GA 333

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER DAS SOZIALE LEBEN UND
DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

Gedankenfreiheit
und soziale Kräfte

Die sozialen Forderungen der Gegenwart
und ihre praktische Verwirklichung

Sechs öffentliche Vorträge mit einem Schlußwort,
gehalten zwischen dem 26. Mai und 30. Dezember 1919
in Ulm, Berlin und Stuttgart

GA 333

1971

Inhaltsverzeichnis


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DIE DREIFACHE GESTALT DER SOZIALEN FRAGE Ulm, 26. Mai 1919

Wie an anderen Orten Württembergs und der Schweiz werde ich mir gestatten, auch hier über die einschneidendste, wichtigste Frage der Ge­genwart zu sprechen, über die soziale Frage, und zwar in Anknüpfung an dasjenige, was erschienen ist in dem Aufruf, der vor einiger Zeit durch die deutschen Lande ging, «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt». Der Aufruf, der für die Dreigliedetung des sozialen Organismus eintritt, dürfte den meisten von Ihnen vor Augen gekommen sein. Die weiteren Ausfürrangen desjenigen, was in einem solchen Auf-ruf selbstverständlich nur kurz angedeutet werden konnte, sind in mei­nem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwen­digkeiten der Gegenwart und Zukunft» gegeben. Einzelnes von dem, was von diesem Aufruf gesagt werden muß, gestatten Sie mir, Ihnen am heutigen Abend zu skizzieren.

Die soziale Frage - das ergibt sich wohi jeder Menschenseele, die wachend den Zeitereignissen gegenübersteht - ist dasjenige, was sich in einer ganz neuen Gestalt aus den gewaltigen, erschütternden Ereig­nissen der Weltkriegskatastrophe heraus ergeben hat. Zwar ist die so­genannte soziale Frage oder soziale Bewegung, so wie wir heute von ihr sprechen, mindestens mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Aber wer dasjenige, was heute sich als gewaltige geschichtliche Weile ankündigt, ins Auge faßt und diese Dinge miteinander vergleicht, darf dennoch sagen: Diese soziale Frage hat in unserer Gegenwart eine vörng neue Ge­stalt angenornrnen, eine Gestalt, an der niemand vorübergehen dürfte.

Wie oft hat man im Laufe der letzten vier bis fünf Jahre das Wort ge-hört: In dieser schreclllichen Weltlrriegskatastrophe liegt etwas, wie es die Menschen nicht erlebt haben, seit es überhaupt das gibt, was man Geschichte nennt. Aber noch wenig, wahrhaftig recht wenig hört man heute, wo dieseWeltkriegskatastrophe in eine Krisis eingetreten ist, von der Notwendigkeit sprechen, daß zur Wiedetordnung des Lebens nun auch ganz neue Impulse notwendig seien; daß ein völliges Umdenken und Umiernen notwendig ist - obwohl eigentlich schon äußerlich die

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Notwendigkeit dieses Umdenkens und Umiernens einzusehen ist. Denn die alten Gedanken haben uns gerade in jene fiirchtbare Menschheits-katastrophe hineingeführt. Neue Gedanken, neue Impulse müssen uns wieder hinausführen. Und wo jene Impulse zu suchen sind, das zeigt eine wirklich eindringliche Beobachtung desjenigen, was als soziale Forderungen aus immer mehr Menschengemütern heraus ertönt, und an dem vorüberzugehen eigentlich nur dem möglich ist, der seine Zeit verschläft; der die Ereignisse abwartet, bis gewissermaßen der alte Bau wesenlos zusammenbricht.

Soziale Fragen steilt man sich heute vielfach als etwas höchst Nahe­liegendes, zuweilen höchst Einfaches vor. Wer nicht aus grauen Theo­rien, auch nicht aus einzelnen persönlichen Forderungen heraus, son­dern aus einer wirklich verbreiterten Erfaluung über die Lebensnot­wendigkeiten der Gegenwart und Zukunft urteilt, muß in dieser sozia­len Frage etwas sehen, in das viele Kräfte zusammerlließen, die sich in der Menschheitsentwicklung heraufentwickelt und, man kann schon sagen, in einer gewissen Weise sich selbst ihrer Vernichtung entgegen-geführt haben. Wer diese Lebensbedingungen überschaut, dem er­scheint die soziale Frage in einer dreifachen Gestalt. Sie erscheint ihm als eine Frage des Geisteslebens, zweitens als eine Frage des Rechts-lebens, und drittens als eine Frage des Wirtschaftslebens. Nun haben es die letzten Jahrhunderte, und insbesondere das 19. Jahrhundert, auch die verflossenen zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, mit sich ge­bracht, daß man glaubt, fast alles, was zur sozialen Frage gehört, auf dem wirtschaftlichen Gebiet suchen zu müssen. Die Gründe, warum man so wenig klar sieht, liegen eben darin, daßraan meint, man müsse sich nur auf wirtschaftlichem Gebiete zurechtilnden, dann würden alle übrigen von selber folgen. Es wird schon notwendig sein, daß die ersten Teile meiner heutigen Betrachtung einem Gebiete des Lebens gewidmet smd, von dem die Leute weder von links noch von rechts auch jetzt noch als einem sozial wichtigen Gebiete mit sich reden lassen wollen, nämlich dem Gebiete des geistigen Lebens.

Die Forderungen, die man die sozialen nennt, gehen ja von der brei­ten Masse des Proletariats aus, das den dreifachen Leidensweg bis zu den Zuständen der Gegenwart durchgemacht hat, von dem wir nachher

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sprechen wollen. Und dieses Proletariat ist durch das Heraufkom­men der neuen Technik und des seelenverödenden Kapitalismus sowie durch die übrigen Kulturverhältuisse fast ganz in das bloße Wirtschafts­leben hineingedrängt worden. Aus dem Wirtschaftsleben heraus ent­standen auch die Forderungen des Proletariats. Daher nimmt die soziale Frage der Gegenwart, weil sie zunächst aus dem Proletariat auftaucht, ihre wirtschaftliche Form an. Aber sie ist nicht eine bloß wirtschaftliche Frage. Schon die einfache Feststellung, wie unzulänglich die altherge­brachten Gedanken sind gegenüber den heute laut sprechenden Tat­sachen, kann darüber belehren, daß wir es innerhalb der sozialen Be­wegung nicht allein mit einer Wirtschafts- und Rechtsfrage, sondern vor allen Dingen mit einer Geistesfrage zu tun haben.

Wir stehen über einen großen Teil der zivilisierten Welt hinweg vor einer lauter sprechenden sozialen Tatsache. Soziale Parteimeinungen, Parteiprogramme, wir haben sie gehabt, sie sind hervorgebracht. Alle Gedanken, alle Parteimeinungen erweisen sich jetzt, da man den Tat­sachen gegenübersteht, als unzulänglich. Heute handelt es sich nicht darum, alte Parteimeinungen fortzusetzen, sondern heute handelt es sich darum, sich den Tatsachen unmittelbar und ganz ernsthaftig, mit Wirklichkeitssinn gegenüberzustellen.

Sehen wir doch zuerst einmal, wie sich in der neueren Zeit das Leben der Menschen, das dann in die Katastrophe eingelaufen ist, entwickelt hat. Da haben wir vor allen Dingen den Blick auf die tiefe, schier un­überbrückbar erscheinende Kluft zu werfen, die zwischen dem Prole­tariat und dem Nichtproletariat besteht. Wenn wir auf das Kulturleben dieses Nichtproletariats sehen, was tritt uns da entgegen? Ganz gewiß ist dieses Kulturleben als ein ungeheurer Fortschritt im Laufe der neue­ren Zeit reichlich gepriesen worden. Immer wieder konnte man es hö­ren, wie in dieser neueren Zeit die Verkehrsmittel die Menschen über weite Gebiete der Erde hingebracht haben, die in älteren Zeiten, wenn man sie prophetisch geschildert hätte, als eine Utopie verschrien wor­den wären. Der Gedanke - so hat man immer wiederum gepredigt und gelobhudelt - eilt mit Blitzesschnelle über ferne Länder und Meere und so weiter. Man ist nicht müde geworden, immer wieder den Fortschritt zu preisen. Aber heute gilt es, zu all dem eine andere Betrachtung hinzuzufügen.

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Heute gilt es zu fragen: Unter welchen Bedingungen ist dieser Fortschritt entstanden? Er konnte nur dadurch entstehen, daß er sich auf einem Unterbau breitester Menschheitsmassen auf baute, die nicht teilnehmen konnten an alle dem, was man an dieser Kultur so gelobt hat, - auf dem Unterbau breiter Menschenmassen, die ihre Arbeit tun mußten für diese Kultur von wenigen, die in der Form, wie sie geschaf­fen worden ist, nur dadurch da sein konnte, daß diese Massen keinen Anteil an ihr hatten. Nun sind diese breiten Massen herangewachsen, sind zu sich selbst gekommen und fordern mit Recht ihren Anteil. Ihre Forderungen sind zugleich die großen, geschichtlichen Forderungen der Gegenwart für jeden, der seine Zeit wirklich versteht. Und wenn heute der Ruf nach Sozialisierung des Wirtschaftslebens ertönt, so er­kennt derjenige, der seine Zeit versteht, in diesem Ruf nicht etwa bloß die Forderungen einer Menschenklasse, sondern zugleich eine ge­schichtliche Forderung des Menschenlebens der Gegenwart.

Eine Eigentümlichkeit der führenden Menscherklassen, welche die Teilnehmer der so vielfach gelobten Kultur waren, ist die, daß sie im Laufe der neueren Zeit fast jede Gelegenheit versäumt haben, daß sie jenen Gelegenheiten sich nicht gewachsen gezeigt haben, die Kluft zwi­schen ihnen und den immer mehr mit ihren berechtigten Forderungen hervortretenden Massen des Proletariats irgendwie zu überbrücken. Gerade an den Gedanken hat es gefehlt, die in das menschliche, soziale Leben hätten hineinffießen müssen, um diese Kluft zu überbrücken. Es ist schon eine Eigentümlichkeit dieses neueren Geisteslebens, das man so vielfach gepriesen hat, daß es dem wahren, wirklichen Leben immer fremder geworden ist. Der Einzelne verfolgt nur dasjenige Leben, das ihn unmittelbar umspannt. Für die breiten Kreise fanden sich keine um­fassenden Gedanken aus unserem Geistesleben, aus unserer Schulbil­dung heraus. Dafür ein Beispiel, das von den verschiedensten Gesichts­punkten her nicht verzehnfacht, sondern verhundertfacht und mehr werden könnte.

Im Beginn des Jahrhunderts hat ein Regierungsrat Kolb sein Schick­sal in einer merkwürdigen Weise in die Hand genommen. Ich erwähne gerne diesen Regierungsrat Kolb aus dem Grunde, weil es aller Ehren wert ist, wie er sein Schicksal in die Hand genommen hat, und weil ich

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dabei auch nicht nötig habe, in irgendeiner Weise etwas Abträgliches zu sagen, was ich nicht gerne tue. Kolb hat in einem Augenblick seines Lebens etwas getan, was nicht viele andere Regierungsräte tun. Die an­deren lassen sich meist pensionieren, wenn sie nicht mehr ihren Dienst tun wollen; er aber verabschiedete sich von seinem Amte, ging nach Amerika, und ließ sich als gewöhnlicher Arbeiter einstellen, zuerst in einer Brauerei, dann in einer Fahrradfabrik. Aus den Erfahrungen her­aus, die dieser Regierungsrat hatte, schrieb er dann ein Buch: «Als Ar­beiter in Amerika».

In diesem Buche findet sich ein merkwürdiger Satz. Da heißt es etwa:

«Wenn ich früher auf der Straße einem Menschen begegnete, der nicht arbeitete, dann sagte ich: Warum arbeitet der Lump nicht? Jetzt wußte ich es anders. Und jetzt weiß ich auch über manches andere noch etwas anderes; jetzt weiß ich, daß selbst die schrecklichsten Hantierungen des Lebens sich in den Studierstuben noch recht gut ausnehmen.» Das ist ein die sozialen Verhältnisse der Zeit tief kennzeichnendes Bekenntnis. Ein Mann, der aus unserem Geistesleben hervorgegangen ist, dem durch viele Jahre Menschenschicksal übertragen war - durch so viele Jahre, als notwendig sind, um es zum Regierungsrat zu bringen -, der kennt nichts von menschlicher Arbeit, das heißt, er kennt nichts vom menschlichen Leben. Er muß erst sich selber ein Schicksal bereiten, um etwas zu wissen vom Leben, das er regieren sollte, in dem er aus den führenden Klassen heraus tätig sein sollte. Er muß erst, um von diesem Leben etwas zu wissen, sich als Arbeiter einstellen lassen und kommt dann zu ganz anderen Lebensanschauungen.

Weist dieses Beispiel, das wahrhaftig vervielfältigt werden könnte, nicht darauf hin, wie unser Geistesleben, aus dem die führenden Men­schen hervorgehen, dem Leben der breiten Massen fremd geworden ist? Die breiten Massen haben an der Notwendigkeit ihres Leibes und ihrer Seele gesehen, wie die führenden Klassen das Wirtschaftsleben leiten. Sie haben gesehen, daß da etwas nicht stimmt, daß diese führen­den Klassen nicht den nötigen Geist haben, um das Wirtschaftsleben zu leiten. Heute entsteht die Frage: Was muß da anders werden?

Und in mancher anderen Beziehung kann man noch sehen, wie fremd die führende Klasse im Laufe der letzten Jahrhunderte dem geworden

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ist, was hätte geschehen müssen, um nicht in eine Katastrophe hinein­zutreiben. Man sprach gewiß in ernstester, würdigster Meinung inner­halb der leitenden Kreise von allem möglichen Schönen, von Nächsten-liebe, von Brüderlichkeit unter den Menschen, von der Art und Weise, wie der Mensch überhaupt gut sein müsse, und dergleichen. Aber man hatte keine Beziehung zum wirklichen Leben. Man brachte es höch­stens einmal zu Enquìten. Eine solche Enquìte von der Mitte des ,9. Jahrhunderts ist heute gar nicht so unwesentlich. Sie wurde von der englischen Regierung dazumal bei den Betriebsleitungen in den Berg­werken angeregt. Da sollten die Menschen, die in ihren gutgeheizten Zimmern über das menschliche Dasein redeten, einmal erfahren, bei was für Kohlen sie von diesem Gutsein redeten. Sie sollten erfahren, daß diese Kohlen, bei denen sie über ihre fortgeschrittene Moral, über ihr fortgeschrittenes Geistesleben redeten, aus Bergschächten herauf-geholt sind, in die man neun-, elf-, dreizehnjärrige Kinder vor Tag hin­einschickte, vor Aufgang der Sonne, die erst bei Nacht wieder herauf-kamen, so daß die armen Kinder das Licht der Sonne fast nie sahen. Es ließ sich gut reden über das menschliche Gutsein und über die Nächsten­liebe bei den Kohlen, die auf diese Weise zutage gefördert wurden. Und Ähnliches könnte viel erzählt werden. Und gefragt muß werden: Sind aus solchen Anlässen heraus bei den führenden Kreisen der Menschheit die Impulse entstanden, wirklich einzugreifen in das soziale Leben? Mancher wird mir heute erwidern: Ja, es ist doch vieles besser gewor­den. Dem aber werde ich sagen: Was besser geworden ist, ist nicht besser geworden durch die Initiative der führenden Klasse, sondern durch den schweren Kampf derjenigen, die unter diesen Verhältnissen gelitten haben.

Das sind Dinge, auf die heute das Auge gelenkt werden muß. Man muß die Augen darauf richten, was der Arbeiter, der vom Morgen bis zum Abend arbeitet, höchstens von außen sieht, wenn er an unseren Hochschulen, an unseren Mittelschulen vorbeigeht. Er kennt ja nur, was in den Volksschulen vorgeht, und auch da nur dasjenige, was er eben er­leben kann. Er weiß nicht, wie die Ziele der Volksschule von oben her­unter bestimmt werden, er sieht nur, daß aus diesen Anstalten nicht die­jenigen hervorgehen, welche heute das Wirtschaftsleben leiten können.

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Hier liegt die erste Gestalt der sozialen Frage. Wir haben trotz allen Lobhudeleien unseres Geisteslebens kein Geistesleben, das den großen Aufgaben der Zeit gewachsen ist.

Schauen wir in das Wirtschaftsleben hinein. Als die soziale Bewegung heraufkam, hörte man sehr häufig von seiten der leitenden Kreise diese soziale Bewegung mit denWorten abtun: Die wollen teilen. Was kommt denn aber bei der Teilung heraus? Da kriegt jeder nur sehr wenig. -Dann verstummte dieser Einwand; denn das ist auf der einen Seite sehr wahr, auf der anderen Seite sehr dumm. In der letzten Zeit taucht er wieder immer mehr auf. Aber es kommt nicht auf diese Dinge an. Wer heute in die besondere Struktur unseres Wirtschaftslebens hineinsieht, weiß, daß das leibliche und seelische Elend der breiten Massen des Pro­letariats aus ganz anderen Untergründen heraus gekommen ist. Er weiß, daß eine ungenügende Ausbildung des Geisteslebens nicht verstanden hat, ein immer mehr um sich greifendes technisches Getriebe im Wirt­schaftsleben wirklich in eine solche Gestalt zu bringen, daß jeder Mensch darin ein menschenwürdiges Dasein haben konnte.

Gewiß, man hat mit Recht vielfach darauf hingewiesen, daß die mo­derne soziale Bewegung durch die moderne Technik, durch die Ma­schinen, durch den seelenverödenden Kapitalismus heraufgekommen ist. Aber man hat vergessen, daß alles dasjenige, was so heraufgekom­men ist, nicht beherrscht werden konnte von dem Geistesleben, wie es sich entwickelt hat.

