der Landwirtschaft trieb. Die üb­rigen Menschen waren dazu verurteilt, nicht-freie Menschen zu sein, Heloten oder Sklaven. Wie die Menschen leben, das geht hin­ein bis in das Gefüge der Sprache, die wir uns aneignen in der Jugend, bis in den Satzbau, nicht allein bis in die Form des Wortes. In den Gymnasien nehmen die Angehörigen der leitenden, führen­den Kreise dasjenige auf, was für das Leben der Griechen und Römer lebensfähig war, und nichts von dem, was für unser gegen­wärtiges Leben lebensfähig ist. Wer heute das sagt - und es muß gesagt werden, weil nur die radikalste Offenheit zum wirklichen Heil führen kann -, der gilt selbstverständlich einer großen Anzahl von Menschen heute noch als ein Narr; aber dasjenige, was heute noch als närrisch gilt, das gehört zu dem, was wir brauchen zu einer Gesundung des sozialen Organismus. Wir brauchen Men­schen, die so denken, wie das gegenwärtige Leben ist, nicht wie das griechische und römische war. Hier beginnt die soziale Frage im geistigen Leben sehr stark.

Zwischenruf Sehr richtig!

Oh, dieses geistige Leben, das bedarf einer gründlichen Umwand­lüng, und es ist sehr schwer, auf diesem Gebiete heute schon bei den Menschen ein geneigtes Ohr zu finden. Ehe aber dieses geneig­te Ohr nicht gefunden ist, eher gibt es kein Heil. Es gibt keine einseitige Lösung der sozialen Frage, sondern allein eine dreiglied­rige. Es gehört dazu, daß man sich auf den Boden eines Geistes­lebens stellt, welches wirklich aus dem Leben entsteht. Dazu ge­hört der gute Wille, nicht der unbewußt böse Wille der Zöpfe. Deshalb ist es dringend notwendig, daß gerade auf diesem Gebiete das entsteht, was man einen Kulturrat nennen kann. Ich kann nur sagen, ein Kulturrat erscheint mir als eine Forderung allerersten

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Ranges, denn der muß eine Tätigkeit entwickeln, die uns davor rettet, daß geistige Arbeit im äußeren Leben Warencharakter bekommt.

Es ist, wie es scheint, diese Frage verwandt mit der anderen, die gestellt worden ist:

Wenn zu erwarten ist, daß die Umwandlung der Wirtschaftslebens im Sin­ne der Herauslösung aus dem Einheitsstaate durch die Organisation der Betriebsräteschaft sich rasch vollziehen wird, wie könnte alsdann das Gei­stesleben rasch auf sich selbst gestellt werden und dessen Neuaufbau in Angriff genommen werden?

Eben durch die Geneigtheit, einen Kulturrat zu bilden und inner-halb dieses Kulturrats die Erfordernisse zu erforschen, die für den Neuaufbau unseres Geisteslebens notwendig sind. Das ist das­jenige, was ich mit Bezug auf diese Fragen zu sagen habe.

Lebhafter Beifall und Händeklatschen.

Dr. Carl Unger: Sehr verehrte Anwesende, es ist noch eine ganze Reihe von weiteren Fragen eingelaufen, die wir wohl - und ich hoffe auf ihr Einverständnis - zur Beantwortung auf einen späteren Abend verschieben werden.

Nun muß uns aber außerordentlich viel daran liegen, gerade die letzten Worte des verehrten Redners uns wirklich zu Herzen dringen zu lassen. Gerade jetzt in diesen Tagen geht wieder herum unter uns eine Aufforde­rung, die so recht den Mumiencharakter des abgewirtschafteten Geistes­lebens an sich trägt: die Frage nach der Galvanisierung und Konservierung der humanistischen Gymnasien im alten Sinne. Wir haben gehört, nach welcher Richtung wir zu schauen haben, wenn wir auf die schlimmen Folgen des gegenwärtigen Lebens schauen, und wir haben gehört, wo wir anzugreifen haben bei dem Geistesleben. Und gerade in diesen Tagen auch haben wir bemerkt, wie dem Impulse eines neuen geistigen, eines neuen künstlerischen Lebens die größte Philistrosität entgegengebracht worden ist. Sehr verehrte Anwesende, wir müssen aus den eben gehörten Worten starke Impulse in uns aufquellen lassen, die dahin wirken, Kräfte und star­ken, auch revolutionären Willen für das Geistesleben in uns auszulösen in der Richtung auf die Vorbereitung zur Gründung oder Bildung eines echten

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Kulturrats. Der kann sich aber nur gründen auf die Freiheit, auf die eigene Initiative der einzelnen Persönlichkeiten, die aus irgendeiner Lage des Geisteslebens her bereit und imstande sind, zu einem wirklichen Neu­aufbau des Geisteslebens beizutragen. Diese eigene Initiative auszulösen und dahin zu wirken, daß unter den Anwesenden geworben wird für diesen Gedanken und für die Dreigliederung des sozialen Organismus, das soll der Zweck meiner jetzigen Worte sein. Wir sind bereit, zunächst einmal Adres­sen entgegenzunehmen - und zwar am heutigen Abend noch - von Persön­lichkeiten, die bereit sind, im Sinne des starken Appells, den unser verehr­ter Redner des Abends an uns gerichtet hat. Ich bitte, mir zu erlauben, mit dieser Aufforderung an Sie heranzutreten, und ich möchte Sie gerade bitten, in allerstärkster Weise die Impulse für den Neuaufbau des Geistes­lebens in sich wirken zu lassen und auch in anderen Persönlichkeiten zur Geltung zu bringen.

Damit gestatten Sie mir, die heutige Versammlung zu schließen.

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II STUDIENABENDE DES BUNDES FÜR DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

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ERSTER STUDIENABEND Stuttgart, 30. Juli 1919 Zur Geschichte der sozialen Bewegung

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Ich werde heute Abend nicht demjenigen vorgreifen, was hier eigentlich ein­gerichtet werden soll als Studienabende, die abgehalten werden auf Grundlage des Buches «Die Kernpunkte der Sozialen Frage», son­dern ich werde versuchen, Ihnen eine Art von Einleitung zu diesen Abenden zu geben. Ich möchte durch diese Einleitung in Ihnen eine Empfindung davon hervorrufen, aus welchen Gesichtspunkten heraus dieses Buch geschrieben worden ist. Es ist vor allen Dingen geschrieben worden aus der unmittelbaren Gegenwart heraus, aus der Überzeugung, daß auch die soziale Frage durch die Ereignisse der Gegenwart eine neue Gestalt angenommen hat und daß es notwendig ist, heute über die soziale Frage ganz anders zu reden, als von irgendeiner Seite her über die soziale Frage vor der Welt­kriegskatastrophe geredet worden ist. Mit diesem Buch ist gewis­sermaßen versucht worden, jetzt in diesem Zeitpunkte der Mensch­heitsentwicklung, in welchem die soziale Frage ganz besonders dringend wird und in welchem eigentlich jeder Mensch, der be­wußt heute mitlebt, der nicht schläfrig und schlafend das Leben der Menschheit mitlebt, etwas wissen sollte über das, was zu geschehen hat im Sinne dessen, was man gewöhnlich die soziale Frage nennt. Da wird es vielleicht zunächst ganz gut sein, wenn wir heute ein bißchen zurückblicken. Ich werde ja dabei vielleicht Dinge zu erwähnen haben - aber wir werden sie dann in ein etwas anderes Licht rücken, als sie gerückt worden sind -, ich werde Dinge zu erwähnen haben, welche Ihnen zum Teil bekannt sind.

Sie wissen ja wahrscheinlich, daß man das, was heute zur sozia­len Frage vorgebracht wird, seit verhältnismäßig langer Zeit vor­bringt. Und es werden ja auch heute die Namen Proudhon, Fou­rier, Louis Blanc genannt als die ersten, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts

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hinein die soziale Frage behandelt haben. Sie wissen ja auch, daß die Art, wie diese soziale Frage bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein behandelt wurde, von den heutigen Vertretern, wenigstens von vielen heutigen Vertretern der sozialen Frage, genannt wird «das Zeitalter der sozialen Utopien». Es ist gut, sich klarzumachen, was man eigentlich damit meint, wenn man sagt: In ihrem ersten Stadium trat die soziale Frage so auf, daß sie in einem «Zeitalter der Utopien» lebte. Aber man kann über diese Sache nicht im absoluten Sinne reden, sondern man kann eigentlich nur aus den Empfindungen der Vertreter der sozialen Frage in der Gegenwart reden. Die empfinden so, wie ich es jetzt schildern will. Sie empfinden, daß alle sozialen Fragen, die in dem Zeitalter auftra­ten, wovon ich zuerst sprechen will, im Stadium der Utopie waren. Und was verstehen die Leute darunter, wenn sie sagen, die soziale Frage war damals im Stadium der Utopie? Darunter verstehen sie

- das hat man ja auch schon dazumal bemerkt; Saint-Simon und Fourier haben es gut bemerkt -, daß da sind, auch nach der Fran­zösischen Revolution, Menschen einer gewissen sozialen Minder­heit, welche im Besitz der Produktionsmittel und auch anderer menschlicher Güter sind, und daß da sind eine große Anzahl von anderen Menschen - es ist sogar die Mehrzahl -, welche nicht in solchem Besitze sind. Diese Menschen können an den Produk­tionsmitteln nur dadurch arbeiten, daß sie in die Dienste derjenigen treten, die die Produktionsmittel und auch den Boden besitzen -sie haben im Grunde genommen nichts anderes als sich selbst und ihre Arbeitskraft. Man hat bemerkt, daß das Leben dieser großen Masse der Menschheit eine Bedrängnis ist, zum großen Teil in Armut verläuft im Gegensatz zu denjenigen, die in der Minderheit sind; und man hat hingewiesen auf die Lage der Minderheit und auf die Lage der Mehrheit.

Diejenigen, die nun so wie Saint-Simon und Fourier wie auch noch Proudhon über diese soziale Lage der Menschheit geschrie­ben haben, die sind von einer gewissen Voraussetzung ausgegan­gen. Sie sind ausgegangen von der Voraussetzung, daß man not­wendig habe, die Menschen darauf hinzuweisen: Seht, die große

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Masse lebt in Elend, in Unfreiheit, in wirtschaftlicher Abhängig­keit, das ist für die große Masse kein menschenwürdiges Dasein. Das muß geändert werden. - Und man hat dann allerlei Mittel ausersonnen, durch welche diese Ungleichheit unter den Menschen geändert werden kann. Aber es war immer eine bestimmte Voraus­setzung da, und diese Voraussetzung war, daß man sich sagte:

Wenn man weiß, worinnen die Ungleichheit begründet ist und wenn man eindringliche Worte genug hat, wenn man sittliches Bewußtsein selbst genug hat, um stark darauf hinzuweisen, daß die große Mehrzahl der Menschen in wirtschaftlicher und rechtlicher Abhängigkeit lebt und arm ist, so wird diese Rede die Herzen, die Seelen der Minderheit, der Begüterten, der begünstigteren Minder­heit ergreifen. Und es wird dadurch, daß diese Minderheit einsieht, so kann es nicht bleiben, man muß Änderungen herbeiführen, es muß eine andere Gesellschaftsordnung kommen, es wird dadurch eine andere Gesellschaftsordnung herbeigeführt werden. Also die Voraussetzung war die, daß die Menschen sich herbeilassen wer­den, aus ihrem innersten Seelenantrieb heraus etwas zur Befreiung der großen Masse der Menschheit zu tun. Und dann schlug man vor, was man tun sollte. Und man glaubte, wenn die Minderheit, wenn die Menschen, die die leitenden, führenden Menschen sind, einsehen, daß das gut ist, was man tun will, dann wird eine all-gemeine Besserung der Lage der Menschheit eintreten.

Es ist sehr viel außerordentlich Gescheites gesagt worden von dieser Seite her, allein alles dasjenige, was in dieser Richtung unter­nommen worden ist, das empfindet man heute bei den meisten Vertretern der sozialen Frage als utopisch. Das heißt, man rechnet heute nicht mehr darauf, daß man nur zu sagen braucht: So müßte man die Welt einrichten, dann würde die wirtschaftliche und po­litische und rechtliche Ungleichheit der Menschen aufhören. - Es nützt heute nichts, an das Verständnis zu appellieren, an die Ein­sicht der Menschen, die begünstigt sind, die im Vorrecht sind, die im Besitz sind der Produktionsmittel und dergleichen. Wenn ich ausdrücken soll, was da im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts verloren worden ist, so muß ich sagen, verloren worden

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ist der Glaube an die Einsicht und an den guten Willen der Men­schen. Daher sagen sich die Vertreter der sozialen Frage, die ich jetzt meine: Schöne Pläne ausdenken, wie man die Menschenwelt einrichten soll, das kann man, aber dabei kommt nichts heraus; denn wenn man noch so schöne Pläne predigt, wenn man mit noch so rührenden Worten appelliert an die Herzen, an die Seelen der regierenden Minderheiten, so wird doch nichts geschehen. Das alles sind wertlose Ideen, und wertlose Ideen, welche die Zukunft ausmalen, das sind eben in Wirklichkeit, populär gesprochen, Uto­pien. Es hat also gar keinen Zweck, so sagt man, irgend etwas auszumalen, was in der Zukunft geschehen soll, denn es wird niemand da sein, der von seinen Interessen losläßt, der ergriffen werden kann in bezug auf sein Gewissen, in bezug auf seine sitt­liche Einsicht und so weiter. - Den Glauben an Gewissen und sittliche Einsicht hat man eben in weitesten Kreisen, namentlich bei den Vertretern der sozialen Frage, verloren. Man sagt sich, die Menschen handeln ja gar nicht nach ihrer Einsicht, wenn sie soziale Einrichtungen treffen oder wenn sie ihr soziales Leben führen, sie handeln nach ihrem Interesse. Und die Besitzenden haben selbst­verständlich ein Interesse daran, in ihrem Besitz zu bleiben. Die sozial Bevorrechteten haben ein Interesse an der Erhaltung der sozialen Vorrechte. Daher ist es eine Illusion, darauf zu rechnen, daß man nur zu sagen braucht, die Leute sollen das oder jenes machen. Sie tun es eben nicht, weil sie nicht aus ihrer Einsicht, sondern aus ihrem Interesse heraus handeln.

Im umfassendsten Sinne, so kann man sagen, hat sich nach und nach - aber wirklich erst nach und nach - zu dieser Ansicht Karl Marx bekannt. Man kann in dem Leben von Karl Marx eine ganze Anzahl von Epochen schildern. Marx war in seiner Jugend auch ein idealistischer Denker und hat auch noch in dem Sinn, wie ich es eben charakterisiert habe, an die Realisierbarkeit von Utopien ge­dacht. Aber er war es gerade, und nach ihm dann auch sein Freund Engels, der in der allerradikalsten Weise von dieser Rechnung auf die Einsicht der Menschen abgekommen ist. Und wenn ich im allgemeinen etwas charakterisiere, was eigentlich eine große Geschichte

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ist, so kann ich das folgende sagen: Karl Marx ist zuletzt zu der Überzeugung gekommen, daß es in der Welt nicht auf eine andere Art besser werden könne als dadurch, daß man diejenigen Menschen aufruft, die nicht ein Interesse daran haben, daß ihre Güter, daß ihre Vorrechte ihnen erhalten bleiben. Auf die, die ein Interesse haben, daß ihre Güter ihnen erhalten bleiben, auf diese könne man überhaupt nicht sehen, diese müsse man ganz aus der Rechnung lassen, denn sie würden sich niemals herbeilassen, irgendwie darauf einzugehen, wenn man ihnen noch so schön pre­digt. Demgegenüber gibt es gerade die große Masse der proletari­schen Arbeiter, Ldie nichts an Gütern zu verlieren haben]. Karl Marx selbst lebte sich ja in diese Überzeugung hinein in der Zeit, als in Mitteleuropa das im Grunde erst entstand, was man heute das Proletariat nennt; er sah das Proletariat in Mitteleuropa erst ent­stehen aus anderen Wirtschaftsverhältnissen heraus. Als er später in England lebte, war das ja etwas anders. Aber in der Zeit, als Karl Marx sich vom Idealisten zum ökonomischen Materialisten ent­wickelte, da war es noch so, daß eigentlich in Mitteleuropa das moderne Proletariat erst heraufkam. Und nun sagte er sich: Dieses moderne Proletariat, das hat ganz andere Interessen als die leitende, führende Minderheit, denn es besteht aus Menschen, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft, aus Menschen, die auf keine andere Weise leben können als dadurch, daß sie ihre Arbeitskraft in den Dienst der Besitzenden, namentlich in den Dienst der Besitzenden der Produktionsmittel, stellen. Wenn diese Arbeiter ihre Arbeit verlassen, dann sind sie - das galt besonders für die damalige Zeit in radikalster Weise -, dann sind sie auf die Straße geworfen. Sie haben nichts anderes vor sich als die Möglichkeit einer Fron für diejenigen, die die Besitzer der Produktionsmittel sind. Diese Men­schen haben ein ganz anderes Interesse als die Besitzenden. Sie haben ein Interesse daran, daß die ganze frühere Gesellschaftsord­nung aufhört, daß diese Gesellschaftsordnung umgewandelt wird. Denen braucht man nicht so zu predigen, daß ihre Einsicht ergrif­fen wird, sondern nur so, daß ihr Egoismus, ihr Interesse ergriffen werden. Darauf kann man sich verlassen. Zu predigen denjenigen,

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auf deren Einsicht man zählen soll, dabei kommt nichts heraus, denn die Menschen handeln nicht aus Einsicht, sie handeln nur nach Interessen. Also, man kann sich nicht an diejenigen wenden, bei denen man an die Einsicht appellieren müßte, sondern man muß an die Interessen derjenigen appellieren, die nicht anders kön­nen, als aus innerem Zwang heraus für die neuere Zeit eintreten. Das ist der Egoismus, zu dem Karl Maix sich hinentwickelt hat. Daher hat er nicht mehr geglaubt, daß der Fortschritt der Mensch­heit zu neueren sozialen Zuständen von anderem Menschenwerke herkommen könne als von dem Werke des Proletariats selbst. Das Proletariat könne nur, so meint Karl Marx, aus seinen Interessen, aus seinen einzelegoistischen Interessen her, eine Erneuerung der menschlichen sozialen Zustände erstreben. Und damit wird das Proletariat, aber jetzt nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus egoistischem Interesse, auch die ganze übrige Menschheit befreien, weil es nichts anderes mehr geben kann als dasjenige, was die Menschen bewirken, die nicht an alten Gütern hängen und bei einer Umwandlung nichts von alten Gütern zu verlieren haben.

Man sagt sich also: Da sind auf der einen Seite die leitenden, führenden Kreise, die haben gewisse Rechte, die ihnen in früheren Zeiten verliehen worden sind oder die in früheren Zeiten von ihnen erzwungen worden sind, die sich vererbt haben in ihren Familien, an denen halten sie fest. Diese leitenden, führenden Kreise sind im Besitz von dem oder jenem, das vererben sie wiederum weiter innerhalb ihrer Kreise, ihrer Familie und so weiter. Diese Kreise haben bei einer Umwandlung immer etwas zu verlieren, denn selbstverständlich, wenn sie nichts verlören, würde ja keine Um­wandlung geschehen. Es handelt sich ja darum, daß diejenigen, die nichts haben, etwas bekommen sollen, daher können diejenigen, die etwas haben, nur verlieren. Also man könnte nur an die Ein­sicht appellieren, wenn diese Einsicht der besitzenden, führenden Klasse den Impuls eingeben würde, etwas verlieren zu wollen. Darauf lassen sie sich nicht ein. - Das war die Anschauung von Karl Marx. Man muß also an diejenigen appellieren, die nichts zu verlieren haben. Deshalb schließt auch im Jahre 1848 das «Kommunistische

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Manifest» mit den Worten: «Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, sie haben aber alles zu gewinnen. Prole­tarier aller Länder, vereinigt euch!»

Nun sehen Sie, das ist seit der Veröffentlichung des Kommu­nistischen Manifests gewissermaßen eine Überzeugung geworden. Und heute, wo gewisse Empfindungen, die schon unter dem Einfluß dieser Anschauung stehen, eben in der Majorität des Proletariats leben, heute kann man sich gar nicht mehr richtig vorstellen, was für ein ungeheurer Umschwung in der sozialisti­schen Anschauung um die Mitte des 19. Jahrhunderts sich voll­zogen hat. Aber es wäre gut, wenn Sie sich herbeiließen, so etwas zu nehmen wie das «Evangelium eines armen Sünders» von Weitling, einem Schneidergesellen, das gar nicht so lange Zeit vor dem Kommunistischen Manifest geschrieben worden ist, und wenn Sie das vergleichen würden mit alle dem, was nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes geschrieben ist. In diesem wirklich von echter proletarischer Empfindung eingege­benen «Evangelium eines armen Sünders» herrscht eine, man kann sagen, in gewissem Sinne sogar poetische, glühende Sprache, aber durchaus eine Sprache, die appellieren will an den guten Willen, an die Einsicht der Menschen. Das ist Weitlings Überzeu­gung, daß man etwas anfangen könne mit dem guten Willen der Menschen. Und diese Überzeugung, die ist erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts geschwunden. Und die Tat, durch die sie ge­schwunden ist, ist eben die Publikation des Kommunistischen Manifestes. Und seit der Zeit, seit dem Jahre 1848, können wir eigentlich das verfolgen, was wir heute die soziale Frage nennen. Denn wenn wir heute so reden wollten wie Saint-Simon, wie Fourier, wie Weitling - ja, wir würden heute wirklich ganz tauben Ohren predigen. Denn bis zu einem gewissen Grade ist es durchaus richtig, daß man in der sozialen Frage nichts an­fangen kann, wenn man an die Einsicht der leitenden, führenden Kreise appelliert, die etwas haben. Das ist schon richtig. Die leitenden, führenden Kreise haben das zwar niemals zugegeben, sie werden es auch heute kaum zugeben - sie wissen es gar nicht

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einmal, wenn sie es doch tun, denn da spielen unbewußte Kräfte in der menschlichen Seele eine außerordentlich große Rolle.

Sehen Sie, es ist ja nun einmal unsere geistige Kultur im Laufe des 19. Jahrhunderts fast ganz zur Phrase geworden. Und daß wir mit Bezug auf die geistige Kultur in der Phrase leben, ist eine viel wichtigere soziale Tatsache, als man gewöhnlich meint. Und so reden natürlich die Angehörigen der leitenden, führenden Kreise auch über die soziale Frage allerlei schöne Dinge, und sie sind selbst oftmals überzeugt, daß sie schon den guten Willen hätten. Aber in Wirklichkeit glauben sie das nur, es ist nur ihre Illusion; in dem Augenblick, wo irgend etwas Reales in dieser Beziehung in Angriff genommen wird, kommt es auch gleich heraus, daß das eine Illusion ist. Davon wollen wir nachher noch sprechen. Aber wie gesagt, so können wir heute nicht mehr reden, wie im Zeitalter der Utopien geredet worden ist. Das ist die wirkliche Errungen­schaft, die durch Karl Marx gekommen ist, daß er gezeigt hat, wie heute die Menschheit so in den Illusionismus hineinverstrickt ist, daß es ein Unsinn ist, auf etwas anderes zu rechnen als auf den Egoismus. Es muß damit einmal gerechnet werden; es kann daher gar nichts erreicht werden, wenn man auf die Selbstlosigkeit, auf den guten Willen, auf die sittlichen Grundsätze der Menschen - ich sage immer «in bezug auf die Soziale Frage» - irgendwie rechnen will. Und dieser Umschwung, der dazu geführt hat, daß wir eben heute ganz anders reden müssen, als zum Beispiel noch in der er­sten Hälfte des 19. Jahrhunderts geredet werden konnte mit Bezug auf die soziale Frage, dieser Umschwung ist eben mit dem Kom­munistischen Manifest gekommen. Aber es ist nicht alles auf ein­mal gekommen, sondern es war ja immerhin möglich, daß auch nach dem Kommunistischen Manifest noch bis in die sechziger Jahre hinein, wie Sie alle wissen werden - manche jüngere Sozia­listen haben ja die Zeit schon vergessen -, diese ganz andere Art des sozialen Denkens, die Art des Ferdinand Lassalle, die Herzen, die Seelen ergriffen hat. Und auch nach dem Tode von Lassalle, der 1864 erfolgt ist, hat sich noch fortgesetzt dasjenige, was Lassalle­scher Sozialismus war. Lassalle gehört durchaus zu den Menschen,

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die, trotzdem die andere Denkweise schon heraufgekommen war, noch rechneten auf die Schlagkraft der Ideen. Lassalle wollte durchaus noch die Menschen als solche ergreifen in ihrer Einsicht, in ihrem sozialen Wollen vor allen Dingen. Aber immer mehr und mehr nahm diese Lassallesche Schattierung ab und nahm überhand die andere, die marxistische Schattierung, die nur rechnen wollte auf die Interessen desjenigen Teiles der menschlichen Bevölkerung, der nur sich selbst besaß und seine Arbeitskraft. Aber es ging immerhin nicht so schnell. Solch eine Denkweise entwickelte sich erst nach und nach in der Menschheit.

In den sechziger, siebziger Jahren, auch noch in den achtziger Jahren war es durchaus so, daß die Leute, die dem Proletariat an­gehörten oder die zu den Leuten gehörten, die politisch oder sozial abhängig - wenn auch nicht gerade Proletarier - waren, ihre Ab­hängigkeit gewissermaßen moralisch beurteilten und daß sie die nicht-abhängigen Kreise der menschlichen Bevölkerung moralisch verurteilten. Ihrem Bewußtsein nach war es böser Wille der leiten­den, führenden Kreise der menschlichen Bevölkerung, daß sie die große Masse des Proletariats in Abhängigkeit ließen, daß sie sie schlecht bezahlten und so weiter. Wenn ich es trivial ausdrücken darf, so kann ich sagen, in den sechziger, siebziger Jahren, bis in die achtziger Jahre hinein, wurde viel soziale Entrüstung fabriziert und vom Standpunkt der sozialen Entrüstung aus gesprochen. Dann trat in der Mitte der achtziger Jahre der merkwürdige Umschwung eigentlich erst so recht ein. Die mehr führenden Persönlichkeiten der sozialen Bewegung, die hörten dann in den achtziger Jahren ganz auf, aus moralischer Entrüstung heraus über die soziale Frage zu sprechen. Das war ja die Zeit, in der groß waren und mehr oder weniger noch von jugendlichem Feuereifer durchglüht waren die­jenigen sozialen Führer, die Sie, die Sie jünger sind, nur noch haben sterben sehen: Adler, Pernerstorfer, Wilhelm Liebknecht, Auer, Bebel, Singer und so weiter. Diese älteren Führer hörten gerade damals in den achtziger Jahren immer mehr auf, diesen Entrü­stungssozialismus zu predigen. Ich möchte es so ausdrücken, daß diese Führer des Sozialismus ihre innerste Überzeugung aussprachen,

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als sie damals den alten Entrüstungssozialismus überleiteten in ihre neuere sozialistische Weltanschauung. Sie werden finden, was ich Ihnen jetzt sage, das stehe ja in keinem Buche über die Geschichte des Sozialismus. Aber wer dazumal gelebt hat und das mitgemacht hat, der weiß, daß die Leute, wenn sie sich selbst über­lassen waren, so geredet haben.

Nehmen wir einmal an, es seien in den achtziger Jahren solche führenden Leute des Sozialismus zu einer Diskussion zusammen­gekommen mit solchen, die [reine] Bourgeois waren in ihren Ge­sinnungen, und nehmen wir an, es wäre noch eine dritte Sorte dabeigewesen: Bourgeois, die Idealisten waren und allen Menschen Gutes wünschten, die damit einverstanden gewesen wären, alle Menschen glücklich zu machen. Da hätte es geschehen können, daß die Bourgeois erklärten, es müsse immer Leute geben, die arm sind, und solche, die reich sind, und so weiter, denn nur das könne die menschliche Gesellschaft aufrechterhalten. Dann hätte sich viel­leicht die Stimme eines von denjenigen erhoben, welche Idealisten waren, die da entrüstet waren darüber, daß so viele Leute in Armut und Abhängigkeit leben mußten. So einer hätte dann vielleicht gesagt: Ja, das muß erreicht werden, daß klargemacht wird diesen besitzenden Leuten, den Unternehmern, den Kapitalisten, daß sie loslassen müssen von ihrem Besitz, daß sie Einrichtungen treffen müssen, durch welche die große Masse in eine andere Lage kommt, und dergleichen. - Da könnten sehr schöne Reden gehalten werden aus diesen Tönen heraus. Dann aber hätte solch einer seine Stimme erhoben, der damals sich gerade hineinfand in den Sozialismus und seinen Werdegang, und hätte gesagt: Was reden Sie da, Sie sind ein Kind; das ist alles Kinderei, alles Unsinn! Die Leute, die da Kapi­talisten sind, die Unternehmer sind, das sind alles arme Hascherln, die wissen nichts anderes, als was ihnen eingebleut worden ist von Generationen her. Wenn die auch hören, sie sollten es anders machen, dann könnten sie es nicht einmal, denn sie kämen nicht darauf, wie sie es machen sollten. So etwas geht gar nicht in ihre Schädel hinein, daß man etwas anders machen kann. Man darf nicht die Leute anklagen, man darf nicht die Leute moralisch verurteilen,

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die sind gar nicht moralisch zu verurteilen; die Kerle sind da hin­eingewachsen, diese armen Hascherln, in das ganze Milieu, und das inspiriert sie mit den Ideen, die sie haben. Sie moralisch anklagen heißt, nichts verstehen von den Gesetzen der Menschheitsentwick­lung, heißt, sich Illusionen hingeben. Diese Menschen können nie­mals wollen, daß die Welt eine andere Form annimmt. Mit Ent­rüstung von ihnen zu sprechen, ist die pure Kinderei. Das ist alles notwendig so geworden, und anders kann das auch wiederum nur durch Notwendigkeit werden. Seht ihr, mit solchen kindischen Kerlen, die da glauben, sie könnten den Besitzenden, den Kapi­talisten predigen, es solle eine neue Weltordnung heraufgeführt werden, mit solchen kindischen Kerlen kann man nichts anfangen; mit ihnen ist keine neue Weltordnung herbeizuführen; die geben sich nur dem Glauben hin, daß man anklagen kann diese armen Hascherln von Kapitalisten, daß sie eine andere Welt machen soll­ten. - Ich muß die Sache etwas deutlich aussprechen, daher ist manches in scharfen Konturen gesagt, aber doch so, daß Sie die Reden, von denen ich spreche, durchaus überall hören konnten. Wenn sie geschrieben wurden, dann wurden sie ja ein bißchen re­tuschiert, ein bißchen anders geschrieben, aber das lag zugrunde. Dann redeten sie weiter: Mit diesen Kerlen - das sind Idealisten, die stellen sich die Welt im Sinne einer Ideologie vor -, mit denen ist nichts anzufangen. Wir müssen uns auf diejenigen verlassen, die nichts haben, die daher etwas anderes wollen aus ihren Interessen heraus als die, die mit kapitalistischen Interessen verbunden sind. Und die werden auch nicht aus irgendeinem moralischen Grund­satz eine Änderung der Lebenslage anstreben, sondern nur aus Begehrlichkeit, um mehr zu haben als sie bisher hatten, um ein unabhängiges Dasein zu haben.

Diese Denkweise kam in den achtziger Jahren immer mehr und mehr herauf, die Menschheitsentwicklung nicht mehr in dem Sinne aufzufassen, daß der einzelne Mensch besonders verantwortlich ist für das, was er tut, sondern daß er tut, was er aus der wirtschaft­lichen Lage heraus tun muß. Der Kapitalist, der Unternehmer, schindet die anderen in höchster Unschuld. Derjenige, der Proletarier

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ist, der wird nicht aus einem sittlichen Grundsatz, sondern in aller Unschuld aus einer menschlichen Notwendigkeit heraus revolutionieren und die Produktionsmittel, das Kapital, aus den Händen derjenigen nehmen, die es eben haben. Das muß sich ab­spielen als eine geschichtliche Notwendigkeit. - Diese Denkweise kam herauf.

Nun, sehen Sie, es war eigentlich erst im Jahre 1891 auf dem Erfurter Parteitag, als dann aller Lassallianismus, der eben doch noch auf die Einsicht der Menschen basiert war, überging in den Glauben an das sogenannte «Erfurter Programm», welches be­stimmt war, den Marxismus zur offiziellen Anschauung des Prole­tariats zu machen. Lesen Sie die Programme des Gothaer, des Eisenacher Parteitages durch, da werden Sie zwei Forderungen fin­den als echt proletarische Forderungen der damaligen Zeit, die noch zusammenhängen mit Lassallianismus. Die erste Forderung war: die Abschaffung des Lohnverhältnisses; die zweite Forderung war: die politische Gleichstellung aller Menschen, die Abschaffung aller politischen Vorrechte. Auf diese beiden Forderungen gingen alle proletarischen Forderungen aus bis zu den neunziger Jahren, bis zu dem Erfurter Parteitag, der den großen Umschwung brachte. Schauen Sie einmal diese beiden Forderungen genau an, und ver­gleichen Sie sie mit den Hauptforderungen des Erfurter Parteitages. Welches sind nun die Hauptforderungen des Erfurter Parteitages? Es sind: Überführung des Privateigentums an Produktionsmitteln in das gemeinschaftliche Eigentum; Verwaltung aller Gütererzeu­gung, aller Produktion durch eine Art große Genossenschaft, in welche sich umzuwandeln hat der bisherige Staat. Vergleichen Sie das ehemalige Programm, welches das proletarische Programm der achtziger Jahre war, mit demjenigen, was aus dem Erfurter Partei­programm hervorgegangen ist und seit den neunziger Jahren existiert. Sie werden sehen, im alten Gothaer und Eisenacher Pro­gramm sind die Forderungen des Sozialismus noch rein mensch­liche Forderungen: politische Gleichheit aller Menschen, Abschaf­fung des entwürdigenden Lohnverhältnisses. Im Anfang der neun­ziger Jahre hat schon gewirkt dasjenige, was ich Ihnen charakterisiert

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habe als die Gesinnung, die im Laufe der achtziger Jahre her­aufgekommen ist. Da ist verwandelt worden das, was noch mehr Menschheitsforderung war, in eine rein wirtschaftliche Forderung. Da lesen Sie nichts mehr von dem Ideal, das Lohnverhältnis ab­zuschaffen, da lesen Sie nur von Wirtschaftsforderungen.

Nun, sehen Sie, diese Sachen hängen dann zusammen mit dem allmählichen Ausbilden der Idee, die man hatte über die äußerliche Herbeiführung eines besseren sozialen Zustandes der Menschheit. Es ist auch oftmals von solchen Leuten, die noch Ideale hatten, gesagt worden: Ach, was schadet es denn, wenn man alles kurz und klein schlägt, es muß ja eine andere Ord­nung herbeigeführt werden; also, es muß eine Revolution kom­men, es muß alles kurz und klein geschlagen werden, es muß der große Kladderadatsch kommen, denn nur daraus kann eine bessere Gesellschaftsordnung entstehen. - Das sagten noch man­che Leute in den achtziger Jahren, die gute, idealistische Sozia­listen waren. Denen wurde geantwortet von den anderen, die auf der Höhe der Zeit standen, die die Führer geworden waren -diejenigen, die jetzt, wie ich sagte, begraben sind -, die sagten:

Das hat alles keinen Sinn, solche plötzlichen Revolutionen sind sinnlos. Das einzige, was Sinn hat, das ist, daß wir den Kapita­lismus sich selber überlassen. Wir sehen ja, früher gab es nur kleine Kapitalisten, dann sind es große geworden; sie haben sich zusammengetan mit anderen, sind zu Kapitalistengruppen ge­worden. Die Kapitalien haben sich immer mehr konzentriert. In diesem Prozeß sind wir drinnen, daß die Kapitalien immer mehr und mehr konzentriert werden. Dann wird die Zeit kommen, wo eigentlich nur noch einige wenige große kapitalistische Trusts, Konsortien vorhanden sind. Dann wird es nur noch notwendig sein, daß das Proletariat, als die nichtbesitzende Klas­se, eines schönen Tages auf ganz friedliche Weise, auf parlamen­tarischem Wege, den Kapitalistenbesitz, die Produktionsmittel, überführt in den Gemeinschaftsbesitz. Das kann ganz gut ge­macht werden, aber man muß abwarten. Bis dahin müssen sich die Dinge entwickeln. Der Kapitalismus, der eigentlich ein unschuldiges

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Kind ist, kann ja nichts dafür, daß er menschenschin­derisch ist - das bringt die geschichtliche Notwendigkeit herauf. Er arbeitet aber auch vor, denn er konzentriert die Kapitalien; sie sind dann schön beieinander, dann brauchen sie nur uber­nommen zu werden von der Allgemeinheit. Nichts von rascher Revolution, sondern langsame Entwicklung.

Sehen Sie, das Geheimnis der Anschauung, das öffentliche Ge­heimnis der Anschauung, das da zugrundeliegt, hat ja in den neun­ziger Jahren Engels schön auseinandergesetzt. Er hat gesagt: Wozu schnelle Revolutionen? Dasjenige, was langsam geschieht unter der Entwicklung des neueren Kapitalismus, dieses Zusammenrotten der Kapitalien, dieses Konzentrieren der Kapitalien, das arbeitet ja alles für uns. Wir brauchen nicht erst eine Gemeinsamkeit herzu­stellen, die Kapitalisten machen das schon. Wir brauchen es nur überzuführen in den proletarischen Besitz. Daher - sagt Engels -haben sich eigentlich die Rollen vertauscht. Wir, die wir das Pro­letariat vertreten, haben uns ja gar nicht zu beklagen über die Entwicklung, die anderen haben sich zu beklagen. Denn die Kerle, die heute in den Kreisen der besitzenden Leute sind, die müssen sich sagen: Wir sammeln die Kapitalien an, aber für die anderen sammeln wir sie an. Seht, die Kerle müssen sich eigentlich sorgen, daß sie ihre Kapitalien verlieren; die kriegen eingefallene Backen, die werden dürr von diesen Sorgen, was da werden soll. Wir gedei­hen gerade als Sozialisten sehr gut in dieser Entwicklung drin. Wir kriegen, sagt Engels, pralle Muskeln und volle Backen und sehen aus wie das ewige Leben. - Das sagt Engels in einer Einleitung, die er in den neunziger Jahren schrieb, indem er charakterisierte, wie es ganz recht ist, was sich da herausentwickelt, und wie man nur abzuwarten brauchte die Entwicklung, die eigentlich durch den Kapitalismus von selber besorgt wird. Diese Entwicklung mündet dann ein in die Überführung desjenigen, was der Kapitalismus erst konzentriert hat, in den Gemeinbesitz derer, die bisher nichts gehabt haben. - Das war eigentlich die Stimmung, in der das 20. Jahrhundert von den führenden Kreisen des Proletariats betreten worden ist.

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Und so hat man gedacht, besonders seit der Zeit, in der der Marxismus nicht mehr so genommen worden ist wie in den neun­ziger Jahren, sondern als er einer Revision, wie man sagte, unter­zogen worden ist, in der Zeit, als die Revisionisten auftraten, also diejenigen, die heute noch leben, aber alte Leute sind, wie zum Beispiel Bernstein. Da kamen also die Revisionisten. Die sagten, man kann die ganze Entwicklung etwas fördern, denn wenn die Arbeiter bloß arbeiten, bis die Kapitalisten alles zusammenge­scharrt haben, werden sie doch vorher noch Not leiden, namentlich im Alter haben sie nichts. Da wurden dann Versicherungen ge­macht und so weiter; und vor allen Dingen sah man darauf, daß man dasjenige, was die führenden Klassen hatten als Einrichtungen im politischen Leben, daß man sich das auch aneignete. Sie wissen, damals entstand ja namentlich auch das gewerkschaftliche Leben. Und innerhalb der sozialistischen Partei waren das die zwei stark divergierenden Richtungen: die ausgesprochene Gewerkschaftspar­tei und die eigentliche, wie man damals sagte, politische Partei. Die politische Partei stand mehr auf dem Boden, eine plötzliche Revo­lution nütze nichts, die Entwicklung müsse so vor sich gehen, wie ich es eben beschrieben habe. Daher handle es sich darum, daß alles vorbereitet werde auf den einen Zeitpunkt, wo der Kapitalismus genügend konzentriert ist und das Proletariat in den Parlamenten die Majorität hat. Es müsse alles auf dem Wege des Parlamentaris­mus, der Aneignung der Majorität, fortgetrieben werden, damit an dem Zeitpunkte, wo die Produktionsmittel in den Gemeinbesitz übernommen werden sollten, dann auch die Majorität für diese Überführung da ist. Namentlich in dieser Gruppe von Leuten, die alles von der politischen Partei hielten, da hielt man am Ende des 19. Jahrhunderts nicht sehr viel von der gewerkschaftlichen Bewe­gung. Diese setzte sich in jener Zeit eben dafür ein, so eine Art Wettkampf in geordneter Art zwischen sich und den Unterneh­mern einzurichten, um von Zeit zu Zeit immer wieder von den Unternehmungen Lohnerhöhungen und ähnliche Dinge herauszu­bekommen. Kurz, man stellte sich so ein, daß man nachmachte jenes System gegenseitiger Verhandlungen, wie es unter den leitenden,

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führenden Kreisen untereinander selbst vorhanden war, daß man dieses auch ausdehnte auf das Verhältnis zwischen den leiten­den Kreisen und dem Proletariat. Sie wissen ja, daß ganz besonders angeklagt wurden von den Vertretern des eigentlich politischen sozialistischen Systems diejenigen, die dann am meisten bürgerlich wurden unter der Gewerkschaftsbewegung. Und am Ende der neunziger Jahre und am Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man überall sehen bei denjenigen, die mehr auf das politische System eingerichtet waren, die große Verachtung für jene Leute, die sich ganz eingefuchst hatten auf das gewerkschaftliche Leben, nament­lich zum Beispiel die Buchdrucker, die wiederum ein ganz anderes System gewerkschaftlichen Lebens bis zum Extrem ausgebildet hatten.

Das waren zwei ganz streng voneinander geschiedene Rich­tungen im sozialen Leben: die Gewerkschafter und diejenigen, die mehr der politischen Partei zuneigten. Und innerhalb der Gewerkschaften waren ja die Buchdrucker im Buchdruckerver­band geradezu die Musterknaben; sie waren diejenigen Muster-knaben, die sich ja auch die volle Anerkennung der bürgerlichen Kreise erworben hatten. Und ich glaube, daß ebenso, wie man eine gewisse Angst gehabt hat, eine gewisse Sorge gehabt hat über die politische sozialistische Partei, so hat man nach und nach mit großer Befriedigung heraufkommen sehen solche bra­ven Leute wie die Leute im Buchdruckerverband. Von denen sagte man sich: Die verbürgerlichen sich, mit denen kann man immer verhandeln, das geht ganz gut. Wenn die aufschlagen mit ihren Löhnen, dann schlagen wir auf mit unseren Preisen, die wir fordern. Das geht. - Und, nicht wahr, für die nächsten Jahre ging es auch, und weiter denken die Leute ja auch nicht. Also da war man mit dieser musterhaften Ausbildung der gewerk­schaftlichen Entwicklung sehr zufrieden. Nun ja, wenn ich eini­ges auslasse, was mehr Nuancen sind, kann man sagen, daß sich dann diese beiden Richtungen mehr oder weniger herausgebildet haben bis in die Zeiten, die dann überrascht worden sind von der Weltkriegskatastrophe. Aber da haben die Leute leider von

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dieser Weltkriegskatastrophe ja nicht alles gelernt, was mit Be­zug auf die soziale Frage eigentlich hätte gelernt werden sollen.

Nicht wahr, sobald man nun betrachtet die Verhältnisse im Osten von Europa, in Mitteleuropa, wenn man absieht von der eigentlich anglo-amerikanischen Welt und zum Teil auch von der romanischen Welt, wenn man sich also auf Mittel- und Osteuropa beschränkt, so kann man sagen, mit dieser Geschichte ist eigentlich nichts Rechtes geworden, die man immer so definiert hat: Die Kapitalien konzentrieren sich, und, wenn man in den Parlamenten die Majorität haben wird, dann werden die Kapitalien in den Besitz der Gemeinschaft übergeführt werden und so weiter. - Daß das nicht so glatt erwartet werden kann heute, dafür hat die Welt­kriegskatastrophe gesorgt. Diejenigen sind ja oftmals als kindisch hingestellt worden, die irgendeine Revolution erwartet haben, aber im Grunde genommen, was ist denn geschehen in den letzten vier bis fünf Jahren? Halten wir uns das ganz klar und deutlich vor Augen, was geschehen ist. Nicht wahr, Sie haben es ja auch öfter gehört, was in den letzten vier bis fünf Jahren geschehen ist: Im Juli 1914 sind die Regierungen ein bißchen «verdreht» geworden - oder stark «verdreht» geworden - und haben die Leute in den Weltkrieg gehetzt. Da haben die Leute geglaubt, es sei ein Weltkrieg da, es haben Schlachten stattgefunden - aber mit den modernen Kriegs-mitteln, mit den Maschinenmitteln, war etwas ganz anderes da als in früheren Kriegen. Es ist doch keine Möglichkeit mehr da ge­wesen, daß irgendeiner ein besonders berühmter Feldherr wurde, denn schließlich kam es nur darauf an, ob eine Partei die größere Menge an Munition hatte und sonstige Mittel der Kriegführung, ob eine Partei die mechanischen Kriegsmittel besser herstellte als die andere oder ein Gas entdeckt hatte und dergleichen, das die ande­ren nicht hatten. Erst siegte der eine, dann entdeckte der andere wieder etwas, dann wieder der erste; das Ganze war eine furchtbar mechanische Kriegführung. Und alles, was geredet worden ist über dasjenige, was da und dort geschehen ist von seiten der Menschen, das war unter dem Einfluß der Phrase geschehen, es war durchaus Phrase. Und nach und nach wird die moderne Menschheit einsehen,

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auch in Mitteleuropa, was alles als Phrase drinnengesteckt hat, wenn der eine oder andere, der eigentlich nichts anderes war als ein etwas verdrehter Durchschnittssoldat, zu einem großen Feldherrn gemacht worden ist in Mitteleuropa. Diese Dinge sind nur unter dem Einfluß der Phrase möglich geworden. Nun ja, das war eben so.

Nun, was ist denn aber in Wirklichkeit geschehen? Das haben die Leute vor lauter äußeren Ereignissen nicht gemerkt. Während die Leute glaubten, daß ein Weltkrieg geführt worden sei - der eigentlich nur eine Maske war -, hat sich in Wirklichkeit eine Re­volution vollzogen. In Wirklichkeit ist eine Revolution geschehen in diesen vier bis fünf Jahren. Das wissen die Leute heute nur noch nicht, das beachten sie heute noch nicht. Der Krieg ist die Außen­seite, die Maske; die Wahrheit ist die, daß sich die Revolution vollzogen hat. Und weil sich die Revolution vollzogen hat, ist heu­te die Gesellschaft Mittel- und Osteuropas in einer ganz anderen Verfassung, und man kann nichts anfangen mit dem, was die Leute bedacht hatten für frühere Lagen. Heute ist es notwendig, daß all die Gedanken, die man sich früher gemacht hat, ganz neu geordnet werden, daß man ganz neu über die Dinge denkt. Und das ist ver­sucht worden mit dem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Fra­ge»: ganz richtig zu rechnen mit der Lage, in die wir gekommen sind durch die allerjüngsten Ereignisse. Daher ist es kein Wunder, daß die Menschen in den sozialistischen Parteien, die nicht schnell genug mitkommen können, diesem Buch Mißverständnis über Mißverständnis entgegenbringen. Wenn die Menschen nur einmal sich darauf einließen, ihre eigenen Gedanken zu prüfen - ein biß­chen zu prüfen dasjenige, wovon sie sagen, daß sie es wollen -, dann würden sie sehen, wie sehr sie leben unter dem Einfluß der Ideen, die sie sich bis zum Jahre 1914 gemacht haben. Das ist die alte Gewohnheit.

Nicht wahr, diese Ideen, die man bis 1914 gehabt hat, die haben sich so eingefressen in die Umgebung der Menschen, daß sie jetzt nicht wieder herauskommen. Und was ist die Folge? Die Folge ist:

Trotzdem heute ein neues Handeln notwendig ist, trotzdem sich

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die Revolution vollzogen hat in Ost- und Mitteleuropa, trotzdem wir heute notwendig haben, einen Aufbau zu vollziehen - nicht nach alten Ideen, sondern nach neuen Ideen -, trotz alledem pre­digen die Leute die alten Ideen. Und was sind heute die Parteien, auch die sozialistischen Parteien? Die sozialistischen Parteien sind diejenigen, die in der alten Weise, wie sie bis zum Juli 1914 gepre­digt haben, dieses oder jenes sozialistische Evangelium auch heute weiter predigen, denn ein Unterschied ist bei diesen Parteipro­grammen nicht gegenüber den früheren - höchstens der Unter­schied, der von außen kommt. Für den, der die Dinge kennt, für den wird in der einzelnen Parteigruppierung furchtbar wenig Neu­es, ja gar nichts Neues gesagt. Die alten Ladenhüter von Gedanken werden auch heute noch verzapft. Nun ja, es ist ja ein bißchen ein Unterschied: Wenn man einen kupfernen Kessel hat und klopft daran, dann klingt es; klopft man genauso auf ein hölzernes Faß, dann klingt es anders; aber das Klopfen kann ganz dasselbe sein. Es hängt dann von dem ab, worauf man klopft, ob es anders klingt. Und so ist es heute, wenn die Leute ihre Parteiprogramme verzap­fen. Das, was in diesen alten Parteiprogrammen enthalten ist, das ist eigentlich der alte Parteiladenhüter; nur weil jetzt andere soziale Verhältnisse da sind, klingt es heute etwas anders, so wie es anders klingt bei einem kupfernen Kessel oder bei einem hölzernen Faß. Wenn die Unabhängigen Sozialisten oder die Mehrheitssozialisten oder die Kommunisten reden - sie reden eben alte Parteiphrasen, und es klingt anders, weil nicht ein kupferner Kessel, sondern ein hölzernes Faß da ist. In Wahrheit hat man auf vielen Seiten eben gar, gar, gar nichts gelernt. Aber darauf kommt es an, daß man etwas lernt, daß einem dieser furchtbare Weltkrieg, wie man ihn nennt, der aber eigentlich eine Weltrevolution war, irgend etwas sagt.

Und da kann man wirklich schon sagen: In den breitesten Mas­sen ist man vorbereitet darauf, etwas Neues zu hören. Aber bei den breiten Massen ist das so: Da wird zugehört dem, was die Führer sagen. Es ist ein gutes Verständnis da, ein guter, gesunder Men­schenverstand in den breiten, unverbildeten Massen, und man

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konnte eigentlich immer auf Verständnis rechnen, wenn man etwas richtig Zeitgemäßes, etwas im besten Sinne des Wortes zeitgemäß zu Nennendes vorbringt. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß die Massen unverbildet sind. Aber sobald sich die Menschen in die Art der Schulung hineinbegeben, die man haben kann seit den letzten drei bis vier Jahrhunderten, da hört diese Eigenschaft des Unverbildetseins auf. Wenn man dasjenige, was die heutige bürger­liche Schulbildung ist, von der Volksschule bis hinauf zur Uni­versität, betrachtet - und am ärgsten wird es sein, wenn jetzt die sozialistische Einheitsschule gegründet wird, da wird alles im größ­ten Maße vorhanden sein, was von der bürgerlichen Volksschule verbrochen worden ist -, da sieht man: Was da verzapft wird in den Schulen, das verbildet die Köpfe, das macht sie dem Leben fremd. Man muß aus dem ganzen Zeug herauskommen, man muß sich wirklich im geistigen Leben auf eigene Beine stellen, wenn man aus dieser Verbildung herauskommen will. Aber sehen Sie, durch diese Verbildung sind die großen und kleinen proletarischen Führer so geworden. Sie mußten sich diese Bildung aneignen; diese Bildung steckt in unseren Schulen und in den populären Schriften, überall steckt sie drinnen. Und da fängt man dann an, so ein vertrocknetes Gehirn zu kriegen und nicht mehr für die Tatsachen zugänglich zu sein, sondern bei Parteiprogrammen und Meinungen, die man sich eingepfropft und eingehämmert hat, bei denen bleibt man stehen. Da kann dann selbst die Weltrevolution kommen, man pfeift immer noch die alten Programme darauf los.

Sehen Sie, dieses Schicksal hat im wesentlichen dasjenige erfah­ren, was mit diesem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» und den Vorträgen in vieler Richtung gewollt worden ist. Da wurde einmal wirklich mit dem gerechnet, was das Proletariat heute unbedingt braucht, was notwendig ist aus der Zeitlage her­aus. Das verstand man auch anfangs [im Proletariat], aber dann verstanden es diejenigen nicht, die die Führer des Proletariats in den verschiedenen Parteigruppierungen sind. Das heißt, ich will ja nicht allzu ungerecht sein, und ich will nicht die Wahrheit pres­sen; ich will nicht behaupten, daß zum Beispiel diese Führer dieses

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Buch nicht verstehen, denn ich kann nicht annehmen, daß sie es gelesen haben, daß sie es kennen. Ich würde nicht etwas Rich­tiges behaupten, wenn ich sagte: sie können das Buch nicht verste­hen. Aber sie können sich überhaupt nicht entschließen zu verste­hen, daß etwas anderes notwendig sein soll, als das, was sie seit Jahrzehnten denken. Dazu ist ihr Gehirn zu trocken, zu steif ge­worden. Und daher bleiben sie stehen bei dem, was sie seit langer Zeit gedacht haben und finden, daß dasjenige, was das Gegenteil von aller Utopie ist, daß das eine Utopie sei. Denn sehen Sie, das Buch «Die Kernpunkte» rechnet voll damit, daß man heute nicht mehr im Sinne der Saint-Simon, Fourier, Proudhon und so weiter in Utopien sich bewegen kann, aber auch damit, daß man nim­mermehr sich auf den Standpunkt stellen kann: Die Entwicklung wird es schon von selber geben. Denn das, was Marx und Engels gesehen haben, was sich [zu ihren Zeiten] entwickelte, woraus sie ihre Schlüsse gezogen haben, aus dem kann man heute nicht mehr Schlüsse ziehen, denn das hat der Weltkrieg weggefegt, das ist in seiner wahren Gestalt nicht mehr da. Wer heute dasselbe sagt wie Marx und Engels, der sagt etwas, was Marx niemals gesagt hätte. Dem ist angst und bange geworden gerade vor seinen Anhängern, denn er hat gesagt: Was mich anbetrifft, ich bin kein Marxist. -Und heute würde er sagen: Damals waren die Tatsachen noch an­dere; damals habe ich meine Schlüsse gezogen aus Tatsachen, die noch nicht so modifiziert, so verändert worden sind, wie der Weltkrieg alles verändert hat nachher.

Aber sehen Sie, diejenigen Menschen, die nichts lernen können von den Ereignissen, die heute von einer Gesinnung sind, wie die alten Katholiken ihren Bischöfen und Päpsten gegenüber waren, die können sich gar nicht denken, daß so etwas, wie es der Marxis­mus ist, auch fortentwickelt werden muß im Sinne der Tatsachen. Sie sehen immer noch die alten Tatsachen vor sich, und deshalb pfeifen und fauchen die Leute noch immer dasselbe, was sie gepfif­fen und gefaucht haben vor dem Weltkrieg. So machen es die So­zialisten, aber auch die Bürgerlichen. Die weitesten Kreise machen es so. Die Bürgerlichen machen es natürlich ganz schläfrig, mit

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völlig verschlafener Seele, die anderen machen es so, daß sie aller­dings mitten drinnen stehen und den Zusammenbruch sehen, daß sie aber nicht mit den Tatsachen, die sich dadurch offenbaren, rech­nen wollen. Wir haben eben heute notwendig, daß etwas Neues unter die Menschen kommt. Und deshalb ist es nötig, so etwas zu verstehen [wie die Dreigliederung], die keine Utopie ist, sondern die gerade mit den Tatsachen rechnet. Wenn von jener Seite das­jenige, was so mit den Tatsachen rechnet, Quertreiberei genannt wird, so könnte man eigentlich ganz zufrieden sein. Denn wenn die Leute das, was sie vorwärtstreiben, eine gerade Linie nennen, dann muß man, um etwas Vernünftiges zu betreiben, in die Quere hin-einschießen, um das Unvernünftige in andere, in vernünftige Rich­tung zu bringen. Aber sehen Sie, diejenigen, die das Vernünftige doch noch einsehen, die sollten sich vertiefen in das, was hier vor­gebracht wird. Und dazu können ja diese Abende da sein.

Nicht wahr, es ist ja längst dasjenige, was da aus den Tatsachen herausgeholt wird, versucht worden, in die Praxis hineinzutragen. Und so haben wir uns seit Wochen versammelt - ich brauche alle diese Dinge nicht zu wiederholen, Sie können ja auch im Anschluß an diesen Vortrag noch Fragen stellen oder pro und contra disku­tieren -, wir haben uns seit Wochen versammelt, um das, was wir Betriebsräteschaft nennen, auf die Beine zu bringen. Wir haben versucht, diese Betriebsräteschaft aus den gegenwärtig notwendi­gen Tatsachen heraus zu schaffen, wirklich so sie zu schaffen, daß sie aus dem bloßen Wirtschaftsleben kommen, daß sie nicht kom­men aus dem politischen Leben, das nicht die Grundlage des Wirt­schaftslebens abgeben kann. Denn man muß, wenn man heute den Tatsachen ins Auge schaut, streng stehen auf dem Boden des drei­gliedrigen sozialen Organismus. Und derjenige, der heute diese Dreigliederung nicht will, der handelt der geschichtlichen Notwen­digkeit der Menschheitsentwicklung entgegen. Heute muß das so sein, wie ich es oftmals ausgeführt habe: daß das geistige Leben auf sich gestellt wird, daß das wirtschaftliche Leben auf sich gestellt wird, daß das Rechts- oder politische Leben demokratisch verwal­tet wird. Und im wirtschaftlichen Leben soll der erste Anfang zu

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einer wirklich sozialen Gestaltung mit den Betriebsräten gemacht werden. Wodurch kann aber das nur geschehen? Nur dadurch, daß man zuerst die Frage aufstellt: Nun ja, da ist der Impuls des drei­gliedrigen sozialen Organismus, der ist neu gegenüber allen frühe­ren Parteimumien; ist noch etwas anderes Neues da? Blödlinge behaupten heute, daß die Ideen nur so durch die Luft schwirren würden. Hört man die Diskussionen an, so bringen sie allerlei Negatives, aber sie bringen nichts, was der Dreigliederung des so­zialen Organismus an die Seite zu stellen wäre. Das ist alles Wischi­waschi, wenn da von sozialistischer Seite herkommt, daß die Ideen nur so in der Luft hängen - wie das gesagt worden ist in einer neu begründeten Zeitschrift in einer Besprechung der Dreigliederung.

Es handelt sich erstens darum, daß man die Frage aufwirft und sich darüber klar wird: Ist nichts anderes da? Dann hält man sich zunächst an die Dreigliederung des sozialen Organismus, bis man sie in sachlicher Weise widerlegen kann, bis man sachlich Gleichwerti­ges daneben stellen kann. Über die alten Parteiprogramme kann man nicht mehr diskutieren, darüber hat der Weltkrieg diskutiert; wer wirklich Verständnis hat, der weiß, daß diese alten Parteimumien durch die Weltkriegskatastrophe widerlegt sind. Dann aber, wenn man diese Frage nicht dadurch beantworten kann, daß man etwas sachlich Gleichwertiges daneben stellt, und wenn man weitergehen will, dann kann man ehrlich sich sagen: Also arbeiten wir im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus. Sagen wir uns ehrlich:

Die alten Parteizusammenhänge haben ihre Bedeutung verloren; es muß im Sinne der Dreigliederung gearbeitet werden.

Als ich vorgestern in Mannheim gesprochen habe, trat zuletzt ein Herr auf, der sagte: Was da der Steiner gesagt hat, ist schön, aber es ist nicht das, was wir wollen; wir wollen nicht zu allen alten Parteien noch eine neue Partei. Die Leute, die so etwas wollen, die sollen in die alten Parteien eintreten und darin wirken. - Ich konnte darauf nur sagen: Ich habe das politische Leben längst sehr genau verfolgt, als der Herr, der da sprach, noch lange nicht geboren war. Und ich habe, trotzdem ich mit allem bekanntgeworden bin durch mein Leben, was sozial irgendwie als Kraft funktionierte, ich habe doch

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niemals innerhalb irgendeiner Partei gewirkt oder darinnen stehen können, und es fällt mir nicht ein, jetzt, am Ende meines sechsten Lebensjahrzehnts, irgendwie ein Parteimensch zu werden: Weder mit einer andern Partei noch mit einer selbstgegründeten möchte ich irgend etwas zu tun haben. Also auch nicht mit einer selbstgegrün­deten Partei möchte ich etwas zu tun haben; das braucht niemand zu fürchten, daß durch mich eine neue Partei gegründet wird. Denn daß jede Partei durch Naturnotwendigkeit nach einiger Zeit töricht wird, das habe ich gelernt, gerade indem ich mich niemals mit irgendeiner Partei eingelassen habe. Und ich habe gelernt, die Leute zu bedauern, die das nicht durchschauen. Daher braucht niemand zu fürchten, daß zu den alten Parteien eine neue Partei kommt. Deshalb ist auch von uns nicht eine neue Partei gegründet worden, sondern der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus hat sich zusammenge­schlossen, um die Ideen des dreigliedrigen Organismus zu vertreten, deren nicht-utopistischer Charakter, deren Wirklichkeitscharakter eben doch von einer Anzahl von Menschen durchschaut wird. Die Menschen, die das einsehen, die sollten aber auch ehrlich und auf­richtig sich dazu bekennen.

Denn auch das darf nicht geschehen: Es gibt ein Theaterstück, da kräht ein Hahn in der Früh, und immer, wenn der Hahn gekräht hat, geht die Sonne auf. Nun ja, der Hahn kann nicht den Zusam­menhang durchschauen, daher glaubt er, wenn er kräht, dann folge die Sonne seinem Ruf, sie komme, weil er gekräht hat, er habe bewirkt, daß die Sonne aufgeht. - Wenn schließlich jemand im nicht-sozialen Leben sich einer solchen Täuschung hingibt, wie dieser Hahn, der auf dem Mist kräht und die Sonne aufgehen machen will, so macht es nichts. Wenn aber unter Umständen es hier geschehen würde, daß die Idee der wirklich wirtschaftlichen Betriebsräte gedeiht auf dem Boden des dreigliedrigen Organismus und diejenigen Menschen, die das pflegen, verleugnen wollten etwa den Ursprung, nämlich daß der Impuls der Dreigliederung diese Idee in Fluß gebracht hat, und wenn diese Menschen glauben, weil man gekräht habe, kämen die Betriebsräte, dann wäre das derselbe Irrtum, und zwar ein sehr verhängnisvoller Irrtum. Das darf aber

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nicht kommen. Das, was in dieser Richtung Lder Betriebsräte] ge­schieht, was in Angriff genommen worden ist hier, das darf nicht losgelöst werden, es muß im Zusammenhang bleiben mit dem rich­tig verstandenen Impuls der Dreigliederung des sozialen Organis­mus. Und diejenigen, die im Sinne dieses Impulses die Betriebs­räteschaft verwirklichen wollen, die können sich niemals darauf einlassen, daß etwa in einseitiger Weise bloß die Betriebsräteschaft gegründet würde und immer nur gekräht würde «Betriebsräte, Betriebsräte». Damit ist es nicht genug. Das hat nur einen Sinn, wenn man zugleich anstrebt alles, was durch den Impuls des drei­gliedrigen sozialen Organismus angestrebt werden soll. Das ist es, worauf es ankommt. Denn wollen Sie wirklich das verstehen, was in den «Kernpunkten» steht, dann müssen Sie sich auf den Stand­punkt stellen, den man lernen kann aus den Tatsachen, die die letzten vier bis fünf Jahre geboten haben. Wer diese Tatsachen durchschaut, auf den wirken sie so, als wenn er Jahrhunderte durchlebt hätte, und auf den wirken die Parteiprogramme so, als wenn ihre Träger Jahrhunderte geschlafen hätten. Heute muß dieses klar und rückhaltlos ins Auge gefaßt werden.

Das, was ich Ihnen jetzt erzählt habe, das hätte ich natürlich ebensogut als Vorrede in dieses Buch schreiben können. Allein, man hat ja erst in den letzten Monaten gesehen, wie steif und un­fruchtbar die Parteiprogramme gegenwärtig sind. Aber es wäre schon nützlich, wenn gerade das als Vorrede in diesem Buche ste­hen würde. Vieles, was nicht darin steht, habe ich Ihnen heute erzählt, da Sie, wie mir scheint, beschlossen haben, hier zusammen­zukommen, um in Anknüpfung an dieses Buch die ernsten sozialen Fragen der Gegenwart sachgemäß zu studieren. Aber bevor man sich an das macht, muß man sich schon klarmachen, daß man nicht forttrotteln kann in dem alten Stil der Parteiprogramme und Par­teischablonen, sondern daß man sich dazu entschließen muß, heute die Tatsachen wirklichkeitsgemäß anzufassen und einen Strich zu machen unter alles das, was nicht rechnet mit diesen neuen Tat­sachen. Nur dadurch werden Sie das, was erreicht werden soll ge­rade mit diesem Impuls vom dreigliedrigen sozialen Organismus,

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in der richtigen Weise auffassen. Und Sie werden es in der richtigen Weise auffassen, wenn Sie finden, daß jeder Satz in diesem Buch dazu angetan ist, Tat werden zu können, umgesetzt werden zu können in unmittelbare Wirklichkeit. Und die meisten, die sagen, sie würden das nicht verstehen oder es seien Utopien und derglei­chen, denen fehlt einfach der Mut, die Courage, heute so stark zu denken, daß die Gedanken in die Wirklichkeit eingreifen können. Diejenigen, die immer krähen «Diktatur des Proletariats», «Erobe­rung der Macht», «Sozialismus», die denken zumeist sehr wenig dabei. Es kann daher mit diesen Wortschablonen nicht in die Wirk­lichkeit eingegriffen werden. Dann aber kommen diese und sagen, da würde [mit den «Kernpunkten»] nur etwas geboten, was eine Utopie ist. Eine Utopie wird es erst in den Köpfen von den Leuten, die nichts davon verstehen.

Deshalb sollte man diesen Leuten klarmachen, was, in einer etwas veränderten Form mit Bezug auf etwas anderes, Goethe einmal gesagt hat, indem er gelacht hat über den Physiologen Haller, der ein verknöcherter Naturforscher war. Haller hatte das Wort geprägt:

Ins Innere der Natur

Dringt kein erschaffner Geist.

Glückselig, wem sie nur

Die äußere Schale weist!

Das widerstrebte Goethe, und er sagte:

«Ins Innere der Natur» -

O, du Philister! -

«Dringt kein erschaffner Geist.»


«Glückselig, wem sie nur

Die äußere Schale weist!»

Das hör ich sechzig Jahre wiederholen,

Ich fluche drauf, aber verstohlen.

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Natur hat weder Kern

Noch Schale,

Alles ist sie mit einem Male.

Dich prüfe du nur allermeist,

Ob du Kern oder Schale seist!

Diejenigen, die von der Dreigliederung des sozialen Organismus als von einer Utopie sprechen, zu denen möchte man auch so sagen: Dich prüfe du nur zuallermeist, ob das in deinem Gehirn drinnen Spukende selber Utopie oder Wirklichkeit ist. - Da wird man finden, daß all die Kräher zumeist Utopien drinnen haben und deshalb die Wirklichkeit in ihrem eigenen Kopfe auch eine Utopie wird oder eine Ideologie oder wie sie es dann nennen. Deshalb ist es heute so schwer, mit der Wirklichkeit durchzudringen, weil die Leute sich so verbaut haben den Zugang zu der Wirklichkeit.

Das aber müssen wir uns sagen, daß wir ernstlich arbeiten müs­sen, sonst werden wir nicht überführen können unser Wollen in die Tat; und darauf kommt es an, daß wir unser Wollen in die Tat überführen. Und wenn wir von allem Abschied nehmen müßten, weil wir es als einen Irrtum erkennen, so müßten wir, um vom Wollen zur Tat kommen zu können, uns doch zur Wahrheit wenden, die wir als Wahrheit durchschauen wollen, denn nichts anderes kann vom Wollen zur Tat führen, als das rücksichtslose, couragierte Verfolgen der Wahrheit. Das sollte eigentlich als eine Devise, als ein Motto, vor die Studien dieser Abende geschrieben werden. Ich wollte Ihnen heute Abend eine Vorrede halten zu die­sen Studienabenden. Ich hoffe, daß diese Vorrede Sie nicht abhält, diese Studien so zu pflegen, daß endlich wirklich, ehe es zu spät wird, Gedanken, die Tatenkeime in sich tragen, sich fruchtbar in die Welt hineinstellen können.

Es wird die Gelegenheit zu einer Aussprache gegeben.

Rudolf Steiner: Das Buch «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» ist ja nach zweifacher Richtung in einer besonderen Art geschrie­ben. Erstens ist es so geschrieben, daß es tatsächlich ganz aus der

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Wirklichkeit heraus stammt. Das bedenken manche Leute nicht, die das Buch lesen. Ich kann auch begreifen, daß das heute nicht voll bedacht wird. Ich habe schon einmal hier in diesem Kreise -aber es waren nicht alle die da, die heute da sind - davon gespro­chen, wie nun wirklich die Leute heute denken. Ich habe nament­lich hingewiesen auf das Beispiel des Professors der Nationalöko­nomie, Lujo Brentano, der das so nett geliefert hat in der vorigen Nummer des «Gelben Blattes»; ich will es kurz wiederholen, weil ich daran etwas anknüpfen will. Da hat diese Leuchte der heutigen Volkswirtschaftslehre der Universität - er ist ja der Erste sozusa­gen - den Begriff des Unternehmers entwickelt und hat versucht, aus seinem erleuchteten Denken heraus die Merkmale des Unter­nehmers zu charakterisieren. Das erste und zweite Merkmal brau­che ich nicht aufzuzählen; als drittes gibt er an, daß der Unterneh­mer derjenige ist, der seine Produktionsmittel auf eigene Rechnung und Gefahr in den Dienst der sozialen Ordnung stellt. Nun hat er diesen Begriff des Unternehmers, und den wendet er nun an. Da kommt er zu dem merkwürdigen Resultat, daß der proletarische Arbeiter von heute eigentlich auch ein Unternehmer ist, denn er entspricht diesem seinem Begriff des Unternehmers in bezug auf die erste, zweite und dritte Eigenschaft. Denn der Arbeiter hat seine eigene Arbeitskraft als Produktionsmittel; darüber verfügt er, in bezug auf diese wendet er sich an den sozialen Prozeß auf eigene Rechnung und Gefahr. - So bringt diese Leuchte der Volkswirt­schaft den Begriff des proletarischen Arbeitnehmers in seinen Be­griff des Unternehmers sehr gut hinein. Sehen Sie, so denken eben die Menschen, die sich Begriffe machen, die gar keinen Sinn haben; sie haben keinen Sinn, wenn Begriffe verlangt werden, die auf die Wirklichkeit wirklich anwendbar sein sollen. Aber so wenig Sie das vielleicht auch annehmen werden, man kann ruhig sagen: Weit über neunzig Prozent alles desjenigen, was heute gelehrt oder gedruckt wird, das operiert mit solchen Begriffen; wenn man sie anwenden will auf die Wirklichkeit, so geht es ebensowenig wie bei Lujo Brentanos Begriff vom Unternehmer. So ist es in der Wissenschaft, so ist es in der Sozialwissenschaft, so ist es überall, daher haben die

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Leute verlernt, überhaupt das zu verstehen, was mit wirklichkeits­gemäßen Begriffen arbeitet.

Nehmen Sie einmal die Grundlage der Dreigliederung des sozia­len Organismus. Nicht wahr, man kann sie in der verschiedensten Weise legen, diese Grundlagen, weil das Leben viele Grundlagen braucht. Aber eine ist diese, daß man weiß: in der neueren Zeit ist das heraufgezogen, was man nennen könnte den Impuls der Demo­kratie. Die Demokratie muß darin bestehen, daß jeder mündig gewordene Mensch sein Rechtsverhältnis festsetzen kann in demo­kratischen Parlamenten - mittelbar oder unmittelbar gegenüber jedem änderen mündig gewordenen Menschen. Aber gerade wenn man ehrlich und aufrichtig diese Demokratie in die Welt setzen will, dann kann man die geistigen Angelegenheiten nicht im Sinne dieser Demokratie verwalten, denn da würde entscheiden müssen jeder mündig gewordene Mensch über das, was er nicht versteht, Die geistigen Angelegenheiten müssen aus dem Verständnis heraus für die Sache geregelt werden, das heißt auf sich selbst gestellt werden; sie können also überhaupt nicht in einem demokratischen Parlament verwaltet werden, sondern sie müssen ihre eigene Ver­waltung haben, die nicht demokratisch sein kann, sondern die aus der Sache heraus sein muß. Ebenso ist es im Wirtschaftsleben; da muß aus der wirtschaftlichen Erfahrung und dem Drinnenleben im Wirtschaftsleben die Sache verwaltet werden. Daher muß aus­geschieden werden aus dem demokratischen Parlament das Wirt­schaftsleben auf der einen Seite und das Geistesleben auf der ande­ren Seite. Daraus entsteht der dreigegliederte soziale Organismus.

Da gibt es nun in Tübingen den Professor Heck, das ist der - ich habe schon davon gesprochen -, der gesagt hat, man brauche sich durchaus nicht herbeizulassen zu sagen, daß das gewöhnliche Lohnverhältnis, wo man entlohnt wird für seine Arbeit, etwas Erniedrigendes hätte für den Proletarier, denn Caruso stehe ja auch im Lohnverhältnis. Der Unterschied wäre kein prinzipieller: Caru­so singe und bekomme seinen Lohn, und der gewöhnliche Prole­tarier arbeite und bekomme auch seinen Lohn; und er als Professor bekomme auch seinen Lohn, wenn er vortrage. Der Unterschied

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zwischen Caruso und dem Proletarier wäre nur der, daß Caruso für einen Abend dreißig- bis vierzigtausend Mark bekommt und der Proletarier etwas weniger. Aber das sei kein prinzipieller Un­terschied, sondern nur ein Unterschied in bezug auf die Summe der Entlohnung. Und so braucht man, so meint dieser geistreiche Pro­fessor, in der Entlohnung durchaus nicht etwas Entwürdigendes zu fühlen; er fühle das auch nicht so. - Das nur nebenbei. Aber nun hat dieser gescheite Professor auch einen langen Artikel geschrie­ben gegen die Dreigliederung. Da geht er aus davon: Gliedern wir dreifach, dann kommen wir ja zu drei Parlamenten. - Und jetzt zeigt er, daß das nicht geht mit drei Parlamenten, denn er sagt: Im Wirtschaftsparlament wird der kleine Handwerker nicht verstehen die Standpunkte des Großindustriellen und so weiter. - Da hat sich der gute Professor seine Ideen über die Dreigliederung gemacht, und gegen diese Ideen - die ich noch viel dümmer finde als Profes­sor Heck sie findet; die würde ich auch in Grund und Boden hinein kritisieren -, gegen die geht er an, aber die hat er selbst gemacht. Es handelt sich nämlich darum, daß nicht drei Parlamente nebeneinan­derstehen, sondern daß herausgenommen wird das, was in kein Parlament gehört. Er macht einfach drei Parlamente und sagt: Das geht nicht. - So lebt man in wirklichkeitsfremden Begriffen und beurteilt das andere auch danach.

Nun ist gerade in die Nationalökonomie, in die Volkswirt­schaftslehre, fast nur das eingezogen, was unwirkliche Begriffe sind. Aber sehen Sie, ich könnte doch nicht jetzt, wo die Zeit drängt, eine ganze Bibliothek schreiben, worin alle volkswirt­schaftlichen Begriffe aufgeführt werden. Daher finden sich natür­lich in den «Kernpunkten» eine Menge von Begriffen, die sach­gemäß besprochen werden müssen. Ich brauche zum Beispiel nur auf folgendes aufmerksam zu machen:

Nicht wahr, in einer Zeit, über die wir hinaus sind, da entstan­den soziale Verhältnisse im Grunde genommen einzig und allein durch Eroberung. Irgendein Territorium wurde von einem Volke oder von einer Rasse besetzt; ein anderes Volk brach herein und eroberte das Gebiet. Diejenigen Rassen oder Völker, die früher

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drinnen waren, wurden heruntergedrängt zur Arbeit. Das erobern­de Volk nahm den Boden in Besitz, und dadurch entstand ein ge­wisses Verhältnis zwischen Eroberern und Eroberten. Die Erobe­rer hatten dadurch, daß sie Eroberer waren, den Boden in Besitz. Dadurch waren sie die wirtschaftlich Starken, die Eroberten waren die wirtschaftlich Schwachen, und es bildete sich das heraus, was ein Rechtsverhältnis wurde. Daher hat man in fast allen älteren Epochen im geschichtlichen Werden durch Eroberungen begrün­dete Rechtsverhältnisse, das heißt Vorrechte und Benachteiligungs­rechte. Nun kamen die Zeiten herbei, in denen nicht mehr frei erobert werden konnte. Sie können den Unterschied studieren im freien und gebundenen Erobern, wenn Sie zum Beispiel sich das frühe Mittelalter ansehen. Sie können studieren, wie gewisse Völ­kerschaften, die Goten, hinuntergedrungen waren nach dem Süden, aber in vollbesetzte Gebiete; da wurden sie zu anderem veranlaßt in bezug auf die soziale Ordnung als die Franken, die nach dem Westen zogen und dort nicht vollbesetzte Gebiete fanden. Dadurch entstanden andere Erobererrechte. In der neueren Zeit wirkten dann nicht allein die von Grund und Boden abhängigen Rechte, welche aus Eroberungen hervorgegangen waren, es kamen dazu die Rechte derjenigen Menschen, die Vorrechte aus Besitz hatten und die jetzt durch wirtschaftliche Macht sich aneignen konnten die Produktionsmittel. Da kam zu dem, was Bodenrecht ist im heuti­gen Sinne, der Besitz der Produktionsmittel dazu, das heißt der Privatbesitz von Kapitalien. Das ergab dann Rechtsverhältnisse aus wirtschaftlichen Verhältnissen heraus. Sie sehen, es sind diese Rechtsverhältnisse ganz allein aus den wirtschaftlichen Verhältnis­sen heraus entstanden.

Nun kommen die Menschen und wollen Begriffe von wirt­schaftlicher Macht, von der wirtschaftlichen Bedeutung des Grund und Bodens, sie wollen Begriffe der Betriebsmittel, der Produk­tionsmittel, der Kapitalien und so weiter haben. Ja, aber sie haben keine wirklich tiefere Einsicht in den Gang der Dinge. Da nehmen sie dann die oberflächlichen Tatsachen und kommen nicht darauf, was eigentlich hinter den Bodenrechten, hinter den Machtverhältnissen

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in bezug auf die Produktionsmittel steckt. Natürlich, alle diese Dinge sind in meinem Buche berücksichtigt. Da ist richtig gedacht; da ist, wenn von Rechten gesprochen wird, aus dem Bewußtsein heraus gesprochen, wie das Recht durch Jahrhunderte hindurch entstanden ist; da ist, wenn von Kapital gesprochen wird, aus dem Bewußtsein heraus gesprochen, wie das Kapital geworden ist. Da ist sorgfältig vermieden, einen Begriff anzuwenden, der nicht vollständig aus der Entstehung heraus gefaßt ist; daher nehmen sich diese Begriffe anders aus als in den gewöhnlichen heu­tigen Lehrbüchern.

Aber auch noch etwas anderes ist berücksichtigt. Nehmen wir eine bestimmte Tatsache, nicht wahr, die Tatsache, wie der Prote­stantismus einmal entstanden ist. In den Geschichtsbüchern wird es ja sehr häufig so erzählt, daß der Tetzel herumgezogen ist inner­halb Mitteleuropas und daß die Leute entrüstet waren über den Ablaßverkauf und dergleichen. Aber das war es nicht allein, das ist nur die Oberflächenansicht. Die Hauptsache, die dahinter stak, war die Tatsache, daß es in Genua ein Bankhaus gab, in dessen Auftrag

- nicht im Auftrag des Papstes - dieser Ablaßkrämer in Deutsch­land herumzog, denn dieses Bankhaus hatte dem Papst für seine anderen Bedürfnisse Kredite gewährt. Die ganze Geschichte war eine kapitalistische Unternehmung. An diesem Beispiel des Ablaß-handels als einer kapitalistischen Unternehmung, wo sogar auch mir Geistigem gehandelt worden ist, an diesem Beispiel können Sie studieren - oder besser gesagt, wenn man da anfängt zu studieren, kommt man allmählich darauf -, daß schließlich alle Kapitalmacht zurückgeht auf die Übermacht des Geistigen. Studieren Sie, wie das Kapital eigentlich zu seiner Macht gekommen ist, so finden Sie überall die Übermacht des Geistigen. Und so ist es wirklich. Nicht wahr, wer schlau ist, wer findig ist, der hat eine größere Macht als derjenige, der nicht schlau, der nicht findig ist. Und auf diese Art entsteht gerechtfertigterweise - oder auch ungerechtfertigterweise

- vieles, was Zusammenscharrung des Kapitals ist. Das muß be­rücksichtigt werden, wenn man ins Auge faßt den Kapitalbegriff. Bei solchen realen Studien kommt man dahinter, daß Kapital auf

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Entfaltung der geistigen Macht beruht und daß zu den Grund- und Bodenrechten, zu den Erobererrechten, von anderer Seite hinzu­gekommen ist die Macht des alten theokratischen Geistes. Von der alten Kirche ist viel von dem ausgegangen, was dann übergegangen ist eigentlich in den modernen Kapitalismus. Es gibt einen gehei­men Zusammenhang zwischen der modernen kapitalistischen Macht und der Macht der alten Kirche. Und das alles hat sich zu einem Kuddelmuddel zusammengezogen in den modernen Macht-staat. Da drinnen finden Sie die Überreste der alten Theokratie, die Überreste der alten Eroberungen. Und schließlich kamen die mo­dernen Eroberungen dazu, und die allermodernste Eroberung soll jetzt die Eroberung des Staates durch den Sozialismus sein. Aber so darf man es in Wirklichkeit nicht machen. Es muß etwas Neues werden, was mit diesen alten Begriffen und Impulsen vollständig aufräumt. Daher wird es darauf ankommen, daß wir uns bei unse­ren Studien auch befassen mit den Begriffen, die hier zugrunde­liegen. Wir müssen heute jedem, der über soziale Sachen reden will, genau Aufschluß geben darüber, was Recht ist, was Macht ist und was in Wirklichkeit ein [wirtschaftliches] Gut ist, ein Gut in Form von Waren und dergleichen. Auf diesem Gebiet werden die größ­ten Fehler gemacht. Ich will zum Beispiel auf einen aufmerksam machen; wenn Sie darauf nicht aufmerksam sind, werden Sie vieles in meinem Buche mißverstehen.

Es herrscht heute vielfach die Ansicht, daß Ware aufgespeicherte Arbeit ist, daß auch Kapital aufgespeicherte Arbeit ist. - Sie kön­nen sagen, es sei harmlos, solche Begriffe zu haben. Es ist nicht harmlos, denn solche Begriffe vergiften das ganze soziale Denken. Sehen Sie, wie ist es eigentlich mit der Arbeit - Arbeit als Aufwen­dung von Arbeitskraft? Ja, da verhält es sich so, daß ein großer Unterschied ist, ob ich zum Beispiel meine physische Muskelkraft abnütze, indem ich Sport treibe, oder ob ich Holz hacke. Wenn ich Sport treibe, da nütze ich meine physische Muskelkraft ab; ich kann geradeso müde werden und meine Muskelkraft wieder erset­zen müssen wie einer, der Holz hackt. Dieselbe Menge von Arbeit kann ich anwenden auf den Sport wie auf das Holzhacken. Der

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Unterschied ist nicht da in bezug darauf, daß die Arbeitskraft wieder ersetzt werden muß - sie muß natürlich ersetzt werden -, sondern der Unterschied besteht darin, daß die eine Arbeitskraft angewendet wird nur für mich, im egoistischen Sinn, die andere im sozialen Sinn für die Gesellschaft. Durch die soziale Funktion unterscheiden sich diese Dinge. Sage ich jetzt, irgend etwas ist aufgespeicherte Arbeit, so berücksichtige ich nicht, daß die Arbeit eigentlich aufhört, in irgendeiner Sache drinnen zu sein in dem Augenblick, wo nicht mehr gearbeitet wird. Nicht kann ich sagen:

Das Kapital ist aufgespeicherte Arbeit -, sondern ich muß sagen:

Die Arbeit ist nur so lange da, als sie verrichtet wird. Aber in unserer heutigen sozialen Ordnung behält das Kapital die Macht, die Arbeit jederzeit wiederum aufzurufen. Nicht in dem liegt das Verhängnisvolle, was Marx meint, daß Kapital aufgespeicherte Arbeit ist, sondern in der Einrichtung, daß Kapital die Macht gibt, neue Arbeit - nicht aufgespeicherte Arbeit -, sondern neue Arbeit immer wiederum in seinen Dienst zu stellen. Davon hängt viel ab, und davon wird weiter viel abhängen, daß man zu klaren, in der Wirklichkeit fußenden Begriffen über diese Dinge kommt. Und von solchen Begriffen, die nun ganz drinnenstecken in der Wirk­lichkeit, geht dieses mein Buch aus. Das rechnet nicht mit solchen Begriffen, die ganz nützlich waren für die Erziehung des Prole­tariats. Aber heute, wo man etwas bauen soll, haben sie keinen Sinn mehr, diese Begriffe.

Sehen Sie, wenn ich sage: Kapital ist aufgespeicherte Arbeit -, so ist das gut für die Erziehung des Proletariats; es bekam die Gefüh­le, die es bekommen sollte. Da kam es nicht darauf an, daß der Begriff grundfalsch ist - erziehen kann man auch mit grundfalschen Begriffen. Aber etwas aufbauen, das kann man nur mit richtigen Begriffen. Daher brauchen wir heute auf allen Gebieten der Volks­wirtschaft richtige Begriffe und können nicht weiter mit falschen Begriffen arbeiten. Das sage ich nicht aus Frivolität, daß man auch mit falschen Begriffen erziehen kann, sondern aus allgemeinen Erziehungsgrundsätzen heraus. Sehen Sie, wenn Sie Kindern Mär­chen erzählen, dann wollen Sie ja auch nicht mit diesen Dingen, die

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Sie da herausentwickeln, bauen; bei der Erziehung kommt etwas anderes in Betracht, als in Betracht kommt beim Aufbauen in der physischen Wirklichkeit. Da muß mit wirklichen Begriffen gear­beitet werden. Solch ein Begriff wie «Kapital ist aufgespeicherte Arbeit», das ist kein Begriff. Kapital ist Macht und verleiht Macht, jederzeit neu entstehende Arbeit in seinen Dienst zu stellen. Das ist ein wirklicher Begriff mit Tatsachenlogik. Mit wahren Begriffen muß man arbeiten auf diesen Gebieten. Das ist versucht worden in den «Kernpunkten» Daher glaube ich, daß viel von dem, was da nicht drinnensteht an Definition der Begriffe, an Charakteristik der Begriffe, daß das erarbeitet werden muß. Und wer dann dazu bei­tragen kann, daß dies erarbeitet wird, was man braucht, um das zu verstehen, was die Denkweise, die Grundlage dieses Buches ist, der wird sehr Gutes beitragen zu diesen Studienabenden. Also darauf kommt es an, meine sehr verehrten Anwesenden, darauf kommt es ganz besonders an.

Ja, nicht wahr, man müßte ein Lexikon schreiben, wenn man alle Begriffe klarmachen wollte -, aber was «Kapital» ist, das kann jetzt an einem einzigen solchen Studienabend erledigt werden. Ohne daß man heute klar begriffen hat: Was ist eigentlich Kapital? Was ist Ware? Was ist Arbeit? Was ist Recht? -, ohne diese Begriffe kommt man nicht weiter. Und diese Begriffe sind ganz konfus in den weitesten Kreisen; sie müssen vor allen Dingen richtiggestellt werden. Man verzweifelt heute ja geradezu, wenn man redet mit Leuten über die soziale Ordnung; sie können nicht mit, weil sie nicht gelernt haben, die Wirklichkeit zu beherrschen. Das ist das­jenige, was namentlich besorgt werden sollte.

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ZWEITER STUDIENABEND Stuttgart, 3. März 1920 Wie soll die Dreigliederungsarbeit fortgeführt werden?

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Das, was ich in diesen einleitenden Worten werde zu sagen haben, wird ja selbstverständlich etwas herausfallen aus den Gepflogenheiten, wie sie hier an diesen Abenden bisher waren, aus dem einfachen Grun­de, weil ich gewissermaßen hereingeschneit bin und es daher nicht möglich ist, unmittelbar gerade da fortzusetzen, wo das letzte Mal aufgehört worden ist. So wird wohl heute vielleicht der Schwer­punkt liegen mussen in der Diskussion selbst, an der ich Sie bitte, sich zahlreich zu beteiligen.

Als wir jetzt vor zehn Monaten hier in Stuttgart begonnen haben mit der Popularisierung jener Ideen, die der sozialen Drei-gliederung zugrundeliegen, da war dieses Unternehmen durchaus gedacht im Sinne der damaligen Zeitereignisse. Wir standen damals als Angehörige der mitteleuropäischen Staats-, Geistes- und Wirt­schaftsgebiete - unmittelbar nach dem furchtbaren Schlag, den die Schreckensereignisse der letzten vier bis fünf Jahre Mitteleuropa gebracht hatten -, wir standen dazumal eben vor all denjenigen Fragen, die aufgeworfen werden mußten unter dem Gesichtspunkt:

Wie haben wir uns zu verhalten als Menschen Mitteleuropas, die -nun, sagen wir es trocken - eben damals «die Besiegten» waren? Und da mußte die Anschauung zugrundegelegt werden, daß - an­gesichts der furchtbaren Erlebnisse, weniger jetzt der Kriegsereig­nisse als derjenigen des Kriegsausganges, die, natürlich in anderer Beziehung, nicht weniger schrecklich sind als die Kriegsereignisse selber - Verständnis erweckt werden müßte bei einer genügend großen Anzahl von Menschen für diejenigen Ideen von einer sozia­len Neugestaltung, die gerade aus dem Kreise der Besiegten heraus zu einem Wiederaufbau der europäischen Angelegenheiten hätten führen können.

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Wenn man es zu tun hat, meine lieben Freunde, mit der Propa­gierung irgendeiner Idee, so hört man sehr häufig das Wort, das seien weittragende Ideen. Es wird gesagt, man könne vielleicht hoffen, daß solche weittragende Ideen sich in ferner Zeit einmal verwirklichen lassen werden - und je nach dem größeren oder geringeren Optimismus werden dann größere oder kleinere Zeit­räume angegeben -, man könne nur dahin arbeiten, daß die Menschheit sich solchen Idealen annähere und so weiter. Aber zu Gedanken, die sich in dieser Richtung bewegen, forderte die Zeit-lage bei Beginn unserer Arbeit eigentlich nicht heraus. Gemeint war dazumal, daß die nächste Notwendigkeit darin besteht, in möglichst vielen Köpfen Verständnis hervorzurufen für den Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus: für ein selbständiges Geistesleben, für ein selbständiges Staats- oder Rechtsleben und für ein selbständiges Wirtschaftsleben. Man hat hoffen können, daß die bitteren Ereignisse dieses Verständnis bei den Menschen hätten hervorbringen können. Es hat sich aber gezeigt, daß in der Zeit, in der es notwendig gewesen wäre, dieses Verständnis in einer ge­nügend großen Anzahl von Menschen tatsächlich nicht hat hervor­gebracht werden können - aus Gründen, die heute nicht weiter berührt werden sollen. Und heute wird mit Recht von mancher Seite her die Frage aufgeworfen: Kann denn eigentlich diese Idee der Dreigliederung in derselben Weise weitergepflegt werden wie dazumal? Sind wir denn heute nicht schon im Abbau unseres Wirtschaftslebens zu stark vorgerückt?

Wer allerdings dieses Wirtschaftsleben der Gegenwart durch­schaut, der kann nicht so ohne weiteres - ich sage absichtlich «nicht ohne weiteres» - diese Frage verneinen. Denn, setzen wir einmal die Hypothese, man hätte dazumal, als wir im April des vorigen Jahres mit unserer Arbeit begonnen haben, durch das Ent­gegenkommen einer genügend großen Anzahl von Menschen - die ganz gewiß hätten herbeiführen können eine Änderung der Ver­hältnisse -, wir hätten in der Tat den nötigen Erfolg gehabt: dann stünde selbstverständlich heute unser Wirtschaftsleben auf einem ganz anderen Boden. Es mag manchem anmaßend erscheinen,

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wenn ich das sage, aber es ist doch so. Und die verschiedenen Artikel, die in unserer Dreigliederungszeitung gekommen sind, können ja als Beweis, als Beleg des soeben Gesagten dienen.

Wenn wir, die wir in engerem Kreis an der Fortführung der Dreigliederungsideen arbeiten, dennoch durchaus glauben, daß die Arbeit fortgesetzt werden muß, so sind wir auf der anderen Seite auch gründlich davon überzeugt, daß der Weg, der eben zunächst eingeschlagen worden ist - eine genügend große Anzahl von Seelen zu überzeugen von der Notwendigkeit der Dreigliederung -, daß dieser Weg heute nicht rasch genug zum Erfolg führen kann. Des­halb müssen wir heute denken an unmittelbar praktische Unter­nehmungen, deren Gestalt ja schon in der nächsten Zeit vor unsere engere Zeitgenossenschaft hintreten soll. Wir müssen daran denken, unser Ziel zu erreichen durch gewisse Institutionen, die ersetzen können dasjenige, was bewirkt worden wäre durch das Zusammenwirken einer genügend großen Anzahl von überzeugten Menschen. Wir müssen wenigstens den Versuch machen, durch In­stitutionen, die wirtschaftliche Institutionen sind, erste Muster-institutionen zu schaffen, an denen man sehen wird, daß in solchen wirtschaftlichen Institutionen unsere Ideen praktisch verwirklicht werden können. Diese können dann Nacheiferung finden in dem Sinne, daß man dann den Tatsachen dasjenige glaubt, was man vorher den uns überzeugend scheinenden Worten nicht glauben wollte. Auf der anderen Seite werden diese Musterinstitutionen auch tatsächlich solche wirtschaftlichen Folgen haben können, daß manches von dem, was schon eingetreten ist an wirtschaftlicher Helotisierung, wiederum gutgemacht werden kann. In der Tat ist ja eine große Anzahl von Menschen in diesem Mitteleuropa soweit gekommen, daß es ihnen ganz gleichgültig ist, woher sie ihre Pro­fite beziehen. Sie lassen sich von den Siegern unter Umständen die Direktiven und auch die sachlichen materiellen Unterlagen geben, wenn das für sie nur möglich macht, entsprechende Profite zu haben. Die Art und Weise, wie man in manchen Kreisen heute daran denkt, sich wirtschaftlich aufzuhelfen in Mitteleuropa, ist ja geradezu beschämend. So muß gedacht werden, aus der Dreigliederungsidee

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selber heraus praktische Institutionen zu schaffen, welche den Beweis werden liefern können - selbst unter den schon recht schwierig gewordenen Verhältnissen -, daß diese Dreiglie­derungsidee tatsächlich nicht eine utopistische, sondern eine praktische ist.

Sehen Sie, als wir mit unserer Arbeit begonnen haben, wurde vielfach gefragt: Ja, könnt ihr uns für einzelne Einrichtungen prak­tische Gesichtspunkte geben? Wie soll man das oder jenes machen?

- Derjenige, der eine solche Frage aufgeworfen hat, der hat ge­wöhnlich ganz davon abgesehen, daß es sich nicht darum handeln konnte, die eine oder andere Institution, die gerade ihre Unbrauch­barkeit erwiesen hat, durch gute Ratschläge weiter zu erhalten, sondern daß es sich darum gehandelt hat, durch Umwandlung im großen einen völligen sozialen Neuaufbau zu bewirken, durch den dann die einzelnen Institutionen getragen worden wären. Dazu hätte es nicht der Ratschläge bedurft für das eine oder andere, sondern dazu hätte es bedurft, daß die Ideen im großen eingesehen worden wären, das heißt von einer genügend großen Anzahl von Menschen - denn zuletzt werden doch alle Institutionen von Menschen gemacht.

So stehen wir heute schon einmal vor einer Art von Kursände­rung, die wahrhaftig nicht dadurch herbeigeführt worden ist, daß wir etwa glauben, daß wir uns in unseren Ideen geirrt hätten. Ideen dieser Art müssen immer rechnen mit den Zeiterscheinungen. Und wenn die Menschheit nicht auf diese Zeiterscheinungen eingeht, dann müssen eben die Ideen anders werden, müssen wenigstens einen anderen Kurs einschlagen. Damit haben wir darauf hingewie­sen, daß unsere noch gar nicht alte Dreigliederungsbewegung tat­sächlich schon eine in den heutigen Zeitverhältnissen begründete, arg sprechende Geschichte hat - eine Geschichte, die vielleicht doch für manchen lehrreich sein könnte, wenn er sie nur beachten möchte.

Das, was ich jetzt gesagt habe, möchte ich Ihnen anschaulich machen an einem Beispiel: Derjenige, welcher das Buch «Die Kern­punkte der Sozialen Frage», wie es vor jetzt einem Jahr entstanden

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ist, auf die wirtschaftlichen Ausführungen hin durchnimmt, der wird da finden gewisse Betrachtungen über die Organisation des Wirtschaftslebens, das eine gewisse notwendige Selbständigkeit erlangen soll, das nicht abhängig sein darf in der Zukunft von staat­lichen Institutionen, staatlichen Verwaltungen, das durchaus ge­stellt sein muß auf seine eigenen Grundlagen, und das aufgebaut sein muß aus seinen eigenen Grundlagen auf dem Prinzip der As­soziationen. Ich kann natürlich heute nur einige Gesichtspunkte angeben, vielleicht wird die Diskussion das weitere liefern.

Was soll denn eigentlich der Sinn solcher Assoziationen sein im Wirtschaftsleben? Der Sinn dieser Assoziationen soll sein, daß sich zunächst verbinden Berufskreise, die irgendwie verwandt sind, die sachlich zusammenarbeiten müssen, die vollständig frei und selb­ständig, ohne irgendwelchen staatlichen Verwaltungen zu unterste­hen, ihre Wirtschaft besorgen, daß sich die zusammenfinden. Und dann sollen sich diese Assoziationen von Berufskreisen wiederum assoziieren mit den entsprechenden Konsumenten, so daß das, was als Wechselverkehr eintritt erstens zwischen den verwandten Be­rufskreisen, dann aber auch [zweitens] zwischen den Produzenten-und Konsumentenkreisen, wiederum in Assoziationen zusammen­geschlossen ist. Es soll an die Stelle der heutigen Wirtschafts­verwaltung dasjenige treten, was sich durch den freien Verkehr der wirtschaftlichen Assoziationen ergibt.

Selbstverständlich gehört zu diesem Gewebe von wirtschaft­lichen Institutionen - mit Bezug auf das Wirtschaften - auch alles dasjenige, was sonst arbeitet im Rechtsleben, im Staatsleben, was arbeitet im geistigen Leben. Das geistige Leben als solches ist un­abhängig auf seine eigenen Füße gestellt, aber diejenigen, die im geistigen Leben wirksam sind, die mussen essen, trinken, sich klei­den; sie müssen daher von sich aus auch wiederum Wirtschaftskor­porationen bilden, die sich als solche dem Wirtschaftskörper einzu­verleiben haben, die im Wirtschaftskörper sich assoziieren mit den­jenigen Korporationen, die nun wiederum gerade ihren Interessen dienen können. Dasselbe muß geschehen mit der Korporation der­jenigen Menschen, die im Staatsleben stehen. So wird im Wirtschaftsleben

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alles drinnen sein, was an Menschen überhaupt im sozialen Organismus drinnen ist - geradeso, wie in den beiden andern Gliedern, im Staatsleben und Geistesleben, alles drinnen ist an Menschen, was dem sozialen Organismus angehört. Nur sind die Menschen unter verschiedenen Gesichtspunkten in den drei Gliedern des sozialen Organismus drinnen. Das, worauf es an­kommt, das ist ja, daß der soziale Organismus nicht gegliedert ist nach Ständen, sondern nach Gesichtspunkten, und daß in jedem Gliede des sozialen Organismus mit seinen Interessen ein jeder Mensch drinnensteht.

Was kann erreicht werden durch ein solches auf dem Assozia­tionsprinzip beruhendes Wirtschaftsleben? - Das kann erreicht werden, daß die Schäden, die sich allmählich ergeben haben durch die Produktionsweise der letzten Jahrhunderte, besonders des 19. Jahrhunderts, aus dem Wirtschaftsleben und damit aus dem menschlichen Leben überhaupt beseitigt werden. Diese Schäden -der Mensch erlebt sie ja heute zunächst an seinem eigenen Leibe, möchte ich sagen -, sie haben sich ergeben, weil im Laufe der neue­ren Jahrhunderte aus den früheren Bedingungen heraus sich andere Bedingungen ergeben haben in bezug auf die Produktion im Wirt­schaftsleben.