Warum ist das so gekommen? Zugleich mit der Maschine, mit dem Industrialismus, mit dem Kapitalismus ist ein bestimmtes Bestreben über die Menschheit gekommen, das sich darin ausdrückt, daß man einen Fortschritt darin sah, das Geistesleben womöglich vom Staat auf­saugen zu lassen. Verstaatlichung des Geisteslebens, das wurde als gro­ßer Fortschritt angesehen. Und heute begegnet man noch immer den schärfsten Vorurteilen, wenn man irgend etwas einwendet gegen diese Verstaatlichung des Geisteslebens. Diejenigen, welche mit ihren Sym-pathien in diesem heutigen Geistesleben darinnenstehen, weisen mit einem gewissen Hochmut daraufhin, wie man mit dem Geiste viel wei­ter gekommen sei, als im alten, dunklen Mittelalter. Nun gewiß, das Mittelalter wollen wir nicht wieder herauf haben. Nicht zurück, sondern

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vorwärts wollen wir schreiten. Aber eine andere Frage muß doch aufgeworfen werden. Man sagt, im Mittelalter habe das Geistesleben, insbesondere die Wissenschaft, der Theologie oder der Kirche die Schleppe nachgetragen. Heute muß man fragen: Wem trägt denn das gegenwärtige Geistesleben die Schleppe nach - oder vielleicht noch etwas anderes? Dafür wiederum ein Beispiel, das aber nicht nur ver­hundertfacht, sondern vertausendfacht werden könnte. Wiederum darf ich von einem Menschen sprechen, den ich hoch schätze, weil er nach meiner Überzeugung ein bedeutender Naturforscher war. Er war zu gleicher Zeit Generalsekretär einer gelehrten Gesellschaft, die an der Spitze des deutschen Geisteslebens marschiert. In einer seiner wohlge­lungenen Reden wollte er zum Ausdruck bringen, was diese deutschen Gelehrten, die die große Ehre haben, Mitglieder der Berliner Akademie der Wissenschaften zu sein, sich als ihre höchste Ehre anrechnen. Wenn so etwas geschlidert wird, möchte man freilich auf eine historische Tat­sache hinweisen, die nicht unbeträchtlich ist. Diese Berliner Akademie war ja immer etwas, was gewissermaßen die Impulse des Hohenzollern­tums geistig zum Ausdruck bringen konnte. Ein Hohenzoller des 18. Jahrhunderts stand einmal vor der Notwendigkeit, seiner Akademie der Wissenschaften einen Präsidenten vorzusetzen - ich erzähle Ihnen kein Märchen, sondern eine historische Tatsache -, und er glaubte, diese Akademie der Wissenschaften am meisten zu ehren, indem er ihr zum Präsidenten seinen Hofnarren gab. Aber der große Gelehrte vom Ende des 19. Jahrhunderts sagt, daß die gelehrten Herren der Berliner Akademie es sich zur höchsten Ehre anrechnen, die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern zu sein.

Man muß auf solche Dinge als auf Symptome der Zeit hinschauen. Man muß darauf hinschauen, was das Geistesleben in der Abhängigkeit von der Staatsgewalt und der mit ihr verbundenen kapitalistischen Ge­walt geworden ist. Denn wenn man nicht aus irgendwelchen Vorurtei­len, sondern aus den Lebensnotwendigkeiten heraus, aus der Wirklich­keit heraus innere Impulse fassen kann, dann wird man, allen Vorur­teilen der Zeit zuwider, sich sagen: Dem Geistesleben kann nur seine Kraft werden, wenn es vom Staatsieben wieder losgelöst wird, wenn es ganz auf sich selbst gestellt wird. Was im Geistesleben lebt, insbesondere

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das Schulwesen, muß seiner Selbstverwaltung übergeben werden, von der obersten Spitze der Verwaltung des Geisteslebens bis zum Lehrer der untersten Schulstufe. In der Verwaltung des Geisteslebens kann nichts anderes maßgebend sein als die Kräfte dieses Geisteslebens selbst. Diejenigen, die in diesem Geistesleben tätig sind und es innerlich miterleben, müssen aus sich selbst heraus die Körperschaft bilden, welche dieses Geistesleben verwaltet und ganz auf eigene Füße stellt.

Das ist der erste Punkt desjenigen, was hier die Dreigliederung des gesunden sozialen Organismus genannt wird. Ein solches Geistesleben wird in ganz anderer Weise zum Leben in Beziehung stehen können als das unsoziale Geistesleben, in das wir uns allmählich hineingefunden haben, und aus dem herauszukommen, wie es scheint, wir gar kein Be­dürfnis haben.

Jemand, der wirklich Erfahrung auf diesem Gebiet hat, darf wohl über dieses Gebiet eben aus seiner Erfahrung heraus sprechen. Ich war jahrelang Lehrer an der in Berlin von Liebknecht gegründeten Arbei­terbildungsschule. Ich weiß also, wie man die Quellen eines Geistes­lebens findet, das nicht Reservat einer bevorzugten Klasse ist und ein Luxus-Geistesleben darstellt, sondern aus dem heraus man zu allen Menschen sprechen kann, die den Drang haben, sich für Seele und Leib ein menschenwürdiges Dasein zu erringen. Und ich weiß aus dieser meiner Lebenspraxis heraus noch ein anderes. Ich weiß, wie die Arbeiter mich verstanden haben, immer besser verstanden haben, wenn ich zu ihnen aus einem freien Geistesleben heraus gesprochen habe, das für alle Menschen da ist, nicht für eine bevorzugte Klasse. Weil die Arbei­ter glaubten, man müsse das oder jenes mitrnachen, kamen dann auch Zeiten, in denen ich veranlaßt wurde, die Arbeiter durch Museen oder ähnliche Einrichtungen zu führen, durch Stätten, wo die Zeugnisse einer Kultur zu sehen waren, die nur für wenige da war, die nicht eine Volkskultur, ein Volks-Geistesleben darstellt. Da sah ich, wie auch im Geistig-Seelischen die Kluft vorhanden war und wie die Leute im Grunde genommen nicht wirklich innerlich in sich aufnehmen konn­ten, was auf dem Boden einer Kultur für wenige entstanden war. Da liegt ein Irrtum, dem sich heute noch viele hingeben. Man glaubt, man treibe Volksbildung, wenn man der großen Masse Brocken von dem

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hinwirft, was auf Universitäten, auf Mittelschulen und anderen Lehr­anstalten aus unserer Kultur heraus entstanden ist, was nur aus den so­zialen Empfindungen weniger herausgeboren ist. Was hat man alles getan, um solche Volksbildung zu treiben! Volksbibliotheken, Volks­hochschulen, Volkstheater und so weiter. Niemals kommt man über den Irrtum hinaus, der darin besteht, daß man glaubt, man könne das, was aus dem Empfindungskreise einer sich absondernden Minderheit geistig geboten ist, in die breiten Massen hineintragen. Nein, die Zeit fordert ein Geistesleben, das in sozialer Weise alle umfaßt. Das kann aber nur dann entstehen, wenn diejenigen, die daran teilnehmen sollen, auch mit ihrem ganzen Empfindungsleben, mit allen ihren sozialen Un-tergründen, mit denen, die dieses Geistesleben hervorbringen, eine Ein­heit bilden; wenn man ihnen nlcht Brocken hinwirft, sondern wenn durch die ganze Volksmasse einheitlich geistig gearbeitet wird. Dazu aber bedarf es der Befreiung des Geisteslebens von staatlichem und kapitalistischem Zwang. Selbstverständlich kann ich in einem kurzen Vortrag nicht alles dasjenige anführen - nicht einmal das alles, was in meinem Buche über diese Kernpunkte der sozialen Frage steht -, was nur zu sagen wäre über die Notwendigkeit, dieses Geistesleben, insbe­sondere das Schulwesen, herauszuholen aus dern Staats- und aus dem Wirtschaftsleben und es auf sich selbst zu stellen. Aber das ist die erste Forderung für die Dreigliederung des sozialen Organismus: Ein Gei­stesleben, das aus sich selbst heraus sich entwickelt.

Man braucht sich nicht vor einem solchen Geistesleben zu fürchten. Man braucht nicht einmal sich zu fürchten, wenn man eine schlechte Meinung von den Menschen hat, vielleicht dahingehend, daß sie in den alten Analphabeten-Zustand zurückfallen werden, oder dergleichen, wenn die Eltern wiederum frei sind, ihre Kinder zur Schule zu schicken oder sie draußen zu lassen, ohne staatlichen Zwang. Nein, gerade das Proletariat wird immer mehr wissen, was es der Schulbildung verdankt. Und es wird seine Kinder nicht aus der Schule draußen lassen, auch wenn es nicht gezwungen sein wird, die Kinder in die Schule zu schlcken, sondern sie aus freiem Willen hineinzuschicken hat. Und ins­besondere braucht der Bekenner der Einheitsschule sich nicht zu fürch­ten, daß die Schule durch ein freies Geistesleben gestört wird. Es wird

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nichts anderes entstehen können als die Einheitsschule, wenn das freie Geistesleben gefördert wird.

Das zunächst über dasjenige, was zu der Abgliederung des Geistes­lebens vom Staats- und Wirtschaftsleben zu sagen ist.

Das zweite Gebiet des Lebens, das man betrachten muß, wenn man die heutige soziale Frage studieren will, ist das Rechtsleben. Die Men­schen haben die verschiedensten Ansichten entwickelt über dieses Rechtsleben. Wer aber dieses Rechtsleben gerade aus der Wirklichkeit heraus zu betrachten und zu empfinden vermag, sagt sich: Über das Recht irgendwelche Definitionen, irgendwelche gelehrten Dinge auf­zustellen, ist geradeso, wie wenn man über das, was blaue und was rote Farbe ist, allerlei gelehrte Anweisungen geben wollte. Über blaue und rote Farbe kann man mit jedem reden, der ein gesundes Auge hat. Über das Rechtsbewußtsein, über dasjenige Recht, das jedem Menschen zu­kommt, weil er Mensch ist, laßt sich mit jeder wachen Menschenseele reden. Und mit wachen Menschenseelen, mit immer wacheren Men­schenseelen hat man es bei dern modernen Proletariat zu tun.

Mit Bezug auf diese Rechtsgrundlage des Lebens hat allerdings die neuere Menschheit, insoferne sie den leitenden Kreisen angehört, eine merkwürdige Erfahrung gemacht. Diese leitenden Kreise konnten ja nicht anders, als eine gewisse Demokratie über das Leben zu verbreiten. Sie brauchten, um ihre kapitalistischen Interessen in Szene zu setzen, ein geschicktes Proletariat, ein Proletariat, das gewisse Kräfte der Seele ausgebildet erhielt. Das alte patriarchalische Leben konnte man im mo­dernen, kapitalistischen Wirtschaftsleben nicht brauchen. Nun stellte sich aber etwas höchst Unangenehmes für solche einseitige, kapitali­stische Demokratie heraus. Die Menschenseele hat nämlich die Eigen­tümlichkeit, wenn man einzelne Fähigkeiten und Kräfte in ihr ent­wickelt, daß dann andere von selbst zum Vorschein kommen. So wollte die führende Menschheit vorzugsweise nur jene Seelenkräfte sich ent­wickeln lassen, welche die Arbeiter geschickt machen, in den Fabriken zu arbeiten. Doch stellte es sich von selbst ein, daß die Seelen aus den alten patriarchalischen Verhältnissen erwachten, und daß in ihnen be­sonders das Bewußtsein der Menschenrechte erwachte. Und dann sahen sie hinein in den modernen Staat, welcher das Recht verkörpern sollte.

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Sie fragten sich: Ist das der Boden, auf dem das Recht wirklich hiüht? Und was fanden sie? Statt Menschenrechten Klassenvorrechte und Klassenbenachteiligungen. Und daraus entstand dasjenige, was man den modernen Klassenkampf des Proletariats nennt, hinter dem sich nicht mehr und nicht weniger verbirgt, als die große, berechtigte For­derung eines menschenwürdigen Daseins für alle Menschen.

Das ist die zweite Gestalt der sozialen Frage, die Rechtsfrage. Was sie bedeutet, erkennt man nicht, wenn man nicht auf die dritte Gestalt hinsieht, auf die Wirtschaftsfrage. In das Wirtschaftsleben hinein haben sich zwei Dinge ergossen, die schlechterdings nicht in das Wirtschafts­leben hineingehören. Das ist das Kapital, und das ist die menschliche Arbeitskraft, während in das Wirtschaftsleben bloß dasjenige hinein-gehört, was sich auf dern Warenmarkt abspielt. Ich denke, daß die letz­ten Jahre und insbesondere die Gegenwart die Menschen sehr deutlich darüber belehren könnten, daß das Allerwichtigste in der proletarischen sozialen Bewegung der proletarische Mensch selbst ist. Über den pro­letarischen Menschen aber kann heute, so wie die Dinge einmal sind, wahrhaftig nicht derjenige urteilen, der sich, weil die Zeiten das heute schon einmal nahelegen, d:aau bequemt, aus mancherlei Vorstellungen heraus über das Proletariat zu reden. Nein, über diese Dinge kann nur derjenige urteilen, den sein Schicksal dahingebracht hat, mit dem Pro­letariat zu denken, und mit dern Proletariat zu fühlen. Man muß selber gesehen haben, wie durch Jahrzehnte hindurch die proletarische Welt in den Stunden, die des Abends der harten Arbeit abgerungen werden konnten, zusammenkarn, um sich zu unterrichten über die Wirtschafts­bewegung der neuen Zeit, über die Bedeutung von Arbeit, von Kapital, über die Bedeutung von Warenkonsum und Produktion; man muß ge­sehen haben, welch ungeheures Bildungsbedürfnis in den proletari­schen Menschen der Hauptsache nach sich entwickelt, während, jen­seits der Kluft, innerhalb der höheren Klassen die Menschen ihre Thea­ter besuchten und manch anderen Betätigungen sich hingaben, und es höchstens dazu brachten, sich einmal von der Bühne herunter das Pro­letarierelendanzuschauen.Da entwickelte sich der proletarische Mensch; er entwickelte sich gerade aus seinem Geistesleben heraus. Und wer heute sagt, die proletarische Frage sei eine bloße Brot- und Magenfrage, dem

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muß schon die Antwort gegeben werden: Schade genug, daß es so ge­kommen ist, daß die proletarische Frage zur Brorfrage geworden ist, daß man nicht früher auf etwas anderes hingesehen hat, nämlich darauf, daß in dern Proletarier aus seinem ganzen Streben heraus die Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein entsprungen ist, nach einem Dasein, in dem er Leib und Seele nicht verkümmern zu lassen braucht. Denn alle proletarischen Forderungen sind schließlich aus dieser her­vorgegangen, nicht aus einer bloßen Brot- und Magenfrage. Aber wäh­rend so der Proletarier zur Selbstbesinnung zu kommen versuchte, während er auf die Wirtschaftsformen der neueren Zeit einging, ent­wickelte sich in ihm das Bewußtsein, wie er eigentlich als Mensch in diesem Menschenleben darinsteht. Er konnte von seinem Gesichts­punkte aus auf die Führung des Lebens von seiten der führenden Kreise hinschauen. Da sagte man ihm, die Geschichte wäre göttliche Weltord­nung oder moralische Weltordnung, oder die Weltordnung der Idee. Er sah nur, daß die leitenden Kreise innerhalb ihrer Weltordnung so lebten, wie ihnen der Mehrwert zu leben gestattete, den er hervorzu­bringen hatte. Deshalb schlugen die Worte des Kommunistischen Ma­rifestes so tief in die Proletariergemüter ein und brachten diese zum Bewußtsein ihrer Lage. Trotz aller Fortschritte der neueren Zeit, trotz aller sogenannten neueren Freiheit ist der Proletarier dazu verurteilt, seine Arbeitskraft auf dern Arbeitsmarkt wie eine Ware zu verkaufen und kaufen zu lassen. Daraus entstand die Forderung: Die Zeiten sind vorüber, in denen der Mensch einen Teil von sich noch verkaufen lassen darf oder kaufen lassen darf. Sein Gefühl, das er vielleicht nicht immer in deutliche Worte bringen konnte, leitete den Proletarier auf alte Zei­ten zurück, auf die Zeiten der Leibeigenschaft. Und er sah, wie aus die­sen alten Zeiten der Ankauf seiner Arbeitskraft geblieben ist. Denn nichts anderes als dieses liegt im Lohnverhältnis. Da sagte er sich: Auf den Warenmarkt gehören Waren. Die Waren trägt man zum Markte, verkauft sie und geht mit dern Erlös wieder zurück. Dem Arbeit­geber muß ich meine Arbeitskraft verkaufen, aber ich kann nicht zu ihm gehen und sagen: Da hast du meine Arbeitskraft für so und so viel Geld, dann gehe ich weg; ich muß mich selbst ausliefern! - Se­hen Sie, als Mensch muß man mitgehen mit seiner Arbeitskraft. Das

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ist dasjenige, was der Proletarier als ein menschenunwürdiges Dasein empfindet.

Da tritt die große Frage auf: Was hat zu geschehen, damit Arbeits­kraft fernerhin keine Ware sein könne? Die Menschen heute, insofern sie den leitenden, führenden Kreisen angehören, machen sich im Grunde genommen über Arbeitskraft recht wenig Gedanken. Diese Leute machen ihr Portemonnale auf, bezahlen mit so und so hohen Geldscheinen. Ob sie überhaupt darüber nachdenken, daß in dem, was sie da a]s Geldscheine hingeben, was sie vielleicht auch in der Art von Coupons abschneiden, beschlossen liegt, sound soviel Arbeitskraft des Proletariats in Anspruch zu nehmen, das ist die große Frage. Jedenfalls geben sie sich nlcht Gedanken hin, die stark genug sind, um einzugrei­fen in das soziale Leben.

Worum es sich handelt, ist eben, daß die menschliche Arbeitskraft nicht im Preise mit irgendeiner Ware verglichen werden kann; daß die menschliche Arbeitskraft etwas ganz anderes ist als die Ware. Diese menschliche Arbeitskraft muß heraus aus dem Wirtschaftsprozeß. Und sie kommt nicht anders heraus, als wenn man das Wirtschaftsleben als ein Glied des sozialen Organismus betrachtet, abgegliedert von dem eigentlichen Rechts- oder Staatsorganismus, von dem politischen Or­ganismus. Dann kann das eintreten, was ich Ihnen durch einen Ver­gleich klarmachen möchte. Das Wirtschaftsleben grenzt auf der einen Seite an die Naturgrundlage. Man kann in einem geschlossenen Wirt­schaftsgebiet nicht in beliebiger Weise darauf loswirtschaften. Durch technische Mittel kann man den Boden verwerten oder dergleichen. Aber in gewissen Grenzen muß man sich der Naturgrundlage fügen. Denken Sie sich eine Anzahl Großgrundbesitzer, also in ihrer Art eben-falls Kapitalisten, die sagen würden: Wenn wir bei dieser Bilanz bleiben oder gar eine bessere haben wollen, dann müssen wir hundert Regen-tage im Sommer haben, dazwischen Tage mit Sonnenschein und so wei­ter. Natürlich ein vollständiges Blech, aber es macht uns darauf auf­merksam, wie man auf der einen Seite die Naturgrundlage nicht ändern kann; wie wir nlcht aus dem Wirtschaftsleben heraus verlangen können, daß die Naturkräfte so oder soim Boden drunten das Weizenkorn zu­bereiten. Wir müssen uns den Naturkräften fügen, sie stehen neben dem

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Wirtschaftsleben da. Auf der anderen Seite muß das Wirtschaftsleben begrenzt sein von dem Rechtsleben, das heißt: Ebensowenig wie die Naturkräfte von der Konjunktur auf dern Warerimarkt abhängen, eben­sowenig darf die menschliche Arbeitskraft von der Konjunktur auf dem Warerimarkt abhängen. Wie eine Naturkraft muß aus dem Wirt­schaftsleben die menschliche Arbeitskraft herausgenommen und auf den Rechtsboden gestellt werden. Wenn sie auf den Rechtsboden ge­stellt ist, dann wird auf diesem Rechtsboden sich alles dasjenige ent­wickeln können, indem ein Mensch dern anderen gleich ist, indem sich nur wirkliche Menschenrechte entwickeln, in dern sich auch das Ar­beitsrecht entwickeln kann. Maß und Art und Zeit der Arbeit wird fest­gestellt sein, bevor der Arbeiter in den Wirtschaftsprozeß eintritt. Dann wird er als ein freier Mensch demjenigen gegenüberstehen, der dann, wie man gleich sehen wird, nicht der Kapitalist, sondern der Arbeits-leiter, der geistige Mitarbeiter sein wird.

Mag man auch noch so gute Worte sprechen über den sogenannten Arbeitsvertrag - solange er ein Lohnvertrag ist, wird daraus immer nur die Unbefriedigtheit des Arbeiters hervorgehen können. Erst dann, wenn nicht mehr über Arbeitskraft Verträge abgeschlossen werden können, sondern lediglich über die gemeinsame Produktion des Ar­beitsleiters und des Handarbeiters, wenn lediglich über das gemein­same Erzeugnis ein Vertrag abgeschlossen werden kann, wird daraus ein menschenwürdiges Dasein für alle Teile hervorgehen. Dann wird der Arbeiter dem Arbeitsleiter gegenüberstehen als der freie Gesell­schafter. Das ist es, was der Arbeiter im Grunde genommen erstrebt, wenn er sich auch heute noch nicht ganz klare Vorstellungen davon machen kann. Das ist es, was in der eigentlichen wirtschaftlichen Frage des Proletariats, in der eigentlichen wirtschaftlichen Forderung liegt:

Befreiung der Arbeitskraft aus dern Wirtschaftskreislauf, Feststellung des Rechtes der Arbeitskraft innerhalb des zweiten Gliedes des drei­gliedrigen sozialen Organismus, des Rechtsbodens.

Und auf diesem Rechtsboden muß noch ein anderes eine neue Ge­stalt bekommen. Das ist gerade dasjenige, gegenüber dessen Neuge­staltung die heutigen Menschen noch ganz, ganz verdutzte Gesichter machen, nämlich die Neugestaltung des Kapitals. Mit Bezug auf das

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Privateigentum denken heute die Menschen wenigstens bis zu einem gewissen Grade sozial, und zwar auf dem Gebiet, das ihnen das minder schwierigste zu sein scheint, auf dem geistigen Gebiete. Denn auf gei­stigem Gebiete gilt, wenigstens dern Prinzip nach, etwas Soziales in bezug auf das Eigentum. Was jemand hervorbringt, und wenn er ein noch so gescheiter Mensch, ein noch so begabter Mensch ist - gewiß, seine Fähigkeiten bringt er durch die Geburt mit, das steht auf einem anderen Blatt -, aber dasjenige, was wir sozial Wertvolles leisten, auch geistig, wir leisten es dadurch, daß wir innerhalb der Gesellschaft ste­hen, durch die Gesellschaft. Das wird auf geistigem Gebiete dadurch anerkannt, daß wenigstens dern Prinzip nach - die Zeit könnte noch verkürzt werden - von dem, was man geistig hervorbringt, wovon einem auch die Nutznießung zukommt, von dem dreißigsten Jahre nach dem Tode an nichts mehr den Erben gehört. Die Zeit könnte kür­zer werden, aber es ist wenigstens im Prinzip anerkannt, daß das, was geistiges Eigentum ist, das Eigentum der Allgemeinheit in dem Augen­blick werden muß, da der Einzelne mit seinen individuellen Fähigkeiten nicht mehr dabei ist, um es zu verwalten. Nicht darf das geistige Eigen­tum in einer beliebigen Weise an diejenigen übergehen, die dann mit dieser Hervorbringung nichts mehr zu tun haben.

Nun sagen Sie heute, es sei eine geschichtliche Forderung, daß es mit dem materiellen Kapital in der Zukunft ähnlich werden muß! Sagen Sie das heute den Menschen, die innerhalb der kapitalistischen Erzie­hung stehen, dann werden Sie sehen, was sie für verdutzte Gesichter machen! Dennoch ist eine der wichtigsten Forderungen der Gegen­wart, daß das Kapital fortan nicht mehr in derselben Weise in den Ge­sellschaftsprozeß hineingestellt wird, wie es heute darin steht. Es han­delt sich darum, daß in der Zukunft zwar jeder aus seinen individuellen Fähigkeiten heraus in die Lage kommen muß, dasjenige zu verwalten, was Produktionsmittel auf einem bestimmten Gebiete sind. Und Pro­duktionsmittel ist eigentlich das Kapital. Daran hat der Arbeiter selbst das größte Interesse, daß ein guter geistiger Leiter da ist als Verwalter; denn dadurch kann man auch am besten seine Arbeit anwenden. Der Kapitalist ist dann eben das fünfte Rad am Wagen, er ist gar nicht nötig. Das ist es, was man einsehen muß. Es ist also notwendig, daß in der

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Zukunft die Produktionsmittel in einem bestimmten Wirtschaftszweig oder auch für einen Kulturzweck aufgebracht werden; nachdem aber die individuellen Fähigkeiten des Menschen oder der Menschengrup­pen, welche die Produktionsmittel aufgebracht haben, nicht mehr das persönliche Eigentum rechifertigen, müssen diese Produktionsmittel so, wie ich es in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» dargestellt habe, nun wiederum auf ganz andere übergehen, nicht auf die Erben, sondern auf ganz andere, die nun die größten Fähigkeiten wiederum haben, diese Produktionsmittel nur im Dienst der Allgemein­heit zu verwalten.

Wie das Blut im menschlichen Leibe zirkuliert, so werden in der Zu­kunft die Produktionsmittel, also das Kapital, zirkulieren in der Allge­meinheit des sozialen Organismus. Wie sich das Blut nicht anstauen darf im gesunden Organismus, sondern durch den ganzen Leib gehen muß, alles befruchten muß, so darf in der Zukunft das Kapital sich nicht an irgendeiner Stelle als Privateigentum anhäufen. Wenn es seinen Dienst an der einen Stelle getan hat, muß es vielmehr an denjenigen übergehen, der es am besten verwaltet. So wird das Kapital de4enigen Funktion entkleidet, welche heute gerade zu den größten sozialen Schä­den geführt hat.

Die ganz gescheiten Leute, die vom kapitalistischen Standpunkt aus sprechen, sagen aber mit Recht: Alles Wirtschaften besteht darin, daß vorhandene Güter hingegeben werden, damit man künftig Güter er-halten kann. - Das ist ganz richtig; aber wenn auf diese Weise gewirt­schaftet werden soll - daß nämlich durch das Vergangene die Keime gelegt werden für die Wirtschaft der Zukunft, so daß die Wirtschaft nicht abstirbt -, dann muß das Kapital an demjenigen teilnehmen, was die Eigenschaften der Güter sind. Wiederum gibt es heute höchst ver­dutzte Gesichter, wenn man von diesen Forderungen der Zukunft spricht. Wirkliche Güter haben indessen die Eigentümlichkeit, daß sie verbraucht werden. Beim Verbrauch gehen sie allmählich den Weg alles Lebendigen. Unsere bisherige Wirtschaftsordnung hat das Kapital da­hin gebracht, diesen Weg des Lebendigen nicht zu gehen. Man braucht bloß Kapital zu haben, dann ist dieses Kapital herausgerissen aus dem Schicksal von allem anderen, was im Wirtschaftsprozeß darinsteht.

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Schon Aristoteles hat gesagt, das Kapital sollte keine Jungen bekom­men, aber es bekommt nlcht nur Junge, sondern die Jungen wach­sen heran, bis sie groß sind; man kann die Anzahl der Jahre angeben, bis das Kapital sich verdoppelt, wenn es nur sich selbst überlassen ist. Andere Güter, für die aber das Kapital nur als Repräsentant dastehen sollte, haben die Eigentümlichkeit, daß sie sich entweder abnutzen oder nicht mehr gebraucht werden können, wenn sie nicht zur rechten Zeit in Gebrauch genommen werden. Dem Kapital muß die Eigenschaft aufgedrückt werden, insofern es Geldkapital ist, daß es an dem Schick­sal aller anderen Güter teilnimmt. Während unser gegenwärtiges Wirt­schaftsleben darauf sieht, daß das Kapital sich in einer gewissen Zeit verdoppelt, würde ein gesundes Wirtschaftsleben es dahin bringen, daß das bloße Geldkapital in derselben Zeit verschwinden würde, nicht mehr da sein würde. Es ist heute noch etwas Horribles, wenn man den Leuten sagt, nach fünfzehn Jahren sollen sie nicht das Doppelte haben, sondern nach einer angemessenen Zeit soll das, was Geldkapital ist, nicht mehr da sein, weil dasjenige, was in diesem Kapital steckt, an der Abnützung teilnehmen muß. Gewiß kann dabei auf manches, was im Sparen liegt oder dergleichen, Rücksicht genommen werden.

So stehen wir heute nicht vor kleinen Abrechnungen, sondern vor großen Abrechnungen. Und wir müssen den Mut haben, zu diesen großen Abrechnungen uns zu bekennen. Sonst wird die soziale Ord­nung, oder besser gesagt, die soziale Unordnung, das soziale Chaos, über uns hereinbrechen. Darüber machen sich die Menschen heute we­nig Begtiffe, daß sie im Grunde genommen auf einem Vulkan tanzen. Es liegt mehr in ihrem Interesse, das Alte so leicht fortzusetzen, wäh­rend die Zeit von uns fordert, nicht nur manche Eirrichtungen umzu-ändern, sondern bis in unsere Denkgewolinheiten hinein umzudenken und umzulernen.

Wenn die Arbeitskraft und das Kapital herausgeholt werden aus dem Wirtschaftsprozeß, wo dann das Kapital der Allgemeinheit zufließt und die Arbeitskraft zurückgegeben wird dem Recht des freien Menschen, dann steht im Wirtschaftsprozeß nur Warenkonsum, Warenzirkula­tion, Warenproduktion darin. Dann hat man imWirtschaftsprozeß bloß mit Werten von Waren zu tun. Und dann wird innerhalb dieses Wirtschaftsprozesses,

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der nun als Glied des gesunden sozialen Organismus auf sich selbst gestellt ist, dasjenige entstehen können, wovon man dann sagen kann: Es wird nicht bloß produziert, um zu produzieren, sondern es wird produziert, um zu konsumieren. Da werden dann jene Genos­senschaften, jene Assoziationen entstehen, die gebildet sind aus den Berufsständen, aber die namentlich gebildet sind aus den Konsumenten, mit den Produzenten zusammen. Da wird aus diesen Korporationen heraus das entstehen, was heute dem Zufall des Warenmarktes anver­traut ist. Heute entscheidet etwas, was dem Menschendenken, dem Menschenurteil auf dem Warermarkt ganz entzogen ist: Angebot und Nachfrage. In der Zukunft muß die Korporation dasjenige entscheiden, was aus dem Warenmarkt heraus die Preisbildung, die Wertbildung der Güter bedingt. Auf diesem Wege allein wird ein Mensch soviel hervor-bringen, daß das Hervorgebrachte den Wert all der Waren hat, die er für seine Bedürfnisse braucht, bis er eine gleiche Ware neuerdings her­vorgebracht hat. Das wird ein gerechtes Wirtschaftsleben sein. Das wird ein Wirtschaftsleben sein, in dem nicht der Preis der einen Waren-gattung in unverhältnismäßiger Art überwiegt die Preise der anderen Warenarten. Heute, da der Lohn noch im Wirtschaftsprozeß enthalten ist und der Arbeiter nicht der freie Gesellschafter des geistigen Leiters ist, heute steht die Sache noch so, daß innerhalb des Wirtschaftspro­zesses der Arbeiter auf der einen Seite immer wieder um die Erhöhung seines Lohnes kämpfen muß; auf der anderen Seite wird dadurch, daß da ein Loch zugemacht wird, ein anderes aufgemacht: Der Lohn wird höher, die Lebensmittel werden teurer und so weiter. Das geschieht nur in einem Wirtschaftsprozeß, der verunreinigt wird von Kapital- und Lohnverhältnissen. In einem Wirtschaftsprozeß, in dern die Korpora­tionen, die Genossenschaften, die Warenwerte bestimmen, und zwar nicht nach Angebot und Nachfrage, die dem Zufall unterworfen sind, sondern aus Vernunft heraus, in einem solchen Wirtschaftsprozeß allein kann jeder Mensch ein menschenwürdiges Dasein finden. Nach einem solchen Wirtschaftsprozeß sehnen sich im Grunde die Proletariermas-sen; das ist ihre wahre Forderung im Wirtschaftsleben.

Auf einzelnen Gebieten sieht man diese Forderung heute schon kla­rer ein. Nehmen Sie zum Beispiel die Frage nach den Betriebsräten, die

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jetzt durch Gesetze so verschandelt worden ist. Wenn die Betrieb stäte das werden sollen, was der Proletarier wirklich verlangt, so dürfen sie nicht nach jeder Richtung hin, geradeso wie früher das Geistesleben, bloß die Schleppe des Staates nachtragen, sondern dann müssen sie in-nerhalb des Wirtschaftslebens eine soziale, wirklich gedeihliche Tätig­keit entwickeln können. Dazu muß das Wirtschaftsleben aber auf seinen eigenen Boden gestellt werden, dazu muß ein anderes kommen als diese Betriebsräte, dazu müssen noch Verkehrsräte und andere Räte kom­men; diese müssen aus dern Wirtschaftsleben heraus erstehen, und sie werden Verfassungen schaffen aus wirtschaftlichen Erfahrungen heraus.

Ich weiß, daß heute sehr viele Leute sagen: Es herrscht doch gar nlcht die Bildung innerhalb des wirtschaftlichen Lebens, um zu dern zu kommen, wozu man kommen will. So reden die Leute, die immer von Idealen deshalb reden, damit sie in der Wirklichkeit das Mögliche nicht durchzuführen brauchen. So reden die Leute, für die Ideale etwas sind, dem man nicht zustreben soll, damit sie nicht nötig haben, das Aller­nächste anzustreben. Derjenige, der weiß, daß das Erfahrungswissen, das aus der Praxis heraus kommt, unendlich mehr wert ist als alles das­jenige, was von oben heruntergetragen werden kann, der weiß auch, daß solche Betriebsräteschaft nicht nur für einzelne Betriebe aufgestellt sein darf, sondern zwischenbetrieblich sein muß. Die Betriebsräte müs­sen die einzelnen Betriebe mit den ganz andersartigen Betrieben ver­binden, die Verbindung vermitteln, sie müssen sich zur Betriebsräte-schaft, zur Verkehrsräteschaft, zur Wirtschaftsräteschaft ausbilden. Wenn das aus dern Boden des Wirtschaftslebens herauswächst, dann wird man zu dem kommen, daß diese Räte nicht zur bloßen Dekoration da sind, sondern daß sie zum menschlichen Faktor werden, zu den Ge­stalten des Wirtschaftslebens selbst. Das ist aber dasjenige, was not­wendig ist.

Wahrhaftig nicht aus irgendeiner Klügelei, nicht aus einer grauen Theorie ist dasjenige entstanden, was ich die Dreigliederung des sozia­len Organismus nenne, sondern aus einer wirklichen Beobachtung der Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und der Zukunft. Und es ist wirklich schade, daß sich heute so wenig Menschen finden, welche im­stande sind, aus dem bisherigen Geistesleben heraus auf diese Lebensnot,

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auf die Wirklichkeit selbst ihre Augen zu richten. Die Leute ver­leumden heute das, was gerade das Praktische ist, indem sie sagen: Das ist Ideologie, das ist Utopie. Was liegt da eigentlich zugrunde? Da sagen die einen: Die Sozialisierung der Produktionsmittel ist notwendig. Das sage ich auch. Aber ich sage auch: Notwendig ist, den Weg zu wissen, auf dem man dazu kommt. Ich habe heute nur skizzenhaft angedeutet, was ich meine. Wir brauchen heute nicht bloß Ziele, sondern auch die Wege und den Mut zu den Wegen. Viele Leute sagen mir, daß das schwer verständlich ist, was ich sage. - Nun, notwendig ist allerdings zum Verstehen dessen, was ich sage, mehr als was man heute gewöhn­lich zum Verstehen aufwenden will. Notwendig ist, hineinzuschauen in das wirkliche Leben, nicht aus irgendwelchen subjektiven Forderun­gen heraus das Leben zu beurteilen. Notwendig ist, daß man sich auch aufschwinge, den inneren Mut aufzubringen, radikal in gewissen Dingen zu denken, wie unsere Zeit es von jedem wachen Menschen fordert.

Ich habe allerdings in den letzten vier bis fünf Jahren erlebt, daß die Menschen Dinge verstanden haben, die ich nicht verstanden habe. Sie haben sich sogar solche Dinge, die sie vorgaben zu verstehen, wenn sie von gewissen Orten herkamen, in schöne Rahmen hineingetan, damit sie sie immer anschauen könnten. Dinge, die vom großen Hauptquar­tier und dergleichen herkamen, aber es mußte allerdings das Verstehen erst befohien werden. Befehlen kann man niemand das Verstehen des­sen, was aus innerem Lebensmut heraus verstanden werden soll. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo die Menschen sich das Verstehen nicht mehr sollten befehlen lassen, sondern wo sie imstande sein müssen, aus den Lebenserfahrungen heraus, aus der vorurteilslosen Lebensbeobachtung heraus ein wirkliches Urteil zu gewinnen über dasjenlge, was notwendig ist, ehe es zu spat ist.

Aber man macht heute sonderbare Erfahrungen. Ich erzähle nicht gerne persönliche Dinge, aber heute sind es diese persönlichen Dinge, die das Leben beherrschen. Ich war im April 1914 genötigt, in einer kleineren Versammlung in Wien - und absichtlich in Wien, Sie wissen, die Weltkriegskatastrophe ist von Österreich ausgegangen - mein Ur­teil über die soziale Lage auszusprechen, damals nlcht nur die soziale

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Lage des Proletariats, sondern die soziale Frage von ganz Europa. Ich deutete darauf hin, daß die soziale Lage in Europa zu einer Geschwür­bildung hin tendiert, und in der Tat ist ja daraus dann der Weltkrieg entstanden. - Ich war genotigt, mein Urteil darüber etwa in die Worte zusammenzufassen - im April 1914, halten Sie den Zeitpunkt fest -: Wer in unsere sozialen Verhältnisse hineinschaut, wie sie sich allmäh­lich herausgebildet haben, der kann nur zu einer großen Kultursorge kommen, denn er sieht, wie sich im sozialen Leben ein Karzinom ent­wickelt, eine Art Krebskrankheit, die in der furchtbarsten Weise in der nächsten Zeit zum Ausbruch kommen muß.