Wenn man zurückblickt auf die Zeit vom 17. bis 18. Jahrhun­dert, so findet man durchaus, daß die Art und Weise, wie produ­ziert wurde, noch in einem gewissen Zusammenhang steht mit dem Menschen und seiner Organisation selbst. Man sieht, daß damals bei der Preisbestimmung dieser Preis abhängig war nicht von den­jenigen Faktoren, von denen er heute einzig und allein abhängig ist, sondern zum Beispiel von den Fähigkeiten der Menschen, nament­lich zum Beispiel davon, inwiefern ein Mensch befähigt ist, sound-soviele Stunden des Tages an dieser oder jener Produktion mit ei­ner gewissen Hingebung und Freude zu arbeiten. Der Preis wurde also bestimmt durch das Zusammengewachsensein des Menschen mit seiner Produktion. Heute ist das allerdings höchstens noch in gewissen Zweigen des Geisteslebens der Fall. Wenn jemand ein Buch schreibt, kann man ihm nicht vorschreiben, wieviele Stunden

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des Tages er arbeiten soll und einen Lohn aussetzen für soundso­viele Stunden des Tages. Wenn zum Beispiel der achtstündige Ar­beitstag eingeführt würde fürs Bücherschreiben, würde etwas Schönes dabei herauskommen, denn es könnte sehr leicht sein, daß Sie acht Stunden arbeiten und dafür einen Lohn bekommen sollen, daß Ihnen aber während vier Stunden durch drei Wochentage gar nichts einfällt. So wie hier ein inniges Band ist zwischen den menschlichen Befähigungen, zwischen der geistigen menschlichen Organisation und den hervorgebrachten Produkten, so war das auch so für viel materiellere Zweige - ja, je weiter wir zurückgehen in der menschlichen Entwickelung, überhaupt für alle materiellen Zweige. Erst in der neueren Zeit hat sich das Band gelöst zwischen dem Produkt und dem Produzierenden. Umfassend betrachtet ist es im Grunde genommen ein volliger Unsinn, daß man aufrecht­erhalten will diese Loslösung des Produktes von dem Produzieren­den. In einzelnen Produktionszweigen kann sich das augenfällig zeigen. Nehmen Sie, jetzt bloß ökonomisch betrachtet, zum Bei­spiel das Buchfabrizieren. Bücher müssen geschrieben werden; das kann nicht unter die Gesetze der Entlohnung gestellt werden, wie sie zum Beispiel die heutige Sozialdemokratie für das Produzieren vertritt. Dabei würde nichts herauskommen. Aber Bücher müssen gedruckt werden, und derjenige, der sie setzt, der kann schon auf die Prinzipien der heutigen Sozialdemokratie sich stützen, auf das gewerkschaftliche Prinzip. Denn zum Setzen braucht einem nichts weiter einzufallen; da braucht man kein intimer geartetes Band zwischen Produzenten und Produktion. Aber wenn man auf die Quellen zurückgeht, wird man überall finden, daß gerade diejenige Arbeit, für die man ein solches Band nicht braucht, gar nicht da wäre, wenn nicht zuerst diejenigen Arbeiten da wären, von denen all diese äußere Arbeit abhängt. Wäre der Baumeister nicht da, so könnten alle Lohnarbeiter, die die Häuser bauen, nicht arbeiten. Wäre der Bücherschreiber nicht da, so könnte der Setzer keine Bücher setzen. Das sind doch Gedankengänge, die heute nicht angestellt werden, aber im eminentesten Sinne bei volkswirtschaft­lichen Betrachtungen durchaus zugrundegelegt werden mussen.

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Ich konnte nicht alles, was an Lebenserfahrungen in die «Kern-punkte> eingeflossen ist, genau ausführen, denn sie sind ja auf den­kende Leser berechnet. Und ich kann Ihnen die Versicherung geben, es ist doch heute ganz nützlich, wenn man beim Lesen eines Buches auch ein bißchen denkt und nicht immer sagt: Das ist ja so schwer verständlich, dabei muß man ja denken, das hätte viel po­pulärer geschrieben sein müssen. - Aber durch die ja gerade in den Artikeln unserer Dreigliederungszeitung von den verschiedensten Gesichtspunkten aus beleuchteten Vorgänge ist ja immer mehr und mehr dieses Band gelockert worden zwischen Produzenten und Produktion. Und nur dadurch, daß wirklich in der neueren Zeit, unter dem Einfluß vor allem auch der materialistischen Denkweise, nur mehr auf die Produktionsart und nicht auf die Verfassung und Fähigkeit des Produzierenden gesehen worden ist, ist ja sogar die Anschauung entstanden der abstrakten, sozialistischen Agitatoren und Denker, daß die Produktion als solche überhaupt dasjenige sei, was die ganze Geschichte, das ganze Menschenleben beherrsche. Diese Anschauung ist aus dem Grunde entstanden, weil in der Tat durch die moderne Technik und durch andere gewisse soziale Ver­hältnisse eine Herrschaft des Produktes über die produzierenden Menschen eingetreten ist. So daß man sagen kann: Während früher, bis vor drei Jahrhunderten ungefähr, noch viel anderes vom Men­schen herrschend war, ist [seitdem] im sozialen Leben der ökono­mische Mensch derjenige geworden, der [heute] maßgebend er­scheint - der ökonomische Mensch und der ökonomische Prozeß. Solche Menschen wie Renner zum Beispiel, der es sogar dahin gebracht hat, österreichischer Staatskanzler zu werden, haben es ja ausgesprochen, daß ferner nicht mehr geredet werden solle von dem «homo sapiens», der in den letzten Jahrhunderten spukte in den Köpfen der Menschen, sondern daß nur noch geredet werden könne von dem «homo oeconomicus» - das sei die einzige Wirk­lichkeit. Nun, seit dem 19. Jahrhundert aber, weil die Dinge in der Wirklichkeit Verwandlungen eingehen durch ihre eigenen Gesetze, ist nicht einmal mehr maßgebend geblieben der homo oeconomicus, der ökonomische Mensch, der ökonomische Prozeß,

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sondern wir können sagen: ungefähr vom Jahre 1810 ab - um einen Zeitpunkt anzusetzen - ist der herrschende Mensch geworden der Bankier. Und mehr als man glaubt, ist in diesem 19. Jahrhundert im wirtschaftlichen Leben der zivilisierten Welt der Bankier herr­schend geworden, der Geldwechsler, derjenige, der eigentlich bloß das Geld verwaltet. Alle Ereignisse, welche seit jener Zeit eingetre­ten sind, stehen mehr oder weniger unter dem Einfluß dieses ge­schichtlichen Umschwunges: daß im volkswirtschaftlichen Zusam­menhang aus dem ökonomischen Menschen und ökonomischen Prozeß allmählich geworden ist der Bankier, der Geldwechsler, der Verleiher vor allen Dingen, und aus dem öffentlichen sozialen Prozeß die Finanzverwaltung, die Geldverwaltung.

Nun hat aber das Geld ganz gewisse Eigenschaften. Das Geld ist ein Repräsentant für Verschiedenes, aber das Geld als solches ist gleich. Ich kann eine Summe Geldes erwerben dadurch, daß ich ein Tonstück verkaufe - eine geistige Produktion. Oder ich kann eine Summe Geldes erwerben dadurch, daß ich Stiefel verkaufe. Die Summe Geldes kann immer gleich sein, dasjenige aber, was ich verkaufe, das kann sehr verschieden sein. Das Geld nimmt dadurch gegenüber dem wirklichen Lebensprozeß einen gewissen abstrak­ten Charakter an. Und so mußte entstehen unter dem Einfluß der Welt-Bankierwirtschaft die Auslöschung der konkreten Wechsel­wirkungen im menschlichen sozialen Verkehr, die Auslöschung der konkreten Wechselwirkungen [zwischen Produkt und Produzie­rendem, und es entstand] der Verkehr des bloßen Repräsentanten, des Geldes.

Das aber hat ganz bestimmte Folgen. Das hat die Folge, daß die drei wesentlichsten Bestandteile unseres wirtschaftlichen Pro­zesses - Grund und Boden, Produktionsmittel und Konsum­tionsmittel -, die ihrer Natur nach im volkswirtschaftlichen Pro­zeß in ganz verschiedener Weise drinnenstehen, nicht etwa bloß gedanklich, sondern real unter dieselbe Macht gestellt werden, in derselben Weise behandelt werden. Denn demjenigen, dem es nur darauf ankommt, eine gewisse Summe Geldes zu erwerben oder zu verwalten, dem kann es gleichgültig sein, ob diese Summe Geldes

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repräsentiert Grund und Boden oder Produktionsmittel, das heißt Maschinen oder dergleichen, die für andere Produktionen dienen, aber von Menschen hergestellt worden sind, oder ob sie repräsen­tiert Konsumtionsartikel, unmittelbare Gebrauchsartikel. Dem kommt es nur darauf an, daß er eine bestimmte Summe Geldes für etwas erhält respektive daß, wenn er sie hat, sie sich verzinst, gleichgültig durch was. Es mußte so der Gesichtspunkt immer mehr und mehr heraufkommen, auszulöschen die Interessen, die man an den einzelnen Produkten und Produktionszweigen hat, und zu ersetzen diese Interessen durch das abstrakte Interesse am alle diese Differenzierungen auslöschenden Kapital, das heißt am Geldkapital. Dadurch aber kommen ganz gewisse Dinge heraus.

Nehmen wir einmal Grund und Boden. Der Grund und Boden ist ja nicht nur irgend etwas Beliebiges, sondern er ist an einem bestimmten Ort gelegen und steht in einem Verhältnis zu den Menschen dieses Ortes, und die Menschen dieses Ortes haben ge­rade an diesem Grund und Boden auch Interessen, die man als moralische Interessen bezeichnen kann, als Interessen seelischer Art. Es kann durchaus zum Beispiel ein wichtiger Punkt für die allgemeinen Kultur- und Menschheitsinteressen sein, daß auf die­sem Grund und Boden ein gewisses Produkt gepflanzt wird. Ich will etwas radikal die Verhältnisse zeichnen, sie sind ja im gewöhn­lichen Leben nicht so radikal, aber das Wesentliche, worauf es ankommt, kann damit dargestellt werden. Wer durch seine ganzen Lebensverhältnisse mit dem Grund und Boden zusammengewach­sen ist, der wird eine Einsicht darin haben, wie zusammenhängt, sagen wir, die Hervorbringung von dem oder jenem aus dem Grund und Boden mit den ganzen Lebensverhältnissen. Er hat seine Erfahrungen gewonnen im Zusammensein mit Grund und Boden. Ob es zum Beispiel gut ist, eine Gegend abzuholzen oder nicht, dafür können Fragen bedeutsam sein, die durchaus nur zu beurteilen sind, wenn man zusamniengewachsen ist mit den lokalen Verhältnissen einer Gegend. Man kann solche Dinge nur durch Erfahrungen gewinnen.

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Man kann nun durchaus einsehen, daß es für die allgemeinen Menschheitsverhältnisse heilsam ist, wenn irgendein Grund und Boden in einer ganz bestimmten Weise verwertet wird, aber unter dieser Verwertung nur ein bestimmtes Erträgnis abwirft. Diese Gesichtspunkte verschwinden sofort, wenn an die Stelle des mit Grund und Boden zusammenhängenden Menschen das Prinzip des Geldkapitalismus tritt. Da handelt es sich darum, daß dann Grund und Boden einfach als eine Ware von einer Hand in die andere übergehen kann. Derjenige, der aber Grund und Boden einfach erwirbt dadurch, daß er das Geld hingibt, der hat nur das Interesse daran, daß sich das Geld in der entsprechenden Weise verzinst. Ein abstraktes Prinzip wird über alles das hinüber ergossen, was früher konkretes Menschheitsinteresse war. Und fragen tut sich der Betreffende, der bloß das Geldinteresse hat, ob denn - unter den Verhältnissen, die der andere Mensch, der mit dem Grund und Boden zusammengewachsen ist, als notwendig erkennt - die Sache für ihn genügend abwirft; wenn nicht, so müsse man den Boden zu etwas anderem verwenden. Damit zerstört man die notwendigen Menschenverhältnisse bloß unter dem Gesichtspunkte des Geld-kapitalismus.

Und so sind über alle menschliche Verhältnisse die Gesichts­punkte des Geldkapitalismus gezogen worden. Sie haben in der Volkswirtschaft die Menschen abgelenkt von dem, was nur heraus-wachsen kann, wenn der Mensch verbunden ist mit der Produk­tion, verbunden ist mit Grund und Boden und verbunden ist mit den Konsumtionsprodukten, die in irgendeinem Gebiet unter den Menschen zirkulieren. Das war allerdings in früheren Jahrhunder­ten vorhanden. Das ist schon verschwunden unter dem Einfluß des ökonomischen Menschen, am meisten aber unter dem Einfluß des Bankiers im 19. Jahrhundert. Während ungefähr bis zum Jahre 1810 die Volkswirtschaft abhängig war von den Händlern und von den Industriellen, wurden im 19. Jahrhundert die Händler und die Industriellen, wenn sie sich das auch nicht gestanden, im wesent­lichen abhängig von der nationalen und internationalen Geld­wirtschaft, von den Bankiers.

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Vollständig in den wirtschaftlichen Egoismus hineingetrieben kann man nur werden durch diese Art von Geldwirtschaft. Aber diese Art von Geldwirtschaft sollte man, was heute vielfach geschieht, nicht verwechseln mit dem bloßen Kapitalismus. Der bloße Kapitalismus - Sie finden das näher ausgeführt in meinen «Kernpunkten» - der soll ermöglichen, daß nur derjenige große Kapitalmassen in den Händen haben kann, sei es an Produktions­mitteln, sei es an Geld, dem Repräsentanten von Produktions­mitteln, der befähigt ist und gerade deshalb mit der Produktion zusammenwächst. Und er soll auch nur solange mit ihr verbunden bleiben, als er seine Fähigkeiten im Dienste der Produktion ver­wenden kann. Dieser bloße Kapitalismus ist durchaus für die moderne Volkswirtschaft notwendig, und gegen ihn zu wettern ist Unsinn. Ihn abschaffen würde bedeuten: die gesamte moderne Volkswirtschaft untergraben. Darauf kommt es gerade an, daß man in die Wirklichkeit hineinsieht, daß man zum Beispiel den Unter­schied einsieht, daß die Verwaltung eines großen Komplexes von Grund und Boden, bei der durchaus das Zusammengehören von Wald und Grund notwendig sein kann, in der Hand eines befähig­ten Menschen etwas anderes bedeuten wird, als wenn einer den Wald abtrennt und Grund und Boden absondert, dann den Grund und Boden parzelliert, in Kleinbesitz auflöst und dergleichen. Das kann für gewisse Gegenden gut sein, in anderen müßte es die Volkswirtschaft ruinieren. Überall kommt es auf die konkreten Verhältnisse an. Und wir müssen endlich den Weg zurückfinden zu den konkreten Verhältnissen.

Aber das [Fehlen des Konkreten] äußert sich nicht nur in der nationalen Wirtschaft, in der einzelnen Volkswirtschaft, sondern das äußert sich immer mehr und mehr im internationalen wirt­schaftlichen Wesen. Es zeigt sich - das ist für den, der die Dinge studiert, ganz klar -, daß die Menschen, auch wenn sie Kapitalisten sind, wenn sie auf sich gestellt und nach ihren Fähigkeiten irgend­welche Produktionszweige versorgen, daß sie einander nicht stören, sondern im Gegenteil einander in die Hände arbeiten. Das Schlim­me beginnt erst, wenn die Menschen auf irgendeine Weise herauswachsen

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aus ihrem Zusammengebundensein mit den Produktions­Zweigen. Ich will nur ein Beispiel anführen, wo das unter dem Ein­fluß der Geldwirtschaft des 19. und 20. Jahrhunderts besonders hervorgetreten ist: bei Trustbildungen, bei Kartellbildungen. Neh­men wir an, eine Reihe von Produktionszweigen schließt sich zusammen zu einem Trust, zu einem Kartell. Was ist die Folge?

Ein Trust, ein Kartell muß doch irgendeinen Zweck haben, und der ist selbstverständlich, daß die Menschen mehr gewinnen durch den Trust als ohne Trust. Das können sie aber nur, wenn sie Monopolpreise schaffen, das heißt über den gewöhnlichen Kon­kurrenzpreisen, die sich bilden würden, verkaufen. Man muß also die Möglichkeit schaffen, die Preise zu erhöhen, das heißt, Preise zu vereinbaren, die über den gewöhnlichen Konkurrenzpreisen lie­gen. Ja, solche Preise kann man schaffen, man hat sie auch vielfach geschaffen. Aber man kam nicht zum [gesunden] Produzieren. Man kann nämlich nicht unter dem Einfluß dieser Art des Profites auf eine gesunde Weise produzieren. Nicht wahr, wenn man nicht ein Mißverhältnis hervorrufen will zu den Kosten der Einrichtun­gen, die viel zu teuer kommen würden, wenn man nur dasjenige produziert, was man über dem Konkurrenzpreis produziert, dann muß man soviel [mehr] produzieren, daß die Kosten für die Ma­schinen und die ganze Einrichtung gedeckt werden, und zwar so­viel, als man produzieren würde, wenn man nur den Konkurrenz-preis bekommen würde. Man kann aber nur soviel verkaufen, als verkauft wird zu Monopolpreisen. Denn man würde ja, wenn man zu Konkurrenzpreisen produzieren würde, viel mehr absetzen und dadurch auch viel mehr produzieren müssen, als man zu Monopol-preisen absetzt. Das ist eine Erfahrung der Volkswirtschaft: Man setzt weniger ab, wenn man zu Monopolpreisen verkauft, aber man kann nicht weniger produzieren, weil sonst die Produktion sich nicht trägt. Was ist die Folge? Man muß nach dem Nachbarland gehen und dort sich seinen Absatz verschaffen; da verkauft man unter dem Produktionspreis. Jetzt kommt man aber in internatio­nale Konkurrenz hinein. Diese internationale Konkurrenz hat eine ungeheure Rolle gespielt. Wenn man bloß Rücksicht nimmt auf die

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durch die Geldwirtschaft bedingte Festsetzung des Preises, schafft man sich eine Konkurrenz, die sonst nicht da wäre, indem man verschieden verkauft: im unmittelbaren Absatzgebiet [über dem Produktionspreis] und im Nachbarland unter dem Produktions­preis. Das kann man; wenn man nur entsprechend kalkuliert, ver­dient man sogar noch immer mehr, aber man schädigt die entspre­chenden Produzentenkreise im Nachbarland. Wenn man einmal aufsuchen wird die Ursachen jener Stimmungen, die zu den Kriegs­ursachen im Westen geführt haben, wird man in diesen Dingen die Ursachen finden. Dann wird man finden, welcher gewaltige Schritt in die [soziale] Schädigung hinein liegt auf dem Wege vom Kapita­lismus zur Trustbildung, zur Kartellbildung, zu der Monopolisie­rung durch Kartelle. Der Kapitalist als solcher, der produziert zu Konkurrenzpreisen, der hat an Schutzzöllen nie ein Interesse. Der Schutzzoll ist auch wieder etwas, was in die Kriegsursachen hinein-gespielt hat. Da haben Sie die Schädigungen der Geldwirtschaft im internationalen Leben. Das alles ist so sonnenklar für den, der das moderne Wirtschaftsleben studiert, daß dagegen eigentlich nichts eingewendet werden kann. Die Frage muß daher notwendigerweise entstehen: Wie kommen wir über diese Schädigungen hinaus? -Über die Schädigungen kommen wir auf keine andere Weise hin­aus, als daß wir wiederum verbinden den Menschen mit dem Pro­dukt, daß wir wiederum unmittelbar das Band herstellen zwischen Mensch und Produktion.

Das ist in der wirtschaftlichen Idee der sozialen Dreigliederung angestrebt: Dasjenige, was früher unter ganz anderen Verhältnissen zwischen den einzelnen Menschen und der Produktion als Band bestand, kann heute nur dadurch herbeigeführt werden, daß sich die gleichartig Produzierenden miteinander verbinden und die aus Berufskreisen heraus zusammengeschlossenen Menschen sich wie­derum zu Kreisen, zu Assoziationen, zusammenschließen mit den übrigen Produktionszweigen und den entsprechenden Konsumen­ten. Dadurch werden die Assoziationen, die zusammengeschlosse­nen Menschen, wissen, wie man die Produktion in Zirkulation bringen kann - nicht bloß das Geld, das sich als ein Gleichartiges

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über die Produktion hin ergießt. Damit aber könnte in einer ganz wesentlichen Art dasjenige wiederum hervorgerufen werden, was erst eine gedeihliche Volkswirtschaft für die Menschheit wieder möglich macht.

Sehen Sie, das war notwendig, daß heute einmal gründlich hin­eingeschaut wurde in die Wirklichkeit, denn all das sozialökonomi­sche Zeug, was in der neueren Zeit geschwätzt worden ist, ist ja im Grunde genommen mit Ausschluß jedes Blickens auf die Wirklich­keit gesagt. Gewiß, einzelne Menschen haben treffende Bemerkun­gen über das eine oder andere gemacht. Aber das meiste von dem, was geäußert worden ist, und besonders alles dasjenige, unter des­sen Einfluß der moderne Weltkapitalismus auf der einen und die Lohnkämpferei auf der anderen Seite sich entwickelt haben, dieser Krebsschaden des modernen Lebens ist entstanden dadurch, daß man nicht mehr wirklich hineingeschaut hat in den gesetzmäßigen Zusammenhang des Wirtschaftslebens, und daß einem auch gar nicht mehr vor Augen stand - indem man als Mensch im Wirt­schaftsleben lebte -, wie die Fäden herüber- und hinübergehen, weil das Geld alles ausgelöscht hat. Wenn aber die Assoziationen da sein werden, wird wiederum klar und offen daliegen, wie das eine oder andere produziert sein muß. Da wird derjenige, der etwas zu produzieren hat - weil Assoziationen da sind -, Kundschaft durch die Menschen erhalten, die in entsprechenden Assoziationen sind, [und es wird beraten und festgelegt werden,] ob soviel produ­ziert werden kann von dem oder jenem. Da kann ohne Zwangs­wirtschaft Moellendorffscher Geschwätzigkeit etwas entstehen; da kann - in dem der eine durch den anderen in freiem Verkehr unterrichtet wird - alles so eingeteilt werden, daß wirklich der Konsum für alle das Maßgebende ist.

Darauf kam es bei der Idee der Dreigliederung an: Einmal aus der vollen Wirklichkeit heraus zu der Menschheit zu sprechen. Weil die Menschen so ungewohnt sind in der Gegenwart, an die Wirklichkeit heranzugehen, deshalb versteht man die Sache auch so schwer; die Menschen sind ungewohnt, an die Wirklichkeit heran­zugehen. Was verstehen denn die Leute von einem Wirtschaftsleben

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als ganzem? Der Baumeister versteht etwas vom Bauen, der Tischlermeister versteht etwas vom Tischlern, der Schuhmacher vom Schuhemachen, der Friseur vom Bartschneiden, jeder versteht etwas von dem entsprechenden Wirtschaftlichen, mit dem er zu­sammenhängt. Aber das alles, was diese «Lebenspraktiker» irgend­wie wissen über das wirtschaftliche Leben, hängt ja doch nur mit dem ihrem und nicht mit dem der anderen zusammen. Dadurch ist es so abstrakt. Es mußte einmal aus dem wirklichen Zusammen­hang des gesamten sozialen Lebens heraus zu der Menschheit ge­sprochen werden. Weil es für die Menschen ungewohnt geworden ist, die Lebenserfahrungen zur Richtschnur zu benützen, sehen sie gerade das, was aus der Wirklichkeit geboren ist, als Utopie an. Darum aber handelt es sich, daß diese Idee von der sozialen Drei­gliederung erkannt wird als das Gegenbild aller Utopie, daß sie erkannt wird als dasjenige, was aus dem wirklichen Leben heraus geboren ist, und daher auch in das wirkliche Leben sich hineinstel­len kann. Und nur darum handelt es sich: daß die Menschen diese Dinge einsehen werden. Dann wird man finden, daß jeder - auf welchem Boden er auch immer stehen mag -, die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus richtig verstehen wird, gerade wenn er etwas versteht von dem Zusammenhang seiner Produktion mit dem ganzen Wirtschaftsprozeß der Welt. Diese Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus schreckt nicht zurück vor einer genauen Prüfung durch diejenigen, die durch ihr ganzes Verhältnis zum Leben etwas vom Wirtschaftsle­ben verstehen. Aber es verstehen heute nicht viele Menschen vom Wirtschaftsleben oder sozialen Leben überhaupt etwas; sie lassen sich treiben und haben es am besten, wenn sie selber nicht teilzu­nehmen brauchen an irgendwelcher [Entscheidung über die sozia­le] Ordnung, sondern wenn das die Regierung für sie besorgt. Daher kommen die Menschen zu solch vertrackten Ideen, daß sie das, was lebenswirklich ist, als utopistisch ansehen. Allerdings, die Situation ist heute dadurch etwas verdunkelt, daß sich durch ihren Sieg die Westmächte die Möglichkeit erkämpft haben, nicht zur Höhe der Zeit heraufzukommen. Das, was heute in der Idee der

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Dreigliederung gefordert wird, das wird von der Zeit gefordert. An diesem Punkte ist heute die Menschheitsentwicklung angelangt. Der Sieg der Westmächte bedeutet nichts anderes als die Erkämp­fung einer Galgenfrist, um unter den alten sozialen Verhältnissen noch bleiben zu können. Diesen Luxus können sich die Westmäch­te gönnen; sie haben ihn erkämpft. Die Mittelmächte aber können sich diesen Luxus nicht gönnen; sie sind darauf angewiesen, die Forderungen der Zeit zu befriedigen. Befriedigen sie sie, dann wird das auf die ganze Welt wirken. Befriedigen sie sie nicht, dann gehen sie unter.

Das muß heute einmal ganz klipp und klar gesagt werden, denn heute handelt es sich um ein Entweder-Oder. Deshalb ist es auch so frivol, wenn immer wieder ganz kluge Leute auftreten und zum Beispiel sagen: Jetzt wird wiederum einmal eine Uneinigkeit entste­hen zwischen Franzosen und Engländern. Denn die Engländer wollen aus ihren alten Traditionen keine militaristische Allianz mit den Franzosen schließen; sie wollen auch keine Kredite bewilligen; sie sind auch nicht ganz einverstanden mit den Absichten der Fran­zosen bezüglich der Rheingrenze und so weiter. - Das ist die Fort­setzung desjenigen, was schon im Krieg und vor dem Krieg so verheerend gewirkt hat. Da hat man auch immer spekuliert: Jetzt sind wieder einmal die Feinde uneins; vielleicht können wir mit jemandem einen Separatfrieden schließen. - Mit dieser Diplomatie hat man es endlich dahin gebracht, fast die ganze Welt gegen sich zu haben. Wenn heute Leute von diesem Kaliber die Ideen der Menschen weiter verderben und weiter darauf spekulieren, daß die Franzosen und Engländer wieder einmal uneins sind, dann ist das ein richtiger Traum; das ist nicht ein Erfassen der Wirklichkeit. Das ist eine Fortsetzung derjenigen alten diplomatischen Denkweise, die Czernin so schön geschildert hat in seinem Buche, in dem er verlangt, daß die außerordentliche Bedeutung der Diplomaten anerkannt werden muß. Diese außerordentliche Bedeutung der Di­plomaten hat aber darin bestanden, daß sie in den entsprechenden Salons verkehren konnten, die Stimmung da beobachteten und dann lange Briefe schrieben über diese Stimmung und so weiter. Im

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Krieg wurde das noch sehr schön fortgesetzt, soweit man konnte, nur hat man da die Stimmung mehr auf Schleichwegen beurteilt. Aus diesem Stimmungbeurteilen vor dem Kriege ist eben die Kriegskatastrophe mitentstanden. Und jetzt fangen die Leute wie­derum an, auf dieselbe Weise zu spekulieren. Aber wenn die Leute aufwachen werden, werden sie sehen, daß sie es in Wirklichkeit nur dahin gebracht haben, selbst zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Man spricht von einer tiefen Kluft, die sich auftut zwischen Franzosen und Engländern; die ganz Gescheiten reden heute davon. Wenn man aufwachen wird, wird man sehen, daß diese Kluft zwar da ist, aber über diese Kluft hinüber sind sich die Leute, [die Franzosen und Engländer,] einig, und selber sitzt man in der tiefen Kluft drinnen. Daß an die Stelle dieser für die Menschheit so verhängnis­vollen Denkweise eine wirklichkeitsgemäße dringe, das ist die eigentliche Grundlage des Impulses der Dreigliederung des sozia­len Organismus. Und wenn man das einsehen wird, wird man sich mit einer inneren Notwendigkeit zu dieser Dreigliederung wenden.

Nach den einleitenden Worten von Rudolf Steiner wird die Diskussion er­öffnet; es melden sich verschiedene Persönlichkeiten zu Wort:

Georg Herberg glaubt, daß es angesichts der Preissteigerungen in den letzten Jahren - als Beispiel führt er den Preis für eine Tonne Eisen an, die früher 13 Mark gekostet habe, heute aber 1700 Mark koste - notwendig sei, das Preisproblem näher zu beleuchten. Es müsse dabei insbesondere der Gegenpol der Konsumenten, das heißt die Produzentenseite, ins Auge gefaßt werden.

Siegfried Dorfner möchte, bevor die eigentliche Diskussion beginnt, die Anwesenden auf drei grundsätzliche Sachverhalte aufmerksam machen, die man als typisch für die ganze Situation in der Dreigliederungsarbeit be­trachten könne: Erstens seien für diesen Abend Parteiführer eingeladen worden; diese seien aber nicht da. Zweitens würden sie, wenn sie schon einmal kommen, in den Diskussionen meist schweigen; es gäbe keine Wortforderer. Drittens lasse sich bei den Anhängern der Anthroposophie sehr oft die Einstellung beobachten: «Anthroposophie mag ich, die Drei-gliederung aber nicht.» Und so sei der fehlende Erfolg der ganzen Drei­gliederungsbemühungen nicht weiter verwunderlich.

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Carl Unger möchte noch einmal auf das Vorangehende zurückkommen und weist auf die Bedeutung der Trusts im heutigen Wirtschaftsleben hin. Es sei das Beispiel des Eisens genannt worden; da müsse man eben davon ausgehen, daß man es auf diesem Gebiete mit einem Stahltrust zu tun habe. Eine ähnliche Monopolstellung nähmen auch die deutschen Zuckerfabriken ein; es gäbe zwar in Deutschland unendlich viele Rübenfelder, aber der Preis sei im Vergleich zu diesem großen Angebot überhöht.

WalterJohannes Stein ist der Meinung, daß die Situation in der deutschen Zuckerwirtschaft auf ein ganz zentrales Problem hinweise, auf das Verhält­nis von Grund und Boden zu den Produktionsmitteln ganz allgemein. Es stelle sich nämlich die Frage, ob zum Beispiel die Kuh ein Produktionsmit­tel sei oder ob sie zu Grund und Boden gehöre. Komplizierter werde die Sache aber noch, wenn die Kuh schließlich geschlachtet werde; ob sie dann nicht den Charakter einer Ware annehme. So bitte er Rudolf Steiner, doch noch Genaueres über das Verhältnis zwischen Grund und Boden, Produk­tionsmittel und Ware auszuführen.

Rudolf Steiner: Meine lieben Freunde! Mit Bezug auf die Unter­scheidung von Grund und Boden und Produktionsmitteln ist schon das Wesentliche, daß Grund und Boden etwas Begrenztes ist, nichts Elastisches ist, daß er in bestimmtem Sinne nicht ver­mehrt werden kann, während die Produktionsmittel, die selbst durch menschliche Arbeit entstehen, vermehrt werden können, und durch die Vermehrung der Produktionsmittel kann eben die Produktion wiederum erhöht werden.

Nun, wenn man solche Unterscheidungen angibt, handelt es sich ja darum, daß man oftmals natürlich von verschiedenen Gesichts­punkten ausgehen muß. Indem man Grund und Boden vom Produk­tionsmittel unterscheidet, bezeichnet man dasjenige, was zunächst da ist und nicht durch Menschenhände hergestellt worden ist, als «Grund und Boden». Für den volkswirtschaftlich Betrachtenden gehört eine Kuh, die der Mensch durch seine Arbeit nicht selbst fa­briziert, eben einfach zu «Grund und Boden», solange sie nicht ge­schlachtet wird; wenn sie geschlachtet wird, ist sie selbstverständlich eine Ware. Dann tritt sie aber in einer ganz bestimmten Weise auf

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dem Warenmarkte auf, und man hat es mit zwei Tatsachen zu tun:

erstens mit der Tatsache, daß sie entzogen wird der Produktionskraft des Grund und Bodens, und zweitens mit der anderen Tatsache, daß sie als Ware auftritt; die Kuh ist in einem gewissen Sinne ein Grenz­produkt. Solche Grenzprodukte gibt es überall. Aber es handelt sich darum, daß man gewissermaßen das festhält, was man im Auge hat, indem man die Benennungen ja hernehmen kann von dem jeweils charakteristischen Repräsentanten.

Nicht wahr, im wirtschaftlichen Prozeß hat man es erstens zu tun mit dem, was notwendig ist zur Produktion, was aber nicht selbst produziert werden kann. Dazu gehört der Grund und Boden selbst und auch einiges andere; man faßt dies einfach zusammen unter «Grund und Boden». Zweitens gehört in den wirtschaft­lichen Prozeß hinein alles, was dazu dient, anderes zu produzieren, was aber vorher selbst produziert werden muß, wie zum Beispiel Maschinen. Im volkswirtschaftlichen Zusammenhange gesehen fällt der Prozeß des Arbeitens, die Arbeit, die verwendet werden muß zur Herstellung der Produktionsmittel, bei Grund und Boden weg. Das ist das volkswirtschaftlich Wesentliche: Produktionsmittel sind nur so lange unter dem Gesichtspunkte des Arbeits-Äquivalents zu betrachten, bis sie als Produktionsmittel für die Produktion fertig sind. In dem Augenblick, in dem Produktionsmittel da sind, stellen sie sich eigentlich in den Wirtschaftsprozeß genauso hinein wie Grund und Boden. Solange man an Produktionsmitteln arbeitet und die Volkswirtschaft in Anspruch nehmen muß, um an den Produktionsmitteln arbeiten zu können, solange muß ein Unter­schied gesehen werden, wie Produktionsmittel und Grund und Boden in die Volkswirtschaft hineingestellt sind. In dem Augen­blick, wo die Produktionsmittel fertig sind, unterliegen sie dersel­ben volkswirtschaftlichen Kategorie wie der Grund und Boden. Solange ich an der Lokomotive noch zu fabrizieren habe, muß ich den volkswirtschaftlichen Prozeß, in dem das Fabrizieren der Lo­komotive vor sich geht, anders beurteilen als in dem Augenblick, wo sie fertig ist. Wenn sie [als fertiges Produktionsmittel] auf den Schienen steht und bewegt wird durch die Menschen für weitere

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Produktion, steht sie im volkswirtschaftlichen Prozeß ebenso drin­nen wie Grund und Boden. Das ist die Schwierigkeit in der Unter­scheidung, daß tatsächlich das fertige Produktionsmittel derselben Kategorie untersteht wie Grund und Boden. Was an Arbeit auf­gewendet werden muß, um ein Produktionsmittel zu schaffen, ist das Wesentliche, und das kommt bei Produktionsmitteln dazu und das fehlt bei Grund und Boden. Das hängt natürlich mit folgendem zusammen. Würde der Grund und Boden elastisch sein, würde man ihn vermehren können, dann müßte er entweder selber wach­sen oder aber die Menschen müßten ihn hervorbringen können. Ich will diese Frage aber nicht weiter erörtern. Daß eben der Grund und Boden in bestimmtem Ausmaß da ist, dadurch unterscheidet er sich von den Produktionsmitteln. Er kann nur stärker oder schwä­cher ausgenützt werden, wodurch er wieder den Produktions­mitteln ähnlich wird.

Nun muß man natürlich auch das dritte Glied etwas ins Auge fassen, die eigentliche Ware. Sie ist dadurch charakterisiert, daß sie verbraucht wird. Dadurch ist sie im volkswirtschaftlichen Prozeß etwas wesentlich anderes als das Produktionsmittel, das selbst nicht unmittelbar verbraucht, sondern nur abgenützt wird. Damit ist Ware aber auch wieder etwas anderes als Grund und Boden, der ebenso wenig dem Verbrauch dient, sondern höchstens verbessert werden muß und so weiter.

Damit sind diese drei Dinge als wesentlich verschieden im volks­wirtschaftlichen Prozeß zu unterscheiden: 1. der Grund und Boden, der [vorhanden istl, ohne daß menschliche Arbeit darauf aufgewen­det worden ist; 2. das Produktionsmittel, das beginnt, wenn mensch­liche Arbeit verwendet worden ist; beide - Grund und Boden und Produktionsmittel - sind nicht zum unmittelbaren Verbrauch da; 3. die Ware, die zum unmittelbaren Verbrauch da ist.

Aber sehen Sie, die Sache liegt ja so, daß das Ganze wiederum auch eine Zeitfrage ist. Denn in dem Augenblick, wo Sie darüber nachdenken, daß ja Produktionsmittel, zum Beispiel maschineller krt, innerhalb einer gewissen Zeit aufgebraucht sind, in diesem Augenblick erscheinen Ihnen die Produktionsmittel als Ware - nur

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als Ware, die eben eine längere Zeit braucht, um verbraucht zu werden. Wenn man Unterscheidungen macht im Leben, so haben diese Unterscheidungen die Eigenschaft, daß sie höchst unbequem sind; sie sind überhaupt niemals so, daß man strikte einteilen kann. Man muß in diesen Fragen beweglich bleiben. Denn in der Tat, die Produktionsmittel haben in einer gewissen Weise auch Warencha­rakter. Diesen Warencharakter, wie ihn die Produktionsmittel haben können, hat Grund und Boden nicht in derselben Weise, weshalb man da wiederum einen strengeren Unterschied machen muß. Es ist überhaupt bei Grund und Boden ein Unfug, ihn unter rein geldkapitalistischen Gesichtspunkten mit dem Warencharakter auszustatten. Also Sie sehen, wenn man irgend etwas anwendet in der Wirklichkeit, so darf man nicht bei abstrakten Begriffen ste­henbleiben. Das ist nämlich etwas, was die Leute beim Lesen der «Kernpunkte der Sozialen Frage» als Einwand geltend machen: sie möchten hübsch eingeschachtelte Begriffe haben. Dann ist das für sie schön, was sie lesen; dann weiß man doch, wenn man eine halbe Seite gelesen hat, was man gelesen hat. In der Wirklichkeit ist ein Produktionsmittel aber nur zu erfassen, wenn man weiß: es wird zunächst nicht verbraucht, aber wenn man es über einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt, ist es gleich einer Ware. Also muß man bedenken, daß das Produktionsmittel sowohl die Eigenschaft des Verbrauchtwerdens wie des Nichtverbrauchtwerdens hat und der Begriff dem entsprechen muß.

Man muß bewegliche Begriffe haben. Das wollen die Leute heu­te nicht; sie wollen eingeschachtelte Begriffe haben. Sie wollen überhaupt nicht hinausdenken in die Wirklichkeit. Solche Dinge könnten sonst nicht entstehen, daß zum Beispiel die Leute sagen:

Anthroposophie gefällt mir ganz gut, aber von der Dreigliederung will ich nichts wissen. - Wer so spricht, gleicht ungefähr demjeni­gen, der sagt: Ja, für das Geistige interessiere ich mich, aber dieses Geistige darf nicht in das Politische übergreifen; dieses Geistige muß unabhängig sein von dem Politischen. Ja, meine lieben Freun­de, das will ja gerade die Dreigliederung erreichen. Aber weil das Geistige heute nirgends unabhängig ist, so ist das eine Illusion,

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wenn Sie glauben, sich nur interessieren zu können für bloß Gei­stiges. Damit Ihr abstraktes Ideal konkret werden kann, damit Sie etwas haben, wofür Sie sich interessieren können, ohne daß es von Politik beeinflußt ist, muß die Dreigliederung erst ein solches Ge­biet erkämpfen, damit ein Gebiet da ist, auf dem man sich nicht für Politik zu interessieren braucht. Die Dreigliederung kämpft gerade für dasjenige, in dem die schläfrigen Seelen sich wohlfühlen wollen, es aber nur als Illusion vor sich haben. Diese schläfrigen Seelen -oh, man möchte sie so gerne aufwecken! -, sie fühlen sich so un­geheuer wohl, wenn sie innerlich Mystiker sind, wenn sie die ganze Welt erfassen innerlich, wenn sie den Gott in ihrer eigenen Seele entdecken und dadurch so vollkommene Menschen werden! Aber diese Innerlichkeit hat nur einen Wert, wenn sie heraustritt ins Leben. Ich möchte wissen, ob sie einen Wert hat, wenn jetzt, in der Zeit, wo alles drängt, wo die Welt in Flammen steht, der Mensch nicht den Weg findet, mitzusprechen in den öffentlichen Angele­genheiten. Das ist ein schönes Interesse für Anthroposophie, das sich nur für Anthroposophie interessieren will und nicht einmal die Möglichkeit findet, mitzureden bei dem, wozu Anthroposophie anregen will. Diejenigen Anthroposophen, die sich nur für Anthro­posophie interessieren wollen und nicht für das, was aus Anthro­posophie werden kann dem Leben gegenüber, die gleichen einem Menschen, der wohltätig ist nur mit dem Munde, aber sonst schnell die Taschen zumacht, wenn er wirklich wohltätig sein sollte. Des­halb ist das, was bei den Leuten zu finden ist, die sich nur in ihrer Art für Anthroposophie interessieren wollen, anthroposophisches Geschwätz. Die Wirklichkeit der Anthroposophie ist aber dasjeni­ge, was in das Leben übergeht.

Anschließend findet eine Aussprache üher die künftige Dreigliederungs­arbeit mit den Leitern der Ortgruppen statL Es sind drei hauptsächliche Fragen, die zur Diskussion stehen. Erstens: Darf man Kompromisse ein­gehen? Zweitens: Soll man sich an den Wahlen beteiligen? Drittens: In welcher Form soll Propaganda für die Dreigliederungsidee betrieben werden?

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Paul Kretschmar, aus Köln, tritt dafür ein, daß man versuchen müßte, auf die bestehende Betriebsräteschaft und auf das Parlament Einfluß zu neh­men. Die Zeitungen würden in dieser Beziehung eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Man müßte deshalb eine Art journalistisches Büro bilden, um Artikel für Fachzeitschriften zu verfassen. Wichtig sei auch die Ausbildung von kompetenten Rednern; diese müßten sich auf eine Art Dreigliede­rungsfibel abstützen können - ähnlich wie Damaschke eine Bodenfibel herausgegeben habe. Die Gründung eines eigenen Verlages sei ebenfalls nötig, um die Zeitungspropaganda wirksam abzustützen. Im Grunde wäre sogar eine Beteiligung an den Wahlen ins Auge zu fassen.

Herr Klug, ebenfalls aus Köln, warnt dagegen vor einer ganz auf sich selbst gestellten Wahlbeteiligung. Diskutabel sei allenfalls, ob man mit anderen unabhängigen Parteien vereint vorgehen könne. Weiter müßte unbedingt diskutiert werden, ob nicht Konsumentenvereinigungen gebildet werden könnten.

Hermann Heisler meint, eigentlich müßte wirklich eine Art «Katechis­mus der Dreigliederung» vorliegen; dieser müßte den Leitfaden dafür ab­geben, wie die Dreigliederung sich in das praktische Leben, insbesondere in das Wirtschaftsleben, hineinstelle. In der gegenwärtigen Situation würden sich insbesondere drei Fragen stellen. Erstens: Wie könnte Dreigliederung, wenn sie tatsächlich in Mitteleuropa verwirklicht wäre, der zu erwartenden europäischen Hungersnot entgegenwirken?. Zweitens: Was für ein Ziel muß der Arbeiterschaft jetzt gegeben werden? Drittens: Wie weit darf man in den praktischen Veranstaltungen der politischen Parteien gehen und sich zu den Zielsetzungen der Dreigliederung bekennen?

Siegfried Dorfner ist der Überzeugung, das beste Propagandamittel für Dreigliederung sei, aus der Partei herauszugehen.

Walter Conradt glaubt, was die Bearbeitung der Presse betreffe, so müsse davon ausgegangen werden, daß auf der Gegenseite eine Dezentralisation der Meinungen eingetreten sei. Was hingegen die Bearbeitung der proleta­rischen Partei betreffe, so hätten die Ereignisse des letzten Jahres - ins­besondere im Zusammenhang mit der «Plakatmission» - gezeigt, daß das Proletariat seit einem Jahre sozusagen «verschoben» sei, also zunächst nicht mehr mit ihm zu rechnen sei.

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Richard Seebohm meint, es sei durchaus schon vorgekommen, daß eine Zeitung auf einzelne Fragen eingegangen sei, aber man dürfe nicht verges­sen, daß, wenn auch die staatliche Aufsicht jetzt aufgehoben sei, die Zeitun­gen doch unter dem Zwang der Industrie stehen würden. Und es dürfe auch nicht übersehen werden, daß es schließlich auch Dreigliederer gebe, die nichts mit Anthroposophie zu tun haben möchten. Aus diesen Gründen sei es wichtig, sich hinter die bestehende Dreigliederungszeitung zu stellen.

Paul Kretschmar erwähnt den Kölner «Generalanzeiger», in dem sicher auch Artikel über die Dreigliederung untergebracht werden könnten.

Ernst Uehli erwähnt einen ausländischen Freund, der ihm bestätigt habe, daß die Presse für große Ideen nicht gewonnen werden könne; allgemein lasse sich feststellen, daß die Dreigliederungsidee in den Zeitungen viel kritisiert würde. Das Streben nach wahrer «Menschheit» und das Presse­wesen ließen sich nicht vereinbaren, wie ja schon der deutsche Philosoph Karl Christian Planck festgestellt habe.

Emil Molt weist darauf hin, daß vom Bund für Dreigliederung beabsich­tigt sei, einen Agitatorenkurs - einen Kurs für Redner - unter der Leitung von Rudolf Steiner durchzuführen.

Nach Abschluß der Diskussion wird Rudolf Steiner gebeten, zu den ver­schiedenen darin aufgeworfenen Fragen - trotz der vorgeschrittenen Zeit -Stellung zu nehmen.

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Zunächst möchte ich nur sagen, daß ich genötigt sein werde, in kurzen An­deutungen zu sprechen, und ich bitte Sie, das durchaus zu berück­sichtigen. Ausführlich läßt sich also über die einzelnen gestellten Fragen nicht mehr sprechen. Vielleicht können wir das ein nächstes Mal tun.

Zunächst wollen wir die relativ wichtigste Frage herausgreifen, die Frage:

Wie würde die Dreigliederung wirken bei der kommenden europäischen Hungersnot?

Ich möchte, trotzdem das vielleicht manchem sonderbar erscheinen wird, sagen, daß hinter dieser Frage eine ganz andere steckt, die die

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Beantwortung schwierig macht. Aber so im allgemeinen muß ge­genüber dieser Frage das folgende gelten. Nicht wahr, vor - sagen wir - zehn Jahren hatte die Welt nicht das, was man eine Hungers-not nennt, jedenfalls nicht das, was als Hungersnot in der nächsten Zeit kommen kann und wahrscheinlich, da ja die Seelen schlafen, auch kommen wird. Aber muß man doch die folgenden Erwägun­gen anstellen, so einfach und primitiv sie erscheinen: Rohstoffe sind nicht weniger da in der Erde als vor zehn Jahren; Felder sind nicht weniger da als vor zehn Jahren; menschliche Arbeitskräfte sind auch im wesentlichen nicht weniger vorhanden als vor zehn Jahren - es sind zwar Millionen im Kriege zugrunde gegangen, aber nicht nur als Produzenten, sondern auch als Konsumenten. Also im allgemeinen steht es mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten, mit den wirtschaftlichen Bedingungen genau so wie vor zehn Jahren.

Es war vor vielleicht acht Wochen, als durch die Zeitungen ein Brief ging, den der bekannte Politiker, der russische Fürst Kropot­kin, geschrieben hatte, in dem er zwei merkwürdige Mitteilungen macht. Die eine ist diese, daß er jetzt arbeite an einer Ethik - in­teressant, daß er nun anfängt eine Ethik zu schreiben. Die andere Mitteilung ist die, daß es jetzt nur das eine gebe, daß vom Westen nach Rußland Lebensmittel geliefert würden, daß Brot geliefert würde. Es ist ja natürlich das einfachste, wenn kein Brot da ist, es von der Seite zu nehmen, wo es gerade vorhanden ist. Nun, es haben ja auch andere Leute manchmal solche Ansichten. Vor vier­zehn Tagen bekam ich einen Brief von einem mitteldeutschen Rechtsanwalt und Notar. Der Brief klang sehr rechtsanwaltlich und notarlich, denn er war grob und dumm. Aber da drinnen stand auch, man könne jetzt mit irgendwelchen Idealismen nicht einen Hund hinterm Ofen hervorlocken, es käme darauf an, um das nackte Brot zu kämpfen.

Nun, sehen Sie, alles das, was ich eben ausgeführt habe, bedenkt eben nicht das Einfachste und Primitivste. Denn wer das bedenkt, der wird wissen, daß es nur darauf ankommt, die Menschen zu einer solchen Organisation zu bringen, so daß aus den jetzt wie vor zehn Jahren vorhandenen Antezedenzien gewirtschaftet werden

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kann und wird. Das wird ganz gewiß nicht erreicht werden, wenn die Leute abgefertigt werden entweder mit dem, was die alten «Czernine» als Staats-, und Volksweisheit ansehen, oder die alten «Bethmänner», mit h oder ohne h geschrieben, auch nicht was die alten Sozialdemokraten, diese besondere Art von «negativen Beth-männern», anregen; sondern darauf kommt es an, daß den Leuten wiederum Ziele gegeben werden, daß sie sehen, auf das arbeiten wir hinaus. Und das kann eben durch die Bewegung der Dreigliede­rung gegeben werden. Darauf kommt es an, daß man nicht das sagt, was heute viele sagen, auch wenn es ja relativ richtig ist: Wir wer­den keine Hungersnot haben oder wir können sie überwinden, wenn die Leute wiederum arbeiten. Ja, wenn! Wenn die Leute aber jene Aussichtslosigkeit der Arbeit vor sich haben, die sich ihnen aus den alten Programmen und alten Machinationen ergibt, dann wollen sie nicht arbeiten. Aber man bringe etwas in die Mensch­heit, das zündet, so daß die Leute etwas vor sich sehen, was sie zu einem menschenwürdigen Dasein führen kann, [dann wollen sie arbeiten], und dann wird auch Brot hergestellt werden können. Das ist eine wichtige Grundbedingung für das Herstellen von Brot:

Vertrauen in die Menschheit. Wenn wir dieses Vertrauen nicht gewinnen, dann wird die Hungersnot mit Sicherheit kommen. Dazu aber, daß Vertrauen entstehe, dazu ist die Dreigliederung notwendig. Das kann ich in diesem Zusammenhang nur andeuten. Wenn Sie aber diesen Gedanken verfolgen, so werden Sie sehen, daß der Hungersnot sogar im wesentlichen vorgebeugt werden kann nur durch die Propagierung der Dreigliederung. Allerdings, eine Notwendigkeit liegt vor: daß diese Dreigliederungsidee vor allen Dingen in möglichst vielen Köpfen Platz greifen muß, damit diese Köpfe nicht hereinfallen auf alles mögliche, was nur die Fort­setzung des alten Systems ist. Diese Fortsetzung des alten Systems, sie macht sich sehr, sehr breit - nur in einer scheinbar neuen Form. Denn sehen Sie, auf gewissen Seiten ist es heute so, als ob man sich unter den führenden Persönlichkeiten gerade die Aufgabe setzen würde, die Hungersnot herbeizuführen. Heute steigt alles mögliche im Preis in phantastischer Weise. Preise haben aber nur einen Sinn,

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wenn sie relativ zueinander sind. Die Preise der wichtigsten Le­bensmittel werden heute künstlich niedergehalten. Ich will nicht sagen, daß sie hinaufgehen sollen, aber sie dürfen in keinem Miß­verhältnis zu den Preisen der anderen Dinge stehen. Dieses Miß­verhältnis verhindert, daß man nächstens noch in irgendeiner Weise sich wird widmen wollen der Erzeugung von Rohprodukten, von Lebensmitteln. Die Erzeugung einer Hungersnot ist somit gerade­zu Regierungsmaßregel geworden. Das muß durchschaut werden.

Zweitens ist das zu betonen, daß ja allerdings die Sache eine internationale Angelegenheit ist und die Frage aufgeworfen werden kann:

Kann man in Mitteleuropa allein mit der Einführung der Dreigliederung -oder wie man es sonst nennen will - etwas erreichen?

Da muß ich hinweisen auf dasjenige, was ich in der Dreigliede­rungszeitung geschrieben habe, und zwar immer wieder und wie­derum von den verschiedensten Gesichtspunkten aus: Wenn man nur wirklich den Mut fassen würde, die Dreigliederung zu propa­gieren, selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen, selbst bei einer Hungersnot - das würde wirken, wenn etwas Positives bei uns gesehen werden könnte von den Menschen in den westlichen oder östlichen Gebieten.

So stehen wir heute noch immer auf dem Standpunkt, auf dem die Welt gestanden hat, als das Friedensangebot 1916 in die Welt hinausgeschickt worden ist, wo Phrase über Phrase, aber nichts Konkretes gesagt worden ist vor der Welt. Man probiere doch ein­mal, wie es wirken würde im internationalen Leben, wenn man mit so etwas auftritt, was Hand und Fuß hat, was Substanz und Inhalt hat wie die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus. Gegenwärtig sieht man, wie zum Beispiel gerade die englischen Staatsmänner von Woche zu Woche mehr Angst bekommen vor dem, was da in diesem Deutschland vorgeht. Es ist ihnen eigentlich etwas höchst Unbekanntes. Und weil sie nichts Richtiges daraus machen können, kriegen sie es mit der Angst zu tun, daß hier sogar schlimmerer Bolschewismus entstehen könnte als in Rußland.

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Wenn sie aber Bauer, Ebert und Noske genauer kennen würden, so wäre das sogar ein gutes Mittel, daß ihnen die Angst vergeht. Denn die Wahrheit ist diese, daß hier nichts geschieht, daß in Wirklich­keit Monat für Monat vergeht, ohne daß etwas geschieht. Man probiere es einmal, wie es aussehen würde im internationalen Leben, wenn gerade von Mitteleuropa etwas Substantielles in die Welt gesetzt würde. Erst wenn man sich über diese Dinge klar ist, kann man an eine solche Frage herantreten wie die, wie die Drei-gliederung wirken wird bei einer hereinbrechenden Hungersnot; in bezug auf alles übrige ist das keine Frage. Es gilt, daß einzig und allein die Dreigliederung imstande ist, eine solche Organisation zu bewirken, daß wieder gearbeitet werden wird und daß wieder Vertrauen da sein kann. Dann wird die Hungersnot verhindert werden können.

Um im Internationalen zu wirken, muß allerdings die Dreiglie­derungsidee in wirksamer Weise in den Köpfen Platz greifen. Dann wäre ich nicht besorgt, daß sie im internationalen Verkehr nicht wirken wird. Solange nur aus dem Chauvinismus heraus verhandelt wird, kommt man auf keinen grünen Zweig. Wenn hier in Mittel­europa irgend etwas von Bedeutung erfunden würde, würde es sich schon internationale Geltung verschaffen. Wenn hier gesunde Ideen Platz greifen, werden die internationalen Schranken von selbst hinwegfallen; denn die Menschen handeln doch nach ihrem Interesse und nehmen das Gute dort, wo sie es finden können.

Und noch einige Andeutungen wollte ich Ihnen geben zu der Zeitungsfrage: Ich möchte nicht in Abrede stellen, daß manches sehr wichtig ist von dem, was gesagt worden ist. Und verdienstvoll wird es sein, wenn der eine oder andere der Freunde da oder dort in irgendeiner Zeitung einen Artikel unterbringt. Aber das Wesent­lichste bleibt dabei, daß ebensowenig, wie man irgend etwas errei­chen kann durch das Unterkriechen in den Parteien, man etwas erreichen kann durch das Unterkriechen in den anderen Zeitungen. Man kann es tun, aber es ist eigentlich dieselbe Sache, nur in einer anderen Farbe. Ich tadle es nicht, ich bin durchaus einverstanden, wenn es geschieht. Das Positive aber würde ich darin sehen, daß

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unsere Zeitung, unsere Dreigliederungszeitung propagiert würde von den Freunden - soviel als nur möglich. Sie können sagen:

Schön, aber die Zeitungen, in die wir die Artikel hineinbringen wollen, die haben die Leute; die Dreigliederungszeitung müssen sie hinzuabonnieren. Sie müssen sie eben hinzuabonnieren. Alle wer­den es nicht tun, eine Anzahl aber wird es schon tun. Dann werden wir es dazu bringen, die Dreigliederungszeitung in eine Tageszei­tung zu verwandeln. Dann erst können wir dasjenige an Artikeln unterbringen, was wir unterbringen wollen; das wird dann wirk­sam sein. Also es handelt sich darum, so viel für die Dreigliede­rungszeitung zu arbeiten, die jetzt noch ein Wochenblatt ist, daß durch die eigenen Erträgnisse diese Zeitung in eine Tageszeitung umgewandelt werden kann. Dann brauchen wir nicht «unterzu­kriechen» bei den anderen; darauf kommt es an. Warum sollte es nicht möglich sein, eine Sache, die von so eminenter Wichtigkeit ist, auf eigene Beine zu stellen!

Dann ist noch auf verschiedenes andere hingewiesen worden. Bezüglich der Beteiligung an den Wahlen möchte ich nur das fol­gende sagen: Natürlich kann man in abstracto durchaus sagen, an der Wahl sich beteiligen und ins Parlament eintreten und dort wirken, das stütze den gegenwärtigen Staat. - Das kann man nicht so ohne weiteres sagen. Ich will nicht einmal so stark pro oder contra sprechen; das hängt von den verschiedenen konkreten Ver­hältnissen ab, ob man sich an der Wahl beteiligt oder nicht. Aber wenn man streng die Dreigliederung auffaßt, ist es prinzipiell nicht ganz richtig, sich nicht zu beteiligen am Parlament. Das prinzipiell Richtige, im Sinne der Dreigliederung konsequent gedacht, wäre:

an den Wahlen sich beteiligen, soviele wählen lassen als gewählt werden können, ins Parlament eintreten und Obstruktion treiben bei allen Fragen, die sich auf Geistesleben und Wirtschaftsleben beziehen. Das würde konsequent im Sinne der Dreigliederung ge­dacht sein. Es handelt sich darum, abzugliedern den mittleren Teil, das Staatsleben. Das kann nur herausgeholt werden, wenn das an­dere links und rechts abgeworfen wird. Das kann man dann nicht anders tun, als indem man sich wirklich wählen läßt, eintritt und

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Obstruktion treibt bei alle dem, was verhandelt und beschlossen wird auf dem Gebiete des Geistes- und Wirtschaftslebens. Das wäre konsequent gedacht im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus. Diese Idee ist etwas, was konsequent gedacht werden muß und auch konsequent in bezug auf konkrete Verhältnisse ge­dacht werden kann, weil sie aus der Wirklichkeit heraus gewonnen ist. - Das wäre in bezug auf die wichtigsten Fragen zu sagen.

In bezug auf das neue Ziel, das man jetzt den Arbeitern geben soll, muß ich sagen, daß es mir nach den Erfahrungen mit den Betriebsräten mehr eine akademische Frage ist. Die Frage wird anders behandelt werden müssen; [es muß gefragt werden], ob man überhaupt solch ein Ziel geben soll. Die Betriebsrätefrage ist auf­geworfen worden. Man hat sich alle mögliche Mühe gegeben und überall versucht, die Betriebsräte in Schwung zu bringen. Die Arbeiter haben alles Mögliche versprochen und nichts gehalten. Zuerst sind sie in den Versammlungen erschienen, dann sind sie ausgeblieben. So würde es mit den nächsten neuen Zielen auch wiederum sein, wenn sie in die gegenwärtigen Arbeiterorganisa­tionen hineingetragen würden.

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DRITTER STUDIENABEND Stuttgart, 9. Juni 1920 Die Propagierung der Dreigliederungsidee

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Es liegt wohl in der Natur eines solchen Studienabends, daß ich nicht einen eigentlichen Vortrag halte, sondern zunächst einiges aphoristisch vorbringe, damit sich dann anschließen kann eine möglichst weit­gehende Diskussion über dasjenige, was dem einen oder anderen der verehrten Zuhörer am Herzen liegt und was im Interesse der Fortführung unserer Propaganda für die Dreigliederung des sozia­len Organismus notig erscheint. Es ist mir bedeutet worden, daß eine wichtige Frage jetzt die ist nach der besonderen Art, wie die Propaganda für diese Dreigliederungsidee in der nächsten Zeit ein­zurichten ist. Ich war ja nicht anwesend bei den letzten Studien-abenden und falle gewissermaßen mit dem, was ich heute sagen kann, aus dem Zusammenhang vielleicht heraus. Aber gerade diese Propagandafrage wurde mir als etwas sehr Bedeutsames hingestellt.

Nun ist wohl kaum fruchtbar, heute über die Art und Weise zu sprechen, wie nun die Dreigliederung zu propagieren ist, wenn man nicht das, was man dabei beabsichtigt, basiert auf die Erfah­rungen, die bisher gemacht worden sind. Beim Besprechen einer solchen Sache möchte ich doch darauf hinweisen, daß es sich ge­genüber der heutigen Weltlage ja wirklich nicht darum handeln kann, wie man die eine oder andere ganz ins einzelne gehende Angelegenheit, namentlich auf wirtschaftlichem Gebiet, sich ausge­staltet zu denken hat - von Maßregeln im kleinen sollte man sich tatsächlich heute nicht mehr sehr viel versprechen. Man sollte sich heute einen Blick dafür aneignen, wie im Grunde genommen doch nur etwas zu erreichen ist von einem - ich möchte sagen - Ein­gehen auf das Große. Wir haben ja mit unserer Propaganda merk­würdige Erfahrungen gemacht. Und der Grundton, der uns immer wieder kam aus diesen Erfahrungen, ist der, wie schwer es eigentlich

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heute ist, selbst in dieser Zeit der Not, nur an die Menschen­seelen heranzukommen mit demjenigen, was man in geistiger, in politischer, in wirtschaftlicher Beziehung unbedingt für nötig halten muß.

Ich habe das letzte Mal darauf hingewiesen, wie gewisse Pläne ja gescheitert sind und wie wir daher genötigt waren, gewisse Einzel­heiten in Angriff zu nehmen, die sich ja allmählich konzentriert haben in unserer Unternehmung «Der Kommende Tag». Wir wis­sen selbstverständlich ganz genau, daß diese Unternehmung, wenn unsere Gesamtpropaganda für die Dreigliederungsidee nicht durchschlagend wirken kann, zunächst im Grunde genommen doch nur ein recht wenig befriedigendes Surrogat sein kann - und das in jeder Beziehung. Denn worauf es heute ganz besonders ankommt, das ist - das muß immer wieder und wiederum betont werden -, daß in möglichst viele Köpfe hineingeht ein Verständnis für die tragende Kraft der Dreigliederungsidee. Ohne daß wir eine genügend große Anzahl von Menschen haben, welche diese Drei­gliederungsidee wirklich verstehen, ist nicht auszukommen. Und dieses Verständnis bezieht sich ja auf vieles, meine verehrten Anwesenden. Ich möchte da auf etwas Konkretes hinweisen.

Sehen Sie, als wir hier mit unserer Propaganda begonnen haben, haben wir ja zunächst versucht, nach der eben angegebenen Rich­tung zu arbeiten, möglichst viele verständnisvolle Seelen zu gewin­nen. Es sind die konkreten Fragen auch des Wirtschaftslebens wirklich erörtert worden. Da ist zum Beispiel - und nicht nur ein­mal, sondern öfter - von mir eine ganz bestimmte Frage des Wirt­schaftslebens zur Erörterung gekommen: es war die Frage der Preisbildung. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß diese Preisbildungsfrage eine Kardinalfrage ist; es handelt sich darum, daß einfach im volkswirtschaftlichen Prozeß gewisse andere Fragen

- selbst die Lohnfrage und dergleichen - nicht primär zu erledigen sind, sondern erst auf Grundlage der Preisfrage. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß man nur einen ganz bestimmten Preis für irgendeinen Artikel als eine gesunde Tatsache im wirtschaft­lichen Leben ansehen kann. Mit anderen Worten: Ein bestimmter

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Artikel muß für einen bestimmten Preis innerhalb eines wirtschaft­lichen Zusammenhanges zu erreichen sein. Danach müssen die volkswirtschaftlichen Verhältnisse geregelt werden. Das Ungesun­deste ist, den Preis als etwas in beliebiger Weise Steigerbares anzusehen und dann anzufangen mit der Schraube ohne Ende: die Lohnverhältnisse einzurichten nach den sich nach Belieben stei­gernden Preisen. Steigen die Preise, dann steigen die Löhne; [stei­gen die Löhne, dann steigen die Preise] und so fort. Man faßt die ganze Sache am verkehrten Ende an. Ich habe damals solch eine konkrete Frage aus volkswirtschaftlichen Untergründen heraus erörtert. Was war die Folge? Wir haben dazumal Versammlungen gehabt, bei denen ja zum größten Teil nur Proletarier erschienen waren. Die bürgerlichen Kreise haben sich ferngehalten, weil sie gemeint haben, wir würden alles einrichten, damit es nur dem Proletariat gefalle. Kurz, wir haben einiges Verständnis gefunden in den Kreisen der Proletarier, die uns dazumal gehört haben. Aber dieses Verständnis ist vollständig versiegt; die Leute blieben nach und nach weg. Sie haben ihre alten Ladenhüter aus den Parteischa­blonen vorgebracht als Fragen, dann blieben sie nach und nach weg. Und so versiegte eine der Kardinalfragen einfach.

Ich greife ein Beispiel heraus, es könnten viele andere angeführt werden. Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, mit einem im Wirt­schaftsleben gründlich drinstehenden, geschäftstüchtigen Manne eines europäischen Staatswesens, nicht des deutschen, zu sprechen. Es kam dabei heraus, daß er einfach aus seiner Praxis heraus als praktischer Geschäftsmann zu der Ansicht gekommen ist: Das Wichtigste, das man anfassen muß, ist das Problem der Preis­bildung. Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, ich bin überzeugt davon: Mit Leuten, die Geschäftsleute sind und die zugleich den­ken, kommt man schon zurecht. Ich muß gestehen, ich habe bis jetzt recht wenig Menschen von dieser Sorte gefunden. Ich habe oft Geschäftsleute gefunden, die nicht wirklich denken, sondern die noch immer die Denkgewohnheit haben, es handle sich vor allen Dingen darum, daß man ein Praktiker sei. Und ein Praktiker ist man, wenn man darauf ausgeht, daß der Staat oder sonst jemand

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für einen denkt; sie glauben: «Die werden es schon machen». So hat man es ja auch während des Krieges in Deutschland gemacht. Man hat gedacht, die Leute im Großen Hauptquartier werden die Sache schon verstehen. Also, wie gesagt, ich habe wenige Leute gefunden, die zugleich Geschäftsleute sind und denken, aber wenn man sol­che heute findet, dann kommen die ganz zweifellos aus ihrem Denken über die praktischen Geschäftsverhältnisse zu den gleichen Ergebnissen, wie Sie sie in meinen «Kernpunkten» dargestellt finden. Sie mussen nicht meine «Kernpunkte» vergleichen mit dem und sie prüfen nach dem, was in den vertrackten Parteiprogram­men enthalten ist. Diese Programme der zehn Parteien, die jetzt in den Reichstag gewählt wurden - der wird ja ein unmögliches Gebilde sein -, sie sind alle gleich unbrauchbar und unmöglich. Es handelt sich darum, daß man dasjenige, was in den «Kernpunkten» steht, mit der wirklichen Lebenspraxis vergleicht, mit dem, was tatsächlich im realen Leben notwendig ist. Man muß allerdings über dieses reale Leben auch nachdenken wollen und nicht bloß ein Prediger von alten Schablonen und Ladenhütern sein. Aber diese Art der Propagierung, die will ja nicht um sich greifen, die will nicht wirklich prüfen dasjenige, was [in den «Kernpunkten»] selbstverständlich nur auf einer Anzahl von Seiten gesagt werden konnte, denn man kann nicht gleich eine ganze Bibliothek schrei­ben; die würde noch weniger gelesen werden als die «Kernpunkte». Aber statt das, was in den «Kernpunkten» gesagt wird, zu verglei­chen mit dem, was man lernen kann in der Fabrik als Wirtschafter, als Techniker, stattdessen wir herumhantiert mit Altem, mit alten Parteischablonen und -programmen. Und das Praktische, was die «Kernpunkte» meinen, das wird - statt es zu vergleichen mit der Praxis - verglichen mit irgendwas, was in dem oder jenem Kopf als Vorurteil nistet und als Praxis angesehen wird.

Was wir zunächst erreichen müssen, ist: Wir müssen uns ent­schließen, dahin zu wirken, daß eingesehen wird, daß es wirklich nicht so leicht ist, mit den öffentlichen Verhältnissen zurechtzu­kommen. Ich habe dazumal versucht, dieses Buch zu schreiben aus den Notwendigkeiten der Zeit heraus, und ich muß sagen, für mich

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ist es eine bittere Pille, eine bittere Erfahrung, daß jetzt Menschen auftreten, die da fordern, man solle dasjenige, was in den «Kern-punkten» steht, zu einem Kohl verarbeiten und bloß auf etwa einem Bogen Papier verzapfen. Denn das wollen die Leute: Sie wollen auf einem Bogen Papier oder womöglich gar nur auf einem kurzen Flugblatt entgegennehmen, was in den «Kernpunkten» schon so kurz als möglich gesagt ist. Wenn Sie mich fragen, worin heute das Elend der Zeit liegt, dann sage ich: Es liegt gerade darin, daß man heute noch immer nach so etwas verlangt. - Man will nicht zur Gründlichkeit übergehen. Aber man will auf einem kohlartig zu­sammengedruckten Bogen - wie er ja auch schon als Auszug der «Kernpunkte» erschienen ist -, alles das haben, was man sorgfältig kennenlernen müßte. Solange diese Gesinnung herrscht, solange wird man nichts erreichen auf dem Wege, auf dem heute notwendig etwas erreicht werden muß. Gewiß, ich werde demnächst die «Kernpunkte» auch so erscheinen lassen, daß ich in einer besonde­ren Vorrede auf einem Bogen kurz dasjenige zusammenstelle, was in den «Kernpunkten» enthalten ist. Aber dann soll es nur dienen als eine Art von Vorbereitung, die den «Kernpunkten» voran-gedruckt ist, gewissermaßen um vorzubereiten für das Lesen der ganzen Schrift. Aber wer glaubt, er könne auf noch weniger Seiten [als in der Vorrede] dasjenige verstehen, was heute notwendig ist, der hat eben kein Herz für das, was heute wirklich geschehen muß. Das ist es, was zuallererst zu bedenken ist, wenn wir es ernst meinen mit dem, was wir die Propagandafrage nennen können.

Denn nehmen Sie die konkrete Tatsache: Unsere Zeitschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus» hat bis jetzt neunund­vierzig Nummern. Neunundvierzig Nummern! Nehmen Sie diese neunundvierzig Nummern, lesen Sie sie der Reihe nach durch, und Sie werden sehen, wieviel wir da im Grunde genommen zusam­mengetragen haben von alledem, was für die Menschheit zunächst notwendig ist zu wissen über die Dreigliederungsfrage. Neunund-vierzig Nummern haben wir erscheinen lassen. Da steht wirklich schon alles drinnen, was zunächst notwendig ist zu wissen. Aber man verlangt von uns immer noch Auskunft über diese oder jene

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Frage. Und was müssen wir uns heute sagen? Wir haben im Grun­de genommen diese neunundvierzig Nummern der «Dreigliede­rung» geschrieben, aber das ganze Material ist vorläufig verpufft. Stehen wir da nicht fast vor der Notwendigkeit, daß wir nun wie­derum mit unserer Zeitschrift von Anfang anfangen müssen, daß wir Nummer eins und die folgenden Nummern genauso erscheinen lassen müssen, wie sie erschienen sind? Nachdem im Grunde ge­nommen vieles verpufft und gar nicht in die Köpfe hineingegangen ist von dem, was wir gesagt haben, soll uns immer wieder etwas Neues einfallen? Nun, gar zu viel Einfälle können sie schließlich doch nicht von uns verlangen, die Menschen draußen. Dasjenige, um was es sich handelt, wäre, zunächst die Dreigliederungsidee tatsächlich so, wie sie ist, zu propagieren. Dem steht natürlich unendlich viel entgegen, aber all dieses Viele liegt lediglich im menschlichen Willen. Es ist notwendig, daß die Seelen heute auf­wachen und daß man es ernst nimmt mit dem, um was es sich eigentlich handelt.

Sehen Sie, da ist eine Frage, an der sich heute die Menschen auch fortwährend vorbeidrücken. Es ist diejenige Frage, von der die «Kernpunkte» von Anfang an ausgegangen sind, auf der im Grun­de genommen die ganze Dreigliederungspropaganda beruhen muß

- nicht sachlich, aber in bezug auf das Wesen der Propagierung. Es ist die Erkenntnis, daß wir es in der sogenannten sozialen Frage heute wahrhaftig nicht zu tun haben mit dem, wovon die meisten Menschen reden. Die meisten Menschen fragen ja, indem sie von der sozialen Frage reden: Was soll man mit dieser oder jener Insti­tution machen? Was soll man auf diesem oder jenem Gebiet ein­richten? Wer so redet, hat überhaupt kein Verständnis für das, was in unserer Zeit vorgeht - aus dem einfachen Grund nicht, weil er nicht einsieht, daß Sie heute die glänzendsten Einrichtungen ma­chen können und daß Sie, wenn Sie sie gemacht haben, dann hin­terher trotzdem sehr bald genau dieselbe Agitation haben, wie Sie sie vorher hatten. Jetzt ist die Menschheitsverfassung so: Nehmen Sie zum Beispiel die jetzige Mehrheitssozialdemokratie, die eine lange Zeit Oppositionspartei war. In dem Augenblick, wo diese

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Mehrheitssozialisten zur Herrschaft kamen, bildete sich die soge­nannte Unabhängige Sozialdemokratische Partei. Würde diese zur Herrschaft kommen, so würde sich wiederum eine neue Opposi­tionspartei bilden, die Kommunisten. Würden diese zur Herrschaft kommen, so würde schon wieder eine neue Oppositionspartei da sein. Es handelt sich heute gar nicht darum, mit irgendwelchen Vorschlägen zu kommen für einzelne Einrichtungen, sondern es handelt sich darum, daß die soziale Frage heute eine richtige Menschheitsfrage ist, eine Frage des Menschenwertes und des Menschheitsbewußtseins.

Und man sieht das klarer, was die soziale Frage ist, wenn man einmal Umschau hält in Ländern, in denen noch nicht alles zusam­mengebrochen ist, sondern erst demnächst zusammenbrechen wird. Da gibt es auf der einen Seite die ehemals führenden Kreise. Diese Kreise sehen zunächst, daß alles Geschäftsleben stockt, daß sich in den Magazinen ungeheure Vorräte ansammeln, daß man nur noch mit Mühe soviel herausschlägt, um die Arbeiter zu bezahlen, und man macht sich Gedanken: Wenn die Sache so fortgeht, wird man die Arbeiter bald nicht mehr bezahlen können. Man wird aber auch nicht [die Waren] losschlagen können, die man in den Maga­zinen lagernd hat. Das alles sieht man ja, aber man denkt sich: Ein Wunder wird schon kommen, und dann wird es demnächst doch anders werden. Auf dieses Wunder wartet man, damit man nicht nötig hat nachzudenken, was man eigentlich tun soll. Auf der anderen Seite stehen diejenigen da, die eine ganz andere Sprache führen, die breiten Massen des Proletariats der zivilisierten Welt. Von dem, was unter diesen breiten Massen vorgeht, haben die eben charakterisierten führenden Kreise nicht die geringste Ahnung. Aber es ist in diesem Proletariat ein Wille vorhanden, ein Wille, der seine Fragen in Begriffe, in Ideen kleidet, und in dem Augenblick, wo diese verwirklicht werden, würden sie alles, was wir an menschlicher Zivilisation haben, zugrunderichten, alles, alles zu­grunderichten, alles hinwegfegen. Und die führenden Klassen denken sich, sie werden demnächst wieder zurückkehren können vielleicht zum Jahre 1913 oder Anfang 1914, um da wiederum anzufangen,

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wo sie damals aufgehört haben, und dann würden sich ganz willig aus diesen breiten Massen auch die Menschen finden, die wiederum so arbeiten, wie sie dazumal gearbeitet haben. Nein, wir haben es heute nicht zu tun mit einer Frage der Institutionen, sondern mit einer Menschheitsfrage. Und wir mussen einsehen, daß wir bei den führenden Klassen schon seit langer, langer Zeit eben nicht das geringste Verständnis gefunden haben für das, was ihre Aufgabe ist. Ja, glauben Sie denn, daß aus den Massen heraus sich überhaupt etwas anderes entwickeln wird als das, was wir hier in Stuttgart, wo wir mit der Dreigliederungspropaganda begonnen haben, zu unserem Entsetzen erleben mußten?

Sehen Sie, unter zwei Voraussetzungen hätte das, was wir im April vorigen Jahres begonnen haben, sehr gut seinen Fortgang nehmen können - unter zwei Voraussetzungen. Die eine wäre die gewesen, daß es gelungen wäre, ohne Berücksichtigung der prole­tarischen Führer die breiten Massen des Proletariats für eine ver­ständnisvolle Lebensauffassung zu gewinnen. Das war auf dem besten Wege. Auf der anderen Seite hätte es sich darum gehandelt, daß diejenigen, die einen gewissen Einfluß hatten innerhalb des Bürgertums, der Bourgeoisie, uns jetzt die Hand gereicht, uns Vertrauen entgegengebracht hätten und sich gesagt hätten: Da wird einmal der Versuch gemacht, eine Brücke zu bauen zwischen dem Proletariat und den anderen.

Was hätte geschehen müssen? Sie können sich denken, daß die Sache nicht leicht ist, denn zu alle dem, was heute so redet wie Stresemann oder dergleichen Leute oder was irgendwie in dem Geruch steht, nach jener Seite hinzuschielen, zu dem wird das Proletariat unter keinen Umständen jemals Vertrauen haben. Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, wir waren doch auf dem Wege, einfach durch Vernunftgründe zu dem Proletariat sprechen zu können. Und es wäre nur notwendig gewesen, daß uns von seiten der Bourgeoisie soviel Verständnis entgegengebracht worden wäre, daß man uns gesagt hätte: Gut, wir wollen versuchen abzuwarten, wozu ihr imstande seid. Wir wollen zugeben, daß unter uns selbst zahlreiche Leute sind, die nicht dieses Vertrauen gewinnen können,

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weil sie es sich verscherzt haben, aber man wird, wenn man so vorgeht, die Brücke schlagen können.

Was ist statt dessen geschehen? Die Leute, die solches Ver­ständnis hätten aufbringen sollen, die haben sich breitbeinig hingestellt und haben erklärt: Das sind ja Leute, die uns fast oder ganz nach dem Bolschewismus hinführen! Das sind ja Leute, die es alle nur mit dem Proletariat halten! - Nicht das geringste Verständnis konnte auf dieser Seite gefunden werden. Und unter solchen Verhältnissen konnten die Führer des Prole­tariats, mit denen man nichts zu tun haben durfte, leicht dann dieses Proletariat wiederum uns entfremden. Das ist es, was dazumal die Sache scheitern machte.

Und auch alles das, was wir tun könnten mit Bezug auf Propa­ganda, das würde wiederum scheitern müssen, wenn zum Beispiel die Ansicht vordringen würde: Ja, was in der Dreigliederungszei­tung steht, ist ja zu schwer verständlich. Wenn mir einer das sagt, dann betrachte ich es als meine Aufgabe, ihm in aller Höflichkeit

- höflich muß man ja gewöhnlich mit solchen Leuten sein -, ihm in aller Höflichkeit klarzumachen: Gerade weil man solange immer gesucht hat, das unverständlich zu finden, was aus der wirklichen Lebenspraxis heraus ist und immerfort gefordert hat: Ihr solltet auf ein anderes Niveau heruntersinken, um zu schreiben, - deshalb haben wir das Elend. Und du bist der Repräsentant derjenigen, die uns in das Elend hineingebracht haben. Indem du forderst, mari solle nach dem Verständnis schreiben, das dir zum Munde gewach­sen ist, zeigst du dich eben als ein Schädling aus dem Kreise der­jenigen, die uns in die heutige Situation hineingebracht haben. -Solange wir nicht in der Lage sind - in aller Höflichkeit selbstver­ständlich, wenn es sich um einen einzelnen Fall handelt -, solange wir nicht in der Lage sind, genügend Menschen zu finden, die das Herz dazu haben, endlich zu sagen: Es muß ein neuer Morgen kommen mit neuen Leuten; es muß hinweggefegt werden alles das, was von diesen schrecklichen alten Parteien da ist; es muß etwas ganz Neues entstehen! - solange ist alles Reden über die wirksam­sten Propagandamittel einfach für die Katz.

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Wir leben heute nicht in einer Zeit, in der die kleinlichen Mittel irgendwie verfangen, sondern wir leben in einer Zeit, in der es dringend notwendig ist, daß eine genügend große Anzahl von Menschen von gleicher Sprache und gleichen Gedanken sich ein­setzen, nicht nur sich begeistern. Ich glaube, meine verehrten An­wesenden, mancher fragt sich, warum es denn eigentlich so in cre­scendo geht, daß in immer stärkeren und stärkeren Worten gespro­chen wird, namentlich auch von mir. Nun, das hat einen sehr ein­fachen Grund. Denken Sie doch nur einmal: Wenn man die Veran­staltungen dazu getroffen hat, daß ein Teil der Menschheit wach werden soll, und wenn man merkt, wie immer mehr Menschen sanft entschlummern, dann erhöht sich bei dem, was man zu sagen hat, in demselben Maße auch die Stimme, weil man das instinktive Bedürfnis hat, das Schlafbedürfnis seiner Mitmenschen zu über­winden. Und in bezug auf das notwendige Auffassen der sozialen Fragen der Gegenwart können wir wahrhaftig nicht sagen, daß das Schlafbedürfnis unserer Mitmenschheit in der letzten Zeit geringer geworden ist. Man faßt ja sogar innerhalb unserer Bewegung die Sache am allerallerverkehrtesten Ende an. Ich habe neulich einen Vortrag gehalten über die Idee der Dreigliederung, über die Not­wendigkeit, das Geistesleben auf seine eigene Basis zu stellen. Es wurde mir in einer außerordentlich gutmütigen, gutmeinenden Weise erwidert: Hier bei uns ist es eigentlich nicht nötig, daß man sich über die Unfreiheit des Geisteslebens beklagt; wir haben einen hohen Grad von Freiheit des Geisteslebens; uns spricht der Staat sehr wenig eigentlich in dasjenige hinein, was wir auf dem Gebiete des Schulwesens unternehmen.

Meine sehr verehrten Anwesenden, die Leute, die so sprechen, sind das beste Zeugnis dafür, wie notwendig die Befreiung des Geisteslebens ist. Denn diejenigen, die noch spüren, wie unfrei sie sind, das sind die, die man noch besser brauchen kann. Diejenigen, die es aber nicht einmal mehr spüren, wie unfrei sie sind, die die schon in ihre Köpfe hineingetrichterten staatspädagogischen Ideen für ihre eigene innere Freiheit halten und keine Ahnung haben, wie weit die volkspädagogische Sklaverei geht, das sind diejenigen, die

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eigentlich alles aufhalten. Man muß die Sache eben gerade am rech­ten Ende fassen können. Diejenigen, die unbewußt Sklaverei für Freiheit halten, das sind diejenigen, die uns natürlich nicht vor­wärtskommen lassen. Und so muß man sagen: Es handelt sich darum, vor allen Dingen einzusehen, daß alles gegenseitige Ver­ständnis verlorengegangen ist zwischen den breiten Massen und denjenigen, die durch lange Zeiten hindurch die Aufgabe gehabt hätten, so zu sprechen in der Welt, daß diese breiten Massen heute nicht in ihren Zeitungen und so weiter diejenigen Ansichten ver­treten, die sie eben vertreten. Man darf namentlich nicht glauben, daß irgendein [wirkliches Geistesleben] aus der breiten Masse des Proletariats kommt.

Ich habe neulich zu Pfingsten in einem anderen Lande eine so­zialistische Zeitung gelesen. Da standen die kuriosesten Pfingst­artikel, da wurde alles, alles vom Geist abgewiesen und darauf hin­gewiesen, daß der einzige Geist derjenige sei, der aus den breiten Massen herauskomme. Durch diese Pfingstartikel einer sozial­demokratischen Zeitung mit bolschewistischem Anstrich fühlt man sich so [in ein Bild] versetzt, daß man sich sagt: Jetzt sollte ich irgendwo abfangen diesen Geist, der da wie ein Rauch aufsteigt aus den breiten Massen. - Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn man sich dann anschickt, irgend etwas nur zu denken, geschweige denn zu erfassen von diesem Geist der breiten Massen, dann hat man doch das Gefühl: Das ist ein viel schlimmerer Aberglaube als jener Aberglaube, der in jedem Strauche, in jedem Baum irgend­einen Dämon oder eine Elfe oder dergleichen sieht. Die modernen Menschen haben ja keine Ahnung, in welchen Formen des Aber­glaubens sie eigentlich in Wirklichkeit leben. Und worauf kommt das denn schließlich hinaus? Sehen Sie, es kommt darauf hinaus, daß die Menschen durchaus zu bequem sind, daran zu denken, wie ein neues Geistesleben wirklich gebaut werden muß. Sehen Sie, das hat man nun seit Jahrzehnten gründlich erleben können. Kommt man dann an die Menschen heran mit der Zumutung, daß jetzt ein neues Geistesleben gebaut werden muß, ja, dann findet man allen­falls Menschen, welche sich entschließen, daß sie außer dem, was

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sie sonst im Leben treiben, noch für den Sonntagnachmittag oder für den Zweigabend oder für die Zeit, in der sie gerade anthropo­sophische Bücher lesen, sich widmen dieser neuen Geistesbewe­gung. Aber daß sie einen Zusammenhang suchen würden zwischen dieser neuen Geistesbewegung und demjenigen, was sie sonst im Leben treiben, dazu können sie sich doch nicht entschließen.

Aber auch zahlreich, ganz zahlreich sind die anderen Menschen, die da kommen und sagen: Ja, was du da willst, das wollen ja im Grunde genommen die besseren Katholiken und die besseren Evangelischen auch; da war ein Pastor, der hat von der Kanzel ganz im anthroposophischen Sinne gesprochen; im Grunde genommen findet man alles das, was du da willst, auch da und dort. - Die Leute, die Kompromisse schließen wollen bis zu dem Grade, daß sie eigentlich die Anthroposophie untergehen lassen möchten in dasjenige, was die Menschen gewohnt sind, die findet man schon sehr zahlreich. Die Menschen, die gegenüber dem, was gewollt werden muß, gerade im Sinne des gestrigen öffentlichen Vortrages, doch auch dem Grundsatz huldigen: «Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht einen Tropfen naß» - diese Menschen sind heute ganz besonders zahlreich. Und solange wir nicht die Möglichkeit gewinnen, in möglichst viele Köpfe hinein das Bewußtsein zu brin­gen, daß vor allen Dingen ein neues Geistesleben notwendig ist -ein Geistesleben, das durchgreifend ist -, solange kommen wir nicht vorwärts. Wenn wir dieses neue Geistesleben haben, wenn wir nicht mehr genötigt sind, zu kämpfen mit den unverständigen Intellektuellen, dann werden wir wiederum etwas haben, was sprechen kann zu den Menschen so, daß das Sprechen soziale Tat­sachen bewirken kann.

Meine sehr verehrten Anwesenden, die Menschen sollten sich nur einmal die Vorstellung machen, was das Wort für eine Wirkung ha­ben kann. Sie sehen heute über die ganze zivilisierte Welt hin, soweit sie zugänglich ist, wenn Sie in der Eisenbahn oder im Auto fahren, uberall Dörfer und Städte, und in diesen Dörfern und Städten sehen Sie Kirchen, Kirchen, die gebaut worden sind. Diese Kirchen waren alle nicht da vor einer gar nicht zu langen Zeit. In den ersten Jahrhunderten

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unserer christlichen Zeitrechnung war in diesem heute mit Kirchen besäten Europa etwas ganz anderes da. Und wenige wa­ren es damals, die unter die Menschen getreten sind, allerdings unter eine frischere, weniger schlafende Menschheit, und diese wenigen, die haben es aus ihren Worten heraus bewirkt, daß heute Europa diese Gestalt hat. Hätten die Menschen, die das bewirkt haben, die­selbe Gesinnung gehabt etwa, wie sie diese Dutzendführer unserer sämtlichen vierzehn Parteien haben - es wären ganz gewiß vielleicht nicht einmal ein Dutzend Kirchen gebaut worden. Es ist doch die innere Kraft des Geistes, welche die sozialen Tatsachen schaffen muß. Aber dann muß diese innere Kraft des Geistes eben getragen sein von Menschen, die wirklich den Mut haben, sie zu tragen. Und heute stehen wir einmal vor der Tatsache, daß das alte Geistesleben, das dazumal begründet worden ist in seinem Inhalte, sich nur auf­rechterhalten kann durch Gewaltmaßregeln, durch Vorurteile, durch Gewohnheit, daß es aber im Grunde genommen, wenn die Menschen innerlich wahr und ehrlich sind, nicht aufrechterhalten werden kann, daß es ersetzt werden muß durch ein neues Geistes­leben; wir kommen gar nicht anders vorwärts als dadurch, daß wir es ersetzen durch ein neues Geistesleben. Jede Art des Kompromis­ses ist heute eine Unmöglichkeit. Und ehe man nicht einsieht, daß es notwendig werden muß, an die Stelle all dieser alten Dinge etwas ganz Neues zu setzen, das aber vom Geiste heraus die Kraft zur so­zialen Gestaltung entwickelt, eher kommen wir nicht weiter. Daher, meine sehr verehrten Anwesenden, betrachte ich es in einem gewis­sen Sinne als von sehr untergeordneter Bedeutung, ob man sich über die kleinen Mittel der Propagierung so oder so unterhält, ob man es so oder so macht, - es kann alles von einem gewissen Standpunkte aus sehr gut oder spottschlecht sein. Darum handelt es sich nicht, sondern darum handelt es sich - was ich immer wieder und wieder­um in unserer Dreigliederungszeitschrift ausgesprochen habe -, daß wir eine genügend große Anzahl von Menschen finden, welche unsere Ideen mutvoll zu vertreten entschlossen sind, welche ent­schlossen sind, nicht immer wieder und wiederum mit dem Schlendrian des Alten zu kommen.

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Jetzt, meine sehr verehrten Anwesenden; stehen wir mitten drin­nen in Gründungen, die eben zusammengefaßt sind unter diesem «Kommenden Tag». Was mir dabei am meisten auffällt, ist, daß doch immer wieder gutmeinende Menschen kommen und sagen: Ja, eigentlich muß man das ganz anders machen, da mußt du einen Fachmann berufen, da mußt du einen Praktiker berufen. - Es ist das Jammervollste, was man erlebt, wenn man dann einmal einem solchen Ansinnen nachgibt. Denn aus solchem Ansinnen geht eigentlich hervor, daß versucht wird, den alten unpraktischen Schlendrian auch wieder zu uns hineinzuverpflanzen. Nicht darum handelt es sich, daß wir die alten sogenannten Praktiker in unsere Institution hineinverpflanzen, sondern daß wir uns klar sind: Die­jenigen, die auf irgendeinem Gebiet unter Umständen den besten Ruf heute haben, indem sie die alte Routine zu handhaben wußten, sind für uns am wenigsten zu gebrauchen. Und diejenigen sind am besten zu gebrauchen, die bereit sind, neue Arbeit zu leisten aus unmittelbarster, innerster Initiative heraus, und die sich nichts ein-bilden auf dasjenige, was sie aus den alten Verhältnissen heraus gelernt haben. Ohne daß wir ablegen diese Einbildung auf das, was noch aus den alten Verhältnissen herausgeholt ist, ohne das kom­men wir auf keinen Fall weiter. Das ist es, was wir heute durch­schauen müssen. Und schließlich sage ich Ihnen: Propagieren wir vor allen Dingen dasjenige, was nun wirklich seit mehr als Jahres-frist versucht worden ist zu schaffen. Man sollte nicht immerfort versuchen, superklug zu sein, indem man doch nur das Alte um­biegen will, um es in irgendeine andere Form zu bringen, und sich dabei - verzeihen Sie den Ausdruck - die Finger ableckt, wie gescheit man ist, und glauben: die fangen alles unpraktisch an, da muß das oder das gemacht werden.

Man versuche nur einmal, [sich vor Augen zu halten,] was es heißt, daß neunundvierzig Nummern der Dreigliederungszeitung verpufft sind. Warum sind sie verpufft? In Wirklichkeit müßte heute die Dreigliederungszeitung soweit sein, daß wir sie jeden Tag als Tageszeitung erscheinen lassen könnten. Warum sage ich das? Weil ich tatsächlich auch heute auf dem gleichen Standpunkte stehen

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muß wie im April und Mai vorigen Jahres, als wir diese Sache begonnen haben. Glauben Sie, es wäre eine Redewendung gewesen, es ware ein Phrase gewesen, daß ich eine große Anzahl von Reden dazumal mit den Worten geschlossen habe: Man entschließe sich zu irgend etwas, bevor es zu spät ist! - Dazumal handelte es sich darum, daß man für gewisse Dinge den richtigen Zeitpunkt zu erkennen hatte. Für viele Dinge ist es heute einfach zu spät. Heute können wir auf den Wegen, auf denen wir dazumal alles mögliche versuchten, selbstverständlich nicht weiterkommen. Es handelt sich heute gar nicht darum, daß wir uns irgendwie noch einlassen auf eine Diskussion mit all den alten Ladenhütern, seien es die der Bekenntnisse, seien es die der Parteien. Heute handelt es sich dar­um, daß wir ganz fest auf dem Boden desjenigen stehen, was wir zu sagen haben und es in möglichst viele Köpfe hineinbringen. Anders kommen wir nicht vorwärts. Denn es ist für vieles eben einfach zu spät geworden. Und es wird auch unter Umständen recht bald zu spät sein für manches, was noch geschehen kann, namentlich für die Verbreitung unserer Ideen, wenn wir immer wieder und wie­derum nur auf irgendwelche Nebensachen bedacht sind und nicht auf die Hauptsache gehen: auszubreiten unsere Ideen.

Ich sagte vorhin: Das, was wir begründeten als den Kommenden Tag, das kann ja im Grunde genommen nur ein unbefriedigendes Surrogat sein. Warum denn? Weil wir eben uns keine Illusionen vormachen, daß wir praktisch sein können, ohne auf praktische Taten uns zu stützen. Wir versuchen, wirtschaftlich tätig zu sein, aber da kommen dann die Leute und fragen einen: Ja, wie muß man denn einen Gewürzkrämerladen einrichten, damit er sich möglichst gut in den dreigliedrigen sozialen Organismus hineinstellt? - Ge­wiß, wir wollen in dem Kommenden Tag wirtschaftliche Unter­nehmungen begründen, aber da handelt es sich darum, daß man sie wirklich praktisch anfaßt. Und wie sollte man heute praktisch die Sache anfassen, wenn man sich sagen muß: Wirtschafte ich mit einer bestimmten Sorte von Unternehmungen, so muß ich, damit ich da rationell wirtschaften kann, auch eine andere Gruppe von Unternehmungen haben - zum Beispiel zu einer bestimmten

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Gruppe von industriellen Unternehmungen muß ich eine bestimm­te Gruppe von landwirtschaftlichen Unternehmungen haben. Ja, können Sie denn das? Das ist ja heute alles unmöglich. Der Staat macht es Ihnen ja unmöglich, eine solche praktische Einrichtung zu treffen. So groß ist heute ja die Gewalt des Staates. Nicht darum handelt es sich, daß Unpraxis vorliegt, sondern daß Gewalt auf der anderen Seite die Sache unmöglich macht.

Daher sollten diejenigen Menschen, die nun tatsächlich auf ir­gendeinem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens stehen, doch heute wahrhaftig nicht über untergeordnete Fragen sich unterhalten, son­dern sie sollten sich darüber unterhalten, wie die verschiedenen wirtschaftlichen Berufsstände, die wirtschaftlichen Assoziationen überhaupt loskommen von dem, was politischer Staat ist, wie sie sich aus ihm herausschälen können. Solange zum Beispiel die Tech­niker, solange diese und jene Leute nichts anderes denken, als Ein­richtungen zu treffen, die am besten hineinpassen in das gegenwär­tige Staatsleben, solange kommen wir keinen Schritt weiter. Erst dann kommen wir vorwärts, wenn darüber diskutiert wird: Wie kommen wir los? Wie gründen wir ein wirklich freies Wirtschafts­leben, in dem nicht organisiert wird von oben herunter, sondern assoziiert wird, wo sich Berufsstände an Berufsstände sachlich angliedern? Es ist ja noch nicht einmal das allererste ABC von der Dreigliederung in den praktischen Diskussionen drinnen, sondern immer wieder wird unter der Rücksichtnahme auf die gegenwärti­gen Verhältnisse weiter gequacksalbert und herumgeredet. Aber all dieses Herumreden führt zu nichts heute. Erwehren wir uns der Leute, die immer wieder und wiederum sagen: Wie ist es denn mit dem und jenem? - Wir werden erst anfangen, vernünftig reden zu können, wenn wir ein Stück weiter sind in der Dreigliederung, wenn wir wirklich so drinnenstehen in dieser Propaganda für die Dreigliederung, daß eine genügend große Anzahl von wirtschaften-den Menschen wissen: Wir können überhaupt nichts Vernünftiges reden, solange wir noch immer darauf kalkulieren, daß uns das Wirtschaftsleben durch Staatseinrichtungen gemacht wird. Nur in dem Maße, in dem man drinnensteht in einem freien Wirtschaftsleben,

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das nichts zu tun hat mit Politik, kann man erst vernünftig reden - vorher ist es Unsinn. Ebenso kann man nicht über Re­formen des Geisteslebens sprechen, solange man sich nicht klar ist, daß man überhaupt nicht anfangen kann, darüber sich zu unterhal­ten, ehe man nicht in einer freien geistigen Organisation drinnen-steht. Man muß sich wenigstens bewußt sein: Solange man in einer geistigen Organisation drinnen ist, die vom Staate abhängt, solange muß man Unsinn reden, solange kann man nicht reformieren. Sehen Sie, damit ist scharf der Punkt bezeichnet, auf den es an­kommt. Es handelt sich nicht um Kleinigkeiten, sondern um Gro­ßigkeiten. Und je mehr man das einsehen wird, desto mehr wird man gerade auf dem Gebiete der Lebenspraxis erreichen.

Sie werden sagen: Was haben wir nun, wenn eine solche Philip­pika gehalten wird über die Frage, wie sollen wir Propaganda trei­ben? Aber wenn Sie überlegen, was ich gesagt habe, so werden Sie doch finden, daß, solange man sich auch in unseren Kreisen unter­hält über die kleinste Art und Weise der Propaganda - ich möchte das nennen eine «Siebenundzwanzig Kreuzer»-Propaganda, wie man in Österreich sagt, weil man dort einmal Geschäfte gegründet hatte, wo jeder Artikel für siebenundzwanzig Kreuzer zu haben war -, solange werden wir nicht weiterkommen. Wir werden dann erst weiterkommen, wenn man Herz und Sinn hat für die großen, treibenden Kräfte, denn auf diese großen, treibenden Kräfte kommt es heute an.

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, ich habe schon vieles vergeblich geredet in der Richtung hin, daß es auf die großen, trei­benden Kräfte ankommt. Aber ich werde nicht müde werden, doch in der Hauptsache wiederum ablehnend zu sein gegen alles das­jenige, was heute Kompromisse schließen und im Kleinlichen auf­gehen möchte. Ich werde nicht müde werden, immer wieder und wiederum hinzuweisen darauf, wie es notwendig ist, heute die gro­ßen weltbewegenden Fragen wirklich zum Verständnis der breite­sten Massen zu bringen. Deshalb fühle ich mich auch immer genö­tigt, die öffentlichen Vorträge in dem Stile zu halten wie gestern und zu trotzen all den superklugen Leuten, die sagen, man müßte

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verständlicher zur großen Masse reden. Sie meinen damit gewöhn­lich nur sich selbst, ihr eigenes Niveau. Ich werde immer die An­schauung vertreten: die Menschen, die so reden, das sind gerade die Schädlinge, das sind die, die wir überwinden müssen.

Und dazu müssen wir kommen, den Mut zu haben, uns zu sa­gen: Ja, es muß etwas ganz Neues begründet werden. Es ist so, wie ich neulich in unserer Zeitschrift geschrieben habe, daß die alten Parteien im Grunde genommen gar nicht mehr da sind, daß sie nur noch als Lüge und Phrase da sind und aus Leuten bestehen, die, weil sie nichts Neues wissen, mit den Schlagworten der alten Parteien sich drapieren. Das ganze [Parteien-]Getriebe, auch der letzten Tage, beweist gerade, wie sehr in radikalster Beziehung ein Neues notwendig ist.