So mußte ich damals auf dasjenige hinweisen, in das der Weltkapita­lismus die Menschen in der nächsten Zeit hineintrieb. Wer das damals sagte, wurde selbstverständlich für einen unpraktischen Idealisten, für einen Utopisten, einen Ideologen verschrien, denn die Praktiker spra­chen damals ganz anders. Wie sprachen die Praktiker über die allge­meine Weltlage? Die sprachen nicht von Krebskrankheit. Die sprachen etwa so wie der deutsche Außenminister im Frühjahr 1914 zu den er­leuchteten Herren des Deutschen Reichstages - erleuchtet werden sie ja gewesen sein, denn sie waren doch berufen worden -: Wir gehen friedlichen Zeiten entgegen, denn die allgemeine Entspannung macht erfreuliche Fortschritte. Wir stehen im besten Verhältnis zu Rußland; das Petersburger Kabinett hört nicht auf die Pressemeute. Mit England sind aussichtsvolle Verhandlungen angeknüpft, welche wohl in näch­ster Zeit zugunsten des Weltfriedens zum Abschluß kommen werden. Wie die beiden Regierungen überhaupt so stehen, daß sich die Bezie­hungen immer inniger und inniger gestalten werden. - So sprach der Praktiker, der nicht Idealist gescholten wurde. Und die allgemeine Ent­spannung machte solche Fortschritte, daß das folgte, was wir alle so leidvoll erlebt haben. Es können einen schon besondere Empfindungen ankommen, wenn man dann so etwas hört, wie es kürzlich auf der Völkerbund-Konferenz zu hören war, wo die Leute über alles mögliche sprachen aus den alten Denkgewohnheiten heraus. Nur darüber spra­chen sie nicht in einer irgendwie sachgemäßen Weise, was die größte Bewegung der Gegenwart ist, über die soziale Bewegung, die doch allein fähig ist, einen wirklichen Völkerbund zu begründen.

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Dann bekommt man manchmal aus den alten Denkgewohnheiten heraus von sehr gescheiten Leuten ganz besondere Antworten. Neulich in Bern antwortete mir ein sehr gescheiter Herr - ich will niemals die Gescheitheit der Leute verkennen -: Ich kann mir nicht denken, daß bei einer Dreigliederung etwas besonderes herauskommt, das muß doch alles eine Einheit sein. Recht kann doch nicht bloß auf politischem Bo­den entstehen, und so weiter. - Notwendig ist eben, daß auf dem Boden des Rechtes das Recht sich entwickelt, dann hat auch das Wirtschafts­leben das Recht, dann hat das Geistesleben das Recht. Und wenn man sagt, daß die Einheit des sozialen Organismus zerschnitten wird, so sage ich: Nicht darum handelt es sich für mich! Es geht nicht darum, den Gaul zu zerschneiden, sondern darum, den Gaul auf seine vier Beine zu stellen. Nicht darum handelt es sich, den sozialen Organismus zu zer­schneiden, sondern darum, ihn auf seine drei gesunden Beine zu stellen, auf ein gesundes Rechtsleben, ein gesundes Wirtschaftsleben und ein gesundes Geistesleben. Dann entwickelt sich schon diese Einheit, die man heute als einen Götzen anbetet als Einheitsstaat, den man aber gleich verlassen muß, wenn man den Sozialismus will.

Durch mehr als ein Jahrhundert haben die Menschen immer wieder­um gesprochen von dern großen sozialen Ideal der Menschheit, von den größten sozialen Impulsen: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Ge­wiß, es haben sehr gescheite Leute des 19. Jahrhunderts immer wieder bewiesen, daß diese Ideale nicht zu verwirklichen seien, weil man sie nur unter der Hypnose des Einheitsstaates gesehen hat; daher rührt der Widerspruch. Heute aber ist die Zeit, da diese Ideale verwirklicht wer-den müssen, da diese drei Impulse des sozialen Lebens ergtien werden müssen. Und sie können nur verwirklicht werden im dreigliedrigen sozialen Organismus. Im Geistesleben, das auf seinem eigenen Boden stehen soll, müssen die individuellen Fähigkeiten als auf dem Boden der Freiheit entwickelt werden. Auf dem Gebiete des Rechtes muß das­jenige herrschen, worin jeder Mensch jedem anderen Menschen gleich ist, worüber als ein Gleiches jeder mündig gewordene Mensch durch sich selbst oder durch seinen Vertreter sein Verhältnis zu anderen Men­schen regeln kann, auch das Arbeitsverhältnis. Und auf dern Boden des Wirtschaftslebens muß jene wahre Brüderlichkeit herrschen, die nur in

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Genossenschaften, sei es in Konsumentenschaften oder in Produzen­tenschaften, erblühen kann.

In dem dreigliedrigen sozialen Organismus werden herrschen Frei­heit, Gleichheit, Brüderlichkeit, weil er drei Glieder hat: Freiheit auf dem Boden des Geisteslebens, Gleichheit auf dem demokratischen Bo­den des Rechtslebens, Brüderlichkeit auf dem Boden des Wirtschafts­lebens.

Ich konnte Ihnen heute nur von einzelnen Gesichtspunkten her das­jenige andeuten, was das Notwendige ist zu bedenken in der heutigen so tiefernsten Zeit; was das Notwendigste ist zu bedenken, wenn nian ernsthaftig Hand anlegen will, um herauszukommen aus Wirrnis und Chaos, um nicht tiefer hineinzukommen in Wirrnis und Chaos. Not­wendig ist heute, nicht bloß an kleine Änderungen zu denken, sondern den Mut aufzubringen, sich zu gestehen, daß heute große Abrechnun­gen fällig sind. Wer wirklich mit wacher Seele das anschauen kann, was heute erst im Anfang steht, muß sich sagen: Wir werden nicht lange Zeit zum Überlegen haben. Deshalb ergreifen wir lieber einen Weg, der jeden Tag begonnen werden kann. Und jeden Tag begonnen werden kann dasjenige, was durch den dreigliedrigen sozialen Organismus ge­geben ist. Nur derjenige, der weiter hineinsegeln will in jene Praxis, die uns die Weltkatastrophe gebracht hat, wird das, was wirklich praktisch ist, einen unpraktischen Idealismus nennen wollen.

Soll Heilsames geschehen im sozialen Leben, so wird es notwendig sein, daß man gründlich abkommt von jener abergläubischen Vergöt­terung der Praxis, die nichts anderes ist als brutaler menschlicher Egois­mus. Man wird sich bekennen müssen zu jenem Idealismus, der kein einseitiger Idealismus ist, sondern wahre Lebenspraxis. Wer es ehrlich meint mit unserer Zeit, wird sich heute die Frage stellen: Wie komme ich auf den Weg zum Heilmittel für dasjenige, was uns als soziale Schä­den entgegentritt? Und zu wünschen wäre es, daß immer mehr Men­schen auf diesen Weg kämen, ehe es zu spät ist. Und es könnte sehr bald zu spät sein.

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Schlußwort

Nach einer Diskussion, in der überwiegend Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre gespro­chen hatten, ergriff Rudolf Steiner nochmals das Wort:

Es wäre mit ja allerdings lieber gewesen, wenn von Seiten der Redner auf die Dinge, die ich vorgebracht habe, eingegangen worden wäre. Man könnte dann die Diskussion zu etwas Fruchtbarem gestalten. Das ist nun nicht geschehen. Ich werde daher nut noch auf einzelnes hin-weisen und aufmerksam machen können.

Von einigen Rednern wurde gesagt, daß in meinen Betrachtungen nichts Neues vorgebracht worden sei. Nun, ich kenne sehr genau die Entwicklung der sozialen Bewegung. Und wer behauptet, das Wesent­liche von dem, was heute aus den Erfahrungen gerade der ganzen Neu­gestaltung der sozialen Lage durch die Weltkatastrophe vorgebracht worden ist, sei nicht etwas Neues, der sollte sich bewußt werden, daß er etwas absolut Unrichtiges sagt. In Wirklichkeit liegt ein ganz anderer Tatbestand vor: Die Redner haben das Neue nicht gehört. Sie haben sich darauf beschränkt, die paar Sachen zu hören, die selbstverständ­lich, weil sie richtig sind, als Kritik der üblichen Gesellschaftsordnung vorgebracht wurden. Sie sind gewöhnt seit vielen Jahren, dies und das als Schlagwort zu hören: das haben sie gehört. Aber alles, was dazwi­schen gesagt worden ist von der Dreigliederung des sozialen Organis­mus, von dem, was durch diese Dreigliederung an wirklicher Soziali­sierung nach jeder Seite hin erreicht werden kann, von dem haben eben die Redner absolut nichts gehört. Und daher haben sie vermutlich auch in ihren Diskussionen so sehr über dasjenige, was sie nicht gehört ha­ben, geschwiegen. Ich begreife das. Ich begreife es aber auch, daß dann natürlich eine fruchtbare Diskussion eigentlich aus einer solchen Sache nicht herauskornmen kann.

Wir haben zum Beispiel einen Redner gehört, der gerade so, wie wenn er die letzten fünf bis sechs Jahre nicht erlebt hätte, sich über die alten Theorien ausgelassen hat, die soundso viel Mal vor dieser Katastrophe abgehandelt worden sind. Er hat brav alle die Theorien vom Mehrwert und so weiter, die ja ganz gewiß richtig sind, die aber unzählige Male vorgebracht wurden, wieder vorgebracht. Er hat nur vergessen, daß

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wir heute in einer ganz, ganz anderen Zeit leben. Er hat vergessen, daß zum Beispiel sehr angesehene Sozialistenführer noch wenige Monate vor der deutschen Kapitulation gesagt haben: Wenn diese Weltkriegskatastrophe vorüber ist, dann wird die deutsche Regierung sich zu dem Proletariat ganz anders stellen müssen als vorher. Die deut­schen Machthaber werden in ganz anderer Weise das Proletariat bei allen Regierungshandlungen, in allen Gesetzgebungen berücksichtigen müssen als vorher. - Man hat von sozialistischer Seite aber auch ge­sagt: Es werden die sozialistischen Parteien berücksichtigt werden müssen.

Nun, es ist anders gekommen. Die Machthaber sind in den Abgrund versenkt worden, die Parteien waren da. Sie stehen heute vor einer ganz anderen Weltlage. Vor dieser neuen Weltlage müßte man aber neue Ge­danken nicht einfach überhören, und bloß die Parteien hören, die natür­lich, weil sie immer schon gegolten haben, solange es eine soziale Be­wegung gibt, sondern man müßte die Fähigkeit sich erwerben, einzu­gehen auf dasjenige, was gerade für die heutige Zeit unmittelbar das Notwendigste ist. Sonst stehen wir vor der großen Gefahr, die im Grunde genommen in der alten üblichen Weltordnung immer da war: Wenn etwas kam, was auf Tatsachen hinschaute, was der Wirklichkeit entnommen war, erklärte man es als Ideologie; erklärte man: das ist Philosophie, das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun, und man bahne dadurch die Wege der Reaktion. Es würde das Schlimmste sein, wenn die sozialistische Partei in eine Art von reaktionärer Erstarrung ver­fallen würde, wenn sie nicht fähig wäre, fortzuschreiten mit den so laut sprechenden Tatsachen.

Das ist es, worauf es heute ankommt. Marx hat ein schönes Wort ge­prägt, nachdem er die Marxisten kennengelernt hatte - es geht das ja vielen Leuten so, die sich bemühen, etwas wirklich Neues in die Welt zu bringen -: Was mich anbetrifft, ich bin kein Marxist. - Und Marx hat jederzeit gezeigt - ich erinnere nur an die Vorgänge von 70/71 -, wie er von diesen Vorgängen gelernt hat. Er hat jederzeit gezeigt, daß er im­stande ist, mit der fortschreitenden Zeit zu gehen. Er würde heute ganz gewiß, da die Zeit dazu reif ist, die Möglichkeit finden, gerade in der Dreigliederung des sozialen Organismus die wirkliche Lösung der sozialen

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Frage zu erkennen. Immerfort wird von neuen Wegen geredet, und wenn ein neuer Weg gezeigt wird, zu dem allerdings ein wirklicher Mut gehört, dann wird gesagt: Es ist kein Weg gezeigt, es ist nur ein Ziel gezeigt. Da möchte man doch fragen: Hat jemand schon an diesen Weg gedacht, der notwendig macht, daß eine Art Liquidationsregie­rang eintritt? Das ist dasjenige, was in der Tat den Leuten sehr unge­wohnt ist für ihre Denkgewohnheiten. Die alten Regierungen, auch die sozialistische Regierung denkt an nichts anderes, als daß sie die schöne, brave Fortsetzung dessen sein wird, was die Regierung früher war. Was wir nötig haben, ist, daß diese Regierung nur die Initiative in der Mitte behält, die Aufsicht über den Sicherheitsdienst, Hygiene und derglei­chen, und daß sie links und rechts Liquidationsregierung wird: nämlich das Geistesleben frei lassend, sodaß es in selbständige Verwaltung über­geht, das Wirtschaftsleben auf eigene Füße stellend.

Das ist keine Theorie, keine Philosophie, das ist der Hinweis auf etwas, was getan werden muß. Und damit das getan werde, dazu gehört zuerst Verständnis von seiner Notwendigkeit. Dazu gehört, daß man ablaßt allmählich von der alten Gewohnheit, nur hinhören zu wollen auf das, was einem gerade selber beliebt, und nicht hinhören zu wollen auf dasjenige, was einem unbekannt ist.

Wenn Redner auftreten, welche sich in merkwürdiger Weise in prak­tische Widersprüche verwickeln und das nicht merken, so zeigen sie schon, wie eigentlich unmöglich ein praktischer Weg gefunden werden kann. Ein Redner hat es heute fertiggebracht, zu sagen: Wirklich poli­tische Macht ruht auch heute auf den wirtschaftlichen Unterlagen. Und dann hat er, nachdem er etwas hinzugefügt hat - man merkt es dann nicht mehr so-, gesagt: Das erste ist, daß wir die politische Macht er­ringen, um die wirtschaftliche Macht zu erobern. - Man deklamiert also auf der einen Seite: Wer die wirtschaftliche Macht hat, hat auch die po­litische Macht. Und gleich hinterher nach ein paar Sätzen sagt man: Wir müssen erst die politische Macht haben, dann bekommen wir auch die wirtschaftliche Macht. Mit solchen Rednern wird man allerdings keine praktischen Wege gehen können. Einen praktischen Weg kann man nur gehen, wenn man imstande ist, gerade zu denken, und sich nicht die Wege des Denkens zu verwirren.

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Man wird nicht weiterkommen mit einem starren Festhalten an ir­gendwelchen Einwänden, wie: Der Hang zur Bequemlichkeit macht es notwendig, daß die Menschen zur Einheitsschule gezwungen werden. Alle diejenigen, die in früheren Zeiten Machthaber waren, haben ähnliche Dinge vorgebracht. Man hat Leute in der Regierung gese­hen, die wahrhaftig nicht gescheiter waren als die Regiert en. Aber die Redeweise haben sie noch immer zustande gebracht: Wenn wir die Leute nicht zwingen, das oder das zu tun, dann tun sie es freiwillig nicht.

Es ist eine eigenartige Erscheinung, daß nunmehr auch auf soziali­stischem Boden derlei Dinge zum Vorschein kommen. Da wäre gerade dasjenige erforderlich, worum es sich in Wirklichkeit handelt: die Mög­lichkeit, den Sinn aufzuschließen für das Notwendige, nicht haften zu bleiben an lange eingetrichterten Theorien und dergleichen. Das ist es doch, was immer wiederum gefordert wird. Wenn man sagt: die Macht maß errungen werden!, so meint man doch eine graue Theorie. Denn wenn man die Macht errungen hat, dann muß man auch wissen, was man mit dieser Macht tut. Auf eine andere Weise kommt man nicht vorwärts. Erringen Sie die Macht - wenn Sie in der Macht ste­hen, und Sie wissen nicht, was Sie tun sollen, dann ist die ganze Macht für die Katz. Es handelt sich darum, daß man gerade bevor man zur Macht kommt, klar und deutlich weiß, was man mit der Macht anzu­fangen hat.

Wenn auf der einen Seite gesagt worden ist: nachdem die Revolution vom 9. November gelungen ist -, so könnte man ebensogut sagen, sie ist mißlungen. Und wenn auf der anderen Seite gesagt wird: das Aus­land sieht die Revolution als Schwindel an -, so ist das eben aus dem Grunde der Fall, weil die Macht errungen worden ist und die Besitzer der Macht nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Es muß nun aber endlich gewußt werden, was mit der Macht angefangen werden soll. Wenn aber jeder bei den alten Parteimeinungen bleibt, dann mag er nach Einigkeit rufen. Es gibt eine Methode, zur Einigkeit aufzufor­dern, das ist die, wirklich zu sehen, wo die Schäden sind. Auf diese Weise sucht der Dreigliederungsimpuis Einigkeit zu bringen. Es ist einfach objektiv eine Verleumdung, zu sagen, es solle eine neue Partei

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oder eine neue Sekte gegründet werden. Unsinn ist das. Und wenn die Resolution von zahlreichen Versammlungen angenommen worden ist, so bin ich vollständig beruhigt, daß dieser Resolution niemals entspro­chen wird. Würde ihr entsprochen, dann würde das zur Folge haben, daß den gegenwattigen Machthabern sehr bald der Stuhl vor die Türe gesetzt würde. Da braucht keine Furcht zu bestehen, daß da irgendwie eine Einigkeit gestört werden könnte. Aber es gibt eine andere Me­thode, die Einigkeit zu zerstören: Auf seinen Prinzipien zu beharren und dann zu sagen: Wenn Ihr nicht mir folgt, dann sind wir eben nicht einig. Das ist auch eine Methode, Einigkeit zu predigen, wobei man eigentlich meint: Einig können wir nur werden, wenn ihr mir folgt. Das meinen heute eigentlich doch recht viele.

Wie gesagt, es tut mir leid, auf Einzelheiten deshalb nicht eingehen zu können, weil eigentlich kein einziger der Diskussionsredner wirk­lich solche Dinge berührt hat, die in meinem Vortrage vorgebracht worden sind. Es ist sogar zum Schluß noch gesagt worden, ich hätte philosophiert. Mit einem solchen Philosophieren, wie es dieser Diskus­sionsredner getan hat, kann man ja allerdings alles eine brotlose Philo­sophie nennen. Aber ob man just mit einem solchen Philosophieren, wie es der letzte Redner entwickelt hat, auf dasjenige kommt, was wirk­lich helfen kann, das ist doch sehr stark die Frage.

Was in diesem dreigliedrigen sozialen Organismus gegeben ist, es ist zuerst als Impuls gegeben worden während dieser furchtbaren Kriegs-katastrophe, als ich glaubte, daß die rechte Zeit gekommen sei. Damals, als wir noch lange nicht das Ungetüm des Brest-Litowsker Friedens hatten, erschien es mir gerade als das Richtige, wenn, im Gegensatz zu alledem, was dann wirklich geschehen ist, von diesem Dreigliederungs­Impuls ausgehend, nach dem Osten hinüber ein Ausgleich gesucht wor­den wäre. Es hat dies niemand verstanden. Daher ist dasjenige gekom­men, was nachher durch den Brest-Litowsker Frieden ausgelöst wurde. Es kommt heute wirklich darauf an, daß sich Menschen finden, die es nicht so machen wie alle diejenigen, zu denen während des Krieges von dieser Dreigliederung des sozialen Organismus gesprochen wurde, da­mals natürlich mit Bezug auf die Außenpolitik.

In den nächsten Tagen wird eine Broschüre über die Schuld am

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Kriege erscheinen. Da wird die Welt erfahren, was eigentlich in den letzten Tagen des Juli und den ersten Tagen des August 1914 innerhalb Deutschlands vorgegangen ist. Man wird dann sehen, wie das große Unglück dadurch hereingebrochen ist, daß man nicht selbst gedacht hat, daß man hat die Obrigkeit denken lassen, daß man zufrieden war, wenn die Obrigkeit dachte. Das ist dasjenige, was dazumal, statt zu emer vernünftigen Politik zu führen, dazu geführt hat, daß die Politik am 26. Juli an dem Nullpunkt ihrer Entwicklung angekommen war. Diese Dinge muß die Welt einmal kennenlernen. Sie wird sie in den nächsten Tagen kennenlernen durch die Memoiren des wichtigsten Menschen, der in diesen Tagen damals, im Juli/August 1914, mit tätig war. Da wird man sehen, was alles dadurch versäumt worden ist, daß nur die einen gedacht haben in ihrer Art, die die Obrigkeit waren, und daß die anderen im Grunde genommen sich ihre Überzeugungen be­fehlen ließen.

Nun, wir haben die Sache ja oftmals gehört. Auf die Kriegsgewinnler sind die Revolutionsgewinnler gefolgt. Aber es ist auch noch eine an­dere Folge gekommen. Auf die Kriegsschwätzer folgten die Revolu­tionsschwätzer. Und es verhalten sich ungefhlr die Revolutionsschwät­zer zu den Kriegsschwätzern wie die Revolutionsgewinnler zu den Kriegsgewinnlern.

Wir müssen eben über die Schwätzereien hinauskommen. Und wir müssen darüber hinauskommen, daß wir uns durchaus politisch nicht führen lassen von irgendwelcher Obrigkeit, ob es nun sozialistische oder andere Persönlichkeiten sind. Wir müssen dazu kommen, urteils­fähige Menschen zu werden. Diese urteils£ähigen Menschen können wir nicht werden, wenn wir alles hinwegwischen' was sich wirklich auf die Forderung des Tages stützen kann.

Ich gehe nicht auf derlei Dinge ein, die hervorgebracht wurden und die nichts anderes sind als absolute Entstellung desjenigen, was meine Betrachtungen durchdrungen hat. Daß ich die Gegensätze mit Wohl­wollen überbrücken will, das sind objektive Verleumdungen. Ich habe durchaus nicht von einer Überbrückung der Gegensätze durch Wohl­wollen gesprochen. Ich habe von Einrichtungen gesprochen, die her­beigeführt werden sollen. Was hat denn die Verselbständigung des

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Geisteslebens, des Wirtschaftslebens, des Rechtslebens mit Wohlwollen zutun? Das hat etwas zu tun mit der objektiven Schilderung desjenigen, was da kommen soll.

Ich bin mit jedem einverstanden, der davon spricht, daß man zunächst die Macht haben will, aber ich bin mit auch durchaus darüber klar, daß derjenige, der die Macht hat, mit dieser Macht etwas anzufangen wissen muß. Und wollen wir nur vorwärtsstürmen und die unaufgeklärte Masse zurücklassen, dann werden wir nicht nur in dieselben Zustände, sondern in viel schlimmere Zustände hineinsegeln, als schon da waren.

Man kann irgend etwas anderes philosophisch finden und sich selber ungeheuer praktisch vorkommen, wenn man sagt: Die Franzosen sind ausgepowert, sie können uns kein Brot geben, England ist auch durch den Krieg ausgemergelt und kann uns kein Brot geben, Amerika ist für uns zu teuer. Aber aus Rußland können wir Brot bekommen! - Nun, vorläufig haben die Engländer - das können Sie trotz aller falschen Be­richte vermuten - viel mehr Brot als die Russen selber. Daß wir von Rußland Brot zu erwarten hätten, das ist eine Behauptung, die sich auf keine sachlichen Untergründe stützt.

Worauf es ankommt, das ist, daß wir nun wirklich die Lage so auf­fassen, wie sie ist. Daß wir uns sagen: Wir waren nicht imstande, mit dem alten Geistesleben zu sozialisieren, wir brauchen ein neues Geistes­leben. Das kann aber nur das vom Rechtsstaat losgelöste Geistesleben sein. Wir brauchen einen Boden, auf dem die Arbeitskraft den Kämpfen entzogen wird. Das kann nur der selbständige Rechtsstazt sein. Und wir brauchen einen Ausgleich des Warenwertes, das kann nur auf dem Boden des selbständigen Wirtschaftslebens geschehen. Das sind Dinge, die man wirklich wollen kann. Das sind Dinge, die nicht bloß revolu­tionäre Phrasen sind. Das sind Dinge, die doch, wenn man den Mut hat sie herbeizuführen, wahrhaftig einen ganz anderen Zustand der Welt herbeibringen wollen, als er jetzt ist.

Ich glaube, wenn Sie genügend darüber nachdenken, was in der Drei-gliederung des sozialen Organismus liegt, werden Sie darauf kommen. Und die Einführung ist in verhältnismäßig kurzer Zeit möglich. Nun, und wenn dieser gesunde dreigliedrige Organismus da sein wird, dann werden unsere Verhältnisse recht sehr revolutioniert sein. Wenn die

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Welt übergehen wird zu dieser Einführung des dreigliedrigen sozialen Organismus, dann brauchen wir nicht zu «donnern» von Weltrevolu­tion, denn sie vollzieht sich dann in sachlicher Weise. Das Donnern da­von, das Auffordern zum Sturm macht es nicht aus. Sondern das macht es aus, daß wir Keimgedanken finden, welche sich zu wirklichen sozia­len Früchten entwickeln können.

Wir haben heute allerdings nicht notwendig, daß viel geschwätzt wird, aber daß wir uns über dasjenige verständigen, was zu geschehen hat. Nicht mit Ideologien, mit Utopien oder Philosophien haben wir es im dreigliedrigen sozialen Organismus zu tun, sondern mit etwas, was getan werden kann, das ein Plan zu einem wirklichen Tun ist, nicht eine Beschreibung eines zukünftigen Zustandes, sondern ein Plan zur Ar­beit. Man braucht zu jedem Haus einen Plan, man braucht ihn zur so­zialen Neugestaltung. Dazu werden diejenigen nicht führen, welche immerzu zurückschrauben, seien es Sozialisten oder sonstige Leute, sondern nur die, die geneigt sind, wirklich vorwärtszudringen. Ich fürchte, daß diejenigen, die heute «nichts Neues, sondern nur Altes» gehört haben, uns nicht heraus-, sondern hineinführen in das Chaos.

Wir wollen heute einmal Ernst machen in der Aufnahme desjenigen, das so ungewohnt ist, so neu ist, daß man es nicht einmal hört, wenn es gesagt wird, sondern seine eigenen Phrasen wiederum findet. Es sind heute neue Denkgewohnheiten notwendig, ein Umdenken ist notwen­dig. An neue Denkgewohnheiten, an neue Denkrichtungen muß die Menschheit appellieren, ehe es zu spät ist. Und noch einmal sage ich es: Wenn die Menschheit nicht diesen inneren Mut hat, so könnte es sehr leicht bald zu spät sein.

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DIE ERKENNTNIS DES ÜBERSINNLICHEN MENSCHENWESENS UND DIE AUFGABE UNSERES ZEITALTERS Ulm, 22. Juli 1919

Wenn der Mensch die gegenwärtige Not, das gegenwärtige Elend an­blickt, fragt er nach den Ursachen, und zumeist wird er diese Ursachen in äußeren Verhältnissen suchen. Er wird zunächst den Blick auf die schmerzensreichen Jahre, vier bis fünf Jahre, die vergangen sind, zu­rückwenden. Er wird vielleicht auch nach und nach aufmerksam, daß dasjenige, was in den letzten vier bis fünf Jahren so leidvoll durchlebt worden ist, in einer langen Zeit, durch Jahrzehnte, ja wohl durch Jahr­hunderte der neueren Menschheitsentwicklung sich vorbereitet hat, wie etwa ein Gewitter sich vorbereitet durch die Schwüle des ganzen Tages, ohne daß sein Entstehen bemerkt wird, und das sich dann ent­lädt. Aber selbst diejenigen Menschen, welche in dieser Art weiter zu­rückschauen zu Ursachen und Veranlassungen unserer gegenwärtigen Not und unseres Elends in diesem Zeitalter, sie werden mehr oder weniger auf äußere Verhältnisse hinschauen. Sie werden auch an Äuße­res denken, wenn es sich darum handelt, aus der Wirrnis und dem Chaos dieses unseres Zeitalters herauszukommen, an äußere Maßnahmen und Einrichtungen.

Gewiß, bis zu einem hohen Grade hat man mit dieser Anschauung recht. Inwiefern man damit Recht hat, habe ich ja selbst nach meiner Überzeugung in dem Vortrage auszusprechen versucht, den ich vor einigen Wochen hier in Uim über soziale Fragen halten durfte. Aber es gibt noch eine andere Seite der Betrachtungsart über diese Dinge. Man braucht nur auf etwas aufmerksam zu werden, das in unserer Ge­genwart in bezug auf das innere menschliche Leben, das menschliche Seelenieben eine bedeutungsvolle Zeiterscheinung ist. Wir streben im Sinne desjenigen, was ich gerade andeutete, mit Recht nach einer so­zialeren Gestaltung der äußeren Lebensverhältnisse, als sie der Mensch­heit in den letzten drei bis vier Jahrhunderten beschieden war. Aber ist es denn nicht bemerklich, daß wir aus einer ganz merkwürdigen menschlichen Seelenverfassung heraus zu dieser sozialeren Gestaltung

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streben? Bemerken wir es denn nicht, daß im Grunde genommen die menschlichen Seelen in der Gegenwart überall durchsetzt sind mit anti­sozialen Trieben, mit antisozialen Instinkten, mit einer geringen Mög­lichkeit, sich gegenseitig zu verstehen? Und aus diesen antisozialen Seelenverfassungen heraus, und um so mehr, als sie vorhanden sind, mussen wir nach einer sozialeren Gestaltung des äußeren Lebens stre­ben, als dasjenige war, welches in den drei bis vier letzten Jahrhunder­ten die antisozialen Triebe unseres heutigen Menschenlebens heran­gezogen hatte. Wenn man die Frage nach dieser Seite hin betrachtet, dann findet man, wie diese antisozialen Triebe der Gegenwart eigent­lich damit zusammenhängen, daß wir den Weg zum innersten Wesens­kern des Menschen selber verloren haben, den Weg zu jenem innersten Wesenskern, den eigentlich, wenn auch mehr oder weniger hell, oder bloß instinktiv, dunkel, jeder Mensch in sich ahnt: das übersinnliche Menschenwesen. So sonderbar es klingt, die Menschen wissen heute nicht genau, sie bringen es sich nicht zum Bewußtsein, wonach ihr tie­feres, dunkles Seelenwesen dürstet. Es dürstet nach einer Erkenntnis des übersinnlichen Wesenskernes des Menschen. Und in den Schwie­rigkeiten, welche gerade unser Zeitalter findet, vorzudringen zu einer befriedigenden Erkenntnis über dieses innerste Menschenwesen - in diesen Schwierigkeiten liegt viel begründet von dem, was sich dann äußerlich ausdrückt in Wirrnis und Chaos, so wenig das die Menschen auch heute noch zugeben wollen. Viele Menschen finden allerdings, daß die Frage, von der ich hier spreche, ihre Beantwortung in einer ganz anderen Weise finden soll, als sie sie durch dasjenige finden wird, was ich heute abend zu Ihnen zu sprechen haben werde.

Da ich diese Frage vom Standpunkt der anthroposophischen Gei­steswissenschaft aus zu erörtern habe, werde ich nicht in der Lage sein, sie in jener bequemen Art zu erledigen, die heute von vielen Menschen angestrebt wird, die heute in den weitesten Kreisen der Menschheit beliebt ist. Wenn heute den Menschen von den Mondbergen und von der Art und Weise gesprochen wird, wie man durch physikalische In­strumente, durch physikalische Maßnahmen sich über die Mondberge unterrichtet, da glaubt der Mensch daran, daß die Aneignung des Wis­sens von den Mondbergen kompliziert sein darf. Da überwindet sich

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der Mensch, und er gibt zu, daß man nicht auf ganz bequeme Weise zu der Erkenntnis, sagen wir, der Mondberge oder der Jupitermonde oder dergleichen vordringen könne. Wenn es sich aber um die über­sinnliche Welt handelt, wenn es sich um das geistige Dasein des Men­schen selber hmdelt, da verhalten sich die weitesten Kreise heute noch durchaus anders. Da findet man es zu schwierig, wenn in der Weise gesprochen wird, wie ich heute zu Ihnen werde sprechen müssen. Da sagen heute noch die weitesten Kreise: Besser als dieses scheinbar Wissenschaftliche ist das kindliche Bekennmis oder der kindliche Bibel-glaube, um zu den übersinnlichen Welten zu kommen. - Man pocht auf dasjenige, was man ja doch nur bequem findet, auf die kindliche Ein­falt des Bekenntnisglaubens oder des Bibelglaubens, wenn es sich um das Höchste handelt, wonach der Mensch auf seinem Seelenwege stre­ben kann, und man weist dasjenige ab, was den Menschen diesen Weg nicht in so bequemer Weise führt. Aber die Menschen sehen eben heute noch nicht gewisse innere Zusammenhänge, die bestehen zwischen die­sem Streben nach bequemen Geisteswegen und zwischen unseren anti­sozialen Trieben und den Schwierigkeiten, aus diesen antisozialen Trie­ben herauszukommen. Würde man einsehen, welche Zusammenhänge bestehen zwischen dem, was von gewisser Seite immer wiederum den Menschen gesagt worden ist und woran sie geglaubt haben: Ihr könnt auf dem Wege kindlicher, einfältiger Glaubensbekenntnisse die Wege zum Übersinnlichen suchen -,würde man einsehen, welcher Zusammenhang zwischen diesem Behaupten und diesem Glauben besteht und zwischen dem, was sich heute anantisozialen Trieben äußert, dann würde man aller-dings anders denken lernen über dasjenige, was die weitesten Kreiseheu­te als einen «bequemen Weg in die übersinnlichen Welten» finden.

Aber nicht aus irgendeiner geistigen Schrulle heraus zeigt heute Gei­steswissenschaft dem modernen Menschen andere Wege, sondern sie zeigt diese Wege, weil sie dies als eine Verpffichtung gegenüber dem empfindet, was Zeitbedürfnisse und was Zeitaufgaben der gegenwärti­gen Menschheit sind. Würde sich diese gegenwärtige Menschheit ganz genau im Innersten selbst erkennen, dann würde sie sich sagen: Im Hin­blick auf das übersinnliche Streben kann man nicht mehr befriedigt sein mit den alten Wegen. Dies lebt heute als Sehnsucht in vielen Seelen,

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und dieser Sehnsucht will antliroposophisch orientierte Geistes­wissenschaft entgegenkommen.

Der Mensch fragt wohl heute, wie gesagt, mehr oder weniger deut­lich oder auch mehr oder weniger unbewußt nach den Beziehungen zwischen Seele und Leib; wenn er nicht gar schon so weit gekommen ist, daß er alles Seelische ableugnet, weil ihm auf diese Frage immer wiederum Zweifel aufgestiegen sind, an denen er müde geworden ist. Aber was weiß im Grunde genommen der heutige Mensch von Seele und Leib? Den Leib beobachtet er so, daß er dabei seine Sinne, den äußeren physischen Verstand anwendet oder daß er für dasjenige, was er so durch die Sinne und den Verstand nicht unmittelbar kennen ler­nen kann, seine Zuflucht zu der Naturwissenschaft nimmt, die ihm durch ihre Untersuchungen sagen soll, welches die Gesetze sind, wel­ches das innere Wesen dieses menschlichen physischen Leibes ist. Auf der anderen Seite nimmt der Mensch innerlich dasjenige wahr, was er sein Denken, sein Fühlen, sein Wollen nennt. Das wird für ihn eine innere Erfahrung. An dieses Denken, Fühlen und Wollen knüpft er auch wohl bestimmte innere Sehnsuchten, Wünsche und Hoffnungen, knüpft er den Glauben, daß dieses in Denken, Fühlen und Wollen le­bende Innere nicht nur jene vorübergehende Bedeutung für die Welt habe, welche das Leben des physischen Leibes hat. Aber dann kommt für den Menschen die Frage, welche die großen Zweifel gebiert, die Frage: Welches ist das Verhältnis desjenigen, was ich innerlich seelisch als Denken, Fühlen und Wollen in mir selbst wahrnehme, zu demjeni­gen, was ich äußerlich an mir und an anderen sehe als den äußeren phy­sischen Leib, dessen Gesetze und Wesenheit mir die Naturwissenschaft erklären will? Und wenn der Mensch selber sich nicht aufklären kann über dieses Verhältnis des Seelischen zum Leiblichen, dann fragt er wohl an bei denen, die aus gewissen wissenschaftlichen Untergründen heraus die Möglichkeit haben, über dieses Verhältnis tiefer nachzufor­schen. Und siehe da, der heutige Mensch, der so sehr darauf aus ist, sich alles von der wissenschaftlichen Autorität erklären zu lassen, muß dann feststellen, daß er in dieser Frage wenig durch die von ihmso gesuchten Wissenschafter gefördert werden kann. Nimmt er irgend etwas zur Hand, worin sich die Forscher auf diesem Gebiet ausgesprochen haben,

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so wird er in der Regel finden, daß sie über diese Frage ebenso Unge­wisses sagen, wie er in sich selber trägt. Alle möglichen Hypothesen, alle möglichen Vermutungen findet man. Aber etwas, was den Men­schen so ergreift, daß er, wenn er nur ohne Vorurteil wirklich Stellung dazu nimmt, einen Eindruck der Wahrheit bekommen könnte, das wird heute wenig gefunden. Das zu finden, setzt sich die anthroposo­phisch orientierte Geisteswissenschaft zur Aufgabe.

Aber man kann nicht auf denselben Wegen, auf denen man zur äuße­ren Wissenschaft kommt, auch zu dem vorrücken, von dem ich Ihnen als einer Geisteswissenschaft, als einer wirklichen Geisteswissenschaft nunmehr zu sprechen habe. Stellen Sie sich einmal vor, jemand würde Ihnen von den Forschungswegen erzählen, die er im chemischen oder im physikalischen Laboratorium, in der Klinik zur Erforschung der äußeren Natur beschritten hat. Sie würden von einem solchen Forscher, der mit einem gewissen Recht glauben kann, auf seinem Gebiet zum Fachmann geworden zu sein, in der Regel hören, daß er mit einer ge­wissen Ruhe, mit einem gewissen inneren gleichmütigen Seelenge­stimmtsein seine Forschungswege gegangen ist. Es ist nicht viel Auf­regendes auf den heutigen Forschungswegen zu finden.