Nach den Ausführungen von Rudolf Steiner melden sich verschiedene Persönlichkeiten mit Diskussionsbeiträgen und Fragen zu Wort:

Sie gfried Dorfner: Was sich da in den letzten Tagen abgespielt hat, macht es offenkundig: Was von den Parteien kommt, ist nichts als kleinlicher Unsinn. Nötig ist eine grundsätzliche Kritik der ganzen bisherigen Politik der Parteien. Es geht um die Propagierung des Wahrhaftigen. In dieser Beziehung ist die kompromißlose Haltung der Jesuiten bemerkenswert. Die verkünden: Auch wenn noch so viele Gläubige sich von der Kirche abwenden, so ist doch das Wichtige, daß nicht eine einzige Wahrheit ver­lorengeht. Nur auf die Aufrechterhaltung der Wahrheiten kommt es den Jesuiten an, auf nichts anderes sonst. Müßte man nicht auch in bezug auf die Propagierung der Dreigliederung eine ähnliche Haltung einnehmen? Man kann ja nicht mit dem Denken der Menschen rechnen; in den Massen ist kein Denken vorhanden. So muß irgendwie aus dem Leben heraus ein Weg gefunden werden. Man muß zu den Menschen, die an der Maschine stehen, sprechen. Man kann auf ihr Vertrauen zählen, aber nur solange man selber in der gleichen Klasse steht.

Herr Roser: Die Wirkung geht tatsächlich nur vom Menschen zum Men­schen. Die Menschen wollen den Dreigliederungsgedanken nicht in einer Zeitung lesen; sie wollen ihn aus persönlichen Beziehungen heraus erfah­ren. Es ist jetzt ein Jahr her, da bemühte man sieh um die Verwirklichung

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der Dreigliederungsidee. Wenn damals jemand versagte, so war es die bür­gerliche Klasse; sie ist dafür verantwortlich, daß die Dreigliederungsbemü­hungen fehlschlugen. Man kann nicht den Verhältnissen die Schuld geben; sondern es sind immer die Menschen, die versagen.

Ein Diskussionsteilnehmer: Wie stellt sich Herr Dr. Steiner, wie stellt sich die Dreigliederung zum Syndikalismus?

Ein anderer Diskussionsteilnehmer: Ich möchte fragen, wie es von Herrn Dr. Steiner gedacht ist, daß von der Organisation «Der Kommende Tag» aus die Dreigliederung weiter um sich greifen kann?

Georg Herberg: Zunächst zur Frage der richtigen Propaganda. Man muß praktische Lösungsvorschläge aus der Sicht der Dreigliederung ausarbeiten, zum Beispiel zur Kleidungs- und Wohnungsfrage, damit das Volk eine praktische Handhabe hat. Für die Lösung der Wohnungsfrage sind eigent­lich die Regierungsbaumeister, die Diplomingenieure verantwortlich. Aber da stellt sich ein anderes wichtiges Problem: Es ist das Mißverhältnis zwi­schen Technikern und Juristen, das in unserer Gesellschaft herrscht. Die Juristen nehmen die führenden Stellungen ein; sie sind maßgebend für die politischen Entscheide. Von ihnen kommen die klangvollen Worte, von ihnen ertönt das erbauliche Sagen. Das, was von den Juristen, und das, was von den Technikern repräsentiert wird, muß zusammenwachsen. Der Kreislauf zwischen Erzeugung, Verkehr und Verbrauch der Waren muß ja auch geschlossen sein; und es ist der Techniker, der für das Gebiet der Erzeugung zuständig ist. Um die Interessen und Aufgaben der Techniker in der Gesellschaft richtig wahrnehmen zu können, müßte ein «Akademi­kerbund für Techniker» ins Leben gerufen werden.

Robert Wolfgang Wallach: Es ist im Grunde deprimierend, daß es im Zusammenhang mit der Dreigliederung überhaupt eine Propagandafrage gibt. Wir müßten diese Idee doch so lebendig in uns tragen, daß wir un­mittelbar zu den Menschen wirken könnten, einfach dadurch, daß wir den Mensch im Menschen ansprechen. Der Straßenkehrer braucht den Haus­herrn, und der Hausherr braucht den Straßenkehrer; beide sind aufeinander angewiesen. Es sollte deshalb nicht mehr vorkommen, daß der Straßen­kehrer den Hausherrn scheel ansieht und umgekehrt.

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Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Es ist in die­ser Diskussion leider allzuwenig gesprochen worden über die eigentliche Dreigliederungsidee, sondern nur über manches andere. Ich möchte doch ein wenig zurückführen auf die Dreigliederungs-idee und auf das, was damit zusammenhängt, indem ich einzelne Fragen, die behandelt worden sind, herausgreife und dadurch wiederum auf den Vortrag zurückkommen werde.

So ist die Frage gestellt worden, wie ich mich zum Syndikalis­mus stelle oder wie die Dreigliederung sich dazu stellt.

Sehen Sie, wir haben versucht - wahrhaftig - uns zu den ver­schiedensten Strömungen zu stellen. Ich selbst würde auch heute noch dasjenige sagen müssen, was ich oftmals über den Syndikalis­mus gesagt habe, daß ja in gewissen syndikalistischen Kreisen ein Bewußtsein davon lebt, wie sehr der Zusammenschluß der einzel­nen Berufsstände, der einzelnen Berufszweige und so weiter, also der syndikalistische Gedanke, ein gewisser Weg sein kann, wenig­stens im Wirtschaftsleben zu einem Fruchtbaren zu kommen. Alles das will ich durchaus anerkennen, zum Beispiel auch, daß der Syn­dikalismus in einem weniger sklavischen Verhältnis zum Staatsge­danken steht als zum Beispiel der gewöhnliche marxistische Sozia­lismus. Auch das will ich durchaus anerkennen und habe es oftmals anerkannt. Allein ich möchte sagen: All diese Richtungen - ich sage nicht der Gegenwart - all diese Richtungen gehören ja nicht der Gegenwart, sondern der Vergangenheit an und ragen nur deshalb noch in die Gegenwart hinein, weil die Leute, die sich früher so [nach irgendeiner solchen Richtung] genannt haben, durchaus nicht umlernen können. Man kann sagen, eigentlich haben schon die ganzen Parteischablonen ihre Bedeutung gegenüber den Verhält­nissen der Gegenwart verloren. Nur die Menschen, die früher zu diesen Dingen gehörten, die durch diese Parteischablone charakte­risiert werden, sie haben sich noch nicht dazu bequemt, sich mit etwas anderem zu bezeichnen als mit [den Namen der] alten Par­teischablonen. Sehen Sie, es hatte einen gewissen Sinn bis zum Jah­re 1914, daß sich die Leute mit einem solchen Namen benennen, wie sich zum Beispiel heute noch Herr von Heydebrand «und der

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Lasa» nennt und so weiter. Aber heute hat es keinen Sinn mehr. So hat auch heute das Festhalten an solchen vergangenen Dingen, wie der Syndikalismus ist, keine rechte Bedeutung mehr.

Und solange der Versuch gemacht werden konnte, an die Men­schen heranzukommen, von denen man glauben konnte, daß ihr Gehirn noch «weich» genug ist, um über diese alten Parteischablo­nen hinwegzukommen, solange ist er gemacht worden. Aber man muß da von den Verhältnissen etwas lernen. Und heute ist es wirk­lich dringend notwendig, daß man von den Verhältnissen etwas lernt. Und so muß ich sagen, ich empfinde heute gar nicht mehr die Gewalt der Frage «Wie stelle ich mich zum Syndikalismus?», son­dern ich erkläre Ihnen: Ich habe versucht, mich auch zum Syndi­kalismus zu stellen, das heißt innerhalb des Syndikalismus Leute zu finden, die fähig wären, durch ein noch «weiches» Gehirn die Dreigliederung zu begreifen - aber auch das war vergeblich. Daher muß heute so geredet werden - wie ich es heute Abend getan habe -, daß es sich darum handelt, auf dem festen Boden der Drei-gliederung zu stehen und sich nicht zu kümmern um das andere. Denn es handelt sich heute darum, daß wir eine genügend große Anzahl von Menschen finden müssen, die die Dreigliederung ver­stehen; ob sie nun aus diesem oder jenem Lager kommen, aus dem syndikalistischen oder aus einem anderen, das ist uns ganz gleich­gültig. Wir kümmern uns heute nicht mehr darum, wie die Drei-gliederung zu den Syndikalisten steht, sondern wir warten es ab, wie sich die Syndikalisten zur Dreigliederung stellen wollen. Im Verlauf des letzten Jahres haben wir gelernt, daß alles andere etwas Vergebliches ist, und heute kann nur derjenige wirken, der etwas lernen kann.

Dann ist die Frage gestellt worden, wie es gedacht ist, daß von der Organisation «Der Kommende Tag» aus die Dreigliederung weiter um sich greifen kann.

Da bitte ich Sie doch, gerade bei einer solchen Einzelfrage ins Auge zu fassen, daß die Dreigliederungsidee ihrer ganzen Anlage nach etwas durchaus Praktisches ist und nicht in irgendeinem blauen Nebeldunst schwimmt, sondern daß es sich um etwas Konkretes

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handelt. Der Kommende Tag ist gegründet worden, weil eingesehen worden ist, daß das heutige, gewöhnliche Bankwesen im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich ein schädigendes Element geworden ist in unserem Wirtschaftsleben. Darauf habe ich bei meiner letzten Anwesenheit auch an einem Studienabend hingewie­sen. Ich habe gezeigt, daß etwa seit dem ersten Drittel des 19. Jahr­hunderts das Geld im Wirtschaftsleben der modernen Zivilisation eine ähnliche Rolle spielt wie die abstrakten Begriffe in unserem Denken, daß es allmählich ausgelöscht hat alles konkrete Streben, daß es wie ein verdeckender Schleier sich hinüberlegt über das, was sich in wirtschaftlichen Kräften ausleben muß. Und daher entsteht heute die Notwendigkeit, etwas zu begründen, was nicht bloß eine Bank ist, sondern was die wirtschaftlichen Kräfte so konzentriert, daß sie zu gleicher Zeit Bank sind und zu gleicher Zeit im Konkre­ten wirtschaften. Also es besteht die Notwendigkeit, etwas zu be­gründen, was zusammenfaßt wirklich konkretes Wirtschaften und die Organisation dieser Wirtschaftszweige, so wie sonst in einer Bank das Wirtschaftsleben zusammengefaßt wird, aber ohne auf wirtschaftliche Verhältnisse Rücksicht zu nehmen, nur in abstrak­ter Weise. Das heißt, es wird hier im Kommenden Tag praktisch versucht, zu überwinden die Schäden des Geldwesens.

Wir erleben es heute, daß allerlei Leute, Gesell und andere - es gibt ja sonderbare «Gesellen» des Lebens - heute herumtanzen und vom freien Gelde reden. Das sind Utopisten. Das sind Abstraktlin­ge. Um was es sich handelt, ist, daß man durch eine Erkenntnis des praktischen Lebens darauf kommt, wo eigentlich die Schäden liegen. Und ein Schaden liegt darin, daß sich das Bankwesen wirt­schaftlich so gestaltet hat, wie es heute ist. Im wirtschaftlichen Leben steht heute das Bankwesen so drinnen, wie die Gedanken im Seelenleben eines Menschen drinnenstehen, der alles gleich in Ab­straktionen umsetzt und der sich nicht um einzelne konkrete Dinge kümmert, mit denen man es zu tun hat, sondern alles in hohe Abstraktionen umsetzt. Der Mensch, der alles in hohe Abstraktio­nen umsetzt - und das sind die meisten heutigen Menschen -, ein solcher Mensch kommt niemals zu einer wirklichen Erfassung der

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Wirklichkeit. Sehen Sie, solche Abstraktionen können Sie heute an ledem Sonntag auf jeder Kanzel hören. Solche Abstraktionen, bei denen sich die Leute, weil sie sich herausträumen können aus dem Leben für einen Sonntagnachmittag, so ungeheuer wohl fühlen, haben nichts mehr zu tun mit dem Leben. Und dasselbe, was für das einzelne Seelenleben die wesenlose Abstraktion ist, die sich hinauf in ein Wolkenkuckucksheim flüchtet, das ist für das wirt­schaftliche Leben das bloß im Geld sich auslebende Bankwesen.

Deshalb konnte man, indem man einen Versuch im Kleinen machte - der hoffentlich ins ganz Große sich auswächst -, die Dinge so gestalten, daß man gewissermaßen zurückführt das Geld zur Wirtschaft und die Wirtschaft hinaufführt zum Geld, so daß das Geld wiederum etwas ist, was zur Erleichterung und zum In-Bewegung-Bringen des Wirtschaftens dient. Wie unsere Gedanken nicht dazu dienen sollen, uns in abstrakte Höhen zu erheben und uns wohl dabei zu fühlen, sondern dazu, daß wir die konkreten Tatsachen des Lebens in Bewegung bringen, so handelt es sich darum, daß wir das Geld hineinstellen ins wirkliche Wirtschafts­leben. Wir wollen Wirtschaftszweige betreiben und nicht uns hin­einsetzen in eine Bank und nur Geldgeschäfte machen, denn Geld­geschäfte an sich sind der größte Schaden unseres Wirtschafts­lebens seit dem 19. Jahrhundert und dem Beginn des 20. Jahrhun­derts. Also, mit dem Kommenden Tag ist einfach eine praktische Idee aufgegriffen. Und ehe man nicht einsehen wird, daß es sich hier darum handelt, Ideen ganz praktisch zu denken bis ins Ein­zelnste, wird man auch nicht den Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus verstehen.

Und nun möchte ich aufmerksam machen auf etwas, was ein wenig zusammenhängt mit dem ganzen Ton, den ich heute anzu­schlagen versuchte, auf eine Seite, auf die Herr Dorfner hingewie­sen hat - auf die Jesuiten. Da findet man, wenn auch für eine Sache, mit der ich nun wahrhaftig nichts zu tun haben will, eine wirksame Art, die Dinge zu vertreten. Sie können immer wiederum hören von jener Seite: Und wenn Tausende und Tausende unserer An­hänger abfallen, wenn wir Tausende und Tausende verlieren, so

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macht uns das nichts. Es würde uns erst etwas machen, wenn wir eine einzige Wahrheit verlören! - Immer wieder und wiederum können Sie das hören von jener Seite, auf die Herr Dorfner hinge­wiesen hat: Mögen abfallen Tausende und Tausende von Anhän­gern, aber es darf nicht eine einzige Wahrheit verloren gehen. -Daß da, wo so gesprochen wird für eine Sache, mit der ich wahr­haftig nichts zu tun haben will, eine wirksame Art für Propaganda vorliegt, das könnte man einsehen. Also man könnte sich stellen auf den Boden: Nichts ist es, viele Anhänger zu haben, aber alles ist es, auf dem Boden seiner Wahrheiten stehen zu können, ohne Kompromißbildung, ohne irgendwo hinzuschielen [und zu den­ken], kriegst du den auch, mußt du dem ein bißchen schöntun. Um diese Art der Propaganda handelt es sich bei der Dreigliederung nicht. Da handelt es sich darum, möglichst viele Menschen zu ge­winnen für dasjenige, was die Dreigliederung enthält - wahrhaftig nicht deshalb, weil man in die Dreigliederung verliebt ist oder weil man starrköpfig ist, sondern weil man einsieht: Nur auf diese Weise geht es weiter.

Nun, es erübrigt sich wohl, auf das einzugehen, was Herr Dr. Herberg gesagt hat über «Diplombaumeister» und «Regierungs­baumeister» in ihrem Mißverhältnis zu den Juristen. Diese Dinge sind es, die durch die allerelementarsten Diskussionen des Bundes sich längst erledigt haben. Und, nicht wahr, es geht auch schon ganz und gar nicht, daß, wenn wir im Sinne der Dreigliederung diskutieren, wir gewissermaßen ganz und gar uns außerhalb des Bodens der Dreigliederung stellen. Denn sehen Sie, es würde schließlich doch auch einen sonderbaren Eindruck machen, wenn wir zum Beispiel vom freien Geistesleben sprechen und eine Dis­kussion aufwerfen würden, ob es denn nun richtig wäre, die alten Bezeichnungen für die am Gymnasium wirkenden Leute zu erset­zen durch Titel wie «Studienassessor» und so weiter. Das sind alles Fragen, die auf dem Boden des alten Staatswesens stehen. So ist es auch mit den «Regierungsbaumeistern»; es kann sich nicht darum handeln, wie diese den Juristen gegenüberstehen. Denn in dem Augenblick, wo man auf die Dreigliederung eingeht, kann man

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nicht mehr von «Regierungsbaumeistern» sprechen, sondern da stehen wir auf dem Boden jenes politischen Staates, der streng demokratisch das umfaßt, wo jeder mündige Mensch jedem ande­ren mündigen Menschen als gleicher gegenübersteht. Es kann sich nicht darum handeln, wie dieser demokratische Staat sich verhält zu dem, dem ein solcher Titel gegeben werden soll und dergleichen mehr. Überhaupt, wir müssen uns angewöhnen, etwas mehr in das Reelle hineinzugehen.

Sehen Sie, es passiert einem ja so manches im Leben, und man kann sich an so manches Erlebnis erinnern. So war ich zum Bei­spiel einmal mit einer sozialistischen Persönlichkeit zusammen, die ein guter Sozialist war, und ich sprach mit ihr über einen sehr, sehr hohen Regierungsbeamten. Ich hielt diesen sehr, sehr hohen Regie­rungsbeamten für total unfähig, für einen ganz unmöglichen Men­schen. Und ich sagte, ich würde meinen, [das beste] für jenen sehr hohen Regierungsbeamten wäre eigentlich, wenn er von seinem Posten wegkäme und Straßenkehrer würde - das wäre der richtige Beruf für ihn. Sie hätten nur sehen sollen, welches Entsetzen die sozialistische Persönlichkeit erfaßte bei der Zumutung, daß nun der ihr wohlbekannte Mann Straßenkehrer werden müßte. Ja, das war ja allerdings nur ein Gedanke, aber er scheint mir auf mehr Realität hinzuweisen, als der Gedanke - verzeihen Sie schon -, der soeben ausgesprochen wurde: der Hausherr solle den Straßenkehrer nicht scheel ansehen, und der Straßenkehrer den Hausherrn nicht! - Ja, damit lösen wir die soziale Frage wahrhaftig nicht, daß wir uns nicht scheel ansehen. Es handelt sich ja wirklich darum, daß in unserer heutigen sozialen Ordnung der Hausherr den Straßenkeh­rer braucht und der Straßenkehrer den Hausherrn, aber wenn sie bloß sich nicht scheel ansehen, wird die soziale Frage doch wahr­scheinlich nicht gelöst werden. Und ob man sich auf irgend etwas was einbildet oder nichts einbildet, das sind schließlich Fragen, die wirklich mit den Sachlichkeiten und ernsten Realitäten des gegen­wärtigen Lebens im Grunde genommen gar nichts zu tun haben. Es handelt sich wirklich nicht darum, daß wir heute den Menschen nur klarmachen: der Hausherr braucht den Straßenkehrer und der

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Straßenkehrer braucht den Hausherren. Da haben wir doch immer im Hintergrund so ein bißchen die Idee: der Straßenkehrer soll Straßenkehrer bleiben, und der Hausherr soll Hausherr bleiben, sie sollen sich nur nicht scheel ansehen, - was ja gewiß dem Haus-herren leichter fallen wird als dem Straßenkehrer. Aber ich glaube, mit all diesen Dingen, die etwas stark nach Moralinsäure riechen, kommen wir heute nicht auf einen grünen Zweig, sondern heute handelt es sich nicht bloß darum, daß wir uns nicht scheel ansehen, sondern daß wir Hand anlegen, daß es anders werde, daß wir vor allen Dingen das erreichen, wiederum Verständnis [für einander] zu finden über die Klassen hinweg. Und dieses Verständnis wird zu einer ganzen Umgestaltung des Lebens führen, nicht nur zu einem Augenverdrehen von der Scheelheit zur Gradheit, sondern zu ganz anderen Dingen. Und gehen Sie durch, was intendiert ist in der Dreigliederungsidee, da werden Sie sehen, daß in der Tat heraus­kommt etwas, wonach sich die Menschheit heute sehnen muß, wenn sie etwas davon versteht, was sich weltgeschichtlich verwirk­lichen will. Und auf solche Dinge hat man heute hinzusehen, nicht auf etwas, was bloß moralisierend ist und was doch wiederum anknüpft an die alten Formen, die sich noch immer im gegenwär­tigen sozialen Leben ausleben. Nein, wir müssen uns heute klar sein, daß wir ein neues Geistesleben brauchen, das aus dem Boden dieses Geisteslebens selber hervorgeht. Mag es im einzelnen bei der Durchführung der Dreigliederung noch so schlecht gemacht wor­den sein, es muß doch immer wieder und wiederum gesagt werden, daß diese Dreigliederung auf dem Boden steht: Nur einem Um-denken, nur einem Umwandeln der menschlichen Gedanken und Empfindungen bis ins tiefste Innere hinein werden wir eine Besse­rung verdanken und nichts anderem.

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VIERTER STUDIENABEND Stuttgart, 16. Juni 1920 Die Bodenfrage vom Standpunkt der Dreigliederung

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Ich möchte heute über Dreigliederung des sozialen Organismus in der Weise sprechen, daß durch die Gesichtspunkte, von denen meine Ausfüh­rungen handeln werden, einiges Licht fallen kann auf dasjenige, was man aus den volkswirtschaftlichen Tatsachen heraus in der neueren Zeit die Bodenfrage genannt hat. Es ist ja eine Eigentüm­lichkeit der Dreigliederungsidee, daß man durch sie einsehen lernt, daß gewisse Diskussionen und Agitationen im alten Stile aufhören müssen, wenn wir überhaupt in fruchtbarer Weise weiterkommen wollen - denn diese Diskussionen und Agitationen haben sich ja herausentwickelt aus den Verhältnissen, welche uns in den Nieder­gang hineingeführt haben.

Die Bodenfrage ist ja etwas, was breite Kreise sehr interessiert, weil der Preis, auch die Erwerbbarkeit und Verwertbarkeit von Grund und Boden mit dem menschlichen Schicksal, mit den menschlichen Lebensverhältnissen eng zusammenhängt. Nicht wahr, wie man dasjenige, was Bodenpreise sind, sich einrechnen lassen muß in das, was man für seine Wohnung bezahlen muß, sich einrechnen lassen muß in die Lebensmittelpreise - das ist ja etwas, was jeder unmittelbar verspürt. Man braucht nur ein wenig nach­zudenken, und man wird finden, daß das, was von Grund und Boden ausgeht, in wirtschaftlicher Beziehung seine Wirkungen hat auf alle übrigen Verhältnisse. Je nachdem, aus welchen Bodenpreisen heraus man seine Lebensmittel bezahlen muß, je nachdem muß man für irgendeinen Beruf, in dem man drinnensteht, vergütet werden und so weiter. Aber nicht nur diese den Menschen unmit­telbar berührenden Lebensfragen hängen mit dem Verhältnis der Menschheit zu Grund und Boden zusammen, sondern auch viele weitergehende Kultur- und Zivilisationsverhältnisse. Wir brauchen

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ja nur daran zu denken, wie mit Grund und Boden zusammen­hängt das Verhältnis des Landes zur Stadt, wie zusammenhängt dasjenige, was dann die Schwierigkeit oder Leichtigkeit der Le­bensverhältnisse in den Städten ist, mit den Verhältnissen auf dem Lande. Aus diesen wird hervorgehen wiederum, was in der Stadt selbst sich entwickeln kann. Je nachdem, wie in einer Stadt Reich­tumsverhältnisse oder Wohlstandsverhältnisse sich ergeben durch ein bestimmtes Verhältnis des Landes, des Umlandes zur Stadt, entwickelt sich ja auch vorzugsweise in der Stadt dasjenige, was wir unser öffentliches geistiges Leben nennen - wenigstens unter unse­ren neuzeitlichen Kulturverhältnissen. Ein einsamer Mystiker kann man ja allerdings auch auf dem Lande werden; aber in dem ganzen Zusammenhang neuzeitlichen Wissenschaftsbetriebes, technischen Betriebes, Kunstbetriebes kann man im Grunde nur stehen, wenn man irgendein Verhältnis zum Städteleben hat. Das ist ja etwas, was sich unmittelbar aus einer auch nur oberflächlichen Betrach­tung des Lebens ergibt. Und noch manches andere könnte man anführen, was schon zeigen würde, wie die Bodenfrage - und damit die Frage nach dem Verhältnis der Stadt zum Land - tief einschnei­det in unsere ganzen Kulturverhältnisse. Daher muß auch die Bo­denfrage in irgendeiner Weise zusammenhängen mit dem, was uns in den Niedergang dieser Kulturverhältnisse hineingetrieben hat.

Nun, die neuere Behandlung der Bodenfrage hängt ja insbeson­dere damit zusammen, daß die Ungerechtigkeit der Wert- oder Preissteigerungen des Bodens von einer großen Anzahl von Men­schen bemerkt werden. Es wurde einfach bemerkt, wie wenig es mit menschlicher Arbeit zusammenhängt, ob das eine oder das andere Stück Boden in einem bestimmten Zeitraum seinen Wert steigern kann. Ich weiß, wie großen Eindruck ein sehr bekanntet Bodenreformer immer wieder gemacht hat, wenn er seinem Publi­kum in grundlegenden Vorträgen folgendes vor Augen geführt hat:

Man denke sich, jemand besitze irgendein Stück Boden, das er gekauft hat mit Rücksicht darauf, daß in der Nähe dieses Bodens eine Fabrik errichtet werde oder daß die Stadt sich nach diesem Stück Boden hin ausdehne oder daß dort eine Eisenbahn vorübergeführt

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werde oder dergleichen. Er hat dieses Stück Boden gekauft mit Rücksicht darauf, daß es durch solche Verhältnisse seinen Wert in den nächsten Jahren steigern werde um ein ganz Beträchtliches. Er hat das Stück Boden gerade in dem Moment gekauft, wo er in der Voraussicht leben mußte, die nächsten drei Jahre im Zuchthaus zu verbringen. Er wandert, nachdem er dieses Grundstück gekauft hat, ins Zuchthaus, bleibt drei Jahre drinnen, und wenn er heraus­kommt aus dem Zuchthaus, ist sein Stück Boden das Fünffache wert wie früher. Der Mann hat also zur Preissteigerung seines Besitzes um das Fünffache nichts anderes beigetragen, als daß er drei Jahre im Zuchthaus gesessen hat. - Das sind Dinge, meine sehr verehrten Anwesenden, die selbstverständlich außerordentlich stark wirken, wenn man dadurch etwas anschaulich machen will. Und man kann da nicht einmal sagen, daß diese Dinge mit Unrecht wirken. Hier wirkt etwas, was, ganz mit Recht, in bequemer Weise einleuchtend ist, denn es kann durchaus so sein. Und dann - man kann manches übergehen, möchte ich sagen -, dann ergibt sich aus solchen Erkenntnissen heraus, daß ja selbstverständlich die ganze [Art der] Einfügung des Bodenwertes in unseren wirtschaftlichen Prozeß etwas ist, was nicht weiter so bleiben kann, was in irgend­einer Weise einer Reform unterliegen muß.

Und nun haben ja die verschiedensten, aber immer alle nach einer Richtung gehenden Reformen eingesetzt: Henry George, Adolf Damaschke, zwischen beiden noch viele andere. Das hat ein­gesetzt, und eigentlich läuft alles darauf hinaus, daß der Grund und Boden mehr oder weniger - die Form kommt da nicht so sehr in Betracht - etwas sein müsse, was gewissermaßen der Allgemeinheit gehöre. Nicht, als ob alle Bodenreformer etwa eine unmittelbare Verstaatlichung des Grund und Bodens wollten, aber sie wollen, daß von den besonders starken Wertsteigerungen eben ein ganz erheblicher Prozentsatz als «Werterhöhungssteuer» an die Ge­meinschaft geliefert werde - ein Prozentsatz vielleicht, der den Boden fast auf seinen früheren Wert herunterbringt, wenn er sich ohne das Verdienst des Besitzers in seinem Wert gesteigert hat. Man kann sich auch andere Formen denken, unter denen der

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Boden gewissermaßen in eine Art von Gemeinbesitz übergeführt wird. Aber es ist ja zweifellos einleuchtend, daß derjenige, der seine Mitmenschen so geschädigt hat, daß sie sich veranlaßt fühlten, ihn ins Zuchthaus einzusperren, nun, wenn er nach drei Jahren zurück­kommt, gerechterweise genötigt werden kann, dasjenige, um was sich sein Boden an Wert gesteigert hat, an diese Allgemeinheit abzuliefern.

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, aber Damaschke be­tont ja gerade, daß er durchaus nicht daran denke, dasselbe Schick­sal, das er dem Grund und Boden in einer solchen Weise zudenkt, etwa auch auszudehnen auf irgendwelche andere Produktions­mittel. Er beweist, wie die anderen Produktionsmittel in einer ganz anderen Weise innerhalb des menschlichen Besitzes ihren Wert steigern; er beweist, daß Wertsteigerungen der Produktionsmittel stattfinden in einem ganz anderen Verhältnis, das gar nicht zu ver­gleichen ist mit den oftmals eintretenden Wertsteigerungen des Grund und Bodens. Nun kann man sagen, so etwas ist ja ganz gewiß einleuchtend und kann eigentlich gar nicht anders behandelt werden, als daß man in einem gewissen Sinn zustimmt.

Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, Sie haben ja wohl gesehen, daß es heute Verstaatlichungen gibt, das heißt Überfüh­rung desjenigen, was sonst rein privatwirtschaftlich erzeugt wird und wofür der Gegenwert privatwirtschaftlich entgegengenommen wird, in die Verwaltung einer gewissen Gesamtheit. Aber man kann ja nicht sagen, daß die Erfahrung, die die Menschheit in sol­chen Dingen in den letzten Jahren gemacht hat, schon eine allseitig befriedigende wäre. Denn ich glaube - wenigstens einige von Ihnen werden ja etwas davon bemerkt haben -, daß es nicht allen Men­schen so gutging, wie es im Sinne der Rationierung, also in einem gewissen Sinne der Kommunisierung, zum Beispiel der Lebens­mittel und anderer Dinge hätte gehen sollen. Von einem gewissen Hamstern haben ja einige Menschen in diesen Jahren, in denen sehr vieles kommunisiert war, etwas erfahren, wie ich glaube.

Und derjenige soziale Impuls, der gegeben werden soll mit der Dreigliederung, der ist eben durchaus nicht des Willens, sich etwas

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vorzumachen und anderen etwas vorzumachen, sondern der ist des Willens, solche Anregungen zu geben, die nicht bloß auf dem Pa­pier stehenbleiben und einer gewissen Sorte von Menschen dienen, während andere in der Lage sind, die betreffenden Dinge zu um­gehen, und zwar in reichlichem Maße zu umgehen. Der Impuls, der durch die Dreigliederung des sozialen Organismus gegeben werden soll, soll eben ein Wirklichkeitsimpuls sein, der auch tatsächlich das verwirklicht, was er beabsichtigt. Wer das Leben kennt - und eigentlich nur der, der das Leben kennt -, kann wirklich verstehen, was der Impuls für die Dreigliederung im Ernste will. Wer sich bestrebt, das Leben zu verstehen, und wer das Leben wirklich ver­steht, der wird gar keinen Zweifel darüber haben, daß es auch eine Hamsterei der Bodenwertsteigerungen wird geben können, wenn man den Boden in der Weise kommunisiert, wie es die Bodenrefor­mer wollen, die aus den alten Ideen heraus denken. Es ist eben durchaus möglich, sowohl im Leninschen Staatswesen wie auch im Damaschkeschen Staatswesen durch allerlei Hintertüren dasjenige wiederum unwirksam zu machen, was als Gesetz in die Welt tritt. Der Impuls für die Dreigliederung des sozialen Organismus kann einfach nicht, weil er etwas Wirkliches will, sich verschließen vor der Grunderkenntnis, daß ja die soziale Wirklichkeit wahrhaftig nicht von denjenigen Gesetzen gemacht werden kann, die entste­hen, wenn man die alten sozialen und staatlichen Denkweisen und Vorstellungsarten fortsetzt. Auf die Menschen kommt es an und auf jene soziale Organisation, auf jenen sozialen Organismus, der einzig und allein bewirkt, daß die Menschen gar kein Mittel finden, um irgend etwas, was im Sinne dieses sozialen Organismus liegt, in ungerechter Weise oder in unmoralischer Weise zu umgehen -wenigstens so nahe als möglich muß man einer solchen Lebens-forderung kommen.

Man kann ja das, was wir Dreigliederung des sozialen Organis­mus nennen, von den verschiedensten Gesichtspunkten her be­trachten. Man kann dasjenige ins Feld führen, was ich zunächst einmal, gewissermaßen um einen ersten Schub zu geben, in den «Kernpunkten» ausgesprochen habe. Man kann auch von anderen

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Seiten her die Notwendigkeit der Dreigliederung charakterisieren, wie es ja seit mehr als einem Jahr gerade hier in Stuttgart von mir und einigen anderen getan worden ist. Man kann zum Beispiel aber auch folgende Gesichtspunkte geltend machen; man kann sagen:

Wir sind im ganzen Verlauf der neueren Menschheitsentwicklung dazu gekommen, gewisse Einrichtungen einfach aus der Art, wie wir heute denken, nicht mehr zu ertragen und durch unseren gan­zen menschlichen Seelenzustand andere Einrichtungen zu fordern. Daß wir solches Chaos durch die Welt hindurch haben, das ent­steht ja gerade dadurch, daß einfach gewisse Zustände, die sich ergeben haben aus der Menschheitsentwicklung der letzten Jahr­hunderte, von den Menschen der Gegenwart nicht mehr ertragen werden können. Der eine fühlt unbestimmt: die Verhältnisse kön­nen nicht mehr ertragen werden; er hört den Damaschke reden und hört, daß ungeheuer viel Unrechtes davon abhänge, daß ein Zucht­häusler seinen Bodenbesitz in drei Jahren ohne sein Verdienst ver­fünffachen kann. Einem anderen werden die marxistischen Theo­rien vorgetragen, und er nimmt sie an. Einem dritten wird gesagt:

Wenn wir nicht die alten Einrichtungen und das alte sogenannte Junkertum schützen, dann wird die ganze Welt in ein Chaos hineingehen, also müssen wir es schützen.

Im Grunde genommen liegen aber die Gründe dafür, daß die Menschen unbefriedigt sind von den gegenwärtigen Verhältnissen ganz einfach tief unten im menschlichen Wesen; und heute ist es schon so: das, was als Programme entwickelt wird, das sind im Grunde genommen nur Träume, nur Illusionen, die sich die Men­schen vormachen. Sie kommen gar nicht darauf, was sie eigentlich wollen. Und so macht der eine aus dieser, der andere aus jener bisherigen Lebensgewohnheit irgendeine Theorie auf sozialem Gebiet, die er logisch nennt. Es ist heute schon so, daß im Grunde genommen es nur davon abhängt, ob einer gerade im Proletariat lebt oder ob er in einem preußischen Junkerhaus geboren ist, ob er nun aus den alten Lebensgewohnheiten heraus Marxist ist oder ob er Konservativer ist im Sinne des Herrn von Heydebrand und der Lasa. Diese Programme, die gemacht werden von links und von

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rechts, die haben eigentlich heute gar nichts mehr mit der Wirk­lichkeit zu tun. Und man kann sagen: Wenn sich heute so etwas abspielt wie eine Reichstagswahl, so ist das, was geredet wird bei dieser Gelegenheit, ungefähr so, wie wenn ein böser Weltendämon träumen würde und diese Träume in die Bewußtseine der Men­schen, der Parteimitglieder und Parteiführer, übergingen und sich die Leute über etwas unterhielten, was im Grunde genommen gar nichts zu tun hat mit dem, was geschehen soll. Denn die Mensch­heit tendiert heute nach einem ganz bestimmten Ziel hin. Sie ist sich nur unklar über dieses Ziel.

Zunächst einmal fühlt die Menschheit, daß es so mit den geisti­gen Angelegenheiten, mit der Ordnung der geistigen Angelegen­heiten, nicht mehr so weitergeht, wie es bisher gegangen ist. Das kommt einfach daher, weil trotz alles Materialismus - der ganz, ganz in dem Stile da ist, wie ich das auch gestern im öffentlichen Vortrag auseinandergesetzt habe - filtrierte Geistigkeit in den Abstraktionen vorhanden ist, denen sich die Menschen heute hin­geben, das Proletariat zum Beispiel am allermeisten. Trotzdem die­ses am allermeisten von «Realitäten», von «Produktionsverhältnis­sen» und dergleichen auszugehen scheint, gibt es sich geistigen Abstraktionen hin und kann damit niemals zu irgendwelchen Ein­richtungen kommen, die die Wirklichkeit ergreifen. Die Menschen fühlen, sie mussen sich an etwas Geistigem halten und das Geistige muß auch da sein, um ins soziale Leben einzugreifen, um die so­ziale Struktur des ja vom Menschen belebten sozialen Organismus zu bilden. Was hat denn im Grunde genommen bis in unsere Tage herein die Struktur unseres sozialen Organismus gemacht? Der Geist? Nein, ich denke, es ist nicht der Geist. Wenn ich zum Bei­spiel ein großes Landgut von meinem Vater erbe, da ist es etwas anderes als der Geist; da ist es ein natürlicher Zusammenhang, da ist es das Blut. Und das Blut ist dasjenige, das zusammen mit allen möglichen anderen Verhältnissen, die sich daran geknüpft haben, einen Menschen heute noch in eine bestimmte Position hineinbrin­gen kann. Von dieser Position hängt dann wiederum ab, wie er im geistigen Leben steht. Er kann gewisse Erziehungsinhalte rein dadurch

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aufnehmen, daß er aus alten Verhältnissen heraus, die zum großen Teil von Blutsbanden herrühren, in eine bestimmte soziale Position hineingestellt ist. Das fühlt die Menschheit im Grunde genommen gegenüber dem geistigen Leben zunächst als etwas, was nicht mehr ertragen werden kann. Instinktiv fühlt die Menschheit:

Statt daß, wie von altersher, alles durch das Blut bestimmt wird, muß in sozialen Einrichtungen in der Zukunft der Geist mitspre­chen. Nicht wahr, die Kirche hat ja, um Genosse desjenigen zu sein, was sich [auf diese Weise in der Vergangenheit] entwickelt hat und was so heute nicht mehr ertragen werden kann, sich wohl gefügt jenem Konzilbeschluß, der auf dem achten ökumenischen Konzil im Jahre 869 in Konstantinopel gefaßt wurde, wo gewisser­maßen der Geist abgeschafft worden ist, wo bestimmt worden ist, daß die menschliche Seele zwar einzelne geistige Eigenschaften habe, daß der Mensch aber nur aus Leib und Seele bestehe, nicht aus Leib, Seele und Geist. Unter dem, was da als Weltanschauung uber die zivilisierte Welt sich ausbreitete, konnte sich eben - weil zurückgehalten wurden die Forderungen des Geistes - in dem ganzen Betrieb des geistigen Lebens dasjenige entwickeln, was nicht vom Geiste bestimmt ist.

Und heute will der Mensch aus seinem tiefsten Innern heraus, daß der Geist mitspreche bei der Bestimmung der sozialen Struk­tur. Das kann aber nur geschehen, wenn das Geistesleben nicht mehr ein Anhängsel des aus alten Blutseroberungen hervorgegan­genen Staates bleibt, sondern wenn das Geistesleben auf sich selbst gestellt wird, wenn das Geistesleben nur nach den Impulsen, die in ihm selbst liegen, wirkt. Dann kann man bei den führenden Men­schen in diesem Geistesleben voraussetzen, daß sie das, was ihnen obliegt - wir werden gleich von einigem weiteren sprechen, was ihnen obliegt; in den «Kernpunkten» ist ja vieles angeführt -, näm­lich die Menschen in die soziale Struktur hineinzuführen nach Er­kenntnissen der Begabungen, des Fleißes und so weiter, daß sie das wirklich ohne Gesetze, rein durch die Erkenntnisse naturgemäßer Verhältnisse tun. Und man wird sagen müssen: Auf dem Gebiete des Geisteslebens, das für sich dastehen und aus seinen eigenen

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Impulsen wirken wird, da werden die Erkenntnisse des Tatsäch­lichen dasjenige sein, was bestimmend wirkt. Sagen wir also kurz:

Das Geistesleben, der geistige Teil des sozialen Organismus, fordert als sein Recht Erkenntnisse [der tatsächlichen Kräfte], die aber Tatkraft-Erkenntnisse sind.

Sehen wir jetzt nach dem zweiten Gliede des sozialen Organis­mus, nach dem Rechts- oder Staatsgliede. Da kommen wir schon in etwas hinein, was gewissermaßen nicht so unterliegt dem Außer-weltlichen wie das Geistesleben. Meine sehr verehrten Anwesen­den, bis in die tatsächlichsten Verhältnisse hinein ist ja unser ganzer sozialer Organismus, insofern das Geistige in ihm wirkt, gebunden an das, was mit jeder neuen Generation erscheint, ja, was mit jedem neuen Menschen aus unbestimmten Tiefen in den sozialen Orga­nismus neue Kräfte hineinführt. Nehmen Sie den jetzigen Zeit­punkt. Dürfen Sie irgendwie aus den Verhältnissen der jetzigen Zeit heraus, wenn Sie es ehrlich mit der Menschheit meinen, ir­gendeine Organisation einrichten, welche in einer ganz bestimmten Weise das Zusammenleben der Menschen bestimmt? Nein, das dürfen Sie nicht! Denn mit jedem einzelnen Menschen werden neue Kräfte aus unbekannten Tiefen heraus geboren; die haben wir zu erziehen, und wir haben zu warten, was sie hineintragen in das Leben. Wir haben nicht dasjenige, was da durch die geistigen An­lagen in das Leben getragen wird, zu tyrannisieren durch etwa schon bestehende Gesetze oder eine schon bestehende Organisa­tion; wir müssen dasjenige, was uns hineingetragen wird aus geisti­gen Welten, unbefangen empfangen, wir dürfen es nicht tyranni­sieren und dogmatisieren durch dasjenige, was schon da ist. Daher brauchen wir ein solches Glied des sozialen Organismus, das ganz aus der Freiheit heraus, aus der Freiheit der immer neu in die Menschheit hereingeborenen menschlichen Anlagen heraus wirkt.

Das zweite Glied des sozialen Organismus, das staatlich-recht­liche Leben, das ist schon etwas weniger abhängig von dem, was da hereinkommt aus geistigen Welten. Denn es betätigen sich, wie wir wissen, auf dem Gebiet des Rechtslebens, des Staatslebens die mündig gewordenen Menschen. Und, meine sehr verehrten Anwesenden,

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wenn wir mündig geworden sind, hat uns eigentlich schon ergriffen ein großes Maß von Durchschnittlichkeit. Da hat gewissermaßen das Nivellement des Philisteriums uns ins Genick geschlagen. Und insofern wir als mündig gewordene Menschen alle gleich sind, sind wir schon - das soll gar nicht in schlimmem Sinne gesagt werden - in einem gewissen Sinne ein bißchen in den Scheu­ledern der Philistrosität drinnen. Wir sind in dem drinnen, was rnan regeln kann durch Gesetze.

Sie werden aber sagen: Ja, wir können doch nicht alles geistige Leben von den Kindern abhängig machen; da muß doch auch die geistige Anlage, die geistige Fähigkeit und der geistige Fleiß über das Mündigkeitsalter hinausgehen. - Im Grunde genommen nicht, so paradox das klingt. Denn unsere über das Durchschnittsmaß hinausgehenden Fähigkeiten, wenn wir über die zwanziger Jahre hinausgekommen sind, die beruhen gerade darauf, daß wir uns -das zeigt uns die ernste geisteswissenschaftliche Forschung auf Schritt und Tritt -, daß wir uns bewahrt haben, was wir in der Kindheit als Anlage und so weiter gehabt haben. Und das größte Genie ist derjenige Mensch, der sich am meisten in die dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre hineinträgt die Kräfte der Kindlichkeit. Man übt dann nur diese Kräfte der Kindlichkeit mit dem reifen Organismus, der reifen Seele und der reifen Geistigkeit aus, aber es sind die Kräfte der Kindlichkeit. Unsere Kultur hat ja nun leider die Eigentümlichkeit, daß sie diese Kräfte der Kindlichkeit schon durch die Erziehung möglichst totschlägt, so daß bei einer mög­lichst geringen Anzahl von Menschen die kindlichen Eigentümlich­keiten bis in das philiströse Alter hinein bleiben und die Menschen entphilistern. Denn eigentlich beruht alles Nicht-Philister-Sein darauf, daß einen die bewahrten Kindheitskräfte eben gerade ent­philistern, daß sie durchschlagen durch das spätere Philistertum.

Weil da aber nun etwas auftritt, was nicht gegenüber den gegen­wärtigen B ewußtseinsbedürfnissen der Menschheit fortwährend erneuert werden muß, können in der neueren Zeit die Verhältnisse des Rechts- und Staatslebens ja nur auf demokratischem Boden durch Gesetze geregelt werden. Gesetze sind nicht Erkenntnisse.

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Bei Erkenntnissen müssen wir immer uns der Wirklichkeit gegen­überstellen, und aus der Wirklichkeit heraus müssen wir durch Erkenntnisse den Impuls zu dem bekommen, was wir tun sollen. So ist es bei der Erziehung und auch bei allem anderen, von dem ich gezeigt habe in den «Kernpunkten», daß es von dem geistigen Gliede des sozialen Organismus ausgehen muß. Bei Gesetzen, wie ist es denn da? Gesetze werden gegeben, damit das staatlich-poli­tische Leben, das Rechtsleben, bestehen kann. Aber man muß warten, bis einer nötig hat, im Sinne eines Gesetzes zu handeln, erst dann muß er sich um dieses Gesetz kümmern. Oder man muß warten mit der Anwendung des Gesetzes, bis einer es übertritt. Kurz, es ist immer etwas da, das Gesetz, aber erst für den Fall, der eventuell eintreten kann. Immer ist das Wesen der Eventualität vorhanden, der casus eventualis. Das ist etwas, was immer dem Gesetz zugrundeliegen muß. Man muß warten, bis man mit den Gesetz etwas machen kann. Das Gesetz kann da sein; wenn es nicht einschlägt in meine Sphäre, dann interessiert mich das Gesetz nicht. Es gibt ja heute viele Menschen, die glauben, daß sie sich für das Gesetz im allgemeinen interessieren, aber es ist doch so, wie ich es jetzt angedeutet habe - wenn einer ehrlich ist, muß er das zugeben. Also: das Gesetz ist etwas, was da ist, was aber auf die Eventualität hin arbeiten muß. Das ist dasjenige, was nun zugrundezuliegen hat dem rechtlichen, dem staatlichen, dem politischen Teil des drei-gegliederten Organismus.

Beim wirtschaftlichen Gliede kommt man mit dem Gesetz nicht aus, denn es reicht nicht aus, Gesetze bloß zu geben etwa darauf, ob einem aus diesen oder jenen Verhältnissen das oder jenes in einer bestimmten Weise geliefert werden soll. Da kann man nicht auf Eventualitäten hin arbeiten. Da tritt ein drittes neben der Erkenntnis und neben dem Gesetz auf, das ist der Vertrag, der bestimmte Vertrag, der geschlossen wird zwischen denen, die wirt­schaften - den Korporationen und den Assoziationen -, der nicht wie das Gesetz auf das Eventuelle hin arbeitet, sondern der auf das ganz bestimmte Erfülltwerden hin arbeitet. Ebenso wie die Erkenntnis im geistigen Leben und wie das Gesetz im staatlich-politisch-rechtlichen

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Leben herrschen muß, so muß herrschen der Vertrag, das Vertragswesen in all seinen Verzweigungen im Wirt­schaftsleben. Das Vertragswesen, das nicht auf Eventualität, son­dern auf Verbindlichkeit hin vorhanden ist, das ist dasjenige, was bewirken muß alles das, was Sie in den «Kernpunkten» geschildert finden als das dritte Glied des sozialen Organismus.

Wir können also sagen, wir haben da drei anschauliche Gesichts­punkte, aus denen heraus wir verstehen können, wie dem Wesen nach diese drei Glieder sein mussen. Alles, was im Leben unterliegt den Erkenntnissen, das muß verwaltet werden auf dem freien Boden des geistigen Gliedes. Alles, was im Leben in Gesetze ein­gespannt werden kann, gehört dem Staate an. All das, was dem verbindlichen Vertrag unterliegt, muß dem Wirtschaftsleben ein­gefügt werden.

Meine sehr verehrten Anwesenden, wenn die Leute glauben, daß dasjenige, was in den «Kernpunkten» ausgeführt worden ist, ein paar ausspintisierte Ideen sind, so irren sie sich gar sehr. Über das, was in den «Kernpunkten» ausgesprochen ist, kann man im­merfort reden von den allerverschiedensten Gesichtspunkten aus, weil es aus dem Leben entnommen ist. Und das Leben können Sie so schildern, wie es bei einem Baum ist, den man photographiert:

von der einen Seite hat man diesen Aspekt, von einer zweiten Seite einen anderen, von einer dritten, vierten Seite gibt es wieder ein anderes Bild und so weiter. Das ist das Eigentümliche: Wenn etwas aus dem Leben ist, wenn es nicht bloß eine vertrackte Uto­pie oder eine vertrackte Idee ist, sondern wirklich aus dem Leben, so kann man immer neue Gesichtspunkte finden, weil das Leben mannigfaltig reich in seinem Inhalte ist. [Mit dieser Mannigfaltig­keit des Lebens rechnet die Dreigliederung.] Man kann im Grun­de genommen nicht auslernen, [überall in dieser Vielfalt] die Not­wendigkeiten der Dreigliederung des sozialen Organismus zu sehen. Sie ist aber nicht irgend etwas Unbestimmtes, Nebuloses, sondern etwas, was in die schärfsten Begriffe gefaßt werden kann, wie ich sie Ihnen heute wieder zeigte mit Bezug auf Erkenntnis, Gesetz und Vertrag.

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Nun handelt es sich darum, daß man sich sagt: Man muß in Richtung der Dreigliederung hinarbeiten, und man kann aus den gewöhnlichen realen Verhältnissen heute in der Richtung arbeiten, die gegeben ist dadurch, daß man nun endlich diesen sozialen Organismus in drei miteinander in Wechselwirkung stehende Ver­waltungs-Unterorganismen zerlegt. Und man muß endlich sehen, daß alle Antworten, die man sich gibt aus alten Verhältnissen her­aus und die eigentlich nur hinauslaufen auf eine Umgestaltung der alten Verhältnisse, heute überholt sind. Wenn daher die Boden­reformer sagen, derjenige, dessen Bodenbesitztum sich ohne sein Verdienst, ohne seine Arbeit an Wert gesteigert hat, der müsse einen so und so großen Teil als Steuertaxe dem Staate abliefern, so rechnen sie da mit der alten Form des Staates. Man denkt gar nicht daran, daß auch dieser Staat reformiert werden muß. Man denkt nicht daran, daß er bloß das eine Glied des sozialen Organismus sein kann. Das ist das Eigentümliche, daß selbst die radikalsten Reformer der Gegenwart sich eigentlich nicht denken können, daß aus den Tiefen der sozialen Menschheitsverhältnisse heraus etwas neu gestaltet werden muß. Und sie können sich nicht denken, daß man nicht alles, was heute erreicht werden muß, erreichen kann, wenn man doch wiederum das, um was es sich handeln müßte, hineinpreßt in die alten Formen. Der Staat bleibt ja doch, auch wenn er in seinen Säckel einsteckt, was er den Bodenspekulanten abnimmt, und es ihnen oder anderen Leuten vielleicht wieder zu­fließen läßt auf Wegen, die immerhin möglich sind. Prüfen Sie aber dasjenige, was Ihnen aus der Idee der Dreigliederung für die Ein­richtung des sozialen Organismus folgt: Wenn Sie im Ernst den Gedanken der Dreigliederung aufnehmen, wenn Sie ernstmachen mit der Anwendung dessen, was der Dreigliederung zugrundeliegt, dann werden Sie finden, daß alles das zur Unmöglichkeit wird, was eben in der Richtung liegt, daß man nur den alten Unfug in eine andere Form gießt.

Denn, was ist eigentlich Grund und Boden? Sehen Sie, Grund und Boden ist ja ganz offensichtlich ein Produktionsmittel. Mit dem Grund und Boden produzieren wir. Aber er ist ein Produktionsmittel

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anderer Art als die anderen Produktionsmittel. Die anderen Produktionsmittel müssen wir uns erst durch menschliche Arbeit zubereiten, und Grund und Boden ist, wenigstens der Hauptsache nach, da, ohne daß er erst von den Menschen zuberei­tet wird. Daher kann man sagen: Die Produktionsmittel gehen zunächst den Weg der Ware; dann, wenn sie fertig sind, wenn sie übergeben sind ihrer Aufgabe, dann sind sie nicht mehr Ware. Das haben wir ja wiederholt hervorgehoben - auch ich selber habe es ja von diesem Platze öfter betont -: Produktionsmittel dürfen nur solange im wirtschaftlichen Zirkulationsprozesse Ware sein, bis sie fertig sind und dem volkswirtschaftlichen Leben übergeben wer­den. Was sind sie dann nachher? Dann sind sie etwas, was unter­liegt dem politischen oder Staatsleben, der Demokratie, und zwar mit Bezug auf die Arbeit, die die Menschen durch diese Produk­tionsmittel zu leisten haben, indem sie als mündige Menschen mit­einander auskommen müssen. Die Produktionsmittel sind etwas, was unterliegt dem Staatsleben, indem sie übergehen von dem einen auf den anderen, so daß immer derjenige, der die Produk­tionsmittel gebraucht, sie wirklich auch hat. Aber sie sind auch etwas, was unterliegt den Einrichtungen der geistigen Arbeit. Denn nicht aus alten Erbschaftsverhältnissen heraus, sondern aus den Einrichtungen des geistigen Lebens [muß in der Zukunft] nun durch Erkenntnis - wie es das moderne Bewußtsein allein ertragen kann - [bestimmt werden], wie das Produktionsmittel, wenn einer es nicht mehr bearbeitet, an denjenigen übergeht, der durch seine Anlagen und Fähigkeiten das Produktionsmittel weiter versorgen kann. So kann man sagen: Liegt die Dreigliederung dem Leben zugrunde, so sind die Produktionsmittel nur solange Ware, als sie produziert werden. Dann hören sie auf, Ware zu sein und unter­liegen den Gesetzen und den Erkenntnissen. Durch Gesetze und Erkenntnisse fügen sie sich ein in die soziale Struktur.

Grund und Boden kann nicht produziert werden; er ist also von Anfang an keine Ware. Er unterliegt also niemals dem Prinzip der Ware, über die man Verträge abschließt. Grund und Boden geht also überhaupt das, worüber man Verträge abschließt, nichts an. Er

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muß allmählich übergeleitet werden in die soziale Struktur so, daß zunächst die Verteilung von Grund und Boden im Hinblick auf die Bearbeitung durch die Menschen eine demokratische Angelegen­heit des politischen Staates ist und daß der Übergang vom einen zum anderen eine Angelegenheit des geistigen Gliedes des sozialen Organismus ist. Das lebendige Verhältnis im demokratischen Staate entscheidet darüber, wer an einem Stück Boden arbeitet zu­gunsten der Menschen. Boden ist niemals Ware. Er ist von Anfang an etwas, was man nicht kaufen und verkaufen kann.

Danach hat man zunächst zu streben, daß man den Boden nicht kaufen und verkaufen kann, sondern daß dasjenige, was den Boden überführt in die Sphäre der Bearbeitung durch einen Menschen, rechtliche und geistige Verhältnisse, rechtliche und geistige Impulse sind. Nur derjenige, der sich diese Gedanken nicht klar macht, kann vermeinen, daß darin irgend etwas Uto­pisches liege. Denn im Grunde genommen ist es nur eine Um-änderung von etwas, was heute [als Mißstand] vorliegt: daß man heute Grund und Boden bezahlt mit dem Geld, das man aus dem Erlöse von Waren hat; das ist keine Wahrheit, das ist eine soziale Lüge. Geld, das als Äquivalent angewendet wird für Grund und Boden, ist nämlich im volkswirtschaftlichen Prozesse etwas anderes als Geld, das angewendet wird als Äquivalent für eine Ware. Und sehen Sie, das ist etwas, was nun so schwer durchschaut wird in dem gegenwärtigen sozialen Chaos. Neh­men Sie einmal an, Sie kaufen Kirschen, so geben Sie dafür Geld. Sie kaufen irgendein Rittergut, so geben Sie dafür auch Geld. Jetzt, wenn die beiden Menschen, die Geld bekommen haben, der eine für Kirschen - eine genügende Menge Geld natürlich, es kommt hier nicht darauf an, ob in dieser Richtung die Sache auch möglich ist - und der andere für sein Rittergut, und wenn die ihr Geld durcheinanderschmeißen, so kann man nicht unterscheiden, welches Geld für die Kirschen und welches für das Rittergut bezahlt wurde. Aber eben dadurch, daß man das nicht unterscheiden kann, wird man in eine verderbliche, furchtbare Illusion geführt. Denn, sehen Sie, wenn ich hier

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Kreuzchen aufzeichne und dann kleine Kreise und würde diese durcheinanderschmeißen, so würde ich sie doch unterscheiden können.

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Aber wenn ich keinen Sinn hätte für den Unterschied zwi­schen Kreuzchen und Ringelchen, dann würde ich nicht mehr unterscheiden können, was das eine oder andere ist. Mit anderen

Worten: Wenn ich die Kreuzchen und Ringelchen so machen würde, daß ich aus den Kreuzchen Halbkreise und aus den Ringelchen wiederum Halbkreise machen und beides aufzeichnen würde, dann könnte man es nicht mehr unterscheiden. Aber wie ist es in der Wirklichkeit? Sehen Sie, nehmen Sie an, ich bekom­me das Kirschengeld, und ich bekomme das Rittergutgeld. Schmeiße ich es durcheinander, dann kann ich ja nicht mehr unterscheiden, welches Geld von dem Rittergut und welches Geld von den Kirschen kommt. Man könnte nun glauben: Geld ist Geld. Das ist aber eben die furchtbare Illusion. Das ist nicht wahr. Im volkswirtschaftlichen Prozeß wirken nämlich die Ring­elchen, die vom Rittergut kommen, anders im ganzen mensch­lichen Leben als die Kreuzchen, die von den Kirschen kommen. Nicht das Geld ist es, das in Wirklichkeit ausmacht, was ge­schieht, sondern die Nachwirkung, woher das Geld kommt, das ist es. Und darüber wird nun einfach ein Schleier gebreitet; das ist nicht mehr da für die menschliche Beobachtung. Und so bildet das Geld die lebendige Abstraktion. Alles kommt durch­einander ohne Differenzierung. Der Mensch ist nicht mehr fähig,

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bei dem zu sein, wozu er gehört, woran er produziert, woran er arbeitet. Alles kommt durch das Geld durcheinander, wie bei den unklaren Mystikern alles durcheinanderfließt und zu ein paar abstrakten Begriffen wird. Und wie diese abstrakten Begrif­fe [der Mystiker] nicht zu brauchen sind in unserem Erkenntnis­prozeß, so ist auch das nicht zu brauchen, was sich die Men­schen vorstellen vom Geld, weil es auch bloß eine Abstraktion ist, eben etwas neben der Wirklichkeit, also nichts, was man im Leben brauchen kann.

Wenn man sich so etwas überlegt, dann ist man sich klar dar­über, welch ungeheure konkrete Bedeutung der Grund und Boden hat im Leben der Menschen. Man ist sich klar darüber, wie es niemals darauf ankommen sollte, daß ich ohne Interesse an Grund und Boden der Besitzer des Grund und Bodens bin und nur etwa meine Rente beziehe vom Grund und Boden, alles übrige aber mir gleichgültig ist. Wer das volkswirtschaftlich ordentlich überschaut, weiß, was das heißt: Ich lebe von Grund und Boden, aber im Grunde genommen ist es mir gleichgültig, ob ich von Grund und Boden lebe oder von den Erträgnissen, nun sagen wir, von Cri­Cri- oder Pokerspiel; es ist mir im Grunde das alles ganz gleich­gültig, es kommt mir nur darauf an, eine Summe Geld zu erwer­ben. - Daß es einem gleichgültig ist, wie man eine Summe Geld erwirbt, das kommt nicht so stark in Betracht, wenn es sich dar­um handelt, daß man sich diese Summe Geld wirklich nur erarbei­tet. Wenn man sie aber erhält von etwas, was mit dem Wohl und Wehe, mit dem Schicksal der Menschen, ja mit der ganzen Kultur-konfiguration zusammenhängt, wie es der Grund und Boden tiit, wenn man sich so etwas überlegt, dann ist es nicht möglich, daß man diesen Grund und Boden verwandelt in das gleichgültige, abstrakte Geld. Denn gerade Grund und Boden macht notwendig, daß derjenige, der ihn bearbeitet, der mit ihm etwas zu tun hat und der dasjenige, was vom Grund und Boden abhängt, in den volkswirtschaftlichen Prozeß überführt - das ist ja nicht das Geld, das er einbringt, sondern die Frucht, die darauf gedeiht -, daß der [wirklich ganz] dabei ist.

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Meine sehr verehrten Anwesenden, Grund und Boden ist ja in­nerhalb seines Gebietes durchaus nicht zu verwalten nach denjeni­gen volkswirtschaftlichen Kategorien, die sich nun einmal in der neueren Zeit herausgebildet haben. Bitte rechnen Sie bloß aus, wenn jemand auf seinem Gute mit dem Dünger düngt, der sich von selbst ergibt von seinem Vieh - rechnen Sie sich aus, wie man dazu kommen soll, nun eine Wertangabe zu machen über diesen Dung, wie man feststellen soll den Marktwert des Düngers, etwa, was der Dünger wert wäre, wenn er irgendwelche Märkte der Städte ver­stänkerte. Es ist das nur ein drastisches Beispiel. Wenn Sie den Gedankengang zu Ende führen, dann werden Sie finden, daß es ein gewaltiger Unterschied ist in der ganzen Art und Weise, wie sich dem volkswirtschaftlichen Prozeß das einfügt, was auf einem Gute entsteht. Man vergleiche einmal die Art und Weise, wie ein Gut wirkt, welches der sogenannten Selbstbewirtschaftung unterliegt, das heißt, wo derjenige, der auf dem Gute, sei es einem kleinen oder großen Gute, tatsächlich die Versorgung des Gutes aus seinen Fähigkeiten heraus als seine eigenste Angelegenheit betrachtet, und man vergleiche das mit der Art und Weise, wie ein Gut wirkt und wirken muß, welches nur darauf gestellt ist, das möglichste an Geldertrag zu ziehen, was man herausschinden kann. Aber so, wie wir heute im öffentlichen Leben stehen, müssen ja die Dinge sich ausgleichen, das heißt, derjenige, der Selbstbewirtschafter ist, kann nicht anders als sich anpassen demjenigen, der das Gut verpachtet und nur die Rente daraus bezieht. So wird dadurch, daß angepaßt wird das, was aus dem Konkreten hervorgeht - und aus dem Kon­kreten geht beim Gute, beim Grund und Boden dasjenige hervor, wie die einzelnen Produkte gegeneinander sich tragen müssen, wie das eine das andere unterstützen muß; das ist bei der Selbstbewirt­schaftung aus ganz anderen Motiven heraus taxiert, als wenn die Dinge nur auf den Geldmarkt gebracht werden -, so wird nach und nach das, was aus dem Konkreten hervorgeht, die Selbstbewirt­schaftung, abhängig von dem, was ganz abstrakte Geldverhältnisse sind. Das ist ja auch schon geschehen, deshalb haben wir heute die unnatürlichen Verhältnisse. Grund und Boden, die keine Ware sein

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können, werden zur Ware gemacht; dadurch wird eine reale Lüge in das Leben eingeführt. Es ist nicht bloß das, was gesagt wird, verlogen, auch das, was geschieht, ist verlogen. Sobald man Grund und Boden als Ware betrachtet, das heißt, sobald man ihn kaufen und verkaufen kann, lügt man durch seine Taten.

Wenn man aber die Dreigliederung des sozialen Organismus hat, kann man Grund und Boden nicht kaufen und verkaufen. Die [rechtlichen] Verhältnisse, durch die Grund und Boden von dem einen auf den anderen übergeht, unterliegen den staatlichen Geset­zen, die nichts mit dem Kauf und Verkauf von Waren zu tun haben. Die Bestimmung darüber, wie [im Einzelfall] Grund und Boden von einem auf den anderen Menschen übergeht, unterliegt dem geistigen Gliede des sozialen Organismus, das nichts zu tun hat mit Vererbung und Blutsverwandschaft, sondern mit solchen Dingen, wie ich sie in den «Kernpunkten» geschildert habe. So sehen Sie, man braucht nur richtig zu verstehen dasjenige, was Dreigliederung ist, und wenn man sich in diese Richtung begibt, so begibt man sich auf den Weg zur Lösung der sozialen Frage.

Was will Damaschke? Er nimmt sich die Bodenfrage vor, er denkt darüber nach, und aus dem Nachdenken heraus soll die Bodenfrage gelöst werden. Meine sehr verehrten Anwesenden, aus dem Nachdenken heraus werden gar keine realen Dinge gelöst. Ich möchte bloß einmal wissen, wie Sie aus dem Nachdenken heraus Zucker zerschlagen, Holz hacken oder dergleichen wollen oder wie Sie aus dem Nachdenken heraus essen wollen. Ebensowenig, wie man aus dem Nachdenken heraus Zucker zerschlagen oder essen kann, ebensowenig kann man aus dem Nachdenken heraus die Bodenfrage lösen. Man kann nur sagen: Der Boden steht ja heute in bestimmten menschlichen Verhältnissen drinnen. Denken wir uns nun dasjenige, was Menschen aus ihrem besten Können heraus in dem sozialen Organismus tun, einlaufend in die Impulse von der Dreigliederung, dann lösen die Tatsachen, die dadurch entstehen, daß man sich dieser Dreigliederung widmet, die Bodenfrage nicht bloß in Gedanken, sondern [in praktischer Weise] gerade so, wie das Messer den Zucker zerschlägt, wie die Hacke das Holz zer­hackt.

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Ebenso löst die Dreigliederung die Bodenfrage, indem der Boden einfach sich so einfügen wird in den dreigliedrigen Organis­mus, daß er nicht mehr - wie heute - als eine Ware behandelt wird. Er wird nicht mehr in ungerechtfertigter Weise in der Blutsver­wandtschaft weitergehen, sondern allein dem unterliegen, was heu­te der Mensch als das einzig Erträgliche fühlt: daß der Übergang des Grund und Bodens von dem einen auf den anderen aus geisti­gen Erkenntnissen heraus geschieht, also aus dem Impuls des gei­stigen Gliedes des sozialen Organismus.

Sie sehen, nicht durch Programme, nicht durch irgendwelche abstrakte oder utopistische Begriffe, also nicht in ähnlicher Weise, wie das Damaschke mit der Bodenfrage tut, soll die Bodenfrage von der Dreigliederung gelöst werden, sondern so, daß man sagt:

Wie vertrackt auch die heutigen Bodenverhältnisse sein mogen, widmet euch der Dreigliederung, führt die Tatsachen der Dreiglie­derung hinein ins soziale Leben, [greift die Dinge auf], die in der Richtung dieser Dreigliederung liegen; was dann geschieht, das führt den Grund und Boden in für die Menschen segensreiche Verhältnisse - soweit auf Erden überhaupt etwas segensreich sein kann. Dreigliederung will nicht durch Gedanken die brennenden Fragen lösen, sondern durch Tatsachen, in die sich die Menschen versetzen, wenn sie sich solchen Gedanken widmen, die von ihnen selber abhängen, und nicht solchen Gedanken, die mit alten Tradi­tionen fortarbeiten. Es ist etwas anderes, wenn man sagt, man ver­sucht zu wirken in der Richtung der Dreigliederung, oder wenn man sagt, der Staat ist ein braver Mensch, der kann alles, der macht alles recht. Durch die Dreigliederung löst sich die Bodenfrage, in­dem der Boden des Charakters der Ware, in den er so hineingesaust ist, entkleidet wird; der Staat verhindert nicht [die ungerechte Ver­teilung des Bodens], er rationiert bloß; er ist es, der die Ämter einsetzt, um die Wohnungen zu besetzen, er ist es, der feststellt, wieviel jeder haben darf, er ist es, der das Hamstern verhindert -das darf nicht mehr sein!

Nicht wahr, man könnte sagen, es ist ja ganz in der Ordnung, wenn die Menschen so denken, wie es Morgenstern [in einem

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Gedicht] angedeutet hat. Da wird einer vom Auto überfahren. Er wird krank nach Hause gebracht. Palmström - so heißt der Mann

- hüllt sich in feuchte Tücher ein, er leidet, aber er gibt sich nicht seinen Schmerzen hin, denn er ist ein guter Staatsbekenner. Er fin­det in den Gesetzbüchern: Da, an der Stelle, wo ich überfahren worden bin, darf ja gar kein Auto fahren; also kann dort gar kein Auto gefahren sein, denn das widerspräche den Gesetzen, und da es den Gesetzen widerspricht, so bin ich eben nicht überfahren worden, denn: was nicht sein kann, das darf auch nicht geschehen sein. - Sehen Sie, ungefähr in dieser Art ist es, wenn man heute das, was in der Wirklichkeit wurzelt, so reformieren will, daß man sagt:

Wenn sich der Bodenwert in unbestimmter Weise steigert, wird das dem Staat überliefert, der weiß dann schon zu verhindern, daß gehamstert wird - denn Hamstern kommt nicht vor, wenn der Staat gesprochen hat. Es ist verboten, also gibt es das nicht.

Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, an diesem Beispiel gerade können Sie ersehen, wie anders die ganze Methode ist, die ganze Art der Lebensauffassung ist, in die die Dreigliederung alles soziale Leben bringt. Es handelt sich ja nicht darum - das habe ich oftmals gesagt -, daß man bloß denkt: Äußere Institutionen ändert man um; man nimmt dem, der zuviel Geld hat, durch eine Institu­tion das Geld weg und gibt es dem Staat, sondern es handelt sich darum, daß die Menschen bis in ihr Innerstes hinein umdenken lernen. Das können sie so schwer, das wollen sie durchaus nicht. Gehen Sie im Sinne dessen vor, was wahrhaftig aus einem Wirk­lichkeitssinn heraus ist und was in den «Kernpunkten der Sozialen Frage» geschildert ist, dann würden Sie sehen, daß es sich darum handelt, daß überall die Assoziationen gestützt werden auf diejeni­gen, die mit dem, was sie produzieren oder konsumieren, innig verbunden sind - auf das letztere wird man ja weniger zu sehen haben, aber auf das erstere wird man gar sehr zu sehen haben.

Nun, sehen Sie, vor allen Dingen verhüllen sich ja, verschleiern sich ja alle Verhältnisse dadurch, daß wir in der Abstraktion der Geldwirtschaft drinnen leben, wie ich es heute und auch das letzte Mal an einem solchen Abend hier angedeutet habe. Da beobachtet

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man zum Beispiel nicht in einer richtigen Weise, wie das Verhältnis größerer Güter zu kleineren Gütern ist. Man wird, weil man heute alles bequem haben will, agitieren gegen große Güter oder für kleine Güter oder umgekehrt. Aber alles wird da in einen gewissen Monismus des abstrakten Denkens hineingeführt: entweder es sind nur große Güter gut, oder es sind nur kleine Güter gut für die Volkswirtschaft. Aber das entspricht nicht der Wirklichkeit. Es handelt sich darum, daß aus bestimmten Verhältnissen heraus gera­de das Zusammenwirken von kleinen und großen Gütern, von großen Wirtschaften mit kleinen Wirtschaften, das Richtige ist, nur kommt das, wie es richtig ist, erst durch das Assoziative heraus, das als das Wesentliche im Wirtschaftsleben charakterisiert ist in den «Kernpunkten» Große Wirtschaften wirken mit kleinen zusam­men und bewirken dadurch das Beste für die Volkswirtschaft. Nicht darum handelt es sich, daß man alles über einen Leisten schlägt, sondern darum, daß nach bestimmten Verhältnissen große und kleine Güter zusammenwirken. Glauben Sie, es entspricht nicht bestimmten realen Verhältnissen, daß die preußischen Ritter-güter allein mit Bezug auf die Runkelrüben 54,8 % von der gesam­ten Produktion hervorgebracht haben - also über die Hälfte der Produktion -, während sie bei allen anderen Dingen im Verhältnis zu den kleinen Gütern weniger als die Hälfte, unter 50 %, hervor­gebracht haben? Das alles ist in realen Verhältnissen begründet. Das kann nur fruchtbar hineinwirken in den realen volkswirt­schaftlichen Prozeß, wenn die Menschen, die darinnenstehen in der Bewirtschaftung der Güter, Assoziationen nach diesen realen Ver­hältnissen begründen. Dann kommt heraus, wie das eine das andere tragen muß, denn dann arbeitet man nicht aus der Abstraktheit, sondern aus der Wirklichkeit heraus. Und dann kann man durch Verträge festsetzen, wie man einfach das, was nun auf der einen Seite ein Mehr an Produktion ist, auf der anderen Seite ausgleicht und so weiter. Deshalb war es berechtigt, daß ich [am Anfang] sagte: ich will zu Ihnen so von den Verhältnissen in der Dreiglie­derung sprechen, daß sie ein Licht werfen können auf die Boden-frage. Ich wollte nicht so, wie es üblich ist, über die Bodenfrage

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sprechen, sondern ich wollte zeigen, wie irgendeine Frage des sozialen Lebens angefaßt werden muß, wenn man auf dem Boden der Dreigliederung steht. Und Sie können diese Frage schon sehr konkret anfassen, während Sie aus den alten Verhältnissen heraus niemals diese Frage in ordentlicher Weise anfassen können.

Man muß ja schon fast so sein wie der Herr Stadtpfarrer Planck, wenn man denkt: sozialer Organismus, Dreigliederung - das sind drei Dreiecke nebeneinander, und von dem einen geht ins andere nichts hinein. Nein, der dreigegliederte soziale Organismus ist wirklich ein Organismus, und eines spielt immer in das andere hinein, so daß in jedem der drei Glieder wieder etwas ist von den anderen beiden. Im menschlichen Organismus ist es ja auch so: Im Kopfe wirkt nicht nur das Nerven-Sinnes-System, sondern da drin­nen geschieht auch Rhythmus und Verdauung. So spielt in das Wirtschaftsleben auch das Staatsleben hinein, es hat nur sein eige­nes Zentrum der Verwaltung, und so spielt in das Wirtschaftsleben auch das Geistige hinein, eben beim Übergang der Produktions­mittel von einem zum anderen.

Aber noch in viel alltäglicheren Dingen sehen wir dieses Inein­anderspielen. Nehmen wir zum Beispiel einen Tatbestand des öffentlichen Lebens, wo dreierlei ineinanderfließt zu einem: das ist der Verkehr. Der Verkehr hängt ja auf der einen Seite dadurch, daß er die Straße braucht, mit Grund und Boden zusammen. Aber man sieht, weil der Verkehrsboden, Straßen und so weiter nicht Privat-besitz sein kann, auch nicht Ware sein kann, daß man da heraus muß aus der Ware, daß also wenigstens dieser Teil von Grund und Boden nicht als Ware betrachtet werden kann. Aber mit dem Ver­kehrswesen hängt auch unsere ganze Kultur zusammen. Eigentlich steht der ganze Verkehr unter drei Gesichtspunkten. [Wir können fragen:] Was unterliegt dem Verkehr? Erstens Güter, Waren; zwei­tens Menschen; drittens Nachrichten. In irgendeiner der drei Kate­gorien können Sie alles unterbringen, was dem Verkehr unterliegt:

Nachrichten, Menschen, Waren. Sehen Sie, dadurch daß im Ver­kehr Waren drinnenstehen, muß dasjenige, was sich auf den Wa­renverkehr bezieht, nach Verträgen, nach den Impulsen des Wirtschaftslebens

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geregelt sein. Dasjenige, was sich auf Menschen be­zieht, ist aus dem Staatsleben heraus geregelt, das sind die Rechts­verhältnisse. Auch der Verkehr der Menschen muß nach Rechts-verhältnissen geregelt sein. Die Nachrichten unterliegen dem geisti­gen Leben; sie sind das geistige Leben im Verkehr. Und Sie werden schon finden, wie von den drei Seiten her das eigentlich dreigeglie­derte Verkehrswesen verwaltet werden muß - etwas, was die alten Einrichtungen nicht zustandegebracht haben. Rechnen Sie sich aus, was für ein Unding es ist, daß noch immer bei uns in derselben Weise durch dieselbe Institution Güter und Nachrichten besorgt werden, die Postpakete und die Nachrichten ausgetragen werden, was durchaus nicht zusammengehört und wozu auch keine Not­wendigkeit vorliegt in den äußeren Einrichtungen. Aber die alten Staatseinrichtungen konnten es nicht dahin bringen, die Paketfahrt zu trennen vom Nachrichtendienst, so daß das eine das andere stört. Sehen Sie in das Posttarifwesen hinein, so werden Sie sehen, was für eine Unwirtschaftlichkeit darin liegt, daß die Post sowohl für Nachrichten- wie für Güterverkehr dient.

Gerade da, wo das Leben anfangen muß, praktisch zu werden, gerade da, wo das Leben heute uns zu eng geworden ist, weil es nicht mehr praktisch ist - an allen Ecken und Enden sitzt die Unpraxis -, da ist die Dreigliederung dazu berufen, wiederum das Praktische herzustellen. Nur eines gehört eben zu dieser Dreiglie­derung: ein wenig Mut. Wer sich allerdings nicht getraut, die Post­pakete wegzunehmen dem Nachrichtendienst der Post und sie zu übergeben dem gewöhnlichen Eisenbahnverkehr, wer da immer seine Bedenken einwendet und nicht real nachrechnet, was das eine oder andere bedeutet, der wird die Dreigliederung ewig nicht ver­stehen. Denn die Dreigliederung beruht eben gerade nicht auf dem Festhalten an alten Einrichtungen, nicht auf dem Festhalten an Ideen von alten Menschenvignetten, von alten Staatsvignetten und so weiter, sondern es beruht diese Idee der Dreigliederung eben auf der Betrachtung der wirklichen Verhältnisse.

Denn, meine sehr verehrten Anwesenden, man kann nicht ver­langen, daß etwa der Dreigliederungs-Impuls sich so mit der Rea­lität,

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mit der Praxis auseinandersetzt, daß er nun angibt, wie sich ein Geheimer Hofrat oder ein Regierungsrat in den dreigegliederten Organismus hineinstellen wird. Ja, so ungefähr sind ja viele Fragen, die gestellt werden. Es ist das nur eine der grotesken Fragen. Man kann eben nicht sagen, wie sich ein Geheimer Hofrat und ein Regierungsrat da hineinstellen, es ist aber auch gar nicht nötig, daß man das angibt. Es werden sich die geistigen, die rechtlichen, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Menschen nach der Erkenntnis, nach dem Gesetz, nach dem Vertrag in ganz klarer Weise regeln, nur wird innerhalb dieser drei Gebiete manches von dem nicht mehr da sein, das früher sehr geschätzt wurde. Aber, meine verehr­ten Anwesenden, muß man denn nicht zugeben, daß man im alten Regime manchmal mehr darauf geschaut hat, ob einer ein Geheimer Hofrat war, als darauf, was er leistete, was er arbeitete für den sozialen Organismus? Aber in der Wirklichkeit kommt es eben nicht darauf an, daß einer ein Geheimer Hofrat ist, sondern darauf, was er leistet für den sozialen Organismus. Deshalb muß die Idee der Dreigliederung hinwegsehen über dasjenige, was als Vignette noch aus der alten Zeit herstammt, wenn wir nicht dem vollstän­digen Untergang des Abendlandes entgegengehen wollen. Sie muß sehen auf das, was aufgehen muß in der neuen Zeit als Frucht der Arbeit, die ein Mensch in irgendeiner Form vollbringt im Dienste des dreigegliederten, aber gesamten sozialen Organismus.

Nach der Ansprache von Rudolf Steiner melden sich verschiedene Persön­lichkeiten mit Fragen zu Wort:

Walter Johannes Stein: Grund und Boden ist eine unvermehrbare Totali­tät. Es gibt also nur eine bestimmte Menge von Grund und Boden. Darauf wohnt eine bestimmte Kopfzahl von Menschen. Man kann daher ausrech­nen, wieviel Grund und Boden auf den einzelnen Menschen kommt. Nun möchte ich fragen, ob eine solche Rechnung einen Wirklichkeitswert hat, das heißt, ob man dadurch ein Maß gewinnt, mit dem man volkswirtschaft-lich etwas anfangen kann. Oder ist das eine müßige Statistik?

Hans Kaltenhach: Herr Dr. Steiner hat nicht die ganzen Erkenntnisse der deutschen Bodenreformer wiedergegeben; er hat in seinen Ausführungen

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nur die Steuer auf der Wertsteigerung des Bodens herausgenommen. Diese würde aber nur einen kleinen Teil der vorgeschlagenen Bodenreform aus­machen. Die Einführung einer Grundrentensteuer ist ein deutlicher Beweis dafür, daß die Bodenreformer keine Gesetze im Sinne des alten Staats­wesens wollen. Was ihnen vorschwebt, ist eine vertragliche Entwicklung, die nichts mit alter Gesetzesmacherei zu tun hat. Sie ist herausgeboren aus der Idee, daß jeder eine Grundrentensteuer bezahlen muß dafür, daß er den Boden benützen darf, denn die Rente, die ihm durch die Benützung des Bodens zufällt, die soll er der Allgemeinheit spenden. Es handelt sich bei diesem Verfahren nicht um parlamentarische Gesetze oder überhaupt um Gesetze im alten Sinn, sondern um viele einzelne Verträge.

Ein Diskussionsteilnehmer: Es ist aber letzten Endes doch der Staat, der die Grundrentensteuer einkassiert.

Ein anderer Diskussionsteilnehmer: Man kann die Sache drehen, wie man will: Ohne Bodenreform geht es nicht weiter; sie muß als Grundlage für eine Weiterentwicklung unserer Gesellschaft vorhanden sein.

Walter Johannes Stein: Die Dreigliederung ist uns oftmals geschildert worden von Herrn Dr. Steiner als funktionelle Dreigliederung und nicht als eine Dreigliederung der Gebiete. Viele Menschen sind aber im Irrtum; sie denken sich jedes Gebiet für sich und an der Spitze eine Korporation. Das ist also ein Irrtum. Ich möchte fragen, wie eigentlich ein so falsch geglie­derter sozialer Organismus aussehen würde.

Hermann Heisler: Wie kommt man zu einer Wohnung, und wie vollzieht sich ein Tausch der Wohnung? Wie vollzieht sich der Hausbau? Der Boden ist Produktionsmittel; er wird vom geistigen Organismus zur Verfügung gestellt. Wenn das Haus fertig ist, ist es dann kein Produktionsmittel mehr? Die meisten Menschen wünschen einen kleinen Garten zu besitzen. Wie soll das gemacht werden, es ist doch nicht soviel Boden da? Welche Rolle spielt bei der Verwaltung von Grund und Boden das Rechtsleben?

RudolfSteiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Es ist richtig, daß Grund und Boden nicht aus Kautschuk besteht und nicht in beliebiger Weise ausdehnbar ist, und es ist daher auch richtig, daß ein gewisser Zusammenhang bestehen muß zwischen einem abgeschlossenen

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Bodengebiet und den darauf wohnenden Menschen. Nun ist ja die Sache, die hier als ein ideal-reales Verhältnis spielt, die, daß in der Tat einfach dadurch, daß ein Mensch geboren wird, ein Stück des Grund und Bodens wirklich gewissermaßen okku­piert wird - das entspricht der gesamten verfügbaren Bodenfläche, dividiert durch die Anzahl der bisherigen Bewohner des Bodens plus eins. Es ist tatsächlich so, daß ideal-real jeder Mensch das ihm zufallende Bodenstück bei seiner Geburt beansprucht und daß sich einfach eine reale Beziehung bildet zwischen der verfügbaren Bo­denfläche und dem, was eben der neugeborene Mensch auf diese Weise beansprucht. Das ist eine reale Beziehung. Aber nicht wahr, in der Tat geht in dieser sozialen Wirklichkeit nicht alles am Schnürchen. Die Gesetze - ich meine jetzt Naturgesetze, nicht Staatsgesetze - sind da, sie sind aber approximativ. Wenn zum Beispiel auf einem gewissen Gebiet verschiedene Pflanzen leben, und die eine Pflanzensorte entwickelt sich besonders stark, so ver­drängt sie die andere Pflanzensorte; die kann nun nicht mehr wach­sen. Wenn nun auf einem Bodengebiet es im wesentlichen so ist, daß in der Tat dieses eine Stückchen, von dem ich geredet habe, viel zu klein wird für einen neugeborenen Menschen, so wird gewisser­maßen das Ventil aufgemacht, und es tritt ganz von selbst die Auswanderung, die Kolonienbildung und so weiter ein. Wenn die Bevölkerung sich in einem bestimmten Gebiet vermehrt, so kann man eben auch prüfen, ob dem Boden noch mehr Fruchtbringen­des entnommen werden kann als in einer früheren Zeit. Das ist zum Beispiel bei dem Boden des ehemaligen Deutschland im wesentlichen der Fall gewesen.

Also das besteht, worauf Herr Dr. Stein hingedeutet hat: die Beziehung des Menschen auf ein gewisses Stück von Grund und Boden. Nur müssen wir uns klar sein, daß dieses Verhältnis eben ein ideal-reales ist, das aber dann, wenn die Dreigliederung Wirk­lichkeit wird, immer Verträge entscheiden, insofern auf dem Boden Waren erzeugt werden. Der Boden wird nämlich von den Men­schen verwaltet, und die Menschen, die den Boden verwalten, müssen - einfach dadurch, daß nicht jeder die gleichen Produkte

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erzeugt - miteinander in Beziehung treten. Sie müssen eben Ver­träge schließen, und nachdem sie Verträge geschlossen haben, muß irgend etwas da sein, was sie daran hält, diese Verträge auszufüh­ren. Also dasjenige, was im wechselseitigen Verkehr der Menschen auftritt, welche den Boden bewirtschaften, das unterliegt den Rechtsverhältnissen, den politischen, den Staatsverhältnissen. Das­jenige aber, was geschieht, wenn eine einzelne Bodenfläche über­geht von dem einen Menschen auf den anderen, das unterliegt dem geistigen Gesetz, das in einem selbständigen, sich emanzipierenden Geistesleben gebildet wird und einfließt in die Bodenverwaltung. Die Rechtsverhältnisse greifen ein in die Wechselbeziehungen der Menschen, die den Boden verwalten; das sind Verhältnisse, die nur rechtlich geregelt werden können. Wenn nun so die Dreigliederung eingreift, dann wird wirklich ersichtlich, ob der Boden noch aus­reicht oder nicht oder ob man irgendwie - aber nicht durch den bloßen Instinkt, sondern durch einen durch Vernunft geleiteten Instinkt - Kolonisationsverhältnisse hervorruft.

Im ganzen wird man aber sehen, daß etwas Merkwürdiges ein­tritt. Es gibt etwas im ganz gewöhnlichen, alltäglichen Leben, das regelt sich merkwürdig schön, obwohl natürlich auch nur approxi­mativ. Es regelt sich ganz gut, obwohl die Menschen nichts durch Staatsgesetze oder sonst irgend etwas dazu tun können: das ist nämlich das Verhältnis der auf der Erde vorhandenen Frauenzahl zur Männerzahl. Man ist nicht imstande bis jetzt - und in dem Sinne, wie es die Schencks träumen, wird es auch nicht sein -, durch irgendwelche Staatsgesetze oder durch etwas anderes zu re­geln, daß annähernd soviel Männer wie Frauen die Erde bevölkern. Denken Sie, was das wäre, wenn einmal nur 1/5 Frauen und 4/5 Männer da wären oder umgekehrt.

Es ist doch besser, man überläßt das den Gesetzen, die so har­monisch zusammenwirken wie die Naturgesetze. Ebenso harmo­nisch wird sich - wenn die Dreigliederung einmal wirklich läuft -das, was entsteht, auch den Verhältnissen anpassen. Es werden zum Beispiel nicht alle Menschen Gelehrtenberufen nachlaufen und darin etwas Besonderes sehen. Es werden sich nun wirklich solche

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Verhältnisse herausbilden, die zum Beispiel auf eine bestimmte Bodenfläche eine geeignete Anzahl von Menschen bringen, so daß dem Dasein des einzelnen die Fruchtbarkeit desjenigen Gebietes entspricht, das ideal-real auf ihn entfällt. Wenn auch dann in über­tragener Bedeutung fünf oder hundert solcher Flächen von einem einzigen, der die besondere Fähigkeit dazu hat, verwaltet werden, so kommt doch das, was angebaut wird auf diesen Flächen, den anderen zugute.

Nun habe ich die zweite Frage von Herrn Dr. Stein nicht ver­standen. Es scheint mir, als ob er gefragt hätte, was entstehen würde, wenn in falscher Weise die drei Gebiete des sozialen Orga­nismus gegliedert würden.

Ich habe ja schon erwähnt, daß heute die Leute sich eine große Force daraus machen, allerlei «Traubismus» zu treiben. Sie werfen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft vor, daß von der Gnosis etwas entnommen sei, daß vom Indertum etwas entnommen sei, daß den ägyptischen Isis-Mysterien etwas entnom­men sei. Ein Artikelschreiber hat sogar entdeckt, daß aus einem sehr alten Buche, das aus den atlantischen Gegenden stammen soll, dasjenige steht, was die Geisteswissenschaft abschreibt und so weiter. Das wird sozusagen nach und nach zu einer Technik, [so etwas zu behaupten], obwohl es eigentlich knüppeldicke Unwahr­heiten, sogar in vielen Fällen wirkliche Lügen sind. Denn es ist selbstverständlich einfach so: Wenn ich heute ein mathematisches Lehrbuch schreibe und darin kommt der pythagoräische Lehrsatz vor und ich rechne auf Leser, die ihn nicht gelernt haben, so schrei­be ich ihnen das Nötige hin. Aber wenn dann nach dem pythago­räischen Lehrsatz noch etwas dazukommt, was Pythagoras nicht hatte, so darf der Leser nicht sagen, das ganze sei entlehnt, nur weil ich genötigt war, auch das zu sagen, was schon da war. Es handelt sich doch immer darum, daß man an Bekanntes anknüpft und dann das Unbekannte hinzufügt. Es ist unredlich, wenn die Traubisten dann kommen und sagen, es sei etwas von der Gnosis Entlehntes und so weiter. Man muß wissen, was gerade auf dieser Seite für ein knüppeldickes Unwahrheitswesen getrieben wird. Sehen Sie, ist

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man offizieller Vertreter eines heutigen Bekenntnisses, so ist man schon sehr, sehr veranlaßt, das Wahre nicht zu sagen. Als Professor ist man auch in einer sonderbaren Lage im Verhältnis zur wirk­lichen Wahrheit. Ist man aber nun gar beides und schreibt man dann ein Buch - ich will den Gedanken nicht weiter ausführen.

Aber sehen Sie, dieselbe Geschichte wird auch mit der Dreiglie­derung losgehen. Da ich nun weder behaupte, daß ich die Zahl Drei entdeckt habe, noch auch, daß die Zahl Drei nicht in der verschie­densten Weise schon auf irgendwelche physischen Verhältnisse angewendet worden ist, zum Beispiel auf den Menschen, so können auch die Leute kommen und können sagen: Ja, in alten arabischen Schmökern findet sich auch eine Dreigliederung des Menschen, da hat man auch schon den Menschen in drei Glieder eingeteilt. Das aber, um was es sich bei unserer Dreigliederung handelt, das finden Sie in meinem Buche «Von Seelenrätseln», wo ich von Funktions­begriffen ausgehe. Ich sage nicht: Der Mensch besteht aus drei Trakten. Ich sage: Da ist ein Nerven-Sinnes-Gebiet, da ist ein Luft-und Blutgebiet, da ist ein Verdauungsgebiet. Aber ich sage aus­drücklich: Verdauung ist im ganzen Menschen; die drei Gebiete sind im ganzen Menschen. Ich unterscheide nach den Funktionen; da spreche ich von einer Nerven-Sinnes-Tätigkeit, nicht von irgendeinem Gebiet, und ich unterscheide davon die Funktion der rhythmischen Tätigkeit und drittens die Funktion des Stoffwech­sels. Das ist der Mensch, gegliedert nach Funktionen. Sehen sie, wie ich streng als Funktionen in dem Buche «Von Seelenrätseln» gerade das alles charakterisiert habe.

Nun entdeckt einer in einem alten Schmöker, daß der Mensch in Arabien in drei Glieder geteilt werde, in drei Trakte. Der könnte nun auch sagen: Da spricht einer von der Dreigliederung des mensch­lichen Organismus; er hat ja das Wichtige, die Zahl Drei, aus uralten Traditionen entlehnt; das ist nicht originell. Und weiter wird in die­sem alten Schmöker auch nach Analogien eingeteilt - das ist etwas, was ich gerade nur zu einer gewissen Interpretation angewendet habe; lesen Sie nach, was in den «Kernpunkten» über Analogien steht -, dort in diesem Schmöker wird gerade nach Analogien das

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außere Staatswesen eingeteilt; es wird zwischen Gebieten unterschie­den, und an der Spitze eines jeden Gebietes steht ein Fürst. Es stehen drei Fürsten an der Spitze, also auch in diesem Falle nichts anderes als die Dreizahl. Nun, Fürsten - wenn das einmal kommen sollte, dann können Sie selbst Stellung dazu nehmen. Es kommt nicht auf drei Fürsten an; sondern der innere Geist ist etwas ganz anderes in der sozialen Dreigliederung, [dort kommt es auf das Funktionsmäßi­ge an]. Wenn man nicht auf das Funktionsmäßige sieht, so würde der Irrtum entstehen, daß man zwei oder drei Parlamente nebeneinander haben könnte, wie es einmal ein Tübinger Professor in der «Tribüne» geschrieben hat. Darauf kommt es in der Dreigliederung eben an, daß nicht drei Parlamente nebeneinander sein werden, auch nicht drei Fürsten, sondern nur ein Parlament, im demokratischen Staats-gebilde. Denn im Geistesleben wird nicht parlamentarisiert werden, sondern da wird eine sachgemäße Verwaltung aus der Sache heraus tätig sein, ebenso im Wirtschaftsgebiet. Also, man kann ja den Leu­ten ihr Vergnügen gönnen, die Dreigliederung auch schon in alten Schmökern nachzusehen. Aber wenn es sich um ein fruchtbares Wirken vom Dreigliederungsgedanken aus handeln soll, so muß man nun wirklich auf das eingehen, wie es in den «Kernpunkten» beschrieben ist.

Nun zu den Fragen von Pfarrer Heisler: Wie kommt man zu einer Wohnung? - und so weiter.

Diese Art Fragen sind eben gar zu starr. Ich will nicht sagen, daß sie nicht wichtig sind, sie sind ungeheuer wichtig. Es ist eine so große Wohnungsnot in der Welt, daß die Leute auf ganz groteske Weise zu Wohnungen zu kommen versuchen. Es ist sogar vorge­kommen, daß jemand geheiratet hat, um eine Wohnung zu finden, um nicht auf der Straße zu sein. Es ist außerordentlich wichtig zu wissen, wie man zu einer Wohnung kommt, aber man soll nicht färben seine ganze Auffassung von der Dreigliederung mit etwas, was noch zu stark im Stile desjenigen denkt, was überwunden werden muß.

Denken Sie sich realisiert die Dreigliederung des sozialen Orga­nismus - man muß ja nicht abstrakt denken, denn wenn es sich

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darum handelt, wie etwas gedacht werden soll, dann muß man auf diese Realisierung der Dreigliederung sehen, wenn sie auch noch so weit draußen steht; es kann nicht alles bloß nach Zielen beantwor­tet werden. In dem dreigliedrigen Organismus wird der Mensch nicht bloß eine Wohnung zu suchen haben, sondern er tut auch sonst noch etwas. Er wird irgend etwas sein, Fabrikdirektor oder Tischler oder sonst etwas. Dadurch, daß man Fabrikdirektor oder Tischler ist, kann man leben; dafür wird einem etwas vergütet. Dieses Zusammenbringen des Menschen mit seiner Arbeit muß aber im dreigliedrigen sozialen Organismus nach und nach auf die Verwaltung des geistigen Gliedes des Organismus übergehen: Eine Wohnung zu kriegen gehört dann zum Vergüten dazu; das schließt sich zusammen. Sie dürfen sich also nicht vorstellen: ich bin ein Mensch und muß zu einer Wohnung kommen, sondern Sie müssen davon ausgehen: ich bin nicht einfach nur ein Mensch, sondern ich habe auch etwas an einem Orte zu tun, und unter denjenigen Din­gen, die mir dafür als Vergütung zukommen, ist - wenn normale soziale Verhältnisse sind - auch eine Wohnung. Nicht bloß darum handelt es sich, daß man abstrakt die Frage stellt: Wie komme ich zu einer Wohnung? -, sondern man muß fragen: Was geschieht, wenn die Dreigliederung da ist? - Da kriegt der Mensch eben, wenn er Mensch ist, an irgendeinem Ort - und das ist man ge­wöhnlich, wenn man nicht ein Engel ist, der überall ist -, da kriegt der Mensch, wie er sein Gehalt kriegt, auch eine Wohnung, und das unterliegt eben dem, was aus der Organisation des geistigen Lebens kommt. Oder - wenn es sich darum handelt, daß man zwar nicht in ein neues Gebiet hinein versetzt wird, aber sonst in einem ande­ren Arbeitszusammenhang wirkt, so unterliegt das dem Staat oder dem politischen Gebiet. Aber solche Fragen können nicht abstrakt gestellt werden.

Es werden wirklich erst ein wenig die Verhältnisse abgewartet werden müssen, die durch die Dreigliederung kommen, oder man wird nötig haben, sich durch die Phantasie ein Bild zu machen, wie sich die Verhältnisse gestalten werden. Dann wird es sich ja wirk­lich auch beantworten lassen, wie man zu verhandeln hat, wenn

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man irgendwo eine Stelle antritt, also eine Arbeit verrichtet, damit man auch zu einem kleinen Gärtchen kommt und dergleichen. Das sind wirklich Dinge, die nicht an den Nerv der Dreigliederung gehen. Man kann sicher sein, daß sie sich so regeln werden, daß man wahrhaftig erst recht sein kleines Gärtchen vor dem Haus haben kann, wenn einmal die Verhältnisse da sind, die durch die Dreigliederung herbeigeführt werden.

Ebenso handelt es sich ja darum, daß der Hausbau geregelt wird. Was ist er? Er hängt mit der Bodenfrage zusammen. Wenn aber diese Bodenfrage keine Frage der Ware mehr ist, sondern eine Frage des Rechts und des geistigen Lebens, dann ist die Hausbau­frage auch eine Frage, die zusammenhängt mit der ganzen Kultur­entwickelung der Menschheit. Es ist ja selbstverständlich, daß Häuser gebaut werden aus denselben Impulsen heraus, aus denen heraus ein Mensch hineingestellt ist in seine Arbeit. Also darum handelt es sich, daß man all diese Fragen nicht abstrakt stellt, daß man sie nicht so stellt, daß der Mensch als ein abstraktes Wesen herausgerissen wird aus seiner ganzen Konkretheit. In einem leben­digen dreigegliederten sozialen Organismus ist es eben nicht so, daß man nur allein vor die Frage gestellt wird, wie man zu einer Wohnung kommt, sondern man wird mit der Frage in die ganze Konkretheit des Lebens hereingestellt, und da kommt alles darauf an, wirklichkeitsgemäß diese Dinge zu behandeln.

Da hat Herr Kaltenbach schon etwas Richtiges gesagt, [wenn er auf die Bedeutung der Grundrente hingewiesen hat]. Ich habe natürlich nur ein Beispiel herausgegriffen, gerade die Wertsteige­rungstaxe. Aber ganz dasselbe hätte ich ja sagen müssen in bezug auf die Besteuerung der Grundrente. Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, ich möchte nun wissen, ob denn das, was als Frage aufgeworfen wurde, nicht schon beantwortet wurde? Denn mir kam es nicht darauf an, ob es sich nun um eine Grundrente handelt oder um eine Wertsteigerung, sondern darauf, daß grundsätzlich eine Steuer dem Staate gegeben wird; Herr Kaltenbach hat ja deut­lich gesagt «Steuer», und damit meint er etwas, was dem Staate gegeben wird. Welche Art Steuer es ist, die dem Staat gegeben

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werden soll, darauf kommt es nicht an. Aber darauf kommt es an, daß der Staat auf ein einziges Glied des sozialen Organismus ein­geschränkt werde, nicht behalten werden soll die Struktur, in der er heute ist. Man kann nicht sagen, daß die Bodenreformer keine Gesetze im Sinne des alten Staatswesens wollen. Das wollen sie doch. Sie wollen dem alten Staat etwas aufbuckeln, wovon sie glau­ben, der alte Staat könne es. Er kann es niemals. Ich weiß selbstver­ständlich, was für eine Rolle es spielt, wenn jemand sich in eine Idee eingelebt hat; er kann nicht davon lassen. Aber ich denke, daß eigentlich alles das, was über die Grundrentensteuer gesagt worden ist, schon aus dem Geiste dessen, was über Wertsteigerung gesagt wurde, beantwortet ist.

Das möchte man so sehr, daß nicht wiederum das Alte auf­taucht. Man möchte nicht, daß nur einer kommt und sagt: Ich will ja gar nicht, daß die Geheimen Regierungsräte geradeso sind wie die alten Geheimen Regierungsräte, aber ich will, daß der dreige­gliederte Organismus neue Regierungsräte fabriziert. - [Es kommt auf das gleiche heraus], ob man das sagt oder ob man sagt: Ja, die Bodenreformer wollen ja gar nichts dem Staate geben. - Aber Steu­ern wollen sie doch geben, und Steuern kann man ja in der heutigen Form nur dem Staate zahlen. Damit steckt man ja in der Frage drinnen: Wem soll man denn Steuer zahlen? - Und wenn es sich um Verträge handelt - ja, wissen Sie, Verträge läßt wahrhaftig bis jetzt kein Staat mit sich über die Steuer schließen. Das nimmt sich doch anders aus, was da spielt zwischen Staat und Mensch, wenn Steuer gezahlt werden soll; da handelt es sich wahrhaftig nicht um Verträge.

Es handelt sich darum, daß wir lebendig aufzunehmen versu­chen, wie die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus ein Umdenken will. Aber dem steht eben entgegen - auch wenn man mit gutem Willen oftmals zugibt, man soll und muß umdenken -, daß, wenn man dann versucht umzudenken, man eben am Worte kleben bleibt, zum Beispiel bei dem Worte «Gesetz». Ja, so habe ich auch schon die Frage gestellt bekommen: Wie soll der Staat die Dreigliederung einführen? Das ist es: Wir müssen hinauskommen

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über die Denkgewohnheiten, über die Wortgewohnheiten. Wir müssen zu scharf umrissenen Gedanken kommen, sonst wird der Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus doch nicht verstanden.

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FÜNFTER STUDIENABEND Stuttgart, 23. Juni 1920 Über Außenpolitik im Lichte der Geisteswissenschaft und Dreigliederung

Zu Beginn des Studienabends hält Ludwig Graf Polzer-Hoditz einen Vor­trag «Über Außenpolitik im Lichte der Geisteswissenschaft und Dreigliede­rung». Anschließend ergreift Rudolf Steiner das WorL

Rudolf Steiner: Meine sehr verehrten Anwesenden! Ich möchte über einiges, das Graf Polzer heute berührt hat, aphoristisch vielleicht das eine oder andere sagen, da ja wiederholt auch angespielt worden ist auf Dinge, die ich da oder dort im Laufe der Zeit berührt habe.

Man kann an verschiedenen Erscheinungen ganz deutlich sehen, wie in der neueren politischen Entwicklung im 19. Jahrhundert die Tatsache auftritt, auf die Graf Polzer hat hinweisen wollen, dieset Bruch, möchte ich sagen, der dann in die Katastrophe hinein-geführt hat. Er hat gesprochen von diesen Jahren des Übergangs und der völligen Ratlosigkeit namentlich der mitteleuropäischen Völker, von den siebziger, achtziger Jahren, wo in Österreich statt­gefunden haben die Kämpfe über die Okkupation Bosniens, die Slawenfrage und so weiter. Dem vorangegangen sind die sechziger Jahre, in denen noch eine gewisse Nachwirkung vorhanden war jener europäischen politischen Stimmungen, die aus dem Jahre 1848 stammen. Man kann diese Stimmungen eigentlich in ganz Mitteleuropa verfolgen, sowohl in den österreichischen Ländern wie auch in dem, was dann später zu dem Deutschen Reich gewor­den ist: es ist dasjenige, was man nennen könnte das Auftreten eines gewissen abstrakten Liberalismus, eines abstrakt-theoreti­schen Liberalismus.

In Österreich war es ja Ende der sechziger Jahre, als heraus-wuchs aus den Ministerien Schmerling, Belcredi das erste sogenannte

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Bürgerministerium Carlos Auersperg, das einen ausgespro­chen liberalen, aber theoretisch-abstrakt-liberalen Charakter hatte. Dann, nach einer ganz kurzen Zwischenregierung, wo die slawi­sche Frage zu einer gewissen Höhe geführt wurde unter Taaffe, Potocki, Hohenwart bildete sich dann heraus in den siebziger Jah­ren in Osterreich das sogenannte zweite Bürgerministerium, das Ministerium Adolf Auersperg, wieder eine Art von bürgerlich-libe­ralistischer Richtung. Diesen Richtungen gingen parallel die Kämp­fe, die geführt worden sind von den liberalistischen Parteien Preu­ßens und der einzelnen deutschen Staaten gegen den auftauchenden Imperialismus Bismarcks und so weiter. Diese liberalistischen Strö­mungen, die da auftauchten, sie sind außerordentlich lehrreich, und es ist eigentlich schade, daß sich die heutige Generation so wenig erinnert an dasjenige, was in Deutschland gesprochen worden ist, in Preußen gesprochen worden ist in den siebziger, achtziger Jahren von Männern wie Lasker und so weiter, was in Österreich gesprochen worden ist von dem heute von Graf Polzer erwähnten Giskra und anderen ähnlich liberalisierenden Staatsmännern. Man würde eben sehen, wie da ein gewisser freisinniger, guter Wille heraufkam, der aber im Grunde genommen verlassen war von einer jeglichen positiven politischen Einsicht. Das ist das Charakteristi­sche, daß heraufzieht in Mitteleuropa ein abstrakter Liberalismus, der viele schöne, freiheitliche Grundsätze hat, der aber nicht mit historischen Tatsachen zu rechnen weiß, der von allen möglichen Menschenrechten redet, der aber wenig von der Geschichte zu reden und namentlich wenig aus der Geschichte heraus zu wirken versteht. Und es ist vielleicht das Verhängnis für ganz Mitteleuropa gewesen - in Österreich hat ja der Weltkrieg begonnen, oder we­nigstens von Osterreich aus nahm er seinen Anfang -, es ist das Verhängnis gewesen, daß diese liberalisierende Richtung in Öster­reich so furchtbar unpolitisch gegenüberstand den großen Proble­men, die gerade in Österreich zum Vorschein kamen und auf die ja in den wichtigsten Teilen Graf Polzer hingewiesen hat.

Nun muß man ein wenig näher studieren, was dieser Liberalis­mus in Österreich eigentlich vorstellt. Man kann ihn studieren,

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wenn man heute noch vernimmt die Reden des älteren und jünge­ren Plener. Man kann ihn studieren, wenn man die Reden von Herbst vernimmt, jenes Herbst, der ein großer österreichischer Staatsmann sein wollte der liberalisierenden Richtung. Bismarck, der Realpolitiker, nannte die Anhänger von Herbst «die Herbst-zeitlosen», eines von jenen Bonmots, welche ertötend sind im öffentlichen Leben. Und man kann diesen Liberalismus noch an einem anderen Orte studieren, in Ungarn, wo immer wieder und wiederum mit einem außerordentlich starken Machtgefühl im un­garischen Reichstag Koloman Tisza auftrat, gerade auch im äuße­ren Gebaren, möchte ich sagen, der richtige Vertreter des welt­abgewandten, weltfremden Liberalismus, der - ohne die historische Tatsachen - nur rechnet mit dem, was aus abstrakten, allgemeinen Grundsätzen hervorgeht. Tisza, der ältere, also der Vater dessen, der im Weltkrieg eine Rolle spielte, zeigte das schon in seinem äußeren Gebaren. Er konnte nie anders als mit dem Bleistift in der Hand auftreten, wie wenn er seine Grundsätze, die in Bleistift-notizen fixiert sind, abreden würde vor denjenigen, die ein gläubi­ges Publikum darstellen. In gewissem Sinne kann man eine etwas mindere Auflage studieren an dem Bismarckgegner Eugen Richter, der in Preußen-Deutschland aber einer späteren Zeit angehört. An diesen Leuten kann man analysieren dasjenige, was als so recht unfruchtbare Politik heraufgezogen ist. Namentlich haben alle die­se Leute Politik in der englischen politischen Schule gelernt. Und das wichtigste Faktum, das Wesentliche war dieses, daß alles, was Plener, Giskra, Hausner, Berger, Lasker, Lasser vorbrachten, was der Tisza in Ungarn vorbrachte, daß das etwas Positives, Konkretes für die Engländer ist; daß es bei den Engländern etwas bedeutet, weil es sich da auf Tatsachen bezieht, weil tatsächlich dasjenige, was da als liberalisierende Grundsätze verfolgt wird, angewendet, in der Welt nach und nach zum Imperialismus führen kann. Ja, ich möchte sagen, es steckt in den englischen Vertretern dieser Grund­sätze der Imperialismus stark in diesen Dingen drinnen. Indem dieselben Grundsätze von den eben genannten Persönlichkeiten in ihren Parlamenten vertreten wurden, waren das ausgepreßte Zitronen;

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da bezogen sich dieselben Grundsätze auf nichts; da waren sie Abstraktionen. Gerade da kann man am besten studieren, worin der Unterschied liegt zwischen einer Realität und einer Phrase. Der Unterschied liegt nicht im Wortlaut, sondern er liegt darin, ob man in der Wirklichkeit drinnensteht oder nicht. Wenn man im Wiener oder Berliner Parlament dieselben Dinge sagt wie im Londoner Parlament, so ist das etwas ganz anderes. Und deshalb war das­jenige, was als liberalisierende Richtung von England herkam und in England positive, konkrete Politik war, in Berlin und Wien Phrase, phrasenhafte Politik.

Ich kann ja hier nicht diese Dinge alle entwickeln heute, sondern nur ein paar Aphorismen, vielleicht nur Bilder hinstellen. Aber wenn man sehen will, was da für Gegensätze vorhanden sind, ist es interessant, einmal zu hören oder sich wieder zu vergegenwärtigen, wie in dem damaligen österreichischen Parlament oder in den De­legationen solche Redner gesprochen haben wie Suess, Sturm oder Plener gerade bei jener Debatte, die sich angeknüpft hat an die beabsichtigte und dann sich vollziehende Okkupation von Bosnien und der Herzegowina. Und wie dann aufgetreten ist ein Mann, der aus dem slawischen Volkstum heraus gesprochen hat. Ich erinnere mich noch lebhaft einer Rede, die einen gewissen großen Eindruck dazumal gemacht hat, es ist die Rede, die dazumal Otto Hausner im österreichischen Parlament gehalten hat, die er dann auch erscheinen ließ «Deutschtum und Deutsches Reich» - ich konnte sie leider nicht wieder bekommen, ich würde sie sehr gerne wieder haben, aber ich weiß nicht, ob sie völlig vergriffen ist. Wenn man diese Rede im Zusammenhang liest mit einer anderen, die er gehal­ten hat, als der Arlbergtunnel gebaut worden ist, wenn man liest, was er da unter dem Gesichtspunkte höherer Politik gesagt hat und was er vom politischen Podium hineinwarf in das österreichische Parlament, als Andrässy daranging, für die Okkupation Bosniens zu wirken, da wurden Realitäten gesprochen. Hausner war, äußer­lich angesehen, eine Art Geck, eine Art von abgelebtem, snobisti-schem und maskiertem Geck, der ständig mit dem Monokel im Wiener Herrenhaus zu sehen war, dem man im Café Central um

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ein bestimmte Stunde immer begegnete, ein alter Geck, aber durch und durch geistvoll und aus Realitäten heraus sprechend. Wenn man all diese Reden zusammenhält, so ist im Grunde genommen [die Katastrophe von] 1914 bis 1918 dazumal vorausverkündet worden, sogar auch das, was wir jetzt erleben, der Seelenschlaf, der sich über dieses Mitteleuropa ergießt. Und da sieht man eben, wie derjenige, der die Realitäten anschaut - und ich könnte Ihnen sol­che noch viele, viele anführen -, tatsächlich zu der zweiten These, von der Ihnen heute Abend gesprochen worden ist, kommen mußte aus der Wirklichkeit heraus.

Diese Dinge, die mit der Dreigliederung zusammenhängen, sind ja alle wahrhaftig nicht irgendwie theoretisch ausgedacht, sind nichts Professorenhaftes, sondern sie sind durchaus aus der Wirk­lichkeit herausgeholt. Und wer erlebt hat, wie dazumal zusammen-stießen in Österreich dieses österreichische Deutschtum - denn das war im wesentlichen der Träger des österreichischen Liberalismus

- mit dem damals heraufkommenden und seine Prätentionen erhebenden österreichischen Slawentum, in dem mußte sich die Anschauung zusammenkristallisieren: Der Panslawismus ist eine positive Macht. - Er hat sich wirklich heraufgelebt als eine positive Macht, dieser Panslawismus. Und vielleicht wichtiger als dasjenige, was von dem Tschechentum gekommen ist - von dem Palacki bis zu dem Rieger -, ist das, was vom Polentum gekommen ist. Die Polen haben gerade in Osterreich als eine Art Vorstoßelement, als Vortrupp für das Slawentum, eine außerordentlich große Rolle gespielt, und umfassende politische Gesichtspunkte haben sie alle vertreten. Hausner, der ja polonisiert war, sagte selbst einmal in einer Rede, daß «rätisch-alemannische Blutkügelchen» - eine son­derbare Chemie - in seinen Adern rollen; er fühlte sich aber als Urpole. Aber es sprachen ja im Wiener Parlament gerade in diesen wichtigen Zeiten auch andere Polen: Grocholski, Goluchowski und Dzieduszycki und so weiter, und man muß sagen, da kamen schon große politische Gesichtspunkte heraus, währenddem das liberali­sierende Deutschtum leider in die Phrase ausartete. Es konnte sich nicht halten, so daß es dann endlich einlief in diejenige Partei, die

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Polzer-Hoditz auch erwähnt hat, in die Christlichsoziale Partei -diejenige Partei, die unter den jungen Leuten in Wien, die sich dazumal mit Politik beschäftigten, mit der auch ich mich damals beschäftigt habe, die «Partei der dummen Kerle von Wien» genannt wurde; es ist dann die Lueger-Partei daraus geworden.

Dieser Gegensatz von einer niedergehenden Richtung gegenüber einer aufgehenden ist sehr interessant. Und in einem gewissen Sinn waren die Polen skrupellos, so daß alles mögliche herauskam, zum Beispiel das folgende: Man wollte in Österreich zurückkehren zum alten Schulgesetz, zum alten, klerikalen Schulgesetz - ich sage «Österreich», aber, um seine Konkretheit auszudrücken, sprach man im österreichischen Parlament, [dem Reichsrat], nicht von «Öster­reich» oder sowas, sondern von den «im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern»; Österreich-Ungarn hatte ja eine dua­listische Regierungsform; der eine Teil hieß «die im Reichsrat vertre­tenen Königreiche und Länder», der andere «die Vertretung der Länder der Heiligen Stephanskrone». Als man also in Österreich wiederum zu einem klerikalen Schulgesetz zurückkommen wollte, konnte aber eine Majorität nicht gebildet werden durch die Deut­schen bloß, sondern damit mußten entweder die Polen oder die Ru­thenen sich verbinden. Immer wenn gerade die Meinung nach einer bestimmten Richtung ging, wurde eine Koalition gebildet zwischen Deutschen und Ruthenen, und, wenn sie nach einer anderen Rich­tung ging, zwischen Deutschen und Polen. Damals handelte es sich also darum, ein klerikales Schulgesetz zu bilden. Die Polen gaben den Ausschlag, aber was haben sie getan? Sie sagten: Ja, gut, wir stim­men diesem Schulgesetz zu, aber Galizien, das nehmen wir aus. -Also das eigene Land nahmen sie aus. So entstand dazumal ein Schul­gesetz durch eine Majorität, die polnische Delegierte in ihrem Schoß hatte, aber diese polnischen Delegierten nahmen das eigene Land aus, sie verhängten ein Schulgesetz über die anderen österreichischen Länder. Das hat zum Schluß ergeben, daß ein Gebiet über das andere regierte und etwas verfügte, was es im eigenen Gebiet nicht an­gewendet wissen wollte. So standen die Dinge. Wie sollte man da politisch gewachsen sein den Riesenaufgaben, die herankamen!

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Es kam dann so, daß die Regierung nach diesem zweiten bürger­lichen Ministerium schließlich überging an dieses Ministerium Taaffe, das ja selbst sich das Zeugnis ausstellte: In Österreich kann man, wenn man richtig regieren will, nur wursteln -, das heißt also von einer Schwierigkeit zur anderen jonglierend sich bewegen, eines durch das andere retten und so weiter. Das Ministerium, das Taaffe an der Spitze hatte als Ministerpräsidenten, wurde dann auch «geistreich» geführt. Taaffe verdankte ja seine Stellung weniger sei­nen intellektuellen Kapazitäten, sondern der Tatsache, daß dazumal am Wiener Hofe - der Wiener Hof war ja auch schon in einem Zustande, der hineinsegelte in das schauerliche Drama von Mayer­ling -, daß dazumal am Wiener Hofe eine große Empfänglichkeit vorhanden war für die besondere Kunst des Grafen Taaffe, die darin bestand, daß er mit dem Taschentuch und Fingern kleine Räschen und Schattenfiguren machen konnte. Die gefielen dazumal den Wiener Hofleuten ganz besonders, und dadurch wurde Taaffes Stellung gefestigt. Er konnte durch ein Jahrzehnt hindurch dieses osterreichische Chaos in einer entsprechenden Strömung halten. Es ist eigentlich ganz trostlos gewesen, wenn man die Sache mit ange­sehen hat. Ich habe dazumal wahrhaftig mit recht vernünftigen Leuten gesprochen. Man wußte, daß sich dieser Taaffe hielt durch die Häschen. Aber solche Menschen, wie zum Beispiel der Dichter Rollett, der sagte mir: Ja, aber dieser Taaffe, das ist schließlich noch unser Gescheitester. - Es waren schon trostlose Verhältnisse. Und man darf nicht außer acht lassen, wie nach und nach im Verlauf jenes halben Jahrhunderts, auf das Graf Polzer hingewiesen hat, sich das vorbereitet hat, das dann während des Weltkrieges der ganz geistreiche, aber durch und durch frivole Czernin eine führende Rolle einnehmen konnte in dem wichtigsten Augenblick. Wie konnte man da hoffen, daß anders als durch die Not so etwas wie die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus aufgefaßt würde, die, nun aus den inneren Kräften der Geschichte heraus geboren, im Jahre 1917 an die mitteleuropäischen Mächte herange­bracht worden ist. Die Leute haben nur nichts davon verstanden, und das ist ja auch nicht zu verwundern, denn schließlich mit Häschenmachen

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ist die Dreigliederung nicht zu verstehen. Es werden andere Künste notwendig sein, um in diese Dinge einzudringen.

Nun, sehen Sie, ich habe dieses alles so wie eine Art Bilder vorgebracht. Man könnte an vielen ähnlichen Bildern zeigen, wie nun diese ganze Katastrophe aus vielem, vielem heraus sich lange vorbereitet hat und wie [in Mitteleuropa] zur Phrase geworden ist dasjenige, was im Westen eine Realität war und ist. Und das bildete hauptsächlich etwas, was ich [damals in Gesprächen] als Ein-kleidung immer gebrauchte gegenüber Leuten [wie zum Beispiel Kühlmann] - Kühlmann gegenüber brauchte man ja eine Einklei­dung -: dieses im Realen der großen historischen Gesichtspunkte Drinnenstehen der englischen Politik. Diese englische Politik hat eben seit Jahrhunderten vorbereitet dasjenige, was dann geschehen ist, aus historischen Dingen heraus. Ich glaube, daß natürlich, um die ganze Sache einzusehen, es schon notwendig ist, sich zu ver­tiefen in das, was der äußeren Geschichtsentwicklung, Geschichts­darstellung zugrundeliegt.

Aber, sehr verehrte Anwesende, lesen Sie die Memoiren der Leute. Sie werden sehen, wie tatsächlich da, wo sich die Leute in einer gewissen Weise geben, wie sie sind, wie da uns das entgegen­tritt, was man nennen kann: Mitteleuropa verkommt nach und nach in bezug auf die Größe der Ideen, und die Ideen, die gerade für Mitteleuropa die fruchtbaren sind, die gehen in England drüben auf. Es ist interessant - verfolgen Sie zum Beispiel die Figur des Vorgängers des Andrässy, den Grafen Beust, jenen merkwürdigen Minister, der jeden Patriotismus vertreten konnte, der allen dienen konnte. Ich möchte Ihnen den Grafen Beust auch bildlich schil­dern - es gibt in Memoiren verschiedene Darstellungen, wie er in Beziehung trat zu westeuropäischen Persönlichkeiten: Da knickt er in die Knie zusammen, sehr höflich, aber er knickt in die Knie. So also ist der mitteleuropäische Staatsmann, der eigentlich nicht mit­kann. Ich muß das alles erwähnen, weil ich direkt daraufhin gefragt worden bin vom Grafen Polzer: Wie zeigt sich das, was seit Jahr­hunderten vom Westen her arbeitete, namentlich als eine bewußte, mit den historischen Mächten arbeitende englische Politik?

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Der eigentliche äußerliche Träger [dieser englischen Politik], der ist König Jakob I., und ich möchte sagen, die Pulververschwörung ist noch etwas ganz anderes, als es in der Geschichte dargestellt wird. Sie ist ja eigentlich das äußere Zeichen, das äußere Symptom für die Wichtigkeit desjenigen, was da von England aus als Impuls durch Europa hindurchgeht. Das ist eben eine Politik der großen geschichtlichen Gesichtspunkte. Sie sehen durchaus ein die These, die heute Graf Polzer erwähnt hat und die ich aufgestellt habe gelegentlich dem ersten Vertreten der Dreigliederung: Man kann nicht durch irgendwelche Maßnahmen - man nennt sie heute blöd-sinnigerweise den Völkerbund - dasjenige, was sachlich gegeben ist und sachlich fortwährend wirken muß, nämlich den mitteleuropä­isch-englisch-amerikanischen Wirtschaftskampf, aus der Welt schaffen. Dieser Kampf existiert, so wie der Kampf ums Dasein innerhalb der Tierreiches. Er muß da sein, er kann nicht aus der Welt geschafft werden, sondern er muß aufgenommen werden, weil er eine Tatsache ist. Das durchschauen die Träger dieser anglo­amerikanischen Politik sehr gut. Und da tritt uns etwas deutlich nachweisbar entgegen - ich erzähle nicht Hypothesen, sondern ich erzähle Dinge, die Sie in den Reden in England hören konnten in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts. Es wurde da ganz deutlich gesagt: In Europa muß ein großer Weltkrieg entstehen - wie gesagt, ich zitiere nur aus Reden der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts -dieser Weltkrieg wird dazu führen, daß in Rußland das große *-Experimentierfeld eintritt für den Sozialismus. Dort, [in Rußland], werden Experimente ausgeführt werden für den Sozialismus, die uns in den westlichen Ländern nicht einfallen würden, anstreben zu wollen, weil da die Verhältnisse das nicht zulassen. Da sehen Sie große Gesichtspunkte, deren Größe Sie daran erkennen, daß sie zum großen Teil eingetroffen sind, und - Sie können sicher sein -weiter eintreffen werden. Aber diese Gesichtspunkte sind nicht von gestern; die «Verstande» der Menschen von heute, die sind von gestern, aber nicht diese Gesichtspunkte - die sind jahrhundertealt.

Und dasjenige, was Ihnen in acht Tagen Graf Polzer vorführen wird als eigentlichen Geist des Testamentes Peter des Großen, das

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war einfach dasjenige, was [vom Osten] imperialistisch entgegenge­setzt werden sollte dem Imperialismus des Westens. Der westliche Imperialismus, das anglo-amerikanische Wesen, wollte gewisser­maßen vom Standpunkte des universellen Produzenten das anglo-amerikanische Weltreich gründen. Im Osten ist wahrhaftig durch lange, lange Zeiten gehandelt, gedacht worden anknüpfend an die Prinzipien des Testamentes Peters des Großen - Sie werden noch hören, inwiefern das Testament Wahrheit oder Fälschung ist; das sind aber Dinge, die eigentlich sehr untergeordneten Wert haben. Und diesem, was da ist im Westen, hätte [im Osten] gewisserma­ßen ein universelles Reich der Konsumtion entgegengestellt werden sollen - das letztere hat heute schon schlimme Formen angenom­men. Aber da stehen sich diese beiden Reiche gegenüber. Man kann sagen, es ist im Grunde genommen das eine wie das andere eine böse Einseitigkeit. Und dazwischen reibt sich dasjenige, was wie ein Vorstoß des Westens auftritt in der liberalisierenden Politik der Beust, Andrässy, Tisza, Berger, Lasker, Lasser und so weiter. Das, was da als Ausläufer des Westlertums auftritt, das reibt sich an dem, was von Osten herüberkommt, in Preußen ja nur in einer Form des undifferenzierten Polentums, in Österreich in den Cha­rakterköpfen, die da sind. Denn in der Tat, in diesem Slawentum sind vertreten alle Charakterköpfe: der kurze, gedrungene, breit­schultrige Rieger mit dem breiten, fast viereckigen Gesicht, mit dem ungeheuer kraftvollen Blick - ich möchte sagen, sein Blick war Kraft -; in Rieger lebte so etwas wie eine Nachwirkung des Pa­lacky, der 1848 von Prag aus den Panslawismus vertreten hatte; der alte Geck Hausner, sehr geistreich, aber mit ihm tritt da wiederum eine andere Nuance desjenigen hervor, was da im Osten tätig ist; und dann solche Leute, wie etwa der Dzieduszycki, der so sprach, wie wenn er Klöße oder Knödel im Munde hätte, aber durchaus geistreich und durch und durch die Materie beherrschend. Da konnte man studieren, wie einen großen, wunderbaren Charakter namentlich das österreichische Deutschtum bewahrte. Als ich 1889 in Hermannstadt war und einen Vortrag zu halten hatte, konnte ich das untergehende Deutschtum in den Siebenbürger Sachsen studieren

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- Schröer hat eine Grammatik des Zipser Deutschtums und desjenigen des Gottscheerländchens geschrieben. Ich habe manches von der Größe dieses untergehenden Deutschtums hervorgehoben in meinem Buche «Vom Menschenrätsel». Da stehen diese merk­würdigen Gestalten da, die noch etwas von der elementaren Größe des Deutschtums in sich hatten, wie etwa Hamerling und Fercher von Steinwand. Aber gerade Fercher von Steinwand zum Beispiel hat eine Rede gehalten in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhun­derts, die die ganze Tragik Mitteleuropas in sich schließt. Da sagte er: An was soll man eigentlich denken, wenn man an die Zukunft des Deutschtums denkt? Da schildert er - die Zigeuner, die Hei­matlosigkeit der Zigeuner. Es ist merkwürdig, wie den besten Leu­ten Mitteleuropas manches prophetisch aufgegangen ist. Und es ist so, die besten Leute sind eben eigentlich unterdrückt gewesen, und diejenigen, die oben waren, die waren furchtbare Menschen. Und so hat sich ja diese Not vorbereitet, die doch eigentlich die große Lehrmeisterin sein müßte.

Es hat sich in diesem Staat, in Österreich, in dem es dreizehn offizielle Sprachen gab es vor dem Krieg, wirklich so recht gezeigt, wie unmöglich eigentlich dieses alte Staatsgebilde in der modernen Menschheit ist, wie unmöglich das ist, was man gewohnt war, einen Einheitsstaat zu nennen. Diese dreizehn verschiedenen Völker­schaften - es waren im Grunde genommen noch mehr, aber offiziell waren es dreizehn -, die forderten mit aller Macht dasjenige, was dann ausgesprochen werden mußte als Dreigliederungsidee. Und Österreich konnte geradezu die große Schule sein für diese weltge­schichtliche Politik. Namentlich, wenn man sie in Österreich stu­diert hat in den achtziger Jahren - ich hatte dazumal zu überneh­men die Redaktion der «Deutschen Wochenschrift» -, in den acht­ziger Jahren, als äußerlich der Taaffe regierte, als Lueger vorbereitet wurde, da hatte man wirklich Gelegenheit, die treibenden Kräfte zu sehen. Damals änderte sich die ganze Signatur von Wien. Wien wurde von einer Stadt, die einen deutschen Charakter hatte, zu einer Stadt von internationalem, fast kosmopolitischem Charakter durch das eindringende Slawentum. Man konnte studieren, wie sich

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die Dinge entwickelten. Da begriff man, es war etwas von Ohn­macht in dem, was herausgekommen war aus dem Liberalismus. Es war so wie Ohnmacht, wenn der Herbst sprach. Dann kam es endlich dazu, daß die Leute fanden: Diese Politik taugt nichts mehr! Aber sie fanden das nicht etwa, weil sie innerlich die Phrasenhaf­tigkeit einer solchen Politik wie die von Herbst einsahen, der nur Abstraktionen zuwegebrachte, sondern weil die Wiener Regierung nach Prestigebewahrung und nach Imperialismus strebte und die Okkupation von Bosnien und der Herzegowina gebrauchte. Wenn sich solch ein Mensch wie Herbst dagegenwandte, sah man nicht die Leerheit seiner Sätze, sondern man sah nur, daß er sich nicht reinfinden konnte in die imperialistische Politik. [Im Gegensatz dazu] Plener, der im Grunde genommen ebensolche leeren Phrasen sprach, der aber sich hineinfand und sich zu den Leuten bekehrte, die für die Okkupation waren, weil er ein größerer Streber war. Damals war es, als unter dem Eindruck dieser bosnischen Okkupa­tion Hausner seine großen Reden gehalten hat, in denen prophe­tisch vorausgesagt ist dasjenige, was im Grunde dann auch gekom­men ist. Es war schon in dem, was da gesprochen wurde und wo das Testament Peters des Großen eine Rolle spielte, etwas von dem Wetterleuchten desjenigen, was dann in so furchtbarer Weise her-aufgezogen ist. Gerade in den Reden, die heute Graf Polzer erwähnt hat und in denen so oft das Testament Peters des Großen, ebenso die großen Gesichtspunkte der Slawenpolitik berührt wurden, ist eine gewisse Gelegenheit da zu sehen, was man, wenn man vernünf­tig gewesen wäre, hätte tun müssen gegenüber der britischen Politik und ihren großen historischen Gesichtspunkten.

Politik, meine sehr verehrten Anwesenden, will als eine Realität studiert sein, als Realität erlebt sein. Und immer wiederum muß ich sagen, daß es mir eigentlich außerordentlich schmerzlich ist, wenn die Leute, die die «Kernpunkte» in die Hand bekommen, diesen nicht ansehen, daß sie herausgeschrieben sind aus treulicher Beob­achtung der europäischen und sonstigen Verhältnisse des zivilisier­ten neueren Lebens und unter Berücksichtigung aller maßgebenden Einzelheiten. Aber, meine sehr verehrten Anwesenden, man kann

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doch wahrhaftig nicht in einem Buch, das als eine Art Programm­buch herausgegeben ist, alle diese Dinge im einzelnen schreiben. Ich habe heute nur einiges in Bildern angedeutet; wollte man aber darüber schreiben, so müßte man fünfzig Bände schreiben. Diese fünfzig Bände kann man natürlich nicht schreiben, aber sie sind ihrem Inhalt nach eingeflossen in die «Kernpunkte». Und das ist das große - oder kleine -, es ist das kleine Kennzeichen unserer Zeit, daß man nicht fühlt, daß ein Unterschied besteht zwischen den Sätzen, die aus der Wirklichkeit heraus gesprochen und geschrieben sind, und all dem Riesenquatsch, der heute durch die Welt geht und der heute eigentlich als etwas Gleichbedeutendes behandelt wird gegenüber dem, was aus der positiven Wirklichkeit heraus schöpft und was erlebt ist. Fühlen sollte man, daß das in den «Kernpunkten» drinnen ist und nicht erst den Beweis der fünfzig Bände brauchen. Es ist ein Armutszeugnis für die Menschheit, dieses Nichtfühlenkönnen, ob in einem Satz, der vielleicht nur zwei Zeilen lang ist, Leben ist oder bloß journalistische Phrase.

Das ist dasjenige, was notwendig ist und wozu wir kommen müssen und auch kommen können: unterscheiden zu können Jour­nalismus und Phrase von erlebtem, erblutetem Inhalt. Ohne das kommen wir nicht weiter. Und gerade, wenn einmal an der großen Außenpolitik eine Orientierung versucht wird, so zeigt es sich, wie notwendig es heute ist, daß die Menschheit vordringe zu einer solchen Unterscheidung.

Das ist es, was ich mit ein paar wirklich recht ungenügenden Sätzen zu den Ausführungen des Grafen Polzer eben andeuten wollte.

Im Anschluß an die Ausführungen von Rudolf Steiner wird die Gelegenheit zur Diskussion gegeben.

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SECHSTER STUDIENABEND Stuttgart, 28. Juli 1920 Historische Gesichtspunkte zur auswärtigen Politik

Rudolf Steiner: Meinen sehr verehrten Anwesenden! Man muß in der Gegenwart - und ich meine damit auch die allerunmittelbarste Gegenwart des Tages - immer wieder betonen, daß ein Weiter­kommen in den mitteleuropäischen wirtschaftlichen, staatlichen und geistigen Verhältnissen nicht möglich ist, wenn nicht in die ganze Vorstellungsweise derjenigen Menschen, die sich am öffent­lichen Leben beteiligen, größere Gesichtspunkte eingreifen, als es leider bisher in weitesten Kreisen der Fall war. Und deshalb wollen sie es verzeihen, daß ich heute etwas weiter ausholen werde und gewissermaßen die europäische Kulturpolitik von einigen, aller­dings nur aphoristisch darzustellenden, historischen Gesichtspunk­ten aus beleuchten möchte.

Wir müssen, wenn wir einen Standpunkt gewinnen wollen in­nerhalb der gegenwärtigen öffentlichen Verhältnisse, schon einmal scharf ins Auge fassen den Gegensatz, der in staatlicher, in geistiger und in wirtschaftlicher Beziehung vorhanden ist zwischen [drei Gebieten]: Das erste Gebiet könnte man nennen die Welt des Westens, die namentlich umfaßt die Bevölkerungen, welche dem anglo-amerikanischen Element angehören und in deren Schlepptau ja heute die romanischen Bevölkerungen sind. Dann müssen wit nach den drei angeführten Gesichtspunkten von jenem anglo-ame­rikanischen Gebiet im Westen scharf unterscheiden alles dasjenige, was man nennen könnte mitteleuropäisches Kulturgebiet. Und davon ist zu unterscheiden ein drittes Gebiet, das ist der Osten, der weite Osten, der ja immer mehr und mehr sich zu einem geschlos­senen Gebiet eint - mehr als man hier nach den sehr ungenauen Nachrichten anzunehmen geneigt ist -, ein Gebiet, das umfaßt das europäische Rußland mit all dem, worauf es heute schon und später noch mehr seine Herrschaft ausdehnen wird, und auch schon einen

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großen Teil von Asien. Man macht sich nicht immer in genügender Weise klar, welche beträchtlichen Unterschiede bestehen zwischen diesen drei Gebieten und wie aus diesen Unterschieden auch die einzelnen Maßnahmen des Tages nach den drei angeführten Ge­sichtspunkten geregelt werden müßten, wenn irgendwie bei diesen Maßnahmen etwas für die Zukunft Fruchtbares herauskommen sollte. Es ist ja wahrhaft kläglich, daß wir es immer wieder erleben müssen, wie ohne das Bewußtsein, daß neue Ideen notwendig sind zu einem neuen Aufbau, wiederum selbst so wichtige Verhand­lungen wie diejenigen von Spa so getrieben werden, als ob man heute wirklich mit denselben Gedanken weiterwirtschaften könnte, die von 1914 ab sich selbst ins Absurde geführt haben. Ich werde versuchen - wie gesagt nur in aphoristischer Weise, und es wird so aussehen, als ob es ganz allgemein charakterisiert wäre, aber mit dem Allgemeinen sind sehr konkrete Dinge gemeint -, ich werde versuchen, die Unterschiede herauszuarbeiten zwischen den Vor­stellungsweisen des Westens, der Mitte und des Ostens, und es wird sich schon zeigen, daß aus diesen Vorstellungen heraus fruchtbare Gesichtspunkte für die Gegenwart und Zukunft ge­wonnen werden können.

Wir gehen vielleicht davon aus, daß mein Aufruf, der im Früh­ling 1919 erschienen ist, in einzelnen Kreisen Deutschlands deshalb so mißverstanden worden ist, weil der Aufruf seinen Ausgangs­punkt davon genommen hat, daß Deutschland seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts seine eigentliche Aufgabe für dasjenige, was es staatlich zu umgrenzen und nach und nach zu konsolidieren versucht hat, verloren hat. Man möchte sagen: Dieses Deutschland hat sich darauf beschränkt, eine Art von sachlichem Rahmen zu schaffen, aber dieses Deutschland hat nicht dazu kommen können, innerhalb dieses Rahmens tragende Ideen, einen wirklichen sub­stantiellen Inhalt, einen Kulturinhalt, auszubilden. Nun kann man ja ein sogenannter praktischer Mensch sein und die Ideenträger als Idealisten verketzern; aber die Welt kommt eben mit solchen prak­tischen Menschen doch nicht weiter als bis zu Krisen, zu einzelnen oder dann zu solch universellen Krisen, wie sich eine solche im

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Jahre 1914 eingeleitet hat. Man kann, wenn man in diesem Sinn ein praktischer Mensch ist, Geschäfte machen, kann einzelne Interes­sen befriedigen, scheinbar auch Interessen bis ins Große befriedi­gen; aber so gut es auch den einzelnen gehen mag und so gut dem einzelnen auch seine Unternehmungen scheinen mögen - immer wieder und wiederum muß es unter solchen Voraussetzungen zu Krisen führen, und diese müssen sich endlich zusammenschürzen in einer solchen Katastrophe, wie wir sie seit dem Jahre 1914 als die größte Weltkatastrophe erlebt haben.

Nun, was tritt uns denn als ein Charakteristisches innerhalb des mitteleuropäischen Gebietes, namentlich seit den siebziger Jahren, immer mehr und mehr entgegen? Wir sehen, daß da, wo es auf das eigentlich ideelle Gebiet geht, aus dem heraus doch ein gewisser Kulturinhalt hätte kommen müssen, daß da innerhalb Mitteleuropas

- auch im politischen und im sozialen Leben - außer einzelnen lo­benswerten Maßnahmen im Grunde genommen doch nur eine Art theoretischer Diskussion getrieben wird. Sie finden ja fast alles, was da aufgewendet worden ist, um gewissermaßen zurechtzukommen mit den Forderungen der Zeit, mehr oder weniger verzeichnet in den Verhandlungen - sei es in den Parlamenten, sei es außerhalb der Par­lamente -, die gepflogen worden sind zwischen der proletarischen Partei, die immer mehr und mehr einen sozialdemokratischen Cha­rakter angenommen hat, und den verschiedenen anderen Parteien, die aus ihren Interessen oder Traditionen heraus glaubten, diese pro­letarische Partei bekämpfen zu müssen. Da ist viel aufgebracht wor­den an Kritik und an Antikritik, da ist viel geredet worden, aber: Was ist denn im Grunde genommen aus all dem herausgekommen? Was hat sich aus diesem Gerede ergeben als notwendig zu einem Aufbau für zukünftige soziale Verhältnisse, innerhalb welcher die Menschen leben können? Diejenigen der verehrten Anwesenden, die schon öfter meine Vorträge gehört haben, werden wissen, daß ich nicht lie­be, mich in Theorien einzulassen, sondern daß ich da, wo es darauf ankommt, große Linien zu ziehen, auf die unmittelbare Lebens­praxis eingehen will. Und daher will ich auch heute dasjenige, was ich eben angedeutet habe, mit unmittelbarer Praxis belegen.

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Eine der allerinteressantesten Publikationen der Gegenwart ist das Buch «Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur» von Professor Varga, in dem er dasjenige schildert, was er selbst erlebt, selbst gemacht hat innerhalb eines zwar kleinen, aber doch nicht allzu kleinen europäischen Wirtschaftsgebietes. Das Buch von Varga ist deshalb außerordentlich interessant, weil hier eben ein Mensch dasjenige schildert, was er selber erlebt, sel­ber getan hat und was ihm passiert ist, während er selbst die Macht hatte - auch wenn diese nur kurz dauern konnte -, ein beschränk­tes Gebiet fast selbstherrlich zu gliedern, sozial zu gestalten. Der Professor Varga war ja Wirtschaftskommissär, also Minister für die wirtschaftlichen Angelegenheiten während der kurzen Herrlichkeit der ungarischen Räterepublik, und er hat dasjenige, was er da ver­sucht hat mit seinen Kollegen, in diesem eben erschienenen Buch dargestellt. Er war insbesondere für wirtschaftliche Angelegenhei­ten [verantwortlich], und er schildert, wie er Ungarn wirtschaftlich zurechtrichten wollte aus marxistischer Denkweise - aus einer sol­chen Denkweise, die der leninschen ganz nahesteht -, und er schil­dert mit einer gewissen Aufrichtigkeit im einzelnen die Erfahrun­gen, die er dabei gemacht hat. Vor allen Dingen schildert er dabei genau, wie er nach dem besonderen Rezept, das sich da in Ungarn anwenden ließ, die einzelnen Betriebe enteignet hat, wie er versucht hat, eine Art Betriebsräte aus den Arbeiterschaften der einzelnen Betriebe heraus zu gestalten, wie er dann versucht hat, diese ein­zelnen Betriebe zu größeren Wirtschaftskörpern zusammenzuglie­dern, und wie dann diese ihre Spitze haben sollten in einem ober­sten Wirtschaftsrat mit Wirtschaftskommissären, die dann von Budapest aus dieses Wirtschaftsleben verwalten sollten. Ziemlich in den Einzelheiten schildert er, wie er diese Dinge gemacht hat. Er ist, wie gesagt, ein Mann, der seine ganze Denkweise - also jene Denkweise, die unmittelbar da praktisch werden sollte, die ein paar Monate innerhalb Europas wirtschaften konnte -, er hat diese Denkweise durchaus als ein Ergebnis alles desjenigen gewonnen, was sich abgespielt hat im Laufe der letzten fünfzig Jahre zwischen der sozialdemokratischen Partei und all dem, was diese sozial-demokratische

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Partei aus den verschiedensten Gesichtspunkten heraus bekämpft hat. Er steht, wie gesagt, mit seinen Anschau­ungen dem Leninismus sehr nahe; er hebt insbesondere einen Ge­sichtspunkt scharf hervor. Es ist klar für einen solchen Mann, wie es der Professor Varga ist, der mit einer gewissen stiermäßigen Im­pulsivität die Vorgänge schildert - eine stiermäßige Impulsivität, wie wir sie ja genügend kennen innerhalb des Parteilebens Mittel­europas -, es ist für ihn klar, daß nur die stramme, strenge Ausfüh­rung der marxistischen Grundsätze, so wie sie auch Lenin will, mit dieser oder jener Modifikation dem sozialen Organismus Heil bringen könnte; davon war er sehr überzeugt. Nun ist er außerdem ein Mensch, dieser Professor Varga, der zwar nicht sehr groß, nicht sehr gescheit denkt, der aber immerhin denken kann; und so weiß er - und er schildert es auch -, daß im Grunde genommen diese ganze Bewegung getragen wird von dem Industrieproletariat. Nun ist ihm aus den besonderen Verhältnissen, aus seinen Erfahrungen bei Einführung dessen, was er verwirklichen wollte in Ungarn, eines klar geworden: daß zwar die Industrieproletarier die einzigen Menschen sind, die ebenso stramm wie er selbst an den Forderun­gen des Marxismus festhalten wollten und sich von ihnen etwas versprachen, daß aber das Industrieproletariat, wie die städtische Bevölkerung überhaupt, diejenigen sind, die am schlechtesten dabei wegkommen, wenn man nun wirklich praktisch darangeht, irgend etwas zu machen mit diesen Grundsätzen. Die ganz kurzen Erfah­rungen zeigten ihm, daß zunächst eigentlich nur die Landbevölke­rung eine Möglichkeit hat, irgendwie besser wegzukommen bei diesen Grundsätzen. Die Landbevölkerung kommt deshalb besser weg, weil diese marxistischen Grundsätze die ganze Kultur auf eine gewisse primitive Stufe zurückbringen. Diese primitive Stufe der Kultur ist aber nicht anwendbar auf die Struktur des städtischen Lebens, höchstens auf diejenige des bäuerlichen Lebens auf dem Lande. Und so muß sich der Professor Varga gestehen, trotzdem er Marxist ist - das ist für ihn ungefähr so selbstverständlich, wie die Tatsache, daß der pythagoräische Lehrsatz richtig ist -, er muß sich gestehen: Wir müssen uns gefaßt machen darauf, daß das Industrieproletariat

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und die Stadtbevölkerung am Hungertuche nagen werden.

Nun kommt dasjenige, was ein Mann wie der Professor Varga als Konsequenzen an solche Voraussetzungen knüpft. Er sagt: Ja, aber erstens wird das Industrieproletariat in den Städten Idealismus haben, wird nachhängen diesem Ideellen auch dann, wenn es hun­gern muß. Nun, es gehört selbstverständlich zu der Phrasenhaftig­keit der modernen Zeit, daß man dann, wenn irgendeine Idee nicht klappt - eine Idee, die man aber für absolut richtig halten will -, daß man dann diese Idee für einen Idealismus aufmaskiert, für den man eventuell auch hungern müsse. Die andere Konsequenz, die Varga zieht, ist diese, daß er sagt: Nun ja, zunächst wird es in den Städten und für die Industriebevölkerung viel, viel schlechter wer­den; aber dann, wenn es lange genug schlecht gegangen sein wird, dann wird es einmal besser werden; daher müssen die Industriepro­letarier und die Städter überhaupt auf die Zukunft verwiesen wer­den. So sagt er also: Ja, zunächst macht man allerdings recht trübe Erfahrungen; aber in der Zukunft wird es schon besser gehen. -Und er hat ja nicht vor sich die sehr zahmen Betriebsräte, die wir nach dem Westen zu vorfinden, sondern diejenigen ganz radikalen Betriebsräte, welche entstanden sind aus dem Radikalismus nach leninscher Form und wie sie in Räte-Ungarn eingeführt worden sind. Weil nicht durch irgendeine frühere regierungsmäßige Art diejenigen Leute bestimmt werden, welche den ganzen Wirt­schaftsapparat in Ordnung halten, so werden die Leute aus ihren eigenen Reihen heraus gewählt. Und da hat sich ja für den Profes­sor Varga die Erfahrung ergeben - er hat das selbst alles als Erfah­rungen erleben können -, er sagte, und das ist ein interessantes Geständnis: Ja, zunächst hat sich allerdings ergeben, daß diejenigen Menschen, die da nun ausgewählt werden und die eigentlich für die Produktivität der Arbeit sorgen sollen, daß sich die damit beschäf­tigen, in den Werken herumzulungern und zu streiten, und die anderen sehen das, finden das angenehmer und möchten auch alle zu diesen Stellen aufrücken; und so entspinnt sich ein allgemeines Bestreben, zu diesen Stellen aufzurücken. Das ist ein interessantes

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Geständnis eines Mannes, der nicht bloß Gelegenheit hatte, Theo­rien auszuarbeiten über die Wirklichkeitsgemäßheit des Marxismus und Leninismus, sondern der auch die Möglichkeit hatte, die Dinge in die Wirklichkeit umzusetzen. Aber etwas ist noch viel interes­santer. Varga zeigt nun, wie solche Wirtschaftskommissäre - die eben für größere Gebiete aufzustellen waren, wobei man übrigens recht bürokratisch vorgehen mußte - eigentlich weder die Neigung noch die Möglichkeit hatten, etwas Wirkliches zu tun.

Sehen Sie, das Buch von Varga über Räte-Ungarn ist ja gegen­warts-kulturhistorisch außerordentlich interessant durch die Schil­derungen, die sehr ins einzelne gehen und nun wirklich auch in ihren Einzelheiten so interessant sind wie die paar Dinge, die ich jetzt angegeben habe. Im Buch aber war mir das Interessanteste etwas, was ungefähr in drei Zeilen steht. Ich möchte sagen, das Allerwichtigste ist gerade das, was der Professor Varga sagt, als er über die Aufgaben der Wirtschaftskommissäre spricht und über die Art und Weise, wie sie diese Aufgaben nicht erfüllen konnten. Er sagt: Ja, diese Wirtschaftskommissäre werden aber doch nur irgendeine Bedeutung haben und in der Zukunft gewinnen, wenn man für ihre Stellen die richtigen Persönlichkeiten findet. Der gute Professor Varga scheint gar nicht zu erkennen, welch mächtiges Geständnis in diesen drei Zeilen eigentlich liegt, die zum Interes­santesten des ganzen Buches gehören. Wir sehen ganz unvermerkt das Geständnis eines Menschen, der, ich möchte sagen mit lenin­scher Stärke, hervorgewachsen ist aus den Ideen des 20. Jahrhun­derts und der die Möglichkeit hatte, diese Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen; wir sehen das Geständnis [ins Gegenteil] gehen des­sen, was immer und immer wieder gepredigt wurde in fast jeder sozialdemokratischen Versammlung: Ja, es ist falsch, durch und durch falsch, wenn die Leute glauben, Geschichte gehe aus den Ideen, aus den Genialitäten der einzelnen Persönlichkeiten hervor; richtig ist vielmehr, daß die Persönlichkeiten selbst und alles das, was sie an Ideen entwickeln können, hervorgeht aus den wirt­schaftlichen Verhältnissen. - Es wurde also von diesen Leuten immer wieder gesagt, wie unrecht die Menschen gehabt haben, die

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auf die Ideen und Persönlichkeiten gerechnet haben, und wie man rechnen musse einzig und allein mit den Produktionsverhältnissen, die als einen Überbau aus sich heraustreiben dasjenige, was leitende Ideen sind. Nun kommt ein Mann dazu, [die marxistischen Ideen wirklich] einzuführen, und er sagt: Ja, diese Ideen sind alle sehr schön, aber sie werden erst ausgeführt werden können, wenn wir die richtigen Persönlichkeiten dazu haben. - Man kann sich kaum denken, daß stärker ad absurdum geführt werden könnte dasjenige, was gerade das Wesentliche, den Nerv, den innersten Impuls der Denkweise eines solchen Menschen ausmacht, wie Varga einer ist, dieser Zentralwirtschaftskommissär, dieser Minister für wirtschaft­liche Angelegenheiten in Räte-Ungarn. Er zeigt ganz deutlich, daß dasjenige, was da in den mitteleuropäischen Gebieten zusammen­gebraut worden ist an Zukunftsideen, scheitern mußte in dem Augenblick, wo man daranging, irgend etwas Positives daraus auf­bauen zu wollen. Man braucht nur diese Schilderungen zu lesen, dieses Geständnis zu vernehmen, und man sieht, wie machtlos eigentlich ein solcher Mensch ist, den die Zeitverhältnisse in einem immerhin wichtigen Land an die Oberfläche zur Führerschaft hin-getrieben haben, und zu [welchen Schlüssen] ein solcher Mensch gelangt auf wirtschaftlichem Gebiet.

Aber interessant ist es auch, wozu ein solcher Mensch auf staat­lichem Gebiet gelangt. Sehen Sie, da muß man schon die Ausfüh­rungen von Professor Varga mit den Zeitverhältnissen zusammen­halten. Vielleicht erinnern Sie sich daran, wie immer mehr und mehr in den letzten Jahrzehnten gewisse Beschwerden erhoben worden sind von den verschiedensten Seiten, daß alle Ämter über­schwemmt würden nicht mit technischen, nicht mit kommerziellen Fachleuten, sondern überschwemmt würden mit Juristen. Erinnern Sie sich, wieviel über dieses Faktum geredet worden ist aus dem Getriebe des alten Staatswesens heraus. Auch bei anderen Angele­genheiten, namentlich bei der Verstaatlichung der Eisenbahnen, waren ja immer die eigentlichen Fachleute diejenigen, die in den Hintergrund treten mußten, und die Juristen waren diejenigen, auf die im wesentlichen aller Wert gelegt worden ist und die in den

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wichtigsten Stellungen waren. Nun, der Professor Varga, wie redet er über die Juristen, zu denen er übrigens auch zählt? Wie redet er über andere Staatsträger, Staatsführer, Staatsbeamte? Er redet so über sie, daß er sagt: Auf die wird überhaupt keine Rücksicht genommen, die werden einfach abgeschafft, die hören auf, eine Bedeutung zu haben; die Juristen aller Sorten, die müssen sich ein­reihen ins Proletariat, denn die braucht man nicht, wenn man das Wirtschaftsleben sozialisieren will. - Man merke, wie da unmittel­bar zwei Dinge aneinanderstoßen: der elitäre Juristenstaat, der die Juristen an die Oberfläche getrieben hat, und der sozialistische Staat, der dieses ganze System von Juristerei für unnötig erklärt. Also, im sozialistischen Staat werden die Juristen einfach beseitigt, da macht man sich keine Gedanken darüber. Das sind Leute, auf die man nicht weiter zählt. Man rechnet sie nicht mit, wenn man eine neue soziale Ordnung hervorrufen will. Und das geistige Le­ben, das wird einfach nebenbei vom wirtschaftlichen Staat geord­net. Das heißt, es wurde selbstverständlich in den paar Monaten ungarischer Räterepublik gar nicht geordnet. Deshalb hat Varga da noch keine Erfahrungen; da trägt er seine bloßen Theorien vor. Und so sehen wir gerade, wie dieser Professor Varga, der ein, ich möchte sagen in welthistorischer Beziehung, bemerkenswertes Werk der gegenwärtigen Literatur eingefügt hat, wir sehen, wie dieser Mann eigentlich nirgends in der Wirklichkeit wurzelt. Höchstens wurzelt er in der Wirklichkeit mit dem einzigen trivia­len Satz, mit der einzigen Selbstverständlichkeit: Wenn man will, daß ein Amt ordentlich versorgt wird, dann muß man den rechten Menschen darauf setzen. Alles übrige ist Stroh, ist wertloses Zeug; aber dieses wertlose Zeug, das hätte Wirklichkeit werden sollen auf einem immerhin nicht eng begrenzten Gebiet. Da findet natürlich ein solcher Mensch allerlei Ausreden für die Tatsache, daß Räte­Ungarn so rasch zu Ende gegangen ist - durch den rumänischen Einfall und was sonst noch alles. Aber wer tiefer in diese Dinge hineinschaut, der muß sich sagen: Einfach, weil Ungarn ein kleine­res Gebiet ist, also weil all das Abbauende, all das Auflösende und Zersetzende einen kleineren Weg hatte von dem Zentrum Budapest

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bis zur Peripherie des Landes, deshalb hat sich bei Räte-Ungarn sehr rasch das gezeigt, was sich im Osten, in Rußland, wo der Weg größer ist vom Zentrum Moskau bis zur Peripherie, auch noch zeigen wird, wenn auch freilich in Dingen, die uns sehr Sorge machen können.

Sehen Sie, im Grunde genommen haben wir es ja bei den führen­den Persönlichkeiten, bei den wirklich führenden Persönlichkeiten, nur mit zweierlei zu tun. Auf der einen Seite haben wir diejenigen Führenden, die etwa wie der gegenwärtige Reichskanzler - man sagt noch immer «Reichskanzler» -, eine urälteste Figur spielen bei internationalen Verhandlungen, die noch immer mit den allerabge­griffensten Ideen arbeiten, und auf der anderen Seite solche Persön­lichkeiten, wie der Professor Varga eine ist, der Neues begründen wollte - ein Neues, das aber nur dadurch neu ist, daß seine Ideen schneller zum Abbau führen. Die Ideen der anderen führen auch zum Abbau, aber weil sie nicht so radikal vorgehen, so geht der Abbau schlampiger, langsamer vor sich; wenn der Professor Varga mit seinen Ideen kommt, geht es gründlicher, radikaler.

Nehmen wir jetzt mal die westlichen Ideen. Wie gesagt, man kann da vieles schildern, noch lange, bis morgen, schildern, aber ich möchte nur einige Gesichtspunkte angeben. Sehen Sie, man kann ja vom moralischen Gesichtspunkt oder vom Gesichtspunkt mensch­licher Sympathie und Antipathie denken, wie man will über diese Westländer, namentlich über die anglo-amerikanische Kulturpoli­tik - meinetwillen nenne man sie auch eine Unkulturpolitik; ich will nicht über Geschmacksfragen streiten. [Darüber will ich nicht sprechen], sondern ich will über welthistorische und politische Notwendigkeiten sprechen, über dasjenige, was als Impetus, als Impuls in der englischen Politik wirkte in denselben Jahrzehnten, in denen man in Mitteleuropa so theoretisch diskutierte, daß dann zunächst Vargasche Ideen herauskamen. Wer auf diese englische Politik hinschaut, der findet, daß ihr zugrundeliegt vor allen Din­gen etwas, was ein Zug ist, ein Grundzug - er braucht niemandem zu gefallen, aber es ist ein Grundzug -, durch den Ideen wirken, durch den Ideen strömen.

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Wie soll man den Gegensatz dieses Mitteleuropas und dieser westlichen, anglo-amerikanischen Länder - es gehört ja auch der koloniale Nachwuchs in Amerika dazu - sachgemäß charakterisie­ren? Da möchte man sagen: Außerordentlich charakteristisch ist es, daß in diesem Zug, der vor allen Dingen durch die Handelspoli­tik, durch die Industriepolitik der Westländer geht, etwas immer deutlich spürbar ist - ich sage nicht verstehbar, aber deutlich spürbar -, etwas, was sich auch als Idee ausspricht. 1884 hat ein englischer Historiker, Professor Seeley, in dem Buche «Die Aus­breitung von Großbritannien» die Sache geschildert. Ich will Ihnen mit seinen eigenen Worten vorhalten, am besten die paar Sätze, die klar und deutlich zum Ausdruck bringen, um was es sich dabei handelt. Seeley sagt in seinem Buche «The Expansion of England»:

«Wir gründeten unser Reich teils, wie zugegeben werden muß, durchdrungen vom Ehrgeiz der Eroberung, teils aus philanthropi­schen Absichten, um ungeheuren Übeln ein Ende zu machen.» - Er meint Übel in den Kolonien. Das heißt, es wird ganz bewußt an­gestrebt eine Expansionspolitik - das ganze Buch enthält ja diese Idee -, eine Ausdehnung der Machtsphäre Großbritanniens über die Welt. Und es wird angestrebt diese Ausdehnung, weil man glaubt, daß diese Mission, die dahin geht, wirtschaftliche Expansi­onskräfte zu verwenden, daß diese Mission dem britischen Volk zugefallen ist - so ungefähr, wie im Altertum dem hebräischen Volk eine gewisse Mission zugefallen ist. Ein Historiker spricht es aus: In denjenigen Leuten, die in England handeln - ich meine Handel treiben -, die Industrielle sind, die Kolonisatoren sind, die staatsverwaltende Menschen sind, in all diesen Menschen lebt eine geschlossene Phalanx der Welteroberung. Das ist dasjenige, was dieser Historiker Seeley ausspricht. Und die besten Leute Eng­lands, die auch aus den Geheimgesellschaften heraus wissen, um was es sich handelt, die betonen ausdrücklich: Unser Reich ist das Inselreich, wir haben rings herum Meer, und nach der Konfigura­tion dieses unseres Reiches fällt uns diese Mission zu. Weil wir ein Inselvolk sind, deshalb müssen wir auf der einen Seite aus Ehrgeiz erobern und auf der anderen Seite aus Philanthropie - wirklicher

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oder geglaubter - versuchen, die Übel, die in ganz unkultivierten Ländern sind, zu beseitigen. Das alles ist aus volksmäßigem In­stinkt heraus, aber so aus volksmäßigem Instinkt heraus, daß man jederzeit bereit ist, das eine zu tun, das andere nicht zu tun, wenn es darauf ankommt, irgendwie dem großen Ziel der Ausdehnung des britischen Wesens sich zu nähern. Was weiß man denn [von dem britischen Wesen]? Ich bitte Sie, meine verehrten Anwesen­den, gerade dasjenige, was ich jetzt gesagt habe, sehr genau ins Auge zu fassen - was weiß man denn davon? Man weiß, die Eng­länder denken: Wir sind ein Inselvolk. Das ist der Charakter unse­res Reiches, daß es auf einer Insel errichtet ist. Wir können nichts anderes als ein Eroberervolk sein. - Wenn jemand den Geschmack hat zu sagen «ein Räubervolk», so mag er das tun, darauf kommt es heute nicht an, es kommt nur auf Tatsachen an und auf die politische Tendenz, denn die bewirken etwas; Geschmacksurteile bewirken auf dem Gebiete, auf dem wir uns da unterhalten, nichts. Man weiß also [in England], eine Politik zu treiben, namentlich auf wirtschaftlichem Gebiete, welche ausgeht von einer klaren Er­kenntnis dessen, was man als Volk ist auf dem Gebiete der Erde, auf dem man lebt. Das ist Wirklichkeitssinn, das ist Realitätsgeist.

Wie ist es denn in Mitteleuropa? Was hilft es denn, daß man sich hier immerfort Illusionen hingibt? Da wird man nie weiterkom­men. Weiterkommt man lediglich dadurch, daß man die Wirklich­keit ins Auge faßt. Wie ist es denn in Mitteleuropa in derselben Zeit, in der sich immer mehr und mehr kristallisierte das englische Wollen in dem, wovon ich eben jetzt gesprochen habe, das ausgeht von einer klaren Erkenntnis des Gebietes, auf dem man wirkt -, wie ist es in derselben Zeit in Mitteleuropa? Nun, in Mitteleuropa, da haben wir es keineswegs zu tun mit einem ähnlichen Erkennen der Aufgaben, die sich aus den Territorien ergeben, auf denen man lebt - ganz und gar nicht. Nehmen wir das Gebiet, von dem das Unglück in Europa ausgegangen ist, Österreich-Ungarn; dieses Österreich-Ungarn ist gewissermaßen von der neueren Geschichte geschaffen, um den Beweis zu liefern, wie ein moderner Staat nicht sein soll.

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Sehen Sie, dieses Österreich-Ungarn faßte in sich - ich kann das nicht weiter ausführen heute, ich will heute nur ganz aphoristisch und äußerlich charakterisieren -, dieses Österreich-Ungarn faßte in sich zunächst die in den Alpenländern und in Nieder- und Ober­österreich lebenden Deutschen, die in sich in verschiedenste Gesin­nungen gespalten waren, faßte weiter in sich im Norden die Tsche­chen mit starken deutschen Einschlüssen in Deutsch-Böhmen, weiter im Osten die polnische Bevölkerung, noch weiter im Osten die ruthenische Bevölkerung, dann die verschiedenen anderen im Osten von Österreich-Ungarn liegenden Völkerschaften, vorzugs­weise die Magyaren und weiter nach Süden die südslawischen Völker. Meine sehr verehrten Anwesenden, wird all das in ähn­licher Weise von einer Realität tragenden Idee zusammengehalten wie diejenige [der Engländer]: Wir sind ein Inselvolk und müssen deshalb erobern? Nein! Wodurch wurden denn diese dreizehn verschiedenen, staatlich anerkannten [Sprach]gebiete Österreich-Ungarns zusammengehalten? Zusammengehalten - ich darf das sagen, denn ich habe die Hälfte meiner Lebenszeit, fast dreißig Jahre, in Österreich verbracht -, zusammengehalten wurden sie einzig und allein durch die habsburgische Hauspolitik, durch diese unglückselige habsburgische Hauspolitik. Man möchte sagen, alles dasjenige, was in Österreich-Ungarn gemacht worden ist, ist eigentlich gemacht worden unter dem Gesichtspunkt: Wie läßt sich diese habsburgische Hauspolitik aufrechterhalten? Diese habsbur­gische Hauspolitik ist ein Produkt des Mittelalters. Nichts also ist vorhanden [für den Zusammenhalt] als das selbstische Interesse eines Fürstenhauses, nichts dergleichen, wie es etwa bei dem eng­lischen Historiker Seeley im Jahre 1884 zum Ausdruck kommt.

Und was haben wir in dem übrigen Mitteleuropa, zum Beispiel in Deutschland, erlebt? Ja, ich muß sagen: Mir hat es immer tief ins Herz geschnitten, wenn ich zum Beispiel so etwas gelesen habe, wie es öfter bei Herman Grimm vorkommt, der klar und deutlich schildert, was er empfunden hat während seiner eigenen Studien-jahre, in den Zeiten noch, in denen es ein Verbrechen war, sich einen Deutschen zu nennen. Die Leute wissen das heute nicht

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mehr; man darf nicht vergessen, man war Württemberger, man war Bayer, Preuße, Thüringer und so weiter, aber man war nicht Deut­scher. Und Deutscher zu sein, Großdeutscher, das war dazumal Revolution, das konnte man nur im intimsten Kreise gestehen, das war ein Verbrechen gegen die selbstischen Interessen der Fürsten­häuser. Bis 1848, sagt Herman Grimm, war bei den Deutschen das das größte Verbrechen auf politischem Felde, was bei den Franzo­sen die größte Ehre war: sich einen Franzosen zu nennen; sich einen Deutschen zu nennen war [bei den Deutschen das größte Verbrechen]. Und ich glaube, heute lesen viele Menschen Fichtes «Reden an die Deutsche Nation» und sie verstehen die Eingangs-worte gar nicht richtig, denn sie beziehen sie auf etwas anderes. Fichte sagt: Ich spreche für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg. - Er meint, er spricht, ohne die Unterschiede von Österreichern, Sachsen, Thüringern, Bayern und so weiter zu be­rücksichtigen, eben zu Deutschen - er meint das streng [im Sinne] von innerlicher Politik; nichts in diesem Satz enthält etwas, was nach außen ginge. [Deutscher zu sein im politischen Sinn] war et­was, was nicht sein durfte, was verboten war. Es sieht fast albern aus, aber es war verboten - so ein bißchen nach jenem Prinzip, das vorkommt in einer Anekdote von Kaiser Ferdinand, den man den Gütigen nannte, Ferdinand den Gütigen, weil er sonst keine brauchbaren Eigenschaften hatte. Von ihm wird erzählt, daß ihm Metternich gemeldet habe: In Prag beginnen die Leute zu revolu­tionieren -, da sagte Kaiser Ferdinand: Dürfen Sie denn das über­haupt? - Ungefähr nach diesem Prinzip des Nichtdürfens wurde ja das Deutschsein bis zum Jahre 1848 behandelt. Und dann gebar sich allerdings aus diesem Deutschsein ein Ideal, das dann später in der Machtpolitik zugrundeging; jenes Ideal [der Einheit] gebar sich, nach dem man heute noch immer lechzt. Wie es schicksals-mäßig seinen Weg genommen hat, kann man im einzelnen wohl am besten sehen am Beispiel des Ästhetikers Vischer, des «V-Vischer», der hier in Stuttgart lebte; er war erfüllt bis in die siebziger Jahre von dem großdeutschen Ideal, das in den Worten Fichtes steckt:

Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg. -

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Er hat sich dann aber in diejenigen Verhältnisse gefügt, die Nietz­sche im Beginne der siebziger Jahre mit den Worten charakterisier­te: Sie waren eine Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches. - Aber man sieht, wie zähneknirschend solch ein Mann wie Vischer sich ummetamorphosiert das alte Ideal in das neue, wie furchtbar schwer es ihm wird, das neue als eine Wahrheit hinzustellen, zu der er sich bekehrt hat. Die Selbstbiographie «Al­tes und Neues» von Vischer ist in dieser Beziehung außerordent­lich interessant. Und darin, was ich jetzt ausgeführt habe, liegt es vielfach, daß, als die Weltverhältnisse Weltpolitik forderten, eben sich in Mitteleuropa nichts anderes entwickelte als jene wertlose Diskussion, von der ich gesprochen habe. Was in den sechziger, siebziger Jahren in Wirklichkeit geschah, war Hauspolitik gegen Rauspolitik; die hatte abgelöst dasjenige, was aus dem deutschen Ideal heraus geboren werden sollte. Im Grunde genommen, meine sehr verehrten Anwesenden, wären Italiener, Franzosen, vielleicht sogar Engländer froh, wenn sie einen solchen Historiker hätten, wie es Treitschke für die Deutschen war. Man mag ihn einen Polterer nennen - das war er vielleicht, und man mag wenig Ge­schmack finden an der Art und Weise, wie er darstellt -, aber dieser Deutsche hat doch gerade für seine ihm so lieben Deutschen recht schöne Worte gefunden. Man mußte nur [durch die Polterei] durchsehen - das mußte man auch persönlich. Als ich ihn in Wei­mar einmal traf, zum erstenmal traf - er konnte damals schon nicht mehr hören, man mußte ihm alles aufschreiben, aber er sprach sehr laut, akzentuiert, deutlich -, da fragte er mich: Woher kommen Sie, was sind Sie für ein Landsmann? - Ich schrieb ihm auf, daß ich Österreicher bin. Nach einigen kurzen Sätzen, die gewechselt wurden, sagte er mir: Ja, die Österreicher, entweder sind das ganz geniale Leute oder sie sind Dummköpfe. - Man hat nun natürlich die Wahl gehabt, sich in eine dieser Kategorien einzuschreiben, denn eine dritte gab es nicht. Er war also ein Mann, der dezidiert sprach. Bei Treitschke kann man recht gut lesen über jenen Haus­mächtestreit, der eigentlich das Schicksal des deutschen Volkes her­beigeführt hat, den Hausmächtestreit zwischen Habsburgern und

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Hohenzollern, und Treitschke findet schon die Worte, um auch den Hohenzollern die herbsten Wahrheiten zu sageni Nun, das Merkwürdige ist, wenn man in der Unkenntnis der eigenen terri­torialen Verhältnisse Politik macht, Politik macht, wie sie in der neueren Zeit nicht mehr gemacht werden kann, dann bilden sich eben unnatürliche Verhältnisse heraus. Und wenn man in etwas so Unnatürlichem drinnensteht, dann lechzt man darnach, so wie der Professor Varga darnach gelechzt hat und heute noch lechzt:

Ja, wenn man es nur zuwegekriegen würde, daß an den richtigen Stellen die richtigen Persönlichkeiten stehen.

Aber das Merkwürdige ist: in den besonderen englischen Ver­hältnissen hat sich das aus einem gewissen Wirklichkeitssinn von selbst herausgebildet. Während in Mitteleuropa über sozialistische und antisozialistische Theorien gestritten wurde, um dann einzu­fahren in soziale Aufbauversuche, die zu nichts führen konnten, war es das wirklichkeitsgemäße Erkennen der eigenen Verhältnisse, das im Westen Männer an die Oberfläche brachte, die nun wirklich an ihren Stellen für dasjenige, was man da erreichen wollte und was Seeley schildert, das Rechte taten. Da brachte der Wirklichkeitssinn die rechten Männer an die rechte Stelle - selbstverständlich, sie waren für uns die unrechten, aber es war nicht ihre Aufgabe, für uns die rechten zu sein. Nehmen Sie vielleicht gleich einen der größten - andere, kleinere gab es ja viele -, einen der typischsten:

Cecil Rhodes. Seine ganze Tätigkeit geht eigentlich in wirklich praktischer Gestaltung auf, während man in Mitteleuropa theoreti­siert. In Mitteleuropa theoretisiert man über den Zukunftsstaat. Cecil Rhodes, aus ganz kleinen Verhältnissen herausgekommen, arbeitete sich herauf zum größten Diamantenkönig. Wie ist ihm das gelungen? Weil sich das Merkwürdige ergibt - für uns ist es merkwürdig -, daß ihm das zu seiner Zeit noch mächtige Bankhaus Rothschild die größten Weltkredite verschaffte; es verschaffte sie einem Mann, der eine praktische Hand hatte, genau nach der Rich­tung Geschäfte zu machen, wie Seeley aus den britischen Ideen heraus, die bis in die Geheimgesellschaften hineingehen, die Welt­politik Britanniens schildert. Denn Cecil Rhodes war ein Mensch,

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der nicht nur Geschäfte trieb, sondern immer wieder und wieder­um ging er nach England zurück, zog sich in die Einsamkeit zu­rück, studierte Carlyle und ähnliche Leute, aus denen ihm hervor-leuchtete: Großbritannien hat eine Mission, und wir stellen uns in den Dienst dieser Mission. Und was ergibt sich daraus? Zunächst ist es das Bankhaus Rothschild, [das ihm Kredite verschafft] - also eine Bankunternehmung, die mit dem Staat verflochten, aber doch aus privaten Verhältnissen hervorgegangen ist. Dann aber: Wozu ist solch ein Mann wie Cecil Rhodes imstande? Er ist imstande, dasjenige, was man den britischen Staat nennen könnte, ganz als ein Instrument zu betrachten für die englische Eroberungspolitik -und das mit einem großen Zug -, verbunden mit dem Glauben an die Mission Britanniens. Er ist imstande, wie viele andere - nur ist er einer der Größten - den britischen Staat als Instrument dazu zu benützen und dasjenige, was er leistet, zurückleuchten zu lassen auf die immer größer und größer werdende britische Macht. Das alles ist eben nur möglich dadurch, daß ein Bewußtsein vorhanden ist in der englischen Bevölkerung von der besonderen welthistori­schen Aufgabe als Inselvolk. Und dem konnte von Mitteleuropa nichts entgegengesetzt werden, was ihm gewachsen gewesen wäre. Was geschieht denn da im Westen? Es wächst eine von Persönlich­keiten getragene Wirtschaftspolitik zusammen mit der Staatspoli­tik. Warum wachsen sie zusammen? Weil die englische Politik gegangen ist ganz im Sinne der neueren Zeit, und im Sinne der neueren Zeit ist es nur, wenn man in der Lage ist, Ideen aus der Wirklichkeit heraus, in der man lebt, zu verstehen. Da kann zusam­menwachsen Staatspolitik und Wirtschaftspolitik. Aber der eng­lische Staat ist ein Staat, der als solcher nur auf dem Papiere steht

- er ist ein Konglomerat der privaten Verhältnisse. Es ist nur eine Phrase, wenn man vom britischen Staat spricht; man müßte spre­chen vom britischen Wirtschaftsleben und von alten Traditionen, die da hineingehen, von alten geistigen Traditionen und derglei­chen. In dem Sinn, wie Frankreich ein Staat ist, wie Deutschland ein Staat zu werden strebt, war Britannien nie ein Staat. Da hat man aber das Gebiet verstanden, auf dem man lebte; man hat das Wirtschaftsleben

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so eingerichtet, wie es diesem Gebiete entspricht. Se­hen Sie, heute denken die Leute nach, wie England etwas anderes sein sollte, wie England nicht Eroberungsweltpolitik treiben sollte, wie es «brav» werden sollte. So, wie es sich viele Leute heute bei uns vorstellen, so könnte England nicht mehr England sein; denn dasjenige, was es tut und getan hat, beruht auf seinem ganzen Wesen gerade als Inselreich. Es kann nur dadurch sich weiter­entwickeln, daß es dieselbe Politik weiter betreibt.

Wie war es dagegen in Mitteleuropa? Da, in Mitteleuropa, ent­wickelte sich kein Verständnis für die Territorien, auf denen man lebte; da fand man keine Idee von einer der eigenen Wirklichkeit angemessenen Mission, da fehlte dieser große Zug. Während im britischen Reich dasjenige, was man Staat nennt, aber keiner ist, sich sehr gut gerade von den begabtesten Wirtschaftspolitikern verwenden ließ als ein Instrument der Politik Englands, trennten sich [in Österreich-Ungarn] die Dinge; da konnte man sich nur einer Illusion hingeben, daß sich für dasjenige, was österreichisch­ungarische Politik sein sollte, gebrauchen lassen könnte das Terri­torium, worauf man sich befand. Da gingen die Dinge auseinander, die in England zusammengingen. Und das Studium der österrei­chisch-ungarischen Verhältnisse bietet geradezu etwas Groteskes dar, weil man versuchte, ein Wirtschaftsterritorium zu schaffen aus einem Gesichtspunkt heraus, aus dem heraus es gar nicht ging. Denn es hätte müssen die österreichische Hauspolitik von Anfang an eine Art [wirtschaftliche Hauspolitik sein]. Ja, wenn die habs­burgische Hauspolitik die Politik des Welthauses Rothschild gewe­sen wäre, dann hätte sich eine wirtschaftliche Hauspolitik entwik­keln können; aber aus der österreichischen Hauspolitik konnte sich nicht etwas entwickeln wie eben Orientpolitik oder dergleichen. Das ging nicht, da gingen die Dinge auseinander. Ebenso in Deutschland, trotzdem ich nicht Gelegenheit hatte, es so klar zu beobachten wie die österreichischen Verhältnisse.

Man könnte nun auch die östlichen Verhältnisse schildern und zeigen, wie es da gar nicht einmal zu einer Diskussion kam. Im Westen hatte man alle Diskussionen hinter sich; die waren eigentlich

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seit Cromwells Zeiten, ich möchte sagen abgetan. Nachher entwickelte sich das Praktische. Im mittleren Gebiet diskutierte man und brachte es dahin zu glauben, daß das Praktische das ist, was sich mit einer bloß abstrakt-logischen Notwendigkeit ergibt. Dann im Osten kam man überhaupt nicht einmal zu [solchen Dis­kussionen], sondern da kam man dazu, daß einfach das Westliche genommen wurde, daß ein Zar, Peter der Große, es nach Osten trug oder daß ein Lenin sich in die westlichen Redereien hineinfand und sie nach Osten trug. Es ist wahrhaftig nur der Mantel gewech­selt, denn im Grunde genommen ist Lenin genau so ein Zar, wie es die früheren Zaren waren. Ich weiß nicht, ob es ihm ebenso glückt, selbst den Mantel schon richtig geschnitten zu tragen, wie es zum Beispiel dem Herrn Ebert nachgesagt wird von denjenigen, die ihn in Schlesien beobachtet haben und die bemerkt haben wollen, daß er es in der Nachahmung des Wilhelminentums schon bis zum richtigen Nicken gebracht hat; ich weiß nicht, ob das bei Lenin auch so der Fall ist. Aber mag auch die Maske eine noch so andere sein, in Wirklichkeit haben wir einen Zaren, nur in anderer Form, noch vor uns, der den Westen da hineingetragen hat in den Osten. Das bewirkt jenes unnatürliche Aufeinanderprallen der erwar­tungsvollen Stimmung des ganzen Ostens mit unverstandenen Ideen aus dem Westen. Es ist ja merkwürdig, daß die Dinge für Rußland so liegen, daß 600 000 Menschen die Millionen der ande­ren ganz stramm beherrschen und daß diese 600 000 wieder nur von den paar Volkskommissären beherrscht werden. Aber das kann nur dadurch der Fall sein, daß demjenigen, der sich nach einer Neugestaltung der Welt so sehnt wie der Mensch des Ostens, daß dem im Grunde zunächst gar nicht auffällt, wie seine Sehnsucht befriedigt wird. Wäre nach Moskau ein anderer gekommen mit ganz anderen Ideen: er hätte dieselbe Macht entfalten können. Das beachten die wenigsten Menschen der Gegenwart, weil die meisten ganz im Unwirklichkeitsgemäßen drinnenstecken.

Was geht aber aus all dem hervor, was ich eben versuchte, ganz aphoristisch anzuführen? Daraus geht hervor, daß im Westen es lange Zeit brauchen wird, bis - durch das Zusammengewachsensein

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der sogenannten staatlichen Interessen mit den wirtschaftlichen Interessen - die Idee von der Dreigliederung populär wird. Und daraus geht auch hervor, daß die europäische Mitte das Gebiet ist, wo diese Idee unbedingt zunächst Wurzel fassen müßte, weil die Menschen einsehen müßten, daß die alten Verhältnisse hier alles auseinandergetrieben haben. Es ist ja schon im Grunde genommen alles zerspalten; man versucht es nur mit den nicht mehr geltenden, alten Klammern zusammenzuhalten. Die Dreigliederung ist ja im Grunde schon da unter der Oberfläche, es handelt sich nur darum, daß man sie ins Bewußtsein aufnimmt und die Wirklichkeit so gestaltet wie dasjenige, was unter der Oberfläche schon vorhanden ist. Dazu ist allerdings notwendig, endlich zu wissen, daß mit den alten Persönlichkeiten nichts anzufangen ist und solche Persönlich­keiten an ihre Stelle treten müssen, die sich klar darüber sind, daß dasjenige, was diese alten Persönlichkeiten denken, seit dem Jahre 1914 ad absurdum geführt ist und etwas Neues an diese Stelle tre­ten muß. Das ist es, was ich versucht habe schon während des unglückseligen Weltkrieges denjenigen klarzumachen, die vielleicht die Möglichkeit gehabt hätten, für die Dinge zu wirken. Und dar­innen liegen die Gründe, warum seit dem vorläufigen Auslaufen der Weltkatastrophe in die Weltrevolution versucht wird, die Idee von der Dreigliederung in so viele Köpfe hineinzutragen, als nur irgend möglich ist; denn was wir brauchen, sind möglichst viele Menschen mit den Ideen der Dreigliederung. Während des Welt­krieges hat man es nicht verstanden, daß den vierzehn abstrakten Punkten des Woodrow Wilson die konkrete Dreigliederung von autoritativer Stelle hätte entgegengetragen werden müssen. Die Praktiker haben sie unpraktisch gefunden, weil sie gar keine wirk­liche Idee von dem Zusammenhang von Idee und Praxis haben. Gewiß, die Vierzehn Punkte Woodrow Wilsons sind so unprak­tisch wie möglich. Und es ist vielleicht die größte Tragik, die dem deutschen Volk hat passieren können, daß selbst der Mann, auf den man in den letzten Tagen der katastrophalen Zeit gerechnet hat, der noch aus dem alten Regime heraus Reichskanzler werden konnte, daß selbst der imstande war, die Vierzehn Punkte Wilsons irgendwie

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ernstzunehmen. Vorläufig sind diese Vierzehn Punkte in die Unmöglichkeit des abstrakten Völkerbundes ausgelaufen; ihre Unmöglichkeit zeigen sie praktisch in Versailles und Spa. Dasjenige aber, was sie vermocht haben, trotzdem sie abstrakt sind, das ist, sie haben Heere und Schiffe in Bewegung gebracht. Und etwas in Bewegung bringen, das sollten die Punkte, die durch die Dreiglie­derung in die Welt kommen, auch; wenn auch nicht gerade Heere und Schiffe, so sollten sie doch die Menschen in Bewegung brin­gen, so daß wieder ein lebensfähiger sozialer Organismus da sein könnte. Das kann nur auf dem Wege der Dreigliederung geschehen

- das wurde von den verschiedensten Gesichtspunkten aus hier erörtert.

Heute wollte ich es aus ein paar Gesichtspunkten der neueren Historie erörtern. Diese neuere Historie muß man natürlich von anderen Gesichtspunkten aus betrachten, als sie gewöhnlich be­trachtet wird, wenn nur das Schulmäßige in ihr waltet. Aus diesem Schulmäßigen wird uns die Dreigliederung hinausführen dadurch, daß das Geistesleben befreit wird. Und aus dem befreiten Geistes­leben werden dann diejenigen Persönlichkeiten an die Plätze ge­stellt werden können, von denen selbst ein Professor Varga heute sagen muß: Hätten wir sie, dann wäre vielleicht die Geschichte gut gegangen. - Aber sicher ist: Auf den Wegen des Professor Varga gelangt man nicht zu denjenigen Persönlichkeiten, die an ihrem rechten Platz stehen werden.

Nach der Einleitung von Rudolf Steiner melden sich verschiedene Persön­lichkeiten mit Fragen und Meinungen zu Wort:

Max Benzin ger: Wenn wir die Verwirklichung der Dreigliederung tat­sächlich wollen, so müssen wir unbedingt mit dieser Idee an die Öffentlich­keit gehen. Es genügt nicht, einfach aufzuriifen, daß interessierte Menschen zum Studienabend mitgebracht werden sollen.

Siegfried Dorfner: In den «Kernpunkten» heißt es, daß die Produktions­mittel nur so lange etwas kosten dürfen, bis sie hergestellt sind. Wenn eine Fabrik Produktionsmittel herstellt, zum Beispiel Drehbänke: Darf also die

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Drehbank nur so lange etwas kosten, bis sie hergestellt ist? Dann hätte aber die Herstellungsfabrik keine Deckung dafür. Dürfen die fertigen Produk­tionsmittel denn nicht bezahlt werden?

Rudolf Steiner: Wenn man Drehbänke erzeugt und als Drehbän­ke verkaufen will, so sind das noch keine Produktionsmittel. Sie sind doch noch Waren und keine Produktionsmittel; Produktions­mittel sind sie erst dann, wenn sie in der sozialen Gemeinschaft zum Produzieren da sind. Es kommt darauf an, daß man den Be­griff des Produktionsmittels im wirklichen sozialen Prozeß sieht. Drehbänke sind erst da Produktionsmittel, wo sie nur noch als Produktionsmittel verwendet werden; bis dahin werden sie ver­kauft als Waren, und derjenige, der sie kauft, ist Konsument.

Ein anderer Diskussionsteilnehmer: Es ist von Waren gesprochen worden. Muß nicht unterschieden werden zwischen Waren aus der Landwirtschaft und Waren aus der Industrie? Waren aus dem landwirtschaftlichen Gebiet bringen ja gewöhnlich einen Überschuß hervor, während die Waren aus der Industrie mit Unterbilanz arbeiten.

Rudolf Steiner: Diese Sache wird heute natürlich vielfach mißver­ständlich aufgenommen werden müssen, weil wir ja nicht in sol­chen Verhältnissen leben, daß gewissermaßen eine Großbilanz sich ergibt, wenn man einfach alles dasjenige, was produziert wird, in diese Bilanz eines geschlossenen Wirtschaftsgebietes einbeziehen würde - eine solche Bilanz kann gar nicht herauskommen. Sie können nicht unsere gegenwärtige Landwirtschaft irgendwie in eine Totalbilanz einsetzen, wenn Sie so und so viele Lhypothekari­schej Belastungen auf den Gütern haben, und das dann vergleichen mit der Industrie. Wenn ich sage, im Grunde ist die Industrie im­mer darauf angewiesen, von all dem zu leben, was durch den Grund und Boden hervorgebracht wird, so muß man dabei weg-denken alles dasjenige, was sich bei uns hineingemischt hat und wodurch gewissermaßen nur eine verschleierte Totalbilanz züstan­degebracht werden kann. Wenn das, was nicht Ware sein kann, aufhört, Ware zu sein, nämlich Grund und Boden und menschliche

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Arbeitskraft, wenn nur das Ware wird, was im Sinne der Dreiglie­derung zirkulieren kann zwischen Produzenten und Konsumenten, dann wird sich eine Bilanz aufstellen lassen, bei der sich zeigt, daß jedesmal die Aufwendungen, die für die Industrie notwendig sind, gedeckt werden müssen aus den Überschüssen der Landwirtschaft. Daß das gegenwärtig nicht der Fall ist, ist selbstverständlich. Aber wir leben eben in Zeiten, in denen eine wirklich auf die Produktion sich stützende Totalbilanz eines geschlossenen Wirtschaftsgebietes sich ergeben müßte. Was ich da vorgebracht habe, ist auf der Seite des Wirtschaftslebens schon längst erkannt. Nicht wahr, Sie finden es sogar bei Walter Rathenau betont, daß jede Industrie ein fressen­des Gut ist, das heißt, daß Erträgnisse immer wieder hineinkom­men müssen in die Industrie und daß fort und fort zugeschossen werden muß. Das muß aber irgendwoher kommen, und das kann nur von dem kommen, was die Erträgnisse von Grund und Boden sind. Aber in unseren heutigen Bilanzen kommt das überhaupt nicht zum Ausdruck.

Herr Roser: Es ist überhaupt ein Zeichen für unsere Zeit, daß ein Mensch wie Varga feststellen mußte, daß es an den rechten Männern gefehlt hat. Nötig ist eine Erziehung der Masse. Aber auch bei uns in der Dreigliede­rungsbewegung fehlt es an den rechten Männern. Solche wären unbedingt nötig, denn die Dreigliederung muß in großem Stile propagiert werden.

Emil Molt: Es muß wirklich etwas geschehen. Das müßte jeder einsehen, schon nur mit Rücksicht auf sich selbst.

Ein anderer Diskussionsteilnehmer: Ich möchte noch eine Frage an Herrn Dr. Steiner stellen. In der Frankfurter Zeitung kam kürzlich ein Artikel, wo die naheliegende Frage gestellt wurde: Wie kann das Geistesleben denn überhaupt freigemacht werden, da es doch vom Wirtschaftsleben finanziert werden muß? Wie beantwortet Herr Dr. Steiner diese Frage, die bei der Veranstaltung, über die der Artikel referiert, nicht genügend beantwortet wurde?

Rudolf Steiner: Wir haben ja hier diese Frage sehr häufig behan­delt, wie es sich verhalten wird mit dem wirtschaftlichen Stützen

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des geistigen Lebens. Und die Notiz in der Zeitung muß einfach unrichtig sein, wenn sie sich auf unsere Diskussionen in der Drei­gliederungsbewegung als ganzes bezieht.

Zwischenruf

Es kann sicher irgendwo vorgekommen sein, daß jemand nicht Auskunft geben konnte; aber wie oft ist von mir selbst gesagt worden, daß es sich wirklich in der Dreigliederung nicht handelt um eine Dreiteilung der Menschen, sondern um eine Gliederung Ldes sozialen Organismus] in drei Lebensorganisationen, die sich notwendig nebeneinander entwickeln müssen: das geistige, das staatliche und das wirtschaftliche Leben. Die Menschen werden ja in allen drei Gliedern darinnen sein. Und so ist es ganz selbstver­ständlich, daß das, was die Persönlichkeiten, die in der Organisa­tion des geistigen Lebens drinnenstehen, zu verwalten haben als Geistiges des Geisteslebens, daß dieses nur das eine Glied bildet. Diese Persönlichkeiten, die das geistige Leben tragen, mussen aber auch leben. Deshalb werden sie sich gliedern in wirtschaftliche Organisationen. Und es wird kein Unterschied sein, ob eine solche Organisation, sagen wir, aus Lehrern oder Musikern bestehen wird oder aus Schustern oder Schneidern. Denn die wirtschaftliche Organisation ist nicht dazu da, daß nur gerade das eine oder das andere Gebiet des Wirtschaftslebens besorgt wird, sondern daß alle Menschen wirtschaftlich gestützt werden. Und indem sie im wirtschaftlichen Gebiet des sozialen Organismus drinnenstehen, werden sie wirtschaftlich gestützt.

Man kann überrascht sein, wie da die Dinge mißverstanden werden. Es tauchte auch vor unseren, wenn ich so sagen darf, Dreigliedereraugen ein nettes Schema auf, das von einer radikalen sozialdemokratischen Partei in Halle ausgearbeitet worden ist -schön schulmäßig, nicht wahr, wie man Schemen macht. Da sind (es wird gezeichnet) so schön oben die zentralen Stellen des Wirtschaftslebens - ganz oben ist natürlich nur einer. Dann glie­dert sich das weiter nach unten. Wenn das so ginge, dann wäre der zukünftige sozialistische Staat etwas, was dem höchsten Ideale der

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Bürokratie entsprechen würde. Aber ganz am Schluß, da fand man drei so kleinere Abteilungen, die waren dem geistigen Leben ge­widmet. Und von diesen drei Abteilungen waren einige Herren so entzückt, daß sie sagten: Da steckt ja die ganze Dreigliederungsidee drinnen.

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Nun, dem lag vor allen Dingen die falsche Idee zugrunde, daß man den sozialen Organismus jemals so einteilen werde. So soll er ja nicht eingeteilt sein, ebensowenig wie der menschlichen Organis­mus in drei nebeneinander liegende Teile eingeteilt ist. Und doch sind im menschlichen Organismus drei Teile drinnen: Wir sind einmal Kopfmensch, Brustmensch und Stoffwechselmensch. Aber nicht allein der Kopf ist Kopfmensch, sondern der Kopf ist auf den ganzen menschlichen Organismus ausgedehnt; zum Kopfmenschen gehört das ganze Nervensinnes-System. Und der Herzmensch wie­derum findet sich nicht allein im Herzen; der Wärmesinn zum Beispiel ist über den ganzen Körper ausgedehnt, also ist der ganze Körper auch Herzmensch. Und wir haben den Rhythmus überall, auch im Kopfsystem. Die Systeme durchdringen sich gegenseitig. Ich kann das jetzt nur abstrakt ausführen, aber die Korporationen des geistigen Lebens werden einfach auch da sein als wirtschaftliche Korporationen. Nur werden diese geistigen Korporationen da ihre Organisationen im wirtschaftlichen Teil des gesamten sozialen Organismus haben, und es wird, was sie da tun, nicht hineinspielen können in die Organisation des geistigen Teiles des dreigeglieder­ten Organismus.

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Es sind heute allerdings viele Gründe vorhanden, um in diesen Dingen mißverständliche Ansichten zu haben; solche Ansichten hat man immer wieder und wiederum gefunden, selbst bei Hoch­schullehrern. Diese Hochschullehrer, die sollten doch wenigstens drinnenstehen im Geistesleben. Aber wenn man zu ihnen sagt, es sollte doch selbstverständlich sein, daß diejenigen, die drinnenste­hen im Geistesleben eine Gemeinschaft bilden mit ihresgleichen, um das geistige Leben selbst zu verwalten - sprach doch Klopstock schon von einer Gelehrtenrepublik -, da kann man vielfach erfah­ren, daß ein Hochschullehrer sagt: Nein, [das will ich nicht], denn da wäre ja dann derjenige, auf den es ankommt, nicht ein Referent im Kultusministerium, sondern mein Kollege; nein, da ist mir der Referent im Kultusministerium lieber als mein Kollege.

Also es handelt sich darum, daß wir nichts von dem, was da lebt als die drei Stände, Lehrstand, Wehrstand und Nährstand, daß wir von dem gar nichts hineindenken [in die heutigen sozialen Verhält­nisse], sondern daß wir klar sind, daß die Menschen heute nicht dreigeteilt, [in Ständen] abgesondert leben. [Wir müssen uns klar sein], daß der Mensch in allen drei Teilen des sozialen Organismus ganz darinnensteht. Dann wird auch begriffen werden können, wie jeder, der tätig sein muß im geistigen Leben oder tätig sein muß im staatlichen Leben, dennoch im wirtschaftlichen Leben drinnensteht und vom wirtschaftlichen Leben aus versorgt werden muß. Also es kommt darauf an, daß die Menschen drinnenstehen im gesamten sozialen Organismus.

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SIEBENTER STUDIENABEND Stuttgart, 15. September 1920 Die heutigen wirtschaftlichen Krisenverhältnisse

Emil Leinhas leitet die Versammlung ein und erteilt Rudolf Steiner das Wort.

Rudolf Steiner: Sehr verehrte Anwesende! Wenn die Dinge so stehen würden im politischen, ja im öffentlichen Lehen überhaupt, wie heute viele Menschen meinen, so müßte man eigentlich daran verzweifeln, durch persönliches Eingreifen, durch unmittelbares menschliches Tun auf die Besserung der sozialen Verhältnisse hin­wirken zu können. Man muß sich dabei besonders daran erinnern, daß es heute eine ganze Anzahl von Menschen gibt, welche glau­ben, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse fast so ablaufen wie Naturerscheinungen. Sie glauben, daß wirtschaftliche Ereignisse sich der Reihe nach mit einer Ursachennotwendigkeit entfalten, die man durchaus vergleichen kann mit jener Notwendigkeit, mit der etwa ein Körper von einer bestimmten Beschaffenheit zu brennen beginnt, wenn man ihn in einer bestimmten Weise mit einem andern in Verbindung bringt. So denken sehr viele Menschen. Sie meinen, wenn sich eine Zeitlang so etwas entwickelt habe im wirt­schaftlichen Leben wie ein günstiger Konjunkturbetrieb, daß dann einfach aus diesem günstigen Konjunkturbetrieb selber sich etwas herausentwickeln müsse wie eine Krisis. Es folge dann eine Zeit­lang ein schlechter Geschäftsgang mit zurückgehenden wirtschaft­lichen Verhältnissen, bis wieder eine Art von Erholung eintrete und gewissermaßen ein Aufstieg im wirtschaftlichen Leben statt­finden würde. Solche Darstellungen wurden in der letzten Zeit ganz besonders hervorgebracht von Theoretikern des wirtschaft­lichen Denkens, von Nationalökonomen, die am liebsten alles aus dem äußeren Ursachenverlaufe selbst darstellen und das Eingreifen des menschlichen Willens ganz ausschließen wollen. Man hat geradezu

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behauptet, daß zum Beispiel die bedeutungsvolle volkswirt­schaftliche Krise im Jahre 1907 eben mit einer gewissen Notwen­digkeit folgen mußte aus dem Aufschwung, der vorangegangen war. Man kann vielleicht glauben, daß die Betrachtung solcher über weite Gebiete des Wirtschaftslebens sich erstreckenden Vorgänge -wie günstige und ungünstige Konjunkturen - den einzelnen weni­ger berühre. Das ist aber nicht der Fall. Und namentlich derjenige, der selber irgend etwas zu irgendeiner Zeit unternehmen will, muß immer darauf aufmerksam sein, in welche Konjunkturkonstellation er hineinkommt.

Es ist ja nur zu begreiflich, daß ein solcher Glaube an einen notwendigen Ursachenzusammenhang im Wirtschaftlichen sich herausgebildet hat als Folge der ganzen naturwissenschaftlichen Denkungsweise der letzten drei bis vier Jahrhunderte. Sie wissen, es ist insbesondere die dem Marxismus huldigende theoretische Anschauung des Sozialen, die in solchen Ideen sich ergeht und die auch nach solchen Ideen ihr praktisches Handeln einrichten möch­te. Es ist scheinbar für viele Menschen heute ganz dilettantisch, wenn man sich gegen so etwas wendet, denn man betrachtet ja geradezu das naturwissenschaftliche Denken wie ein Ideal, und man betrachtet es sogar als eine Errungenschaft, daß sich dieses naturwissenschaftliche Denken auch über das praktische Leben ausgedehnt hat. Da muß Geisteswissenschaft geradezu korrigierend eingreifen, denn nur aus diesen Anschauungen, die von hier aus immer vertreten wurden, kann allein eine gesunde soziale Denk­weise hervorgehen. Und Geisteswissenschaft kann korrigierend eingreifen aus ihrer ganzen Wesenheit heraus, denn sie hat durch­aus nichts von dem Theoretischen, Abstrakten, das gerade die materialistisch-naturwissenschaftliche Denkungsart der neueren Zeit angenommen hat. Diese Denkungsart bringt aber den Men­schen dazu, nicht auf die Tatsachen des Lebens hinzuschauen, sondern sich diese Tatsachen des Lebens umnebeln zu lassen mit allerlei Theorien.

Ich habe in meinen «Kernpunkten der Sozialen Frage» hervor­gehoben, wie gerade das Proletariat der Gegenwart eigentlich am

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allermeisten einer durch und durch theoretischen Weltauffassung huldigt. Das kommt einfach davon her, daß dieses Proletariat der Gegenwart, unverstanden in seinen Bestrebungen von dem immer mehr und mehr materialistisch sich entwickelnden Bürgertum, eben nur den von diesem Bürgertum vertretenen Materialismus als Weltanschauung erhalten hat und daher an diesen Materialismus wie an ein unbesiegliches Evangelium glaubt und einfach nicht aus ihm herauskommen kann. Geisteswissenschaft darf nicht Theorien huldigen, darf vor allen Dingen nicht zu irgendeiner Phantastik neigen. Denn trägt man als Geisteswissenschaftler die Neigung zur Phantastik in sich, dann wird man alles, was man in der geistigen Welt beobachtet, verzerren, zur Karikatur machen; man wird nur zu einer ganz verzerrten Welt kommen können. Geisteswissen­schaft verlangt als eine notwendige Grundlage von ihren Beken­nern, daß sie sich für das Reale, für das - ich möchte sogar sagen

- bis zu einem gewissen Grade Nüchterne erziehen. Dadurch aber, daß man gerade auf dem Geistgebiete sich erstens zu einer klaren, straffen Logik, zweitens aber zu einer Berücksichtigung der Tat­sachen heranerzieht, ist man durchaus imstande, in das gewöhn­liche praktische Leben diese Erziehung hineinzutragen und auch da die Tatsachen in der richtigen Weise mit ihrem ganzen Gewicht sprechen zu lassen.