Von solcher Ruhe, von solcher inneren gleichmütigen Seelenstim­mung kann Ihnen nun derjenige nicht erzählen, der Ihnen etwas von seinem Wege mitteilen will, auf dem er zu den Erkenntnissen über die übersinnliche Menschenwesenheit gelangt ist. Soll er Ihnen von dem sprechen, was er durchgemacht hat, um zu diesen Erkenntnissen zu kommen, so wird er Ihnen sprechen müssen von inneren Überwindun-gen, von inneren Seelenkämpfen, von schweren Abmühungen, von einem wiederholten Stehen an Abgründen des Zweifels. Er wird Ihnen zu erzählen haben von dem, was er im reichlichen Maße hat überwin­den müssen, was er hat durchmachen müssen, um zu dem zu kommen, was Aufschluß gibt über den eigentlichen übersinnlichen menschlichen Wesenskern. Denn man gelangt eigentlich erst dann auf den Weg zur Erkenntnis der übersinnlichen Menschenwesenheit, wenn man sich so einiebt in alles, was ich schon angedeutet habe: wenn Zweifel aufstei­gen bei der Frage nach der Beziehung zwischen Leib und Seele, so daß man etwas empfindet, was eigentlich nur hervorgehen kann aus einer

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gewissen intellektuellen Bescheidenheit - während die meisten Men­schen heute in solchen Dingen ganz und gar nicht eine intellektuelle Bescheidenheit, sondern im Gegenteil furchtbarsten intellektuellen Hochmut haben.

Strengt man sich aber wirklich an mit dem gewöhnlichen Denken, mit all den gewöhnlichen Seelenkräften, die man sonst im Leben hat, um an diese Fragen nach dem Wesen von Seele und Leib heranzukom­men, dann merkt man nach und nach, daß man eben bescheiden sein muß, daß man mit dem gewöhnlichen Menschendenken nicht an diese Fragen heran kann. Und man gelangt allmählich durch inneres Erleben, durch inneres Erfahren dahin, daß man sich sagt: Es geht dir mit die­sem gewöhnlichen Menschendenken und Menschenempfinden gegen­über dem Übersinnlichen so, wie es dem fünfjährigen Kinde mit seinen Fähigkeiten geht, wenn es zum Beispiel, sagen wir, einen Band lyri­scher Gedichte in der Hand hält. Dieses Kind kann mit dem Gedicht-band nicht etwas anfangen, was der Wesenheit dieses lyrischen Ge­dichtbandes entspricht. Wir müssen erst seine Fähigkeiten weiterent­wickeln, dann kann es dasjenige mit dem Gedichtband anfangen, was dem Wesen dieses Gedichtbandes entspricht. So muß man sich sagen gegenüber den Denkfähigkeiten, die man für das gewöhnliche Leben hat, gegenüber den Erkenntuiskräften, die man für dieses gewöhnliche Leben hat: Du kannst mit ihnen nicht das eigentliche Wesen der Welt und deines eigenen Daseins erkennen; du stehst diesem Wesen der Welt und diesem Wesen deines eigenen Daseins zunächst so gegenüber, daß du damit sowenig anfangen kannst wie ein fünfjähriges Kind mit einem lyrischen Gedichtband.

Erst wenn man diese Stimmung in seiner Seele entwickelt hat, wenn man sich die intellektuelle Bescheidenheit erobert hat, so daß man sich sagt: Du darfst nicht stehenbleiben bei der Art, wie du jetzt denken kannst, wie du jetzt empfinden und wollen kannst -, erst dann steht man am Ausgangspunkt des Weges in die übersinnlichen Welten hin­ein. Denn wer über die übersinnlichen Welten etwas zu sagen hat, muß nicht nur über etwas anderes sprechen als die gewöhnliche äußere Sin­neswelt, sondern er muß in anderer Art sprechen. Das heißt aber: Gei­stesforscher kann man nur werden, wenn man zunächst dasjenige, was

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man für das gewöhnliche, alltägliche Leben und für die gewöhnliche Wissenschaft an Denk- und Erkenntnisfähigkeiten hat, selbst in die Hand nimmt. Wie das Kind durch andere erzogen wird, wie dem Kinde durch andere seine Fähigkeiten entwickelt werden, so muß man seine inneren Seelenfähigkeiten, zunächst seine Denkfähigkeit, selber in die Hand nehmen und weiterentwickeln von dem Standpunkte aus, zu dem das Denken von selbst im Leben kommt.

In meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» habe ich alle Einzelheiten beschrieben - jene systematisch zu gliedernden Einzelheiten, durch die der Mensch seine Denkfiihigkeit selbst in die Hand nehmen kann, durch die er dieses Denken weiter­entwickeln kann gegenüber dem Standpunkt, auf dem es im gewöhn-lichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft steht.

Heute abend werde ich Ihnen wegen der Kürze der Zeit nur das Prinzipielle der Sache vortragen können. Ich werde Ihnen nur zeigen können, wie man dieses Denken weiterentwickelt, wie man es selbst in die Hand nimmt und immer weiter bringt. Dazu ist eine Vorbedingung folgendes: Wenn man sich über das äußere leibliche Wesen des Men­schen aufklären will, so sagte ich vorhin, fragt man bei der Naturwis­senschaft an. Nun soll diese Naturwissenschaft nicht herabgesetzt wer­den. Der Geistesforscher erkennt die großen Triumphe der Natur-wissenschaft in der neueren Zeit voll an, so wie sie der Naturforscher nur irgend selber anerkennen kann. Er erkennt diese Naturwissen­schaft als berechtigt an, er ist ein um so besserer Geistesforscher, je bes­ser er den Wert und die Bedeutung der Naturwissenschaft zu würdigen versteht. Allein, gerade darum muß auch das andere gesagt werden: Fragt man bei dieser Naturwissenschaft an, so stellt sie einen zunächst an Erkenntnisgrenzen. Sie wissen wohl alle, daß gerade die besonnenen Naturforscher von solchen Erkenntnisgrenzen sprechen. Gewisse Be­griffe, gewisse Vorstellungen werden vor den Menschen hingestellt, der nach dem Wesen der Dinge, nach Kraft, Stoff usw. fragt. Diese Begriffe ändern sich von Zeit zu Zeit, aber immer stehen gewisse Grenzen da, von denen der Naturforscher sagt: Über diese Grenzen kannst du nicht hinauskommen. Der Naturforscher tut recht in seinem Gebiet, wenn er bei diesen Grenzen stehenbleibt. Der Geistesforscher kann

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dies nicht tun. Aber, er darf auch nicht durch irgendwelche bloßen Spekulationen, durch bloßes Phantasieren über diese Grenzen hinaus­kommen wollen.

Indem der Geistesforscher an dasjenige herantritt, was die Natur­wissenschaft nicht erkennen kann und wo sie die Grenzpfähle für das Erkennen einrammt, da beginnen für ihn, für den Geistesforscher, die großen inneren Seelenkämpfe. Der Geistesforscher muß innerlich mit dem kämpfen, was der Naturforscher als feste Grenzbegriffe hinstellt. Und da wird dieses Kämpfen zu einem ersten großen Erlebnis. Er überwindet kämpfend im inneren Erleben diese Grenzen, und indem er sie überwindet, geht ihm mit den Erfahrungen eine Erkenntnis auf, die wichtig, grundlegend wichtig ist für alles, was hinführen soll zur Erkenntnis der übersinnlichen Menschennatur. Indem er sich diesem Kampfe mit den Grenzen der Naturerkenntnis hingibt, geht ihm auf, wie eigentümlich die menschliche Wesenheit dem Leben angepaßt ist. Denn der Geistesforscher muß sich aus seiner Erfahrung heraus fragen: Was hindert dich denn, in das Innere der Natur rein auf naturfor­scherische Art hineinzuschauen? - Da entdeckt er das höchst Merk-würdige, ich möchte sagen, das erschütternd Merkwürdige: Wenn die Natur durchsichtig wäre, so daß sie uns nicht Grenzen hinstellte, dann würden wir Menschen in unserem Leben zwischen Geburt und Tod eine Eigenschaft nicht besitzen, die wir für das soziale Dasein in diesem Leben unbedingt notwendig haben. Wenn der Mensch in das innere Wesen der Natur hineinschauen könnte, so müßte er die Seelenkraft der Liebe entbehren! Alles, was wir Liebe von Mensch zu Mensch nen­nen, was wir Liebe und brüderliche Gesinnung von Mensch zu Mensch nennen, was in der Seele aufglüht, wenn wir dem anderen Menschen sozial entgegentreten, das könnten wir nicht haben, wenn die Natur uns nicht Grenzen für unser Naturerkennen setzte.

Das ist eine Wahrheit, die man nicht logisch beweisen kann. Gerade so wenig wie man logisch beweisen kann, daß es einen Walfisch gibt, oder daß es einen Walfisch nicht gibt - man kann sich nur durch den Augenschein überzeugen -, so kann man nicht beweisen, daß man die Liebe entbehren müßte, wenn die Naturerkenntnis keine Grenzen hätte. Aber als eine Erfahrung ergibt es sich dem, der wirklich sich hineinringt

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in die geistige Erkenntnis. Da sieht man, welche Geheimnisse unser menschliches Dasein birgt. Ein solches Geheimnis ist es, daß der Mensch die begrenzte Naturerkenntnis dadurch bezahlen muß, daß er Liebe entwickelt. Und umgekehrt: er muß seine Liebefähigkeit damit bezahlen, daß er zunächst keine unbegrenzte Naturerkenntnis hat.

Aber das zeigt uns auch, was derjenige zu überwinden hat, der nun wirklich hineindringen will in die geistige Welt, welcher der Mensch selbst mit seinem innersten Wesenskern angehört. Das ist eines der Grundprinzipien für die Wege hinauf zum übersinnlichen Menschen und zur übersinnlichen Welt überhaupt, daß man die Liebefähigkeit, die Hingabe an alle Wesen der Welt noch größer macht, als sie im ge­wöhnlichen Leben zwischen Geburt und Tod ist, damit man nicht die Liebe verliert, wenn man nun versucht, sein Denken immer mehr so auszugestalten, daß es anders wird, als es im gewöhnlichen Leben ist. Eine Vorbereitung muß es sein für den geistigen Erkenntnisweg, sich noch viel, viel liebefähiger zu machen, als man es für das gewöhnliche soziale Leben zu sein hat. Man merkt nämlich allmählich, daß man in seiner ganzen, vollen Menschennatur die Welt eigentlich nur kennen-lernt, solange man im physischen Leibe ist, durch die Liebe, durch keine andere Forschungsmethode.

Aber wenn man in die geistige Welt hineindringen will, so muß man zu gleicher Zeit das Denken selber höher ausbilden, als es sich in der menschlichen Natur von selbst ausbildet. Das erreicht man dadurch, daß man gewisse innere Seelenverrichtungen, gewisse innere Seelen-tätigkeiten, die man im Leben sonst nur nebenbei anwendet, nun ganz systematisch anwendet, indem man sich dazu zwingt. Ich kann Ihnen heute nur in einem kleinen Ausschnitt sagen, was Sie in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ausführlich ge­schildert finden, aber ich kann wenigstens andeuten, worauf diese Höherentwicklung des menschlichen Denkens beruht.

Sie wissen, wenn uns etwas von außen irgendwie anregt, so werden wir darauf aufmerksam. Wir hören einen Ton, wir haben ein Interesse für dasjenige, was in der Richtung dieses Tones vorgeht. Interesse für etwas haben, Aufmerksamkeit auf etwas wenden, das sind also innere Seelenbetätigungen, welche beim Menschen in der Regel von der

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Außenwelt her angeregt werden. Worauf es beim Betreten des geisti­gen Erkenntnisweges ankommt, das ist, daß wir solche Kräfte, wie die Kräfte, die zur Aufmerksamkeit, zum Interesse-Haben führen, will­kürlich in uns anwenden, indem wir uns zum Beispiel recht, recht lange, wie man sagt, in der Meditation einer Vorstellung hingeben, indem wir die Seele ganz hineinlegen in diese Vorstellung. Da verliert sich im ge­wöhnlichen, natürlichen Gang des Lebens die Aufmerksamkeit, das Interesse an dieser Vorstellung. Wenn man sich aber willkürlich mit der ganzen Seele in eine solche Vorstellung hineinlebt, darin stehen-bleibt, so, daß man von innen die Aufmerksamkeit erhält, die zu er-löschen droht, daß man das Interesse von innen erhält, wenn es zu er-löschen droht, durch die Länge, mit der man sich der Vorstellung hin­gibt - und wenn man das immer weiter tut, dann erkraftet man das Denken; das Denken wird etwas ganz anderes, als es früher war. Dann kommt man in der Tat zu einem Denken, das voll innerer Tätigkeit ist, bei dem man sich aber auch anstrengen muß, wie man sich bei einer äußeren Handarbeit anstrengen muß. Man kommt zu einem Denken, das sich zum gewöhnlichen Denken verhält, wie sich das gewöhnliche Denken zum Denken des fünfjährigen Kindes verhält, etwa gegenüber den lyrischen Gedichten. Aber man kommt zu einem solchen Denken, von dem man sich sagt: hat man es erreicht, dann hatte man an dieses Erreichen-Müssen eine innere Kraftanstrengung zu wenden, die wirk­lich das Körperliche, das dabei auch mittätig ist, so mitgenommen hat, daß man es wie eine Ermüdung durch harte äußere Arbeit verspürt, der man sich jahrelang hingegeben hat. Lernt man erkennen, daß man sich im Seelischen etwas erarbeiten kann, das solche Anstrengung kostet wie meinetwillen das Holzhacken, dann kommt man dazu, in seiner Seele zu erfassen das lebendige Denken, während das gewöhnliche Denken mehr die äußeren Erscheinungen, die äußeren Erlebnisse nur begleitet. Denken Sie einmal, wie Sie eigentlich im gewöhnlichen Le­ben denken: Sie verrichten Ihre Arbeit im gewöhnlichen Leben, und das Denken läuft so träumerisch neben diesem äußeren Leben einher. Strengen Sie dieses Denken einmal an, indem Sie ein schwieriges Buch lesen, so merken Sie: Gerade wenn das Denken innerlich aktiv sein will, muß es ermüden wie eine andere Tätigkeit. Aber das, was da von

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innen her in Tätigkeit entwickelt wird, das muß mit dem Denken im­mer weitet und weitet getrieben werden. Wenn das iltimer weiter ge­trieben wird, dann merkt man, daß mit dem Denken eine große Ver­änderung vor sich geht. Dann lernt man etwas erkennen, von dem man früher keine Ahnung hatte: Man lernt erkennen, daß man in einem Denken lebt, von dem das gewöhnliche Denken nur wie ein Spiegel­bild, wie ein Abbild ist: Man lernt ein Denken kennen, das innerlich lebt, ein Denken, welches ganz unabhängig ist von dem Werkzeug des Gehirns, von dem Werkzeug des Leibes. So grotesk, so paradox, viel­leicht toll das der gegenwärtigen Menschheit noch erscheint: der Mensch kann auf diesem Wege, den Sie in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? » beschrieben finden, dazu kommen, ganz genau zu wissen: Indem du denkst, die Seelentätigkeit des Den­kens entwickelst, lebst du außerhalb des Leibes mit deinem Denken, während das gewöhnliche Denken an das Instrument des Leibes, an das Nervensystem gebunden ist. Man lernt aber auch genau erkennen, wie wenig das innere Seelenwesen, das man so erfaßt in seinem Denken, an das Instrument des Gehirnes gebunden ist. Denn man entwickelt ja nicht erst dieses innere Seelenwesen, sondern man lernt es nur kennen. Ich spreche Ihnen nicht von etwas, was heute neu entwickelt wird, son­dern von der Erkenntnis des übersinnlichen Menschen. Man lernt er­kennen, welch großem Irrtum sich die gewöhnliche Naturwissenschaft und die äußere populäre Anschauung über das Denken hingeben, ge­rade in unserem materialistischen Zeitalter.

Da sagt dieses naturwissenschaftliche Denken: Das Gehirn ist das Instrument des Denkens. Aber das ist ein solcher Irrtum, wie es ein Irrtum wäre, wenn Sie sehen würden: in einem aufgeweichten Feld­weg sind Wagenspuren, sind Spuren von menschlichen Tritten; und wenn Sie darüber nachdenken würden - so nehmen wir jetzt an -, wie von unten her, von der Erde her Kräfte spielen, die die Wagenspuren oder die Spuren der menschlichen Tritte bewirkt haben. Das wäre selbstverständlich eine Torheit. Sie können aus dem Gefüge der Erde selbst heraus nicht sehen, wie die Furchen entstanden sind. Sie müssen sich klar sein, daß da ein Wagen gefahren ist, daß Menschen mit den Füßen darüber gegangen sind, daß sich das eingedrückt hat. So kommen

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Sie auf den Irrtum der Naturwissenschaft gegenüber dem mensch­lichen Seelenieben, wenn Sie das von dem Leibe unabhängige Denken wirklich kennenlernen. Da lernen Sie kennen, daß dasjenige, was als Nervenfurchen im Gehirn ist, nicht Kräfte im Gehirn drinnen selber hat, welche das Seelische hervorbringen; sondern Sie lernen erkennen, daß alle diese Furchen eingetrieben sind - wie die Furchen in der wei­chen Erde durch Wagen und Fußtritte eingetrieben sind -, daß einge­graben sind diese Furchen durch die vom Leibe unabhängige Seelentä­tigkeit. Und Sie begreifen jetzt auch den Irrtum, der in der Naturwissen­schaft entstehen kann. Für all das, was da eingegraben wird, entstehen solche Spuren im Gehirn; Sie können alle verfolgen; aber das ist nicht aus dem Leibe heraus entstanden, es ist in den Leib hineingegraben.

Es ist aber nicht immer leicht zu erfassen, dieses tätige Wesen. Um auch nur einen kurzen Blick in dieses vom Leibe unabhängige mensch­liche Denken zu erhalten, braucht man nämlich das, was man Geistes­gegenwart nennen könnte, denn es hält nicht lange an, ein solches Hin­einblitzen des Geistigen in unsere gewöhnliche Anschauung. Man kann sich gut vorbereiten - Sie werden auch darüber in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? » gesprochen finden -, indem man im gewöhnlichen Leben schon dasjenige entwickelt, was man Geistesgegenwart nennen kann, rasche Orientierung über Situa­tionen und die Möglichkeit, rasch in einer Situation zu handeln. Wenn man nun diese Eigenschaft immer mehr und mehr ausbildet, so bereitet man sich vor, das zu sehen, was aus der geistigen, der übersinnlichen Welt heraus erscheinen kann, und was der Mensch sonst deshalb nicht sieht, weil er, während es auftritt, nicht dazukommt, so schnell die not­wendige Geistesgegenwart aufzubringen; weil er nicht dazukommt, es anzuschauen, bevor es vorüber ist. Aber lernt man auf diese Weise wirklich in die geistige Welt hineinschauen, lernt man erkennen, was da an dem Menschen lebt und auf diese Weise durch das entwickelte Denken erfaßt werden kann, dann sieht man eben nicht bloß in das gewöhnliche menschliche Leben des Alltags hinein, sondern dann er­gibt sich einem eine ganz andere Perspektive.