Was tut der nationalökonomische Theoretiker, und was tun alle diejenigen, die zu einem solchen in die Schule gehen, wenn sie zum Beispiel so etwas studieren wollen wie die wirtschaftliche Krise des Jahres 1907? Sie studieren zunächst, was wirtschaftlich vorangegan­gen ist im Jahr 1906, kommen da in das Jahr einer günstigen Kon­junktur hinein. Sie versuchen dann, innerhalb dieses Vorangegange­nen die Ursachen für den nachfolgenden wirtschaftlichen Ruin zu finden. Wenn man so vorgeht, kann man sich mit allen möglichen nebulosen Begriffen durchsetzen und ist dann deshalb überhaupt unfähig, im sozialen Leben richtig zu denken. Wenn man sich aber an der Geisteswissenschaft erzogen hat, dann fragt man nach den wirtschaftlichen Tatsachen, und dann entdeckt man etwa für die Krise des Jahres 1907 - man könnte auch ein anderes Beispiel

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wählen -, daß es in Amerika eine mächtige Finanzmagnatengruppe gab, die über dreißig Banken und über dreißig lange Eisenbahnli­nien und noch manches andere innehatte. Dieses mächtige Konsor­tium kaufte in aller Stille ein gewisses Spekulationspapier, das auch an europäischen Börsen gehandelt wurde, in so großen Mengen auf, daß fast alles von diesem Papier im Besitze dieses Finanzmagnaten­konsortiums war. Dann veranlaßte man durch allerlei wirtschaft­liche Spekulationen europäische Banken - und europäische Unter­nehmungen überhaupt - dazu, solche Papiere «auf Lieferung» zu kaufen. Man brachte es dazumal dahin, daß eine ganz große Anzahl von Menschen solche Papiere auf Lieferung kauften. Nun nehmen wir aber an, irgendein Unternehmen habe in einem solchen Papier einen Kauf auf Lieferung abgeschlossen, um es dann wieder zu verkaufen; und es war nun so, daß dieselben Banken in Amerika mit europäischen Unternehmungen zu gleicher Zeit Käufe auf Liefe­rung in diesem Papier [in großem Umfange] abschlossen. Eine europäische Unternehmung begann also auf der einen Seite diese Papiere zu kaufen und verpflichtete sich auf der andern Seite, sie nach einer bestimmten Zeit zu verkaufen - hatte sie aber nicht, da diese Papiere zuvor alle von [dieser Finanzgruppe], der Morgan­Gruppe, aufgekauft waren; sie mußte sie also erst wieder von dort kaufen. Es hatten also die europäischen Unternehmungen in gro­ßem Umfange die Verpflichtung übernommen, solche Papiere zu liefern. In der Zwischenzeit nun, die verlief zwischen der Spekula­tion und dem Lieferungstermin, brachte man es aber von Amerika aus dahin, den Wert dieses Papieres ungeheuer hinaufzuschrauben, und die Folge davon war eine ganz außerordentliche Überlastung des europäischen Geldmarktes, was dann jene Krise hervorrief. Das heißt, eine reine Finanzspekulation, hervorgerufen von einer gewiß geringen Anzahl von menschlichen Individuen, hat diese Krisis gemacht. Diejenigen, welche diese Krise kennen, werden sich erin­nern, daß damals der Bankdiskont in England hinaufstieg bis zu 7%, in Deutschland sogar zeitweilig bis zu 8%, und ein erhöhter Bankdiskont ist immer ein Barometer für Krisen. Es war also diese Krise eigentlich aus dem Willen jener Menschen bewirkt.

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Und auf solche Tatsachen, also auf ganz spezielle, konkrete Tatsachen des Lebens - nicht auf allgemeine Theorien - muß man hinschauen, wenn man das Leben verstehen will, auch in seinen sozialen Erscheinungen. Es kann ja geistreich, ungeheuer geistreich und imponierend sein, wenn zum Beispiel Karl Marx aus den Wirtschaftsformen mit einer gewissen Notwendigkeit hervorgehen läßt das, was dann die Menschen denken. Aber im Grunde genom­men ist das alles in der Studierstube abgewickelt, und es ist gerade ein sehr charakteristisches Kennzeichen, daß das reinste Studierstu­benprodukt, das «Kapital» von Karl Marx, im Proletariat so popu­lär geworden ist wie ein Evangelium. Will man aber das Leben kennenlernen, dann muß man das Leben selber anschauen. Dann wird man finden, wie gerade Geisteswissenschaft heranerzieht zu einer Anschauung des Lebens - allerdings zu einer unbequemen. Es ist nämlich im Grunde genommen viel bequemer, abstrakte Theorien aufzustellen, als sich einzulassen auf das wirkliche Leben.

Und nun werden Sie sagen: Aber die Dinge stimmen ja, welche die Theoretiker sagen und welche die Agitatoren in das Volk als etwas Plausibles hineintragen - denn man braucht sich nur daran zu erinnern, mit wieviel Zahlen, mit welch sicherer Statistik gewöhn­lich diese Dinge belegt werden. Unsere Bücher, welche es heute über den Gang des öffentlichen Lebens gibt, besonders über die Wirtschaftsanschauungen - sie wimmeln ja nur so von statistischen Angaben, denn was könnte selbstverständlich richtiger sein als das, was man mit Zahlen belegen kann. Aber es gibt auch noch andere Statistiken, welche sich in einer bestimmten Richtung sogar so aus­nehmen, als ob sie einen natürlichen und durch die Naturwissen­schaft ausdrückbaren Gang des Menschenlebens darstellen könn­ten. Nehmen Sie zum Beispiel die Versicherungsstatistiken als Grundlage eines ganz praktischen Lebenszweiges, der Lebensversi­cherung. Man rechnet sich aus, wieviele Menschen von einer be­stimmten Anzahl Zwanzigjähriger nach dreißig Jahren noch leben werden und wieviele gestorben sein werden. Das gibt, wenn man nur die Anzahl groß genug nimmt, sehr konstante Zahlen: Von soundsoviel Zwanzigjährigen leben nach dreißig Jahren nur noch

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soundso viele. Daraus kann man dann die Summe errechnen, die der Betreffende einzuzahlen hat, und man kann sagen: Es ist durchaus so, daß hier die Statistik sogar etwas abgibt, womit man im prakti­schen Leben bis zu einem gewissen Grade rechnen kann. Sie wissen vielleicht, daß es auch eine Selbstmordstatistik gibt; Sie wissen, daß man für eine solche Statistik nur ein genügend großes Territorium und einen genügend großen Zeitraum zu nehmen braucht, um ziemlich genau sagen zu können: In diesen Jahren werden sich auf diesem Territorium soundso viel Menschen ermorden. - Aber hat derjenige recht, der aus der scheinbaren Notwendigkeit, daß in fünf Jahren auf einem bestimmten Territorium soundso viele Selbst­morde vorkommen, nun den Denkschluß ziehen will, daß die Men­schen nicht frei sind, sondern daß aus demselben Zwang, wonach ein Stein zur Erde fällt, nun auch diese Menschen sich ermorden müssen? Er hat nicht recht. Dadurch, daß soundso viele statistische «Gesetze» existieren, wird der freie Wille des Menschen nicht aus­geschaltet. Es kann gar keine Rede davon sein, daß statistische «Ge­setze» etwas aussagen können über den freien Willen des Men­schen, selbst dann nicht, wenn es vorkommen sollte, daß Sie als Fünfzigjähriger feststellen müssen, daß mit Ausnahme von Ihnen alle diejenigen schon gestorben sind, die als Zwanzigjährige von der Statistik in Aussicht genommen waren, spätestens bis zum fünfzig­sten Jahre zu sterben - [Sie müssen sich deshalb noch lange nicht umbringen]. Die Statistik, ja auch die Selbstmordstatistik, ist zu et­was ganz anderem da, als etwas auszusagen über den freien Willen des Menschen. Und ebensowenig sind irgendwelche wirtschaft­lichen Gesetze in der Lage, etwas auszusagen über das freie Eingrei­fen der menschlichen Initiative in die wirtschaftlichen Angelegen­heiten. Allerdings liegt da noch etwas anderes vor.

Nehmen Sie an, die Ereignisse kommen so, wie sie mit Beginn des Jahres 1907 gekommen sind. 1906 war eine günstige Wirt­schaftskonjunktur; das erzeugte bei einer großen Anzahl von Men­schen gewisse Lebensgewohnheiten. Und man kann sagen: Wenn die Menschen ein paar Jahre in einer erträglichen Situation sind, dann nehmen sie gewisse Lebensgewohnheiten an. Und wenn solche

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Lebensgewohnheiten sich entwickelt haben, dann können die­jenigen, die gerade eine solche Situation ausnutzen wollen, so etwas tun, wie es die Morgan-Gruppe 1907 getan hat. Die können sich dann sagen: Jetzt haben die Leute Lust, dies oder jenes zu tun, also spekulieren wir darauf! Es ist geradeso, wie wenn in einem Lande gewisse ungünstige Einflüsse da sind, die die Menschen zum Selbstmord verleiten. Aber trotzdem: die Menschen greifen doch zum Selbstmord aus freiem Willen, sofern man im gewöhnlichen Leben von freiem Willen sprechen kann - ich habe mich darüber in meiner «Philosophie der Freiheit» ausgesprochen. Nun ist es aber durchaus so, daß nicht aus der vorhergehenden Konstellation des Wirtschaftslebens dasjenige folgt, was nachher geschieht, sondern es folgt lediglich aus dem, was die Menschen tun. Und wenn nun diese Menschen etwas tun, was man gewissermaßen «errechnen» kann, was bezeugt das dann?

Dann braucht man nur hinzuschauen auf einen Vorgang, der Ihnen allen bekannt sein wird. Nehmen Sie an, da steht der Hund Tyras, und Sie halten ihm ein Stück Fleisch vor; Sie werden ziem­lich genau errechnen können, was er tut: Er schnappt danach. Und es wird in den seltensten Fällen vorkommen, daß der Hund Tyras nicht nach dem Stück Fleisch schnappt. Wenn aber der Mensch in einer ganz bestimmten Situation etwas Errechenbares tut, so bezeugt das nur, daß sein Seelen-Niveau heruntergesunken ist; und je mehr man im sozialen Leben errechnen oder kausal bestimmen kann, desto mehr weist man damit darauf hin, daß die Menschen mehr auf ein tierisches Niveau heruntergesunken sind. Und so beweisen Selbstmord-Statistiken und andere Berechnungen, zum Beispiel über günstige oder ungünstige Konjunkturen, nichts ande­res als die Art der Seelenverfassung der Menschen; allerdings muß man dann auch die Zeitumstände, die Allgemein-Atmosphäre prü­fen, in der die eine oder die andere Seelenverfassung möglich ist. So etwas, wie es die Morgan-Gruppe 1907 getan hat und wodurch unzählige Existenzen in Europa ins Elend gestürzt worden sind, konnte sich nur abspielen in dieser Zeit; so etwas wäre zum Beispiel einhundertfünfzig Jahre früher nicht möglich gewesen.

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Wodurch ist es denn gekommen, daß so etwas möglich wurde? Es ist gekommen durch die Emanzipation des Geldmarktes von dem Warenmarkt. Diese Emanzipation rührt her etwa aus den Jah­ren 1810 bis 1815. Erst in dieser Zeit wurde aus dem früheren bloß [auf dem Warenverkehr beruhenden] wirtschaftlichen Beherrschen des öffentlichen Lebens ein Beherrschen durch den Geldmarkt. Erst zu dieser Zeit wurde eigentlich das Bankwesen Herrscher im wirtschaftlichen Leben. Und solche wirtschaftlichen Situationen hervorzurufen durch den Verkehr auf dem bloßen Geldmarkt - in einem Umfange, wie es 1907 auf eine grandiose Weise möglich geworden war -, das ist erst dadurch entstanden, daß das Geld zu einem wirklichen Abstraktum geworden ist. Es ist zu einem Ab­straktum geworden, das sich seitdem einfach über unser ganzes Wirtschaftsleben und auch über unser übriges Leben ausbreitet.

Wir denken dabei zurück an Zeiten, in welchen der Mensch zusammengewachsen war mit dem, was er hervorbrachte. Da war das Geld im Grunde genommen nur eine Art Äquivalent für das hervorgebrachte Warenerzeugnis; da hing man an dem Warener­zeugnis. Da war es eigentlich durchaus nicht gleichgültig, was man erzeugte, sondern man wuchs mit seinem Warenerzeugnis zusam­men. Das ist heute schon etwas Legendenhaftes, und es konnte früher einem so etwas passieren, was ich jetzt als Beispiel anführen möchte. Als ich einmal nach Budapest kam und mir die Haare schneiden lassen wollte, fand ich einen Friseur, der wirklich noch mit Enthusiasmus die Haare schnitt und der sagte: «Ich strebe nicht nach einem Verdienst, ich strebe nur nach einem schönen Schnitt.» Er brachte dies so vor, daß es wirklich den Eindruck innerer Wahr­haftigkeit und Ehrlichkeit machte. Dieses Zusammengewachsens­ein mit seinem Erzeugnis ist heute ganz verlorengegangen, und man hat nur noch das Bestreben, soundso viel einzunehmen, um seine Bedürfnisse zu versorgen. Heute handelt es sich nur noch um das Erträgnis an Kapital oder um den Lohn. Und geradeso, wie sich allgemeine abstrakte Prinzipien ausbreiten über alles Mögliche, so breitet sich auch das abstrakt gewordene Geld über alles Mög­liche aus. Es ist schließlich im Sinne vieler Menschen heute ganz

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gleichgültig, wenn man soundso viel Mark am Tage einnehmen will, ob man dafür Schuhe oder Lehrbücher fabriziert. Dieses von der eigentlichen Realität des Lebens emanzipierte Geld hat jene Atmosphäre möglich gemacht, in der dann solche Vorgänge sich abspielen konnten wie derjenige vom Jahre 1907 - und trotzdem gehen diese Vorgänge ganz und gar aus dem Willen der Menschen hervor!

Ich wollte mit diesen Worten lediglich darauf hinweisen, wie Geisteswissenschaft darauf ausgeht, die Wirklichkeit in ihrer wah­ren Gestalt zu erfassen. Gerade der Materialismus - sowohl der naturwissenschaftliche wie der historische - ist von der Wirklich­keit ganz abgekommen; der theoretisiert nur mehr. Geisteswissen­schaft muß auf die Wirklichkeit gehen. Daher läßt sie sich auch nicht benebeln von theoretischen Anschauungen; aber sie kommt gerade dadurch zu einem wirklichen Verständnis des Lebens. Ge­rade dadurch wird sie berufen sein, einen sozialen Neuaufbau in der Zukunft wirksam fördern zu können.

Es hat sich ja allmählich die Usance herausgebildet, im Volks­wirtschaftlichen überhaupt nur noch mit solchen Dingen zu rech­nen wie Angebot und Nachfrage oder dergleichen, mit den Markt-, Verkehrs- oder Wechselverhältnissen. Da meint man eigentlich immer nur etwas Abstraktes, das, was sich als Erträgnis, als Ertrag darstellt. Und wenn die Menschen heute über wirtschaft­liche Fragen nachdenken, so geschieht das eigentlich gar nicht anders als so, daß nur mit dem Ertragsfaktor gerechnet wird. Dadurch wird gewissermaßen das ganze wirtschaftliche Leben einseitig betrachtet, denn es wird all das ausgeschaltet, was mit dem Konsum zusammenhängt. Der Konsum soll sich einfach - ich möchte sagen - automatisch ergeben aus dem, was man als Ertrag für irgendein Produkt einnimmt. Man sieht darauf, wenn man in irgendein Geschäft entriert, wieviel es einträgt, aber nicht darauf, welche Art von Konsum mit diesem Geschäft in Verbindung steht. Man rechnet gar nicht mit der besonderen Qualität des Artikels, insofern er ein Konsumartikel ist; man denkt volkswirtschaftlich nur nach der Ertragsseite, der Produktionsseite hin, nicht nach der

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Konsumseite. Aber wenn man es vollständig unterläßt, das wirt­schaftliche Denken nach der Konsumseite hin zu wenden, dann veranarchisiert sich nach und nach der Konsum, dann entwächst einem nach und nach der Konsum.

Nun hat aber dieser Konsum eine bestimmte Eigentümlichkeit:

Er steht in einem gewissen ursächlichen Zusammenhang mit der menschlichen Moral, mit der menschlichen Seelenverfassung; im Vergleich zur Produktion hängt er aber in entgegengesetzter Weise mit der menschlichen Seelenverfassung zusammen. In die Produk­tion spielt ja auch die Moral, das Seelische, hinein; also da ist das Seelische die Ursache. Wenn ich einen Artikel produziere, durch den ich die Menschen betrüge, so geht das aus einer schiefen Moral her­vor. Wie aber die Menschen leben, das heißt welche Möglichkeiten des Konsums sie in Anspruch nehmen, ob sie dies oder jenes konsu­mieren, das wirkt ursächlich auf die Seelenverfassung, auf die Moral ein. Und diesen Faktor rechnet man in der ganzen neueren Volks­wirtschaftslehre nicht mit. Daher entläuft einem diese Volkswirt­schaft. Wenn man gesund denkt, dann ist einem klar: Es ist schier unmöglich, aus den PrQduktionsverhältnissen heraus zu begreifen, warum die Streiks vom Jahre 1907 bis zum Jahr 1919 um 87 % zuge­nommen haben - einiges liegt zwar auch in den Produktionsverhält­nissen begründet. Aber man bekommt sogleich ein Bild, worum es sich eigentlich handelt, wenn man auf die Konsumverhältnisse sieht. Nun sind in dem heutigen Wirtschaftsleben all diese Dinge in einem bestimmten Zusammenhang. Über den haben zwar die National­ökonomen und die Wirtschafter nachgedacht, aber über die wirk­lichen Ursachen und Zusammenhänge haben diese Leute nicht nach­gedacht, weil ihr Rechnen nur auf das Rentieren ging. Der heutige Wirtschafter weiß ja sehr wenig zu sagen über den Zusammenhang irgendeiner Produktion mit den Streiks, [und erst recht nichts über den Zusammenhang der Konsumtion mit diesen Streiks]. Er weiß aus dem, was er gewohnt ist zu denken, was die eine oder die andere Produktion an Erträgnissen abwirft.

Er weiß zum Beispiel, wenn er ein Pariser Cri-Cri-Fabrikant ist

- nehmen wir einen radikalen Fall aus der Vergangenheit -, daß die

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Cri-Cris ein sehr günstiger Artikel für ein paar Jahre sein können. Diese Cri-Cris waren ganz besonders kleine Instrumente; in einem Metallkörperchen war eine Stahlplatte eingespannt, und wenn man mit diesem Instrument in der Tasche auf die Straße ging und diese Metallplatte berührte, machte sie dann einen scheußlichen Ton, so daß die Leute auf der Straße furchtbar geärgert wurden durch diesen Ton. Es war so in den siebziger Jahren des vorigen Jahr­hunderts; da waren die Straßen geradezu durch diese Cri-Cris un­leidlich geworden. Aber das Erträgnis des Cri-Cri-Erfinders war ein sehr großes; er ist vielfacher Millionär geworden, aber er hat gar nicht damit gerechnet, was das auf der Konsumseite ausmacht. Denn selbstverständlich, für das menschliche Leben hätte es ge­nügt, wenn keine Cri-Cris fabriziert worden wären. Aber nun rechnen Sie sich aus, wieviele Menschen in diesen Cri-Cri-Fabriken beschäftigt wurden; mit diesen Erträgnissen haben sie ihren Kon­sum bestritten. Dieser Konsum soundso vieler Cri-Cri-Arbeiter ist also entstanden aus unnötiger Menschenarbeit. Das alles wirkt im sozialen Leben; unnötige Menschenarbeit hat ungeheure Folgen im sozialen Leben.

Ich könnte auch ein anderes Beispiel wählen. Schon Lichtenberg sagte einmal: Es werden 99% mehr Literaturwerke verfertigt in einem Jahre, als die ganze Menschheit zu ihrem Glück braucht. -Man kann das mit Bezug auf die Gegenwart wohl auch behaupten:

Wenn 99% weniger Bücher erzeugt würden, so würde es wahr­scheinlich ein großes Glück für die Menschheit sein. Denken Sie doch nur an die Stöße von Lyrik - die kommen ja selbstverständ­lich immer von verkannten Genies -, wo eine dreihundert bis fünf­hundert Stück starke Auflage erzeugt wird und meistens keine fünfzig abgesetzt werden, wieviel unnötige Arbeit da geleistet wird. Die könnte erspart werden, und das würde auf die Konsumverhält­nisse der Menschen eine außerordentliche Wirkung haben. Das heißt, wenn man bloß mit den Erträgen rechnet, so braucht man ja gar keine Beziehung zu den wirklichen Bedürfnissen des Lebens zu haben, kann ganz abseits von ihnen das Leben regulieren wollen. Das steckt in unserer jetzigen großen Krise, in unserem Niedergang

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drinnen. Denn diejenigen, die im alten volkswirtschaftlichen Stile rechnen, können keine Zusammenhänge sehen zwischen un­nötiger Menschenarbeit und Menschenelend.

Da kann nun Geisteswissenschaft eintreten und die großen Zu­sammenhänge geben, weil Geisteswissenschaft nie auf etwas Ein­seitiges ausgeht, sondern auf das Allseitige. Ich meine nicht eine Geisteswissenschaft, die in abstrakte, mystische Höhen strebt, son­dern eine Geisteswissenschaft, die den Menschen dazu erziehen will, daß er für das Leben brauchbar und praktisch wird. Geistes­wissenschaft ist, wenn sie richtig angewendet wird, eine Erzieherin für das Leben, für einen wirklich lebensvollen Aufbau des Lebens. Daher wird sie eine Volkswirtschaftslehre begründen können, die den Zusammenhang kennt zwischen Arbeits-Unlust und der Erzeugung irgendwelcher unnötiger Produkte.

Daß aus einer solchen geisteswissenschaftlichen Denkweise nun auch einmal praktische Unternehmungen hervorgehen sollen, das war eigentlich der Grundgedanke von so etwas wie dem «Kom­menden Tag». Selbstverständlich kann man nicht gleich eine solche Unternehmung mit Bezug auf alle konkreten Einzelmaßnahmen auf eine gesunde Basis stellen. Wenn aber eine solche Einzelunter­nehmung von lauter Leuten geleitet wird, die durchdrungen sind von einer Erziehung, die aus der Geisteswissenschaft kommt, dann werden die praktischen Maßregeln auch von selbst darauf hinaus­laufen, die Menschen nicht mit unnötiger Arbeit zu belasten, son­dern nur mit nötiger Arbeit; man wird eben zu rechnen haben mit dem Konsum in der Volkswirtschaft. Nur so wird dasjenige ent­stehen können, was wieder zu einem Aufstieg führt.

Denjenigen Menschen, die bloß Erträgnisse haben wollen, ist es gleichgültig, für was sie produzieren oder für was sie entlohnt werden; denn sie bekommen dafür Geld. Das Geld ist abstrakt im wirtschaftlichen Leben, und man kann alles haben dafür. Es han­delt sich eben darum, unsere Volkswirtschaft so zu gestalten, daß sie in ehrlicher Weise vom menschlichen Willen abhängig wird, nicht in unehrlicher Weise. Wie wird sie in ehrlicher Weise vom menschlichen Willen abhängig? Durch die Assoziationen. Wenn

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Sie Assoziationen haben, dann wirkt das, was im Wirtschaftsleben geschieht, aus dem Willen der an diesen Assoziationen beteiligten Menschen. Dann wird verhandelt werden zwischen den einzelnen Assoziationen; dann verhandeln lebendige Menschen untereinan­der, und was produziert wird im Wirtschaftsleben, das geht hervor aus einem solchen Verhandeln lebendiger Menschen untereinander in den Assoziationen. Wenn eine Fabrik gegründet werden soll, so wird man nicht darüber nachdenken bloß unter dem Gesichts­punkte, daß sie soundso viel Erträgnis abwerfen soll in der gegen­wärtigen Konjunktur, sondern man wird ausgehen von der Über­sicht über das, was nötig ist. Man braucht nicht Staatsmaximen dazu, denn das würde alles kasernieren, aber man braucht dazu die Kenntnisse derer, welche in den einzelnen Betrieben und in den einzelnen Branchen tätig sind. Nur so wird man herausbekommen, ob ein Betrieb nötig ist. Und ist er nötig, so kann produziert wer­den, und so darf an ihm auch verdient werden. Auf dem Wege der Assoziationen wird alles ausgeschaltet werden, was als Schädliches Einfluß gewinnen könnte. Dann wird man nicht aus rein finan­ziellen Überlegungen handeln können, so wie es zum Beispiel die Morgan-Gruppe gemacht hat, denn dann wird aus rein wirtschaft­lichen Bedürfnissen heraus gearbeitet. Es ist merkwürdig, wie es manchen Menschen in der Gegenwart schwer wird, sich auf die Realitäten des Lebens einzulassen. Auf diese Realitäten des Lebens sich einzulassen, ist die allerwichtigste Forderung der Gegenwart. Man kann auch fragen: Woher kommt es, daß die Menschen in der Gegenwart sich vom realen Leben so sehr entfernt haben? - Das ist gerade durch den Materialismus gekommen, denn der Materialis­mus hat die Eigentümlichkeit, daß er zur Abstraktheit erzieht. Geisteswissenschaft dagegen hat gerade die Eigentümlichkeit, daß sie zum Konkreten, zur Wirklichkeit, zur Praxis erzieht.

Das ist es, was ich heute in diese Diskussion habe hineinwerfen wollen. Vieles aber wird notwendig sein, um aus den alten Denk­und Empfindungsgewohnheiten herauszukommen. Das aber muß geschehen, um über all die Schäden hinwegzukommen, welche sich eben in das neuere Wirtschaftsleben und in das ganze neuere

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öffentliche Leben eingeschlichen haben. Ein solches sachliches Denken wird nur das Ergebnis sein können einer wirklichen Ver­tiefung in die geistige Welt. Nur aus dem Geistigen heraus wird der Aufstieg kommen können, nicht aus dem bloßen Fortsetzen des­sen, was man sich angewöhnt hat, als das Richtige anzusehen in den letzten Jahrzehnten, ja fast schon in der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und wer heute nicht den Willen hat, sich ganz radikal auf den Fortschritt nach dieser Richtung hin einzulassen, auf ein Umlernen, ein Umdenken - ich möchte fast sagen ein Umleben -, der wird nichts beitragen können zu einem wirklichen Aufstieg; der wird nur immer weiter dazu beitragen, daß wir in den Niedergang hineinrasseln werden. Und dann wird sich allerdings erfüllen, was Leute wie Oswald Spengler in seinem «Untergang des Abendlandes» ausgeführt haben. Dann wird sich tatsächlich das ergeben, was die abendländische Zivilisation in die Barbarei hinein-führt. Und wird man nicht haben wollen, daß man in die Barbarei hineinkommt, dann wird man dasjenige wollen müssen, was diese Barbarei abwenden kann, und abwenden kann sie nur eine geistige Erziehung des Abendlandes. Nur eine solche geistige Erziehung wird erst den Menschen die Augen öffnen über die wahre Wirk­lichkeit. Ein solches Augenöffnen brauchen wir. Erringen wir es uns, dann kommen wir schon vorwärts!

Ein Diskussionsredner: Die Cri-Cri-Arbeiter haben zwar unnötigen Kon­sum veranlaßt, aber sie wären doch in jedem Fall, auch wenn sie andere Produkte hergestellt hätten, als Konsumenten aufgetreten. Wie expuziert Herr Dr. Steiner diesen Unterschied?

Rudolf Steiner: Die Frage kann an sich ja schon gestellt werden, aber wenn sie so gestellt wird, dann wird eigentlich nicht ganz durchdacht, auf was es ankommt. Es kommt nämlich darauf an, daß man nicht bloß auf das hinsieht, was an einem bestimmten Punkte des Lebens geschieht, sondern daß man darauf hinsieht, was die Zusammenhänge des Lebens ergeben. Es ist richtig: Diese Cri-Cri-Arbeiter wären auch als Konsumenten aufgetreten, wenn

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sie nicht Cri-Cris gemacht hätten, wenn sie also nicht diese unnö­tige Arbeit geleistet hätten. Aber sie würden in diesem Fall nötige Arbeit geleistet haben, und das hat eine ganz wesentliche volks­wirtschaftliche Bedeutung. Und darauf kommt es an. Es gibt sehr viele Menschen, die sich für praktisch schätzen; sie lesen die «Kern­punkte» und finden, diese Gedanken seien eine Utopie. Der wahre Tatbestand ist der, daß gerade diese Leute utopistische Unpraktiker sind. Und weil diese utopistische Unpraxis im Grunde genommen das ganze Leben beherrscht, was uns jetzt in die gegenwärtige Lage hineingebracht hat, sind die Leute im allgemeinen wenig empfäng­lich für das, was im wirklichen Sinne praktisch gedacht ist.

Aber wenn gerade Praktiker auf das Praktische eingehen, dann freut man sich immer. So sagte mir jüngst ein Praktiker aus dem Norden, daß die «Kernpunkte» auf das Allerwichtigste hinlenken würden: auf das Preisproblem. Die Vertreter der Volkswirtschafts­lehre beschäftigen sich jetzt mit allem Möglichen, aber nicht damit, daß der Preis einer Ware eigentlich etwas ist, was eine bestimmte Höhe nicht über- oder unterschreiten darf. Das sah dieser Prak­tiker ein. Und sobald man einsieht, daß das Preisproblem so wich­tig ist, daß eigentlich die Lohn- oder die Kapitalprobleme dahinter verschwinden, dann steht man auf dem Boden eines gesunden Denkens. Gewiß, die Cri-Cri-Arbeiter wären auch als Konsumen­ten aufgetreten, aber man darf das nicht in diesem Zusammenhange betrachten. Denn was das volkswirtschaftliche Leben macht und was zum Schluß mit der Preislage der Ware zusammenhängt, das hängt innig zusammen mit dem, ob nötige oder unnötige Arbeit geleistet wird.

Ich hatte einmal im Jahre 1902 oder 1903 mit einem Bekannten ein Tischgespräch über Ansichtspostkarten. Ich sagte, ich schreibe nicht gerne Ansichtspostkarten, schreibe überhaupt nicht Ansichts-postkarten; denn ich muß mir denken, daß bei jeder Ansichtspost­karte ein Briefträger unter Umständen viele Treppen hinauflaufen muß - bloß wegen einer Ansichtspostkarte -, und diese Arbeit möchte ich ihm ersparen, da die Ansichtspostkarten nicht gerade zu den Lebensnotwendigkeiten gehören. Darauf sagte der Betreffende:

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Ich weiß aber, ich mache den Leuten Freude mit Ansichts­postkarten, und ich schreibe sehr viele, und das trägt zur Freude bei; und wenn dann irgendwo der eine Briefträger nicht mehr aus­reicht, um die Karten zu bestellen, so wird ein anderer noch ein­gestellt werden müssen, und das trägt dann zum Unterhalt des Lebens für einen zweiten bei. - Aber der Betreffende dachte nicht mehr weiter: Denn, wenn man einen Briefträger mehr für Ansichts-postkarten einstellt, so wird damit nichts erzeugt von dem, was zum Leben nötig ist. Wenn man aber nur die für die grundlegenden Lebensbedürfnisse nötigen Waren erzeugt, so bedeutet der Umfang dieser Produktion eine bestimmte Preislage. Wer dann unnötige Arbeit verrichtet, wird trotzdem Konsument von lebensnotwendi­gen Dingen bleiben, [wodurch sich eine Verfälschung der Preislage ergibt]. Wenn einer also nicht mehr unnötig Ansichtspostkarten austrägt, wird er nicht mehr die Masse der unnötigen Arbeit ver­mehren; vielmehr wird er dann eine richtige, den nötigen Bedürf­nissen entsprechende Arbeit tun, und das wird einen wesentlichen Einfluß auf die ganze Preisgestaltung in der Volkswirtschaft haben.

Es kommt bei den Dingen, die sich auf das praktische Leben beziehen, auf zwei Momente an, von denen man gewöhnlich nur eines berücksichtigt. Es kommt erstens darauf an, ob eine Sache richtig ist, und zweitens, ob sie wirklichkeitsgemäß ist. Die Men­schen meinen, daß es schon genug sei, wenn eine Sache richtig ist; aber sie muß auch wirklichkeitsgemäß sein, und ehe nicht dieses wirklichkeitsgemäße Denken in breitester Weise Platz greift, eher können wir nicht aus der Misere des Lebens herauskommen. Wer also denkt, daß die Cri-Cri-Arbeiter in jedem Fall als Konsumen­ten auftreten, ob sie nun Cri-Cris fabrizieren oder nicht, der be­denkt nicht, daß in bezug auf nötige oder unnötige Arbeit die Volkswirtschaft verändert wird. Darauf kommt es an. Dieses Auf­das-Wichtige-und-Nötige-Hinschauen, das ist es, was wir uns an­eignen müssen für das soziale Leben. Das sollte inauguriert werden zunächst einmal durch die «Kernpunkte» und die ganze Dreiglie­derungs-Bewegung.

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Walter Kühne bedauert es, daß sich zur Diskussion keine Sozialisten ge­meldet hätten. Man hätte erwarten können, daß sich bei Besprechung sol­cher Fragen gerade Sozialisten melden und die Diskussion in Fluß bringen würden, denn gerade bei Marx und Engels spiele ja die Frage nach der produktiven Arbeit und das Verhältnis zwischen Produktion und Konsum eine große Rolle. Auch Tolstoi habe diese Frage in Angriff genommen, im Gegensatz zu Marx und Engels habe er aber ihre Lösung mehr gesehen in der Gründung von kleinen Organisationen. Gegenüber diesen beiden Ein­seitigkeiten zeige erst die Dreigliederung die gesunde Mitte.

Ein Diskussionsteilnehmer meint, daß es außer den Cri-Cris noch weitere Gegenstände gäbe, die speziell zum Ruinieren geschaffen würden, zum Beispiel Granaten. Die Herstellung solcher Gegenstände, von denen der Arbeiter genau wisse, daß es keinen Sinn habe, sie herzustellen, müsse zu einer Verelendung des Arbeiters führen. Daher müsse das Proletariat ver­blöden, könne gar nicht mehr zu seiner Menschenwürde kommen, könne keine Freude mehr am Leben haben, und Unzufriedenheit würde systema­tisch gezüchtet. Dr. Steiner sage, uns würde bloß die Einstellung auf die Bedaifswirtschaft helfen, aber die könne auch wieder nur durch den Men­schen bewirkt werden. Dr. Steiner lege gerade Wert auf den Menschen, aber mit den Menschen, die jahrzehntelang verblödet worden seien, sei es einfach unmöglich, in absehbarer Zeit ein neues Wirtschaftssystem einzu­führen. Daher möchte er die Frage an Herrn Dr. Steiner richten: Kann man denn mit der gegenwärtigen Generation überhaupt ein neues Wirtschafts­system begründen?

Siegfried Dorfn er: Und wie könnte man in einem neuen Wirtschaftssy­stem die Frage nach dem Konsum regeln? Es sind die Bedürfnisse der Menschen sehr verschieden; manche haben Bedürfnisse nach hohen Lack-stiefeln, andere nach Ansichtspostkarten. Welche Bedürfnisse kann man verbieten oder verhindern, oder wie kann man die Bedürfnisse regeln?

Herr Roser: Herr Dr. Steiner hat auf die tieferen Ursachen der Krise von 1907 hingewiesen. Damals waren riesige Aussperrungen von Arbeitern an der Tagesordnung. Man sagte damals, wir Arbeiter hätten so viel auf Vorrat gearbeitet, daß es nicht mehr möglich wäre, die Industrie weiter hochzuhal­ten. Man wird solche Finanzkrisen nur verhindern können, wenn dem Kapitalisten das Trieböl, das Kapital, entzogen wird. Krisen werden dadurch

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hervorgerufen, weil das Kapital Produktionsmittel ist und weil man versucht, es auf einer Stelle zusammenzuziehen oder es auf einer anderen lahmzulegen. Ich bin überzeugt, daß sich deshalb in ganz wenigen Wochen die neuen Katastrophen zum Ausdruck bringen werden, und nun ist mir interessant zu erfahren, welches die nächsten Krisen sein und wie sie verlaufen werden.

Ein Diskussionsteilnehmer fragt, wie die Überproduktion auf dem Gebie­te der Literatur auf vernünftigem Wege in eine normale Produktion geleitet werden könne, die den wirklichen Bedürfnissen der Menschheit entspre­che.

Zum Schluß wird noch schriftlich die Frage gestellt: Welches sind die gei­stigen Untergründe der Loslösung des Geldmarktes vom Warenmarkt von 1810 bis 1815? Wie wirken diese Untergründe in andere Gebiete, die nicht Wirtschaftsgebiete sind?

Rudolf Steiner: Was zunächst die hohen Lackstiefel betrifft, so möchte ich sagen, daß es sicher hierfür Lebenszusammenhänge gibt, Lwo man solche kaufen möchte], aber man würde schon sehen, wie auch gewisse Gelüste verschwinden, wenn einfach un­nötige Produktionen aufhören würden. Natürlich, wenn man von einer Regelung des Konsums spricht, so ist man schon wieder in einem gewissen Sinne auf einer Art falschem Pfad. Irgendwie dik­tatorisch den Konsum zu regeln, geht nicht an. Aber wenn alle Wirtschaftsverhältnisse daraufhin angelegt wären, unnötige Arbeit allmählich verschwinden zu lassen, dann hätte das im ganzen Zu­sammenhang des Wirtschaftslebens eine gewisse Folge. Die Folge wäre, daß der, der unnötigerweise hohe Lackstiefel haben will, sie nicht würde bezahlen können. Und weil das eine mit dem andern in Zusammenhang steht, muß man sich darüber klar sein, daß man unnötige Bedürfnisse nicht direkt bekämpfen muß, weil sie not­wendig mit anderen Wirtschaftsverhältnissen verschwinden wer­den. Denn dadurch würde man zum Tyrannen. Es ist im Leben so, daß, wenn man Freiheit wahren will, man nicht von heute auf morgen etwas abschaffen kann. Aber gewisse Dinge hören unter

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dem Einfluß von veränderten Verhältnissen von selbst auf. Wenn ein solches neues volkswirtschaftliches Denken Platz greift, daß unnötige Arbeit verschwinden muß, dann werden auch solche un­nötigen Gelüste verschwinden, beziehungsweise es wird das Geld für sie nicht mehr da sein. Das ergibt sich nur durch Einsicht in den praktischen Lebenszusammenhang. Es können die Konsumverhält­nisse nicht durch irgendwelche «Maßregeln» geordnet werden, sondern nur durch einen gewissen Fortschritt des Lebens.

Das möchte ich auch mit Bezug auf die Literatur sagen, wobei natürlich nur die sozialen Verhältnisse in Betracht kommen; man kann ja durchaus ein Herz haben für den, der gern lyrische Ge­dichte gedruckt haben möchte. Da kann ich immer nur hinweisen auf das Beispiel unseres Berliner Verlages. Der hat nie Bücher ge­habt, die nicht verkauft worden wären. Er hat viele Bücher nicht gehabt, die sehr stark verlangt wurden, aber nie Bücher, die stoß-weise aufgestapelt und nicht verkauft worden wären. Er war immer auf das gebaut, was man ein geistiges Bedürfnis nennen kann. Es wurde ein Buch erst dann gedruckt, wenn man wußte, es sind für das Buch soundso viele Leser da. Die Arbeit begann damit, daß die Materie an die Menschen herangebracht und eine Leserschaft ge­funden wurde; durch Diktatur wurde so etwas nicht gemacht. Vom volkswirtschaftlichen Gesichtspunkt aus muß gesagt werden, daß gerade durch diesen Verlag nicht unnötige Arbeit geleistet wurde.

Es handelt sich darum, wo man mit der Arbeit im volkswirtschaft­lichen Leben beginnt. Geht man dagegen vom Verständnis der Be­dürfnisse aus, dann werden allmählich nur solche nötigen Produkte erzeugt, so daß sich die Produktion nicht fortwährend hinten zu­sammenschoppt, [sich staut an den lebensnotwendigen Bedürfnis­sen]; es wird dann nämlich vorn so produziert, daß hinten die wirk­lich vorhandenen Bedürfnisse befriedigt werden können. Wenn man nur über die Erträge spricht, so zäumt man gewissermaßen das Pferd beim Schwanz auf. Es handelt sich darum, daß man sich das Leben anschaut und weiß, wo die Arbeit begonnen werden soll; es handelt sich nicht darum, irgend etwas zu «regeln», sondern so in das Leben einzugreifen, daß die Dinge ihren richtigen Gang nehmen.

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Bei der jetzigen Krise handelt es sich darum, daß sie eine letzte Folge einer langen Entwicklung ist; sie kann nicht so geprüft wer­den wie andere, aber dennoch, sie muß geprüft werden - nicht nach Theorien, sondern nach den Tatsachen. Ich bitte zu berücksich­tigen, was in den letzten Jahren geschehen ist. Wieviel ist seit dem Jahre 1914 von menschlicher Arbeitskraft produziert worden, da­mit wir es dann glücklich dahin gebracht haben, daß zehn bis zwölf Millionen Menschen im Laufe von fünf Jahren totgeschossen und dreimal soviel zu Krüppeln gemacht wurden? Wieviel Arbeitskraft ist darauf verwendet und dadurch dem Leben als Arbeit entzogen worden, die dem Leben hätte anders dienen können! Ich meine, daß man doch auch die Ansicht vertreten kann: Das, was da zum Totschießen der Menschen produziert worden ist, ist eine «unnö­tige» Arbeit gewesen - sie hätte unterlassen werden können! Man denke nur einmal, wie lange man - noch 1912 - darüber nachden­ken mußte, wenn man eine Million für Unterrichtszwecke brauchte

- und wie schnell das Geld bei der Hand war, wenn man eine Million zum Verpulvern brauchte. Nehmen Sie das, was dann dar­auf gefolgt ist: Das Geld, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Abstraktum entwickelt hat, ist jetzt zur höchsten Potenzie­rung dieser Abstraktion geworden. Es ist jetzt wirklich zur größten Abstraktion geworden. Sehen Sie hin. wieviel die Notenpresse jeden Tag auswirft.

Man braucht Lsoviel Geld] eigentlich nur, wenn in einer künst­lichen Weise der Verbrauch dafür geregelt wird. Dahinter steckt das, daß man mit dem, was noch übriggeblieben ist an Produktiv-kräften aus der Zeit von 1914 bis 1918, Raubbau getrieben hat. Der hört aber einmal auf, und dann wird die Krise kommen. Die gegen­wärtige Krise ist durch den allergrößten Leichtsinn der Menschen hervorgerufen, indem man glaubte, man könne die Menschen durch Jahre damit beschäftigen, Unnötiges zu fabrizieren, und sie von nötiger Arbeit abziehen.

Und nun die Frage, ob man mit der gegenwärtigen Generation nun wirklich zu einem Aufbau kommen könne: Ich bin in der Dreigliederungszeitung oftmals auf diese Frage zurückgekommen

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und habe es immer wieder als ein unfruchtbares Denken bezeich­riet, derartige Fragen zu stellen. Worauf ich in diesem Zusammen­hange etwas gebe, ist der Wille - nicht so sehr die beobachtende Überschau über das, was ist -, sondern die Befeuerung des Willens. Und wenn ich höre, «mit der gegenwärtigen Generation ist nichts anzufangen», so muß ich doch voraussetzen, das die, welche in dieser Weise die gegenwärtige Generation kritisieren, doch der Ansicht sind, mit ihnen selber sei etwas anzufangen. Und da ich mehr auf den Willen gebe als auf die Beobachtung, so rufe ich denen eben zu: Nun, also kommt, dann wollen wir mit euch etwas anfangen! Die Zahl derer, die «mit der gegenwärtigen Generation nichts anfangen können», würde schon groß genug sein, [um etwas anzufangen]; daher wollen wir diese zusammenrufen und mit ihnen zusammenarbeiten.

Es ist noch die einschneidende Frage gestellt worden, welches die geistigen Untergründe der Loslösung des Geldmarktes vom Warenmarkt seien. Wir können uns eine solche Frage nur beant­worten, wenn wir uns bewußt werden, daß Behauptungen, wie ich sie heute ausgesprochen habe, im absolut richtigen Sinne genom­men werden müssen und daß sie nicht etwa nur eine relativ richtige Geschichtskritik bedeuten. Wenn man sagt: durch die Emanzipa­tion des Geldes ist diese oder jene Atmosphäre geschaffen worden

- so kommt es doch darauf an, diese Atmosphäre zu betrachten. Wenn man dieses Abstraktwerden des Geldmarktes betrachtet, wo es gleichgültig ist, was das Geld bedeutet, dann wird man darauf hinweisen müssen, daß das für den allgemeinen Entwicklungsgang notwendig war. Ich habe in dieser Beziehung oft darauf hingewie­sen, wie seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in der zivilisierten Menschheit der Drang lebt, die Individualität loszulösen von der Gruppenhaftigkeit, wie Demokratie immer mehr und mehr der Impuls der Menschheit geworden ist, wie der einzelne Mensch immer mehr und mehr zur Geltung kommen soll und wie auch das zur Geltung kommen soll, was mehr aus seinem Innern heraus­kommt. Für diesen ganzen Entwicklungsgang der Menschheit war das Abstraktwerden des Wirtschaftslebens unter dem Geldeinfluß

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eine Notwendigkeit. Und es handelt sich nur darum einzusehen, das alles, was entsteht, nach einem gewissen Zeitablauf eine Kor­rektur erfahren muß, oder es muß etwas anderes hinzukommen, was die Schäden ausgleicht. Denn im wirklichen Leben ist es nicht so, daß es etwas absolut Gutes gibt; alles im Leben ist nur relativ. Man kann nicht sagen, wenn ich heute zerrissene Stiefel habe, daß sie unbedingt schlecht sind; sondern es ist das Schicksal von guten Stiefeln, daß sie mit der Zeit schlecht werden. Auch im besten Wirtschaftsleben kommt es zu Schäden, wenn gewisse Aufgaben sich ausgelebt haben. So ist es auch mit der Geldwirtschaft. Sie war nicht von Anfang an schädlich. Man studiere die Geldverhältnisse in der Zeit der Mitte des 19. Jahrhunderts; sie haben Wesentliches beigetragen zum Heraufkommen der demokratischen Anschauun­gen. Dann aber kam die Zeit, wo eine solches Abstraktwerden des Geldes seine Grenzen finden mußte. Ich darf gewiß von einer Abstraktion sprechen, denn man darf die Funktion des Geldes zum Beispiel durchaus vergleichen mit dem inneren Seelenvorgang des Abstrahierens.

Es gibt da eine auffallende Erscheinung, zum Beispiel in der theosophischen Bewegung. Diese theosophische Bewegung, mit der die anthroposophische Bewegung früher in einer gewissen Verbindung war, ist eigentlich eine materialistische Bewegung. Sie redet zwar von den höheren geistigen Gliedern des Menschen, aber sie meint doch nur, wenn sie zum Beispiel vom Ätherleib spricht, der sei etwas Dünneres, Feineres als der physische Leib, ebenso sei der astralische Leib dann noch etwas Dünneres und so weiter. Man wendet also immer nur materialistische Gedanken an, und diese materialistischen Gedanken setzen sich in den Köpfen ganz furcht­bar fest. Und als die Leute in der theosophischen Bewegung einmal etwas ganz Gescheites machen wollten, begannen sie, in bezug auf die wiederholten Erdenleben vom «permanenten Atom» zu spre­chen. Sie meinten, es müsse physisch doch etwas übergehen in die nächste Inkarnation des Menschen. Von der Naturwissenschaft hatten die Leute gelernt, der Mensch bestehe aus Atomen und beim Tode des Menschen würden die Atome in die Erde fallen. Und so

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hatten sich die Theosophen die Lehre vom «permanenten Atom» ausgedacht: Dieses eine Atom würde nicht begraben, das gehe durch den Tod durch, und um dieses eine permanente Atom herum würden sich dann im nächsten Leben die andern Atome herum-gruppieren. Da haben wir unter dem Schein einer spirituellen Be­wegung den krassesten Materialismus. So ist es, wenn man sich ganz in das Abstrakte hinein verstrickt. So haben Sie das Abstrakte im Seelenleben, und so haben Sie im Wirtschaftsleben das Geld als abstrakte Ware.

Und weil das, was im wirtschaftlichen Leben geschieht, nur die äußere Seite des Geisteslebens ist, so hängt dieses Wirtschaftsleben mit dem Geistesleben wirklich zusammen. Denn die Ansicht ist falsch, welche glaubt, da unten gingen nur die wirtschaftlichen Prozesse vor sich und denen gegenüber sei das Geistesleben nur eine Ideologie. Richtig aber ist es: Das Wirtschaftsleben einer be­stimmten Zeit und das Geistesleben einer bestimmten Zeit - nicht genau derselben Zeit - verhalten sich zueinander wie die Nuß zur Nußschale: Das wirtschaftliche Leben ist immer die Absonderung des Geisteslebens und bekommt von ihm seine Form. Daher kann, nachdem das Geistesleben sich so verabstrahiert hat, auch das Wirtschaftsleben sich nur verabstrahieren. Daher haben wir zuerst die Zeit der abstrakten Denkweise und erst dann die Zeit des abstrakten Geldwesens. Das sind Zusammenhänge, die beachtet werden sollten.

Wenn man diese beachtet, so bekommt man den fruchtbaren Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus. Man wird einsehen, wie die drei Glieder des Gesamtlebens ineinandergreifen und dadurch eine Einheit bilden, wobei man jedem seine Selbstän­digkeit gibt. So ist es ja auch beim menschlichen Organismus der Fall. Wir unterscheiden beim Menschen das Nerven-Sinnes-System, das rhythmische System und das Stoffwechsel-System. Das ist, funktionell betrachtet, der ganze Mensch. Diese drei Systeme wirken zusammen, aber jedes ist für sich relativ selbständig, und sie müssen selbständig sein. Es kann nichts Günstiges dabei heraus­kommen, wenn man alles miteinander vermischt. Um eine abstrakte

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Einheit, wie sie der moderne Staat will, wie sie besonders der heutige sozialistische Staat des Ostens will, darum kann es sich nicht handeln. Es kann sich nur darum handeln, daß man die Be­dingungen des individuellen Lebens kennenlernt, und man sieht dann, wie sich dieses dreigliedrig darstellt. Wer sich darauf einläßt, der muß einsehen, daß die drei Glieder des Lebens erstens selbstän­dig sind, zweitens dann aber wieder zusammenwirken und drittens am besten zusammenwirken, wenn sie vorher ihre Selbständigkeit entfaltet haben. Dann wird die Einheit Ergebnis - und nicht von außen hereingetragen. Eine abstrakte, unfruchtbare Einheit zerstört sich selbst. Was aber aus den selbständigen Gliedern erst gebildet wird, das wird zu einer lebensvollen Einheit, wird zu dem, was uberhaupt erst leben und wachsen kann.

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NOTIZBUCHEINTRAGUNGEN ZUM FRAGEABEND VOM 25. MAI 1919

aus dem Notizbuch Archiv-Nr. 45

Seiten 29 - 35


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-307

#Bild s. 294-307

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HINWEISE

Textunterlagen

25. Mai 1919: Dieser Frageabend wurde mitstenografiert von Hedda Hum­mel (?-1939) aus Köln; sie hat jedoch nur die erste Frage und die Antwort Rudolf Steiners übertragen. Der Rest des Textes wurde in Gemeinschaftsar­beit aus dem Stenogramm entziffert von Paula Aeschbach (ehemalige Parla­mentsstenografin) und den Archivmitarbeitern Michel Schweizer und Ulla Trapp. Die für den Druck erforderliche Bearbeitung wurde vorgenommen von den Herausgebern des Bandes, Alexander Lüscher und Ulla Trapp.

In einem Notizbuch (Archiv-Nr. NB 45) hat Rudolf Steiner in Stichwor­ten einige Einzelheiten aus den Voten der verschiedenen Teilnehmer festge­halten (siehe Seite 293).

30. Mai 1919: Stenograf nicht bekannt.

30. Juli 1919: Stenograf nicht bekannt. Dem Text liegt die Originalübertra­gung des Stenografen zugrunde. Der Vortrag ist auch in GA 330 enthalten und dort nach der Vervielfältigung des Bundes für Dreigliederung gedruckt. Einige - geringfügige - Textdifferenzen sind auf diese unterschiedlichen Unterlagen zurückzuführen.

3. März, 9. Juni, 16. Juni, 23. Juni 1920: Mitstenografiert und übertragen von Hedda Hummel. Originalstenogramme sind nicht erhalten.

28. Juli 1920: Mitstenografiert und übertragen von Georg Klenk (1877-1948),

Studienrat aus München. Das Originalstenogramm ist nicht erhalten.

15. September 1920: Mitstenografiert und übertragen von Walter Vegelahn

aus Berlin (1880-1959). Das Originalstenogramm ist nicht erhalten.

Der Titel des Bandes stammt von den Herausgebern.

Die Titel der Frageabende vom 25. Mai und 30. Mai 1919 stammen von den Herausgebern.

Die Titel der Studienabende gehen teils auf Rudolf Steiner zurück - 30. Juli

1920-, teils wurden sie von den Veranstaltern der Studienabende vorgegeben

- 9. Juni1920, 16. Juni 1920, 23. Juni1920 und 28. Juli1920-, teils mangels

Angaben von den Herausgebern selber formuliert - 3. März 1920 und 15.

September 1920.

Die Zeichnungen im Text wurden nach den Unterlagen der Stenografen ausgeführt; Originaltafelzeichnungen sind nicht erhalten.

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Frühere Veröffentlichungen:

Frageabend vom 30. Mai 1919:

Vervielfältigung des Bundes für Dreigliederung, Stuttgart 1919

Studienahend vom 30. Juli 1919:

Vervielfältigung des Bundes für Dreigliederung, Stuttgart 1919;

14. Vortrag in GA 330 (1. bis 2. Auflage)

Studienabend vom 3. März 1920:

Vervielfältigung des Bundes für Dreigliederung, Stuttgart 1920;

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Studienabend vom 9. Juni 1920:

Arbeitsmaterial für die Mitarbeiter des Bundes für Dreigliederung des sozia­len Organismus, Vorträge Nr. 1, Stuttgart 1920;

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Studienabend vom 16 Juni 1920:

Die Konsequenzen der Dreigliederung für Grund und Boden, herausgegeben

von der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung am Goetheanum, Dornach

1940;

Die Konsequenzen der Dreigliederung für Grund und Boden, in: Roman

Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stuttgart 1957

Studienabend vom 23. Juni 1920:

Europäische Außenpolitik im Lichte der Geisteswissenschaft und der Drei-gliederung des sozialen Organismus, in: Ludwig Polzer-Hoditz, Das Myste­rium der europäischen Mitte, Stuttgart 1928

Studienabend vom 28. Juli 1920:

Arbeitsmaterial für die Mitarbeiter des Bundes für Dreigliederung des sozia­len Organismus, Vorträge Nr.2, Stuttgart 1920;

Auszug in: Roman Boos (Herausgeber), Landwirtschaft und Industrie, Stutt­gart 1957

Studienabend vom 15. September 1920.

Arbeitsmaterial für die Mitarbeiter des Bundes für Dreigliederung des sozia­len Organismus, Vorträge Nr.3, Stuttgart 1920

Hinweise zum Text

Werke Rudolf S'einers innerhalb der Gesamtausgabe (CA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben.

Hinweise auf immer wieder vorkommende Begriffe

Es gibt verschiedene Begriffe, die im ganzen Band immer wieder erwähnt werden. Die einzelnen Stellen werden deshalb nicht mehr ausdrücklich nachgewiesen.

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«Die Kernpunkte»: «Die Kernpunkte der Sozialen Frage in den Lebensnotwendigkei­ten der Gegenwart und Zukunft» ist die soziale Hauptschrift Rudolf Steiners (GA 23). Durch ihre Veröffentlichung wollte er eine »Anregung zu einem Wege nach sozialen Zielen, die der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit und Lebensnotwendigkeit entsprechen» geben. Die »Kernpunkte» entstanden inhaltlich aus den vier öffentli­chen Vorträgen über die «Soziale Frage» (GA 328), die Rudolf Steiner vom 3. bis 12. Februar 1919 in Zürich gehalten und für die Publikation umgearbeitet und erweitert hatte. Für die Schweiz und Deutschland wurden zwei getrennte, aber inhaltlich glei­che Ausgaben vorbereitet, die gleichzeitig erscheinen sollten - in einer Auflage von je 10 000 Stück. Ende April 1919 erschien die deutsche Auflage. Ausgeliefert wurde sie vom Verlag «Greiner & Pfeiffer», wobei für die Herausgabe die »Treuhimdgesell­schaft des Goetheanum Dornach m.b.H.«, die Zentralstelle für die finanzielle Unter­stützung des Goetheanum-Baues, verantwortlich zeichnete. Die Schweizer Ausgabe erschien ungefähr zwei Wochen später, in der ersten Maihälfte, im «Verlag des Goe­theanum». Weil aber dieser Verlag nur auf dem Papier bestand, diente der Basler «Rudolf Geering-Verlag« als Kommissionsverlag. Die «Kernpunkte» fanden vor al­lem in Deutschland sehr schnellen Absatz, so daß im Laufe des Jahres 1919 dreimal 10 000 Stück nachgedruckt werden mußten; die deutsche Ausgabe hatte damit eine Gesamtauflage von 40 000 Stück erreicht. Mitte 1920 wurde abermals ein Nachdruck fällig. Zu diesem Zweck ergänzte Rudolf Steiner die «Kernpunkte« durch eine «Vor­rede und Einleitung« sowie durch einige erläuternde Fußnoten. Im Dezember 1920 erschien in Stuttgart - im «Der Kommende Tag A.G. Verlag«, einer Abteilung des Kommenden Tages -, die vierte, überarbeitete Auflage der «Kernpunkte« mit einer Zielauflage von 40 000 Stück. Es ist diese überarbeitete Auflage, die als Ausgabe letz­ter Hand der Gesamtausgabe zugrundeliegt.

«In Ausführung der Dreigliederung»: Unter dem Titel «In Ausführung der Dreiglie­derung» veröffentlichte Rudolf Steiner seine zweite Schrift über die Dreigliederung. Es handelt sich um eine Sammlung der ersten 21 Leitartikel, die er für die Wochen-schrift «Dreigliederung des sozialen Organismus» geschrieben hatte und die in der Zeit vom Juli bis Dezember 1919 erschienen waren. In den eigens für diesen Sammel­band verfaßten «Vorbemerkungen» schrieb er zu diesen Aufsätzen: «Sie können als ergänzende Ausführungen dessen gelten, was ich in den «Kernpunkten» begründet habe. Man kann sie ebensogut als eine Vorbereitung zum Lesen dieses Buches anse­hen.» Hatte Rudolf Steiner diese Einführung Mitte Juli1920 niedergeschrieben, so erschien das Buch erst Mitte Oktober 1920 in einer Auflage von 10 000 Stück. Her­ausgegeben wurde es vom «Der Kommende Tag A.G. Verlag» und erschien in der Reihe «Internationale Bücherei für Sozial- und Geisteswissenschaften». In der Ge­samtausgabe ist diese Aufsatzsammlung im Band GA 24, «Aufsätze über die Dreiglie­derung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921», aufgegangen.

Zeitung »Dreigliederung des sozialen Organismus»: Wochenzeitung, in Stuttgart er­schienen und vom «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus« herausgege­ben. Die erste Ausgabe erschien am ii. Juli 1919, als der Höhepunkt der Dreigliede­rungs-Massenbewegung bereits überschritten war. Die Zeitschrift wurde von Ernst Uehli redigiert. Vor allem in den ersten beiden Erscheinungsjahren schrieb Rudolf Steiner eine ganze Reihe von Leitartikeln für diese Zeitschrift, die alle im Band «Auf­sätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921« (GA 24) abgedruckt sind. Ab dem 4. Jahrgang, das heißt ab Juli 1922, als der endgül­tige Niedergang der Dreigliederungs-Bewegung besiegelt war, änderte die Zeitung ihren Namen und erschien nun unter dem Titel «Anthroposophie. Wochenschrift für

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freies Geistesleben, früher Dreigliederung des sozialen Organismus». In der folgen­den Zeit - bis zu ihrer Vereinigung mit der Zeitschrift «Die Drei» im Oktober 1931

- wechselte sie noch mehrfach ihren Namen wie auch den Redaktor und den Heraus­geber.

Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus: Im Zusammenhang mit der Ver-öffentlichung des Aufrufes von Rudolf Steiner «An das deutsche Volk und die Kul­turwelt» bildete sich Ende Februar ein «Komitee für Deutschland», dem Prof. Wil­helm von Blume, Emil Molt und Carl Unger angehörten und das in der Öffentlichkeit für die Verbreitung der Dreigliederungsidee wirkte. Auf den 22. April 1919 berief es eine Versammlung nach Stuttgart ein, wo die Unterzeichner des «Aufrufes« die Grün­dung eines «Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus» beschlossen. Au­ßerdem wurde das Komitee für Deutschland um einige weitere Persönlichkeiten -unter anderem Hans Kühn und Emil Leinhas - ergänzt und als Arbeitsausschuß für die Leitung des Bundes eingesetzt. Die Aufgabe eines Geschäftsführers übernahm Hans Kühn; die Geschäftsstelle des Bundes befand sich an der Champignystraße 17 (heute Heinrich-Baumann-Straße). In den folgenden Wochen wurde vom Stuttgarter Zentrum aus eine ungeheuer intensive, von Begeisterung getragene Tätigkeit für die Dreigliederung entfaltet, die zwischen 1919 und 1921 in verschiedenen Aktionen -Schaffung von Betriebsräten, Bildung eines Kulturrates, Gründung des Kommenden Tages, Boykott der oberschlesischen Abstimmung, Mitorganisation des Stuttgarter Kongresses und so weiter - gipfelte. In ganz Deutschland bildeten sich Ortagruppen, die teilweise sehr initiativ für die Verbreitung der Dreigliederungsidee wirkten. Auch nachdem die Dreigliederungsbewegung als Massenbewegung gescheitert war, wurde weiter für die Verbreitung der Dreigliederungsidee gearbeitet: Es wurden Vorträge gehalten, Studienabende eingerichtet und Schriften verteilt. In der Leitung des Bun­des, wo sich gewisse bürokratische Tendenzen gezeigt hatten, kam es im August 1920 auf Veranlassung von Rudolf Steiner zu einem Wechsel: Aus dem Arbeitsausschuß wurde ein Verwaltungsrat gebildet; ihm sollte die oberste Leitungsverantwortung zu­fallen. Dem Verwaltungsrat gehörten an: Emil Molt, Emil Leinhas und Carl Unger, wobei Emil Molt als Kurator den Vorsitz innehatte. Zum neuen Sekretär der Ge­schäftsstelle und Leiter der praktischen Bundesarbeit wurde Walter Kühne bestellt. Aber zwischen Walter Kühne und dem Verwaltungsrat kam es zu keiner gedeihlichen Zusammenarbeit, so daß im Januar 1921 Ernst Uehli die Bundesleitung übernehmen mußte. Das Engagement der Menschen für die Dreigliederung nahm in den folgenden Monaten stetig ab, so daß der Bund unter Uehli immer mehr an Aktivität einbüßte. Um der veränderten Sachlage Rechnung zu tragen, wurde auf Anraten von Rudolf Steiner die Umwandlung des Bundes für Dreigliederung in einen «Bund für freies Geistesleben» beschlossen; dieser Entscheid wurde am 8. Juli1922 der Öffentlichkeit mitgeteilt. Aber dieser Bund für freies Geistesleben entfaltete nie eine wirkliche Tä­tigkeit.

Futurum A.G. Die «Futurum A.G.« (Dokumentation der Geschichte der Futurum vorgesehen für GA 337c) war eine «Ökonomische Gesellschaft zur internationalen Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte«, mit Sitz in Dornach; sie bestand von 1920 bis 1924; im Handelsregister gelöscht wurde sie erst 1927. Sie wurde am 16. Juni

1920 begründet; ideell beruhte sie auf der im November 1919 / Februar 1920 von Rudolf Steiner ausgearbeiteten Denkschrift über «Eine zu gründende Unterneh­mung» (in GA 24). Die Zielsetzung war «die Gründung eines bankähnlichen Instituts, das in seinen finanziellen Maßnahmen wirtschaftlichen und geistigen Unternehmun­gen dient, die im Sinne der anthroposophisch orientierten Weltanschauung sowohl

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nach ihren Zielen wie nach ihrer Haltung orientiert sind». Als Unternehmen war die Futurum darauf hin angelegt, in einem internationalen Rahmen zu wirken. Da aber keine anthroposophischen Unternehmer sich zur Verfügung stellten, mußte die Futu­rum vollständig aus dem Nichts aufgebaut werden. Bis zum 22. März 1922 war Ru­dolf Steiner Präsident des Verwaltungsrates; er wurde dann aber auf Betreiben eines Kreises um Willy Storrer und Willy Stokar abgewählt; man wollte ihn von der Last der Verantwortung befreien. Die Art, wie die Wegwahl von Rudolf Steiner durch den Futurum-Direktor Emil Oesch in der Presse dargestellt wurde, löste eine große Ver­trauenskrise zwischen Rudolf Steiner und der neuen Futurum-Leitung aus, die nur mit Mühe gekittet werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Futurum bereits mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, so daß man sich gezwungen sah, bis zum Sommer 1922 alle wirtschaftlich-geistigen Betriebe abzustoßen. Aber auch als verkleinertes, rein wirtschaftliches Unternehmen war die Futurum nicht mehr über-lebensfähig. Als einziger Ausweg bot sich eine Fusion mit der 1922 begründeten «Internationale Laboratorien A.G.» (heute »Weleda A.G.») an: die Futurum A.G. wurde schließlich 1924 mit allen Aktiven und Passiven von diesem Unternehmen ubernommen, wobei ein Großteil des Aktienkapitals abgeschrieben werden mußte.

Der Kommende Tag A.G. «Der Kommende Tag A.G.» (Dokumentation der Ge­schichte des Kommenden Tages vorgesehen für GA 337d) war eine Aktiengesellschaft «zur Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte» mit Sitz in Stuttgart. Sie hatte die gleiche ideelle Zielsetzung wie die Futurum A.G. wie diese war sie als eine As­soziation von wirtschaftlichen und geistigen Betrieben gedacht nur sollte sich ihre Tätigkeit hauptsächlich auf den suddeutschen Raum beschranken Gegrundet wurde der Kommende Tag am 13. Marz 1920 Vorsitzender des Aufsichtsrates war Rudolf Steiner. Am 22. Juni 1923 gab er dieses Amt wieder ab weil er sich von allem Ver waltungsmäßigen befreien wollte Der Kommende Tag ursprunglich ein verhaltnis mäßig starkes Unternehmen es hatte sich durch den Zusammenschluß von verschie denen anthroposophischen Unternehmern gebildet geriet in den Strudel der deut schen Inflationskrise von 1923. Weil sich die vorhandenen finanziellen Mittel durch die Inflation und die anschließende Umstellung auf die Goldmarkbilanz weitgehend verflüchtigt hatten, mußte 1924 der bisherige Gesellschaftszweck aufgegeben und die Teilliquidation des Unternehmens eingeleitet werden. Zunächst wurden die geistigen Betriebe abgestoßen, anschließend die wirtschaftlichen Abteilungen; was blieb, war nur noch der Grundstücksbesitz. Mit der Herabsetzung des Aktienkapitals fand die­ser Vorgang 1925 sein vorläufiges Ende. Als Aktiengesellschaft aber bestand der Kommende Tag weiter, allerdings mit einem anderen Gesellschaftszweck: seit 1926 beschränkte er sich nur noch auf die Verwaltung der übriggebliebenen Grundstücke. Dementsprechend änderte er auch seinen Namen in «Uhlandshöhe A.G. für Grund­stückverwaltung» um. Auf Druck der Nationalsozialisten mußte 1938 die endgültige Auflösung der Aktiengesellschaft beschlossen werden; 1941 war sie beendet.

Waldorfschule: Bereits seit November 1918 hatte sich Emil Molt, der Minderheitsak­tionär und Generaldirektor der «Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik A.G.» mit dem Gedanken beschäftigt, eine Schule für die Arbeiter- und Angestelltenkinder seiner Fabrik zu gründen, die eine erste Keimzelle für ein freies Geistesleben sein sollte. Diese Überlegung wurde zur Tat: Am 7. September 1919 wurde in Stuttgart die «Freie Waldorfschule» als Einheitsschule auf nicht-staatlicher Grundlage festlich er­offnet; die staatliche Genehmigung war zugesichert, traf aber erst am 8. März 1920 ein. Die pädagogische Leitung hatte Rudolf Steiner übernommen. Vor der Eröffnung hatte er persönlich die Lehrer ausgewählt und die vorbereitenden seminaristischen

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Kurse (in GA 293, 294, 295) erteilt. Wenn er jeweils in Stuttgart war, nahm er an den Lehrerkonferenzen - dem Führungsorgan der Schule - teil (in GA 300a, 300b, 300c), machte Schulbesuche und führte zahlreiche Einzelgespräche. Die Finanzierung der neuen Schule wurde zunächst ganz von der Waldorf-Astoria A.G. übernommen. Da aber immer mehr Kinder von außerhalb in die Schule aufgenommen wurden und diese bald in der Überzahl waren, konnte die Waldorf-Astoria die Schule nicht mehr länger allein finanziell tragen. Sie wurde deshalb ausgegliedert und verselbständigt. Als Träger diente der am 19. Mai 1920 eigens gegründete «Verein Freie Waldorfschu­le». Erster Vorsitzender des Vorstandes war Rudolf Steiner. 1922 änderte der Schul­Verein seinen Namen in »Verein für ein freies Schulwesen »Waldorfschulverein» Stutt­gart« um. Die Waldorfschule blieb rechtlich stets unabhängig vom Kommenden Tag; sie war also nie eine Abteilung dieses Unternehmens. Allerdings sah es der Kommen­de Tag als seine Aufgabe an, die Schule dadurch zu unterstützen, daß er die nötigen Grundstücke und Gebäude zur Verfügung stellte. Durch die Inflationskrise von 1923 geriet die Schule in große finanzielle Schwierigkeiten, die sie nur dank Spenden über­winden konnte. Sie besteht heute noch am alten Standort; allerdings ist sie längst nicht mehr die einzige Schule, bildete sie doch den Ausgangspunkt für eine weltweite Waldorfschul-Bewegung.

Hinweise zu den einzelnen Vorträgen

Weggelassen wurden alle biographischen Angaben der einzelnen, an der Dreigliede­rungsbewegung beteiligten Persönlichkeiten (siehe Personenregister am Schluß). Eine entsprechende biographische Übersicht ist für GA 330a und 337 vorgesehen.

21 Frageabend: Der Frageabend fand in der Landhausstraße 70 im «Blauen Zim­mer», dem Zweiglokal der Anthroposophischen Gesellschaft, statt. Über die Bestimmung dieses Raumes sagte Rudolf Steiner in der Ansprache vom 15. Ok­tober 1911 über «Die okkulten Gesichtspunkte des Stuttgarter Baues» (in GA 284): «Hier haben wir einen Arbeitsraum; er soll dazu bestimmt sein, daß unsere Stuttgarter Freunde immer wieder und wieder von Woche zu Woche hier ihre theosophischen Betrachtungen und Arbeiten vollbringen. Im wesentlichen ha­ben wir es mit einem Raum für Betrachtungsversammlungen, die immer wieder­kehren, zu tun.«

unsere Einladung: Die Einladung zum Frageabend vom 30. Mai 1919 ist nicht erhalten geblieben, aber es waren vor allem Persönlichkeiten von der bürgerli­chen Seite, die gebeten wurden, an diesem Frageabend teilzunehmen. Man woll­te damit versuchen, auch die bürgerlichen Kreise - und nicht nur die Arbeiter­schaft - für die Dreigliederungsidee zu gewinnen.

die Vorträge, die seit vier bis sechs Wochen hier in Stuttgart gehalten werden: Am 22. April 1919 hielt Rudolf Steiner seinen ersten öffentlichen Vortrag in Stuttgart über Dreigliederung, dem in den folgenden Tagen und Wochen zahlreiche weite­re folgten. Die ganze Vortragsaktion, die sich über den Umkreis Stuttgarts aus­dehnte und von weiteren anthroposophischen Rednern mitgetragen wurde, er­folgte im Namen des an diesem 22. April 1919 gegründeten Bundes für Dreiglie­derung des sozialen Organismus. Eine Chronologie der Vorgänge findet sich in »Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Nr.27/28, unter dem Titel «1919 - das Jahr der Dreigliederungsbewegung und der Gründung der Waldorfschule».

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21 Resolution, die bei den verschiedenen Vorträgen gefaßt worden ist: Am 23. April

1919 wurde am Schluß des Vortrages von Rudolf Steiner von der anwesenden Arbeiterschaft der Waldorf-Astoria A.G. folgende Resolution gefaßt (in GA 331, Anhang): «Der Arbeitsausschuß für D?eigliederung des sozialen Organis­mus möge von der württembergischen Regierung fordern, daß Dr. Rudolf Steiner unverzüglich berufen wird, damit die Dreigliederung des sozialen Orga­nismus, welche als einzige Rettung aus dem drohenden Untergange erscheint, sofort in Angriff genommen werde. Der Arbeitsauschuß des Bundes für die Dreigliederung des sozialen Organismus möge ferner die bevorstehenden Ver­sammlungen der württembergischen Betriebe ersuchen, diese Resolution zu un­terstützen.» In der Folge wurde diese Resolution in einer ganzen Reihe weiterer Versammlungen angenommen, so daß es schließlich etwa 10 000 bis 12 000 Men­schen waren, die dieser Resolution zugestimmt hatten. Es fanden dann auch Kontakte zwischen Rudolf Steiner und Mitgliedern der württembergischen Regierung statt - die wichtigste Zusammenkunft war die Unterredung mit Ar­beitsminister Hugo Lindemann von der SPD am 30. April 1919-; alle diese Gespräche verliefen ergebnislos.

22 Daher habe ich neulich einmal davon gesprochen in einem Vortrag: Es handelt sich um den öffentlichen Vortrag vom 16. Mai 1919 in Stuttgart (in GA 330), wo Rudolf Steiner ausführte: «Was sich fortsetzt als Regierung aus den früheren Entwicklungsläuften, wird sich eines Tages sagen müssen: Wir behalten zurück all diejenigen Ressorts, die sich auf das rechtliche Leben, auf die öffentliche Sicherheit und dergleichen beziehen. Mit Bezug auf das Geistesleben, Kultus, Unterricht, technische Ideen auf der einen Seite, mit Bezug auf das Wirtschafts­leben auf der anderen Seite, auf Industrie, Handel, Gewerbe und so weiter, werden wir eine Liquidierungsregierung.» Und weiter: «Nur die Initiative kann bei den bisherigen Regierungen liegen, weil sie sich schon einmal aus den alten Verhältnissen heraus entwickelt haben, aber sie müssen die Selbstlosigkeit ha­ben, nach links und nach rechts Liquidierungsregierungen zu werden.» Im Vortrag vom 26. Mai 1919 in Ulm (in GA 333) wiederholte Steiner seine For­derung: «Was wir nötig haben, ist, daß diese Regierung nur die Inititative in der Mitte behält, die Aufsicht über den Sicherheitsdienst, Hygiene und dergleichen, und daß sie links und rechts Liquidationsregierung wird: nämlich das Geistes­leben frei lassend, so daß es in selbständige Verwaltung übergeht, das Wirt­schaftsleben auf eigene Füße stellend.» Diese Notwendigkeit einer Liquidations­regierung hatte Rudolf Steiner auch in den Diskussionen mit den Arbeiteraus­schüssen betont - so in den Diskussionen vom 8. und 22. Mai 1919 (in GA 331).

24 Betriebsräte, die jetzt nach dem Reichsgesetzesentwurfr Gesetzesentwurf für die Bildung von Arbeiter- und Wirtschaftsräten, der Anfang Mai von der Regierung unter Philipp Scheidemann in die Vernehmlassung geschickt wurde. Er war politisch äußerst umstritten. Bemerkenswert ist, daß für ein solches Gesetz zu­nächst noch die verfassungsrechtliche Grundlage fehlte. Diese wurde erst durch Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 geschaffen, die in Art. 165, Abs. 1 und Abs. 2, die Bildung von Arbeiter- und Betriebsräten vorsah: «Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwir­ken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden aner­kannt.« Und: «Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer

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sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsar­beiterräten sowse in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.« Damit war der Weg frei ftir die Verabschie­dung des entsprechenden Ausführungagesetzes am 13. Januar 1920. In Kraft gesetzt wurde es am 4. Februar 1920 und am 15. Februar 1922 durch ein Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat ergänzt. Den Betriebsräten wurde zwar das Recht zur Mitentscheidung und Mitberatung in bestimmten sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten eingeräumt, doch einen maßgebenden Einfluß konnten sie nicht entfalten - sie blieben bloße Dekoration. Rudolf Steiner betrachtete die Einführung von staatlichen Betriebs-räten von allem Anfang an als Irrweg. In der Versammlung vom 8. Mai 1919 mit Arbciterausschüssen sagte er (in GA 331): »Diese Betriebsräte denkt sich zum Beispiel derjenige, der im alten Stil sozialistisch denkt, vor allen Dingen so, daß sie mehr oder weniger gesetzlich eingeführt werden, das heißt, er denkt sich die Betriebsräte als Staatsinstitution. Nun bin ich einmal mehr der Ansicht, daß, wenn sie so eingeführt werden, sie ganz sicher das fünfte Rad am Wagen sein werden. Es ist nur möglich, daß man die Betriebsräte aus dem Wirtschaftsleben selbst heraus schafft.» Mit seiner Prophezeiung sollte Rudolf Steiner recht be­halten.

24 Reichswirtschaftsrat: Bereits der Reichsgcsetzesentwurf vom Mai 1919 sah die Bildung eines obersten Reichawirtschaftarates vor. In diesem sollten sowohl Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zusammenwirken. Dement­sprechend finden sich in der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 in Art. 165, Abs. 3 und 4, die Bestimmungen: «Die Bezirksarbeiterräte und der Reichs-arbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungagesetze mit den Vertretun­gen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkakreise zu Bezirkswirtachaftsrä­ten und zu einem Reichawirtachaftarat zusammen. Die Bezirkawirtschaftaräte und der Reichswirtschaftsrat sind so zu gestalten, daß alle wichtigen Berufs­gruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung darin ver­treten sind.» Und: «Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbrin­gung dem Reichawirtschaftarat zur Begutachtung vorgelegt werden. Der Reichs­wirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu beantragen. Stimmt ihnen die Reichsregierung nicht zu, so hat sie trotzdem die Vorlage unter Darlegung ihres Standpunktes beim Reichstag einzubringen. Der Reichs­wirtschaftarat kann die Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor dem Reichstag vertreten lassen.» Die Verfassungabestimmungen wurden aber zum Großteil nicht verwirklicht: So kam der Reichawirtschaftarat nur in einer provisorischen Form zustande - durch die Verordnung vom 4. Mai 1920 über den «Vorläufigen Reichsrat» - Bezirkswirtschaftsräte, Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiter­rat blieben überhaupt auf dem Papier.

26 daß wir die Möglichkeit haben, aus allen Formen des Wirtschaftslebens heraus Betriebsräte zu schaffen: Betriebsräte, verstanden als vom Staate unabhängige Organe eines selbstverwalteten Wirtschaftsleben - das war das Ziel der im Mai 1919 angelaufenen, den württembergischen Raum umfassenden Kampagne des Bundes für Dreigliederung (siehe «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Nr. 103: «Alle Macht den Räten? Rudolf Steiner und die Betriebsrätebewegung 1919»). Im sechsten Diskussionsabend mit den Arbeiterausachüssen, am 2. Juli

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1919 (in GA 331), erklärte Rudolf Steiner einmal mehr die Zielsetzung dieser Bemühungen: «Wir wollen, daß aus den einzelnen Betrieben heraus Betriebsräte gewählt werden, die also dann einfach da sind und die dann eine Betriebsräte-schaft über ein zunächst in sich geschlossenes Wirtschaftagebiet - sagen wir Württemberg - bilden. In einer Urversammlung dieser Betriebaräteschaft würde dann alles festzulegen sein, was Aufgabe, Kompetenz und so weiter der Be­triebsräte ist. Es würden sich dadurch zum ersten Mal unabhängig von den beiden anderen Institutionen, also dem Geistesleben und dem Staats- und Rechtaleben, wirtschaftliche Maßnahmen aus den wirtschaftenden Persönlich­keiten heraus ergeben. Diese Maßnahmen würden also erst beschlossen werden in der Urversammlung der Betriebsräteschaft. Dann erst wären die Aufgaben da. Dann würden die einzelnen in den Betrieben gewählten Betriebsräte in ihre Betriebe zurückkehren und dort ihre Aufgaben übernehmen.» Trotz maßgebli­cher Beteiligung von Rudolf Steiner - Teilnahme an zahlreichen Diskussions­abenden mit den Arbeiterausschüssen der großen Betriebe Stuttgarts (in GA 331, «Betriebsräte und Sozialisierung») - erwies sich die Verwirklichung dieser Zielsetzung wegen des wachsenden politischen Widerstandes von rechts und links im Laufe der Monate Juli und August 1919 immer mehr als undurchführ­bar. Besonders die sozialistischen Partei- und Gewerkschaftsführer sahen sich durch die Schaffung solcher unabhängiger Selbstverwaltungsorgane in ihrer Macht bedroht. Im Rundschreiben Nr.18 des Dreigliederungabundes vom 9. September 1919 sah sich dieser gezwungen einzugestehen: «Es erscheint jedoch im Augenblick [unmöglich], eine Betriebsräteschaft in Württemberg zustandezubringen, da die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer solchen Organisation noch nicht genügend verbreitet ist.»

30 Walther Rathenau, 1867-1922, deutscher Wirtschaftsführer, Schriftsteller und Politiker. Aus einer nach außen sich bescheiden gebenden, aber wohlhabenden jüdischen Familie stammend, studierte er vor allem Physik und Maschinenbau, und war anschließend in verschiedenen Unternehmen in leitender Position tätig. Von 1914 bis 1915 wirkte er als Leiter der Kriegsrohstoff Versorgung. Nach dem Tode seines Vaters übernahm er den Vorsitz im Vorstand der «Allgemeinen Elek­tricitäts-Gesellschaft» (AEG). Rathenau hatte eine große Neigung zur Schriftstel­lerei - er veröffentlichte vor und nach der Revolutionszeit zahlreiche Schriften zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Rathenau hatte sich im Laufe des Krieges von einem mehr nationalistisch orientierten zu einem linksliberalen Standpunkt durchgerungen; er befürwortete eine Regulierung des Kapitalismus durch Berücksichtigung sozialistischer Gedankenelemente, lehnte aber die marxi­stischen Ideen entschieden ab. Die Berufung von 1918 in die erste Sozialisierungs­kommission wurde rückgängig gemacht, hingegen nahm er 1920 Einsitz in die zweite Sozialisierungskommission, konnte aber mit seinen Ideen nicht durch­dringen. Rathenau war Gründungmitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und wurde als Vertreter dieser Partei 1921 vom Zentrums-Reichskanzler Joseph Wirth in die Regierung berufen: von 1921 bis 1922 wirkte er zunächst als Reichaminister für Wiederaufbau und anschließend als Reichsaußenminister. In dieser Eigenschaft schloß er am 16. April 1922 den Rappallo-Vertrag mit Sowjet-rußland ab, der die Verständigung zwischen Rußland und Deutschland brachte. Nach dem Kriegsende wurde er immer mehr von völkischen Kreisen zum Sün­denbock abgestempelt; er wurde am 24. Juni1922 von den beiden jungen Anhän­gern der rechtsradikalen, terroristischen «Organisation Conaul» Erwin Kern und Hermann Fischer ermordet, die mit Rathenau den «Republikaner, Juden und Erfüllungapolitiker»

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treffen wollten; eigentlicher geiatiger Urheber dieaea politi­achen Attentata war der Leiter dieaer Organiaation, der deutsche Freikorpaführer Hermann Ehrhardt, der allerdings nie zur Rechenschaft gezogen wurde.

30 Rathenau rechnet aus, wie es eigentlich mit dem Sinn von Mehrwert ist: In der Schrift «Nach der Flut» (Berlin 1919) finden sich auch Überlegungen Rathenaus über den Mehrwert, besonders im ersten Kapitel unter dem Titel «Sozialisierung und kein Ende. Ein Wort vom Mehrwert». Aus seinen Überlegungen zieht er die Schlußfolgerung: »Der Sinn des Mehrwerts und Profits ist Wirtschaftarücklage. Ganz gleichgültig, wer den Mehrwert in Empfang nimmt oder verwaltet: abge­schafft kann er nicht werden, verbraucht darf er nicht werden.»

was ich in meinem Buch als Antwort gegeben habe: Im dritten Kapitel der »Kernpunkte», dem Kapitel über »Kapitalismus und soziale Ideen» (GA 23) führte Rudolf Steiner aus, wse er sich die Lösung der Eigentumafrage an den Produktionsmitteln vorstellte. Er schrieb: »Man sieht, im sozialen Leben sind zwei Dinge miteinander verbunden, welche von ganz verschiedener Bedeutung sind für den sozialen Organismus: Die freie Verfügung über die Kapitalgrund-lage der sozialen Produktion und das Rechtsverhältnis, in das der Verfüger zu andern Menschen tritt dadurch, daß durch sein Verfügungsrecht diese anderen Menschen ausgeschlossen werden von der freien Betätigung durch diese Kapital-grundlage. Nicht die ursprüngliche freie Verfügung führt zu sozialen Schäden, sondern lediglich das Fortbestehen des Rechtes auf diese Verfügung, wenn die Bedingungen aufgehört haben, welche in zweckmäßiger Art individuelle menschliche Fähigkeiten mit dieser Verfügung zusammenbinden.» Um diesem Erfordernis zu entsprechen, schlug er vor: »Von dem Zeitpunkt an, in dem einen solche Persönlichkeit aufhört, die Produktion zu verwalten, soll diese Kapital-masse an eine andere Person oder Personengruppe zum Betriebe einer gleichge­arteten oder anderen dem sozialen Organismus dienenden Produktion überge­hen.» Es war eine Art befriatetes Verantwortungseigentum, jenseits von Privat-oder Gemeineigentum, das Rudolf Steiner als Lösung vorschwebte: «Statt dem Gemeineigentum der Produktionsmittel wird im sozialen Organismus ein Kreis­lauf dieser Mittel eintreten, der sie immer von neuem zu denjenigen Personen bringt, deren individuelle Fähigkeiten sie in der möglichst besten Art der Ge­meinschaft nutzbar machen können. Auf diese Art wird zeitweilig diejenige Verbindung zwischen Persönlichkeit und Produktionsmittel hergestellt, die bis­her durch den Privatbesitz bewirkt worden ist.».

31 Oaner is a Mensch, zwoa san Leit, san's mehra, san's Viecher: Dieser Ausspruch stammt vom österreichisch-steirischen Dichter Peter Rosegger (1843-1918); zu finden ist er in seiner erstmals 1897 in Leipzig erschienenen autobiographischen Schrift »Mein Weltenleben oder Wie es dem Waldbauernbuben bei den Stadtleu­ten erging».

32 Arbeiterausschüsse: Bereits am 23. Dezember 1918 hatte der deutsche «Rat der Volksbeauftragten» - die neue, revolutionäre Regierung - in einer Verordnung über Tarifverträge verlangt, daß zur Wahrung der politischen und wirtschaftli­chen Interessen der Arbeiter und Angestellten in Betrieben mit über zwanzig Beschäftigten Betriebsräte zu wählen seien. Aufgrund dieser Verfügung wurden in den verschiedenen Betrieben Deutschlands Arbeiter- und Angeatelltenaus­schüsse gewählt, aber die Stellung der Betriebsräte wurde erst später endgültig

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geregelt: auf Verfaasungsebene am 11. August 1919 und auf Gesetzesebene am 4. Februar 1920.

34 di«ß ihm von oben herab durch Gesetze die Betriebsräte dekretiert werden: In bezug auf die Ausgestaltung der Betriebaräteschaft standen sich völlig gegensätz­liche Auffassungen gegenüber: Betriebsräte als Grundlage für eine umfassende sozialistische Rätedemokratie oder Betriebsräte mit stark eingeschränkten Befug­nissen innerhalb eines kapitalistischen Systems. Der Cesetzesentwurf der Regie­rung Scheidemann vom Anfang Mai 1919 stellte eine Art Kompromiß zwischen den gegensätzlichen Auffassungen dar. Vom Gesichtspunkt der Dreigliederung konnte keiner der Entwürfe befriedigen, beruhten doch alle diese Konzepte nach wie vor auf der Idee des Einheitastaates, der einheitlichen Verwaltung der drei Lebensbereiche Staat, Wirtschaft und Kultur. Demgegenüber befürwortete Ru­dolf Steiner ein Hervorgehen der Betriebsräte aus einem autonomen Wirtschafts­leben; Betriebsräte als Träger staatlicher Befugnisse lehnte er ab.

Und aus diesem Grunde ist ja eigentlich die Bewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus da: Eines der Ziele des Stuttgarter Dreigliederungabun­des war die Bildung von Betriebsräten - frei von staatlicher Beeinflussung, rein aufgrund der Bedürfnisse des Wirtschaftslebens. Diese Idee - Betriebsräte als Selbstverwaltungsorgane des Wirtschaftslebens - konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Siehe Hinweis zu S.26.

was der jetzigen Regierung: Zum Zeitpunkt des Frageabends war eine Koaliti­onsregierung zwischen SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands - sozia­listisch), Z (Zentrum - ehristlichsozial) und DDP (Deutsche Demokratische Partei - linkaliberal) unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Phil­ipp Scheidemann an der Macht; sie hatte im Februar 1919 ihr Amt angetreten, trat aber im Juni1919 bereits wieder zurück, da sie das Versailler Friedenadiktat nicht unterzeichnen wollte.

35 eine ganze Reihe von Arbeiterversammlun gen, fast Tag für Tag: Rudolf Steiner meint die vielen öffentlichen Vorträge, die er seit Ende April 1919 im Raum Stuttgart gehalten und an denen oft in der Mehrzahl Menschen aus dem Prole­tariat teilgenommen hatten (in GA 330). Die Diskussionsabende mit den Arbei­teranaschüssen (in GA 331) kamen zu diesem Zeitpunkt erst richtig in Gang.

36 daß ich ganz von Anfang an, als er mit andern Freunden kam: Emil Molt kam zusammen mit Roman Boos und Hans Kühn - alles Mitglieder des Stuttgarter Inititativkreisea im Januar 1919 nach Dornach, um Rudolf Steiner für das wei­tere Vorgehen um Rat zu fragen. Die entscheidenden Gespräche fanden am 25. und 27. Januar 1919 statt. Der Inhalt dieser Gespräche wurde von Roman Boos aufgezeichnet (vorgesehen für GA 330a).

daß wir diese Art von Betriebsräten schon seit Wochen eingeführt haben: Emil Molt meint die Einrichtung von Betriebsräten in der Waldorf-Astoria A.G. in Stuttgart. Wann genau das geschah, ist nicht bekannt, möglicherweise bereits im März 1920. In seinen Erinnerungen (ungekürzte Fassung, nicht veröffentlicht) schrieb er darüber: »Alles kam damals darauf an, Vertrauen zwischen dem Un­ternehmen und seinen Werksangehörigen zu begründen und die revolutionierten Leute in die Hand zu bekommen. Rasch ging ich denn auch als Einziger in ganz Württemberg dazu über, einen Betriebsrat wählen zu lassen. Vorbilder gab es ja

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nicht, aber ,Der gute Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt., Ich ließ je zwei begabte Angestellte und Arbeiter zur Wahl stellen und führte aus, daß ein Betriebsrat in erster Linie etwas können müsse, sonat sei er kein Rat mit , sondern ein Rad, das rückwärts gehe; sie, die Leute, müßten erst lernen; ich sei aber bereit, das, was ich mir in 3ojähriger Praxis angeeignet hätte, ihnen zur Verfügung zu stellen, wenn sie das wollten. Resultat: Ich selbst wurde von meiner Belegschaft zum Vorsitzenden gewählt. Ein schönes, erfreuliches Vertrauensvotum! Einmütig behandelten wir nun die wichtigen Fragen des Betriebs, ohne Vorbehalt, unter weitgehendater Einsicht-gabe der Verhältnisse. Diese Offenheit meinerseits und das Bestreben, die Leute in Wahrheit zu schulen, schaffte die Basis zu einer harmonischen Zusammenar­beit. So kam es, daß wir Ruhe und Frieden hatten, während es in vielen Betrie­ben darunter und darüber ging, [...]. In der ganzen Zeit, auch während der Inflation, hatten wir keinen Streik, sondern ordneten alle Belange unter uns, unter Ausschaltung des Gewerkschaftsführers. Erst später, als der politische Einfluß erstarkte, wurden unsere Leute wieder in den hineingezogen, was zur Folge hatte, daß auch wir uns dem Fabrikantenverband anschließen mußten. Aber bald kamen die Arbeiter mit der Bitte, das alte Verhältnis wieder herzustellen, weil sie einsähen, daß dies auch für sie besser gewesen sei. Leider mußte es aber bei den nunmehr getroffenen Maßnahmen verbleiben.»

38 Gesetzesentwurf der Regierung: Siehe Hinweis S.24.

40 Lehrer an der Arbeiterbildungsschule: Von 1899 bis 1904 war Rudolf Steiner Lehrer an der 1891 vom deutschen Sozialistenführer Wilhelm Liebknecht be­gründeten Arbeiterbildungaschule in Berlin, vor allem in den Fächern Geschich­te und Redeübung. Ende 1904 gab er wegen der Agitation des mehrheitlich marzistisch ausgerichteten Vorstandes seine Unterriehtstätigkeit auf - sehr zum Bedauern seiner Schüler. Eine umfassende Dokumentation über die Tätigkeit von Rudolf Steiner an der Berliner Arbeiterbildungsachule findet sich in der Nr. 111 der «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe«, «>Wissen ist Macht, Macht ist Wissen.> Rudolf Steiner als Lehrer an der Arbeiterbildungsachule in Berlin und Spandau 1899-1904». Siehe dazu auch das Kapitel XXVIII aus der Autobiographie von Rudolf Steiner, »Mein Lebenagang» (GA 28), und Johanna Mücke / Alwin Rudolph, «Erinnerungen an Rudolf Steiner und seine Wirksam­keit an der Arbeiterbildungaschule in Berlin 1899-1904», Basel 1979.

42 Taylor-System: Geht auf den Amerikaner Frederick Winslow Taylor (1856-1915) zurück. Taylor war von Beruf Maschinenbauingenieur; sein Interesse galt der Arbeitsrationalisierung. Er war der Urheber der Zeitatudien in den Indu­striebetrieben und schlug vor, den Arbeitsprozeß in kleine Schritte mit festge­legten Handgriffen von kalkulierter Dauer zu zerlegen. Die Ergebnisse seiner Studien veröffentlichte er 1911 in der Schrift «The Prineiples of Scientific Ma­nagement» - 1913 unter dem Titel «Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebs­führung» in München erschienen. Taylora Konzept zur Steigerung der Arbeits­produktivität bildete die Grundlage für die Einführung der Fließbandarbeit, zum Beispiel durch Henry Ford in seiner Automobilfabrik in Detroit.

46 meinem Betrieb: Carl Unger besaß in Stuttgart-Hedelfingen eine eigene Werk­zeugmaschinenfabrik, die er am 1. Oktober 1906 begründet hatte und ab 1912

mit einem Teilhaber, Friedrich Böhm, unter der Firma «Carl Unger« als offene

Handelsgesellschaft betrieb. Die Werkzeugmaschinenfabrik gehörte von 1920

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bis 1924 als rechtlich unselbständige Zweigniederlassung zur Unternehmens-gruppe «Der Kommende Tag A.C.» und wurde 1924 wieder an Carl Unger und seinen neuen Teilhaber, Richard Hamel, zurückverkauft. Die Firma gibt es heute noch, allerdings unter dem neuen Namen «Schaudt Maschinenbau C.m.b.H.» mit neuem Standort in Stuttgart-Hedelfingen; sie gehört zur Unternehmens-gruppe der «Körber A.G.».

46 der damala erschienene Aufruf Es handelt sich um den vom «Arbeitsausschuß des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus» verbreiteten Aufruf «An die Handarbeiter! An die geistigen Arbeiter! An die Fabrikanten!«, in dem zur

49 Sozialisieren im Sinne der alten Sozialisten: Sozialisierung im alten - marxisti­schen - Sinne bedeutete: «Vergesellachaftung der Produktionsmittel«, die Über­führung des Privateigentums an Kapital und Boden in das allgemeine Kollektiv-eigentum. In der Praxis lief diese Forderung auf eine Verstaatlichung der Pro­duktionsmittel und die Errichtung einer totalitären Diktatur hinaus, wie zum Beispiel die Entwicklung in Rußland nach der Oktoberrevolution von 1917 zeigte. Was Rudolf Steiner von solchen Forderungen nach Sozialisierung hielt, sagte er gleich in seinem ersten öffentlichen Dreigliederungsvortrag am 22. April 1919 in Stuttgart (in GA 330): «Wie wir auch den Begriff der Sozialisierung auffassen - mehr oder weniger der eine aus Einsicht, der andere aus Vorliebe oder unter dem Zwange der Tatsachen -, seien wir doch in diesen Dingen ein wenig konsequent. Wenn man sozialisieren will, dann glaube ich, muß das erste sein, was man sozialisiert, die Herrschaftaverhältniase. Wer einen Weltherracher [Lenin] fordert, der mag auf manchem Gebiet sozialisieren, auf dem Gebiet der Herrschaftsverhältnisse sozialisiert er gewiß nicht. Sozialisierung der Herrschaft ist das, was zunächst wirklich eine Grundforderung ist.»

51 Nehmen wir an, Bayern würde seine Sozialisierung jetzt durchführen: Seit der Ermordung von Kurt Eisner, dem Ministerpäsidenten der bayrischen Revoluti­onaregierung, am 21. Februar 1919 drängte die Macht der Verhältnisse auf eine Räterepublik hin, weil der bayrische Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte die einzige noch übriggebliebene Autorität war, die den Ausbruch einer allge­meinen Anarchie noch verhindern konnte. Am 7. April 1919 wurde in München die bayrische Räterepublik ausgerufen, aber diese konnte sich nicht halten. Sie zerbrach nicht nur an der Intervention von deutschen Freikorps-Truppen, die dem Oberbefehl von Gustav Noske, dem Minister für die Reichswehr, unter­standen, sondern auch an der inneren Uneinigkeit. Hatten in der Räteregierung zunächst individuell-anarchiatiache Richtungen unter der Leitung des unabhän­gigen Sozialisten und Dichters Ernst Toller die Oberhand, so übernahmen am 13. April 1919 die Kommunisten unter Führung von Eugen Leviné durch einen Staatastreich die Macht. Am 2. Mai 1919 brach der letzte Widerstand der bayri­schen «Roten Armee» zusammen. Was nun folgte, war der «Weiße Schrecken»:

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Eine Woche lang hatten die Eroberer Münchens Schießfreiheit, und jeder, der als Kommunist verdächtig erschien, war vogelfrei.

60 ob man am nächsten Donnerstag wieder zusammentreffrn wolle: Der Frage-abend vom 25. Mai 1919 hatte an einem Sonntag stattgefunden; die Fortsetzung dieses Abends, allerdings in einem weiteren, öffentlichen Rahmen, war für Frei­tag, den 30. Mai 1919, geplant. Auf den kommenden Donnerstag, den 24. Mai 1919, war eine Versammlung zur Gründung eines Kulturrates angesetzt.

61 Frageabend: Der Frageabend fand im Gustav-Siegle-Haus vor einem überwie­gend bürgerlichen Publikum statt.

Morgen werde ich dann einen der Haupteinwände zu behandeln haben: Am nächsten Tag, also am 31. Mai 1919, hielt Rudolf Steiner anläßlich einer Ver­sammlung des Dreigliederungsbundes im Gustav-Siegle-Haus einen weiteren großen öffentlichen Vortrag (in GA 330). Der Titel des Vortrages lautete: «Der Impuls zum dreigliedrigen Organismus: kein >bloßer Idealismus>, sondern un­mittelbar praktische Forderung des Augenblicks».

64 Walter Rathenau: Siehe Hinweis zu S.30.

höchstens ein wenig daran getippt hat: Walther Rathenau hatte zahlreiche Schrif­ten zu wirtschaftlichen und sozialen Gegenwartsproblemen veröffentlicht, so zum Beispiel die Schrift «Zur Kritik der Zeit» (Berlin 1912). Dort schrieb er im Kapitel «Die Mechanisierung der Welt»: »Die neue Wirtschaft« (Berlin 1918) oder «Nach der Flut« (1919). Alle diese Schriften finden sich in der Bibliothek von Rudolf Steiner.

67 ich werde versuchen, die Fragen, die mir schriftlich übergeben worden sind:

Diese Fragen sind im Original nicht mehr vorhanden.

69 eine merkwürdige Annonce durch den sogenannten Blätterwald: Konnte nicht nachgewiesen werden.

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71 von der ich im letzten Vortrage hier gesprochen habe: Im öffentlichen Vortrag vom 16. Mai 1919 in Stuttgart (in GA 330) ging Rudolf Steiner auch auf die Größe der selbstverwalteten Wirtschaft5gebiete ein: «Es werden sich Genossen­schaften bilden müssen, in denen vertreten sind ebenso das Konsuminteresse wie das davon abhängige Produktionsverhältnis. Bei diesen Genossenschaften wird es hauptsächlich darauf ankommen, innerhalb der praktischen Arbeit immer herauszufinden, wie groß eine solche Genossenschaft sein muß. Die Größe einer solchen Genossenschaft kann sich nicht aus den Grenzen der Staatsgebilde, welche im Laufe der neueren Geschichte entstanden sind, ergeben - aus dem einfachen Grunde, weil diese Staatsgebilde zu geschlossenen Verwaltungskör­pern aus noch ganz anderen Rücksichten heraus entstanden sind als aus den Produktions- und Konsumtionsverhältnissen und weil andere Grenzen sich er­geben, sobald die Menschen sich in bezug auf Konsumtions- und Produktions­verhältnisse sozial so zusammenschließen, daß durch die Regelung der Produkt­ions- und Konsumtionsverhältnisse jener gegenseitige Wert der Waren heraus­kommt, der für die breitesten Volksschichten eine gesunde Lebenslage möglich macht.«

72 das habe ich ja auch in meinem Buche über die Soziale Frage ausgeführt: Am Schluß des dritten Kapitels der

75 In diesem Buche wird beantwortet, wie in der Zukunft auf der einen Seite das Produktionsmittel, das in Boden besteht, und auf der anderen Seite das industri­elle Produktionsmittel: Im dritten Kapitel der «Kernpunkte» (GA 23) äußerte sich Rudolf Steiner ausführlich zur Stellung der Produktionsmittel im dreiglied­rigen sozialen Organismus. Er schrieb: «Statt dem Gemeineigentum der Produk­tionsmittel wird im sozialen Organismus ein Kreislauf dieser Mittel eintreten, der sie immer von neuem zu denjenigen Personen bringt, deren individuelle Fähigkeiten sie in der möglichst besten Art der Gemeinschaft nutzbar machen können. Auf diese Art wird zeitweilig diejenige Verbindung zwischen Persön­lichkeit und Produktionsmittel hergestellt, die bisher durch den Privatbesitz be­wirkt worden ist.« Und wenn diese Verbindung nicht mehr gegeben ist, so heißt

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das für den bisher Verfügungsberechtigten:

75 Wir haben als Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach einen Bau: Ur­sprünglich war vorgesehen, diesen Bau - unter dem Namen «Johannesbau« - in München zu errichten. Im Schreiben «An die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft (Deutsche Sektion) und deren Freunde, den Johannesbau in Mün­chen betreffend« vom Oktober 1911 (noch nicht in CA) äußerte sich Rudolf Stei­ner zur Idee dieses Baues als Sitz einer Hochschule: «Der Gedanke einer Hoch­schule für Geisteswissenschaft ist die notwendige Konsequenz, die aus der Aus­lieferung des spirituellen Wissens, dessen unsere Zeit gewürdigt worden ist, gezo­gen werden muß. Es ist heute schon durchaus möglich, wenn wir die unter uns wirkenden Mitarbeiter Revue passieren lassen, für fast alle Einzelgebiete Lehr­kräfte namhaft zu machen, die, soweit Erkundigungen vorliegen, gerne bereit wären, einen Lehrauftrag zu übernehmen. Damit aber würde Geisteswissenschaft erst der Aufgabe gerecht werden können, die ihr von Anfang gestellt war: Alle Gebiete des Lebens zu befruchten. Die Hochschule für Geisteswissenschaft wird das entwicklungsfähige Wissen der Akademien dort aufnehmen, wo seine offi­ziellen Vertreter es heute in Materialismus erstarren lassen und es hinaufführen zu dem Wissen vom Geiste und hineinleiten in jenen Tempel, in welchem seine Vereinigung mit Kunst und Religion das lebendige Mysterium ermöglicht.» Und weiter im öffentlichen Vortrag vom 13. März 1914 in Basel (bisher noch nicht in CA):

76 Was in meinem Buche »Die Kernpunkte der Sozialen Frage« ausgeführt ist: Der Frage der «Internationalen Beziehungen der sozialen Organismen» hatte Rudolf Steiner in den «Kernpunkten» (GA 23) eigens ein Kapitel, das vierte, gewidmet. Er schrieb: «Die innere Gliederung des gesunden sozialen Organismus macht auch die internationalen Beziehungen dreigliedrig. Jedes der drei Gebiete wird sein selbständiges Verhältnis zu den entsprechenden Gebieten der andern sozia­len Organismen haben. Wirtschaftliche Beziehungen des einen Landesgebietes werden zu ebensolchen eines andern entstehen, ohne daß die Beziehungen der Rechtsstaaten darauf einen unmittelbaren Einfluß haben.«

77 Sandschak-Frage: Der Sandschak (türkisch für «Regierungsbezirk«) Novi Pazar war ein strategisch wichtiges Gebirgsland auf dem Balkan, das zum Osmani­sehen Reich gehörte und als eine Art Sperriegel Serbien den Zugang zum Mittelmeer

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verwehrte. Im Vertrag von Berlin vom 1878 erhielt Österreich-Ungarn das Recht, militärische Stützpunkte in diesem Gebiet zu unterhalten. Im Jahre 1908 spielte Österreich-Ungarn mit dem Gedanken, aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen eine Eisenbahnlinie durch dieses Gebiet - als direkte Verbindung zwischen Wien und Saloniki - zu bauen. Das Projekt erwies sich aber aus geographischen Gründen als schwer durchführbar, so daß sich Öster­reich-Ungarn 1909 aus diesem Gebiet zurückzog und den Sandschak dem Os­manischen Reich überließ. Nach dem ersten Balkankrieg wurde der Sandschak 1913 zwischen Serbien und Montenegro aufgeteilt. Das Gebiet gehört heute zur Bundesrepublik Jugoslawien.

77 Dardanellen-Frage: Die Dardanellen (antiker Name Hellespont: Meer der Grie­chen) ist die südliche der beiden Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwar­zem Meer. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörten die Dardanellen zwar zum Osmanischen Reich, aber Rußand versuchte durch eine Reihe von Kriegen mit der Türkei erfolglos, die Kontrolle über die Meerengen als strategisch wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer zu gewinnen. Nachdem im Ersten Weltkrieg die Türkei auf Seite der Mittelmächte gekämpft und ein britisches Expeditionskorps vergeblich versucht hatte, die Dardanellen zu erobern, wurden die Meerengen nach der Niederlage der Mittelmächte von den Entente-Mächten besetzt und 1920 im Frieden von Sévres vorläufig unter internationale Kontrolle gestellt. Aufgrund des endgültigen Friedensschlusses von Lausanne von 1923 übernahm schließlich die Internationale Meerengenkommission des Völkerbundes die Aufsicht über die Meerengen. Erst auf der Konferenz von Montreux von 1936 gelang es der durch Atatürk begründeten modernen türkischen Republik, im Rahmen des sogenannten Montreux-Statuts die volle Souveränität über die Meerengen zurückzugewinnen.

Bagdadbahn-Prohlem: Im Verlauf des anhaltenden Machtzerfalls des Osmani­sehen Reiches im 19. Jahrhundert entwickelte sich ein Wettlauf der europäischen Mächte um den militärischen und wirtschaftlichen Einfluß in diesem Land. Als der osmanische Sultan 1899 die Konzession für die von ihm projektierte Eisen-bahn von Ankara nach Bagdad deutschen Firmen übertrug und als das Projekt 1902 sowohl in Richtung Istanbul wie in Richtung Basra am Persischen Golf erweitert wurde, rief das den politischen Widerstand Englands und Rußlands hervor; Deutschland wurde ein Streben nach strategischen Vorteilen unterstellt. Schließlich wurde 1914 eine britisch-deutsche Vereinbarung geschlossen, wo­nach auch englische Finanzkreise sich am Bagdadbahn-Projekt beteiligen sollten. Der Kriegsausbruch machte jedoch diese Vereinbarung nichtig. Zu diesem Zeit­punkt war die Bahn aber nur in Teilstrecken fertig; erst 1940 wurde sie von den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches vollendet.

78 auch wenn der führende Handelsstaat England an der Goldwährung festhält:

England wollte nach dem Ersten Weltkrieg das System der alten Goldwährung, den sogenannten «Internationalen Goldstandard«, der wegen des Weltkrieges zusammengebrochen war, wieder einführen. Dieses System beruhte darauf, daß als gesetzliches Zahlungsmittel Goldmünzen verwendet wurden und daß die umlaufenden Noten auf der Grundlage eines festen Goldpreises jederzeit in Gold umgetauscht werden konnten. Das bedeutete ein System fester Wechsel-kurse zwischen denjenigen Ländern, die sich an das System des internationalen Goldstandards hielten. Aber die Position Englands konnte sich in dieser umfassenden

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Form nicht durchsetzen; auf der Konferenz von Genua von 1922 wurde ein neues Währungssystem, der

81 Es liegen noch ein paar andere schriftliche Fragen vor: Ein Teil dieser Fragen ist im Original noch vorhanden. Sie waren mit Datum vom 29. Mai 1919 an Rudolf Steiner geschickt worden, und zwar von einem gewissen «R. Preuß, Kammerste­nograf», aus Stuttgart. In einem beigefügten kleinen Schreiben wurde der Wunsch ausgedrückt, «inliegende Fragen Herrn Dr. Steiner zu übermitteln mit der Bitte um deren Beantwortung im Freitagabend-Vortrag.«

82 Diese Frage ist in meinem Buche behandeh: Über die grundsätzliche Festlegung der Einkommen schrieb Rudolf Steiner im zweiten Kapitel der «Kernpunkte» (GA 23): «Die Art, wie, und das Maß, in dem ein Mensch für den Bestand des sozialen Organismus zu arbeiten hat, müssen aus seiner Fäligkeit heraus und aus den Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins heraus geregelt werden. Das kann nur geschehen, wenn diese Regelung von dem politischen Staate aus in Unabhängigkeit von den Verwaltungen des Wirtschaftslebens geschieht.» Und im Hinblick auf eine existenzsichernde Güterverteilung im dritten Kapitel:

«Ein in sich abgeschlossener Wirtschaftskreislauf, der von außen die Rechts­grundlage erhält und den fortdauernden Zufluß der zutagetretenden individuel­len Menschenfähigkeiten, wird es in sich nur mit dem Wirtschaften zu tun ha­ben. Er wird dadurch der Veranlasser einer Güterverteilung sein können, die jedem das verschafft, was er nach dem Wohlstande der Gemeinschaft gerechter Art haben kann. Wenn einer scheinbar mehr Einkommen haben wird als ein anderer, so wird dies nur deshalb sein, weil das >Mehr> wegen seiner individu­ellen Fähigkeiten der Allgemeinheit zugutekommt.«

86 Bund der Landwirte: Gegründet wurde Bund der Landwirte (BdL) 1893 als Protestbewegung gegen das Sinken der Getreidepreise und die Zollsenkungspo­litik der deutschen Regierung unter Reichskanzler Leo Graf von Caprivi (März 1890 bis Oktober 1894). Als Interessenverband der Landwirte war er bestrebt, den durch den Industrialisierungsprozeß gefährdeten Einfluß der Landwirt­schaft in Politik und Wirtschaft zu erhalten. Er forderte hohe Schutzzölle, steu­erpolitische Begünstigung der Landwirtschaft und ein Verbot des Getreideter­minhandels. Der straff organisierte Bund der Landwirte mit seiner Massenmit­gliedschaft (1913 ungefähr 330 000 Mitglieder) - in ihm waren vor allem die größeren Grundbesitzer Mittel- und Ostdeutschlands vertreten - war der ein­flußreichste Verband im Deutschen Kaiserreich. Er trat zunächst als politische Partei auf, errang jedoch nur wenige Mandate. In der Folgezeit war er durch vielfache Personalunion mit der Deutschkonservativen Partei verbunden, für die er bei der Durchsetzung ihrer Politik unentbehrlich wurde. Der Bund betrieb eine militante Propaganda, die stark antisemitisch gefärbt und gegen liberale und pluralistische Anschauungen gerichtet war. Der Bund für Landwirte ging 1921

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im Reichslandbund, dem Interessenverband der deutschen Landwirtschaft in der Weimarer Republik, auf.

86 Zentrum: Die Deutsche Zentrumspartei w

89 Ich habe neulich in einer Nachbarstadt über dieselben Fragen gesprochen: Ver­mutlich meinte Rudolf Steiner seinen am 26. Mai 1919 in Ulm gehaltenen öffent­lichen Vortrag. An seine damaligen Ausführungen schloß sich eine Diskussion an, in der überwiegend Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre das Wort ergrif­fen. In seinem Schlußwort nahm Rudolf Steiner dazu Stellung (in GA 333):

»Von einigen Rednern wurde gesagt, daß in meinen Betrachtungen nichts Neues vorgebracht worden sei. Nun, ich kenne sehr genau die Entwicklung der sozia­len Bewegung. Und wer behauptet, das Wesentliche von dem, was heute aus den Erfahrungen gerade der ganzen Neugestaltung der sozialen Lage durch die Weltkatastrophe vorgebracht worden ist, sei nicht etwas Neues, der sollte sich bewußt werden, daß er etwas absolut Unrichtiges sagt. In Wirklichkeit liegt ein ganz anderer Tatbestand vor: Die Redner haben das Neue nicht gehört. Sie haben sich darauf beschränkt, die paar Sachen zu hören, die selbstverständlich, weil sie richtig sind, als Kritik der üblichen Gesellschaftsordnung vorgebracht wurden. Sie sind gewöhnt seit vielen Jahren, dies und das als Schlagwort zu hören: das haben sie gehört. Aber alles, was dazwischen gesagt worden ist von der Dreigliederung des sozialen Organismus, von dem, was durch diese Drei-gliederung an wirklicher Sozialisierung nach jeder Seite hin erreicht werden kann, von dem haben eben die Redner absolut nichts gehört.»

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91 das habe ich in meinem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Frage« des breite­ren ausgeführt: Im dritten Kapitel der Weniger> wird von allen am sozialen Organismus Beteiligten gleichmäßig getragen, wenn die hier gemeinten sozialen Impulse ihre Verwirk­lichung finden werden.«

94 wird sich heute so etwas formen lassen wse zum Beispiel ein Betriebsrat oder eine Betriebsräteschaft aus geistigen oder physischen Arbeitern: Rudolf Steiner trat dafür ein, daß für die Wahl in die Betriebsräte kein Unterschied zwischen gei­stigen und physischen Arbeitern gemacht werden sollte. So am zweiten Diskus­sionsabend mit den Arbeiteranaschüssen vom 28. Mai 1919 (in GA 331): «Als eine einheitliche Gruppe müssen geistige und physische Arbeiter aus ihrem Vertrauen heraus diejenigen wählen, die Betriebsräte sein sollen. Es muß schon bei dieser Urwahl jeder soziale Unterschied zwischen geistigen und physischen Arbeitern wegfallen.» Und weiter: «Die Wahl selbst muß sich nicht nur so voll­ziehen, daß geistige und physische Arbeiter ohne Unterschied in Betracht kom­men, sondern daß sie gemeinsam die Macht haben, zu wählen und gemeinsam denjenigen zu wählen, den sie wollen, und so viele von der einen oder der anderen Seite, wie sie wollen. Die geistigen Arbeiter müssen sich klar darüber sein, daß sie nur dadurch in den Betriebsrat hineinkommen können, daß sie das Vertrauen der gesamten Arbeiterschaft haben.»

96 unter anderem gestern in einer Sitzung: Am 29. Mai 1919, am Himmelfahrtstag, fand die erste Versammlung des Dreigliederungsbundes zur Begründung eines Kulturrates statt. Dieser sollte für die Belange eines freien, auf sich selbst gestell­ten Geisteslebens zuständig sein und war als Gegengewicht gegen die rein wirt­schaftlich orientierte Betriebsräteschaft gedacht. Der Verlauf dieser Versamm­lung vom 29. Mai 1919 wurde schriftlich nicht festgehalten; allerdings gibt es ein paar Notizen von Rudolf Steiner dazu. Im Rundbrief Nr.5 des Dreigliederungs­Bundes berichtete Hans Kühn: «Am Himmelfahrtstage ist ferner von einem Kreise von Mitarbeitern der Grundstock gelegt worden zur Schaffung von Kulturräten, die nun möglichst stark ausgebaut werden sollen. [...] Es wird notwendig sein, sobald wie möglich eine Plenarsitzung aller dieser für Kultur­räte eintretenden Persönlichkeiten zusammenzurufen und aus der Versammlung heraus eine vorbereitende, feste Organisation zu schaffen, die mit den bestehen­den Verhältnissen durchaus vertraut ist.« In der Folge fanden dann fünf weitere Versammlungen statt (am 7. Juni1919, 21. Juni1919, 10. Juli1919, 25. Juli1919, 25. September 1919), und es wurde mehrmals ein entsprechender Aufruf veröf­fentlicht sowie Unterschriften dafür gesammelt. Aber der Aufruf fand keinen genügenden Widerhall in der Öffentlichkeit. Trotzdem schritt man am 27. September 1919

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zu einer Art Vorgründung des Kulturrates . Aber weil kein Rück­halt in den entsprechenden kulturellen Institutionen bestand, führte diese Grün­dung nicht weiter und versandete. Daran änderten auch Wiederbelebungsversu­che im folgenden Jahr nichts. Am 1. Oktober 1920 sagte Rudolf Steiner rück­blickend zu seinen studentischen Zuhörern in Dornach (in GA 217a): «Es wird ihnen ja vielleicht bekannt sein, daß dieser ganze Kulturrats-Aufruf mit all sei­nen guten Intentionen einfach Makulatur blieb, daß sich eigentlich im Grunde genommen niemand gefunden hat, der für ein freies Geistesleben aus dem Kreise der geistigen Arbeiter hat eintreten wollen.» Die Dokumentation der Bestrebun­gen für die Gründung eines Kulturrates sind für GA 330a vorgesehen.

103 Studienabend: Für den ersten Studienabend versammelten sich die Teilnehmer in der Champignystrasse 17 (heute Heinrich-Baumann-Straße). In diesem Haus war die Geschäftsstelle des Dreigliederungsbundes untergebracht.

was hier eigentlich eingerichtet werden soll als Studienabend: Gerade im Zusam­menhang mit der intensiven Propagandaarbeit für die Verwirklichung der Drei­gliederungsidee im Frühjahr 1919 entstand das Bedürfnis nach einer Vertiefung der Dreigliederungsidee. Diesem Bedürfnis versuchte der Dreigliederungsbund Rechnung zu tragen. So wurde am 17. Juli 1919 den Teilnehmern des siebenten Diskussionsabends mit den Arbeiterausschüssen mitgeteilt (in GA 331), daß beabsichtigt sei, Die Kernpunkte der Sozialen Frage> gründlich besprochen werden solL»

Pierre-Joseph Proudhon, 1809-1865, französischer Sozialreformer. Ursprünglich Schriftsetzer von Beruf, eignete sich Proudhon durch Selbststudium ein umfas­sendes Wissen an. Die bestehende Gesellschaftsordnung lehnte er als sozial ungerecht ab. Er kritisierte das geltende Figentumsunrecht, wobei er den Grundsatz des Privateigentums an sich nicht in Frage stellte. Er forderte nur eine gleichmäßigere Verteilung der Produktionsmittel zulasten des industriellen Großeigentums und zugunsten einer Vielzahl von Kleinproduzenten, die ihre mit eigenen Arbeitsinstrumenten produzierten Waren an einer Tauschzentrale gegen Tauschbons abliefern sollten. Diese Tausehbons sollten zum Bezug gleichwertiger Waren berechtigen, wodurch die üblichen Handelsspannen ent­fallen würden. Dieses im Grunde auf Naturaltausch beruhende System der öko­nomischen Gegenseitigkeit nannte Proudhon «mutualisme». Seine neue Gesell­schaftsordnung wollte er als überzeugter Anarchist ohne Staatsmacht errichten, da der Staat seiner Auffassung nach die Freiheit der Menschen unterdrückte. Nach der Februarrevolution war er von 1848 bis 1849 Mitglied der französi­schen Nationalversammlung, wo er wegen seines offenen sozialistischen Be­kenntnisses zur bevorzugten Zielscheibe der gegenrevolutionären Kräfte wurde. Nach dem Staatsstreich von Louis Napoléon wurde ihm ab 1851 jede öffentliche Tätigkeit verunmöglicht, zeitweise mußte er sogar ins Exil.

Charles Fourier, 1772-1837, französischer Sozialreformer. Ursprünglich aus gut­bürgerlichen Verhältnissen stammend, aber schließlich verarmt und als Handels­vertreter sich durchs Leben bringend, konnte er sich erst im späteren Alter ganz der politischen Schriftstellerei widmen. Er vertrat die Idee einer Neuordnung des Staates durch die Bildung einer Vielzahl von autarken, agrarisch Orientierten Produktionsgenossenschaften, den sogenannten «phalansté res». Die Phalanstéres

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sollten ungefähr 1600 bis 2000 Mitglieder umfassen und die zu leisten-dc Arbeit sollte nach den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten verrichtet werden. Das bedeutete nicht nur häufigen Wechsel der Beschäftigung - zur Vermeidung der Langeweile -, sondern auch die Ermöglichung einer koopera­tiven Produktionsweise. Das grundsätzliche Privateigentum an den Produkti­onsmitteln wollte Fourier jedoch nicht antasten. Entsprechend der Bildung von Phalanste'res empfahl er auf gesellschaftlicher Ebene die Gründung von soge­nannte «familistéres» - familiären Lebensgemeinschaften aus etwa 300 Familien bestehend. Aber trotz seinen intensiven Bemühungen fand sich niemand der bereit gewesen wäre, seine abstrakt-utopischen Ideen zu verwirklichen.

103 Louis Blane, 1811-1882, französischer Sozialist. Als Journalist mit den unwür­digen Lebensverhältnissen der Arbeiterschaft konfrontiert, forderte er soziale Reformen durch staatliche Eingriffe. Ihm schwebte die Errichtung von staatlich geforderten «ateliers sociaux» in Form von Arbeiter-Produktionsgenossenschaf­ten vor. Als überzeugter Sozialist und Republikaner genoß Louis Blanc die Unterstützung der Pariser Arbeiterschaft, die in der Februarrevolution von 1848 seine Aufnahme in die provisorische Regierung erzwangen; die damals verwirk­lichten und schließlich auch gescheiterten «ateliers nationauz» entsprachen aber nicht seinen Vorstellungen. Nach dem Einsetzen der Repression lebte Louis Blanc im Exil und kehrte erst 1870 wieder nach Frankreich zurück. Von 1871 bis zu seinem Tode wirkte er als Führer der radikalen republikanischen Gruppie­rung in der französischen Nationalversammlung beziehungsweise im französi­schen Abgeordnetenhaus.

104 das Zeitalter der sozialen Utopien: Karl Marx und Friedrich Engels bezeichneten die englischen und französischen Frühsozialisten abwertend als

Claude Henri de Rouvroy Gomte de Saint-Simon, 1760-1825, französischer Sozialphilosoph. Aus alter, vornehmer Adelsfamilie stammend, widmete er sich vor allem seinen ideellen Interessen. Er strebte die Begründung einer umfassen­den, positiven Wissenschaft vom Menschen und der Gesellschaft an. Das Grundproblem der sich herausbildenden modernen Gesellschaft - der industri­ellen Gesellschaft - lag für ihn im Gegensatz zwischen den müßigen Menschen und den produktiv Tätigen. Zu den ersteren zählte er die Adeligen, die Groß­grundbesitzer, die Priester und die Beamten und zu den letzteren die Unterneh­mer und die Arbeiter. Zwischen Kapital und Arbeit sah er keinen Gegensatz, aber er beklagte das Elend der Arbeiter und machte es den Unternehmern zur Pflicht, für das Wohl ihrer Arbeiter zu sorgen. In einer Art moralisch-religiöser Rückbesinnung - orientiert an den christlichen Grundwerten - sah er den Weg zur Lösung der Sozialen Frage beschritten. Wesentlich radikalere Forderungen stellten die Schüler von Saint-Simon, Barthélemy Enfantin (1796-1864) und Saint-Amand Bazard (1791-1832). Sie begründeten die Bewegung der Saint-Simonisten,

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die in der Wirtschaft den Grundsatz der Assoziation an die Stelle des Prinzips der Konkurrenz setzen wollten. Der Staat sollte in eine Assoziation von Werktätigen umgewandelt werden;

106 Karl Marx, 1818-1883, deutscher Sozialrevolutionär. Aus bürgerlichen Verhält­nissen stammend, hatte er zunächst Rechtswissenschaft studiert. Zeitweise war er als Journalist tätig, arbeitete aber hauptsächlich als Privatgelehrter, der sich intensiv mit sozialen Fragen und der richtigen gesellschaftspolitischen Praxis auseinandersetzte. In diesem Zusammenhang begründete er den sogenannten «wissenschaftlichen Sozialismus« - eine Weltanschauung, die heute unter dem Namen «Marxismus« weltweit bekannt ist. Von 1843 bis 1848 und von 1849 bis zu seinem Tode lebte er in Frankreich, Belgien und England im Exil. Er war maßgeblich an der Ersten «Internationalen Arbeiterassoziation« (1864-1876) beteiligt. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften und Bücher, zum Teil in Zusam­menarbeit mit dem ihm befreundeten Friedrich Engels. Siehe auch Hinweise zu S.108 und S.273.

Man kann in dem Leben von Karl Marx eine ganze Anzahl von Epochen schil­dern: In seinen jungen Jahren, vor allem während des Studiums in Berlin, befand sich Marx in den Reihen der Junghegelianer. Die Kritik an Hegels Anschauung führte ihn zum philosophischen Materialismus. 1843 nach Frankreich übergesie­delt, lernte er die Ideen der französischen Frübsozialisten kennen. Sie ließen ihm den Kommunismus als erstrebenswerte Gesellschaftsordnung erscheinen. Seit 1849 lebte er in London im Exil, wo er die soziale Praxis des industriellen Kapitalismus am Lehrbeispiel England studieren konnte. Dies führte ihn zur Uberzeugung, daß es nicht auf individuelle soziale Reformen ankam, sondern daß das kapitalistische System naturnotwendig in sich den Keim zu seinem Untergang trug, so daß es einzig nötig war, das ganze System wissenschaftlich zu durchdringen. Im Dornacher Mitgliedervortrag vom 22. November 1918 (in GA 185a) wies Rudolf Steiner darauf hin, daß Karl Marx auf diese Weise «in einer großartigen Weise durchgegangen war durch modernes Denken, Fühlen und Wollen».

sein Freund Engels: Friedrich Engels (1820-1895), deutscher Sozialrevolutionär. Aus einer Industriellenfamilie stammend, ergriff er den Beruf eines Kaufmanns und sah sich deshalb schon früh gezwungen, sich mit der elenden sozialen Lage der Arbeiterschaft - gerade auch in England - auseinanderzusetzen. Schon als junger Mann begeisterte er sich für die Ideen des Kommunismus. Mit Karl Marx verband ihn eine lebenslange Freundschaft, die zeitweise zu einer intensiven ideellen und politischen Zusammenarbeit führte. Nach allen möglichen Versu­chen, in Mittel- und Westeuropa für den Sozialismus zu wirken, ließ sich Engels 1850 endgültig in England nieder. Dort wirkte er zunächst an der Leitung seines Familienunternehmens mit. 1870 zog er sich von seiner wirtschaftlichen Tätig­keit zurück und widmete sich eigenen wissenschaftlichen Arbeiten. Nach dem Tode von Marx wurde Engels als autorisierter Herausgeber und Interpret der Arbeiten von Marx zum unbestrittenen Führer der deutschen Sozialdemokratie; er war der theoretische und politische Lehrer von Wilhelm Liebknecht, August Bebel, Eduard Bernitein und Karl Kautsky.

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108 Kommunistische Manifest: Das von Karl Marx und Friedrich Engels verfaßte, aber zunächst anonym veröffentlichte «Manifest der Kommunistischen Partei» erschien erstmals 1848 in Paris, wenige Tage vor Ausbruch der Februarrevolu­tion, die zum Sturz der Monarchie in Frankreich führte. Zunächst noch von geringem Einfluß, entwickelte es sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts zur auflagenstärkaten Werbebroschüre der sozialdemokratisch - das heißt marxistisch - ausgerichteten Parteien. Ausgehend von einer materialisti­schen Geschichtsauffassung, wurde die ganze bisherige Geschichte als Geschich­te von Klassenkämpfen gedeutet, die gesetzmäßig zu einer Befreiung des Prole­tariats aus den herrschenden kapitalistischen Unrechtsverhältnissen führen wür­de. Das «Kommunistische Manifest« schloß mit dem Kampfruf: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!»

109 «Evangelium eines armen Sünders» von Weitling: Wilhelm Weitling (1808-1871), deutscher Frühanzialist. In elenden Verhältnissen aufgewachsen und von Beruf Damenachneider, begab sich Weitling 1826 auf die traditionelle Wander­schaft. 1835 kam er nach Paris und schloß sich dem 1834 von deutschen Emi­granten gegründeten «Bund der Geächteten» an. Als er 1837 wieder nach Paris zurückkam, war daraus der «Bund der Gerechten» entstanden; Weitling war bald Mitglied der Zentralbehörde dieses Bundes und formulierte 1838 dessen Programm und damit zugleich seine erste Schrift:

Das ist Weitlings Überzeugung, daß man etwas anfangen könne mit dem guten Willen der Menschen: In der Einleitung zu seiner Schrift »Das Evangelium eines armen Sünders« schrieb Wilhelm Weitling:« Kommt alle her, die Ihr arbeitet! Arm, verachtet, verspottet und unterdrückt seid! Wenn Ihr Freiheit und Ge­rechtigkeit für alle Menschen wollt: dann wird dies Evangelium Euren Mut von neuem stählen und Eure Hoffnung frische Blüten treiben. Dann wird es die bleichen Wangen der Sorge wieder färben und in das Auge des Kummers einen schönen Strahl der Hoffnung werfen. Die entmutigten schwachen Herzen wird es stärken und in das Hirn des Zweiflers die Macht der Überzeugung gießen. Auf der Stirn des Verbrechers wird es den Kuß der Verzeihung drücken und die

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finstern Wände seines Kerkers mit einem Schein der Hoffnung lichten. Den

Mammonszauber wird es dann vernichten und dem Heer der Armen und der

Sünder das Reich der Freiheit laut verkünden. Den Glauben wird es aus seinem

Irrtum reißen, die Bahn der Hoffnung lichten und der Liebe und der Freiheit

Glut in aller Sünder Herzen schütten. So geschehe es!»

110 Ferdinand Lassalle, 1825-1864, deutscher Sozialistenführer bürgerlicher Her­kunft. Nach dem Studium vor allem der Philosophie, war er zunächst als Anwalt für die Gräfin Sophie von Hatzfeldt tätig, deren acht Jahre dauernde und sich in 36 Prozessen hinziehende Ehescheidung er 1854 erfolgreich abschließen konnte. Danach wirkte er als politischer Agitator für die Sache der Arbeiterschaft. Be­reits 1845 hatte er in Paris die Lehre des französischen Sozialisten Lnuis Blanc kennengelernt und in der Revolutionszeit von 1848/49 war er Mitglied des von Marx inspirierten «Bundes der Kommunisten«. Von 1854 an lebte er in Berlin und beschäftigte sich mit philosophischen Arbeiten, über die er auch mit Marx und Engels korrespondierte. 1862 hielt Lassalle vor dem Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt einen Vortrag <Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geachichtaperiode mit der Idee des Arbeiterstandes», der dann als «Arbeiterprogramm» veröffentlicht wurde und unter der Arbeiterschaft große Beachtung fand. Eine anschließend von Lassalle gesuchte Verständigung mit Marx und Engels über das weitere politische Vorgehen der deutschen Arbei­terbewegung kam nicht zustande. Von Leipziger Arbeitern gebeten, sich ihrer Sache anzunehmen, begründete er 1863 den

Lassallescher Sozialismus: Als Endziel schwebte Lasaalle eine sozial und poli­tisch gerechte, kommunistisch gestaltete Gesellschaftsordnung vor, die nicht nur die Befreiung des Proletariats aus sozialer Ausbeutung und Verelendung, son­dern die Befreiung der gesamten Menschheit überhaupt mit sich bringen würde. Seine hauptsächlichen Programmpunkte auf dem Weg zur Verwirklichung die­ses Idealzieles waren: die Schaffung einer eigenen, vom Bürgertum getrennten Organisation der Arbeiterschaft, die Einführung eines allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts sowie die staatliche Unterstützung für die Einrichtung von Arbeiter-Produktivassoziationen. Diese Ziele glaubte Lassalle durch einen Ap­pell an die Einsicht und das Rechtsempfinden der Menschen erreichen zu kön­nen. Er war überzeugt, schrittweise, auf friedlichem und legalem Wege über den Staat eine sozial und politisch gerechte Ordnung schaffen zu können.

111 Viktor Adler, 1852-1918, deutschösterreichischer Sozialistenführer. Aus groß-bürgerlicher Familie stammend, hatte er Medizin studiert und war als Armen-arzt in Wien tätig. Ursprünglich war er Mitglied des Deutachnationalen Vereins von Georg von Schönerer, trennte sich aber wieder von ihm wegen des zuneh­menden Antisemitismus und schloß sich 1883 der «Sozialdemokratischen Arbei­terpartei Oaterreichs» an. Für ihn prägend wirkte sich die persönliche Begeg­nung mit Bebel und Engels anläßlich einer Reise durch Deutschland und Groß­britannien aus. Sein eigentliches Lebenswerk war der Aufbau einer vereinigten

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sozialdemokratischen Partei in Österreich. Auf dem «Hainfelder Parteitag», der um die Jahreswcnde 1888/89 stattfand, gelang es ihm, die verschiedenen radika­len und gemäßigten sozialistischen Gruppierungen in der «Sozialdemokrati­schen Partei Österreichs» (SPÖ) zusammenzufassen, und als österreichischer Vertreter einer einheitlichen sozialistischen Partei war er auch maßgeblich an der Gründung der II. Internationale auf dem Pariser Kongreß von 1889 beteiligt. Unter dem Vorsitz von Adler entwickelten die österreichischen Sozialdemokra­ten eine ihnen eigene Sonderform des Marxismus; sie vertraten ein den beson­deren Verhältnissen des Vielvölkerstaates angepaßtes, evolutionäres Konzept für eine umfassende Sozialreform. Diese Richtung legten sie im sogenannten Brün­ner Nationalitätenprogramm von 1899 nieder, in dem sie als eines der Ziele ihrer Politik die Umwandlung Osterreich-Ungarns in einen demokratischen, auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhenden Nationalitäten-Bundesstaat forderten, gebil­det aus - den Sprachgrenzen angepaßten - Selbatverwaltungskörpern mit gesetz­lichem Minderheitenschutz. Adler war auch der Begründer und Hauptachriftlei­ter der «Arbeiter-Zeitung«, des offiziellen Parteiorgans der österreichischen So­zialdemokratie. Von 1905 bis 1918 war er Mitglied des Abgeordnetenhauses, der zweiten Kammer des österreichischen Reicharates. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie im Jahre 1918 nahm er nicht nur als ehemaliger deut­scher Reicharatsabgeordneter Einaitz in die provisorische Nationalversammlung der Republik Deutschösterreich, sondern er wurde auch in die provisorische Regierung gewählt. Als Staatssekretär des Äußern vertrat er nachdrücklich den Anschluß Deutschöaterreichs an das Deutsche Reich. Ein Tag nach seinem Tod, am 12. November 1918, kam schließlich ein entsprechendes Votum der proviso­rischen Nationalversammlung zustande, aber in den Friedensverträgen von Ver­sailles und St. Germain-en-Laye wurde ein solcher Anschluß untersagt. Rudolf Steiner hatte Viktor Adler in Wien persönlich kennengelernt. In VIII. Kapitel von «Mein Lebenagang» (GA 28) berichtete er über seine Begegnung mit Adler:

«Ich lernte Viktor Adler kennen, der damals der unbestrittene Führer der Sozia­listen in Österreich war. In dem schmächtigen, anspruchalosen Mann steckte ein energischer Wille. Wenn er am Kaffeetisch sprach, hatte ich stets das Gefühl: der Inhalt dessen, was er sage, sei unbedeutend, alltäglich, aber so spricht ein Wille, der durch nichts zu beugen ist.»

111 Engelbert Pernerstorfer, 1850-1918, deutschösterreichischer Sozialist. In eine Handwerkersfamilie hineingeboren, wuchs er als Halbwaise in ärmlichen Ver­hältnissen auf, konnte aber trotzdem das Gymnasium besuchen, und beendete seine Studien als Gymnasiallehrer. Er war ein Jugendfreund von Viktor Adler und war politisch und sozial engagiert. Wie diesem stand für ihn anfangs die deutachnationale Idee im Vordergrund, und er wurde zunächst Mitglied des Deutachnationalen Vereins Georg von Schönerers, von dem er sich aber bereits 1883 wegen dessen Antisemitismus trennte. Von 1885 bis 1897 und von 1901 bis

1918 war er Mitglied des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reicharates, zunáchst als unabhängiger Abgeordneter, seit 1896 als Mitglied der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei Österreichs. Seit 1907 führte er deren Fraktion im Reichsrat und vertrat dort die deutsehnationale Richtung der österreichischen Sozialdemokratie. Pernerstorfer war Mitredaktor an der Wiener «Arbeiter-Zei­tung« und auch maßgeblich an der Gründung und Entwicklung von sozialde­mokratischen Bildungs- und Kultureinrichtungen in Wien beteiligt. Rudolf Stei­ner kannte Pernerstorfer persönlich. In VIII. Kapitel von «Mein Lebenagang» (GA 28) berichtete er von seinem Eindruck: «Eine starke Persönlichkeit von

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umfassenden Wissen. Ein scharfer Kritiker der Schäden des öffentlichen Lebens Er gab damals eine Monatsschrift

111 Wilhelm Liebknecht, 1826-1900, deutscher Sozialistenführer, aus bürgerlicher Gelehrtenfamilie stammend. Nach dem Studium der Philologie und Philosophie war er für kurze Zeit als Lehrer tätig. Von radikaler republikanischer Gesin­nung, beteiligte er sich an den beiden bewaffneten Aufständen in Süddeutsch­land von 1848 und 1849. Nach deren endgültigen Niederwerfung flüchtete er ins Ausland und wurde schließlich 1850 nach England abgeschoben. In London lernte er Karl Marx und Friedrich Engels persönlich kennen. Nach allgemeiner Amnestie kehrte er 1862 nach Deutschland zurück, wo er als Journalist tätig war; 1865 wurde er wegen seiner sozialdemokratischen Agitation aus Preußen ausgewiesen. In Sachsen gründete er zusammen mit August Bebel 1866 die so­zialistische «Sächsische Volkapartei«; 1867 wurde er als deren Vertreter in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt. Um ein Gegengewicht zu den Ideen der Lasaalleaner zu schaffen, gründete er 1869 - wiederum zusammen mit August Bebel - in Eisenach die marxistisch ausgerichtete «Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands». 1872 wurde er wegen Hochverrat verurteilt - er hatte sich gegen den preußischen Militariamus gestellt - und verbrachte zwei Jahre in Festungshaft. 1874 wurde er in den Reichstag gewählt, dem er - auch in der Zeit des Sozialiatengesetzes von 1878 bis 1890 - bis zu seinem Tode angehörte. In der Partei und in der Reichstagsfraktion spielte er eine führende Rolle; er war nicht nur an der Eingliederung der Lasaalleaner in die Partei maßgeblich beteiligt, sondern wirkte auch für die internationale, marxistische Ausrichtung der deutschen Sozialdemokraten. 1889 präsidierte er den Grün­dungskongreß der II. Internationale in Paris; 1891 wurde er zum zweiten Vor­sitzenden der Sozialdemokratischen Partei gewählt; neben Bebel war er der zweite große Führer der deutschen Sozialdemokratie. Rudolf Steiner hatte inso­fern eine Beziehung zu Liebknecht, als er eine Zeitlang an der von ihm gegrün­deten Arbeiterbildungsachule als Lehrer tätig war (siehe Hinweis zu S. 40). Anläßlich des Todes von Liebknecht wurde Rudolf Steiner gebeten, einen geeig­neten Text für die Schleife des von der Arbeiterbildungsachule gestifteten Kran­zes zu verfassen. Und so schrieb Rudolf Steiner den Spruch (in GA 40, Kapitel «Widmungasprüche»): «Daß aus Arbeit wachsen Wurzeln starker Willenskraft, / Hat er uns gewiesen auf den Pfad der Wissenschaft.«

Ignaz Auer, 18461907, deutscher Sozialist. In ärmlichen Verhältnissen aufge­wachsen und von Beruf Sattler, schloß sich als Wandergeselle der sozialistischen Arbeiterbewegung an. Seit 1874 war er in Hamburg als lokaler Parteisekretär in der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht begründeten marxistischen marxistischen «Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands» tätig. Von 1877 bis 1878 und 1880 bis 1888 nahm er als Vertreter der nun seit 1875 vereinigten «Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands» Einsitz in den Reichstag. Auch wenn das Sozialistengesetz alle Vereine mit sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen Bestrebungen verbot, konnte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion weiterarbeiten. 1890 wurde Auer erneut Reichstagsmitglied und wirkte neben Bebel, Liebknecht und Singer im Vorstand der «Sozialdemokratischen Partei Deutschlands» mit. In den letzten Jahren seines Lebens bekannte sich Auer zum Revisionismus von Eduard Bernstein.

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111 August Bebel, 1840-1913, deutscher sozialistischer Parteiführer. Von Beruf Drechsler, kam Bebel als Wandergeselle nach Leipzig, wo er sich der von Las­salle geprägten sozialistischen Arbeiterbewegung anschloß. Durch die Freund­schaft mit Wilhelm Liebknecht entwickelte er sich zu einem Anhänger der Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels, die er 1880 in London persönlich kennen­lernte. Die Zusammenarbeit mit Liebknecht führte zunächst zur Gründung einer sozialistischen Regionalpartei, der «Sächsische Volkapartei», als deren Ver­treter er 1867 in den Norddeutschen Reichstag gewählt wurde. Ebenfalls auf ihn und Liebknecht geht die Gründung der marxistisch orientierten

Paul Singer, 1844-1911, deutscher Sozialist. Als Inhaber einer Damenmäntelfa­brik - zusammen mit seinem Bruder - setzte er sieh schon als junger Mann für die Anliegen der Arbeiterschaft ein; er war Mitbegründer des Berliner demokrati­schen Arbeitervereins. Er gehörte zu den Mitinitiatoren des Eisenacher Kongres­ses und schloß sich von allem Anfang der dort begründeten vereinigten «Sozial­demokratischen Arbeiterpartei» an. In der Zeit der Sozialistengesetze bemühte er sich sehr, das Überleben der sozialdemokratischen Parteiorganisation zu sichern. Bereits 1884, noch vor der Aufhebung der Sozialistengesetze von 1890, wurde er als Mitglied der «Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands» in den Reichstag gewählt, wo er als Parlamentarier bis zu seinem Tode eine bedeutende Rolle spiel­te. Seit 1885 war er Mitglied des Parteivorstandes und wurde 1890 neben August Bebel zum zweiten Vorsitzenden der nun umbenannten «Sozialdemokratischen

Partei Deutschlands» gewählt. In dieser Eigenschaft leitete er zahlreiche Parteitage. In der Auseinandersetzung um den theoretischen Kurs der Partei verteidigte er die Position von August Bebel und Karl Kautsky gegen den Revisionismus von Eduard Bernstein. Trotz antisemitischer Hetze genoß Singer eine große Popularität unter den deutschen Arbeitern; er zählte zu den bedeutendsten Politikern der deutschen Sozialdemokratie im Kaiserreich. Rudolf Steiner hatte Paul Singer auch persönlich erlebt. Im Vortrag vom 25. April 1919 im Stuttgart sagte er den Arbeitern der Daimler-Werke (in GA 330): «Ich habe vor vielen, vor reichlich 27 oder 28 Jahren einmal eine Versammlung mitgemacht, in der Paul Singer gesprochen hat. Da haben einige Menschen aus dem Proletariat irgendwie bemerklich gemacht, daß sie geistige Arbeit nicht gleich der physischen Arbeit schätzen. Da hätte man hören sollen, wie Paul Singer in Gemeinschaft mit der überwiegenden Majorität die geistige Arbeit in Schutz genommen hat.»

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114 die Programme des Gothaer, des Eisenacher Parteitages: Ende der sechziger Jah­re gab es in Deutschland zwei konkurrierende Arbeiterparteien: den «Allgemei­nen Deutschen Arbeiterverein» (ADAV) und die Das Eisenacher Programm von 1869 ging im wesentlichen auf August Bebel zurück. Es stimmte zwar in bezug auf die Grundsätze mit den von Karl Marx verfaßten Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation überein, aber die beigefügten «nächsten Forderungen» waren auch von den Ideen Laasalles beein­flußt. So wurde zum Beispiel die Forderung aufgestellt: »Staatliche Förderung des Genosaenschaftswesens und Staatskredit für freie Produktivgenossenschaf­ten unter demokratischen Garantien.» Der ideelle Einfluß Lassalles zeigte sich aber besonders im Gothaer Programm, das von Wilhelm Liebknecht entworfen worden war und gegen die Bedenken von August Bebel vom Parteitag angenom­men wurde. In diesem Programm hieß es über die Ziele der Sozialistischen Ar­beiterpartei Deutschlands:

die Hauptforderun gen des Erfurter Parteitages: Auf ihrem Parteitag in Erfurt, der 1891, ein Jahr nach dem Fortfall der Sozialiatengesetze, stattfand, verab­schiedeten die deutschen Sozialdemokraten ein neues, nun streng marxistisch ausgerichtetes Parteiprogramm, das sogenannte »Erfurter Programm»; im Jahr zuvor, auf dem Parteitag von Halle, hatten sie bereits ihren alten Parteinamen «Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands» (SAPD) in «Sozialdemokratische Partei Deutschlands« (SPD) umgeändert. Das Erfurter Programm war stark von den Ideen von Karl Marx geprägt und ersetzte das «Gothaer Programm» von 1875. Der erste, theoretische Teil des Programms war von Karl Kautsky entwor­fen worden und beinhaltete eine Analyse der Gesellschaft nach marxistischen Gesichtspunkten, die eine unaufhaltbare Verschärfung der Klassengegensätze wegen der Fortdauer der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse voraussagte. Und als Bedingung für die Überwindung der Ausbeutung nannte das Parteipro­gramm: «Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produk­tionsmitteln - Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeu­ge, Maschinen, Verkehrsmittel - in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung

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der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragafähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausge­beuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde.« Der von Eduard Bernatein verfaßte zweite Teil des Programms enthielt einen Katalog von Reformforderungen, die sich schon im Rahmen einer kapita­listischen Gesellschaftsordnung erfüllen ließen: Verwirklichung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechta, Einführung der direkten Gesetzgebung durch das Volk, Abschaffung des stehenden Heeres, Verwirklichung der Gleichberech­tigung der Frauen, Einführung des Achtstundentags, Verbot der Kinder- und Nachtarbeit. Dieses Programm krankte insofern an einem inneren Widerspruch, als auf der einen Seite die Unvermeidlichkeit einer Verschärfung der Gegensätze zwischen Kapitalisten und Proletariern festgestellt, auf der andern Seite aber nach Reformen gerufen wurde, die die Gegensätze abmildern sollten. 1921 wurde das «Erfurter Programm« durch das »Görlitzer Programm» ersetzt.

115 Denen wurde geantwortet von den anderen: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands empfand sich immer mehr als eine zwar im Grundsatz revolutio­näre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. So schrieb zum Beispiel der führende sozialdemokratische Parteitheoretiker Karl Kautsky 1893 in der Zeit­schrift «Neue Zeit« unter dem Titel «Sozialdemokratischer Katechismus»: «Wir wissen, daß unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können; wir wissen aber auch, daß es ebensowenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern. Es fällt uns daher auch gar nicht ein, eine Revolution anstiften oder vorbereiten zu wollen. Und da die Revolution nicht willkürlich gemacht werden kann, können wir auch nicht das Mindeste darüber sagen, wann, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen sie eintreten wird.» Mit einer solchen Anschauung im Hintergrund entwickelte sich die deutsche Sozialdemokratie immer mehr zu einer eigentli­chen Reformpartei.

116 Das sagt Engels in einer Einleitung: Friedrich Engels gab 1895 in Berlin die Arbeit von Karl Marx über «Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« neu heraus. Er verfaßte dazu eine Einleitung. In dieser schrieb er: «Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die >Revolutionäre>, die Um­stürzler, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den unge­setzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungaparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Sie rufen verzweifelt mit Odilon Barot: la légalité nous tue, die Gesetzlichkeit ist unser Tod, während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben.«

117 als die Revisionisten auftraten: Angesichts der reformistischen Praxis der deut­schen Sozialdemokraten entstand innerhalb der Partei die Forderung, auch die marxistische Theorie einer Kritik zu unterziehen und sie im Sinne der veränder­ten Praxis weiterzubilden. Ein herausragender Vertreter des Revisionismus war Eduard Bernstein. In seinem Buch «Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« (Stuttgart 1899) schrieb er: «So können die Irrtümer einer Lehre nur dann als überwunden gelten, wenn sie als solche von

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den Verfechtern der Lehre anerkannt sind. Solche Anerkennung bedeutete noch nicht den Untergang der Lehre. Es kann sich vielmehr herausstellen, daß nach Ablösung dessen, was für irrig erkannt ist - man erlaube mir die Benutzung eines Lassalleschen Bildes - es schließlich doch Marx ist, der gegen Marx recht behält.» Die Revisionisten konnten sich allerdings innerhalb der Sozialdemokra­tischen Partei Deutschlands nicht durchsetzen: Auf Betreiben des orthodox-marxistischen Parteizentrums unter August Bebel und Karl Kautsky wurden die revisionistischen Bestrebungen 1903 auf dem Parteitag von Dresden offiziell verurteilt.

117 Eduard Bernstein, 1850-1932, deutscher Sozialist, aus kleinbürgerlicher Familie. Von Beruf Bankbuchhalter, betrieb er nebenbei ein wissenschaftliches Selbststu­dium. 1872 trat er der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Von 1881 bis 1890 leitete er den «Sozialdemokrat«, das Parteiorgan der deutschen Sozialisten

- zunächst von Zürich aus, später, nach seiner Ausweisung aus der Schweiz im Jahre 1888, von London aus. Anschließend wirkte er als persönlicher Sekretär von Engels. Nach dessen Tod arbeitete er als Korrespondent und freier Schrift­steller. 1901 kehrte er - nach Aufhebung des politischen Steckbriefs - nach Berlin zurück und war von 1902 bis 1906 und 1912 bis 1918 Mitglied des Reichstags. Er war der maßgebender Führer des revisionistischen Flügels der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands; 1917 schloß er sich aber über die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft vorübergehend den Unabhängigen Sozialdemokraten an - er war gegen die deutsche Kriegabeteiligung eingestellt. Nach der Revolution kehrte er 1919 wieder in die alte Partei zurück. Von 1920 bis 1928 war er erneut sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag.

Und innerhalb der sozialistischen Partei waren das die zwei stark divergierenden Richti>ngen: die ausgesprochene Gewerkschaftspartei und die eigentliche politi­sehe Partei: Mit der Aufhebung der Sozialistengesetze im Jahre 1890 begann der eigentliche Aufstieg der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsbewe­gung in Deutschland. Gefördert wurde er durch den noch im gleichen Jahr erfolgten Zusammenschluß der «Freien Gewerkschaften», der verschiedenen zentralen Berufsverbände einzelner Branchen, zu einer gemeinsamen Dachorga­nisation, der «Generalkommission der Gewerkschaften in Deutschland». Ob­wohl grundsätzlich der sozialdemokratischen Weltanschauung und ihren Ziel­setzungen verpflichtet, geriet die Gewerkschaftsbewegung gegen Ende des Jahr­hunderts immer mehr in den Gegensatz zur politischen Partei, der Sozialdemo­kratischen Partei Deutschlands. So vertraten die Gewerkschaftsführer im Reichstag oft nicht die gleichen Ziele wie die Parteiführer. Die Gewerkschaften waren pragmatisch orientiert; sie verzichteten auf alle theoretischen Erörterun­gen und waren daran interessiert, durch kollektive Verhandlungen mit den Ar­beitgebern auf der Grundlage der herrschenden Staats- und Gesellschaftsord­nung Verbesserungen für die Arbeiterschaft herbeizuführen, zum Beispiel höhe­re Löhne, kürzere Arbeitszeiten. Die Partei hingegen richtete ihr Handeln mehr nach theoretischen Überlegungen aus. Sie wartete auf den Augenblick, wo das Proletariat durch den Gewinn der parlamentarischen Mehrheit die Macht im Staate übernehmen würde. Im Streit um das grundsätzliche Recht der Partei, die Richtlinien für die Politik aller Arbeiterorganisationen durchzusetzen, also eine Art Oberaufsicht über die Gewerkschaften auszuüben, konnten sich die Ge­werkschaften durchsetzen; 1906 wurden sie von der Partei als gleichberechtigte Arbeiterorgansiation anerkannt.

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118 namentlich zum Beispiel die Buchdrucker, die wiederum ein ganz anderes Sy­stem gewerkschaftlichen Lebens bis zum Extrem ausgebildet hatten: Dcr 1866 gegründete

119 Im Juli 1914 sind die Regierungen: Am 28. Juni 1914 wurde der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand ermordet; am 1. August erfolgte die deutsche Kriegserklärung an Rußland und am 3. August diejenige an Frankreich; am 4. August erklärte Großbritannien seinerseits dem Deutschen Reich den Krieg. Was sich in diesen Julitagen politisch abspielte - es sind die Geschehnisse der sogenannten Juli-Krise -, wurde von Rudolf Steiner an verschiedenen Orten ausführlich geschildert, so zum Beispiel in der Besprechung «Eine preisgekrönte wissenschaftliche Arbeit über die Geschichte des Kriegsausbruchs», veröffent­licht am 17. April 1917 in der Nr.193 des 62. Jahrgangs der

120 Und das ist versucht worden mit dem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Frage»: Das erste Kapitel der «Kernpunkte» (GA 23), überschrieben mit

daß die Menschen in den sozialistischen Parteien, die nicht schnell genug mitkommen

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können, diesem Buch Mißverständnis über Mißverständnis entgegen­bringen: Seine Erfahrungen mit den sozialistisch Denkenden und den entstande­nen Mißverständnissen beschrieb Rudolf Steiner verschiedentlich, zum Beispiel auch im Vortrag vom 13. Oktober 1921 (im GA 339), im Rahmen des Schweizer Rednerkurses: «Redet man heute zu einer Proletarierversammlung so, daß sie wenigstens die Terminologie verstehen kann - und das muß man anstreben -, dann wird man, insbesondere in der Diskussion bemerken, daß diejenigen, die diskutieren, nichts verstanden haben. Die anderen lernt man meistens nicht kennen, weil sie sich nicht an den Diskussionen beteiligen. Die nichts verstanden haben, beteiligen sich gewöhnlich nach solchen Reden an den Diskussionen. [...] Wenn sich nun jemand in der Diskussion hinstellt und glaubt reden zu können, so ist es ja meistens so, daß er einem antwortet, als ob man eigentlich gar nicht geredet hätte, sondern als ob irgend jemand geredet hätte so, wie man ungefähr als sozialdemokratischer Agitator vor dreißig Jahren in Volksversammlungen geredet hätte.» Und der Grund für dieses Verhalten ist: «Die Betreffenden hören selbst physisch nichts anderes, als was sie gewohnt sind, seit Jahrzehnten zu hören. Selbst physisch hören sie sonst nichts - nicht etwa bloß seelisch -, selbst physisch hören sie nur, was sie lange gewohnt sind. Und dann sagen sie: Ja, eigentlich hat uns der Vortragende gar nichts Neues gesagt!»

121 Unabhängigen Sozialisten oder die Mehrheitasozialisten oder die Kommunisten:

Die

122 die sozialistische Einheitsschule: Die Forderung nach einer Einheitsschule war eine Forderung nach einem einheitlichen Schulsystem für alle Kinder ohne Unterschied des Geschlechts und des Standes, und - bei radikalen Vertretern der Idee - sogar der Begabungen. Auch im Gedankengut der deutschen Sozialisten spielte die Idee der - staatlichen - Einheitsschule eine wichtige Rolle: alle Kinder sollten, unabhängig von allen Standes- und Klassensehranken, in einer einzigen, gemeinsamen Volksschule zur Schule gehen. In die Weimarer Verfassung fand der Einheitsachulgedanke insofern Eingang, als in Art. 146 der Weimarer Ver­fassung festgelegt wurde, als einheitliche Grundlage für das gesamte Schulwesen eine allgemeine, staatlich-öffentliche Grundschule einzuführen, die die ersten vier Schuljahre umfassen sollte. Die »Freie Waldorfachule», die 1919 von Emil Molt begründet worden war und unter der pädagogischen Leitung von Rudolf Steiner stand, war auch als eine Einheitsschule gedacht, aber sie verstand sich als

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betont «Die Hauptsache ist damit verbunden, daß die Waldorfschule wirklich eine demokratische Finheitaschule ist. Sie setzt Proletarierkinder neben Kinder aus den höchsten Ständen. Sie erfüllt in höchstem Maße etwas, was man demokra­tische Einheitsschule nennen kann.»

122 dieses Schicksal hat im wesentlichen dasjenige erfahren: Über die Haltung des Proletariats und seiner Führer gegenüber der Dreigliederungsidce hat sich Ru­dolf Steiner immer wieder geäußert. So zum Beispiel auch in der Mitgliederver­sammlung vom 27. Juni 1919 in Stuttgart (noch nicht veröffentlicht, vorgesehen für GA 330a): «Dann haben wir Tausende und Abertausende von Anhängern gehabt, die ihre Anhängerschaft mit Namen besiegelten durch die Zustimmung; wir hatten bei vielen Resolutionen eine große, große Stimmenzahl. Dann sind diejenigen, denen sich die Massen fügen aus den heutigen Zeitverhältniasen her­aus, ängstlich geworden, und da sich ihnen gezeigt hat: das ist keine Anthropo­sophie, sondern das sind Realitäten in den Köpfen und Seelen drinnen -, ver-schrieen sie es als Utopie, darum, weil die Führer der heutigen proletarischen Massen nicht selber proletarisch denken, sondern gerade die fürchterlichaten bürgerlichen Spießer sind.«

123 das Buch «Die Kernpunkte» rechnet voll damit, daß man heute nicht mehr im Sinne der Saint-Simon, Fourier, Proudhon und so weiter in Utopien sich bewegen kann: In seinen «Vorbemerkungen über die Absieht dieser Schrift» - gemeint sind die «Kernpunkte« - schrieb Rudolf Steiner (in GA 23): «Eine Anregung zu einem Wege nach sozialen Zielen, die der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit und Lebensnotwendigkeit entsprechen, möchte der Verfasser geben. Denn er meint, daß nur ein solches Streben über Schwarmgeisterei und Utopismus auf dem Gebiete des sozialen Wollens hinausführen kann. Wer doch etwas Utopistisches in dieser Schrift findet, den möchte der Verfasser bitten zu bedenken, wie stark man sich gegenwärtig mit manchen Vorstellungen, die man sich über eine mög­liche Entwickelung der sozialen Verhältnisse macht, von dem wirklichen Leben entfernt und in Schwarmgeisterei verfällt. Deshalb sieht man das aus der wahren Wirklichkeit und Lebenserfahrung Geholte von der Art, wie es in dieser Schrift dazustellen versucht ist, als Utopie an. Mancher wird in dieser Darstellung des­halb etwas >Abstraktes> sehen, weil ihm >konkret> nur ist, was er zu denken gewohnt ist, und >abstrakt> auch das Konkrete dann, wenn er nicht gewöhnt ist, es zu denken.«

Was mich anbetrifft, ich bin kein Marxist: In seinem Brief an Conrad Schmidt vom 5. August 1890 schrieb Friedrich Engels: «Auch die materialistische Gc­schichtsauffasaung hat deren heute eine Menge (fataler Freunde), denen sie als Vorwand dient, Geschichte nicht zu studieren. Ganz wie Marx von den franzö­sischen >Marxisten> der letzten siebziger Jahre sagte: »Tout cc que je sais, c'est que je ne suis pas marxiste. (Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin.)« Dieser Ausspruch von Marx war kein Einzelfall; öfters muß er gesagt haben:

«Was mich angeht, so bin ich kein Marxist.«

124 wir haben uns seit Wochen versammelt, um das> was wir Betriehsräteschaft nen­nen: Siehe Hinweis zu S. 26.

125 Als ich vorgestern in Mannheim gesprochen habe: Am 28. Juli 1919 hielt Rudolf

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Steiner in Mannheim einen öffentlichen Vortrag unter dem Titel

125 trat zuletzt ein Herr auf, der sagte: Das Votum dieses Diskussionsredners wurde nicht festgehalten, hingegen das Schlußwort Rudolf Steiners, wo er auch auf diese Meinungsäußerung zu sprechen kam: «Deshalb muß ich es auch heute ablehnen, wenn gesagt wird: Man braucht ja nicht eine neue Partei. - Die braucht man gewiß nicht. Wo das aus dem Vortrag zu entnehmen war, daß ich eine neue Partei will, das weiß ich wirklich nicht. Ich habe mein ganzes Leben so zugebracht, daß ich studiert habe die verschiedenen sozialen Verhältnisse in allen Kreisen und allen Gesellschaftslagen. Worin ich aber niemals gesteckt habe, das waren die Parteien. Und dessen bin ich froh. Und glauben Sie, daß ich jetzt am Ende meines sechsten Jahrzehnts mich selber in eine Partei hineinatecken möchte, nachdem ich sagte, was die Parteien eigentlich bewirkt haben, wohin sie unser politisches Leben gebracht haben? Ich appelliere an Verstand und Ver­nunft jedes einzelnen Menschen und nicht an Parteien.«

126 Es gibt ein Theaterstück: Näheres konnte nicht herausgefunden haben.

127 wenn gerade das als Vorrede in diesem Buche stehen würde: Für die vierte Auflage der «Kernpunkte», die im Dezember 1920 erschien, verfaßte Rudolf Steiner dann tatsächlich eine «Vorrede» (in GA 23), die er mit den Worten schloß: «Aus der Beobachtung des Lebens heraus sind die Ideen dieser Schrift erkämpft; aus dieser heraus möchten sie auch verstanden sein.«

128 Diktatur des Proletariats: Nach der marxistischen Anschauung setzt der Aufbau des Sozialismus die Diktatur des Proletariats - die Herrschaft der großen Mehr­heit der bisher Ausgebeuteten über die kleine Minderheit der bisherigen Aus­beuter - voraus, denn nur sie ermöglicht nach der politischen Machtergreifung durch das Proletariat auch eine ökonomische Entmachtung der Kapitalistenklas­se.

Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832.

Albrecht von Haller, 1708-1777. Er stammte aus Bern und hatte Medizin stu­diert. Ab 1736 lehrte er als Professor für Physiologie, Anatomie, Chirurgie und Botanik in Göttingen. Als Wissenschafter erwarb er sich ein großes internatio­nales Ansehen. 1753 kehrte er wieder nach Bern zurück. Haller, der auch als Dichter bekannt war, fühlte sich ganz dem Geist der Aufklärung verpflichtet.

Haller hatte das Wort geprägt Diese Verse finden sich im Lehrgedicht Falschheit menschlicher Tugenden. An Herrn Professor Stähelin», das Haller

1730 veröffentlicht hatte. Die zitierten Verse lauteten ursprünglich im Original:

Zu glücklich, wenn sie noch die äußere Schale weist.»

Das widerstrebte Goethe: Auf dieses Lehrgedicht antwortete Goethe im Beitrag «Freundlicher Zuruf» 1820 in der Zeitschrift

344

«Ins Innere der Natur - »

O du Philister! -

Mich und Geschwister

Mögt ihr an solches Wort

Nur nicht erinnern!

Wir denken: Ort für Ort

Sind wir im Innern. »

Glückselig, wem sie nur

Die äußere Schale weist!« 

Das hör ich sechzig Jahre wiederholen,

Ich fluche drauf, aber verstohlen;

Sage mar tausend tausend Male:

Alles gibt sie reichlich und gern;

Natur hat weder Kern

Noch Schale,

Alles ist sie mit einem Male.

Dich prüfe du nur allermeist,

Ob du Kern oder Schale seist!

129 Es wird die Gelegenheit zu einer Aussprache gegeben: Diese Gelegenheit schien von den Anwesenden kaum benutzt worden zu sein; jedenfalls gibt es keine entsprechende Nachachrift, und auch in den Notizbüchern Rudolf Steiners finden sich keinerlei Eintragungen, die auf eine Diskussion sehließen ließen.

130 ich habe schon einmal hier in diesem Kreise: Im Rahmen des sechsten Diskus­sionsabends mit den Arbeiteraussehüssen der großen Betriebe Stuttgarts vom 2. Juli1919 (in GA 331) kam Rudolf Steiner ebenfalls auf Lujo Brentano und seinen Unternehmerbegriff zu sprechen, und er charakterisierte dieses alte Den­ken: «Sehen Sie, dieses alte Denken ist ja nicht etwa bloß eine Summe von Gedanken, sondern es ist der Ausdruck für die Wirtschaftsordnung, die bisher bestanden hat und die durch die Weltkriegskatastrophe ihr Ende gefunden hat. Aber das, was die Leute dachten, das ragt noch in die neuere Zeit hinein und das ist dasjenige, was im Grunde genommen einmal gründlich aus den Köpfen entfernt werden muß.«

Lujo (eigentlich Ludwig Joseph) Brentano, 1844-1931, Bruder des Philosophen Franz Brentano. Studierte Volkswirtschaft und Recht, Orientierte sieh stark an den Lehren der historischen Schule. Er strebte eine Universitätslaufbahn an:

1871 Habilitation in Berlin, seit 1872 ordentlicher Professor für Volkswirtschaft, zunächst an verschiedenen Universitäten - Breslau, Straßburg, Wien, Leipzig -, bis er 1891 an die Universität München berufen wurde. 1872, endgültig 1873 begründete er zusammen mit Gustav von Schmöller und Adolph Wagner in Eisenach den »Verein für Socialpolitik«, der bis 1936 bestand. Dieser trat für eine reformerisch orientierte, staatliche Sozialpolitik ein, die auf eine Verbesse­rung der Lage der Arbeiterschaft zielte. Seine Mitglieder wurden von den poli­tischen Gegnern polemisch als »Kathedersozialisten« oder auch als «Gönner des Sozialismus» bezeichnet. Im Sinne der Zielsetzungen des Vereins versuchte Brentano immer wieder, auf politische Entscheidungen Einfluß zu nehmen. Er selber unterstützte die Gewerkschaftsbewegung; im Gegensatz zu den andern Mitgliedern des Vereins für Sozialpolitik versprach er sich von der Einführung eines allgemeinen Freihandels auch soziale Vorteile.

345

130 die Merkmale des Unternehmens zu charakterisieren: In der Zeitschrift «Das gelbe Blatt. Öffentliches Leben / Kunst / Theater / Literatur / Natur / Technik» Stuttgart 1. Jg. Nr.16 (1uli 1919) veröffentlichte Lujo Brentano einen Aufsatz zum Thema

131 Philipp von Heck, 1858-1943, deutscher Jurist. Zunächst Privatdozent in Berlin und Professor in Greifswald und Halle, wurde er 1901 auf den Lehrstuhl für deutsches Recht, Handelsrecht und bürgerliches Recht nach Tübingen berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1928 lehrte. Heck, der 1912 nobilitiert wurde, befaßte sich vorwiegend mit Rechtageschichte und Zivilrecht. Seine Lehre von der

132 einen langen Artikel geschrieben gegen die Dreigliederung: Professor Heck hatte unter dem Titel «Die Dreigliederung des sozialen Körpers» einen Aufsatz gegen die Dreigliederungsidee von Rudolf Steiners veröffentlicht. Er schrieb: »Der Hauptgedanke Steiners geht dahin, daß die Wirksamkeit unserer nach allgemei­nem Wahlrecht gewählten Volksvertretung und der aus ihr hervorgegangenen Regierung beschränkt werden soll, beschränkt auf die Erledigung reiner Rechts­fragen. Die bisherige Volksvertretung soll ein >Rechtaparlament> werden. Die Fragen des geistigen Lebens, der Kirchen- und Schulordnung, die wissenschaft­lichen Einrichtungen, andererseits die wirtschaftlichen Fragen, die Verhältnisse der Großindustrie, der Landwirtschaft, des Handels und Handwerks, ein­schließlich der Eisenbahn und Post sollen dem Rechtsparlament entzogen wer­den. Für diese beiden Lebenagebiete sollen zwei nach einem anderen Wahlrechte gewählte, besondere Volksvertretungen, das geistige und das wirtschaftliche Parlament, mit getrennter Gesetzgebung und Verwaltung eingerichtet werden. Jedes der drei Parlamente soll von beiden andern unabhängig sein, wie heute ein Staat von dem andern, so daß wir gleichsam drei Staaten auf demselben Gebiete erhalten. Das nennt Steiner >die Dreigliederung des sozialen Körpers>. [...] Stei­ner will, daß seine drei Parlamente voneinander unabhängig sind. Sie sollen miteinander verkehren, wie heute die Souveräne unabhängiger Staaten. Was bei einem solchen Verkehr herauskommt, das hat uns der Weltkrieg gezeigt. Auch bei den drei Parlamenten Steiners sind endlose Streitigkeiten zu erwarten, für deren Schlichtung niemand zuständig ist. [...] Nicht die Gliederung ist vom Übel, sondern das, was allein das Eigenartige bei Steiners Vorschlägen ist: die Betonung der Dreizahl und die gegenseitige Unabhängigkeit der drei Glieder, das Fehlen einer einheitlich leitenden Gewalt.»

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Dieser Aufsatz von Professor Heck erschien neben andern Arbeiten in der Nummer 1 der Halbmonatsschrift «Die Tribüne« vom 1. Juli 1919, die dem «Problem Steiner« gewidmet war. «Die Tribüne« war «eine Halbmonatsachrift für soziale Verständigung«, die in Tübingen erschien und von Gustav Seeger und Karl Lieblich herausgegeben wurde. Das Ziel dieser Nummer war - laut Schriftleitung: «Um dem großen Interesse am Steiner-Problem, das sich uns durch viele Zusendungen bekundet hat, Rechnung zu tragen, haben wir uns entschlossen, uns heute endgültig mit den Steinerschen Theorien auseinander­zusetzen.» Rudolf Steiner verfaßte auf briefliche Bitte von Karl Lieblich eine längere Entgegnung auf den Aufsatz von Heck: »Über die >Dreigliederung des sozialen Organismus>. Eine Erwiderung von Dr. Rudolf Steiner«. Steiners Antwort erschien in den Doppelnummern 3/4 vom 1. August 1919 und 5/6 vom 1. September 1919 (in GA 24). Die kritischen Einwände von Professor Heck in der »Tribüne» gegen Rudolf Steiner sind im Heft Nr. 106 der «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» dokumentiert.

133 Sie können den Unterschied studieren im freien und gebundenen Erobern: Über diese Frage hatte Rudolf Steiner 1904 an der Arbeiterbildungsachule im Rahmen seiner Vorträge über die Geschichte des Mittelalters eingehend gesprochen, so im Vortrag vom 1. November 1904 (in GA 51): «Jene anderen Völker, die in raschem Siegeszug sich Teile des Römischen Reichs unterworfen haben, die Goten, die Vandalen, verschwinden bald wieder völlig aus der Geschichte. Bei den Franken sehen wir ein mächtiges Reich sich über Europa ausdehnen. Wel­ches sind die Gründe hierfür? Um diese zu finden, müssen wir einen Blick auf die Art werfen, wie diese Stämme ihr Reich ausdehnen. Es geschah das in der Weise, daß ein Drittel bis zwei Drittel des Gebietes, in das sie eindrangen, unter die Eroberer verteilt wurde. So erhielten die Anführer große Ländergebiete, welche sie nun für sich bearbeiten ließen. Zur Arbeit wurde die unterworfene Bevölkerung benutzt, die zum Teil zu Sklaven oder Unfreien geworden waren. So machten es die Westgoten in Spanien, die Ostgoten in Italien. Sie können sich denken, daß dieses Verfahren unter den schon bestehenden Verhältnissen, wo die Bevölkerung auf einer höheren Kulturstufe lebte, große Schwierigkeiten fand und sich auf die Dauer nicht zu halten vermochte. Anders in Gallien. Dort gab es große Wälder und unbewohnte Landstriche. Auch hier verteilte man die er­oberten Gebiete, und den Anführern fielen große Teile zu. Man war hier nicht in schon bestehende Verhältnisse hineingedrängt; es war die Möglichkeit zur Ausdehnung gegeben. Die Führer wurden hier zu Großgrundbesitzern und Herrschern über die unterworfenen Volksstämme. Aber die Verhältnisse ermög­lichten es, daß dies ohne zu großen Zwang geschah. [...] Die vielen kleinen Fehden führten viele kleine Besitzer, die sich selbst nicht ausgiebig genug ver­teidigen konnten, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Mächtigeren. Sie gelob­ten Treue im Falle eines Krieges; andere traten Teile ihres Besitztums ab oder bezahlten dem Schutzherrn einen Zins. [...] Der Mächtige wurde der Lehens­herr, der andere Vasall. So bildeten sich auf natürlichste Weise der Welt gewisse Besitzverhältniase aus.»

134 Johannes Tetzel, um 1465-1519, studierte in Leipzig Theologie und schloß seine Studien mit dem Baccalaureua ab. 1489 trat er dem Dominikanerorden bei. In seinem bewegten Leben war er verschiedentlich bereits als Ablaßpredigere tätig gewesen, bis er 1517 zum »Generalsubkommiasar» des Mainzer Erzbischofs Albrecht II. »für die Predigt des Petersablasses in der Kirchenprovinz Magdeburg«

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ernannt; in seinen Ablaßpredigten traten Buße und Reue hinter dem In­teresse am Gelderlös zurück. Diese in der Gestalt von Tetzel verkörperte Ablaß-praxis bildete einen der Anlässe für Luthers reformatorisches Wirken und seine «95 Thesen» über die Kraft des Ablasses. < Im Ablaßstreit veröffentlichte Tetzel 1518 eine eigene Schrift unter dem Titel

135 Es herrscht heute vielfach die Ansicht, daß Ware aufgespeicherte Arbeit ist: Diese Ansicht wurde vor allem von den marxistisch ausgerichteten Sozialdemokraten vertreten. Sie beriefen sich dabei auf Karl Marx, der der Meinung war, daß der objektive Wert und damit der Preis eines Gutes durch die in ihm enthaltene geronnene Arbeitszeit bestimmt sei. Er nahm damit Bezug auf die vom engli­schen Nationalökonomen David Ricardo (1772-1832) entwickelte Arbeitawert­theorie - einer Sonderform der Produktionskostentheorie, die den Preis eines Gutes durch die Produktionskosten und nicht aufgrund von Angebot und Nachfrage erklärte.

138 Studienabend: Bis 1. Oktober 1919 fanden die Studienabende noch an der

Champignystraße statt. Ab 15. Oktober 1919 wurden sie ins Zweiglokal der

Anthroposophischen Gesellschaft, ins «Blaue Zimmer« an der Landhausstraße

70, verlegt.

Als wir jetzt vor zehn Monaten hier in Stuttgart begonnen haben: Der Frage-abend vom Sonntag, den 25. Mai 1919, hatte im Zweiglokal an der Landhaus-straße 70 stattgefunden.

den die Schreckensereignisse: Gemeint ist der Erste Weltkrieg und die sich anschließenden revolutionären Wirren in Mittel- und Osteuropa.

dieses Verständnis in einer genügend großen Anzahl von Menschen nicht hat hervorgebracht werden können: Ende Juli 1919 zeigte es sich, daß sich die Drei­gliederungabewegung als Volksbewegung nicht durchsetzen konnte, da sie im­mer mehr auf die geschlossene Abwehrfront linker und rechter Parteiführer stieß. Siehe auch Hinweise zu S. 168 und 171.

140 Und die verschiedenen Artikel, die in unserer Dreigliederungszeitung gekommen sind: In der Zeitschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus«, deren erste Nummer am 8. Juli 1919 erschien, veröffentlichte Rudolf Steiner zahlreiche Aufsätze zu gesellschaftspolitischen Fragen. Die ersten dieser Aufsätze, das heißt alle diejenigen des Jahres 1919, wurden von Rudolf Steiner im Oktober 1920 als Buch unter dem Titel «In Ausführung der Dreigliederung» herausgege­ben (in GA 24).

Deshalb müssen wir heute denken an unmittelbar praktische Unternehmen: In den folgenden Wochen und Monaten wurden zwei solche praktischen Unter­nehmungen begründet: am 13. März 1920 in Stuttgart die

Siegern: Gemeint sind die beiden hauptsächlichen Ententemächte Großbritan­nien und Frankreich.

348

142 der wird da finden gewisse Betrachtungen über die Organisation des Wirtschafts­lebens: Rudolf Steiner bezieht sich auf das zweite Kapitel der «Kernpunkte«, wo er über die Organisation des Wirtschaftslebens schrieb (in GA 23):

144 Gesetze der Entlohnung gestellt werden, wie sie zum Beispiel die heutige So­zialdemokratie für das Produzieren vertritt: Die Sozialdemokraten vertraten die gleiche Lohntheorie wie Karl Marx. Für ihn hatte die Arbeitskraft Warencharak­ter, und ihr Preis war bestimmt durch die zu ihrer Reproduktion nötige Arbeits­menge. Der von den Kapitalisten einbehaltene Mehrwert beruhte auf der Diffe­renz zwischen höherem Gebrauchawert und tieferem Tauschwert dieser Ar­beitsmenge. Die marxististische Lohntheorie leitete sieh von der von Marx grundsätzlich vertretenen Arbeitawerttheorie her. Siehe Hinweis zu S. 135.

145 in den Artikeln unserer Dreigliederungszeitung von den verschiedensten Ge­sichtspunkten aus heleuchteteten Vorgänge: Über «den Mangel eines persönli­chen Verhältnisses der Erzeuger zu ihren Erzeugnissen in der modernen Wirt­schaftsordnung« äußerte sich Rudolf Steiner zum Beispiel im Aufsatz

Karl Renner, 1870-1950, deutschösterreichischer Staatsmann. Trotz seiner ärm­lich-bäuerlichen Herkunft konnte er das Gymnasium besuchen. Nach dem Studi­um der Rechtawissenschaften war er von 1895 bis 1907 als Parlamentabibliothekar tätig. Er engagierte sich früh für die Belange der Arbeitet und wurde Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, wo er dem gemäßigten Flügel angehör­te. Fr trat nicht nur für einen födetativ-demokratischen Umbau der Donaumon­archie ein, sondern auch für eine Förderung der Selbsthilfeorganisationen der Ar­beiterschaft, zum Beispiel der Konsumgenossenschaften oder Kreditverbände. Seine Ideen legte er in einer ganzen Reihe von Schriften dar. 1907 wurde er als Sozialdemokrat ins Abgeordnetenhaus des österreichischen Reicharates gewählt. Nach dem Sturz der Monarchie wurde er 1918 als Abgeordneter deutscher Natio­nalität automatisch Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung; 1919 wählte man ihn in die Konstituierende Nationalversammlung von Deutschöster­reich. Gleichzeitig war er mit der Leitung der Regierungageschäfte für Deutsch-österreich betraut: vom Oktober 1918 bis März 1919 zunächst als Leitet der Staatskanzlei, vom März 1919 bis Juni 1920 als Staatakanzlet. Renner trat vorerst für einen Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich ein, führte dann aber die Überleitung Deutschösterreichs in eine eigenständige Republik durch. Als die So­zialdemokraten im Herbst 1920 von der Regierung verdrängt wurden, mußte er die Parteiführung an den radikaleren Otto Bauer abgeben. Er war zwar von 1920 bis 1934 Mitglied des Nationalrates, der einen Kammer des österreichischen Par­lamentes, widmete sich aber als Präsident der Arbeiterbank weitgehend Fragen der Wirtschaft und des Genossenschaftawesens. Im Zusammenhang mit den Bür­gerkriegsereignissen von 1934, die mit der politischen Ausschaltung der Sozialdemokraten

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durch den autoritär regierenden Bundeskanzler Engelbert Dollfuß en­deten, wurde er vorübergehend verhaftet, zog sich aber anschließend aus dem po­litischen Lehen zurück und blieb auch von den Nationalsozialisten unbehelligt, vermutlich weil er 1938 den Anschluß Österreichs an Deutschland öffentlich ge­billigt hatte. Als 1945 die sowjetische Rote Armee in Österreich einrückte, wurde Renner auf Wunsch von Stalin mit der Leitung der Provisorischen Staatsregierung betraut. Als vom April bis Dezember 1945 amtierender Staatskanzler verkündete er die Wiedererrichtung einer unabhängigen Republik Österreich. Im Dezember 1945 wurde er von der Bundeaversammlung zum ersten Bundespräsidenten ge­wählt - ein Amt, das er bis zu seinem Tode im Dezember 1950 bekleidete.

145 Solche Menschen wie Renner zum Beispiel haben es ja ausgesprochen, daß ferner nicht mehr geredet werden solle von dem «homo sapiens», sondern daß nur noch geredet werden könne von dem «homo oeconomicus»: In seiner Aufsatzsamm­lung «Osterreichs Erneuerung« (Wien 1916) schrieb Karl Renner im Kapitel «Das vorwaltende Interesse der Völker»:

152 ohne Zwangswirtschaft Moellendorfftcher Geschwätzigekeit: Wichard von Mo­ellendorff (1881-1937), studierte Maschinenbau und war zunächst als Ingenieur bei der »Allgemeinen Electricitäts-Gesellschaft» (AEG) tätig. 1914 entwickelte er für Walther Rathenau die Idee einer Rohstoffbewirtschaftung und wechselte zur Zentralbehörde für Kriegawirtschaft in Berlin. Aus dieser Zeit stammt seine Schrift über - einer Art Planwirtschaft mit Selbstverwaltung unter staatlicher Aufsicht -, die jedoch von der Weimarer Nationalversammlung abgelehnt wurde. Im Gefolge dieser Ablehnung trat er zusammen mit Wissell zurück. Seinen Plan veröffent­lichte er in der Schrift «Der Aufbau der Gemeinwirtschaft» (Berlin 1919). Nach seinem Rücktritt gehörte er verschiedenen Aufsichtsratsgremien an und war von 1923 bis 1929 als Direktor des Materialprüfungsamtes und des Kaiser-Wilhelm-Institutes tätig. Nach dem Freitod seiner jüdischen Frau nahm er sich drei Tage später selber das Leben. Als beispielhaft für den phrasenhaften Stil Moellendorffs kann folgender Abschnitt aus der Schrift «Deutsche Gemeinwirtschaft» gelten (Kapitel über «Erdwirtschaft»): «Deutschland kann und will als freier und starker Staat nach eigenem Bestimmungsrecht seine wirtschaftliche Laufbahn machen. Dazu braucht es weder sich in sportlichem Wettrennen zu verpuffen noch sich als Kutschpferd unter fremde Peitschen zu ducken noch als Kutscher fremde Pferde zu peitschen. Die gesamte Erdwirtschaft ist durch festere Bande als durch papierne Verträge aneinander gekettet, und es gilt nur den äußeren Zusammenbau der inneren Harmonie so enge wie möglich anzupassen. Jedes Land hat, wie die Physiker sagen, sein Potential - wie die Ethiker sagen, seinen Charakter - wie die Ästhetiker sagen, seinen Stil: erfüllt sich jedes Land in seinem angeboreren Beruf, so wird es zugleich mit weniger Reibung als bisher den ihm zugefallenen Platz und Wirkungsbereich erobern und behaupten.»

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154 Jetzt wird wiederum einmal eine Uneinigkeit entstehen zwischen Franzosen und Engländern: Während England alle seine Kriegsziele erreicht hatte, war der fran­zösischen Diplomatie weder die Vernichtung der deutschen Einheit noch die Gewinnung der Rheingrenze noch die Besetzung des Ruhrgebieta gelungen. So benutzte die französische Politik vor allem die unerfüllbaren Reparationaforde­rungen, dann auch die Entwaffnungsbestimmungen, um die ungelöst gebliebe­nen Fragen mit Deutschland in ihrem Sinne einer Lösung entgegenzuführen. Bei dieser Politik traf Frankreich auf den Widerstand Englands. Bereits auf der er­sten europäischen Konferenz, der Konferenz von London (12. Feburar bis 5. März 1920), zeichnete sich dieser Gegensatz ab. Am 6. April 1920 schritt Frank­reich - gegen den Willen Englands - zur eigenmächtigen Besetzung von Frank­furt und Darmstadt. England wurde aber auf der nächsten Konferenz, der Kon­ferenz von San Remo (18. bis 26. April 1920), durch wirtschaftliche Zugeständ­nisse in Vorderasien besänftigt.

Ottokar Graf Czernin von und zu Chudenitz, 1872-1932, aus böhmischem Hochadel, war von Beruf Jurist, trat 1895 nach dem Abschluß seiner Studien in den diplomatischen Dienst. Seit 1912 war er Mitglied des Herrenhauses im österreichischen Reichsrat. Er war politisch konservativ eingestellt und trat vor allem für die Interessen der Großgrundbesitzer ein. Im Dezember 1916 wurde er vom neuen Kaiser Karl 1. zum österreichisch-ungarischen Außenminister ernannt. Er rechnete - bei Fortführung des Krieges - mit einer Niederlage der Mittelmächte und bemühte sich um einen Verständigungsfrieden mit den En­tentemächten. Er machte mehrere Friedensangebote, lehnte aber jeden Separat­frieden unter Ausklammerung von Deutschland ab. Im April 1918 mußte er -auf deutschen Druck hin - wegen der sogenannten

in seinem Buche: Graf Czernin veröffentlichte 1919 in Wien seine Erinnerungen unter dem Titel »Im Weltkrieg«. Zu Czernin und seinem Buch äußerte sich Rudolf Steiner ausführlich in seinem Aufsatz »Es darf nicht neuer Czerninismus den alten ablösen», der am 3. Februar 1920 in der Wochensehrift »Dreigliede­rung des sozialen Organismus» (1. Jg. Nr.31) erschien (in GA 24).

160 Leiter der auswärtigen Ortsgruppen: Neben Stuttgart als dem Sitz des Bundes für Dreigliederung gab es in vielen deutschen Städten und Orten Ortsgruppen. Sie besaßen unterschiedlich viele Mitglieder und waren auch mehr oder weniger aktiv. Der Bund veröffentlichte von Zeit zu Zeit Listen der einzelnen Ortsgrup­pen mit den entsprechenden Ansprechpartnern.

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163 Fürst Peter Kropotkin (Pjotr Krapotkin), 1842-1921. Aus einer hochgestellten russischen Adelsfamilie stammend, trat er in das kaiserliche Pagenkotps ein, wo er zum Offizier ausgebildet wurde und zeitweise Zar Alexander II. (1855-1881) als persönlicher Page diente. Nach Beendigung seiner Offiziersausbildung leiste­te er fünf Jahre Dienst in Sibirien. Für seinen weiteren Lebensweg kennzeich­nend war sein Mitleiden am sozialen Elend der Unterschichten; schon als Knabe hatte er an der menschenunwürdigen Behandlung gelitten, die sein Vater den Leibeigenen der Familie zuteil werden ließ. Eine erste Reise nach Westeuropa brachte ihn in Berührung mit dem Sozialismus der Internationalen Arbeiteras­soziation; Kropotkin war aber von der Lauterkeit ihrer Führer enttäuscht. Die Begegnung mit anarchiatisch gesinnten Arbeitern aus dem Schweizer Jura ließ ihn zum überzeugten Vertreter dieser Anschauung werden. 1874 wurde er in Rußland wegen seiner Agitationstätigkeit verhaftet, konnte aber 1876 nach Westeuropa flüchten, wo er an wechselnden Orten in England, Belgien, Frank­reich und der Schweiz für die Idee einer neuen, auf dem Grundsatz der Gegen­seitgkeit beruhenden Gesellschaft ohne staatliche Autorität wirkte. Ihm schweb­te eine Gesellschaft vor, wo das Privateigentum durch das Gemeineigentum ersetzt und wo das Lohnprinzip durch das Bedürfnisprinzip abgelöst war. Im Aufbau von kollektiven Produktionagenossenschaften, die auf dem Gemeinei­gentum der Produktionsmittel beruhten, und im Grundsatz der gleichen Kon­sumtion sah er die hauptsächlichen Elemente einer zukünftigen Gesellschaft. Obwohl grundsätzlich gegen Gewalt eingestellt, wurde er der gewaltsamen Konspiration verdächtigt und verschiedentlich verhaftet und ausgewiesen. Kro­potkin betrat erst nach der Februarrevolution von 1917 wieder russischen Bo­den. Sein Einfluß blieb jedoch gering; seine Anschauung eines freiheitlichen, kommunistischen Anarchismus, der die Abschaffung des Staates anstrebte, konnte sich gegen den staatlich-autoritären Bolachwismus nicht durchsetzen. Als naturwissenschaftlich arbeitender Geograph erhob Kropotkin den An­spruch, den kommunistischen Anarchismus wissenschaftlich zu begründen: Der Darwinschen Idee eines Kampfes ums Dasein hielt er die den Menschen und Tieren innewohnenden natürlichen Neigung zur gegenseitigen Hilfe entgegen. Das Alterswerk von Kropotkin, die

Vor vierzehn Tagen bekam ich einen Brief von einem mitteldeutschen Rechts­anwalt: Es konnte kein entsprechender Beleg gefunden werden werden.

164 Czernine: Leute vom Schlage des Grafen Czernin (siehe Hinweis zu S. 154). In seinem Aufsatz «Es darf nicht neuer Czerniniamus den alten ablösen», der am 3. Februar 1920 in der Wochensehrift t aus Ideen heraus Europa sein Gepäge gegeben haben. Aber die Czernine haben die alten Ideen aus ihren Überzeugungen, aus ihrem Glauben verloren und keine neuen sich erobert. Es fruchtet nicht, wenn die alten Czernine mit den alten Institutionen hinweggefegt werden, ohne daß an ihre Stelle Menschen tre­ten, die einen Zusammenhang haben mit den geistigen Triebkräften der Mensch­heit. [...1 Es fruchtet nicht, wenn an die Stelle der alten Czernine neue, demo­kratisch und sozialistisch drapierte, treten, die im Gunde aus den gleichen See­lenantrieben heraus eine neue Welt gestalten möchten, aus denen jener das morach gewordene Osterreich zusammenhalten wollte.«

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164 Bethmänner: Solche Leute wie Theohald von Bethmann Holiweg (1856-1929), der vom Juli1909 bis Juli1917 deutscher Reichskanzler war.

165 auf dasjenige, was ich in der Dreigliederungszeitung geschrieben habe: So ver­faßte Rudolf Steiner zum Beispiel für die Nummer 35 des ersten Jahrgangs der Dreigliederungszeitung einen Leitartikel unter dem Titel: kann nichts bringen als Ereignisse, die neuerdings widerlegen, was schon wider-legt genug ist. Nur wird jede neue Widerlegung begleitet sein von einer neuen Welle der Verelendung.» Und in der übernächsten Nummer dieser Zeitschrift, in der Nummer 37 vom 16. März 1920, äußerte sich Rudolf Steiner zur Frage nach dem Verhältnis von

als das Friedensangbot 1916 in die Welt hinausgeschickt worden ist: Am 12. De­zember 1916 erfolgte eine Friedensdeklaration der deutschen Reichileitung -unter der Federführung des damaligen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg -, in der die Vereinigten Staaten aufgefordert wurden, die Entente­mächte zu informieren, daß Deutschland zu Friedensverhandlungen bereit sei. In dieser Erklärung wurden aber keine genauen Friedenvorschläge ausgespro­chen. Frankreich wie Großbritannien lehnten das deutsche Friedensangebot ab.

166 Gustav Bauer, 1870-1944, deutscher Gewerkschaftsführer und Politiker. Ur­sprünglich Bürogehilfe, war er früh gewerkschaftlich orientiert und gründete 1895 den Verband der Büroangestellten; 1908 wurde er Leiter des Zentralarchivs der Freien Gewerkschaften. 1908 wurde er zum zweiten Vorsitzenden der Ge­neralkommission der Gewerkschaften gewählt und gehörte seit 1912 als Abge­ordneter der SPD dem Reichstag an und wurde 1918 als Staatssekretär in das Reichsarbeitsministerium berufen. Nach der Revolution wurde Bauer 1919 als Reichsarbeitiminister ins Kabinett Scheidemann berufen und übenahm nach dessen Rücktritt im Juni 1919 das Amt eines Reichikanzlen. Er war der Vorsit­zende einer Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Zentrumsleuten und De­mokraten, die gezwungen war, am 28. Juni 1919 im Namen Deutschlands den Versailler Diktatfrieden zu unterzeichnen. Nach dem rechtsgerichteten Kapp­Putich trat er im März 1920 mit seinem Kabinett zurück, gehörte zwischen 1920 und 1922 als Minister den Regierungen unter Hermann Müller und Joseph Wirth an. 1925 wurde Bauer vorübergehend wegen eines Finanzskandals aus der

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SPD ausgeschlossen. In dieser ganzen Zeit war Bauen Mitglied des Reichstags -bis 1928.

166 Friedrich (Fritz) Ebert, 1871-1925, deutscher Politiker. Ursprünglich Sattler, dann Gastwirt, machte er rasch Karriere in der Sozialdemokratischen Partei

Deutschlands: 1905 Vorstandsmitglied, 1912 Mitglied des Reichstages, 1917 zweiter, 1918 ersten Vorsitzender der SPD. Am 9. November 1918 erhielt er vom letzten kaiserlichen Reichskanzler, Prinz Max von Baden, nach dessen Rücktritt das Amt eines Reichikanzlens übertragen. Am nächsten Tag wurde er aber von den revolutionären Arbeiter- und Soldatenräten zum Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten gewählt, wo er die sozialreformerische Linie der Mehrheitssozialisten vertrat. Er war gegen die Einführung einer radikalen Räte-demokratie und befürwortete die Wahl einer verfasiunggebenden Nationalver­sammlung. Es gelang ihm, mit Hilfe von konservativ eingestellten Militärs den Spantakistenaufstand vom Januar 1919 in Berlin niederzuschlagen. Er wurde im Februar 1919, nach dem Zusammentritt den Weimarer Nationalversammlung, zum vorläufigen Reichspnäiidenten gewählt und schließlich im Oktober 1922 -durch ein verfaisungänderndes Gesetz, ohne direkte Volkiwahl - zum ersten ordentlichen Reichspräsidenten ernannt. Er starb noch von dem Ablauf seinen Amtszeit im Februar 1925.

Gustav Noske, 1868-1946, deutschen Politiker. Ursprünglich Korbmacher, schloß sich bereits 1886 als ganz junger Mann der Sozialdemokratie an. Er arbei­tete als Redakteur für verschiedene sozialdemokratische Zeitungen und zog 1906 in den Reichstag ein, wo er bald als Fachmann für Militär- und Kolonialfragen galt. Noske war ein reformistischen Praktiker, den für die grundlegenden theore­tischen Debatten innerhalb den Sozialdemokratie wenig übrighatte. In der Revo­lutionizeit von 1918/19 setzte sich Noske, zusammen mit seinem Freund Fried­rich Ebert, konsequent für ein Zurückdrängen der Arbeiter- und Soldatenräte und für die Einführung des Parlamentarismus ein. 1918 wurde er in den Rat der Volkibeauftragten gewählt und schlug in Berlin als verantwortlicher Minister für Heer und Marine den Spartakus-Aufstand vom Januar 1919 mit Hilfe von Frei­willigentruppen blutig nieder. 1919 wurde er zum Minister für die Reichswehr ernannt und bekämpfte kompromißlos - mit allen ihm zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln, wobei er selbst die Zusammenarbeit mit konservativen Militärs nicht scheute - die radikalen Bestrebungen der Arbeiterschaft. Er wurde deshalb von seinen politischen Gegnern als «Bluthund» und «Arbeiterschlächter» bezeichnet. Noske nahm für sich aber das Verdienst in Anspruch, Deutschland in einer schwierigen Lage vor dem Bolschwismus gerettet zu haben. Sah Noske die Gefahr für die junge Republik vor allem auf der linken Seite, so unterschätzte er deutlich die Gefahr, die von den konservativen Militärs der Reichswehr ausging. Er lehnte zwar das hochverräterische Ansinnen ab, sich gestützt auf die Reichswehr zum Diktator aufzuschwingen und die Versailler Verträge nicht zu unterzeichnen, aber der maßgeblich von den Angehörigen der Reichswehr getragene und schließlich fehlgeschlagene, rechtsorientierte Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 lieferte doch den Beweis, wie wenig es gelungen war, die Reichswehr in die Demokratie einzubinden. Noske mußte zurücktreten und wurde zum Oberpräsidenten der preußischen Provinz Hannover ernannt. 1933 wurde er von den Nationalsozialisten abgesetzt und von ihnen zweimal verhaftet. Seine Sicht der revolutionären Vorgänge in Deutschland legte er in der Schrift «Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution» (Berlin 1920) dar.

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167 Dann werden wir ei dazu bringen, die DreigliederungszeitKng in eine Tageszei­tung zu verwandeln: Um stärken für die Dneigliederungiidee wirken zu können, war es immer das Ziel von Rudolf Steiner gewesen, die Dreigliederungszeitung von einen Wochenzeitung in eine Tageszeitung umzuwandeln. Aber dieses Ziel wurde nicht erreicht. Das lag nicht nur an der mehrheitlich ablehnenden Hal­tung den Außenwelt gegenüber der Dreigliederungsidee, sondern auch an den gleichgültigen Haltung vieler Anthroposophen. Rudolf Steiner im Dornachen Mitgliedenvortnag vom 16. Januar 1921 (in GA 203):

168 nach den Erfahrungen mit den Betriebsräten: Die Diskussionsabende mit den Stuttgarter Arbeitenausichüsien im Hinblick auf die Bildung einer autonomen Betriebiräteichaft waren zunächst gut besucht, dann aber flaute das Interesse im Laufe des Juli 1919 merklich ab. Bereits die Versammlung vom 2. Juli war nicht mehr gut besucht; der letzte Diskussioniabend fand am 17. Juli statt. Über die Gründe für das Fernbleiben der Arbeiterschaft äußerte sich Rudolf Steinen ver­schiedentlich, so zum Beispiel auch im öffentlichen Vortrag vom 25. Mai 1920 in Dornach (vorgesehen für GA 336): stammt, daß auch heute die Massen - wie sie es auch immer getan haben - einigen wenigen Leithammeln folgen.< Sehr deutlich äußerte er sich auch im Frageabend vom 10. Oktober 1920 in Dornach (in GA 337b):

169 Studienabend: Die Studienabende fanden seit dem 15. Oktober 1919 im Zweig-lokal der Anthroposophiichen Gesellschaft an den Landhausstraße 70 statt.

9. Juni 1920: Dieser Studienabend fand drei Tage nach den ersten Wahlen in den Reichstag statt. Die Reichstagiwahlen endeten mit einer großen Stimmen-einbuße den sogenannten

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169 Ich war ja nicht anwesend bei den letzten Studienabenden: Am 30. Juli 1919 hatte der erste Studienabend des Dreigliederungsbundes stattgefunden, und seit­dem wurde die Arbeit mehr oder weniger jede Woche kontinuierlich weiter­geführt. Rudolf Steiner nahm - wenn er gerade in Stuttgart war - an diesen Studienabenden als Gast teil, das letzte Mal am 3. März 1920.

170 Ich habe das letzte Mal darauf hingewiesen: Anläßlich des Studienabends vom 3. März 1920, an dem Rudolf Steinen auch teilgenommen hatte.

als wir hier mit unserer Propaganda begonnen haben: Diesen Gedanken hatte Rudolf Steiner bereits schon in Dornach geäußert, noch bevor er sich nach Stutt­gart begab, um dort die geistige Führung der Dreigliederungsbewegung zu über­nehmen. So bemerkte er im Mitgliedervortrag vom 14. April 1919 (in GA 190) im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Erscheinen seiner

Da ist zum Beispiel - und nicht nur einmal, sondern öfter - von mir eine ganz bestimmte Frage des Wirtschaftslebens zur Erörterung gekommen: es war die Fra­ge der Preisbildung: Rudolf Steiner bezeichnete die Preisbildung als die »Urzelle des Wirtschaftslebens«. So zum Beispiel im öffentlichen Vortrag vom 15. Septem­ber 1919 in Berlin (in GA 333): «Und gleichsam die Urzelle dieses Wirtschaftslebens, das nur auf Sachkenntnis und Fachtüchtigkeit gegründet sein soll - die Preisbildung - , wie wird sie sich vollziehen müssen? Nicht durch den Zufall des sogenannten freien Marktes, wie bisher in der Volkswirtschaft und in der Weltwirtschaft der Fall war.» Und weiter: «Es wird in der Zukunft [...] ungefähr innerhalb des Wirtschaftslebens sich zutragen müssen, daß der Mensch für irgend etwas, was er arbeitend vollbringt, so viel an Austauschwerten erhält, daß er seine Bedürfnisse dadurch befriedigen kann.» Und wie sich dieses Gesetz der «Urzelle» in der wirtschaftlichen Praxis ausnehmen würde, erläuterte Rudolf Steiner im gleichen Vortrag: «Nehmen wir an, irgendein Artikel habe die Tendenz, zu teuer zu werden. Was bedeutet das? Es wird zu wenig von diesem Artikel erzeugt; es müssen nach den Produktionszweigen Arbeiter durch Verträge hingeleitet werden, welche diesen Artikel erzeugen können. Wird andererseits ein Artikel zu billig, so müssen Betriebe stillgelegt werden und die Arbeiter davon abgezogen werden und durch Regelung in andere Betriebe hineinkommen.» Über das Prinzip der Urzelle äußerte sich Rudolf Steiner in zahlreichen weiteren Vorträgen, zum Beispiel im Frageabend vom 30. Mai 1919 in Stuttgart (im vorliegenden Band) oder im Vortrag vom 2. Juni 1919 in Tübingen (in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Nr. 103) oder in der Betriebsräteversamrnlung vom 5. Juni 1919 (in GA 331).

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171 Die bürgerlichen Kreise haben sich ferngehalten: Das Fernbleiben der bürgerli­chen Kreise war bereits zu Beginn der Dreigliederungsbewegung deutlich. So bemerkte Rudolf Steinen im öffentlichen Vortrag vom 22. April 1919 in Stuttgart (in GA 330):

wir haben einiges Verständnis gefunden in den Kreisen der Proletarier: Siehe Hinweis zu S.168,

Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, mit einem im Wirtschaftsleben gründlich drin-stehenden Manne eines europäischen Staatswesens, nicht des deutschen, zu spre­chen: Uber diese Persönlichkeit konnte nichts Näheres herausgefunden werden.