Eines hat diese geistige Erkenntnis nicht: Sie ist nicht im gewöhn­lichen Sinne erinnerbar. Derjenige, der Ihnen etwas aus der geistigen

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Welt erzählen will, muß immer wiederum die Bedingungen herstellen, sie anzuschauen. Er kann das nicht einfach so machen, daß er ein Ge­dächtnis für seine frühere Geistesschau entwickelt. Aber wenn jene geistige Erkenntnis auch, ich möchte sagen, wie ein flüchtiger Traum, der bald vergessen wird, rasch vorübergeht, so enthält sie in sich selber eine bedeutungsvolle Erinnerung. Und an diesem Punkte muß man etwas sagen, was die Menschen der Gegenwart ganz selbstverständlich höchst eigentümlich berühren muß. Aber es hat die Menschen doch ganz gewiß auch eigentümlich berührt, als ihnen davon gesprochen wurde, daß da oben nicht bloß leuchtende Punkte sind, sondern un­zählige Welten im Raume verteilt sind! Sowenig das die Menschen vor Jahrhunderten sogleich glauben wollten, aber sich daran doch so ge­wöhnt haben, daß es heute für sie eine Selbstverständlichkeit ist, so wird zwar heute noch ungewohnt erscheinen, was der Geistesforscher als seine Erfahrung hinstellt durch sein entwickeltes Denken, es wird aber eine selbstverständliche Erkenntnis der nächsten Jahrhunderte sein müssen. Und eine Aufgabe unserer Zeit wird sein, daß die Men­schen Verständnis entwickeln für solche Erweiterung des mensch­lichen Erkennens und der menschlichen Anschauung. In dem Augen­blick, da der Mensch ein innerlich lebendiges Denken hat und weiß, daß er mit diesem Denken unabhängig vom Leibe ist, schaut er zurück -während er die gewöhnliche Erinnerung in diesem Augenblick nicht haben kann - auf das geistig-seelische Leben, das er in einer rein geisti­gen Welt durchlebt hat, bevor er durch die Geburt oder die Empfäng­nis sich mit dem physischen Menschenleibe vereinigt hat und dadurch aus einer geistigen Welt in die sinnliche Welt herabgestiegen ist. Es er­weitert sich der Blick über das Leben hinaus, das man seit der Geburt durchlebt; es erweitert sich das Leben hinein in die Anschauung der geistigen Welt, aus der wir zu unserem physischen Dasein herunter-gestiegen sind.

Eine neue Bedeutung erhält dadurch auch unser ganzes soziales Men­schenleben. Wir treten im sozialen Leben in Beziehung zu diesem oder jenem Menschen. Zu einem Menschen tritt eine schnelle Sympathie auf, mit dem anderen finden wir uns nicht so schnell sympathisch ver­eint. Die mannigfaltigsten Beziehungen entstehen zu den anderen Men­schen

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hier in diesem Leben zwischen Geburt und Tod. Lernt man als Geistesforscher das Leben so erkennen, wie ich es eben angedeutet habe, dann findet man: dasjenige, was einen anzieht bei dem einen Men­schen, was einen mehr oder weniger befremdet bei einem anderen Men­schen, kurz: was an Beziehungen zu den anderen Menschen auftritt, es ist das Ergebnis dessen, was wir mit den anderen Seelen in einer an­deren Welt durchlebt haben, bevor wir und bevor sie zu diesem physi­schen Dasein herabgestiegen sind. Alles, was wir in der physischen Welt erleben, es wird uns zum Abbild von Erlebnissen in der geistigen Welt. So wird aus menschlich-seelischer Anstrengung in unserem Zeitalter auferstehen können das Hineinschauen in die geistige Welt von dieser physischen Welt aus.

Es mag heute noch viele Menschen geben, welche sich in eine solche Anschauung nicht hineinfihden können. Allein, über solche Menschen kann man so seine Gedanken haben. Als die erste Eisenbahn in Deutsch­land gebaut wurde, rief man ein Ärztekollegium und andere Gelehrte zusammen: sie sollten entscheiden, ob man Eisenbahnen bauen solle oder nicht. Da haben diese gelehrten Herren das Urteil abgegeben, man solle doch Eisenbahnen nicht bauen, denn das Fahren würde gesund­heitsschädlich sein, und es würden nur Narren sein, die darin fahren wollten. Man musse jedenfalls eine hohe Bretterwand aufrichten, da-mit diejenigen, an denen die Eisenbahn vorbeifahre, nicht Gehirn-erschütterung kriegten. - Heute gibt es Menschen, die, bildlich ge­sprochen, glauben, man bekomme Gehirnerschütterung, wenn der Geistesforscher von den Erkenntnissen der übersinnlichen Welt redet. Aber die Zeitentwicklung wird über diese Vorurteile hinwegschreiten, wie sie über andere Vorurteile hinweggeschritten ist.

Was ich Ihnen geschildert habe, das ist die eine Art, wie man aus der physischen Welt in die überphysische Welt hinüberkommt. Man muß kämpfen mit den Grenzen der Naturerkenntnis. Man muß aber noch an eine andere Grenze kommen, wenn man in die geistige Welt hinein­kommen und Aufschluß über die übersinnliche Menschenwesenheit bekommen will. Man muß, wie man an die Grenzen der äußeren Natur-erkenntnis kommt, an die Grenzen der Erkenntnis des eigenen Wesens kommen.

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Sehr viele Menschen, die daran verzweifeln, daß ihnen für ihr inneres Seelenleben Befriedigung durch ihre alten religiösen Überlieferungen werden kann, greifen zur sogenannten Mystik, indem sie glauben, wenn sie sich in ihre Seele innerlich immer tiefer und tiefer versenken, werde ihnen das innere Seelenleben, die menschliche Natur aufgehen. Viele Menschen glauben, daß mystisch heraufquellen kann, was ihre wahre Menschenwesenheit ist. Der Geistesforscher muß auch diese Grenze kennenlernen. Er muß Mystiker sein können, wie er Natur­erkenntnis entwickeln soll. Aber er darf ebensowenig, wie er bei der Naturerkenntnis stehenbleiben kann, bei der Mystik stehenbleiben. Er muß lernen, wie man durch die bloße Mystik zu nichts anderem kommt als zu Illusionen über die übersinnliche Menschenwesenheit, nicht aber zu einer wirklichen Erkenntnis dieser übersinnlichen Men­schenwesenheit. Wer ein wahrer Geistesforscher ist, ist wahrhaftig kein Illusionär. Er gibt sich keinen Täuschungen darüber hin, was er als Wirklichkeit anzuerkennen hat. Deshalb geht er auch nicht, wie der gewöhnliche Mystiker, darauf aus, allerlei Phantastisches aus dem ei­genen Innern heraufzuzaubern. Nein, da weiß er eines wiederum: In­dem er mit dem eigenen Innern kämpft, indem er da seine Überwindung durchlebt, weiß er, daß das, was die Mystiker finden, im Grunde ge­nommen nichts anderes ist als dasjenige, was seit der Geburt einmal Eindruck auf ihre Seelen gemacht hat. Sie haben es vielleicht nur dun­kel aufgenommen, es ist nicht ganz klar zu ihrer Wahrnehmung ge­kommen, es ist aber doch im Gedächtnis sitzengeblieben.

Schon die naturwissenschaftliche Forschung hat hier ganz schöne Beobachtungen gemacht. Ich will Ihnen eine kurz mitteilen, die in der naturwissenschaftlichen Literatur verzeichnet ist, die man aber ver­hundertfachen, vertausendfachen könnte. Ein Naturforscher geht ein­mal am Schaufenster einer Buchhandiung vorbei. Dabei fällt sein Blick auf ein Buch. Und während er den Buchtitel anschaut, muß er lachen. Denken Sie sich nur, ein Naturforscher muß lachen, wenn er einen ernsten Buchtitel sieht! Er kann sich nicht erklären, warum er lachen muß. Nun macht er die Augen zu, weil er glaubt, er komme eher darauf, wenn er nicht durch den äußeren Eindruck abgelenkt wird. Indem er die Augen zumacht, hört er in der Ferne, was er vorher, solange er abgelenkt

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worden war, nicht gehört hatte, eine Drehorgel. Und indem er weiterforscht' ergibt sich ihm, daß die Drehorgel eine Melodie spielt, nach der er früher einmal getanzt hat. Damals hat das keinen starken Eindruck auf ihn gemacht, die Tänzerin hat ihn mehr interessiert, oder auch die Tanzschritte. Der Eindruck der Melodie selbst war damals schwach, aber doch stark genug, um im späteren Leben wieder aufzu­treten, als der Forscher die gleiche Melodie von der Drehorgel her hört!

Solche Dinge und ihre Wesenheit kennt der Geistesforscher sehr genau, denn er gibt sich keinen Illusionen hin. Er weiß: Wenn mancher Mystiker davon spricht, daß er in seinem Innern den göttlichen Men­schen erlebe, daß er etwas erlebe, was ihn mit seinem Ewigen zusam­menbringt, dann sind es «die Töne der Drehorgel »: Er hat einmal et­was aufgenommen, das hat sich umgestaltet - denn solche Dinge ge­stalten sich um -, das steigt als Reminiszenz herauf. Sie finden auf dem Wege der gewöhnlichen Mystik nichts anderes, als was Sie einmal auf­genommen haben, und Sie können sich da den furchtbarsten Illusionen hingeben, indem Sie bloßer Mystiker sein wollen.

Gerade über diese Grenze muß der Geistesforscher hinwegkommen. Man lernt wiederum durch Erfahrung kennen, was sich nicht «lo­gisch» beweisen läßt, was sich aber für den Geistesforscher als eine er­lebte Erkenntnis, eine erlebte Erfahrung ergibt: man lernt erkennen, daß man durch innerliches Hineinschauen in sich sich nicht erkennen lernen darf. Denn es würde einem wiederum eine menschliche Seelen-kraft fehlen, die man für das gewöhnliche Leben haben muß, wenn man innerlich sich durchschauen könnte. Könnte man sich innerlich durchschauen, so würde man im gewöhnlichen Leben nicht haben können die Kraft der Erinnerung, die Kraft des Gedächtnisses. Und daß diese Kraft der Erinnerung, die Kraft des Gedächtnisses gesund ist, davon hängt ab, daß wir überhaupt in unserem Seelenleben gesund sind. Ist unser Gedächtnis, unsere Erinnerung gestört, ist das Ich ge­stört, so tritt eine furchtbare Seelenkrankheit auf. So daß wir sagen müssen: Wie der Mensch, damit er die Liebe hat, Grenzen im Natur-erkennen haben muß, so muß er, damit er Gedächtnis hat, in die Un­möglichkeit versetzt sein, durch bloße innere Anschauung zur höheren menschlichen Wesenheit zu kommen.

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Aber man kann nun wiederum dafür sorgen, daß diese Erinnerungs-fähigkeit fester in der menschlichen Natur sitzt als im gewöhnlichen Leben, was ebenfalls durch solche Übungen geschehen kann, wie ich sie in dem genannten Buch beschrieben habe. Wenn man an jedem Abend die Übung macht, daß man seine Tageserlebnlsse durchgeht, diese sich ganz klar bildlich vorstellt, so daß man sein Tagesleben im­mer übungsgemäß überschaut, dann setzt sich alles Gedächtnismißige fester in der Seele, als es sonst der Fall ist. Und dann kann man es ver­suchen, trivial ausgedrückt, jene Übung zu machen, die darin besteht, daß man die Zucht seiner Gewohnheiten, die Zucht seines eigenen Ich bewußt in die Hand nimmt. Bedenken Sie nur, wie wir uns von acht zu acht Tagen, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ändern! Schauen Sie sich selber an, wie Sie in Ihrer Seelen-verfassung heute sind, und vergleichen Sie es damit, wie Sie vor zehn, vor zwanzig Jahren waren. Sie werden sehen, daß der Mensch eine Entwicklung durchmacht. Aber der Mensch entwickelt sich unbewußt, das Leben entwickelt ihn.

Wie man zu einem bewußten Hinaufheben des Denkens übergehen kann, wie ich es geschildert habe, so kann man zu einer bewußten Selbstzucht übergehen, indem man immer merkt: Du machst das oder jenes schlecht, du mußt vom Leben lernen. So kann man seine Willens-entwicklung in die Hand nehmen, wie man die Gedankenentwicklung in die Hand genommen hat. Nimmt man so die Willensentwicklung in die Hand, dann entwickelt sich wiederum etwas, was einem sozusagen durchleuchtet den sonst dunklen Willen, in dem man sich im gewöhn­lichen Leben befindet: Man empfindet alles dasjenige, was man als Wil­len empfindet, von Gedanken durchsetzt. Man ist gewissermaßen der Zuschauer seines eigenen Wollens und Tuns. Kommt man dazu, so greifbar, geistig-seelisch greifbar der Zuschauer seines eigenen Wol­lens und Tuns zu sein, dann trifft das, was man da als eine höhere Wil­lensfähigkeit erhält, mit dem zusammen, was sich früher als Gedanken-tätigkeit entwickelt hat. Und jetzt tritt eine andere Fähigkeit ein: jetzt erblickt man im eigenen menschlichen Wesen etwas, was einem so un­abhängig von aller leiblichen Tätigkeit erscheint, daß man weiß: Was du so in dir trägst, das trägst du hinaus durch den Tod in die geistige

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Welt. Durch die Willenskultur lernt man das geistige Leben, das der Mensch durchlebt nach demTode, kennen,wie man durch die Gedanken-kultur das geistige Leben kennenlerut, das der Mensch vor der Geburt oder Empfängnis erlebt hat. Sie sehen, Geistesforschung kann nicht in gewöhnlicher Weise von der übersinnlichen Menschenwesenheit reden, sondern sie muß erzählen, wie man die Erfahrung macht, daß man das vor und nach dem Tode liegende Leben des Menschen anschauen kann. Indem man soin die Welt, in die eigene menschliche Wesenheit ein­dringt, tritt einem wiederum das soziale Leben in einer neuen Gestalt entgegen. Man beobachtet, wie man mit anderen Menschen zusammen das oder jenes erlebt, wie man mit anderen Menschen in Beziehungen tritt, wie man mit anderen Menschen befreundet oder durch andere Verhältnisse in der Welt verbunden oder wieder getrennt wird. Man lernt erkennen, daß alles, was sich so in der physisch-sinnlichen Welt abspielt, nur der Anfang von etwas ist, was sich weiterentwickelt, in­dem wir durch die Pforte des Todes schreiten. Die Beziehungen der Seele, die sich hier zwischen Mensch und Mensch anknüpfen, finden ihre Fortsetzung, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schrei­tet. Das Leben, das sich an den Tod angliedert, wird eine ganz konkrete Wirklichkeit, indem wir uns denjenigen Menschen, denen wir uns ver­bunden wissen hier durch unsere Beziehungen im sinnlichen Leben, auch verbunden wissen über den Tod hinaus.

Das sind Dinge, die heute den Menschen noch sonderbar erscheinen, die aber von den Aufgaben unserer Zeitkultur bewältigt werden müs­sen. Werden sie das, dann wird noch etwas ganz anderes vor den Men­schen hintreten. Dann wird der Mensch dasjenige in einem ganz an­deren Licht erkennen, was er heute seine eigene Menschheitsentwick­lung nennt, was er heute die Geschichte nennt. Entwickelt man solche Fähigkeiten wie diejenigen, von denen ich gesprochen habe, dann schaut man auch in das Geschichtliche bei der Menschheit anders hinein, als es die Fable convenue angibt, die man heute Geschichte nennt und die in der Zukunft etwas ganz anderes werden muß. Ich will Ihnen am Ende meiner Auseinandersetzungen ein Beispiel geben, um Ihnen zu zeigen, wie der Mensch der Zukunft in die geschichtliche Entwick­lung der Menschheit selber hineindringen muß.

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Man merkt es gewöhnlich nicht, aber es ist an einem gewissen histo­rischen Punkte der neueren Zeit eine große Wende für die Mensch­heitsentwicklung eingetreten. Das war in der Mitte des 1 5. Jahrhun­derts. Man sagt so gewöhnlich, die Natur mache keine Sprünge. Es ist das ein Ausspruch, an den allgemein geglaubt wird, obwohl er falsch ist. Die Natur macht fortwährend Sprünge. Betrachten Sie die Ent­wicklung einer Pflanze, wie sich aus einem Blatt die Blume mit Staub-gefäßen und Stempel, und zuletzt die Frucht entwickelt! So macht auch das geschichtliche Leben Sprünge. Und ein solcher Sprung, den man nur nicht bemerkt, weil man die Geschichte so äußerlich betrachtet, ist in der Mitte des 15. Jahrhunderts eingetreten. Das erweiterte mensch­liche Schauen, das überwindet, so wie es die Erlebnisse zwischen Ge­burt und Tod überwindet, auch dasjenige, was sich nur in der äußeren Geschichte, in den äußeren Tatsachen darstellt, und es sieht hinein in den Geist des geschichtlichen Wirkens. Und so zeigt sich dieser An­schauung, daß wir seit der Mitte des ,5. Jahrhunderts in dem Zeitalter leben, das noch lange andauern wird, das ein anderes Zeitalter ablöste, das im 8.Jahrhundert vor Christus begonnen und das bis in die Mitte des i 5. Jahrhunderts gedauert hat. In dieses Zeitalter, vom 8. Jahrhun­dert vor Christus bis zum 15. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, fällt alles dasjenige hinein, was die ausgezeichnete griechische Kultur mit ihrer Schönheit war, was als die römische Kultur da war, und die Nach­wirkung des Griechentums und des Römertums. Und seit der Mitte des 15. Jahrhunderts haben wir, wie ich es gleich nachher charakteri­sieren werde, unsere neuzeitliche Kultur mit der neuzeitlichen Mensch­heit.