172 die Leute im Großen Hauptquartier: Als das Große Hauptquartier wurde der Sitz der Obersten Heeresleitung (OHL) bezeichnet. Die Oberste Heeresleitung war die höchste Kommandostelle der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg, repräsentiert durch den Kaiser als dem obersten Kriegsherrn. Eigentlicher Leiter der OHL war der Chef des Generalstabs des Feldheeres - zunächst Helmuth von Moltke (1914), dann Erich von Falkenhayn (1914-1916) und schließlich Paul von Hindenburg (1916-1918). Die rechte Hand des Chefs des Generalsta­bes war der Generalquartiermeister; in der Zeit von Hindenburg war es die meiste Zeit Erich Ludendorff. Den Sitz des Großen Hauptquartiers wechselte entsprechend der Kriegslage: Koblenz (1914), Luxemburg (1914-1915), Plessen (1915-1917), Kreuznach (1917-1918), Spa (1918).

diese Programme der zehn Parteien, die jetzt in den Reichstag gewählt wurden:

Am 6. Juni 1920 fanden erstmals Wahlen für den Reichstag, die deutsche Volks­vertretung, statt, die mit größeren Stimmverlusten der bisherigen

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Sitze, DVP (Deutsche Volkspartei) 65 Sitze; Parteien der Mitte: Z (Zentrum) 64 Sitze, BVP (Bayrische Volkspartei) 21 Sitze, DDP (Deutsche Demokratische Partei) 39 Sitze; Parteien der Linken: SPD (Sozialdemokratische Partei Deutsch­lands) 102 Sitze, USPD (Unabhängige Sozialdemokrtische Partei Deutschlands) 84 Sitze, KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) 4 Sitze. Die restlichen 4 Parteien, die sich an den Wahlen beteiligten, gingen leer aus.

173 kohlartig zusammengedruckten Bogen - wie er ja auch schon als Auszug der

ich werde demnächst die «Kernpunkte» auch so erscheinen lassen, daß ich in einer besonderen Vorrede auf einem Bogen: Für die vierte Auflage der hat Der Kommende Tag A G Verlag dieser Tage in der >Interna tionalen Bücherei für Sozial- und Geisteswissenschaften> herausgebracht.<

Unsere Zeitschrsft

174 Nehmen Sie zum Beispiel die jetzige Mehrheitssozialdemokratie: Siehe Hinweis zu S.121.

176 etwas anderes entwickeln wird als das, was wir hier in Stuttgart, wo wir mit der Dreigliederungspropaganda begonnen haben, zu unserem Entsetzen erleben mußten: Siehe Hinweis zu S.122.

Gustav Stresemann, 1878-1929, deutscher Staatsmann. Von kleinbürgerlicher Herkunft, studierte er Nationalökonomie und war anschließend als Sekretär des Verbandes Sächsischen Industrieller tätig. In dieser Zeit war er als Vertreter der nationalliberalen Parteinichtung Mitglied des Reichstages (von 1907 bis 1912 und

1914 bis 1918). Er gehörte dem rechten Flügel dieser Partei an - als Anhänger

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des Alldeutschen Venbandes unterstützte er dessen expansive Kriegsziele. Nach den Novembennevolution von 1918 gründete en die nechtsliberale

177 Das sind ja Leute, die uns fast oder ganz nach dem Bolschewismus hinführen:

Siehe Hinweis zu S.171.

178 Ich habe neulich einen Vortrag gehalten über die Idee der Dreigliederung: Es könnte sich möglicherweise um den Vortrag über «Erziehung und soziale Ge­meinschaft vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft< handeln, den Rudolf Steinen am 21. Mai 1920 in Aarau auf Einladung des Vereins ehemaliger Kan­tonsschüler des Kantons Aargau gehalten hatte (in GA 297). Im öffentlichen Dornacher Vortrag vom 25. Mai 1920 jedenfalls, wo er über

180 was gewollt werden muß« gerade im Sinne des gestrigen öffentlichen Vortrages:

Rudolf Steinen bezieht sich auf den öffentlichen Vortrag vom 8. Juni 1920 in Stuttgart (vorgesehen für GA 335). In diesem Vortrag, betitelt «Der Weg zu gesundem Denken und die Lebenslage des Gegenwartimenschen», wies er auf die heute notwendige innere Haltung hin: «Das ist dasjenige, was ich in meiner «Philosopbie den Freiheit» schon im Beginne den neunziger Jahre ausdrücken wollte und was jetzt wiederum ausgedrückt worden ist durch das Erscheinen den Neuauflage des Buches: was eine wirkliche Brücke schaffen wollte zwischen dem Anschauen der Natur und dem Anschauen derjenigen Impulse der Mensch­heit, die aus den menschlichen Freiheit hervorgehen müssen und einzig und allein aus den Freiheit heraus auch eine berechtigte Struktur des sozialen Zusam­menlebens ergeben können. Da aber ist eines allerdings notwendig. Es ist notwendig,

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etwas mehr innerlichen Denkermut aufzubringen, als die schlafenden Seelen der Gegenwart gemeiniglich haben.»

182 daß wir sie jeden Tag als Tageszeitung erscheinen lassen könnten: Siehe Hinweis zu S.167.

183 daß ich eine große Anzahl von Reden dazumal mit den Worten geschlossen habe:

Man entschließe sich zu irgend etwas, bevor es zu spät ist: Zum Beispiel im Schlußwort zum Vortrag vom 25. April 1919 (in GA 330) - ein Vortrag, den er vor den Daimler-Arbeitern gehalten hatte: »Es gibt aber heute Dinge im sozialen Leben, auf die können wir nicht warten, sondern denen gegenüber sind wir genötigt, unsere Köpfe etwas aufzumachen und zu schnellem Verständnis fähig zu machen. [...] Ich glaube, man muß heute mehr hinschauen auf solch schnelles Denken, das in vierzehn Tagen verläuft, als auf solches Denken, das Ihnen sagt, es muß langsam gehen. Ich möchte heute viel frohen sein üben diejenigen, die zuerst ihren freien Willen geltend machen wollen, die aber lernen wollen und rasch lernen wollen. Denn wir gehen einer Zeit entgegen, die furchtbar werden wird, wenn wir uns auf die Langsamkeit einstellen wollen. Wir brauchen einen gesunden Impuls zu Gedanken, die ebenso schnell gehen, wie die Tatsachen gehen werden.» Und in der Betriebsräteversammlung vom 23. Juli 1919 (in GA 331): «Sehen Sie, es kommt schon etwas darauf an, daß eine solche Sache heute mit der nötigen Schnelligkeit gemacht wird, sonst wird sie sauer. Es ist auch im öffentlichen Leben durchaus so wie bei gewissen Speisen, die sauer werden, wenn sie nicht zur rechten Zeit genossen werden.«

184 Solange zum Beispiel die Techniker: Im Zusammenhang mit den Bestrebungen zur Einführung von Betriebsräten wurde vom «Verband Technischer Vereine Württembergs» die Frage aufgeworfen, ob nicht die Bildung einer

185 die öffentlichen Vorträge in dem Stile zu halten wie gestern: Siehe Hinweis zu S.180.

186 Es ist so, wie ich neulich in unserer Zeitschrift geschrieben habe: Im Aufsatz «Schattenputsche und Ideenpraxis», erschienen am 4. Mai 1920 in der Nr.44 den Dreigliederungszeitschnift, schrieb Rudolf Steiner (in GA 24): Personengruppen, zusammengehalten durch alte Gewohnheiten, durch Sympathien und Antipathien, kämpfen heute um die Macht. Beiden gemeinsam ist, daß sie mit der Macht nichts anfangen können, wenn sie sie haben, weil ihnen eine den Tatsachen gewachsene Zielsetzung fehlt. Diese Sachlage nimmt immer weitere Dimensionen an. Die öffentlichen Kämpfe verlieren immer mehr ihren geistigen

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Inhalt. Demokratie, Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus sind Worte, die ehemals einen Inhalt gehabt haben, die ihn aber verloren haben. Das Leben aber wird unter diesen Umständen richtungslos, barbarisient sich.»

187 Syndikalismus: Der Syndikalismus verstand sich als eine freiheitlich-revolutionä­ne Gewerkschaftsnichtung, die sich nicht nun von den herkömmlichen Gewerk­schaften abgrenzte, deren Winken als den »Kapitalismus< stabilisierend empfun­den wurde, sondern die sich auch gegen die parlamentarische Vertretung von Anbeiteninteressen durch sozialdemokratische Parteien wandte. Als langfristiges Ziel vertrat den Syndikalismus die soziale Revolution, die Befreiung von der Herrschaft des Kapitals und des Staates durch Bildung von selbstverwalteten Arbeiterkollektiven. Er verfolgte eine Taktik der direkten Aktion - Streik, Boy­kott, Sabotage -, mit dem Generalstreik als Mittel zur durchgreifenden sozialen Umwälzung. Der Syndikalismus trat zunächst in Frankreich, ab Beginn des 20. Jahrhunderts, in Erscheinung; in Deutschland orientierte sich ab 1908 eine sehr kleine Gewenkschaftsorganisation, die

188 Ernst von Heydehrand und der Lasa, 1851-1924, deutscher Politiker. Er ent­stammte einem alten schlesischen Adelsgeschlecht; für die Herkunft der Be­zeichnung

190 was nicht bloß Bank ist, sondern was die wirtschaftlichen Kräfte so konzentriert«

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daß sie zu gleicher Zeit Bank sind und zu gleicher Zeit im Konkreten wirtschaf­ten: Rudolf Steiner hatte im November 1919 im Hinblick auf »Eine zu gründen­de Unternehmung» eine Denkschrift verfaßt (in GA 24), in der er diese Idee näher ausführte. Er schrieb zur grundsätzlichen Ausrichtung eines solchen Al­ternativunternehmens: »Unterschieden von den gewöhnlichen Bankunterneh­mungen soll dieses dadurch sein, daß es nicht nur den finanziellen Gesichts­punkten dient, sondern den realen Operationen, die durch das Finanzielle getra­gen werden. Es wird daher vor allem darauf ankommen, daß die Kredite etc. nicht auf dem Wege zustandekommen, wie dies im gewöhnlichen Bankwesen geschieht, sondern aus den sachlichen Gesichtspunkten, die für eine Operation in Betracht kommen, die unternommen werden soll. Der Bankier soll also we­niger den Charakter des Leihens als vielmehr den des in der Sache drinnenste­henden Kaufmanns haben, der mit gesundem Sinne die Tragweite einer zu finan­zierenden Operation ermessen und mit Wirklichkeitssinn die Einrichtungen zu ihrer Ausführung treffen kann.» Im Zusammenhang mit der Gründung der deutschen

190 Silvio Gesell, 1862-1930, deutschen Kaufmann, abwechselnd in Argentinien und in Deutschland tätig, zeitweise auch in der Schweiz (Les Hauts-Geneveys) wohnhaft. 1919 wirkte er für sieben Tage als Volksbeauftragten für Finanzen in der ersten bayerischen Räteregierung. Gesell war von des Ideen des individua­listischen Anarchismus und Sozialdarwinismus beeinflußt. Aus der persönlichen Erfahrung währungspolitischen Wirren entwickelte er eine eigene Wirtschafts­und Gesellschaftstheorie, die er in einer Reihe von Schriften darlegte. »Die na­türliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld«, so lautete der Titel seines 1916 in Berlin erschienenen Hauptwerkes. Seine Hauptforderung waren:

Stabilität des Preisniveaus und Recht auf vollen Arbeitsertrag durch Beseitigung des Zinses. Damit sollte der Kapitalismus überwunden, das beißt jede wirt­schaftliche Monopolstellung beseitigt und echten Wettbewerb hergestellt wer­den. Diese Zielsetzungen einer wirklichen «Freiwirtschaft» glaubte er durch die Einführung des sogenannten Schwundgeldes - Geld mit Umlaufzwang durch Wertverlust bei Hortung - und die Kommunalisienung des Bodens zu erreichen sowie durch den völligen Abbau jeder Staatsgewalt. Seine Lehne beeinflußte in den zwanziger und dreißiger Jahren zahlreiche Menschen, die eine sozial gerech­te Marktwirtschaft in Freiheit anstrebten. Neben Gesell wirkten eine Reihe von eigenständigen Mitstreitern, die seine Ideen vertraten, zum Beispiel Georg Blu­menthal und Georg Hammer in Deutschland oder Theophil Christen in der Schweiz. In ähnlicher Richtung wie Gesell, aber nicht so radikal in den Folge­rungen dachte der als Bodenreformer bekannte Michael Flürscheim.

vom freien Gelde reden: Gemeint ist das von den Freiwirtschaftern geforderte

193 So war ich zum Beispiel einmal mit einer sozialistischen Persönlichkeit zusam­men: Näheres über diese Begegnung ist nicht bekannt.

195 16. Juni 1920: Am gleichen Tag fand in Dornach in Abwesenheit von Rudolf Steiner - er ließ sich durch Roman Boos vertreten - die endgültige Gründung der Futurum A.G. statt. In der anschließenden Sitzung des Futurum-Verwal­tungsrates wurde Rudolf Steiner zum Präsidenten gewählt.

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196 ein sehr bekannter Bodenreformer: Vermutlich meint Rudolf Steiner Adolf Da­maschke. Siehe Hinweis zu S.197.

in grundlegenden Vorträgen folgendes vor Augen geführt hat: Damaschke ging davon aus, daß die Grundrente, die sich aus der Nutzung und dem Gebrauch des Bodens ergibt, durch das Leben den Gesamtheit den Bevölkerung entsteht. Je höhen durch die Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens der Vorteil gewer­tet werden kann, den sich aus der Nutzung von Grund und Boden ergibt, umso höher die Grundrente und damit der Preis für den Boden. Den Besitzer von Grund und Boden erhält auf diese Weise - zum Beispiel im Ausbreitungsbeneich der Städte - einen nicht durch eigene Leistung bewirkten Einkommenszuwachs. Damaschke wollte daher denselben abschöpfen (durch Besteuerung) und der Allgemeinheit zuführen.

197 Henry George, 1839-1897, amerikanischen Publizist und radikaler Sozialnefon­mer. Von Beruf ursprünglich Buchdrucker, zeigte er als anonymen Verfasser von Zeitungsheiträgen journalistisches Talent und stieg bald zum Redakteur auf. Als seine Zeitung an eine Kapitalistengruppe überging und er ihnen Interessen dien­lich sein sollte, zog er sich zurück und übernahm eine kleine Beamtenstelle. 1887 begründete er wieder eine eigene Wochenschrift. 1897 bewarb sich er um das Amt eines Bürgermeisters von New York mit großer Aussicht auf Erfolg, starb aber, noch bevor der Wahlgang stattfinden konnte. Henry George trat für eine radikale Sozialreform ein; er verfaßte auch eine Reihe von Schriften zur Besei­tigung des sozialen Elends. Die Ursache dafür sah er im herrschenden Boden-unrecht. In seiner 6. November 1897 (66. Jg. Nr.44) schrieb Rudolf Steiner über die Bedeutung von Henry George (in GA 31): hat uns zu gründlichem Nachdenken üben die Bedeutung von Grund und Boden innerhalb des staatlichen Organismus angeregt.»

Adolf Damaschke, 1865-1935, deutschen Sozialreformer. Damaschke stammte aus einen Handwenkerfamilie und hatte als Volksschullehner die sozialen Miß­stände in den Berliner Anheitervienteln kennengelernt. Wie Henry George sah er die Gnünde für die soziale Not in dem herrschenden Bodenunrecht. 1896 schied Damaschke aus dem Schuldienst aus und widmete sich seitdem ganz den Bodenreformbewegung.

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1898 übernahm er den Vorsitz des neu begründeten und die verschiedenen Strömungen zusammenfassenden »Bundes Deutscher Bodenre-formen<. Dieser verfolgte eine gemäßigte, auf die Erreichung realpolitischer Ziele ausgerichtete Politik und konnte verschiedene Erfolge - vor allem im Bereich der Bodenvorratspolitik der Gemeinden und der Entstehung von Bau­spargenossenschaften - verbuchen. Adolf Damaschke veröffentlichte verschiede­ne Schriften zur Frage der Bodenreform.

197 daß der Grund und Boden mehr oder weniger etwas sein müsse, was gewisser­maßen der Allgemeinheit gehöre. Nicht, als oh alle Bodenreformer etwa eine unmittelbare Verstaatlichung des Grund und Bodens wollten: Die meisten Bo­denrefonmer sahen das Bodenunnecht weniger in der Institution des Privateigen­tums als in der privaten Aneignung den gesamten Grundrente. Henry Geonge (1839-1897) zum Beispiel strebte nicht die Enteignung der bisherigen Grundbe­sitzer an, sondern forderte, daß die Grundrente durch den Staat mit Hilfe einer Grundsteuer - einer einzigen Steuer, die alle andern Steuern ersetzen könnte -vollständig abgeschöpft wenden müsse. Der deutsche Bodenreformer Michael Flürscheim (1844-1912) dagegen vertrat die Auffassung, daß der Staat den Bo­den nach dem gegenwärtigen Preisstand aufkaufen und dann in der Art weiter­verpachten solle, daß dem Pächter einzig eine Vergütung für die geleistete Arbeit übrigbliebe. Etwas weniger radikale Auffassungen vertrat Adolf Damaschke (1865-1935). Obwohl grundsätzlicher Befürworter einer zunehmenden Kom­munalisierung des Bodens, wollte er das Privateigentum nicht eigentlich ab­schaffen. Worauf er das Hauptgewicht legte, war die steuerliche Abschöpfung der zusätzlichen Grundrente auf unbebautem Boden in städtischen Gebieten, die nicht auf eigenen Leistungen beruhten, sondern durch Leistungen der Allge­meinheit zustandekamen. Die Steuer sollte auf der Grundlage einer Selbstein­schätzung des Grundstückswertes erhoben werden, wobei der Gemeinde jeder­zeit die Ubernahme dieses Grundstückes zu dem von den einzelnen Grundbe­sitzern selber festgelegten Wert möglich sein sollte.

200 wie es ja seit mehr als einem Jahr gerade hier in Stuttgart von mir und einigen anderen getan worden ist: Nachdem er bereits seit Februar 1919 in der Schweiz für die Dreigliederungsidee gewirkt hatte, traf Rudolf Steiner am 20. April 1919 in Stuttgart ein, wo zwei Tage später der

201 Wenn sich heute so etwas abspielt wie eine Reichstagswahl: Siehe Hinweis zu

S.169.

wie ich das auch gestern in einem öffentlichen Vortrag auseinandergesetzt habe:

Im Vortrag vom 15. Juni 1920, den Rudolf Steiner unter dem Titel »Fragen der Seele und des Lebens. Eine Gegenwartsrede» hielt (vorgesehen für GA 335), äußerte er sich auch zur Frage des Materialismus in der gegenwärtigen Zeit: »Die Menschen sind materialistisch, weil sie materiell geworden sind mit ihrem gan­zen Leben, weil sie nicht danach trachten, die Freiheit zu erringen in einem Denken, das sich loslöst von der Leiblichkeit, das leibfrei wird [...] Derjenige, der im Sinne der heutigen Zeitfonderungen sich selbst entwickeln will, der muß das Denken loskriegen von den Leiblichkeit.»

202 Konzilsbeschluß, der auf dem achten ökumenischen Konzil im Jahre 869 gefaßt wurde, wo gewissermaßen der Geist abgeschafft wurde: In den «Canones contra

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Photium» wird unter Can. 11 (lateinischen Text) festgelegt, daß der Mensch nicht zwei Seelen< (

211 Cri-Cri: Eigentlich lautmalerische Bezeichnung für die Grille; gemeint ist aber ein metallenes Spielzeug, das den schrillen Ton der Grille nachahmt und mit dem um die Jahrhundertwende von allem in Paris die Leute auf der Straße be­lästigt wurden.

213 Damaschke: Siehe Hinweis zu S.197.

214 Christian Morgenstern, 1871-1914, deutscher Dichter, seit 1909 Mitglied der Deutschen Sektion den Theosophischen Gesellschaft. Das Gedicht von Morgen­stern findet sich im Band

Die unmögliche Tatsache

Palmstnöm, etwas schon an Jahren,

wird an einer Stnaßenbeuge

und von einem Kraftfahrzeuge

überfahren.

und entschlossen weiterlebend)

daß es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen

in bezug auf Kraftfahrwagen?

Gab die Polizeivorschnift

hier dem Fahnen freie Trift?

Oder war vielmehr verboten,

hier Lebendige zu Toten

umzuwandeln, - kurz und schlicht:

Eingehüllt in feuchte Tücher,

prüft er die Gesetzesbüchen

und ist alsobald im klaren:

Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:

Nun ein Traum war das Erlebnis.

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Weil, so schließt er messerscharf,

nicht sein kann, was nicht sein darf.

217 der Herr Stadtpfarrer Planck: Reinhold Planck, Sohn des Sozialreformens Karl Christian Planck (1819-1880), den Rudolf Steiner sehr schätzte. Reinhold Planck war Pfarrer in Waiblingen und Winnenden und ein heftiger Gegner Ru­dolf Steiners.

221 Das ist zum Beispiel bei dem Boden des ehemaligen Deutschland im wesentlichen der Fall gewesen: Durch die Intensivierung der landwirtschaftlichen Anbaume­thoden - zum Beispiel durch gezielte Verwendung von Düngeprodukten -wurde die Produktivität des landwirtschaftlichen Bodens im Laufe des 19. Jahr­hunderts ganz wesentlich gesteigert.

222 die Schencks: Möglicherweise meint Rudolf Steinen die Gebrüder Adolf und Fritz Schenck. Adolf Schenck (1857-1936) war Geograph und seit 1899 ordent­licher Professor für Geographie an der Universität Halle. Fritz Schenck (1862-1916) war Physiologe und seit 1899 Professor für Physiologie an der Universität Marburg. Beide Brüder waren Mitglied der Deutschen Akademie der Naturfon­seher Leopoldina, Adolf seit 1905, Fritz seit 1908.

223 Traubismus: Die gleiche oberflächliche Wissenschaftlichkeit, wie sie Professor Traub vertrat. Friedrich Traub (1860-1939) hatte in Theologie promoviert und war anschließend im praktischen Kirchen- und Schuldienst tätig. Seit 1910 wink­te er als ordentlicher Professor für Systematische Theologie an der Universität Tübingen; 1930 wurde er emeritiert. Er war ein großer Gegner von Rudolf Steiner und hatte 1919 in Tübingen eine Schrift unter dem Titel

Ein Artikelsehreiber hat sogar entdeckt, daß aus einem sehr alten Buche, das aus den atlantischen Gegenden stammen soll: Näheres konnte nicht herausgefunden werden.

224 £n mesnem Buche

Nun entdeckt einer in einem alten Schmöker: Genaueres ist nicht bekannt.

366

225 wie es einmal ein Tübinger Professor in der «Tribüne» geschrieben hat: Den Rcchtspnofesson Philipp von Heck, siehe Hinweis zu S.131.

230 Graf Ludwig Polzer-Hoditz hält zu Beginn des Studienabends: Den Wontlaut des Vortnages von Ludwig von Polzen-Hoditz ist nicht erhalten. Es gibt ledig­lich ein paan Stichworte, die Rudolf Steinen In seinem Notizbuch festgehalten hat, aus denen sich aben den Inhalt des Vontrags nicht rekonstruieren läßt. Al­lerdings gibt es eine von Polzer 1922 in Stuttgart veröffentlichte Schrift,

Okkupation Bosniens: Die Okkupation der zum Osmanischen Reich gehörigen Gebiete Bosnien und Henzegowina durch Osterneich-Ungarn war eine Folge der Beschlüsse des Berliner Kongresses vom 13. Juli 1878. Das Vormachtstreben Rußlands, das das Osmanische Reich im achten russisch-türkischen Krieg von 1877 bis 1878 besiegt hatte, sollte eingedämmt werden. Um ein Gegengewicht gegen Rußland zu schaffen, wurde im Art. 25 des Berliner Kongreß Vertrages Ostenreich-Ungarn die Besetzung Bosniens und der Herzegowina zugestanden. Am 13. Juli 1878 unterzeichneten Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich ein geheime Konvention, wonach dai Osterneich eingeräumte Recht völ­kerrechtlich nicht als

Dem vorangegangen sind die sechziger Jahre: Nach den gewaltsamen Untendrük­kung den revolutionären Bestrebungen von 1848/49, die auf die Einführung eines liberalen, konstitutionellen Regienungssystems hinzielten, wurde im Habsburgerreich

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wieder das alte, absolutistische Regierungssystem eingeführt. Mit dem Erlaß des sogenannten »Oktoberdiploms» vom 20. Oktober 1860, das für die Gesetzgebung ein beschränktes parlanientarisches Mitbestimmungsrecht vorsah, wurden jedoch erste Schritte in Richtung einer konstitutionellen Regie­rungsform unternommen. Mit der Verfassungsfrage unzertrennlich verbunden war die Art, wie das Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten innerhalb des Gesamtstaates geregelt wurde. Durch das »Oktoberdiplom< wurde versucht, die staatliche Einheit auf föderalistischem Weg zu erreichen. Die deutschen Libera­len waren zwar grundsätzlich für eine Verfassung, aber gegen eine föderalisti­sche Lösung den nationalen Frage eingestellt; sie befürworteten einen zentralisti­schen Staatsaufbau. Nachdem es sich gezeigt hatte, daß den durch das

230 als herauswuchs aus den Ministerien Schmerling, Belcredi: Unter der Regierung Schmerling wurde versucht, die staatliche Einheit des Gesamtreiches durch eine zentralistische Sttatsstruktur zu gewährleisten. Am 26. Februar 1861 erließ Kai­ser Franz Joseph 1. einen neuen Verfassungserlaß, das sogenannte - des Reichstates, bestehend aus Herrenhaus und Abgeordnetenhaus - wurden erweitert. Damit war endgültig die Grundlage für ein konstitutionelles Regie­rungssystem gelegt. Schmerling konnte sich aber gegen den Widerstand der Deutschklerikalen, der Slawen und insbesondere der Ungarn nicht durchsetzen, so daß das Kabinett Schmerling-Rainer im Juli 1865 abberufen wurde; Richard Graf von Belcredi (1823-1902) wurde zum neuen Staatsminister ernannt. Der Kurs seiner Regierung wurde nun von deutschösterreichischen Föderalisten und ungarischen Konservativen bestimmt. Die wichtigste Handlung der Regierung Belcredi bildete im September 1865 die Aufhebung der Verfassung; sie schuf damit die Grundlage für den Ausgleich mit Ungarn. Aber da Beleredis Vorstel­lung eines aus fünf nationalen Einheiten bestehenden Staatenbundes abgelehnt wurde, mußte er im Februar 1867 seinen Abschied nehmen.

Sein Nachfolger wurde Ferdinand Baron (späten Graf) von Beust (1809-1886). Er war ursprünglich königlich-sächsischen Außenminister und später zusätzlich Innenminister dieses Landes gewesen. 1858 war er sogar zum Vorsitzenden des Gesamtministeriums ernannt worden. In Sachsen hatte er innenpolitisch eine reaktionäre, antiliberale Politik verfolgt, außenpolitisch war er um den Erhalt der Selbständigkeit den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes bemüht gewe­sen. Im Deutschen Krieg stand er auf der Seite Österreichs gegen Preußen. Nach der Niederlage Österreichs im Jahre 1866 war seine Stellung als leitender Mini­ster in Sachsen unhaltbar geworden, und er mußte zurücktreten, wurde aber im Oktober 1866 als Minister des Auswärtigen nach Österreich berufen. Der Grund für seine Berufung lag in den Hoffnung, daß er die immer noch starke Opposition gegen Preußen in Deutschland zusammenfassen könnte. Im Februar 1867 wurde er dann sogar zum neuen Ministerpräsidenten Österreichs ernannt. Beust war maßgeblich beteiligt an der Aushandlung des österreichisch-ungarischen

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Ausgleichs vom 18. Februar 1867. Diesen Ausgleich bedeutete die Auf-Spaltung des habsbungischen Gesamtstaates in zwei Einzelstaaten - in Zisleitha­nien (Ostenreich) und Transleithanien (Ungarn) - mit je eigenen Verfassungen und Regierungen. Endgültig in Kraft gesetzt wurde diese neue Regelung am 21. Dezemben 1867, nachdem die Ausgleichsgesetze vom ungarischen und öster­reichischen Panlament angenommen wurden. Bereits im Juni 1867 war Beust zum Reichskanzler des Gesamtneiches ernannt worden; im Dezember 1867 übernahm er zusätzlich das Amt eines Außenministers für beide Reichshälften, ubennahm im Juni 1867 den persönliche Vertraute des Kaisers, Eduard Graf von Taaffe (1833-1895), die stellvertretende Ministenpräsidentschaft für den österrei­chischen Reichsteil.

230 das erste Bürgerministerium Carlos Auersperg, das einen ausgesprochen libe­ralen, aber theoretisch-abstrakt-liberalen Charakter hatte: Der österreichisch­ungarische Ausgleich bedeutete auch die endgültige Abkehr vom monarchischen Absolutismus. Die verfassungsmäßige Grundlage für die zisleithanische Reichs-hälfte bildeten die das

231 nach einer ganz kurzen Zwischenregierung, wo die slawische Frage zu einer gewissen Höhe geführt wurde unter Taaffe« Potocki, Hohenwart: Auf Taaffe als Ministerpräsidenten folgte im Januar 1870 Ignaz Freiherr von Plener (1810-1908) und im Februar 1870 Leopold Hasner von Artha (1818-1891) - beide Vertreten den liberalen Parteinichtung -, aber auch ihnen gelang es nicht, einen Ausgleich mit den slawischen Föderalisten zu finden. Schließlich übergab den Kaiser im April 1870 einem «Beamtenkabinett» unter Alfred Graf von Potocki (1817-1889), einem Polen, die Regierung. Damit wurde versucht, die bisherige liberale Ära zu beenden und ein konservativ-föderalistisches Regime einzuführen. Dem neuen Kabinett Potocki gelang es aber ebensowenig, zu einer Verständigung mit der tschechischen und polnischen Opposition zu gelangen. Schließ-

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lich wurde er im Februar 1871 vom konservativen Deutschklerikalen Karl Graf von Hohenwart (1824-1899) abgelöst, der bestrebt war, mit allen Mitteln eine Lösung der Nationalitätenfrage zu erreichen. Es gelang ihm, von Kaiser Franz Joseph I. die Zustimmung zu einer Autonomie der böhmischen Länder zu errei­chen, die ihnen eine ähnliche Sonderstellung wie Ungarn gebracht hätte, aber auf ungarischen Druck zog der Kaiser seine Zustimmung zur neuen böhmischen Landesordnung zurück. Graf von Hohenwart sah sich deshalb schon im Okto­ber 1871 gezwungen, seinen Abschied zu nehmen.

231 bildete sich dann heraus in den siebziger Jahren in Österreich das sogenannte zweite Bürgerministerium, das Ministerium Adolf Auersperg: Nach dem Rück­tritt von Hohenwart übernahm erneut eine deutsehliberale Regierung die Macht; neuer Ministenpäsident wurde Adolf Fürst von Auerspeng (1821-1885), der Bru­der von Carlos Fürst von Auersperg. Der Versuch seiner Regierung, durch eine Wahlreform die geltende Verfassung zu stärken, scheiterte. Zur slawischen und deutschklerikalen Opposition trat neu die deutsehnationale Opposition. Seine Billigung der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina und die dadurch entfachte liberale Kritik führte schließlich zum Rücktritt seiner Regierung im Juli 1878. Als Nachfolger von Auersperg war der ebenfalls liberal gesinnte bis­herige Finanzminister Sisinio Freiherr de Pretis-Cagnodo (1828-1890) vorgese­hen, aber wegen seiner Bosnienpolitik wurde ihm die Zustimmung wieder ent­zogen. Im Februar 1879 gelang es schließlich einem andern Liberalen, Karl von Stremayn (1823-1904), eine Interimsregierung - zur Abhaltung von Neuwahlen

- zu bilden. In den Neuwahlen verloren die Deutsehliberalen wegen ihrer zen­tralistischen und antikirchlichen Einstellung die Mehrheit. Im Juli 1879 trat Stre­mayr zurück, womit die liberale Epoche im österreichischen Reichsteil ihr Ende fand. Neuer Ministerpräsident wurde im August 1879 Eduard Graf von Taaffe, der dieses Amt bereits einmal vorübergehend ausgeübt hatte; mit seinem Mini­sterium begann die Periode der slawisch-klerikalen Mehrheit.

Otto Fürst von Bismarck, 1815-1898, deutscher Staatsmann. Aus preußischer Kleinadelsfamilie stammend, studierte er die Rechte und war zunächst im preu­ßischen Staatsdienst, anschließend als Gutsverwalten tätig. Bismarck war poli­tisch ultnakonservativ und extrem royalistisch eingestellt; 1849 wurde er in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, wo er als Mitglied der Konservativen Partei für ein starkes, vom Volkswillen unabhängiges preußisches Königtum eintrat. Seit 1851 war er Gesandter Preußens in Frankfurt beim Deutschen Bund, in St. Petersburg und in Paris. Nach Ausbruch eines Verfassungskonflikts zwischen Krone und Parlament wurde Bismarck im September 1862 mit dem interimistischen Regienungsvorsitz betraut, im Oktober mit dem endgültigen. Von nun an war er - abgesehen von einer kurzen Unterbrechung im Jahre 1873 CJanuar bis Oktober) - fast drei Jahrzehnte lang preußischen Ministerpräsident. In dieser Funktion gelang es ihm nicht nur, die preußische Verfassungskrise zu beenden, sondern er betrieb auch die deutsche Einigung unter den Führung der preußischen Krone, unter Ausschaltung von Österreich und gegen den Willen Frankreichs. Dafür war er sogar bereit, drei Kriege zu führen. Im Februar 1867 wurde er Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, im März 1871 Reichskanz­ler des Deutschen Reiches, des um die süddeutschen Staaten erweiterten Nord­deutschen Bundes. Auf gesamtdeutschen Ebene stützte sich Bismarck innenpo­litisch zunächst auf die Liberalen, später auf die Konservativen. Der immer mächtiger werdenden Arbeiterbewegung suchte er durch eine staatliche Sozialpolitik

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zu begegnen. Mit Hilfe eines verwickelten Bündnissystems war Bismanck bestrebt, dem neuen deutschen Natinonalstaat seinen Platz in Europa in Frieden zu sichern. Im März 1890 entzog ihm der neue Kaiser Wilhelm II. das Vertrau­en, und er wurde als Reichskanzler entlassen.

231 die Kämpfe, die geführt worden sind von den liberalistischen Parteien Preußens und der einzelnen deutschen Staaten gegen den auftauchenden Imperialismus:

Nach den Verfassung des Deutschen Reiches hing der Reichskanzler nicht von den Mehrheit des Reichstages, sondern vom Vertrauen des Monarchen ab. Aller­dings war er auf eine

Eduard Lasker, 1829-1884, deutscher Politiker aus Preußisch-Polen. Er studierte Rechtswissenschaft und war nach Abschluß seiner Studien zunächst in der Wirt­schaft tätig. 1856 kehrte er nach Berlin zurück, wo er als Journalist und Rechts­anwalt winkte. 1867 wurde er in den nordeutschen Reichstag gewählt, der sich 1871 zum gesamtdeutschen Reichstag umwandelte; ihm gehörte er bis zu seinem Tode an. Den Benufspolitiken Lasker war bekannt dafür, daß er keine Sitzung versäumte und kompetent zu Themen allen Art Stellung zu nehmen wußte. Poli­tisch war er linkslibenal eingestellt; ursprünglich Mitglied den Fortschrittspantei, gehörte er zu den Mitbegnündern den Nationallibenalen Partei. Sein großes Ziel war die Schaffung eines liberalen Rechtsstaates. So kämpfte er für die Stärkung den Rechte des Parlaments und für einen größeren Schutz der Pressefreiheit und war ein Gegner von Bismarcks Schutzzollpolitik. 1880 verließ er die nationallibe rale Fraktion, weil er nicht länger wie diese Bismanck politisch unterstützen woll­te, und schloß sich später den

Karl Giskra, 1829-1879, östenreichischischen Jurist und Politiker. Aus Mähren stammend, hatte Giskna Rechtswissenschaft studiert und war seit 1860 als selb­ständigen Advokat tätig. Schon als jungen Mann für liberale Ideen begeistert - er

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war Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung -, wurde er 1861 zum Abgeordneten im österreichischen Reichsrat gewählt, wo er bis zu seinem Tode als Mitglied der deutsehliberalen Parteirichtung wirkte, trotz fragwürdiger Geldgeschäfte, die seine Wiederwahl 1873 nicht als sicher erscheinen ließen. Von 1867 bis 1870 gehörte Giskra als Minister des Innern dem ersten liberalen Bürgen­msnsstersum unter Carlos Fürst von Auersperg an. In dieser Stellung veranlaßte er die Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung. Als Befürworter der Erhal­tung des österreichischen Gesamtstaates und Gegner einen Autonomie für die galizischen und böhmischen Länder bekämpfte er das Kabinett unter Graf Ho­henwart. Um ein Übergewicht des slawischen Bevölkerungsanteils zu verhindern, war Giskra - zusammen mit Herbst - ein entschiedenen Gegner der Okkupation von Bosnien und den Herzegowina. Ihre Opposition führte schließlich im Febru­ar 1879 zum Sturz des zweiten Bürgerministeriums unter Adolf von Auersperg.

231 ein abstrakter Liberalismus, der viele schöne, freiheitliche Grundsätze: Für den Liberalismus kennzeichnend waren bestimmte allgemein-abstrakte Grundsätze, die er als politisches Programm vertrat: die Gewährleistung von individuellen Fneiheitsrechten für alle Menschen, die Beachtung von rechtsstaatlichen Regeln und die Bindung des staatlichen Handelns an eine Verfassung. Politisch kämpfte der Liberalismus gegen die politische und rechtliche Vorherrschaft von Adel und Geistlichkeit, er befürwortete die Einführung einen freiheitlichen Staatsver­fassung und die Bewahrung der Wirtschaft vor staatlichen Eingriffen. Rudolf Steiner lehnte -die grundsätzliche Überzeugung des Liberalismus, daß der Mensch ein unabhängiges, vernunftbegabtes Wesen sei, dessen Enwicklung dann am besten gedient sei, wenn es sich in Freiheit entfalten könne, durchaus nicht ab. Aber er sah schon als junger Mann auch die fragliche Seite solch einer schrankenlosen Freiheit, schrieb er doch in einem Beitrag für die «Deutsche Wochenschrift» vom Juli 1888, im Aufsatz «Papsttum und Liberalismus» (in G A 31): «Wie jeder an sich richtige Grundsatz, so kann natürlich auch dieser in fehlerhafter Form aufgefaßt werden und damit unsägliches Unheil anrichten. [...] Es ist traurig, aber leider nur zu wahr, daß hier eine ursprünglich richtige Anschauung zu dem scheußlichen System der Ausbeutung des Individuums durch das Individuum geführt hat.»

in Österreich hat ja der Weltkrieg begonnen, oder wenigstens von Ösrerreich aus nahm er seinen Anfang: Der österreich-ungarische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand (von Österreich-Este) (1863-1914), und seine Frau, Sophie geborene Gräfin Chotek (1868-1914), wurden am 28. Juni 1914 durch eine Ver­schwörung von Mitgliedern der serbischen Geheimongansiation «Schwarze Hand» in Sarajewo ermordet. In Serbien war man gegen den Thronfolger eingestellt, weil er den herrschenden Dualismus (Österreich, Ungarn) durch einen Trialismus (Österreich, Ungarn, Südslawien) ersetzen wollte. In der nun folgenden Juli-Krise wurde von Österreich-Ungarn zunächst eine diplomatische Aktion gegen Serbien unternommen, indem dieses Land am 23. Juli 1914 ultimativ zur Bekämpfung von antiösterreichischen Bewegungen und Geheimbünden aufgefordert wurde. Die für Österreich-Ungarn unbefriedigende Antwort Serbiens auf das Ultimatum führte am 25. Juli zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Belgrad und und am 28. Juli zur österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien. Aufgrund der bestehenden Bündnisverflechtungen ließen sich die anderen europäischen Großmächte, Rußland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien - mit mehr oder weniger

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Absicht - in die ausbrechenden kriegerischen Verwicklungen hineinziehen. Im Donnachen Mitgliedenvortrag vom 8. Januar 1917 (in GA 174) äußerte sich Rudolf Steiner ausführlich zum östenreichisch-serbischen Konflikt und seine Hintergründe, die schließlich zum Ausbruch eines Weltkriegs führten.

231 daß diese liberalisierende Richtung in Österreich so furchtbar unpolitisch gegen­überstand den großen Problemen, die gerade in Österreich zum Vorschein ka­men: Schon in jungen Jahren kritisierte Rudolf Steiner die abstrakte Haltung des deutschösterneichischen Liberalismus, so zum Beispiel in dem im Mai 1888 für die

232 der ältere Plener: Ignaz Freiherr (urprünglich Edler) von Plener (1810-1908), österreichischer Politiker. Von der Herkunft Deutschösterreicher, trat er als Jurist in den Staatsdienst ein, wo er an verschiedenen Orten sich als Beamter mit den Verwaltung der Staatsfinanzen beschäftigte, zuletzt als Finanzhandelsdirek­tor in Galizien. 1860 wurde er zum neuen provisorischen Finanzminister beru­fen, um die zerrütteten Staatsfinanzen, die durch Betrügereien von Kriegsmate­riallieferanten und durch die Kniegskosten aus dem Gleichgewicht geraten wa­ren, zu sanieren - eine Funktion, die er auch im folgenden kurzlebigen Kabinett des Agenor Romuald Graf von Goluchowski übernahm. Liberal gesinnt, setzte er sich im Dezember 1860 für die Berufung von Ritter von Schmerling zum neuen Staatsminister ein und bekleidete auch unter ihm - bis zu dessen Sturz im Jahre 1865 - das Amt eines Finanzministers. Von 1867 bis 1870 war er Handels­minister im ersten liberalen Bürgerministerium unter Carlos von Auersperg und betrieb Reformen auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens. Seit 1870 gehörte er dem Reichsrat an, zunächst als Mitglied des Abgeordnetenhauses, seit 1873 als Mitglied des Henrenhauses. 1907 wurde er in den Freihennenstand erhoben.

der jüngere Plener: Ernst Freiherr von Plener (1841-1923), war den Sohn von Ignaz von Plenen und ebenfalls Politiker. Nach dem Studium der Rechtswissen­schaft war er zunächst im diplomatischen Dienst tätig. Von 1873 bis 1893 wirkte er als Abgeordneter im österreichischen Reichsrat. Nach Herbst war er der her­ausragende Führen der österreichischen Deutschliberalen. Im Gegensatz zu ihm trat er für die Aufrechterhaltung der militärischen Besetzung von Bosnien und den Herzgowina ein. Nun dank der Spaltung der Liberalen und der Bildung der bosnischen Linken, an der er maßgeblich beteiligt war, fand die Okkupation Bosniens 1879 eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Von 1893 bis 1895 war er als Vertreten der Liberalen - damals nannten sie sich die «Vereinigten deutschen Linken» - Finanzminister im Koalitionsministerium von Alfred Fürst zu Windischgrätz. Plener war wesentlich an der Durchführung der Österreichisch-unga-

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rischen Währungsunion beteiligt. 1895, nach dem Sturz der Regierung Win­dischgrätz, zog er sich völlig aus der Politik zurück - er trat selbst aus der liberalen Partei aus - und ließ sieh zum Präsidenten des Gemeinsamen Obersten Rechnungshofes ernennen; diese Funktion bekleidete er bis 1918. Ab 1900 ge­hörte er dem österreichischen Herrenhaus an. Neben seiner Tätigkeit als Politi­ker verfaßte Plener auch eine Reihe von politischen Schriften.

232 Eduard Herbst, 1820-1892, österreichischer Jurist und Politiker. Von deutsch­österreichischen Herkunft, war er nach dem Studium der Rechtswissenschaft als Universitätslehrer tätig; seit 1847 zunächst als Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Lembeng, seit 1858 in Prag. 1861 wurde Herbst Mitglied des Abgeordnetenhauses im österreichischen Reichsrat, dem er bis 1895 angehörte. Er entwickelte sich bald zum maßgebenden Führer der deutschliberalen Bewegung - der sogenannten

im ungarischen Reichstag: Der ungarische »Reichstag» - das ungarische Gesamt-parlament - bestand aus zwei Kammern, dem »Magnatenhaus» und dem

Kálmán (Koloman) Tisza, 1830-1902, ungarischer Staatsman. Nachdem der österreich-ungarische Ausgleich von 1867 die Wiedeninkraftsetzung der Ver­fassung von 1848 und damit die Wiederherstellung der inneren Selbständigkeit des ungarischen Staates brachte - die Verfassung war im Zusammenhang mit der Unterdrückung der ungarischen Revolution von 1848/49 aufgehoben wor­den -, übten zunächst die gemäßigten Liberalen die Regierungsgewalt aus. 1875 vereinigten sich diese mit den Liberalen des linken Zentrums, die unter der Führung von Kálmán Tisza standen, zur Liberalen Partei. Als unbestrittener Führer dieser Partei übernahm Tisza im Oktober 1875 die Regierungsgewalt, die er bis März 1890 ausübte. Allerdings schien seine Machtausübung wegen der Unzufriedenheit üben die Folgen der Okkupation Bosniens vorübergehend ge­fährdet; durch einen nicht ernstgemeinten Rücktritt im Oktober 1878 gelang es

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ihm, die Wogen zu glätten, und er wurde im Dezember 1878 erneut zum Mini sterpräsidenten ernannt. In seiner Regierungszeit erreichte er die Befestigung des dualistischen Systems und damit verbunden den Erhalt der ungarischen Vor­machtstellung über die anderen Nationalitäten sowie die Gesundung der Staats-finanzen. Wegen zunehmender Unpopularität seiner Person trat er schließlich zurück; die Liberalen ühten aber weiterhin bis 1905 in wechselnden Koalitionen die Regienungavenantwontung aus.

232 der Vater dessen, der im Weltkrieg eine Rolle spielte: Der Sohn von Graf Kálmán Tisza, István (Stefan) Tisza (1861-1918), war von Juni 1913 bis Juni 1917 erneut ungarischer Ministerpräsident, nachdem er dieses Amt bereits von November 1903 bis Januar (geschäftsführend bis Juni) 1905 bekleidet hatte. Er lehnte den Krieg gegen Serbien ab, mußte sieh aber der Entscheidung des Kronnates beugen und der österreich-ungarischen Kriegserklärung an Serbien zustimmen.

Fugen Richter, 1838-1906, deutscher Politiker. Er hatte Recht und Volkswirt schaft studiert und war nach Abschluß seiner Studien in verschiedenen Justizbe­hörden tätig. Anschließend lebte er als freien Schriftsteller in Berlin. Seine nega­tiven Erfahrungen mit staatlichen Behörden bestärkten ihn in seiner ausgeprägt individualistischen, liberalen Grundüberzeugung, daß es Aufgabe der Politik sei, den rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem freien Markt zum Durchbruch zu verhelfen. Soziale Reformen lehnte er als Störung des freien Wettbewerbs den Kräfte ab. Seit 1867 gehörte er dem norddeutschen, seit 1871 dem gesamtdeut­schen Reichstag als Abgeordneter an. Seine linksliberale Einstellung - er war der Führer der Fortschnittspartei - machte ihn zum unbeugsamen Gegenspieler von Reichskanzler Bismanck. Richters Hauptwaffe war das Budgetrecht des Reichs­tages; er war bekannt für die aknibische Uberprüfung jedes einzelnen Haushalt-titels. Er lebte in den Hoffnung, daß mit dem Regierungsantritt des Kronprinzen Friedrich der Ubengang zu einen parlamentarischen Verfassungsordnung gelin­gen wende. Aber der Tod des neuen Kaisers Friedrich III. zerstörten seine Er­wartung. Es blieb ihm nun die schonungslose Bekämpfung des persönlichen Re­giments von Kaiser Wilhelm II., ohne Aussicht auf wirklichen Erfolg.

Otto Hausner, 1827-1890, österneichisch-polnischer Politiker. Aus Galizien stammend, wurde er 1878 zum Mitglied des Abgeordnetenhauses des Reichsra­tes gewählt, wo er bis zu seinem Tod als eines der führenden Mitglieder des Polenklubs wirkte. Er war als glänzender Redner bekannt, und verschiedene seiner Panlamentaneden wurden auch veröffentlicht. Er war gundsätzlich gegen die außenpolitischen Bestrebungen Bismarcks und das Bündnis mit Deutschland eingestellt, und die Okkupation von Bosnien und den Henzegowina verurteilte er als imperialistische Politik. Rudolf Steinen in

Johann Nepomuk Berger, 1816-1870, österreichischen Politiker aus Mähren Er hatte Rechtswissenschaft studiert und war zunächst als Publizist tätig. 1848 wurde er in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, wo er politisch zur außersten Linken gehörte. Seit 1849 war er in Wien als Rechtsanwalt tätig. Seit 1863 gehörte er als deutsehlibenal gesinnten Abgeordneten dem österreichischen Reichsrat an. Von 1867 bis 1870 gehörte er als Minister ohne Pontefeuille, das heißt als Regierungssprecher, dem ersten Bürgerministerium von Carlos von Auenspeng an. 1870 war er den Minuntenzeichnen des sogenannten Minoritäten­-Memorandums,

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das den Forderungen der nationalen Minderheiten in Östereich Rechnung tragen sollte, jedoch von den Mehrheit der Deutschliberalen - den sogenannten »Verfassungstreuen», die keine Änderung der bestehenden Verfas­sung wünschten - abgelehnt wurde und zum Rücktritt des föderalistisch gesinn­ten, slawenfreundlichen Teils des Kabinetts und damit des damaligen Minster­präsidenten, des Grafen Taaffe, führte.

232 Josef Freiherr (später Baron) von Lasser von Zollbeim, 1815-1879, Deutschöster­reicher, trat nach dem Studium den Rechtswissenschaften 1839 in den österrei­chischen Staatsdienst. Er vertrat liberale, gnoßdeutsche Ideen und war Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung. Mit dem Beginn den liberalen Ara in Österreich, den Übernahme der Regierung durch den Deutschliberalen Anton Ritten von Schmerling begann auch seine Karriere als Minister in der Regierung:

von 1860 bis 1861 war er Justizminister und anschließend bis 1865 Minister den politischen Verwaltung. Von 1871 bis 1878 wirkte er als Innenminister in der Regierung von Adolf von Auersperg. Sein Einfluß war so groß, daß man in der Öffentlichkeit vom

weil tatsächlich dasjenige, was da als liberalisierende Grundsätze verfolgt wird, angewendet, in der Welt nach und nach zum Imperialismus führen kann: Einer der wichtigsten liberalen Grundsätze war das Recht jedes Individuums auf freie wirtschaftliche Betätigung, auf die Verfolgung des persönlichen Eigennutzes. In der gesellschaftlichen Praxis angewandt, konnte dieser Grundsatz nur zu einer Dienstbarmachung der Staatsgewalt für wirtschaftliche Sonderzwecke einzelnen Interessengruppen führen und damit letzten Endes zu einer imperialistischen Außenpolitik. Ein Paradebeispiel für solch eine Entwicklung war die Politik Englands im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den drei Dornachen Mitgliedervorträgen vom 20., 21. und 22. Februar 1920 (in GA 196) äußerte sich Rudolf Steiner ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung des Imperialismus.

233 im Wiener Parlament: In Wien befand sich der Sitz des Gesamtpanlamentes für die österreichische Reichshälfte der Habsburger Doppelmonarchie. Dieses Par­lament hieß «Reichsrat» und bestand aus zwei Kammern: dem «Herrenhaus» und dem «Abgeordnetenhaus». Mitglieder des Herrenhauses waren die Prinzen des kaiserlichen Hauses, die Häupter hervorragender Adelsgeschlechter, die Fürst- und Erzbischöfe und auf Lebensdauer vom Kaiser berufene Männer. Ursprünglich wurden die 203 Mitglieder des Abgeordnetenhauses durch die Landtage der einzelnen Kronländer bestimmt; erst ab 1873 fanden nationale Wahlen für die 353 Abgeordneten statt, wobei nur ein sehr eingeschränktes Wahlrecht galt, indem bestimmte Wahlkörperschaften, die Kurien, das Recht auf eine festgelegte Abgeordnetenzahl besaßen. Es gab zunächst vier Kurien (Kurie der Großgrundbesitzer, Kurie der Städte, Kurie der Handels- und Gewerbekammern, Kurie der Landgemeinden); wählen konnten nur die eine bestimmte Mindeststeuer zahlenden männlichen Bürger. 1896 wurde eine fünfte Kurie eingeführt, die Kurie der allgemeinen Wählerklasse, für die das allgemeine männliche Wahlrecht galt; gleichzeitig wurde die Zahl der Abgeordneten auf 425 erhöht. 1907 wurde eine grundlegende Wahlrechtsreform durchgeführt, indem die Kurien abgeschafft und unterschiedslos das allgemeine - männliche - Wahlrecht eingeführt wurde. Zu vergeben waren nun 516 Abgeordnetenmandate.

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Rudolf Steiner hatte als jungen Mann »manch intenessante Parlamentsdebatte auf den Galenie des östenreichischen Abgeordneten- und Herrenhauses» verfolgt (siehe IV. Kapitel von

233 im Berliner Parlament: In Benlin befand sich den Sitz des deutschen Gesamtpar­lamentes, des

im Londoner Parlament: In London befand sich der Sitz des englischen Parla­mentes. Es bestand aus zwei Kammern: dem Oberhaus, dem

wie in dem damaligen österreichischen Parlament oder in den Delegationen:

Österreich-Ungarn bestand aus den beiden durch Personalunion verbundenen selbständigen Monarchien Zisleithanien (Österreich, diesseits der Leitha) und Tnansleithanien (Ungarn, jenseits der Leitha). Zur Beschlußfassung über die gemeinsamen Angelegenheiten traten jährlich abwechselnd in Wien und Buda­pest getrennt tagende «Delegationen», das heißt je 60 Mitglieder aus beiden Reichsparlamenten zusammen. Nicht nur das österreichische Parlament, der «Reichsrat», setzte sich aus zwei Kammern zusammen, sondern auch das ungarische Parlament, der «Reichstag». Die je 60 Mitglieder der beiden Delegationen setzten sich aus 20 Mitgliedern des jeweiligen Oberhauses und 40 Mitgliedern des jeweiligen Unterhauses zusammen. Den Delegationen stand die Beschlußfassung über die auswärtigen Angelegenheiten, das Kriegswesen, die Verwaltung des Reichslandes Bosnien und Herzegowina und das Finanzwesen, soweit es die gemeinsam zu bestreitenden Ausgaben betraf, zu. Dementsprechend gab es auch drei gemeinsame Ministerien mit Sitz in Wien: das Ministerium des Kaiserlich und Königlichen Hauses und des Äußern, das Reichskriegsministerium und das Reichsfinanzministerium. Die Delegationen verhandelten getrennt und teilten

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sich ihre Beschlüsse gegenseitig schriftlich mit; wenn ein dreimaliger Schrif­tenwechsel nicht zur Einigung führte, so erfolgte die Entscheidung durch Ab­stimmung in gemeinschaftlicher Plenarsitzung.

233 Eduard Suess, 1831-1914, österreichischer Naturwissenschafter, seit 1857 Pro­fessor der Paläontologie, seit 1862 Professor der Geologie in Wien. Von 1897 bis 1911 wirkte Suess als Präsident den Kaiserlichen Akademie in Wien; 1911 zog er sich aus dem beruflichen Leben zurück. Suess war als deutschliberal Gesinnter auch politisch tätig: von 1873 bis 1897 war er Abgeordneter im Reichsrat. Er warnte vor den Gefahren einer Balkanpolitik, die auf eine Erfüllung der im politischen Testamentes Peters des Großen niedergelegten Zielsetzungen hinaus­laufen würde. Er warnte deshalb vor einen Okkupation Bosniens.

Eduard Sturm, 1830-1909, österreichischer Politiker, aus Mähren stammend, übte den Beruf eines Advokaten aus. Von 1867 bis 1890 gehörte er dem Abge­ordnetenhaus des österreichischen Reichsrates an. Als Abgeordneter spielte er eine führende Rolle im österreichischen Liberalismus. Er lehnte die Okkupation Bosniens durch Österreich ab.

bei jener Debatte, die sich an geknüpft hat an die beabsichtigte und dann sich vollziehende Okkupation von Bosnien und der Herzegowina: Die bedeutenden Opfer und Kosten der bosnischen Okkupation riefen sowohl in Österreich als auch in Ungarn große Unzufriedenheit hervor. Insbesonders ein Großteil der deutschen Liberalen - die damals in der sogenannten Verfassungspartei organi­siert waren, - lehnten unter der Führung von Eduard Herbst und Karl Giskra die bosnische Okkupation ab, bedeutete sie doch eine Stärkung des südslawi­schen Bevölkerungsanteils und damit neue Belastungsproben für den Vielvöl­kerstaat. Diese Opposition führte schließlich zum Sturz der Regierung unter Adolf von Auersperg im Juli 1878. Sein Nachfolger, Freiherr de Pretis-Cagnodo, konnte sich im Abgeordnetenhaus mit seinem Okkupationsprogramm vom 22. Oktober 1878, das die militärische Besetzung aufrechterhalten wollte, nicht durchsetzen. Die Mehrheit des Abgeordnetenhauses richtete vielmehr am 29. Oktober 1878 eine Adresse an den Kaiser, in der die Okkupation vom po­litischen und finanziellen Gesichtspunkt aus getadelt wurde. Aber Kaiser Franz Joseph I. und der österreichisch ungarische Außenminister Graf von Andrássy befürworteten die Aufrechterhaltung der Okkupation aus machtpolitischen Gründen. Trotzdem setzten Herbst und Giskra ihre Opposition fort. Im Januar 1879 beantragten sie im Abgeordnetenhaus nicht bloß die Verwerfung des Ber­liner Vertrages, sondern auch die Ablehnung den Verlängerung des Wehrgeset­zes und die Bewilligung der Steuererhebung für 1879 nun auf einen Monat. Alle drei Anträge wurden aber abgelehnt, da sich ein Teil den Liberalen - die soge­nannte bosnische Linke - unter der Führung von Ernst von Plener von der Verfassungspartei abgespalten hatte. Diese Spaltung war schließlich dafür ver­antwortlich, daß die Liberalen 1879 endgültig aus der Regierungsverantwortung gedrängt wurden.

«Deutschtum und Deutsches Reich»: 1880 hielt Otto Hausner im österreichi­schen Abgeordnetenhaus eine Rede über seine grundsätzliche Haltung zum deutsch-östenreichischen Bündnis. Diese Rede erschien im gleichen Jahr in Wien unten dem Titel Deutschthum und Deutsches Reich». Am Schluß seiner Ausführungen sagte Hausner: «Kein österreichischer Pole, möge er in seinen Forderungen in Bezug auf Landesautonomie noch so weit gehen, ist so verblendet und

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politisch unreif, um die hohe Bedeutung des deutschen Elements fün Öterneich zu unterschätzen und die volle Berechtigung des Deutschtums zu verkennen oder antasten zu wollen.» Aber es waren vier Gründe, die Hausner veranlaßten, gegen das deutschösterneichische Bündnis Stellung zu nehmen:

233 im Zusammenhang liest mit einer anderen, die er gehalten hat, ali der Arlberg-tunnel gebaut worden ist: Es war kurz vorher, aber im gleichen Jahre 1880, als sich Otto Hausner im Wiener Abgeordnetenhaus für den Bau des Arlbergtun­nels aussprach. Durch den geplanten Bau des 10 km langen Tunnels durch den Arlberg sollte erstmals eine Bahnverbindung zwischen dem Land Voralbeng und der Grafschaft Tirol geschaffen werden. Der Arlbergtunnel war von großer wirtschaftlichen und strategischer Bedeutung, wurden doch durch diese Eisen­bahnverbindung die Länder den Doppelmonarchie mehr an den Westen Europas angebunden. Hausnen trat für dieses Bahnprojekt ein, weil er darin ein Mittel gegen die durch den Zweibund bewirkte einseitige außenpolitische Abhängig­keit von Deutschland sah und sich davon eine größere Bündnisfreiheit für Ostenneich - zum Beispiel im Hinblick auf Frankreich - versprach. Der Reichs­rat stimmte dem Bau des Tunnels zu; 1884 wurde er eröffnet.

Hausner war, äußerlich angesehen« eine Art Geck: Es gibt eine Tafelzeichnung von Rudolf Steiner, auf der unter anderem auch Otto Hausner mit dem Monokel zu sehen ist: Tafelzeichnung 1 zum Dornachen Mitgliedervortrag vom 6. April 1924 (in GA 236), veröffentlicht in »Wandtafelzeichnungen zum Vor­tnagswenk< XVI (K 58/16).

Café Central: Das Café Centnal, an der Wiener Hernengasse 14 gelegen, wurde 1868 eröffnet und entwickelte sich als Treffpunkt den Literaten zu einem Kri­stallisationskenn des geistigen Lebens in Wien. Als 1897 auch jene Besuchen hierher übersiedelten, die bis dahin das Café Griensteidl frequentiert hatten, begann die große Zeit des Café Central. Auch Rudolf Steinen gehörte zu den Besuchern des Café Central. Einen besonderen Anziehungspunkt bildeten die in 22 Sprachen aufliegenden Zeitungen sowie die zur Verfügung stehenden Nach­schlagewerke.

234 Der Panslawismus ist eine positive Macht: Den Panslawismus war eine im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandene Bewegung, die die kulturelle und politische Eigenständigkeit allen Slawen und ihnen Zusammenschluß unter einen gemeinsamen

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Führung forderte. Aus der Sicht der russischen Panslawisten konnte diese Führungsrolle nur dem zaristischen Rußland zufallen. Ein solcher russischer Vormachtanspruch widersprach jedoch den Vorstellungen der slawischen Völ­ker in der Donaumonarchie. Im Gegensatz zu den Deutsehliberalen, die von einem liberalen Einheitsstaat ohne Rücksicht auf die nationalen Unterschiede träumten, reehneten die politischen Führer der slawischen Völker mit den realpolitischen Kräften den eigenen nationalen Bestrebungen. In diesem Sinne winkte der Panslawismus in Österreich durchaus als

234 Frantisek (Franz) Palacky« 1798-1876, österreich-tschechischer Politiker und Schriftsteller. Ursprünglich aus Mähren stammend, veröffentlichte er eine

Frantisek Rieger (Franz Freiherr von Rieger), 1818-1903, österreichisch-tschechi-scher Politiker aus Böhmen. Während der Revolutionszeit von 1848 bis 1849 spielte er zusammen mit Palacky eine führende Rolle innerhalb der tschechischen Autonomiebewegung. Er war Mitglied des Reichstages und ging nach dessen Auflösung ins Exil. 1851 kehrte er wieder nach Böhmen zurück und war als Zei­tungsvenleger und Herausgeber der böhmischen Nationalenzyklopädie tätig. 1861 wurde er als Abgeordneter in den österreichischen Reichsrat gewählt, setzte aber 1863 den Austritt den Tschechen aus dem österreichischen Reichsrat durch, um den Forderungen nach Autonomie größeren Nachdruck zu verleihen. Die Tseheehenpartei blieb fünfzehn Jahre dem österreichischen Parlament fern; erst ab 1879, nach dem Ende der liberalen Ära, nahmen sie wieder an der parlamenta­rischen Arbeit teil; Rieger wurde der parlamentarische Führer der konservativ­föderalistischen Mehrheit. 1891 verlor er aber sein Abgeordnetenmandat, da er als Vertreter der gemäßigt-konservativen Tschechenpartei, der Alttsehechen, von den radikaleren Jungtsehechcn verdrängt wurde. 1897 wurde er zum lebeoslängliehen

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Mitglied des Hennenhauses ernannt, 1898 in den Freiherrenstand erhoben.

234 Kasimir Ritter von Grocholski, 1815-1888, österneichisch-polnischer Politiker. Aus Galizien henkommend, wurde er 1861 Mitglied des Abgeordnetenhauses, was er bis zu seinem Tode blieb. Als führende Persönlichkeit des Polenklubs vertrat er die polnischen Interessen im österreichischen Reichsrat. 1870 war er Minister ohne Portefruille im kurzlebigen Kabinett des katholisch-konservati­ven Grafen Hohenwant, der sich sehr um einen Ausgleich mit den Tschechen und Polen bemühte. Durch sein politisches Winken konnten die Polen ihren Einfluß in Galizien und in Gesamtösterreieh wesentlich ausdehnen; besonders in den Zeit des zweiten Kabinetts des Grafen Taaffe, in den achtziger Jahren, er­langte er große Macht im Abgeordnetenhaus.

Agenor Graf von Goluchowski« 1849-1921, österreiehiseh-polniseher Staats­mann, Sohn des Agenon Romuald Grafen Goluchowski. Aus Galizien stammend und nach dem Studium der Rechtswissenschaften trat Graf Goluchowski in den diplomatischen Dienst ein. Von 1887 bis 1895 war er Gesandter in Bukarest. Im Mai 1895 wurde er zum österneichisch-ungarischen Außenminister berufen - ein Amt, das er bis Oktober 1906 bekleidete. Goluehowski trat für eine Aufrecht-erhaltung des status quo auf dem Balkan und für eine unabhängige Stellung Osterreiehs gegenüber Deutschland ein. Von 1875 bis 1918 war Graf Go­luehowski Mitglied des Herrenhauses und vertrat dort die politische Linie der Polenpartei; er war Befürworter eines austro-polnischen Ausgleichs.

Wojciech (Adalbert) Graf von Dzieduszyck, 1845-1909, österreiehisch-polni-sehen Schriftsteller und Politiker. Von Galizien herkommend, studierte er Phi­losophie und verfaßte eine Reihe von philosophischen und literarischen Werken; als Gutsbesitzer hatte er die nötige wirtschaftliche Unabhängigkeit dazu. Von 1879 bis 1886 war er Mitglied des Abgeordnetenhauses und gehörte dort zur Gruppe des Polenklubs. In der österreichischen Koalitionsregierung Unter Max Freiherr von Beck, die aus Deutschen, Tschechen und Polen bestand und vom Juni1906 bis November 1908 im Amt war, übernahm Graf Dzieduszyeki für kurze Zeit, das heißt von 1906 bis 1907, die Funktion des polnischen Land­mannministers im Kabinett Beck.

235 Christlichsoziale Partei: 1891 schlossen sich verschiedene christlich-soziale mit kleinbürgerlichen Gruppierungen zu einer einheitlichen Partei, der Christlichso­zialen Partei, zusammen. Sie war stank von den Ideen der katholischen Sozial­reform geprägt, wie sie Karl Freiherr von Vogelsang (1818-1890) vertreten hatte. Er strebte eine benufsgenossenschaftlich gegliederte, christliche Gesellschaft ohne Ausbeutung an. Die Chnistliehsoziale Partei entwickelte sieh bald zu einer maßgebenden politischen Kraft in Österreich - einen Einfluß, den sie auch in die Zeit der ersten österreichischen Republik hinübenretten konnte.

Es ist dann die Lueger-Partei: Sehr schnell setzte sieh in der Christliehsozialen Partei die kleinbürgerliche Gruppierung unter Karl Lueger durch. Karl Luegen (1844-1910), Rechtsanwalt, war ein volkstümlicher Politiker, der seit 1885 als Demokrat Mitglied des Abgeordnetenhauses war. Mit seiner großen demagogi­schen Begabung verstand er es, von allem die unteren Mittelsehiehten emotional anzusprechen und politisch zu mobilisieren. Im Sinne der Idee, «dem kleinen Mann muß geholfen werden», wurde 1896 in Wien das «christlichsoziale Arbeiter-Programm» beschlossen. Durch die Verknüpfung von christlich-sozialen

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Reformideen mit einem scharfen Antisozialismus und Antisemitismus sicherten sich die Christlichsozialen in Wien und den Alpenländern eine Massenbasis, zumal sie auch von der Kirche unterstützt wurden. Von 1907 bis 1911 waren die Christlichsozialen die stärkste Fraktion im österreichischen Reichsrat. Karl Lueger wurde zwischen 1895 bis 1896 aufgrund der ehristlichsozialen Mehrheit viermal zum Bürgermeister Wiens gewählt, jedoch von Kaiser Franz Joseph I. nicht bestätigt - Adel und Großbürgertum wandten sich gegen den

235 zum alten, klerikalen Schulgesetz: Am 25 Mai 1868 trat ein neues vom liberalen Jusitzminister Eduard Herbst vorbereitetes und von der liberalen Mehrheit im Reichsrat verabschiedetes Schulgesetz in Kraft das die Leitung des Unterrichts und Erziehungswesens der Kirche entzog und dem Staat unterstellte Erganzt wurde es durch das Reichsvolkssehulgesetz vom 14 Mai 1869 das die achtjäh nige staatliche Pflichtschule durchsetzte Den obligatorische konfessionelle Reis gionsuntennieht wurde allerdings beibehalten In der Zeit des zweiten konsenva tiv-födenalistisehen Ministeriums Taaffe das vom August 1879 bis November 1893 im Amt war, mußte immer wieder mühsam - durch Konzessionen von Fall zu Fall - der Ausgleich zwischen den an der Regierung beteiligten Deutsehkle­nikalen und Slawen gefunden werden. So mußten den Klerikalen Zugeständnisse gemacht werden. Sie konnten zwar die Wiedereinführung der konfessionellen Schule nicht durchsetzen, wurden aber 1883 durch eine Änderung des liberalen Sehulgesetzes zufriedengestellt, die allerdings für Galizien keine Geltung haben sollte. Mit diesen Änderung wurde die Entscheidung über die Herabsetzung den Schulpflicht von acht Jahren auf sechs Jahre den Gemeinden überlassen und zusätzlich bestimmt, daß der Schulleiter die gleiche Konfession wie die Mehrheit den Schüler haben sollte. Damit war die Voraussetzung für eine Stärkung des katholischen Einflusses auf die Schulen gegeben. Der wesentlich weitergehende Antrag des Prinzen Alois von Liechtenstein aus dem Jahre 1888 - er war der geistige Leiter den katholisch-klerikalen Zentrumspartei und befürwortete die Einführung den konfessionellen Schulen - scheiterte aber, zur Freude des jungen

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Rudolf Steinen, den in seinem Kommentar zur Woche vom 25. bis 31. Januan 1888 in den

235 Österreich-Un garn hatte ja eine dualistische Regierungsform: Am 18. Februar

1867 fanden in Wien die Verhandlungen üben die Bedingungen für einen Aus­gleich mit Ungarn ihren Abschluß; in Kraft gesetzt wurde der <Österreich­Unganische Ausgleich< am 15. März 1867. Das Gebiet der Habsburger Monar­chie wurde in zwei Reichshälften aufgeteilt - Österreich (Cisleithanien) und Ungarn (Tnansleithanien) -, die als gleichberechtigte und selbständige Staatsge bilde nun durch die Person des Herrschers und durch die gemeinsamen Ange­legenheiten (Außenes, Heer und Finanzen) verbunden waren. Die wirtschaftliche Einheit wurde durch eine Währungs- und Zollunion gewährleistet.

»die Vertretung der Länder der Heiligen Stephanskrone»: Seit dem Ausgleich von 1867 wurde die ungarische Reichshälfte zentralistisch regiert; die Selbstver­waltung aller ungarischen Nebenländen, zum Beispiel von Siebenbürgen, wurde aufgehoben; nur Kroatien und Slawonien sowie Fiume konnten sich eine gewis­se beschränkte, innere Selbstverwaltung bewahren. Als Länder den ungarischen Krone galten somit: das Königreich Ungarn, das Königreich Kroatien und Sla­wonien, die Stadt Fiume. Die ungarische Krone trug den Namen

Ruthenen: Übliche Bezeichnung für die in Österreich-Ungarn lebenden West-ukrainer.

236 Es kam dann so, daß die Regierung nach diesem zweiten bürgerlschen Ministe-rium schließlich überging an dieses Ministerium Taaffe: Nach dem Rücktritt des zweiten Bürgerministeriums unter Adolf von Auersperg und der kurzen Über­gangsregierung unten Karl von Stremayr übernahm Eduard Graf von Taaffe im August 1879 erneut die österreichische Ministenpräsidentschaft. Sein Kabinett beruhte auf einer Koalition der Tschechen und Polen mit den Konservativ-Kle­rikalen, dem sogenannten «Hohenwartklub», benannt nach dem ehemaligenösterreichischen Ministerpräsidenten Hohenwart. Diese Koalition blieb vierzehn Jahre bestehen und wurde «Eiserner Ring» genannt. Für die Politik des

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Ministeriums Taaffe war bald der Begriff des Fortwurstelns geläufig. Die Regie­rung Taaffe stürzte im November 1893 am Plan einer Wahlrechtsreform, die anstelle die Wahlkurie der Städte und Landgemeinden - die Wählerschaft war in Kurien zusammengefaßt - das allgemeine Wahlrecht einführen wollte. Dieser Plan fand keine Billigung durch den Hohenwartklub und die Polen, worauf diese der Regierung Taaffe ihre Unterstützung entzogen.

236 Eduard Graf von Taaffe, 1833-1899, deutschösterreichischer Politiker. Aus österreichischem Hochadel stammend, wurde er gemeinsam mit dem späteren Kaiser Franz Joseph I. erzogen. 1857 trat er in den Staatsdienst ein und über­nahm bald hohe Verwaltungsstellungen als Landeschef des Herzogtums Salz­burg und später Statthalter von Österreich. Von 1867 bis zu seinem Tode saß er im Reichsrat, bis 1870 als Mitglied des Abgeordnetenhauses und seitdem als Mitglied des Herrenhauses. Ab 1867 war er mehrfach Minister, vor allem Innen­minister, und auch zweimal österreichischer Minsterpräsident - von September 1868 bis Januar 1870 und von August 1879 bis November 1893. Von streng konservativer Gesinnung verfolgte er eine betont pragmatische Politik ohne wegweisende Ideen für die Zukunft. In seiner Zeit als Ministerpräsident gelang ihm weder eine dauerhafte Lösung des Nationalitätenproblems noch eine Ein­bindung der sozialdemokratischen Bewegung in den Staat. Im Aufsatz

in das schauerliche Drama von Mayerling: In Mayerling bei Heiligenkreuz in Niederösterreich besaß der österreichische Kronprinz, Erzherzog Rudolf von Habsburg-Lothringen (1858-1889), ein Jagdschloß. Er war der einzige Sohn von Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Elisabeth (Sisi). Im Gegensatz zu seinem Vater neigte er zu Freidenkentum und Liberalismus und war gegen die enge po­litische Verbindung mit Deutschland eingestellt, konnte aber auf den Gang der Dinge keinen Einfluß nehmen. Rudolf blieb auf lange Sicht nur die Rolle des Kronprinzen, dachte sein Vater doch nicht im mindesten an Abdankung. Seit 1881 war Erzherzog Rudolf mit der belgischen Prinzessin Stephanie unglücklich ver­heiratet; eine von ihm angestrebte Scheidung lehnte Kaiser Franz Joseph I. ab. Unheilbar erkrankt, beging er am 30. Januar 1889 in Mayerling, zusammen mit seinen achtzehnjährigen Geliebten, der Baronesse Mary Vetsera, unter nicht rest­los geklärten Umständen Selbstmord. Um seinen Freitod ranken sich bis heute die verschiedensten Gerüchte. Neuer - präsumtiver - Thronfolger wurde Erzherzog Franz Ferdinand von Habsburg-Lothringen, ein Neffe Kaiser Franz Josephs I.

Hermann Rollett, 1819-1904, Dichter aus Deutschösterreich. Wegen seinen po­litischen Dichtungen verfolgt, die von einer radikalen republikanischen Gesin­nung zeugten, lebte er zwischen 1845 und 1854 meist im Ausland. Nach seiner Rückkehr nach Osterreich wurde er 1876 schließlich Stadtarchivar von Baden bei Wien.

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236 Czernin: Siehe Hinweis zu S. 154.

die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus, die im Jahre 1917 an die mitteleuropäischen Mächte heran gebracht worden ist: Im Juni 1917 wandte sich Otto Graf von Lerchenfeld an Rudolf Steiner mit der Frage, wie denn Mitteleuropa auf ehrenvolle Weise aus dem Krieg geführt werden könne; er hatte nämlich aufgrund seiner Beziehungen - sein Onkel, Hugo Graf von Lerchen-feld, war der Leiter der Delegation Bayerns im deutschen Bundesrat - Einblick in die ganze Ideenlosigkeit der deutschen Außenpolitik. Daraufhin entwickelte ihm Rudolf Steiner in langen Gesprächen die Idee der Dreigliederung als Gegen-programm zu den Friedensideen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Schließlich nahm im Juli 1917 zusätzlich Ludwig Graf von Polzer­Hoditz an den Gesprächen teil. Zu ihren Handen verfaßte Rudolf Steiner die beiden Memoranden vom Juli 1919. Mit Hilfe ihrer Beziehungen oder durch persönliche Gespräche mit Rudolf Steiner erlangten verschiedene maßgebende Politiker der Mittelmächte Kenntnis von Steiners Dreigliederungsidee. Auf deutscher Seite waren es vor allem der Außenminister Richard von Kühlmann und Johann-Heinrich Graf von Bernstorff, der deutsche Botschafter in den Vereinigten Staaten von Amerika, sowie der badische Thronfolger und künftige Reichskanzler Prinz Max von Baden, auf österreichisch-ungarischer Seite Kaiser Karl I. und Ernst Seidler von Feuchtenegg, der Ministerpräsident für die öster­reichische Reichshälfte. Näheres zur Geschichte der Memoranden: siehe «Bei­träge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Nr.15, «Das Jahr 1917 - Im Geden­ken an eine geistes- und weltgeschichtliches Ereignis».

237 Richard von Kühlmann, 1873-1948, deutscher Diplomat. Nach dem Studium trat er in den diplomatischen Dienst ein und machte dort Karriere. Zuletzt - das heißt seit 1916 - war er deutscher Botschafter in Konstantinopel. Im August 1917 wurde er zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts, das heißt zum Außen­minister, ernannt. Im Grunde war Kühlmann von der Notwendigkeit eines Verständigungsfriedens mit den militärischen Gegnern überzeugt, aber es gelang ihm nicht, sich durchzusetzen. So tat er eigentlich das Gegenteil dessen, wovon er überzeugt war, und bot Hand zum Abschluß des Friedens von Brest-Litowsk mit Sowjetrußland im März 1918, der ein reiner Siegfrieden war. Zu diesem Zeitpunkt war Kühlmann mit den Ideen der Dreigliederung durchaus bekannt, hatte ihm doch Rudolf Steiner die erste Fassung des Dreigliederungs-Memoran­dums im Laufe eines persönlichen Gesprächs, das bereits im August 1917 in Berlin stattgefunden haben muß, überreicht. Kühlmann konnte sich aber nicht dazu durchringen, sich öffentlich zu diesen Ideen zu bekennen und für ihre Verwirklichung einzutreten. In seiner Reichstagsrede vom 24. Juni 1918 setzte er sich allerdings in Gegensatz zu den expansiven Kriegszielen der Obersten Hee­resleitung und sah sich schließlich im Juli1918 zum Rücktritt veranlaßt. Trotz dieses mutigen Schrittes hatte er letztlich nicht die Kraft gefunden, eine echte Alternative zu den annexionistischen Siegfriedensvorstellungen der Obersten Heeresleitung wie auch zu den lebensunpraktischen Friedenszielen von Wilson zu entwickeln.

Gyulá {Julius) Graf von Andrissy, 1823-1890, ungarischer Politiker. Er beteilig­te sich am ungarischen Freiheitskampf von 1848, begab sich 1849 nach England ins Fxil und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 1857 begnadigt, kehrte er nach Ungarn zurück und schloß sich der liberalen Bewegung an, die stark

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nationalistisch gesinnt war. Nach dem Zustandekommen des Ausgleichs wurde er im Februar 1867 ungarischer Ministerpräsident. Er setzte sich für eine zentra­listische Staatsgestaltung innerhalb der bei4en Reichshälften ein. Im November 1871 wechselte er auf die gesamtstaatliche Ebene und wurde österreich-ungari­scher Minster des Äußeren und Minister des Kaiserlichen Hauses. Angesichts der Balkanwirren suchte er den Einfluß Österreich-Ungarns in diesem Gebiet zu stärken und denjenigen Rußlands zurückzudrängen. Auf dem Berliner Kongreß von 1878 erhielt er die Ermächtigung zur Besetzung Bosniens und der Herze­gowina. Als diese Politk wegen des unerwartet starken militärischen Widerstan­des gegen die Besetzung auf lebhafte Opposition - insbesondere in der Reihe eines Teils der Deutsehliberalen und der Tschechen - stieß, war sein Rücktritt im Oktober 1879 unausweichlich.

237 Ferdinand Baron (später Graf) von Beust, 1809-1886, deutscher Staatsmann, der verschiedene hohe politische Ämter im Königreich Sachsen und in der österrei­chisch-ungarischen Doppelmonarehie bekleidete (siehe Hinweis zu S.30). Von Dezember 1867 bis November 1871 war Beust kaiserlich-königlicher Außenmi­nister. Er war für eine Teilnahme Osterreich-Ungarns im Deutsch-Französi­sehen Krieg. Mit seinem Wunsch nach militärischer Unterstützung Frankreichs konnte er sich nicht durchsetzen; die Habsburgermonarchie bewahrte ihre Neu­tralität. Schließlich sah sich Beust gezwungen, seinen Abschied zu nehmen; er wurde im November 1871 durch den auf die Neutralität setzenden Gyulá Graf von Andrässy als Reichskanzler und Außenminister ersetzt. Nach seinem Rück­tritt war Graf Beust österreichischer Botschafter in London und Paris. Wegen seiner offen zur Schau getragenen Franzosenfreundlichkeit sah er sich gezwun­gen, aus dem diplomatischen Dienst zu scheiden.

238 Jakob {James), 1566-1625, aus dem Hause Stuart, Sohn von Maria Stuart, seit Juli 1567 als Jakob VI. König von Schottland und seit März 1603 als Jakob I. gleichzeitig auch König von England - bis zu seinem Tode im März 1625. In­nenpolitisch setzte er sich für eine Stärkung der königlichen Vormacht gegen­über der Aristokratie (in Schottland) und gegenüber dem Parlament (in Eng­land) ein. Als Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche lehnte er die puritani­schen Forderungen nach einer weitergehenden Reformation, insbesondere die Abschaffung des Bischofsamtes, ab. Außenpolitisch förderte er die überseeische Expansion Englands, lehnte aber ein Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg ab. Eine wichtige Rolle spielte Jakob I. auch in der Verbindung des Freimaurertums mit dem angelsächsischen Volkstum. Rudolf Steiner äußerte sich verschiedent­lich zur Bedeutung der Persönlichkeit von Jakob 1., zum Beispiel im Mitglieder-vortrag vom 15. Januar 1917 in Dornach (in GA 174): »Einer der größten, der gigantischsten Geister des britischen Reiches steht selber ganz nahe der Oppo­sition gegen das bloß Kommerzielle innerhalb des britischen Kommerziums, und das ist Jakob I. Jakob I. bringt insofern ein neues Element hinein, als er der britischen Volkssubstanz dasjenige einimpft [...], was sie nicht verlieren darf, wenn sie nicht vollständig in den Materialismus aufgehen soll.»

Pulververschwörung: Als Pulververschwörung («Gunpowder Plot») wird die Verschwörung von zehn katholischen Edelleuten - darunter Guy Fawkes, ein katholischer Konvertit - bezeichnet, die unter Mitwissen von englischen Jesui­ten, König Jakob I. und das englische Parlament anläßlich der Parlamentseröff­nung am 5. November 1605 in die Luft sprengen wollten. Einer der katholischen

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Peers, dem die Warnung zugegangen war, das Parlament an jenem Tag zu mei­den, unterrichtete die Behörden hiervon, so daß einen Tag vorher die Verschwö­rung aufgedeckt werden konnte. Die Verschwörer wurden vor Gericht gestellt und hingerichtet. Äußerer Anlaß für diesen Attentatsversuch war die damalige Unterdrückung und Verfolgung der Katholiken in England.

238 Sie sehen durchaus ein die These: Zum Beispiel im Mitgliedervortrag vom 22. November 1918 in Dornach (in GA 185a), wo Rudolf Steiner auf das Vor­handensein eines solchen globalen Wirtschaftskampfes hinwies: «Die Wahrheit hat sich erst im Laufe der Jahre aus diesem sogenannten Krieg herausentwickelt. Daß Mittelmächte und Entente einander gegenüberstanden, war ja die Unwahr­heit; in Wirklichkeit sprang heraus dieser furchtbare wirtschaftliche Kampf, der da nun seinen Anfang nimmt.« Und weiter im gleichen Vortrag: «Die beiden Lager - wirtschaftlich heben sie sich ab, indem immer mehr und mehr sich zeigt, daß die englischsprechende Bevölkerung geographisch-welthistorisch darstellt eine Art Unternehmertum als herrschendes Element, das auf die eine oder an­dere Art besiegt die andere Welt, Mitteleuropa, Osteuropa, mehr oder weniger das Proletariat als herrschende Welt. Wie in der modernen Fabrik sich gegen­überstehen Unternehmer und Arbeiter, so stehen sich in der Welt Unternehmer­tum der alten Entente mit Amerika und Proletariat in den besiegten Mächten gegenüber.«

Völkerbund: Der Gedanke, die einander bekämpfenden Völker in einem «Völ­kerbund« zu vereinen, wurde im Weltkrieg von verschiedenen Staatsmännern, allen voran vom damaligen amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson ver­treten. Die Völkerbundssatzung vom 28. Juli 1919 war Bestandteil des Versailler Vertrages - und der anderen Pariser Vorortsverträge - und trat am 10. Januar 1920 in Kraft. Obwohl ursprünglich als eine weltweite Staatenverbindung zur Sicherung des Weltfriedens gedacht, war der Völkerbund zunächst eine Vertre­tung der Siegermächte; die Vereinigten Staaten allerdings gehörten dem Völker­bund nicht an, da sie den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatten Ebenso fehlte die Sowjetunion. Der Völkerbund hatte seinen ständigen Sitz in Genf; seine Organe waren die Völkerbundsversammlung, die Vollversammlung aller Mit­gliedstaaten und der Völkerbundsrat als Ausschuß. Als ständige Mitglieder ge­hörten dem Völkerbundsrat Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan an; daneben gab es auch eine bestimmte Zahl nichtständiger Mitglieder. 1920 wur­den Österreich und Bulgarien, 1922 Ungarn und 1926 Deutschland in den Völ­kerbund aufgenommen; die Türkei blieb draußen. Bei verschiedenen Territori alkonflikten wurde die Vermittlertätigkeit des Völkerbundes in Anspruch ge­nommen, zum Beispiel im Falle von Oberschlesien, das zwischen Polen und Deutschland umstritten war.

ich erzähle nicht Hypothesen, sondern ich erzähle Dinge, die Sie in den Reden in England hören konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Bereits im Berner Mitglicdervortrag vom 12. Dezember 1918 (in GA 186) hatte Rudolf Steiner auf diese Tatsache hingewiesen. Er sagte nämlich: «Sie konnten in gewis­sen okkülten Kreisen der englischsprechenden Bevölkerung, dort, wo man mit diesen Dingen bekannt ist [...] in der ganzen zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts prophetisch hingewiesen finden auf Dinge, die sich heute vollzie­hen. Denken Sie, was es geheißen hätte, wenn die Menschen des übrigen Europa, außer der cnglischsprcchenden Bevölkerung, sich nicht beide Ohren zugestopft

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und beide Augen verbunden hätten vor dem Aufmerksammachen auf diese Dinge! Ich will Ihnen eine Formel sagen, die immer wiederum in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts da ausgesprochen worden ist, es ist diese:

In Rußland muß, damit das russische Volk sich entwickeln kann, der russische Staat verschwinden, denn in Rußland müssen sozialistische Experimente voll­führt werden, die niemals in westlichen Ländern vollführt werden können. -Dies ist eine für den Nichtengländer vielleicht unsympathische, aber große, durchgreifende Weisheit, Gescheitheit im höchsten Maße.» Daß in okkulten englischen Kreisen tatsächlich solche Gedanken lebten, wird durch einen gewis­sen C. G. Harrison bestätigt, der im Jahre 1893 in einem «Verein von Forschern in theoretischem Okkultismus« eine Reihe von Vorträgen hielt, die 1894 in Lon­don unter dem Titel «The Transeendental Universe» veröffentlicht wurden und 1897 (ohne Ortsangabe) auch auf deutsch erschienen. Im zweiten Vortrag führte Harrison nämlich aus: «Das russische Reich muß sterben, damit das russische Volk leben kann, und die Verwirklichung der Träume der Panslawisten wird anzeigen, daß die sechste arische Unterrasse begonnen hat, ihr eigenes intellek­tuelles Leben zu leben und nicht länger mehr in ihrer Säuglingsperiode steht. Wir brauchen den Gegenstand nicht weiter zu verfolgen, als daß wir es ausspre­chen, der Nationaleharakter werde sie befähigen, sozialistische, politische und ökonomische Versuche durchzuführen, welche im westlichen Europa unzählige Schwierigkeiten bereiten würden. Das Vorstehende ist nur als Beispiel für ein Gesetz angeführt, welches allgemeine Anwendung findet und in der Geheimwis­senschaft als das «Gesetz der Ubereinstimmung> bekannt ist. Man muß im Ge­dächtnisse behalten, daß in der Geheimwissenschaft das deduktive Verfahren für Entdeckungszwecke und das induktive für Beweise eingeschlagen wird.»

Im Mitgliedervortrag vom 8. Dezember 1918 in Dornach (GA 186) wies Rudolf Steiner auf den Grund hin, warum sich nach Auffassung dieser Kreise der Westen für solche marxistischen Experimente nicht eigne: «Denn der Mar­xismus setzt voraus, daß die Politik ein Anhängsel der ökonomischen Ordnung ist. Sie ist es nicht, einfach durch die Instinkte nach der Bewußtseinsseele hin, die sich in der englischsprechenden Bevölkerung bilden. Nicht durch irgendwel­che Argumentation, durch Diskussion, nicht durch irgend etwas, was sonst in der Welt geschieht, wird eine marzistische Ordnung verhindert, sondern da­durch, daß das Britische Reich auf anderen Wirkliehkeitsgrundlagen gebaut ist als diejenigen, auf die der Marxismus, das mar'tistisch gesinnte Proletariat baut. [...] Nicht das Bankinstitut oder die Buchhaltung, welche Trotzki in Rußland einführen will, wird Glück haben, sondern das große Bankinstitut, das große Finanzinstitut, zu welchem durch seine besonderen Anlagen hinorganisiert ist das englischsprechende Volkstum.» Für Rudolf Steiner war klar: die englische Politik hatte dadurch ihren ganz besonderen Charakter. So betonte er im öffent­lichen Vortrag vom 4. März 1920 in Stuttgart (vorgesehen für GA 335): «Sie hat aus dem Unbewußten heraus ihre großen Ziele, und sie ist in bezug auf die einzelnen Handlungen Experimentalpolitik. Sie ist so stark Experimentalpolitik, Versuchspolitik, daß, wenn etwas aus unbewußten Zielen festgestellt ist, man sich nicht entmutigen läßt, wenn das eine oder andere nicht gelingt. Man ver­sucht es eben dann auf anderem Wege.« Welche Folgerung daraus für Mittel-und Osteuropa zu ziehen ist, sagte Rudolf Steiner im Mitgliedervortrag vom i. Dezember 1918 (in GA 186): «Man mag noch so hehre Ideale aufstellen in Mittel- und Osteuropa, man mag noch so guten Willen haben in diesen oder jenen Programmen, mit alledem ist nichts getan, solange man nicht von Impülsen

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auszugehen vermag, die ebenso oder besser von jenseits der Schwelle des Bewußtseins hergenommen sind, wie letzen Endes die Impulse des Westens, der britischsprechenden Bevölkerung von jenseits der Schwelle des Bewußtseins hergenommen werden.«

238 Testament Peters des Großen: Das angeblich vom russischen Zaren Peter I. (siehe Hinweis zu S.261) verfaßte politische Testament ist eine polnische Fälschung aus der Zeit der Französischen Revolution. Es gibt verschiedene Fassungen dieses Testamentes. Die ursprüngliche Fassung ist diejenige des Exilpolen Sokolnicki, die er am 19. Oktober 1797 dem Direktorium der Französischen Republik vorge­legt haben will. Sokolnicki gehörte zur großen Kolonie emigrierter Polen, die damals in Paris lebten; er bezeichnete sich als Generalvertreter der Polen. Er war polnischer Offizier und befand sich zu Beginn der neunziger Jahre für zwei Jahre in russischer Haft, wo er Gelegenheit hatte, sich mit militärischen und wissen­schaftlichen Studien zu beschäftigen. Nach seiner Entlassung reiste er über Polen nach Frankreich, wo er sich seit Herbst 1797 aufhielt. Im Hinblick auf die Auf­stellung einer polnischen Legion in Deutschland zur Befreiung Polens - er wollte auf deutschem Boden ein polnisches Rekrutierungsbüro eröffnen - suchte er die Unterstützung der französischen Regierung. Zu diesem Zweck verfaßte er die Schilderung der geheimen Absichten Rußlands in der Form eines politischen Testamentes Peters des Großen. Auf welche Weise es ihm gelang, diese Absichten zu ergründen, beschrieb Sokolnicki in einem dem Testament beigelegten Akten-stück: Auf der einen Seite hätten es ihm zweijährige Meditationen in den Gefäng­nissen von St. Petersburg, auf der anderen Seite Auskünfte polnischer Landsleute und eigene Forschungen in den in Warschau am 18. April 1797 beschlagnahmten russischen Archiven erlaubt, schließlich den geheimen Plan Zar Peters I. zur Unterjochung Europas zu entdecken. Allerdings sei es ihm nicht möglich gewe­sen, eine Abschrift von diesem Testament zu verfertigen, so daß er nur die wich­tigsten Artikel aus dem Gedächtnis habe niederschreiben können. In der Folge wurde diese Fälschung von Sokolnicki von weiteren Autoren ausgeschmückt und 1812 in erweiterter Form von den französischen Behörden verwendet, um die öffentliche Meinung gegen Rußland aufzubringen und sie für den Rußlandfeld­zug Napoleons zu gewinnen. Rudolf Steiner äußerte sich verschiedentlich zu den Auswirkungen dieses gefälschten Testamentes. Besonders ausführlich tat er dies im Rahmen seiner «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» (GA 173), im Vortrag vom 9. Dezember 1916. Die ursprüngliche Fassung des Testamentes ist in GA 337b - auf deutsch übersetzt - wiedergegeben.

239 Als ich 1889 in Hermannstadt war: Am 29. Dezember 1889 hielt Rudolf Steiner in Hermannstadt - heute Sibiü - auf Einladung seines Jugendfreundes Moritz Zitter einen Vortrag über «Die Frau im Lichte der Goetheschen Weltanschau­ung. Ein Beitrag zur Frauenfrage«. Der Vortrag konnte aufgrund von stenogra­fischen Notizen aus Rudolf Steiners Hand rekonstruiert werden und wurde in den «Beiträgen zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe« Nr. 61/62 veröffentlicht. Im Kapitel XIII von «Mein Lebensgang« (GA 28) beschrieb Rudolf Steiner seinen damaligen Aufenthalt in Siebenbürgen: «Am Weihnachtstage kam ich nach Her­mannstadt. Ich wurde in das Siebenbürger Sachsentum eingeführt. Das lebte da innerhalb des Rumänischen und Magyarischen. Ein edles Volkstum, das im Un­tergange, den es nicht sehen möchte, sich wacker bewahren möchte. Ein Deutschtum, das - wie eine Erinnerung an sein Leben vor Jahrhunderten, in den Osten verschlagen - seiner Quelle die Treue bewahren möchte, das aber in dieser

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Seelenverfassung einen Zug von Weltfremdheit hat, die eine anerzogene Freudigkeit überall im Leben offenbart. Ich verlebte schöne Tage unter den deutschen Geistlichen der evangelischen Kirche, unter den Lehrern der deut­schen Schulen, unter anderen deutschen Siebenbürgern. Mir wurde das Herz warm unter diesen Menschen, die in der Sorge um ihr Volkstum und in dessen Pflege eine Kultur des Herzens entwickelten, die auch vor allem zum Herzen sprach.» Siebenbürgen gehört heute zu Rumänien; die dortige deutsche Kultur ist endgültig am Verschwinden.

240 Schröer bat eine Grammatik des Zipser Deutschtums und desjenz gen des Gott­scheerländehens geschrieben: Karl Julius Schröer (1825-1900), Professor für deutsche Literatur an der Technischen Hochschule in Wien und akademischer Lehrer und Freund Rudolf Steiners, befaßte sich eingehend mit den Mundarten der deutschen Sporaden in Osterreich-Ungarn. Das Gebiet von Zips war in der Zeit der Doppelmonarchie ein ungarisches Komitat (Szepes). Zu diesem Komitat gehörten auch die Zipser Städte, die von deutschen Kolonisten aus Sachsen im

12. und 13. Jahrhundert begründet worden waren und als Kronstädte Selbstver­waltung genossen. Uber Jahrhunderte waren sie an Polen verpfändet, fielen aber im Zusammenhang mit der ersten polnischen Teilung 1772 wieder an Österreich zurück. 1876 wurden sie endgültig dem ungarischen Komitat Szepes einverleibt. Heute gehört das Gebiet von Zips zur Slowakei. Von Karl Julius Schröer er­schien ein »Beitrag zu einem Wörterbuche der deutschen Mundarten des ungri­sehen Berglandes» (Wien 1858), mit einem entsprechenden »Nachtrag zum Wörterbuche der deutschen Mundarten des ungrischen Berglandes» (Wien 1859). Später ergänzte er diese Veröffentlichungen durch «Versuch einer Dar­stellung der deutschen Mundarten des ungrischen Berglandes« (Wien 1864) und »Die Laute der deutschen Mundarten des ungrischen Berglandes» (Wien 1864). Das Gottscheerland war ein von Deutschen besiedeltes Gebiet im österreichi­schen Kronland Krain, rund um das Städtchen Gottschee. Die deutsche Bevöl­kerung führte ihren Ursprung auf 300 in der Völkerwanderungszeit eingewan­derte fränkisch-thüringische Familien zurück. Der Ort Gottschee heißt heute Kocevje und gehört zu Slowenien. Von Karl Julius Schröer erschien 1870 in Wien ein «Wörterbuch der Mundart von Gottschee« - eine Zusammenfassung der beiden Einzelpublikationen »Ein Ausflug nach Gottschee« (Wien 1868) und »Weitere Mitteilungen über die Mundart von Gottschee« (Wien 1870).

in meinem Buche «Vom Menschenrätsel»: Im Kapitel »Bilder aus dem Gedan­kenleben Österreichs» dieser Schrift (GA 20) ging Rudolf Steiner ausführlich auf die beiden deutschösterreichischen Dichter Fercher von Steinwand (eigentlich Johann Kleinfercher) (1828-1902) und Robert Hamerling (1830-1889) ein. Mit Hamerling hatte Rudolf Steiner einen kurzen Briefwechsel, mit Fercher von Steinwand war Rudolf Steiner persönlich bekannt. Im VII. Kapitel von »Mein Lebensgang» (in GA 28) beschrieb er seine erste Begegnung mit ihm: »Da saß er in einer Ecke, sein nicht kleines Glas Rotwein vor sich. Er saß, wie wenn er seit unbegrenzt langer Zeit gesessen hätte und noch unbegrenzte Zeit sitzen bleiben wollte. Ein schon recht alter Herr, aber mit jugendlich leuchtenden Augen und einem Antlitz, das in den feinsten, sprechendsten Zügen den Dichter und Idealisten offenbarte.« Und über die Bedeutung der Persönlichkeit Ferchers in einem Brief an Radegunde Fehr vom 15. Juli 1888 (in GA 38): »Das ist ein origineller Geist. Der hat ein ursprüngliches Streben, das sich mit elementarer Gewalt an die Oberfläche gearbeitet hat.»

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240 eine Rede gehalten in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts: Am 4. April

1859 hielt Fercher von Steinwand einen Vortrag im Altertumsverein in Dresden in Gegenwart des damaligen Kronprinzen Georg (1902-1904 König von Sach­sen), vieler Minister und hoher Offiziere über «Zigeuner. Begegnisse und Be­trachtungen«. Dieser Vortrag wurde erst nach seinem Tode 1903 in Wien - im dritten Band der Gesamtausgabe seiner Werke - veröffentlicht. Gegen Schluß seines Vortrages kam Fercher auch auf die Zukunft des deutschen Volkes zu sprechen. «Wie jede Zukunft, so mag uns unsre deutsche Zukunft ein Rätsel sein. Doch dieses ist nicht so undurchdringlich, als wir gewöhnlich meinen. Wir stoßen bereits auf wirkliche Lösungen dieses deutschen Rätsels, Lösungen, die wir mit Beziehung auf unsre Heimat prophetisch nennen können.« Aufgrund seiner Erlebnisse mit deutschen Auswanderern am Rio Contas in Brasilien, ihrer melancholischen Grundstimmung, ihres Entwurzeltseins glaubte er feststellen zu können: «Ist das nicht Zigeunerluft, was von den Gestaden des Rio de Contas herüberweht? Und diese gräßliche Melusine, was flüstert sie uns ins Ohr? Ein Wort von unsrer deutschen Zukunft, einen eiskalten Gruß von ihr auf baldiges Zusammentreffen. Ja, diese Zukunft naht bereits unheimlich unserem Horizon­te, sieht über Ufer und Berge herein in die Tiefen unserer Länder, hager genug, wie der Genius des Todes mit der Leichenblässe im Angesicht. Wir haben kein Recht, es anders zu erwarten. Was wir reden, hat nicht Mark; was wir tun, hat nicht Kern; was wir künstlerisch schaffen, hat nicht den Klang, nicht den Adel der großen Natur. Es sieht aus, als hätten wir uns die Aufgabe gestellt, die Kunst durch dürre Eigenheiten, durch nüchterne Volkstümlichkeit, durch erzwungene Naturalismen zu necken. Was wir im übrigen noch denken oder zur Geschichte beitragen, hat Raum genug im Hohlkegel einer Schlafmütze.»

dreizehn offizielle Sprachen: In der österreich-ungarischen Doppelmonarchie waren es snsgesamt dreizehn Sprachen, die offiziell anerkannt waren: Deutsch, Tschechisch, Slowakisch, Polnisch, Ruthenisch (Westukrainisch), Slowenisch, Kroatisch, Serbisch, Italienisch, Rätoromanisch, Rumänisch, Ungarisch und Jid­disch.

ich hatte dazumal zu übernehmen die Redaktion der «Deutschen Wochen-schrift»: Vom Januar bis Juli 1888 war Rudolf Steiner Redaktor bei der »Deut­schen Wochensehrift. Organ für die nationalen Interessen des deutschen Vol­kes«, die zugleich in Berlin und in Wien erschien. In dieser Zeit verfaßte Rudolf Steiner - neben andern Beiträgen - insgesamt 29 Artikel über das öffentliche Geschehen in Europa (in GA 31). Im VIII. Kapitel seiner Autobiographie »Mein Lebensgang« (GA 28) äußerte sich Rudolf Steiner zu dieser Tätigkeit als Redak­tor bei der «Deutschen Wochensehrift»: «In derselben Zeit fand es sich, daß ich mich in eingehender Art mit den öffentlichen Angelegenheiten Österreichs be­schäftigen mußte. Denn mir wurde 1888 für kurze Zeit die Redaktion der >Deut­schen Wochenschrift> übertragen. Diese Zeitschrift war von dem Historikes Heinrich Friedjung begründet worden. Meine kurze Redaktion fiel in die Zeit, in der die Auseinandersetzungen der Völker Österreichs einen besonders hefti­gen Charakter angenommen hatte. Es wurde mir nicht leicht, jede Woche einen Artikel über die öffentlichen Vorgänge zu schreiben. Denn im Grunde stand ich aller parteimäßigen Lebensauffassung so fern als nur möglich. Mich interessierte der Entwickelungsgang der Kultur im Menschheitsfortschritt.« Und: «Ich war im Grunde ganz unvorbereitet in diese Redaktionstätigkeit hineingekommen. Ich glaubte zu sehen, wohin auf den verschiedensten Gebieten zu steuern war;

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aber ich hatte die Formulierungen nicht in den Gliedern, die den Lesern der Zeitungen einleuchtend sein konnten. So war denn das Zustandekommen jeder Wochennummer für mich ein schweres Ringen.» Rudolf Steiner fühlte sich des­halb von einer großen Last befreit, als die Wochensehrift mit der Nummer 29 des VI. Jahrgangs ihr Erscheinen einstellte. Die »Deutsche Wochensehrift» scheiterte wegen finanzieller Auseinandersetzungen zwischen dem damaligen Herausgeber, Joseph Russel, und ihrem Gründer, Heinrich Friedjung.

240 Damals änderte sich die ganze Signatur von Wien: In der Amtszeit von Bürger­meister Karl Lueger (1897-1910) entwickelte sieh Wien zu einer modernen, kosmopolitischen Großstadt.

241 die großen Gesichtspunkte der Slawenpolitik: Diese Politik zielte zunächst auf eine größere Selbständigkeit der drei großen slawischen Völkerschaften, der Tschechen, Polen, Südslawen, innerhalb Österreich-Ungarns, und in ihrer radi­kalen - panslawistischen - Form auf eine Vereinigung aller slawischen Völker unter Rußlands Oberherrschaft. Siehe auch Hinweis zu S.238.

242 Gelegenheit zur Diskussion: Diese wurde kaum benützt. In seinem Notizbuch vermerkte Rudolf Steiner lediglich eine einzige Wortmeldung. Der Redner muß darauf hingewiesen haben, daß im sogenannten «Testament Peters des Großen« sehr deutlich der Drang nach Konstantinopel und nach einer Beherrschung der Meerengen zutage trete, was eine Grundkonstante der russischen Politik sei.

243 der weite Osten, der ja immer mehr und mehr sich zu einem geschlossenen Gebiet eint: Mit dem Sturz des Zarentums und der Übernahme der Macht durch die Bolschewiki setzte der Zerfall des russischen Reiches ein. Am 15. November 1917 wurde das Selbstbestimmungsrecht der russischen Völker, einschließlich ihres Rechts auf selbständige Staats bildung, proklamiert. Das führte zum Abfall wichtiger Randgebiete wie zum Beispiel der Ukraine. Gleichzeitig wurde das russische Kerngebiet durch einen Bürgerkrieg zwischen den bolschwistisehen und den gegenrevolutionären Kräften zerrissen, der 1920 mit dem Sieg der Roten Armee und damit der Bolschewisten endete. Es gelang diesen auch, die meisten abgefallenen Randgebiete - mit Ausnahme Finnlands und der baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen - wieder an Rußland anzubinden: Am 30. Dezember 1922 wurde die «Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken« gegründet; am 6. Juli 1923 trat eine entsprechende - allerdings nur formal föde­ralistische - Verfassung in Kraft.

244 so wichtige Verhandlungen wie diejenigen von Spa: Vom 5. bis 16. Juli 1920 war Spa in Belgien Tagungsort einer europäischen Konferenz über die Entwaffnung Deutschlands und die Festlegung der Reparationszahlungen. In der Entwaff­nungsfrage - die deutsche Reichsregierung wollte die Mannschaftsstärke der Reichswehr auf 200 000 Mann belassen - wurde Deutschland durch Drohung mit dem sofortigen Einmarsch von Truppen ins Ruhrgebiet zum Nachgeben gezwungen; die Reichswehr mußte, wie vorgesehen, auf 100 000 Mann abgerü­stet werden. Auf gleiche Weise wurde eine monatliche Lieferungsmenge von 2 Millionen Tonnen deutscher Kohle an die Entente durchgesetzt. Die Regelung der finanziellen Reparationsleistungen durch Deutschland wurde nach Ableh­nung eines deutschen Angebots auf eine spätere Konferenz verschoben. Für Deutschland war der Ausgang der Konferenz von Spa eine Fortsetzung der Siegfriedenspolitik von Versailles durch die Ententemächte. In seinem Aufsatz

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«Die Dreigliederung während des Kriegs und nach demselben» schrieb Rudolf Steiner: »Der Weltkrieg hat zu Versailles, zu Spa geführt. Das unbewußte Stre­ben der Menschheit hat aber nicht den vernünftigen Weg gefunden, dem Gei­stesleben und der Weltwirtschaft die Formen zu schaffen, die sie notwendig brauchen. Und deshalb ist die Fortsetzung des Weltkriegs der verheerende Bol­schewismus in Rußland und dasjenige, was diesem ähnlich durch die Menschheit geht, um weiter zu zerstören, was der Krieg noch übriggelassen hat.« Dieser Aufsatz ist am 28. September 1920 in der Wochenzeitung «Dreigliederung des sozialen Organismus«, erschienen (II. Jg. Nr. 13).

244 mein Aufruf der im Frühling 1919 erschienen ist: Seinen Aufruf «An das deut­sche Volk und an die Kulturwelt!« (in GA 23) leitete Rudolf Steiner mit den Worten ein: «Sicher gefügt für unbegrenzte Zeiten glaubte das deutsche Volk seinen vor einem halben Jahrhundert aufgeführten Reichsbau. Im August 1914 meinte es, die kriegerische Katastrophe, an deren Beginn es sich gestellt sah, werde diesen Bau als unbesieglich erweisen. Heute kann es nur auf dessen Trümmer blicken. Selbstbesinnung muß nach solchem Erlebnis eintreten.» Und diese Selbstbesinnung kann das deutsche Volk nur zur Erkenntnis führen, «daß es vor einem halben Jahrhundert ein Reich gegründet, jedoch unterlassen hat, diesem Reich eine aus dem Wesensinhalt der deutschen Volkheit entspringenden Aufgabe zu stellen.« Und: «Der Verlauf der Kriegskatastrophe hat dieses in trauriger Weise geoffenbart. Bis zum Ausbruche derselben hatte die außerdeut­sehe Welt in dem Verhalten des Reiches nichts sehen können, was ihr die Mei­nung hätte erwecken können: die Verwalter dieses Reiches eifüllen eine weltge­schichtliche Sendung, die nicht hinweggefegt werden darf.» Den Aufruf »An das deutsche Volk und an die Kulturwelt« hatte Rudolf Steiner - aufgrund von Gesprächen mit Emil Molt, Roman Boos und Hans Kühn in Dornach - am 2. Februar 1919 verfaßt; am 12. Februar 1919 wurde er von ihm erstmals in der Öffentlichkeit erwähnt und ab 5. März fand er als Flugblatt und als Inserat in den deutschsprachigen Ländern eine weitgehende Verbreitung. Zur Chronologie der Vorgänge siehe «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Nr.24/25, «50 Jahre >Die Kernpunkte der Sozialen Frage>: April 1919 bis April 1969»

245 der proletarischen Partei, die immer mehr und mehr einen sozialdemokratischen Charakter angenommen hat: Die große Mehrheit der deutschen Sozialdemokra­ten war nach Aufhebung der Bismarckschen Sozialistengesetze (1890) über­zeugt, daß die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft automatisch in die Entstehung einer sozialistischen Gesellschaft münden mußte. Aus dieser Sicht lehnten sie bewaffnete revolutionäre Aktionen ab; sie vertrauten auf die Wir­kung des allgemeinen Wahlrechts, das ihnen früher oder später die parlamenta­rische Mehrheit bringen mußte. In seinem Buch «Die soziale Revolution» (Ber­lin 1902) schrieb Karl Kautsky über das Wesen des Revolutionärs: «Dagegen ist jeder ein Revolutionär, der dahin strebt, daß eine bisher unterdrückte Klasse die Staatsgewalt erobert. Er verliert diesen Charakter nicht, wenn er diese Erobe­rung durch soziale Reformen, die er der herrschenden Klasse abzuringen sucht, vorbereiten und beschleunigen will. Nicht das Streben nach sozialen Reformen, sondern die ausgesprochene Beschränkung auf sie, unterscheidet den Sozialre­former vom Sozialrevolutionar.«

246 das Buch «Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur« von Professor Varga: Eugen (Jenö) Varga, der in der kurzlebigen ungarischen Räterepublik

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von 1919 eine wichtige Rolle gespielt hatte, veröffentlichte 1920 in Wien unter dem Titel «Die wirtschaftpolitischen Probleme der proletarischen Diktatur» eine Schrift über seine Erfahrungen mit der Einführung einer kom­munistischen Gesellschaftsordnung in Ungarn.

Eugen Varga (russisch: Jewgenij Samoilowitsch Warga>, 1879-1964, stammte aus dem ungarischen Teil der Habsburgermonarchie und trat 1906, nach Ab­schluß seiner rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Studien, der Ungari­schen Sozialdemokratischen Partei bei. 1918 wurde er Professor für National­ökonomie in Budapest. Politisch befand er sich auf dem linken Flügel der un­garischen Sozialdemokratie und war im Februar 1919 entscheidend an der Ab­spaltung und Umgestaltung dieses Flügels zur Ungarischen Kommunistischen Partei beteiligt. In der Zeit der Räterepublik, vom März bis August 1919, war Varga Volkskommissar für Wirtschaft und in dieser Eigenschaft nach der Be­gründung des Obersten Wirtschaftsrates Mitglied des Ratspräsidiums. Nach dem Sturz der Räteregierung flüchtete er nach Osterreich, wurde dort interniert. 1920 emigrierte er in das bolschewistische Rußland, trat dort der Kommunisti­schen Partei Rußlands bei und übernahm von 1927 bis 1947 die Leitung des Instituts für Weltwirtschaft. In dieser Zeit entwickelte sich Varga zu einem der angesehensten Wirtschaftstheoretiker der Sowjetunion: 1928 sagte er den Aus­bruch einer Weltwirtschaftskrise voraus. Er wirkte als persönlicher Berater Sta­lins für Wirtschaftsfragen des Kapitalismus. 1946 fiel er in Ungnade, weil er von einer moglichen Stabilisierung der kapitalistischen Wirtschaften des Westens ausging. 1949 wurde er aber wieder rehabilitert und erhielt 1954 den Stalinpreis, 1963 den Leninpreis. Kurz vor seinem Tode rückte Varga vom Stalinismus ab und verfaßte eine Kritik des sowjetischen Wirtschaftssystems, die aber erst nach seinem Tode in einer Untergrundzeitschrift unter dem Titel «Testament von Varga» veröffentlicht wurde.

246 während der kurzen Herrlichkeit der ungarischen Räterepublik: Am 3. Novem­ber 1918 wurde der Waffenstillstand zwischen Österreich-Ungarn und der En­tente abgeschlossen; am 16. November 1918 wurde in Ungarn von der entente­freundlichen Regierung unter Ministerpräsident Mihály (Michael) Károlyi die Republik ausgerufen. Die neue politische Orientierung führte jedoch zu keinem Erfolg. Am 20. März 1919 wurden die Bedingungen der Entente überreicht, die die Abtretung von mehr als zwei Dritteln des Landes forderten. Károlyi, seit ii. Januar 1919 Staatspräsident Ungarns, trat am 21. März 1919 aus Protest zurück und übergab auf friedlichem Weg die Macht an den Budapester Arbeiterrat, der die Ungarische Räterepublik ausrief. Es wurde eine Räteregierung gebildet, be­stehend aus Sozialdemokraten und Kommunisten, die sich zur Sozialistischen Partei Ungarns zusammenschlossen. Zum Vorsitzenden des Rates der Volks-kommissare wurde der Sozialdemokrat Sándor Garbai ernannt. In dieser Regie­rung spielte aber von allem Anfang an der Kommunist Béla Kun, Volkskommis­sar für Auswärtige Angelegenheiten, die führende Rolle. Zielsetzung der neuen Regierung war die Umgestaltung der Gesellschaftsordnung nach bolschewisti­schen Grundsätzen. Es wurde die sofortige und entschädigungslose Nationali­sierung der Industrie, der Banken, des Verkehrswesens und der Schulen verfügt; Kirche und Staat wurden getrennt. Am 4. April 1919 wurde aller Großgrundbe­sitz (über 55 ha) in das Eigentum des Staates überführt und die Gründung von landwirtschaftlichen Staatsgütern beschlossen. Zur Lenkung der Wirtschaft wurde ein «Oberster Wirtschaftsrat» gebildet. Die Errichtung eines außeror­dentlichen Revolutionstribunals sollte der Bekämpfung »konterrevolutionärer

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Umtriebe« dienen und bildete die Grundlage für den einsetzenden Staatsterror. Am 14. Juni 1919 trat der Gesamtungarisebe Rätekongreß zusammen und ver­abschiedete die Verfassung der Ungarischen Räterepublik. Der erste Artikel der Verfassung lautete.« In der Räterepublik hat das Proletariat alle Freiheiten, Rechte und Macht in die Hände genommen, um das kapitalistische System und die Herrschaft der Bourgeoisie zu beseitigen und an ihrer Stelle die sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten.« Die Räterepublik wurde jedoch durch ge­genrevolutionäre Versuche und durch den im April einsetzenden Vormarsch von tschechischen und rumänischen Truppen - wegen der ungeklärten Grenz­ziehung - immer stärker gefährdet. Zwar schlug die ungarische Rote Armee die Tschechen, aber es gelang ihr nicht, den Vormarsch der rumänischen Truppen auf Budapest endgültig aufzuhalten. Im Rat der Volkskommissare stellten sich die Sozialdemokraten gegen die Kommunisten, so daß am i. August 1919 die Kommunisten - und damit auch Béla Kun - aus der Regierung gedrängt wurden. Es wurde eine sogenannte «Gewerkschaftsregierung» unter der Führung von Gyulä {Julius) Peidl gebildet, die die Auflösung der Roten Armee beschloß und auch die meisten übrigen revolutionären Maßnahmen der Räteregierung rück­gängig machte. Damit war das Ende der ungarischen Räterepublik gekommen -sie hatte etwas mehr als vier Monate gedauert -, und die kommunistischen Führer, unter anderen Béla Kun und Jenö Varga, flohen nach Deutschösterreich, wo sie vorübergehend interniert wurden. Nach dem Einrücken der rumänischen Truppen in Budapest kam es am 5. August 1919 zur eigentlichen Gegenrevolu­tion; die Ausrufung der Republik wurde rückgängig gemacht und als vorläufiger Regent Erzherzog Joseph von Habsburg eingesetzt. Dieser mußte jedoch bereits am 24. August 1919 unter dem Druck der Entente zurücktreten, und die poli­tische Lage blieb instabil bis zum i. März 1920, als Miklös Horthy zum Reichs­verweser gewählt wurde. Er proklamierte dann am 23. März 1920 Ungarn offi­ziell zur «Monarchie mit vakantem Thron».

246 er schildert mit einer gewissen Aufrichtigkeit im einzelnen die Esfahrun gen, die er dabei gemacht hat: Im Vorwort äußerte sich Varga zu den Motiven, die ihn zur Abfassung dieser Schrift veranlaßt haben: «Meine Arbeit ist nichts weniger als eine Agitations- oder Rechtfertigungsschrift. Ich decke alle Fehler, die wir während der ungarischen Rätediktatur begangen haben, ohne Scheu auf; ich konstatiere in jedem Falle, ob eine Verfügung wirklich durchgeführt wurde oder bloß auf dem Papier blieb. Auch liegt es mir fern, Rezepte für das Tun und Schaffen der Proletarier in anderen Ländern geben zu wollen. Dies wäre unhi­storische Naivität. Mein Zweck ist: die allgemeinen wirtschaftspolitischen Pro­bleme jeder proletarischen Diktatur aufzurollen, die theoretisch möglichen Lö­sungen ins Auge zu fassen und sodann die realen Erfahrung, welche wir in Ungarn mit unseren Lösungsversuchen gemacht haben, zu schildern.»

wie er nach dem besonderen Rezept die einzelnen Betriebe enteignet hat: Im Kapitel «Die Expropriation der Expropriateure« stellte Varga die grundsätzliche Situation dar, vor der damals die Marxisten in Ungarn standen, als sie das Pri­vateigentum an den Produktionsmitteln beseitigen wollten: «Es muß vor allem entschieden werden, was enteignet werden soll: das Unternehmen selbst oder die einzelnen Betriebe oder endlich bloß die Produktionsmittel in ihrer Natural­form. Wird das Unternehmen enteignet> so werden alle Betriebe, samt Forde­rungen und Schulden, als kommerzielle Einheit übernommen. Werden die Be­triebe einzeln enteignet. so wird die bisherige Einheit zersprengt, aber Forde­rungen

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und Schulden werden oder können doch übernommen werden. Werden endlich die Produktionsmittel in ihrer Naturalform, also Gebäude, Maschinen, Rohstoffe und fertige Güter eineignet, so verlieren Forderungen und Schulden ihre Bedeutung. Die radikalste und dem ganzen Wesen der proletarischen Dik­tatur entspreehendste Lösung ist die letztere. In Ungarn wurde die erste Form gewählt - wir glauben, auch in Rußland. In Ungarn waren hiefür zwei Momente ausschlaggebend: erstens die Rücksicht auf das ausländische Kapital, zweitens die Rücksicht auf die in Privateigentum verbleibenden Erwerbswirtschaften. Es schien untunlich, bei einer Enteignung nach der Naturalform die Schulden der Bauern, Gewerbetreibenden und Kaufleute einfach zu annullieren.» Durch die Enteignung wurden die Unternehmen aus dem Privatbesitz in den «Besitz der Allgemeinheit der Arbeitenden» übergeführt.

246 wie er versucht hat, eine Art Betriebsräte aus den Arbeiterschaften der einzelnen Betriebe heraus zu gestalten: Um die bisherigen kapitalistischen Unternehmer zu ersetzen, mußten »neue proletarische Organe» auf der Ebene des Einzelbe­triebes geschaffen werden: die Betriebsräte und die Produktionskommissare. Varga im Kapitel »Die Expropriation der Expropriateure» über die Betriebsräte:

«In jedem enteigneten Betrieb wählten die Arbeiter einen Betriebsrat, je nach Größe des Betriebes drei bis sieben Leute, Arbeiter oder Beamte, nach ihrem Ermessen. Die Aufgabe des Betriebsrates ist: die Arbeitsdisziplin aufrechtzuer­halten, das Vermögen des Betriebes zu schützen, den Betriebskommissar zu kontrollieren, Arbeitsbedingungen, Aufnahme und Entlassung von Arbeitern, Einteilung der Arbeiter in Lohnklassen etc. gemeinsam mit dem Produktions­kommissär zu besorgen.» Der Produktionskommissar war der Vertreter der zentralen Wirtschaftsbehören in den einzelnen Betrieben. Varga: «Für jeden ent­eigneten Betrieb, eventuell für mehrere kleinere Betriebe gemeinsam, wurde ein Produktionskommissär ernannt. Dieser vertritt die Interessen der Gesamtheit gegenüber dem in der Arbeiterschaft des Betriebes wurzelnden Betriebsrat. Er nimmt die Stelle des gewesenen «Generaldirektors> ein, kauft und verkauft, ver­fügt gemeinsam mit dem Präsidenten des Betriebsrates über Gelder und Bank­guthaben. Im Falle eines Konflikts mit dem Betriebsrat oder den Arbeitern des Betriebes müssen bis zur Entscheidung einer höheren Instanz seine Anordnun­gen befolgt werden. Er ist das persönliche ständige Verbindungsglied zwischen dem Betrieb und den höheren Behörden, während die Mitglieder des Betriebs­rates von der Arbeiterschaft jederzeit durch neue ersetzt werden können.«

und wie dann diese ihre Spitze haben sollten in einem obersten Wirtschaftsrat mit Wirtschaftskommissären: Die damalige Regelung der gesamtwirtschaftlichen An­gelegenheiten beschrieb Varga im Kapitel über «Die Organisationsprobleme det proletarischen Volkswirtschaft». Das schwierigste Problem, das es zu entschei­den gegeben habe, war: «>Bei dem organisatorisch-technischen Aufl:>au der Ge­mesnwsrtschaft mußte vor allem unterschieden werden, welche Betriebe in einet zentralen Organisation zusammengefaßt und welche lokal verwaltet werden sol­len. Dies hängt vor allem von den Standortverhältnissen ab. Jene Betriebe, wel­che standortlich an den Konsumort gelagert sind, deren Erzeugnisse keinen weiten Transport vertragen, sollen der lokalen Verwaltung überlassen bleiben.« Und weiter: «Jene Betriebe hingegen, deren Erzeugnisse zum Konsum der ge­samten Bevölkerung des Landes bestimmt sind, bedürfen einer einheitlichen, technisch-organisatorischen Leitung.» Das hieß für Varga: «Alle Betriebe eines Industriezweiges werden organisatorisch zu einem Unternehmen zusammengelegt.

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Die einzelnen Betriebe bilden bloße Abteilungen der Betriebszentrale. Die Buchführung der einzelnen Betriebe beschränkt sich auf Materialbuchungen und Selbstkostenberechnung; eine Bilanz macht nur die Zentrale.» Die Fäden der zentralen Wirtschaftsorganisation liefen bei den für die Wirtschaft zuständigen Volkskommissaren zusammen. Es gab zunächst fünf Volkskommissariate: So­ziale Produktion (Wirtschaft), Ackerbau, Handel, Finanzen und Volksernäh­rung, später kam als sechstes das Volkskommissariat für Wirtschaftliche Orga. nisation und Kontrolle hinzu. Die einzelnen Kommissariate funktionierten zu­nächst nach Art der alten Ministerien selbständig und isoliert. Um eine größere Zentralisierung und Koordinierung zu erreichen, wurde ein Oberster Wirt­schaftsrat gebildet. Dem aus vier Volkskommissaren gebildeten Präsidium dieses Rates oblag es, «die Volkskommissariate zu leiten, alle wirtschaftlichen Verord­nungen vorzubereiten und - nach der Beratung im Ausschuß - zu erlassen, den planmäßigen Umbau der Wirtschaft durchzuführen.« Für die Beratungen im Ausschuß wurden auch Vertreter von zentralen Wirtschaftsorganisationen wie auch Abgeordnete der lokalen Wirtschaftsräte beigezogen.

247 Leninismus: Wladimir Iljitsch Lenin (eigentlich Uljanow) (1870-1924) war nicht nur ein wichtiger russischer Revolutionär, sondern auch ein bedeutender marxi­stischer Theoretiker, der die marxistische Lehre durch zusätzliche Theorieele­mente ergänzte. Er setzte sich nicht nur mit den Hintergründen des Imperialis­mus auseinander, sondern beschäftigte sich vor allem auch mit den revolutionä­ren Vorbedingungen für eine erfolgreiche Verwirklichung der Diktatur des Pro­letariats insbesondere mit der Rolle der Bauernschaft und der nationalen Min­derheiten als Verbündete des Industrieproletariats bei einer revolutionären Machtergreifung. Für Lenin war aber eine solche mit Aussicht auf Erfolg nur möglich, wenn sse unter Führung einer straff zentralistisch geleiteten, marxi­stisch ausgerichteten Elitepartei stattfand. Im kommunistischen Rußland wur­den diese Lehren als «Leninismus» bezeichnet und meist in Verbindung mit dem Marxismus erwähnt: «Marxismus Leninismus».

Und so muß sich der Professor Varga gestehen: Zum Problem einer Verschlech­terung der Lage des Industrieproletariats - trotz Entmachtung der besitzenden Klassen - schrieb Varga im Kapitel über «Die Lebenshaltung in der Diktatur»:

«Zusammenfassend kann festgestellt werden: Das Proletariat erobert die politi­sche Macht in erster Linie in der Absicht, seine Lebenshaltung zu heben. Die Erhöhung der Lebenshaltung wird sofort verwirklicht für das landwirtschaftli­che Proletariat; sie ist dagegen unmöglich für die Elitetruppe der Revolution, für das industrielle Proletariat. Vorübergehend kann wohl durch Raubwirtschaft, durch gesteigerte Ausschlachtung des Viehstandes der Landwirtschaft auch der Standard der industriellen Arbeiterschaft erhöht werden; allein diese Erhöhung hätte naturgemäß keinen bleibenden Charakter. Der innere Widerspruch besteht darin, daß das Proletariat von der politischen Macht nur zu einer Zeit Besitz ergreifen kann, wo die Niederhaltungskraft der herrschenden Klasse sich gelok­kert hat. Dem geht aber naturgemäß eine so starke Desorganisation des Produk­tionsapparates voraus, daß es vorläufig unmöglich wird, den Standard des indu­striellen Proletariats wirklich zu erhöhen. Dies muß dem industriellen Proleta­riat offen und nachdrücklich klargemacht werden, damit es nicht in Versuchung kommt, die Diktatur trügerischen Vorspiegelungen einer besseren Verpflegung zuliebe in Stich zu lassen, wie es in Ungarn geschehen ist.«

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248 er sagte, und das ist ein interessantes Geständnis: Über das Verhalten der Be­triebsräte in der Praxis berichtete Varga im Kapitel »Die Expropriation der Expropriateure»: «Die Mitglieder des Betriebsrates trachten, von der produkti­ven Arbeit ganz loszukommen. Sub titulo Kontrolle sitzen sie in den Büroräu­men herum. Es vermehrt sich daher die Zahl der nicht-produktiven Angestell­ten. Um den angenehmen Posten dauernd behalten zu können, trachten sie, sich die Gunst der Arbeiterschaft durch Konzessionen in der Disziplin, der Arbeits­leistung, der Lohnfrage zu sichern, zum Schaden der Allgemeininteressen.»

249 was der Professor Varga sagt, als er über die Aufgaben der Wirtschaftskommis­säre spricht: Im Kapitel «Die Expropriation der Expropriateure» zahlte Varga die vier Anforderungen auf, denen die neue Leitungsorganisation durch Be­triebsräte und Produktionskommissare zu genügen hatte: «1. Sie muß in der Arbeiterschaft des Betriebes selbst wurzeln, um die Disziplin sicherstellen zu können. 2. Sie muß die Eingliederung des Betriebes in die zentrale Wirtschafts­organisation gewährleisten. 3. Sie darf nicht bürokratisch erstarren. 4. Sie muß politisch zuverlässig sein.« Und dann gleich weiter: «Dieses System entspricht allen vier oben genannten Forderungen - wenn die Person des Produktionskom­msssars eine entsprechende ist!» So sah sich Varga gezwungen, aufgrund der gemachten Erfahrungen einzugestehen: «Die größte Schwierigkeit bietet die Auswahl der entsprechenden Betriebskommissäre. Es ergibt sich hier ein kaum meisterbarer Widerspruch. Um den glatten Fortgang der Produktion zu sichern, ist ein kommerziell und technisch gebildeter Fachmann erwünscht. Gerade diese Leute sind aber politisch für ein Regime der Arbeiterschaft nicht zuverlässig.« Und zu welcher Maßnahme führten diese Schwierigkeiten? Varga: «In vielen Fällen mußte zu einer Doppelbesetzung geschritten werden: neben dem Bour­geoisfachmann wurde als politischer Kontrollor ein Arbeiter gestellt oder dem Arbeiterkommissär ein technischer Fachmann beigestellt.» Und als Folgerung zog er im nächsten Kapitel über «Das Organisationsproblem der proletarischen Volkswirtschaft» den Schluß: «Es bedarf eines langsamen Ausleseprozesses, bis auf jeden Platz die richtigen Männer gefunden werden können.»

wir sehen das Geständnis ins Gegenteil gehen dessen, was immer und immer wie­der gepredigt wurde in fast jeder sozialdemokratischen Versammlung: Einer der hauptsächlichen marxistischen Lehrsätze in jener Zeit bestand im Glauben, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein der Menschen bestimmt und nicht um­gekehrt. Im Gegensatz dazu mußte Varga im Vorwort zu seinem Buch einräu­men: «Bei der unvoreingenommenen geistigen Durchdringung des Verlaufes der ungarischen Rätediktatur ergab es sich im allgemeinen, daß der Ideologie in revo­lutionären Zeitläuften eine viel größere Bedeutung zugestanden werden muß, als ein großer Teil der Marxisten glaubt. Die Gefahr für den Bestand des Proletarier-regimes besteht weniger in dem aktiven, von richtig aufgefaßten Klasseninteres-sen getriebenen Widerstand der depossedierten herrschenden Klassen als in dem passiven Widerstand weiter Schichten des Proletariats selbst, welches sich von der fremden, ihr durch das kulturelle Unterdrückungssystem des kapitalistischen Staates aufgedrängten Ideologie nicht losreißen könne. Diese große Bedeutung der Ideologie und der auf ihr fußenden politischen Handlungsweisen brachte es mit sich, daß wir bei der Behandlung der wirtschaftlichen Probleme auf Schritt und Tritt Politik und Ideologie als bestimmende Faktoren einbeziehen mußten.»

250 namentlich bei der Verstaatlichung der Eisenbahnen: In der Anfangszeit war der Eisenbahnbau in den mitteleuropäischen Ländern privaten Unternehmern überlassen,

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Spekualtive Bahnbauten und industrielle Krisen brachten verschiedene Gesellschaften an den Rand des Ruins, so daß der Gedanke einer Verstaatli­chung des Eisenbahnnetzes Auftrieb erhielt. Aber auch militärstrategische Über­legungen spielten dabei eine Rolle. In Österreich begann man in den siebziger Jahren und in Deutschland in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Verstaatlichung privater Hauptbahnen. In der Schweiz setzte dieser Vorgang etwas später, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, ein.

250 wie redet er über die Juristen, zu denen er übrigens auch zählt: Im Kapitel über »Das Problem der Beamtenschaft» unterschied Varga zwischen verschiedenen Schichten von Beamten; die Juristen zählte er zur Gruppe der Beamtenschaft der staatlichen Gewaltorganisation. Wie mit dieser Gruppe zu verfahren sei, be­schrieb er: »Die erste Gruppe, die Beamtenschaft der Gewaltorganisation des alten Staates muß auseinandergejagt, ihr organisatorischer Aufbau zerschlagen werden. Erst nach vollständiger Auflösung der alten Gewaltorganisationen kön­nen dieselben als einzelne Personen in den Dienst des Proletarierstaates wieder eingestellt werden.»

251 daß Räte- Ungarn so rasch zu Ende gegangen ist - durch den rumänischen Ein-fall: Siehe Hinweis zu S.246.

252 wie der gegenwärtige Reichskanzler: Von Juni 1920 bis Mai 1921 war Konstan­tin Fehrenbach (1852-1926) Reichskanzler. Er war Mitglied der Zentrumspartei und stand der ersten rein bürgerlichen Koalition in der Weimarer Republik vor. An seiner Regierung beteiligt waren damals die Zentrumspartei (Z), die Deutschdemokratische Partei (DDP) und die Deutsche Volkspartei (DVP).

man sagt noch immer «Reichskanzler»: Der Reichskanzler war ursprünglich der Vorsteher der königlichen Kanzlei im mittelalterlichen Deutschland - ein Amt, das stets von einem Geistlichen geführt wurde. Die Kanzlei fertigte die Urkun­den und sonstigen schriftlichen Verlautbarungen der jeweiligen Herscher, zum Beispiel ihre Briefe, aus. Das Kanzleramt gelangte im Hochmittelalter in die Hände von deutschen Kirchenfürsten: die Erzbischöfe von Mainz waren Erz-kanzler für Deutschland, die Erzbischöfe von Köln Erzkanzler für Italien und diejenigen von Trier Erzkanzler für Burgund. Daneben entwickelte sieh am jeweiligen Sitz des Königshofs eine Hofkanzlei, die Reichshofkanzlei unter der Leitung eines Reichsvizekanzlers, der formell dem Erzbischof von Mainz unter-stand. Erst 1806 - im Zusammenhang mit dem Ende des alten Deutschen Rei­ches - erloschen diese alten Amter. Im Zusammenhang mit der Gründung des zweiten deutschen Kaiserreiches wurde dieser Name 1871 wieder aufgegriffen; der Reichskanzler war der höchste vom Kaiser ernannte Reichsbeamte. Ihm stand die Leitung der Regierungsgeschäfte zu. In der Weimarer Republik wurde die Bezeichnung «Reichskanzler» für den leitenden Minister weitergeführt, nachdem 1919 für wenige Monate die offizielle Bezeichnung «Ministerpräsi­dent» verwendet worden war.

253 1884 hat ein englischer Historiker, Professor Seeley, in dem Buche «Die Ausbrei­tung von Großbritannien>: Sir John Robert Seeley (1834-1895) war ein bekann­ter britischer Historiker und Begründer der politischen Wissenschaft. Ursprüng­lich Professor für Altphilologie, wirkte er von 1869 an bis zu seinem Tode als Professor für moderne Geschichte in Cambridge. Sein berühmtestes Werk, das er verfaßte, war «The Expansion of England« - eine Zusammenfassung seiner

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Vorlesungen aus dem Jahre 1883. Das Buch erschien 1883 in London und wurde erst nach dem Tode von Rudolf Steiner in seinem vollen Umfang auch im deut­sehen Sprachraum unter dem Titel »Die Ausbreitung Englands» (Leipzig 1928) bekannt, Rudolf Steiner stützte sich bei seinen Ausführungen nicht unmittelbar auf Seeley selber, sondern auf das Buch des Schweden Gustaf Steffen, «Welt­krieg und Imperialismus» {Jena 1915). Das ganze dritte Kapitel, «Die Vorberei­tungen des gegenwärtigen Imperialismus aus englischem Gesichtswinkel«, wid­mete Steffen den Anschauungen von Seeley. Für Seeley war die expansive Rich­tung der britischen Außenpolitik eine natürliche Selbstverständlichkeit, schrieb er doch im einleitenden Kapitel seines Buches über «Das Ziel der englischen Geschichte»: «Zweimal, zu verschiedenen Zeiten haben wir ein [..,] Weltreich besessen; das ist die große beherrschende Tatsache unserer neueren Geschichte. So stark ist der schicksalhafte Drang auf die Eroberung der neuen Welt, daß nach Gründung und Verlust des einen Weltreiches uns ein zweites erwuchs -fast gegen unseren Willen.« Für dieses Buch wurde Seeley in den (niederen) Adelsstand erhoben.

253 Seeley sagt in seinem Buche: Im letzten Kapitel seines Buches, überschrieben mit «Rückblick«, stellte Seeley fest: «So haben wir unser Reich begründet, zum Teil vielleicht aus leerem Erobererehrgeiz, zum Teil aus dem menschenfreundlichen Bestreben, entsetzlichen Mißständen ein Ende zu bereiten.«

Ein Historiker spricht es aus: Im gleichen Buch, im Kapitel «Handel und Krieg«, wies Seeley auch auf ein Gesetz hin, das durch die ganze englische Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts hindurchgehe: «das Gesetz der innigen Wechselbe­ziehungen von Krieg und Handel, nach dem in dieser ganzen Periode der Han­del naturgemäß zum Kriege führt und der Krieg den Handel begünstigt.»

die auch aus den Geheim gesellschaften heraus wissen: Über die englischen Ge­heimgesellschaften äußerte sich Rudolf Steiner bei verschiedenen Gelegenheiten. So zum Beispiel auch sm Mstgliedervortrag vom 21 Februar 1920 in Dornach (in GA 196) über ihre Bedeutung «Das ssnd Gesellschaften welche sich unter au ßerordentlich sympathsschen außeren Regeln zusammentun Gesellschaften welche gerade im fünften nachatlantsschen Zestraum eine smmer großere und größere Macht erlangt haben eine Macht welche man sm breiten Publikum nicht ahnt.« Und zur Lehre dieser okkulten Bruderschaften sagte er sm Mitglie dervortrag vom 9. Dezember 1916 Man sagt es ist eben dem funften nachat lantischen Zeitraum die Aufgabe zuerteilt, es vor seinem Ende so weit zu brin gen, daß - ebenso, wie am Ende des vierten nachatlantischen Zeitraums alles von der romanischen Kultur durchdrungen war - am Ende des fünften vom Westen her alles durchdrungen sein muß von der Kultur, welche sich ergeben soll aus den englischsprechenden Völkern.» Siehe auch Hinweis zu S.238.

255 dieses Österreich-Ungarn faßte in sich: Die österreich-ungarische Doppelmonar. chie war ein Vielvölkerstaat, in dem die verschiedensten Nationalitäten ineinan der vermischt siedelten. Die elf wichtigsten Volksgruppen waren: Deutsche, Tschechen, Slowaken, Polen, Ruthenen, Slowenen, Krosten, Serben, Italiener, Rumänen und Ungarn (Magyaren).

diese dreizehn verschiedenen, staatlich anerkannten Sprach gebiete Österreich-

Ungarns: Siehe Hinweis zu S.240.

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255 denn ich habe die Hälfte meiner Lebenszeit, fast dre£ßig Jahre, in Österreich verbracht: Von 1861 bis 1890, dem Zeitpunkt seiner Übersiedlung nach Weimar in Deutschland, lebte Rudolf Steiner an verschiedenen Orten in Österreich-Ungarn, die teils zum transleithanischen (ungarischen) Reichsteil (Kraljevec, Neudörfl), teils zur zisleithanischen (österreichischen) Reichshälfte (Mödling, Pottschach, Oberlas, Brunn am Gebirge, Vöslau, Wien) gehörten.

durch die habsburgische Hauspolitik: Die verschiedenen österreichischen Kron­länder verdankten ihre Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Staat allein der Hausmachtpolitik der Habsburger-Dynastie, die auf eine beständige Vergröße­rung ihres Herrschaftsgebietes zielte. Der Grundstein für die habsburgische Hausmacht in den österreichischen Landen wurde 1282 gelegt, als der deutsche König Rudolf seine beiden Söhne Albrecht und Rudolf mit Österreich und der Steiermark belehnte. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich daraus die österreichisch-ungarische Monarchie, indem die Habsburger-Dynastie durch Personalunion eine Vielzahl von Ländern unter ihre zusammenfassende Herr­schaft brachte.

Wie es öfter bei Herman Grimm vorkommt: Herman Grimm, (1828-190l), deutscher Schriftsteller und Professor der Kunstgeschichte. In seinem Aufsatz »Der Geschichtsunterricht in aufsteigender Linie. Ein Versuch. 1891» - erschie­nen 1900, im Rahmen des ersten Bandes der «Fragmente» - schrieb Herman Grimm zum Beispiel: «Die Umwandlung des deutschen Lebens und unseres öffentlichen Bewußtseins innerhalb der letzten dreißig Jahre erscheint mir als eine so vollständige, daß ich den baldigen Umsturz des historischen Gebäudes, das zum Gebrauche der lernenden Jugend so fest gezimmert war, erwarte. Eine Umschichtung wird von Grund aus vorgenommen werden, wie etwa bei der Einführung einer neuen Schießwaffe und bei der Umgestaltung der Übungen für die Kriegsbereitschaft. [...] Vor fünfzig Jahren wäre es ein unerhörtes Beginnen gewesen, die Erziehung so einzurichten, daß man dem Kinde klarmachte, es werde einmal der Bürger eines einigen großen deutschen Kaiserreiches sein, und unter seinen Pflichten gegen Gott, Kaiser und Vaterland werde auch die einmal an es herantreten, aus eigener Beurteilung der Bedürfnisse seines Vaterlandes einen Vertreter seiner Meinungen in ein deutsches Parlament zu wählen. Der­gleichen nur zu äußern, würde wie Hochverrat geklungen und dem, der es aus­gesprochen hätte, vielleicht Lebensruin eingetragen haben.»

256 Und Deutscher zu sein, Großdeutscher, das war dazumal Revolution: Deutsch­land war nach dem Wiener Kongreß von 1815 in zahlreiche souveräne Einzel­staaten aufgesplittert; die unbedingte Erhaltung ihrer Unabhängigkeit war das Ziel der meist monarchischen Staatsgewalten der deutschen Einzelländer. Erst die Revolutionszeit von 1848 bis 1849 machte es möglich, wieder an die Grün­dung eines deutschen Gesamtreiches zu denken. Aber der demokratisch abge­stützte Versuch zur Reichsgründung konnte sich nicht durchsetzten. Erst 1870 ließ sich aufgrund der preußischen Vormachtstellung die deutsche Reichseinheit durchsetzen: das zweite deutsche Kaiserreich mit dem preußischen König als kaiserlichem Bundesoberhsupt entstand. Mit dieser Gründung war zugleich auch der endgültige Entscheid für eine kleindeutsche Lösung gefallen: die Deut­schen Österreichs blieben von der Reichseinigung ausgeschlossen - ihr Einbezug war das Ideal der Großdcutschen gewesen.

Fichte sagt: 1808 veröffentlichte der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) seine Schrift «>Reden an die deutsche Nation« - ursprünglich eine

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Vorlesungsteihe aus der Zeit vom Winter 1807 bis 1808, bestehend aus insge­samt elf Reden. Fast gleich zu Beginn seiner »Ersten Rede. Vorerinnerungen und Übersicht des Ganzen» finden sich die Worte: «Ich rede für Deutsche schlecht-weg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus beiseite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben.»

256 Kaiser Ferdinane, den man den Gütigen nannte: Ferdinand I. (1793-1875), aus dem Hause Habsburg-Lothringen, war seit März 1835 Kaiser von Österreich. Wegen seiner schlechten Gesundheit und seiner eingeschränkten intellektuellen Möglichkeiten war er praktisch regierungsunfähig; an seiner Stelle übte faktisch ein vierköpfiger Regentschaftsrat, die «Stastskonferenz«, im absolutistisch re­gierten Österreich die Macht aus. Im Dezember 1848 mußte Ferdinand I. im Hinblick auf eine notwendige Erneuerung des habsburgischen Kaisertums ab­danken und wurde durch seinen jungen Neffen Franz Joseph I. (1830-1916) ersetzt.

Clemens Fürst von Metternich, 1773-1859, österreichischer Staatsmann. Aus einem alten deutschen Adelsgeschlecht stammend, wurde im August 1809 pro­visorisch, im Oktober 1809 endgültig zum Außenminister Österreichs berufen. Im Juli 1821 ernannte ihn Kaiser Franz I. zusätzlich zum Hof- und Staatskanzler und damit zum leitenden Minister Österreichs. Nach dem Tode von Kaiser Franz I. im März 1835 wurde die Macht Metternichs beschnitten, indem er sie mit den beiden andern Mitgliedern des faktischen Regentschaftsrates teilen mußte, der für den regierungsunfähigen Nachfolger auf dem Kaiserthron, Ferdinand I., die Entscheidungen fällte. Im März 1848, nach dem Ausbruch von revolutionären Unruhen in Wien, trat Metternich von allen seinen Ämtern zurück.

Am Beispiel des Ästhetikers Vischer: Friedrich Theodor Vischer (1807-1887), deutscher Philosoph. Er hatte ursprünglich Theologie studiert und sogar als Pfarrer gewirkt, entschied sich aber für eine Universitätslaufbahn. 1839 wurde er zum außerordentlichen Professor für Philosophie in Tübingen, 1844 zum or­dentlichen Professor ernannt. Allerdings wurde er von 1844 bis 1846 vorüber­gehend von seinem Amte suspendiert - wegen seiner Ansichten, die der Obrig­keit nicht genehm waren. 1855 erhielt er eine Berufung nach Zürich - für ihn eine Zeit des Exils. 1866 kehrte er wieder als Professor nach Tübingen zurück, mit einem zusätzlichen Lehrauftrag für Stuttgart. 1877 wurde er emeritiert. Die philosophische Hauptleistung Vischers liegt auf dem Gebiet der Asthetik; er verfaßte das Werk «Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen», erschienen in Reutlingen zwischen 1846 bis 1857.

Politisch befürwortete Vischer die nationale Einheit Deutschlands; während der Revolutionszeit von 1848 bis 1849 war er Abgeordneter in der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt, später in Stuttgart. Dort gehörte er zur «ge­mäßigten Linken», die eine deutsche Republik unter Einbezug der Deutsch-österreicher - also eine großdeutsche Lösung - befürwortete. Die deutsche Reichsgründung von 1870 bedeutete aber den Triumph der kleindeutschen, monarchistischen Lösung - eine Tatsache, mit der er sich abzufinden gezwungen sah, wollte er sich nicht gegen die nationale Einigung Deutschlands stellen. Im 6. Heft, in der Neuen Folge der «Kritischen Gänge», erschienen 1873 in Stutt­gart, ging er ausführlich auf seinen Wandel in der politischen Überzeugung ein.

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Einleitend schrieb er in seinem im Dezember 1871 verfaßten «Offenen Brief an den Redakteur des Feuilletons der >Deutschen Zeitung>, Dr. Speidel«: «Und jetzt findet man mich, ja man fand mich schon vor 1870 im Lager derjenigen, die man Anbeter des Erfolges zu nennen liebt. Die Zahl solcher Uberläufer ist nun frei­lich mehr als Legion; die Wandlung ist so natürlich, so ganz nur sachgemäß, daß es gar nicht der Mühe wert, ja daß es Eitelkeit scheinen kann, wenn einer unter den unendlich vielen erzählt, wie es in seinem Innern zuging, bis sie vollzogen war.« Und über die Gründe, warum er sich mit der führenden Rolle Preußens in der deutschen Einigung versöhnen konnte: «Aber Preußen und seine Schuld? Die alte und die neue? Ihm hat die Nemesis die schönste, denkbar erhabenste aller Sühnen bereitet. Es sollte bluten für diese Schuld, furchtbar bluten. Der Krieg 1866 [Deutscher Krieg zwischen Preußen und Osterreich] führte zum Krieg 1870 [Deutsch-Französischer Krieg]. Aber es sollte bluten dürfen für und mit Deutschland. Es sollte leiden, aber nicht umsonst leiden; dies Leiden sollte seine und Deutschlands neue Größe werden. Ein heiliger Krieg zur Strafe für den ungerechten! Wir andern aber sollten bluten für alle alten Unterlassungs­sünden, für alles heillose, jahrhundertlange Sperren und Stemmen unseres Son­dergeistes, aber all das Blut sollte eine Saat werden, die rasch aufsproßte und nun als stolzer Baum des deutschen Reiches dasteht.«

257 die Nietzsche im Beginne der siebziger Jahre mit den Worten charakterisierte: In seinem «Ersten Stück. David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller« aus den «Unzeitgemäßen Betrachtungen«, erschienen 1873 in Leipzig, schrieb Friedrich Nietzsche (1844-1900) einleitend: «Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich dreinzieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrtum: der Irrtum der öffentli­chen Meinung und aller öffentlich Meinenden, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Begehnissen und Erfolgen gemäß seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich: nicht etwa weil er ein Wahn ist - denn es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irrtümer -, sondern weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des «Deutschen Reiches>.»

Die Selbstbiographie «Altes und Neues» von Vischer ist in dieser Beziehung außerordentlich interessant: Zwischen 1881 und 1887 erschien in Stuttgart unter dem Titel «Altes und Neues« eine vierhändige Aufsatzsammlung von Vischer. Im dritten Band findet sich unter der Überschrift «Mein Lebensgang« ein län­gerer autobiographischer Beitrag. Über seine damalige politische Haltung als Abgeordneter des Frankfurter Parlamentes, die ganz im Gegensatz zu dem schließlich beschrittenen Weg zur deutschen Einigung stand, schrieb er: «Groß-deutsch also und herzlicher Gegner der preußischen Partei im Reichstage! Der Satz stand mir fest, daß ein Teil des Ganzen sich nicht anmaßen dürfe, das Ganze zu sein, das heißt an die Spitze zu treten. Darin war Logik; man kann sagen, er war Logik statt Politik. Allein, wo waren damals die Erfahrungsbewei­se, daß es im Teile des Ganzen eine Intensität der Kraft gebe, die in der Wirk­lichkeit das logische Verhältnis umzudrehen und ihn durch die Tat über das Ganze zu stellen vermöge?«

Heinrich von Treitschke, 1834-1896, deutscher Historiker. Seit 1863 Professor für Geschichte an verschiedenen Universitäten - Freiburg, Kiel, Heidelberg und schließlich 1874 endgültig Berlin. Er verfaßte zahlreiche historische Darstellungen,

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in denen er sich als Bewunderer des preußischen Militärstaates herausstellte. Die Geschichtsschreibung betrachtete er als politisches Handeln mit dem erklär­ten Ziel, die Sache der nationalen deutschen Einigung unter Führung des prote­stantischen Preußens voranzubringen. Ursprünglich ein Gegner Bismarcks und seiner Innenpolitik, unterstützte er später dessen Machtpolitik, die ihn in ihrer Wirksamkeit - Durchsetzung der nationalen Einigung - überzeugte. Treitschke verstand sich als liberaler Nationalist - von 1871 bis 1888 war er nationallibe­rales Mitglied des deutschen Reichstages -, aber seine Vorstellung von Freiheit war nicht schrankenlos, sondern diejenige einer Freiheit innerhalb der vom Staat gesetzten Grenzen.

257 Als ich ihn einmal in Weimar traf. Die Begegnung mit Heinrich Treitichke in Weimar schildert Rudolf Steiner im XV. Kapitel seiner Autobiographie «Mein Lebensgang» (in GA 28).

Bei Treitschke kann man recht gut lesen über jenen Hausmächtestreit: In seinem unvollendeten Hauptwerk «Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhun­dert«, erschienen in Leipzig zwischen 1879 bis 1894, stellte der Dualismus zwi­schen den Hohenzollern und den Habsburgern ein durchgehendes Thema dar. So schrieb Treitichke zum Beispiel im ersten Kapitel seines ersten Buches:

«Während die Hausmacht der Habsburger aus Deutschland herauswuchs, drängte ein stetig waltendes Schicksal den Staat der Hohenzollern tiefer und tiefer in das deutsche Leben hinein, zuweilen wider den Willen seiner Herr­scher.» In seiner Darstellung nahm Treitschke Partei für die Hohenzollern und pries ihre Vorbildlichkeit: «Der treuen Sorgfalt für das Wohl der Massen, nicht dem Glanze des Kriegsruhms dankten die Hohenzollern das in aller Not und Versuchung unerschütterliche Vertrauen des Volkes zu der Krone. Zeiten der Erstarrung und Ermattung blieben dem preußischen Staate so wenig erspart wie anderen Völkern; sie erscheinen sogar in seiner Geschichte auffälliger, häßlicher als irgendwo sonst, weil immer tausend feindielige Augen nach seinen Schwä­ehen spähten und der vielumkämpfte zu versinken drohte ohne die Spannkraft des Willens. Wer längere Zeiträume überblickt, kann gleichwohl das stetige Fortschreiten der Monarchie zur Staatseinheit und Rechtsgleichheit nicht ver­kennen. Wie die Bilder der Hohenzollern zwar nicht die geistlos eintönige Gleichheit habsburgischer Fürstenköpfe, doch einen unverkennbaren Familien-zug zeigen, so auch ihr politischer Charakter. Alle, die großen wie die schwa­chen, die geistreichen wie die beschränkten, bekunden mit seltenen Ausnahmen einen nüchtern verständigen Sinn für die harten Wirklichkeiten des Lebens, der nicht verschmäht, im kleinen groß zu sein, und alle denken hoch von der Für­stenpflicht.«

258 Cecil Rhodes, 1853-1902, war ein bedeutender englischer Kolonialpolitiker. Aus einer Pfarrersfamilie stammend, wanderte er aus gesundheitlichen Gründen als junger Mann nach Südafrika aus. Zwischenhinein reiste er aber - wegen seiner Universitätsstudien - immer wieder nach England; 1881 schloß er diese ab. In Südafrika beteiligte sich Rhodes mit Erfolg an der Ausbeutung von Diamanten­minen und später auch von Goldminen. Es gelang ihm, mit Hilfe der von ihm mitbegründeten Firmen «De Beers Consolidated Mines« und «Consolidated Goldfields of South Africa» eine gewisse Monopolstellung im südafrikanischen Bergbaubereich zu erlangen, womit er sich die Grundlage zu seinem großem Vermögen schuf. Als politische Vision schwebte ihm die Vereinigung der briti­schen Kolonien in Südafrika mit den Burenrepubliken zu einem Bundesstaat

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unter britischer Oberherrschaft vor und als Krönung die Schaffung einer rein britischen Landverbindung vom Kap bis Kairo. 1880 wurde er ins Parlament der Kapkolonie gewählt und war von Juli 1890 bis Januar 1896 Premierminister dieser sich selbstverwaltenden Kolonie, mußte aber von allen seinen politischen Amtern zurücktreten, als sich seine Verantwortung für den bewaffneten Einfall von 1895 in die Burenrepublik Transvaal nicht mehr leugnen ließ. Er war Mit­begründer und Vorstandsmitglied der aus Mitgliedern der englischen Geldari stokratie gebildeten «British South Africa Company« (auch «Chartered Compa ny«), die weite Teile des nach ihm benannten Rhodesiens (heute Simbabwe und Sambia) unter ihre - und damit unter die britische - Herrschaft brachte. 1899 wurde Rhodes erneut ins Parlament der Kapkolonie gewählt. Erst nach seinem Tode - nach der Niederwerfung der Burenrepubliken und der Bildung der Süd­afrikanischen Union sowie der britischen Übernahme von Deutsch-Ostafrika -sollte sich seine politische Vision annähernd verwirklichen.

258 das zu seiner Zeit noch mächtige Bankhaus Rothschild: Auch in England waren Mitglieder der Rothschild-Familie als Privatbankiers tätig: 1803 hatte Nathan Meyer Rothschild (1777-1836), einer der Söhne des deutschen Bankiers Meyer Amschel Rothschild aus Frankfurt, ein Bankunternehmen gegründet, die Firma N. M. Rothschild & Sons in London. Fortgeführt wurde es von seinem Sohn Lionel Rothschild (1808-1879) und Nathaniel Lord Rothschild (1840-1915). Dieses Unternehmen spielte im 19. Jahrhundert - zusammen mit den andern Rothschild-Banken in Paris, Frankfurt und Wien - eine überragende Rolle im internationalen Finanzgeschäft. Zwischen dem Londoner Bankhaus der Roth­schilds und dem britischen Staat bestand eine enge finanzielle Verflechtung, zumal sich die Rothschilds ab der Jahrhundertmitte zum wichtigsten staatlichen Kreditgeber entwickelten. So konnte die englische Regierung dank eines durch die Rothschilds erteilten Kredites 1875 das Mehrheits-Aktienpaket der Suez­Kanal-Gesellschaft für die britische Krone erwerben. Durch die Rothschilds wurde auch ein entscheidender Einfluß auf die britischen Auslandinvestitionen ausgeübt. Zwischen 1895 und 1905 waren die Gold- und Diamantenminen in Südafrika ein bevorzugtes Objekt für britische Auslandsinvestitionen. Die neuen Kapitalanlagen in Südafrika übertrafen zeitweise sogar diejenigen in Nordame­rika, die für England von allergrößter Bedeutung waren.

259 Carlyle und ähnliche Leute: Thomas Carlyle (1795-1881), englischer Philosoph und Historiker. Seine Bedeutung als Philosoph lag in der Übermittlung des Ge­dankengutes der deutschen Philosophie aus der Zeit von Kant und danach in den englischen Kulturraum. Als Historiker bekannt wurde er vor allem durch seine Geschichte der Französische Revolution. Seine Auffassung über Geschichte stell­te er in den als Schrift herausgegebenen Vorlesungen «On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History« (London 1841) dar. Das Buch wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt, erstmals 1853. Rudolf Steiner benutzte eine Übersetzung aus dem Jahre 1900. Gleich zu Beginn der Ersten Vorlesung sagte Carlyle: «Denn nach meiner Auffassung ist die Universalgeschichte, die Geschichte dessen, was der Mensch in dieser Welt vollbracht hat, im Grunde die Geschichte der großen Männer, welche darin gearbeitet haben. Sie waren die Führer der Menschheit, diese Großen; sie waren die Bildner, die Vorbilder und im vollsten Sinne die Schöpfer alles dessen, was die große Masse der Menschen vollbrachte oder er­reichte. Alle Dinge, die wir in der Welt fertig dastehen sehen, sind eigentlich das äußere wesentliche Ergebnis, die praktische Verwirklichung und Verkörperung

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von Gedanken, die in den Hirnen der uns in die Welt gesandten großen Männer lebten: die Seele der ganzen Weltgeschichte, so kann man es mit Recht auffassen, würde die Geschichte dieser Menschen sein.» Carlyle war mit dem amerikani­schen Philosophen und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson (1803-1882) be­freundet. Dieser war 1833 erstmals nach England gereist, wo er Carlyle begegnete und sein Schüler wurde. Er trug dessen Lehren nach Nordamerika.

260 Im Westen hatte man alle Diskussionen hinter sich: Es war bereits im 17. Jahr­hundert, als in England die Weichen von der absoluten zur parlamentarischen Monarchie gestellt wurden. Dieser Entscheid war da« Ergebnis von zwei großen revolutionären Erschütterungen, der Puritanischen Revolution von 1640 bis 1660 und der Glorreichen Revolution von 1688 bis 1689. Seinen vorläufigen Abschluß fand diese Entwicklung mit der Inltraftsetzung der Bill of Rights vom 23. Oktober 1689, wodurch die königliche Macht endgültig durch das Mitbe­stimmungsrecht des englischen Parlamentes beschnitten wurde.

261 seite Cromwells Zeiten: Oliver Cromwell (1599-1658), englischer Staatsmann und General, spielte in der Zeit der Puritanischen Revolution eine wichtige Rolle. Als Führer der Partei der protestantisch und republikanisch gesinnten Independenten war er 1649 maßgebend an der Hinrichtung von König Karl I. und der Ausrufung der Republik beteiligt. In der Zeit der Republik war er bis zu seinem Tode die prägende politische Persönlichkeit. Von Dezember 1653 bis September 1658 hatte er die Stellung des Lordprotektors - eines Monarchen mit republikaisischem Anstrich - inne.

Peter (Pjotr) L der Große, 1672-1725, aus der Dynastie der Romanow, seit April 1682 russischer Zar, zusammen mit seinem regierungsunfähigen Halbbruder Iwan V., zunächst unter der Vormundschaft seiner Halbsebwester Sofja. Im September 1689 erklärte er sich für mündig und wurde nach dem Tode seines Bruders im Januar 1696 Alleinherrscher von Rußland; im Oktober 1721 nahm er den abendländischen Kaisertitel an. Er betrieb nicht nur die Expansion Rußlands nach Westen, sondern er orientierte sich auch an der westlichen Kultur und strebte nach einer Modernisierung Rußlands nach diesem Vorbild. Er starb im Januar 1725. Siehe auch Hinweis zu S.238.

im Grunde genommen ist Lenin genauso ein Zar, wie es die früheren Zaren waren: Formell war zwar Rußland nach der kommunistischen Oktoberrevolu­tion eine basisdemokratisch aufgebaute, föderative Sowjetrepublik, faktisch aber eine Parteidiktatur, ausgeübt durch eine kleine Parteispitze, der Lenin vorstand. Lenin war aber nicht nur Vorsitzender des Politbüros, des obersten Leitungsor­gans der Kommunistischen Partei, sondern bekleidete auch das Amt eines Vor­sitzenden des Rates der Volkskommissare, des faktisch obersten staatlichen Machtträgers. Insofern verfügte Lenin über die gleiche autokratisehe Herrscher-macht wie das frühere absolutistische Zarentum.

des Wilhelminentum: Wibelm II. von Hohenzollern (1859-1941), von Juni 1888 bis November 1918 deutscher Kaiser und preußischer König, liebte alle mögli­chen Formen der herrscberliehen Pose.

daß 600000 Menschen die Millionen der anderen ganz stramm beherrschen und daß diese 600 000 wieder nur von den paar Volkskommissären beherrscbt wer­den: Die Kommunistische Partei Rußlands (Bolschewiki), die einzig zugelassene Partei in Rußland, besaß zu diesem Zeitpunkt ungefähr 600 000 Mitglieder - auf

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dem neunten Parteitag vom März 1920 vertraten 716 Delegierte 611 978 Partei­mitglieder. Die Partei wurde nach dem Leninschen Grundsatz des demokrati­schen Zentralismus geführt, das heißt die Parteimitglieder verfügten über kein echtes Mitbestimmungsrecht, sondern waren bloße Befehisempfänger der ober­sten Parteileitung, des Politbüros, dessen Mitglieder zum Teil als Volkskommis­sare auch zur Regierung gehörten und damit über die staatlichen Machtmittel geboten.

262 Auslaufen der We/tkatastrophe in die Weltrevolution: In Mittel- und Osteuropa mündete die Teilnahme am Weltkrieg in revolutionäre Erschütterungen aus: In Rußland waren es die Februarrevolution und die Oktoberrevolution von 1917 die den Sturz des Zarentums und die Übernahme der Macht durch die Bolsche­wisten brachte; in Deutschland führte die Novemberrevolution von 1918 zur Abdankung des Kaisers und zur Ausrufung der Republik; in Österreich-Ungarn setzte die Auflösung des österreichisch-ungarischen Gesamtstaates bereits im Oktober 1918 ein und führte ebenfalls zum Sturz der Monarchie. Damit waren die revolutionären Betrebungen aber noch nicht abgeschlossen, strebten doch die radikalen kommunistischen Linken nach der Diktatur des Proletariats und der vollständigen Fntmachtung des Bürgertums. Aber die kommunistischen Aufstandsversuche in Mitteleuropa, die zum Teil in der Bildung von Räterepu­bliken gipfelten, wurden blutig niedergeschlagen. Nur in Rußland und seinen Randgebieten wurde eine sozialistische Gesellschaftsordnung verwirklicht, die allerdings sehr schnell in eine Parteidiktatur ausartete. Von den ursprünglich großen Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellschaftsordnung blieb schließlich kaum mehr etwas übrig.

Während des Weltkrieges hat man es nicht verstanden, daß den vierzehn ab­strakten Punkten des Woodrow Wilson die konkrete Dreigliederung von autori­tativer Stelle hätte entge gen getragen werden müssen: In seiner Rede vom 8. Januar 1918 vor dem amerikanischen Kongreß hatte der amerikanischen Präsi­dent Woodrow Wilson (1856-1924) - er übte sein Amt vom März 1913 bis März 1921 aus - einmal mehr sein Programm für den Weltfrieden und die Neuord­nung Europas nach dem Ersten Weltkrieg, nun in vierzehn Punkten zusammen­gefaßt, verkündet. Die beiden wichtigsten Forderungen dieser Vierzehn Punkte waren die Einrichtung eines Völkerbundes und die Gewährung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes für die Völker Europas. Bereits im Juli 1917 hatte Rudolf Steiner ein Memorandum verfaßt, in dem er sich gegen Wilsons Ideen wandte (erste Fassung, in GA 24): «Wilsons wirksamen Manifestationen muß entgegengehalten werden, was in Mitteleuropa wirklich zur Befreiung des Le­bens der Völker getan werden kann, während seine Worte ihnen nichts zu geben vermögen als die anglo-amerikanische Weltherrschaft.« Und weiter: «Deshalb kann nur ein mitteleuropäisches Programm das Wilsonische schlagen, das real ist, das heißt nicht das oder jenes Wünschenswerte betont, sondern das einfach eine Umschreibung dessen ist, was Mitteleuropa tun kann, weil es zu diesem Tun die Kräfte in sich hat.« Der Kern dieses Programm war für Rudolf Steiner die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus. Mitarbeiter von Rudolf Steiner wie Otto Graf von Lerchenfeld und Ludwig Graf von Polzer-Hoditz setzten ihre Beziehungen dafür ein, daß wichtige politische Entscheidungsträger mit dieser Dreigliederungsidee bekannt wurden.

Über seine verschiedenen Unterredungen mit führenden Leuten der Mittel-mächte äußerte sich später Rudolf Steiner an verschiedenen Stellen, so zum

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Beispiel im Mitgliedervortrag vom 29. November 1918 (in GA 186): »Ich habe den verschiedenen Leuten, zu denen ich im Lauf der letzten Jahre von diesen sozialen Impulsen als von einer Notwendigkeit gesprochen habe, die Sache in der folgenden Weise dargestellt. Ich habe gesagt: Das, was hier gemeint ist und was ganz und gar kein abstraktes Programm ist, das will sich durch die histo­rischen Impulse in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren verwirklichen. Sie haben die Wahl [...] entweder Vernunft anzunehmen und sich auf solche Dinge einzulassen oder aber zu erleben, daß die Dingen sich durch Kataklysmen, durch Revolutionen in der chaotischsten Weise verwirklichen werden. Eine andere Alternative gibt es nicht.» Und wie war die Reaktion seiner Gesprächspartner? Rudolf Steiner im öffentlichen Vortrag vom 5. Februar 1919 (in GA 332a): «Man kann nicht einmal sagen, daß solche Dinge nicht ein gewisses theoretisches Verständis gefunden hätten. Was ich in diesen Vorträgen ausgeführt habe, hat manchen sogar recht sympathisch geschienen. Aber die Brücke zu schlagen zwischen dem Verstehen einer solchen Sache und dem Willen, nun wirklich alles zu tun, um diese Dinge im Leben entsprechend zu verwirklichen, jeder an sei­nem Orte, diese Brücke zu schlagen, das ist noch eine andere Sache. Das wirkt vielfach unbequem. Daher betäubt sich mancher gerne und sagt: Mir scheint das Ganze träumerisch, unpraktisch. - Er betäubt sich nur, weil er nicht den Willen hat, wirklich einzugreifen in den Gang der Ereignisse.«

262 die Vierzehn Punkte Woodrow Wilsons sind so unpraktisch wie möglich: Ein Beispiel für die Abstraktheit der Vierzehn Punkte war die Idee des Selbstbestim­mungsrechtes der Völker. So begrüßenswert sie zunächst erschien, so wider­sprüchlich erwies sie sich bei näherem Zusehen. Wie konnte sich diese Idee praktisch verwirklichen lassen, wenn die verschiedenen Nationalitäten - wie dies vor allem in Osteuropa der Fall war - nicht in zusammenhängenden, klar von­einander getrennten Gebieten lebten? Wie war zum Beispiel die Forderung für Serbien nach einem freien und sicheren Zugang zum Mittelmeer (Punkt 11) vereinbar mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, wenn er gezwungener­maßen über nichtserbisches Gebiet führen mußte? Wie ließen sich die Belange der Kolonialvölker mit den Interessen der Kolonialmächte gleichberechtigt (Punkt 5) in Übereinstimmung bringen? Rudolf Steiner war von allem Anfang ein Gegner von Wilsons Ideen, die er als lebensunpraktisch ablehnte. So schrieb er in seinem am 23. März 1920 in der Dreigliederungs-Wochenschrifte erschie­nenen (1. Jg. Nr.38) Aufsatz «Die Führer und die Geführten» vom 23. März 1920 (in GA 24): «Von Amerika aus kamen die vierzehn Wilsonschen Schein-Ideen. Wer mit den wirklichen Tatsachen rechnen kann, mußte wissen, daß aus diesen Schein-Ideen sich eine Neugestaltung der in die Zerstörung treibenden Zivilisation nicht ergeben könne.»

daß selbst der Mann, auf den man in den letzten Tagen der katastrophalen Zeit:

Prinz Max(imilian) von Baden (1867-1929), als künftiger badischer Großherzog ausersehen, übernahm im Oktober 1919 das Amt des Reichskanzlers. Dem Verlangen der Obersten Heeresleitung, ein Waffenstillstandsgesuch an Wilson auf der Grundlage seiner Vierzehn Punkte zu richten, sah er sich schließlich gezwungen zuzustimmen: Am 4. Oktober wurde eine von ihm unterzeichnete Note an Präsident Wilson abgesandt. Obwohl unter seiner Leitung Schritte zur Umwandlung Deutschlands in eine parlamentarische Monarchie unternommen wurden, gelang es ihm nicht mehr, das Ausbrechen der Revolution zu verhin­dern. Um die Abschaffung der Monarchie zu verhindern, verkündete er am

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9. November 1918 die Abdankung des Kaisers ohne dessen Genehmigung und legte das Reichskanzleramt in die Hände Eberts. Das von diesem angebotene Amt eines Reichsverwesers wollte er nicht annehmen.

In einem Brief vom 28. Oktober 1918 an Helene Röchling teilte Eliza von Moltke mit, sie habe in diesen Oktobertagen den Prinzen Max um eine kurze Unterredung gebeten, aber zunächst keine Anwort erhalten. Später wurde ihr mitgeteilt, daß angesichts der Fülle der Geschäfte der Prinz von Baden die Be­antwortung leider vergessen habe. Frau von Moltke hatte die Absicht, ein Ge­spräch zwischen Rudolf Steiner und dem Prinzen zu vermitteln. Im Januar 1918 hatte ja bereits schon einmal eine Zusammenkunft zwischen Rudolf Steiner und dem Prinzen, der damals wegen seiner liberalen Gesinnung als politischer Hoff­nungsträger galt, stattgefunden. Die beiden Männer sprachen über die Dreiglie­derungsidee als notwendige Grundlage für eine deutsche Friedensinitiative, und Rudolf Steiner fand bei ihm durchaus ein gewisses Verständnis für diese Idee. Im Mitgliedervortrag vom 24. November 1921 in Kristiania (in GA 209) berich­tete Rudolf Steiner über diese Unterredung: «Und es wurde von dieser Persön­lichkeit sehr bedauert, daß eigentlich keine Möglichkeit sei, bei der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten so etwas wse esne Seelenkunde der Völker zugrundelegen zu können. Ich erwiderte, daß ich über diese Seelenkunde der europäischen Völker hier in Kristiania einen Vortragszyklus gehalten habe, und ich habe dann dieser Persönlichkeit diesen Vortragszyklus mit einer aus der damaligen Situation - Januar 1918 - heraus geschriebenen Vorrede geschickt.» Und zum Erfolg seiner Bemühungen: «Genützt hat es allerdings nichts [...], aus dem Grunde nichts, weil jene Reife, die notwendig wäre, um wirklich einzuse­hen, wie stark die Niedergangskräfte sind, diese Reife, die schon in einer großen Anzahl von Seelen da wäre, eben von diesen Seelen nicht bewußt angestrebt werden will.» Für Rudolf Steiner war die Anerkennung der Vierzehn Punkt durch die Regierung des Prinzen von Baden eine große Enttäuschung, schrieb er doch im vierten Kapitel der «Kernpunkte» (GA 23): «Zu der Nichtigkeit der Politik vom Anfange des Krieges kam die andere vom Oktober 1918, kam die furchtbare geistige Kapitulation, herbeigeführt von einem Manne, auf den viele in deutschen Landen so etwas wie eine letzte Hoffnung setzten.»

263 Vorläufig sind diese Vierzehn Punkte in die Unmöglichkeit des abstrakten Völ­kerbundes aus gelaufen: In den Friedensverhandlungen von Versailles konnte sich der amerikanische Präsident Wilson mit seinen Zielsetzungen nicht durch­setzen; einzig der vierzehnte Punkt, die Forderung nach der Bildung eines Völ­kerbundes, fand Eingang in die Friedensverträge von 1919/20 mit den fünf Mittelmächten Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und Türkei.

ihre Unmöglichkeit zeigen sie praktisch in Versailles und Spa: Sowohl in den Verhandlungen von Versailles wie auf der Konferenz von Spa zeigte sich der Wille der Siegermächte Frankreich und England, Deutschland politisch, wirt­schaftlich und militärisch niederzuknebeln und unter Gewaltandrohung zum Nachgehen zu zwingen. Die am 18. Januar 1919 eröffnete Friedenskonferenz von Versailles war im Grunde gar keine richtige Friedenskonferenz, sondern lediglich eine Zusammenkunft der Ententestaaten, in der ohne Beteiligung Deutschlands die Friedensbedingungen für dieses Land ausgehandelt wurden. Am 16. Juni1919 wurde der deutschen Delegation die endgültigen Friedeosbe­dingungen der Entente überreicht, zu deren bedingungslosen Anerkennung sich Deutschland am 23. Juni gezwungen sah: am 28. Juni 1919 unterzeichnete es den

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Versailler Friedensvertrag; in Kraft trat dieser Vertrag am 10. Januar 1920. Die Konferenz von Spa in Belgien om 5 bis 16 Juli1920 war eine der verschiede­nen Folgekonferenzen dieses Friedensschlusses, wo über Entwaffnungs- und Reparationsfragen verhandelt wurde Gegen den deutschen Widerstand wurde der Bestand der deutschen Reichswehr endgültig auf bloß 100 000 Man festge­legt. Eine endgültige Regelung der Reparationsfrage konnte hingegen nicht aus­gehandelt werden: Deutsehland wehrte sich gegen die auf der Konferenz in Boulogne vom 21. bis 22 Juni 1920 beschlossenen deutschen Reparationslei­stungen von jährlichen Mindestraten von 3 Milliarden Goldmark, steigend bis auf 7 Milliarden Goldmark Verbindlich festgelegt wurden bloß die monatlichen Kohlelieferungen in der Ilöhe von 2 Millionen Tonnen, die Deutschland zu leisten hatte.

263 melden sich verschiedene Persönlichkeiten mit Fragen und Meinungen zu Wort:

Von ihren Ausführungen Isegen nur eine unvollstandige Mitschrsft und wenige Stichworte aus einem Notizbuch von Rudolf Steiner vor Auf der Grundlage dieser beiden Quellen wurde versucht die Ausfuhrungen der Diskussionsteil nehmer zu rekonstruieren

265 Sie finden es so gar bei Walter Rathenau betont So stellte Walter Rathenau zum Beispiel in seiner Schrift «Die neue Wirtschaft« (Berlin 1918) in bezug auf die letzliche Abhängigkeit der Industrie vom Boden fest «>Heute wissen wir Jede Industrie ist ein Bodenprodukt, nicht anders als Tier und Pflanze Nur auf ihrem natürlichem Standort kann sie gedeihen und der ist bestimmt durch die kurze sten und bequemsten Wege d R h t ff Halbzeug und Endprodukt Arbeits kräfte und Arbeitsmittel d rehlaufen liisben sofern die physischen Vorbedin gungen der Luft, des Bodens und der Bevolkerung gegeben sind Denn alle Produktion ist Bewegung sie beruht einzig und allein auf Trennung und Ver­einigung irdischer Substa

266 einer radikalen sozialdemokratischen Partei in Halle Vermutlich handelt es sich um eine Parteisektion der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands (USPD), wo einige der Parteimitglieder sich für die Dresgliederungsidee offen zeigten. Aber im gesamten verhielten sich die äußersten Linken ablehnend gegenüber der Dreigliederungsidee.

268 solche Ansichten hat man immer wieder und wiederum gefunden, selbst bei Hoch­schullehrern: Es gibt verschiedene Äußerungen von Rudolf Steiner, wie diese Bemühungen zur Verwirkl hung eines freien Geisteslebens - zum Beispiel durch die Gründung eines Kul ade von den Hochschullehrern aufgenom men wurden, so zum Beispiel in der Ansprache vom 1 Oktober 1920 anlaßlich des ersten anthroposophischen Hochschulkurses (in GA 217a). Dort berichtete er den Studenten: «Nun, [ ] ei wirklich tatkraftiges Mitgehen wurde nicht gefun den. Aber umso öfter konnte man horen wie die Herren in eigentumlicher Weise sich äußerten. Sie sagte nämlich Ja wenn diese Dreigliederung des sozialen Organismus mit ihrem freien Geisteslebens da ware, dann wurde es ja dahin kom men, daß statt des Unterrichtsministers mit seiner Beamtenschaft die Lehrer an den Universitäten selber eine Art Administration des gesamten Erziehungswe­sens ausüben würden. Nein sagten die Herren, da stehe ich doch lieber unter dem Unterrichtsminister und seinen Referenten, als daß ich mich einlassen würde auf die Verfügungen und Maßnahmen, die meine Herren Kollegen treffen.-Und man konnte ganz sonderbare Aussagen hören über die Herren Kollegen.»

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268 sprach doch Klopstock schon von einer Gelehrtenrepublik: 1774 veröffentlichte der deutsche Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) «Die deutsche Gelehrtenrepublik. Ihre Einrichtung. Ihre Gesetze. Geschichte des letzten Land­tages. Erster Teil«. Die Idee, die Qualität von Wissenschaft und Literatur durch Gesetze und korporative Verfassung für die Gelehrten und Schriftsteller zu si­chern, sie auf ihre besondere Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit zu verpflichten und ihnen materielle Unabhängigkeit zu verschaffen, hatte Klop­stock immer wieder beschäftigt. Bereits in seinem «Arbeitstagebuch« von 1755-1756 findet sich die Idee einer «Gelehrtenrepublik«, die er schließlich zu einem Buch verarbeitete. Dieses beinhaltete nicht nur die Darlegung einer künftigen, zünftischen Verfassung des Kulturbereiches, sondern auch eine kritisch-ironi­sche Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Wissenschafts- und Litera­turbetrieb. Die meisten Zeitgenossen, auf die inhaltliche und formale Skurrilität dieses Werkes nicht vorbereitet, reagierten mit Befremden und Verständnislosig-keit, so daß der von Klopstock ursprünglich geplante zweite Teil seiner «Ge­lehrtenrepublik» nicht mehr erschien.

269 Solche Darstellungen wurden in der letzten Zeit ganz besonders hervorgebracht von Theoretikern des wirtschaftlichen Denkens, von Nationalökonomen: Es gab verschiedene bekannte Nationalökonomen, die sich in der damaligen Zeit mit der Konjunkturtheorie beschäftigten. So zum Beispiel Werner Sombart (1863-1941), der die Ursache von Wirtschaftskrisen entweder auf der Nachfrageseite, in der Abnahme der kauffähigen Nachfrage (einfache Absatzkrise), oder auf der Angebotsseite, im Mangel oder Überfluß an Kapital (Kapitalkrise), sah. Anders Joseph Schumpeter (1883-1950). Seiner Meinung nach hingen die Konjunktur­schwankungen mit dem Phänomen des «dynamischen Unternehmers« zusam­men: es ist dieser Unternehmertypus, der aufgrund seiner Persönlichkeitsstruk­tur neue Erfindungen, die in gewisser Regelmäßigkeit auftreten, als erster wirt­schaftlich nutzt. Die entstehenden Monopolgewinne veranlassen auch andere, weniger dynamische Unternehmer, seinem Beispiel zu folgen. Das entstehende zusätzliche Angebot bewirkt einen Rückgang der Gewinne, was schließlich zu einem Konjunkturabschwung führt. Ein neuer Aufschwung setzt erst wieder ein, wenn neue Erfindungen wirtschaftlich umgesetzt werden.

270 die bedeutungsvolle volkswirtschaftliche Krise im Jahre 1907: Von der Finanz-krise von 1907 wurde sowohl die amerikanische wie auch die europäische Wirt­schaft betroffen. Ausgelöst wurde sie durch die Finanzmanipulationen der ame­rikanischen Morgan-Gruppe. Für Steiner war diese Wirtschaftskrise insofern be­deutungsvoll, als sie ein gutes Beispiel für den Ablauf einer von Hintermännern mit Absicht eingeleiteten Wirtschaftikrise darstellte. Heute wird diese Krise nur als ein wenig ins Gewicht fallender, kurzer Unterbruch eines länger dauern­den konjunkturellen Aufschwunges gedeutet. Siehe auch Hinweis zu S.272.

Ich habe in meinen «Kernpunkten der Sozialen Frage» hervorgehoben: Haupt-sächlich im ersten Kapitel der ««Kernpunkte« (GA 23), dem Kapitel über «Die wahre Gestalt der Sozialen Frage, erfaßt aus dem Leben der modernen Mensch­heit«, weist Rudolf Steiner auf die Besonderheit des modernen proletarischen Denkens hin:« Als wirklich wichtig aber muß erscheinen, daß im Proletarier-empfinden für den ganzen Menschen entscheidend geworden ist, was bei andern Klassen nur in einem einzelnen Gliede ihres Seelenlebens verankert ist: die Ge­dankengrundlage der Lebensgesinnung. Was im Proletarier auf diese Art innere

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Wirklichkeit ist: er kann es nicht bewußt zugestehen. Er ist von diesem Zugeständnis abgehalten dadurch, daß ihm das Gedankenleben als Ideologie überliefert wor­den ist. Er baut in Wirklichkeit sein Leben auf die Gedanken; empfindet diese aber als unwirkliche Ideologie.» Deshalb ist das die eigentliche Tragik des mo­dernen Proletariers: »Er lebt proletarisch, aber er denkt bürgerlich.» Und eine Änderung ist nur zu erhoffen, wenn eine doppelte Bedingung erfüllt ist: «Die neue Zeit macht nicht bloß notwendig, sich in ein neues Leben zu finden, son­dern auch in neue Gedanken. Die wissenschaftliche Vorstellungsart wird erst zum lebentragenden Inhalt werden können, wenn sie auf ihre Art für die Bil­dung eines vollmenschlichen Lebensinhaltei eine solche Stoßkraft entwickelt, wie sie alte Lebensauffassungen in ihrer Weise entwickelt haben.«

272 daß es in Amerika eine mächtige Finanzmagnaten gruppe gab> die Morgan-Grup­pe: Gemeint ist das Finanzimperium von John Pierpoint Morgan sen. (1837-1913), einem durch sein rücksichtiloses Vorgehen und großen finanziellen Er­folg bekannten amerikanischen Bankier und Finanzspekulanten. Er war der Hauptinhaber des finanziell mächtigen und wirtschaftlich einflußreichen Privat­bankhauses «J. P. Morgan & Co.«. Auf Morgans Aktivität gehen verschiedene gigantische Truitbildungen in der amerikanischen Wirtschaft um die Jahrhun­dertwende zurück. So beherrschte er einen großen Teil der Stahlproduktion, der Eisenbahnverbindungen und des Telefon- und Telegrafenwesens. Auch im Bankwesen spielte er eine überragende Rolle. Als Morgan 1913 starb, war sein Bankhaus in den Verwaltungsräten von insgesamt 122 Gesellschaften vertreten. Sein Vermögen verdiente sich Morgan aber nicht nur durch Monopolbildungen, sondern auch durch raffinert angelegte Spekulationen mit Aktien und Staatspa­pieren. Er war einer der Hauptverantwortlichen für die Wirtschaftikrise von 1907, trat aber nach außen als Retter in großer Finanznot auf. Überhaupt spielte Morgan die Rolle eines Wohltäters. Von der Überzeugung her Prostestant - er war Mitglied der Episkopal-Kirche -, unterstützte er nicht nur seine Kirche, sondern auch Schulen und Spitäler. Daneben war er auch ein feinsinniger Kunst-liebhaber mit einer auserlesenen Kunst- und Buchsammlung.

Dieses mächtige Konsortium kaufte in aller Stille ein gewisses Spekulationspapier:

Die Kenntnis von solchen Finanzmanipulationen beozg Rudolf Steiner aus dern Buch von Conrad Max von Unruh «Zur Physiologie der Sozialwirtichaft« (Leipzig 1918), wo dieser im dritten Abschnitt eingebend den Ablauf der Krise von 1907 beschrieb: «Das Vorspiel zur großen, im Herbst 1907 in Neu York ausbrechenden Krise war der Gaunerstreich gewisser U.S.-amerikanischer Spe­kulanten, die in aller Stille sämtliche umlaufenden Stücke eines auch an den europäischen Börsen gehandelten Spekulationspapiers angekauft hatten und nun europäische, namentlich deutsche Firmen durch hohe Angebote veranlaßten, ihnen auf Lieferung eine gewisse Anzahl dieser Papiere zu verkaufen, die nur noch von ihnen selbst zu beziehen waren. Gegen den Lieferungstermin hin wurde der Scheinkurs um mehrere hundert Prozent hochgetrieben, die Liefe­rungipflichtigen wurden «hochgenommen>. 1907 wurde umgekehrt verfahren. Die Morgan-Gruppe [...] verkaufte Massen von hochgetriebenen Papieren aus ihren Beständen und entzog dem Markte Riesensummen Geldes, so daß die Diskontsätze stiegen, auch in Europa, wo ohne ersichtliche Ursache Hausse herrschte. Unter dem Vorgeben von Geldmangel versagten nun im August 1907 die Morgan-Banken die üblichen Diskontierungen und Kreditierungen. Tausen­de von Firmen, sogar Nationalbanken, wurden zahlungsunfähig, Hunderttausende

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von Existenzen brachen zusammen, auch in Europa; die Bank von Eng­land mußte ihren Diskontsatz auf 7 %, die Deutsche Reichsbank auf 8 % hin-aufsetzen, die Panik erschütterte die Kreditgebäude der ganzen Welt. Erst als die Sätze für Leihgeld die schon erwähnte Verzweiflungshöhe erreicht hatten, gaben die Morgan-Banken wieder Geld her und kauften Anlagewerte zu den tief her-abgedrückten Kursen ein. Der Beutezug war dreifach gelungen!«

Conrad Max von Unruh (1842 - ?) war der Sohn von Hans Victor von Unruh, dem Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung von 1848. Nach dem Studium des Eisenbahobaus und der Architektur zunächst als Architekt und Landwirt tätig. Später wechselte er in den preußischen Staatsdienst über; ab 1894 bekleidete er leitende Stellungen im Eisenbahnbau und -betrieb. Er war auch als Verfasser von nationalökonomischen Schriften bekannt - seine wichtigsten wa­ren: »Zur Biologie der Sozialwirtschaft« (Leipzig 1914) und «Zur Physiologie der Sozialwirtschaft» (Leipzig 1918). Rudolf Steiner schätzte die Bücher von Unruh, sagte er doch im Vortrag vom i. August 1922 im Rahmen des National-ökonomischen Kurses (GA 340): «Solche Dinge, die gewissermaßen verborgene re volkswirtschaftliche Zusammenhänge darlegen, hat ja sehr schön Unruh in seinen volkswirtschaftlichen Büchern dargestellt.«

272 Papiere auf Lieferung zu kaufen: Es handelt sich um sogenannte Termingeschäf­te an der Börse, bei denen die Abnahme und Lieferung der Ware oder des Wertpapiers, erst zu einem späteren Termin, aber zu einem am Abschlußtag festgelegten Kurs erfolgt. Der Gegenstand der Lieferung braucht sieh bei Ab­schluß des Termingeschäfts noch nicht im Besitz des Verkäufers zu befinden. Der Käufer (Haussier) hofft auf einen höheren künftigen Kurs, der Verkäufer (Baissier) auf einen tieferen künftigen Kurs. Der Verkäufer spekuliert also auf das Sinken der Preise, während umgekehrt der Käufer mit einem Steigen der Preise rechnet.

Bankdiskont: Durch Kapitalmangel bedingt, stieg der offizielle Diskontsatz der Deutschen Reichsbank in den Jahren 1906 und 1907 - der Zinssatz für die vor­zeitige Einlösung von Wechseln durch die Geschäftsbanken bei der Notenbank

- zeitweise auf 7 %, ja sogar auf 7 1/2 %, was einer bisher nie erreichten Höhe entsprach. Ebenso bewegte sich der Diskontsatz der Bank of England zeitweise auf der Höhe von 6 % bis 7 %.

273 Karl Marx: Siehe Hinweis zu S.106

das «Kapital» von Karl Marx: «Das Kapital« war das dreibändige Hauptwerk von Karl Marx; es bildete die Fortsetzung seiner 1859 veröffentlichten Schrift «Zur Kritik der Politischen Ökonomie«. Im «Kapital» entwickelte Marx die Grundlagen der marxistischen Wirtschaftstheorie mit dem zentralen Begriff des Mehrwertes. Der erste Band erschien 1867 in Hamburg, noch zu seinen Lebzei­ten, der zweite und dritte Band aber erst nach seinem Tode; beide Bände wurden von Friedrich Engels bearbeitet und 1885 und 1894 in Hamburg herausgegeben.

275 ich habe mich darüber in meiner «Philosophie der Freiheit» ausgesprochen: Im Kapitel XIII seiner «Philosophie der Freiheit« (GA 4), «Der Wert des Lebens (Pessimismus und Optimismus)«, berührt Rudolf Steiner auch die Frage nach dern Motiv eines Selbstmordes, und er kommt zum Schluß: «Das vorhandene Leben strebt nach Entfaltung, und nur derjenige Teil gibt den Kampf auf, dessen Begierden durch die Gewalt der sich auftürmenden Schwierigkeiten erstickt

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werden. Jedes Lebewesen sucht so lange nach Nahrung, bis der Nahrungsman­gel sein Leben zerstört. Und auch der Mensch legt erst Hand an sieh selber, wenn er (mit Recht oder Unrecht) glaubt, die ihm erstrebenswerten Lebensziele nicht erreichen zu können. Solange er aber noch an die Möglichkeit glaubt, das nach seiner Ansicht Erstrebenswerte zu erreichen, kämpft er gegen alle Qualen und Schmerzen an. Die Philosophie müßte dem Menschen erst die Meinung beibringen, daß Wollen nur dann einen Sinn hat, wenn die Lust größer ist als die Unlust; seiner Natur nach will er die Gegenstände seines Begehrens erreichen, wenn er die dabei notwendig werdende Unlust ertragen kann, sei sie dann auch noch so groß.»

276 Als ich einmal nach Budapest kam: Rudolf Steiner war zweimal in Budapest:

1889 und 1909. Warum er 1889 nach Budapest fuhr, ist nicht bekannt; im Ka­pitel XIII von «Mein Lebensgang» (GA 28) schreibt er bloß: «Der menschliche Zusammenhang mit Siebenbürgern führte mich zu einer Reise nach Budapest.» Der Zweck seines Aufenthaltes in Budapest von 1909 hingegen ist bekannt: als Generalsekretär der Deutschen Sektion nahm er am fünften »Internationalen Kongreß der Föderation Europäischer Sektionen der Theosophischen Gesell­schaft« teil, der vom 30. Mai bis 2. Juni 1909 in dieser Stadt abgehalten wurde. Anschließend an diesen Kongreß hielt Rudolf Steiner einen Vortragszyklus über «Theosophie und Okkultismus des Rosenkreuzers« (in GA 109/111).

278 warum die Streiks vom Jahre 1907 bis zum Jahr 1919 um 87% zugenommen haben: Zum Zeitpunkt dieses Vortrages wurde am ersten Emissionsprospekt für die Futurum A.G. gearbeitet - Rudolf Steiner war auch daran beteiligt. Im An­hang 1 dieses Prospektes findet sich unter dem Titel «Zur Weltwirtschaftslage« ebenfalls eine Zahlenangabe über die Zunahme des Streikbedürfnisses - aller­dings eine etwas abweichende; es wird davon gesprochen, «daß das Streikbe­dürfnis 1919 um 89,8 % grösser war als 1913.«

Cri-Cri-Fabrikant: Siehe Hinweis zu S.211.

279 Georg Christoph Lichtenberg, 1742-1799, Professor für Physik an der Univer­sität Göttingen, daneben auch philosophischer Schriftsteller, Vertreter der Auf­klärung. Der Ausspruch von Lichtenberg ist von Rudolf Steiner frei wiederge­geben. Sein genauer Wortlaut, so wie er sich in den von Albert Leitzmann zu­sammengestellten und 1908 in Leipzig erschienenen «Aphorismen« findet, ist:

«Es sind zuverlässig in Deutschland mehr Schriftsteller, als alle vier Weltteile überhaupt zu ihrer Wohlfahrt nötig haben.«

282 Oswald Spengler in seinem «Untergang des Abendlandes»: Oswald Spengler (1880-1936), deutscher Schriftsteller und Philosoph. Er wurde vor allem durch sein zweibändiges Hauptwerk «Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte« bekannt. Der erste Band, «Gestalt und Wirk­lichkeit« erschien 1918 in München, der zweite Band, «Welthistorische Perspek­tiven«, 1922, ebenfalls in München. Rudolf Steiner setzte sich sehr intensiv mit der von Spengler vertretenen Weltanschauung auseinander. So zum Beispiel im öffentlichen Stuttgarter Vortrag vom 15. Juni 1920 (vorgesehen für GA 335) oder in den vier im August und September 1922 in der Zeitschrift «Da« Goe­theanum« erschienenen Aufsätzen «Spenglers Weltbistorische Perspektiven«, «Die Flucht aus dem Denken», «Spenglers Physiognomische Geschichtsbetrach­tung« und «Spenglers geistverlassene Geschichte« (in GA 36). Rudolf Steiner im

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dritten «Goetheanum»-Aufsatz: «Spengler denkt zu Ende, was in anderen zur Hälfte oder zu einem Viertel seelisch durchlebt wird. Dieses Denken kann die geistigen Entwicklungskräfte nicht finden, die in der Menschheit von deren Anbeginn im Erdendasein bis in zu erahnenden Zukünfte hinein wirken. Diese Kräfte leben sich in den einzelnen Kulturen aus, so daß eine jede Kultur Kind­heit, Reife, Verfall durchmacht und schließlich dem Tode verfällt. Aber inner­halb jeder Kultur bildet sich ein Keim, der in einer nächsten aufgeht, um in diesem Aufgehen die Menschheit durch ein ihr notwendiges Entfaltungsstadium hindurchzuführen. Gewiß haben die Abstraktlinge unrecht, die in dieser Ent­wickelung nur ein Fortschreiten zu immer höhern Stufen sehen. Manches Spä­tere erscheint gegenüber berechtigten Bewertungen als ein Rückschritt. Aber die Rückschritte sind notwendig, denn sie führen die Menschheit durch Erlebnisse hindurch, die gemacht werden müssen.»

283 So sagte mir jüngst ein Praktiker aus dem Norden: Um wen es sich handelt, konnte nicht herausgefunden werden

Ich hatte einmal im Jahre 1902 oder 1903 mit einem Bekannten ein Tisch­gesprach über Ansichtspostkarten: Über diese Begebenheit ist nichts Näheres bekannt.

287 unseres Berliner Verlages: Gemeint ist der Philosophisch-Anthroposophische Verlag in Berlin. Nachdem Rudolf Steiner viele schwierige Erfahrungen mit seinen verschiedenen Verlegern, zum Beispiel Emil Felber, hinter sich hatte, gründete Marie von Sivers am i. August 1908 den «Philosophisch-Theosophi-sehen Verlag» in Berlin, ausschließlich zur Herausgabe der Werke Rudolf Stei­ners. Der Verlag hatte seinen Sitz an der Motzstrasse 11. 1913, nach der Tren­nung von der Theosophischen Gesellschaft, wurde er in «Philosophisch-An­throposophischer Verlag» umbenannt. Von allem Anfang an besorgte Johanna Mücke die praktische Geschäftsführung. Weil Marie von Sivers oft mit Rudolf Steiner auf Reisen war, mußte sie meist schriftlich mit Johanna Mücke verkehren und die nötigen Anordnungen treffen. Wegen der schwierigen politischen Lage in Deutschland wurde im November 1923 die Übersiedlung des Verlags von Berlin nach Dornach in die Wege geleitet; Anfang Juni 1924 war sie abgeschlos­sen. Johanna Mücke war ebenfalls nach Dornach gezogen und besorgte weiter­hin die praktische Geschäftsführung (bis 1935); seinen Sitz hatte der Verlag im eigens dafür errichteten Verlagshaus in der Nähe des Goetheanum. Auf der Weihnachtstagung von 1924 war beschlossen worden, den Verlag als zweite Unterabteilung in die Allgemeine Anthoposophische Gesellschaft einzugliedern; im Handelsregister wurde am 3. März 1925 ein entsprechender Eintrag vorge­nommen. Erst danach, das heißt am 16. Dezember 1925, wurde ein Kaufvertrag zwischen Marie Steiner und der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft abgeschlossen. Nach diesem Vertrag behielt sich Marie Steiner «das lebensläng­liche, unbeschränkte und unentgeltliche Nutznießungsrecht« vor, indem ihr bis zu ihrem Ableben die alleinige Leitung und Verwaltung des Verlages zufiel.

288 Bei der jetzigen Krise: Nach dem Ersten Weltkrieg ließ das Deutsche Reich uneingeschränkt Geldnoten drucken, um die Geldhedürfnisse des Staates und die Reparationsforderungen der Ententemächte erfüllen zu können. In der Folge stiegen die Preise immer schneller, der Wert der Papiermark verfiel zusehends ins Unermeßliche. 1923 ersetzte die Rentenmark als Ühergangswährung die bis dahin gültige Papiermark (1 Billion Papiermark = 1 Rentenmark). An ihre Stelle

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trat 1924 als endgültige Währung die Reichsmark (Umtauschverhältnis 1:1). Die in­flationäre Entwicklung war allerdings bereits während des Ersten Weltkriegs eingeleitet worden, da es nicht mehr möglich war, die hohen Kriegskosten mit dem vorhandenen Kapital zu decken.

290 Diese theosophische Bewegung, mit der die anthroposophische Bewegung früher in einer gewissen Verbindung war: Rudolf Steiner wirkte zunächst im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft und ihrer Deutschen Sektion, deren Mitbe­gründer er war. Uber dieses Wirken schrieb er im Kapitel XXXI von «Mein Lebensgang« (GA 28): «Ich hätte nie in dem Stile, in dem diese Theosophen wirkten, selber wirken können. Aber ich betrachtete, was unter ihnen lebte, als ein geistiges Zentrum, an das man würdig anknüpfen durfte, wenn man die Verbreitung der Geist-Erkenntnis im tiefsten Sinne ernstnahm. So war es nicht etwa die in der Theosophischen Gesellschaft vereinigte Mitgliedschaft, auf die Marie von Sivers und ich zählten, sondern diejenigen Menschen überhaupt, die sich mit Herz und Sinn einfanden, wenn ernstzunehmende Geist-Erkenntnis gepflegt wurde.» Infolge von zunehmenden Schwierigkeiten mit der zentralen Leitung der Theosophischen Gesellschaft unter Annie Besant, wurde 1913 eine unabhängige Gesellschaft begründet: die Anthroposophische Gesellschaft. vom »permanenten Atom» zu sprechen: Diese Lehre vom permanenten Atom war eine damals unter den deutschen Theosophen weit verbreitete Anschauung, die als Lehre vom »Geistfunkenatom» bis in die heutige Zeit nachwirkt. Sie war Bestandteil der Atomismus-Auffassung, mit der die Theosophen die Wissen­schaftlichkeit ihrer Weltanschauung zu beweisen versuchten. In «Mein Lebens-gang» (GA 28, XXXII. Kapitel) schrieb Rudolf Steiner im Hinblick auf diesen theosophische Atomismus: »Die Erscheinungen der Natur wurden >erklärt>, indem man >Ur-Teile> der Weltsubstanz sich zu Atomen, diese zu Molekülen gruppieren ließ. Ein Stoff war dadurch da, daß er eine bestimmte Struktur von Atomen in Molekülen darstellte.» Rudolf Steiner lehnte diese Art von Brücken­schlag zur Wissenschaft, wie er zum Beispiel vom Theosophen Wilhelm Hübbe­Schleiden in seinem Buch »Das Dasein als Lust, Leid und Liebe. Die alt-indische Weltanschauung in neuzeitlicher Darstellung. Ein Beitrag zum Darwinismus» (Braunschweig 1891) vertreten wurde, ab: »Mir kam immer wenig darauf an, daß Atome in rein mechanischer oder sonst einer Wirksamkeit innerhalb des mate­riellen Geschehens angenommen werden. Mir kam es darauf an, daß die denken­de Betrachtung von dem Atomistischen - den kleinsten Weltgebilden - ausgeht und den Ubergang sucht zum Organischen, zum Geistigen. Ich sah die Notwen­digkeit, von dem Ganzen auszugehen. Atome oder atomistische Strukturen können nur Ergebnisse von Geistwirkungen, von organischen Wirkungen sein. - Von dem angeschauten Urphänomen, nicht von einer Gedankenkonstruktion, wollte ich im Geiste der Goetheschen Naturbetrachtung den Ausgang nehmen.« Im Dornacher Mitgliedervortrag vom 15. Juni 1923 (in GA 258) äußerte sich Rudolf Steiner besonders ausführlich zu diesen - nach seiner Ansicht «materia­listischen» - Bestrebungen innerhalb der Theosophischen Gesellschaft.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.