Wodurch unterscheiden sich diese beiden Kulturen? Sie unterschei­den sich durch etwas, was der Mensch in der gegenwärtigen Zeit noch nicht sehen und anerkennen will. Vor dem 15. Jahrhundert, bis zurück zu dem 8. Jahrhundert vor Christi Geburt, war der Mensch in einer ganz anderen Art entwicklungsfähig als heute. Ich kann Ihnen das auf folgende Weise klarmachen. Denken Sie einmal, wie der Mensch in den Jahren ist, bevor er seinen Zahnwechsel gegen das siebente Jahr durch-macht, und wie das Epoche macht in seinem Leben I Sie können darüber das Nähere nachlesen in der kleinen Schrift über «Die Erziehung des

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Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft». Sie werden sehen, was das für den genaueren Beobachter der menschlichen Natur eigentlich in Wirklichkeit bedeutet, was das Kind mit dem Zahnwech­sei durchmacht. Da ist ein Parallelismus vorhanden zwischen der äuße­ren Leibesentwicklung und der inneren Seelenentwicklung. Dann ist wiederum ein nächster Entwicklungspunkt in der Zeit der Geschlechts-reife, im vierzehnten, fünfzehnten Jahr. Dann wird der Parallelismus zwischen Leib und Geist weniger deutlich, aber er dauert für die gegen­wärtige Menschheit doch ungefähr bis zum siebenundzwanzigsten Jahr. Im siebenundzwanzigsten Jahr hört man auf, diesen Zusammen­hang zwischen der geistig-seelischen Entwicklung und der leiblichen Entwicklung stark zu empfinden. Dieses Merkwürdige, daß der Mensch im siebenundawanzigsten Lebensjahr seine leiblich-körper-hafte Entwicklung abschließt, ist erst seit der Mitte des i 5. Jahrhun­derts hervorgetreten. Das war anders in dem vorhergehenden Zeit­raum. Was hier durch Geistesforschung erkannt werden kann, ist eine unendlich bedeutungsvolle menschliche Entwicklungswahrheit. In der Griechenzeit, in der Römerzeit stand der Mensch so in seiner Ent­wicklung darin, daß er bis zum dreiunddreißigsten, zum fünfund­dreißigsten Jahr hin einen Parallelismus seiner körperlichen und seiner geistig-seelischen Entwicklung hatte. Der Grieche entwickelte der­artige Eigenschaften, wenn auch nicht in solcher Stärke, wie es der Zahnwechsel und die Geschlechtsreife sind, bis in seine Dreißigerjahre hinein. Das machte jene merkwürdige Harmonie des Seelischen und des Leiblichen in den Griechen aus. Das ist der Fortgang, den die Menschheitsgeschichte zeigt, daß wir immer weniger der Jugendjahre haben, immer weniger das haben, was uns in den früheren Jahren emanzipierte von dem Körperlich-Leiblichen. Das bedingt aber auch eine ganz andere Stellung des Seelisch-Geistigen zum Weltenwesen beim Menschen. In dem langen Zeitraum vom 8. vorchristlichen bis zum 15. nachchristlichen Jahrhundert entwickelte der Mensch mehr einen instinktiven Verstand, ein instinktives Gemütsleben. Alles, was in diesem Zeitraum lebt, ist durchsetzt von diesem instinktiven Ver­standes- und Gemütsleben. Aber seit der Mitte des i 5. Jahrhunderts entwickelte der Mensch ein bewußteres Verstandesleben und ein bewußteres

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Gemütsleben und damit die Forderung, sich auf die freie Persönlichkeit zu stellen. Diese Forderung der menschlichen Natur, sich auf die freie Persönlichkeit zu stellen, entwickelt sich erst in der Geschichte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts.

Damit aber ist auch erklärlich, wie die großen Ereignisse in die Menschheitsentwicklung anders hineinfallen, je nachdem sie in der einen oder anderen Epoche auftreten. In diejenige Epoche, die der unseren vorangegangen ist, in welcher der Mensch bis in die Dreißiger-Jahre hinein körperlich entwicklungsfähig geblieben ist, in das erste Drittel dieser Epoche hinein fiel das größte Ereignis der Erdenent­wicklung, dasjenige Ereignis, das der Erdenentwicklung eigentlich erst den richtigen Sinn gibt, das Ereignis des Mysteriums von Golgatha, die Begründung des Christentums. Im ersten Drittel des griechisch-lateinischen Zeitalters spielt sich dasjenige ab, was wie das Mittel­punktsereignis der ganzen menschheitlichen Erdenentwicklung ist. So wie es sich dazumal in die Menschheit hineingestellt hat, konnte es nur naiv von der Menschheit begriffen werden in dem Zeitalter, in dem instinktive Verstandeskräfte und instinktive Gemütskräfte da waren. Aus diesen instinktiven Kräften heraus haben sich in jenem Zeitraum die Menschen in der rechten Weise zu dem großen Ereignis stellen kön­nen, weil sie sich noch nicht bewußt, sondern naiv verhalten haben. Sie haben sich gesagt: Da geschieht nicht bloß etwas, was durch Menschen getan wird, da ist ein Übermenschliches in die irdische Entwicklung hereingebrochen. Der Christus, das übermenschliche Wesen, hat sich verbunden mit dem Leibe des Jesus von Nazareth. Was auf Golgatha geschehen ist, ist seinen physischen Tatsachen nach nur der äußere Ausdruck für etwas Übersinnliches, das sich in der Erdenentwicklung abgespielt hat.

In jenem Zeitalter also konnte man das instinktiv begreifen. Das ist anders geworden seit der Mitte des ,5. Jahrhunderts. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts hat sich der instinktive Verstand, die instinktive Ge­mütskraft verwandelt in bewußten Verstand, in bewußte Gemüts-kräfte. Das gab die Möglichkeit, die Naturwissenschaft bis zu der hohen Stufe, zu der sie gekommen ist, auszubilden, aber auch die äußere indu­strielle Entwicklung, auch den Materialismus des Zeitalters, der als

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eine Beigabe da sein mußte, um die freie Persönlichkeit auf die Spitze zu stellen. Aber aus diesem Materialismus muß wieder herausgekom-men werden, indem in einer neuen Art, wie ich es heute geschildert habe, der Weg in die geistige Welt hinein gesucht wird. Materialistisch ist das Zeitalter geworden in der Epoche, in der sich die Bewußtseins-seele des Menschen aus der frtheren instinktiven Seele entwickelt hat. Da ist zu dem äußeren Materialismus auch der Materialismus der Theo­logie aufgetreten. Bedenken Sie, wie in weiten Kreisen selbst die Theo­logie, die Religionsanschauung vom Materialismus effaßt worden ist, wie der Mensch des Bewußtseinszeitalters unfähig wurde, in dem Er­eignis von Golgatha ein Übersinnliches zu erkennen, wie er immer mehr und mehr dazu kam, es in die Sinnlichkeit herabzuziehen; wie er endlich stolz darauf wurde, wie selbst zahlreiche Theologen stolz dar­auf wurden, nicht mehr in dem Christus die übersinnliche Wesenheit zu sehen, die in den Leib eines Menschen auf die Erde herabgestiegen ist, sondern nur zu sehen den «schlichten Mann aus Nazareth», der zwar etwas größer ist als andere Menschen, aber doch bloß ein Mensch ist. Daß in dem Mysterium von Golgatha, in dem Tod und der Aufer­stehung Christi, die größte Tatsache der Welt- und Menschheitsent-wicklung vor uns steht, das ging dem materialistischen Zeitalter bis jetzt nicht auf. Die Religion selber wurde vermaterialisiert. Der schlichte Bekenntnisglaube wird nicht imstande sein, diese Vermateria­lisierung der Religion aufzuhalten. Aufgehalten werden kann sie nur durch die bewußte Geist-Erkenntnis, von der ich heute gesprochen habe. Sie wird sich wiederum erheben zu der Erkenntnis, daß in dem Jesus von Nazareth ein überirdisches, ein übersinnliches Wesen lebte, das sich seit jener Zeit mit der Menschheitsentwicklung vereinigt hat. Das Mysterium von Golgatha wird durch die antliroposophisch orien­tierte Geisteswissenschaft wiederum in den Gesichtskreis der mensch­lichen Anschauungen hineingestellt werden; jetzt aber so hineingestelk werden, daß es der Engherzigkeit der einzelnen Konfessionen ent­hoben wird.

Was sich als geistige Anschauung des übersinnlichen Menschen ent­wickeln wird, so wie ich es heute dargestellt habe, das wird möglich machen, daß es in jedem Menschen über die ganze Erde hin ohne Ras­sen- und Volksunterschiede

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lebt. Von da aus wird aber auch der Weg zum Mysterium von Golgatha geflinden werden, und alle Menschen über die ganze Erde hin werden dieses Christus-Ereignis verstehen, be­greifen lernen. Man schwärmt in unserer Zeit - man tut das so leicht -vom sogenannten Völkerbund; man schwärmt von diesem Völker­bund in der utopistischen Weise, wie er in dem so abstrakt denkenden Kopfe des Woodrow Wilson entstanden ist. In dieser Weise wird er nicht entstehen können. Er braucht Wirklichkeitsgrundlagen, und diese müssen vom Innersten der Seele des Menschen ausgehen. Das ist die Aufgabe der heutigen Zeit. Nur in dieser Fähigkeit der Seele, die auf den Weg zur Erkenntnis des übersinnlichen Menschen führt und die die Menschen der ganzen Erde eint, nur durch eine solche Erkenntnis, die das Christus-Ereignis anschauen kann als ein übersinnliches Ereig­nis, nur in einem solchen Impuls, der über die Völker hin wirkt, der durch die Völker über alle Grenzen hinüberwirkt, liegt die reale Kraft für einen künftigen wahren Völkerbund über die Erde hin. So muß das Christentum seine neuen Wurzeln in die menschliche Kultur einschla­gen.

Das zeigt Ihnen die andere Seite zu dem, was ich im vorigen Vortrag hier sagen durfte. Das zeigt Ihnen diejenige Seite, die dem menschli­chen inneren Seelenleben entspricht, die in dem Menschen wiederum soziale Triebe entfachen wird, wenn sie ihn erflillen wird. Zu der Ent-gegennahme dieser Geisteswissenschaft braucht man keinen Autori­tätsglauben, wie zu der Entgegennahme des anderen Wissenschaft­lichen, was herausgetragen wird, sagen wir, von der Sternwarte über Astronomie, von der Medizin über die Beschaffenheit der physischen Menschennatur. Das muß auf Autorität hin angenommen werden, wenn man nicht selber Astronom oder Physiologe und so weiter wer­den will. Was Ihnen aber der Geistesforscher sagt, das brauchen Sie nicht auf Autorität hin zu glauben. Sie brauchen auch nicht selbst ein Geistesforscher zu sein, wie Sie nicht Maler zu sein brauchen, um die Schönheit eines Bildes zu finden. Sie können die Geisteswissenschaft durch Ihren gesunden Menschenverstand aufnehmen, ohne selbst Gei­stesforscher zu sein, - wenn man nur die Vorurteile, die aus dem heuti­gen Materialismus heraus sich entwickelt haben, hinwegräumt. Weil

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alles Geisteswissenschaftliche in den Untergründen der menschlichen Seele veranlagt ist, kann man es ohne Autoritätsglauben einsehen. Und dieses Einsehen, dieses Vertrauen-Haben zu den Offenbarungen der Geisteswissenschaft, das ist etwas, was sich in die Aufgaben unseres Zeitalters hineinleben muß. Dann wird dieses Zeitalter eine Erneuerung erfahren. Dann wird diesem Zeitalter das Ferment gegeben werden zu dem, was als äußere Einrichtung eines Neuaufbaus eine entsprechende Rolle wird spielen müssen.

Denn was sehen wir, indem wir so recht das Wesen der gegenwärti­gen Zeit zu verstehen suchen? Ich möchte sagen: Zwei Wege sehen wir, der eine links, der andere rechts. Der eine gibt uns die Möglich­keit, stehenzubleiben bei denjenigen Anschauungen, die die bloße Naturwissenschaft gebracht hat, und von dieser Anschauung, die die Naturwissenschaft gebracht hat, nun auch überzugehen zu den sozialen Anschauungen; also von dem Glauben auszugehen, man könne mit demselben Ideenvermögen, mit dem man die Natur begreift, auch das soziale Leben begreifen. Das haben Karl Marx und Friedrich Engels getan, das tun Lenin und Trotzkij. Deshalb kommen sie zu ihren Wegen. Das sehen die Menschen heute noch nicht ein, daß die Naturwissen­schaft auf der einen Seite steht, und daß ihre letzten Konsequenzen in dem sozialen Chaos, im sozialen Niedergang zum Ausdruck kommen. Der furchtbare Glaube, der im Osten Europas jetzt alle wirkliche menschliche Kultur vernichten will, dieser furchtbare Glaube des Le­nin und Trotzkij, er geht hervor aus dem anderen Glauben, daß man die Wege der naturwissenschaftlichen Erkenntnis auch im sozialen Leben gehen müsse. Was ist denn geschehen unter dem Einfluß dieses neueren materialistisch-naturwissenschaftlichen Glaubens? Es ist das geschehen, daß unser ganzes Geistesleben mechanisiert worden ist. Da­durch aber, daß unser Geistesleben sich nicht mehr erhebt zu Gedanken über den übersinnlichen Menschen, daß es sich mechanisiert an der äußeren mechanistischen Naturanschauung, dadurch werden zu glei­cher Zeit die Seelen vegetarisiert, pflanzenähnlich, schiäfrig gemacht. So sehen wir, daß wir neben dem mechanisierten Geist eine vegetari­sierte Seele im modernen Kulturleben haben. Aber wenn die Seele nicht durchwärmt ist vom Geiste, wenn der Geist nicht durchleuchtet

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ist von dem übersinnlichen Erkennen, dann entwickeln sich im Leibe die tierischen Eigenschaften, die heute in den antisozialen Trieben le­ben und die im Osten von Europa zum Henker der Kultur werden wollen. Dann entwickelt sich unter dem Vorgehen, sozialisieren zu wollen, das Allerantisozialste; dann wird das leibliche Leben neben dem mechanisierten Geiste, der vegetatisierten Seele, animalisiert. Die wildesten Instinkte und Triebe treten als historische Forderungen auf. Das ist der Weg, der links geht.

Der andere Weg, der rechts geht, ist der, der sich in der heute mit­geteilten Weise hineinfindet in die Anschauung des übersinnlichen Menschen, der übersinnlichen Welt, der auch die Entwicklung des Menschen im übersinnlichen Lichte schaut, der hinaufdringt zum wirklich freien Geiste.

Aus den Ideen, aus denen ich die Freiheit des menschlichen Fort-schritts schildern wollte in meinem Buche «Die Philosophie der Frei­heit », wollte ich den Grund legen zu demjenigen, das der Mensch er­leben kann als Bewußtsein seiner wirklichen inneren Freiheit durch das Ergreifen des geistigen Lebens. Nur der Geist, der den Menschen durchdringt, kann wahrhaftig frei werden. Derjenige Geist, der nur die Natur durchdringt und alles soziale Leben nach dem Muster der neueren Naturwissenschaft formen wollte, wird mechanistisch unfrei. Und die Seele, die nur von diesem Geiste durchdaungen ist, schiäft wie die Pflanze. Diejenige Seele, die durchwärmt wird von dem wahren pulsierenden Wollen der Geist-Erkenntnis der übersinnlichen Men­schennatur, diese Seele tritt vor den anderen Menschen im sozialen Leben hin, sie lernt im anderen Menschen den übersinnlichen Men­schen schätzen. Sie lernt das Göttliche im Urbild in jedem Menschen schauen. Sie lernt soziales Fühien jedem Menschen gegenüber. Sie lernt, wie mit Bezug auf diese innerste Seele alle Menschen hier auf der Erde gleich sind. Und in dieser vom Geiste durchwärmten Seele kann sich, auf dem anderen Wege rechts, Gleichheit entwickeln. Und werden die Leiber durchtränkt und durchgeistigt von dem übersinnlichen Be­wußtsein, werden sie durchwärmt, werden sie veredelt von dem, was die Seele aufnimmt, indem sie erweckt wird durch den Geist, nicht vegetarisiert bleibt, dann werden die Leiber auch nicht animalisiert;

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dann werden die Leiber so, daß sie das entwickeln, was man im weitesten Urufang echte Liebe nennen kann. Dann dann weiß der Mensch, daß er in seinen Erdenleib als übersinnliches Wesen einzieht, daß er in diesen Leib einzieht, um die Liebe in diesem Leibe zu entwickeln, um zu dem Geiste hin die Liebe zu entwickeln. Dann weiß er, daß im Erdenleibe Brüderlichkeit sein muß, sonst kann in der unbrüderlichen Menschheit der Einzelne nicht ein ganzer, ein voller Mensch sein.

So führt uns die Fortsetzung des alten Weges zur Mechanisierung des Geistes, zur Vegetarisierung der Seele, zur Animalisierung des Lei­bes. So führt uns der Weg, der durch Geisteswissenschaft gezeigt wer­den soll, zu den wahren sozialen Tugenden, aber zu den sozialen Tu­genden, die vom Geiste durchieuchtet, von der Seele durchwärmt sind; die von dem veredelten Menscheuleibe ausgeführt werden.

So führt uns die geistige Erkenntnis des übersinnlichen Menschen dazu, auf der Erde in einem schönen Neubau der Zukunft zu begrün­den: Freiheit im Geistesleben. Der durchgeistigte Mensch wird ein freier Mensch sein. Gleichheit im geistdurchwärmten Seelenleben: Die Seele, die den Geist in sich aufnimmt, wird die andere Seele, die ihr im sozialen Leben entgegentritt, als ihr gleich, wahrhaftig wie in einem großen Geheimnis erfassen und behandeln. Und der veredelte Leib, der durch den Geist und die Seele veredelte Leib, er wird zum Ausüber wahrster, echtester Menschenliebe, der wahren Brüderlichkeit. So wird die soziale Menschenordnung in Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit durch die richtige Erfassung von Leib, Seele und Geist erfolgen können.

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DIE VERWIRKLICHUNG DER IDEALE FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT DURCH SOZIALE DREIGLIEDERUNG Berlin, 15. September 1919

Das ist ja zweifellos, daß durch die Weltkriegskatastrophe und alles, was mit derselben in schreckvoller Weise zusammenhängt, die soziale Frage für die Menschheit der Gegenwart ein neues Gesicht ange­nommen hat. Freilich sehen noch keineswegs Kreise, die weit genug sind, in wünschenswerter Art diese Veränderung des Antlitzes der sozialen Frage. Aber sie ist da, und sie wird sich immer mehr und mehr geltend machen.

Diejenigen Menschen, welche den herrschenden, den führenden Kreisen bis in unsere Gegenwart herein angehörten, werden durch die Macht der Tatsachen sich gezwungen sehen, nicht mehr gegenüber der sozialen Frage stehenzubleiben bei der Ausgestaltung einzelner Ge­danken und Maßnahmen, die durch dasjenige herausgefordert sind, was gerade auf dem einen oder anderen Betriebsgebiete, innerhalb des einen oder anderen Kreises des Proletariats sich abspielt. Diese Kreise werden gezwungen werden, in umfassender Art ihre Gedanken und die Richtungen ihres Wollens auf die soziale, als die bedeutungsvollste Frage im Leben der gegenwärtigen Menschen und im Leben der nächsten Zukunft zu wenden. Wird so der Mensch der bisher führenden Klassen nur dann seine Zeit verstehen, wenn er in dem eben angedeu­teten Sinne in sein ganzes Denken, Fühien und Wollen eine neue Ge­stalt der sozialen Frage aufzunehmen in der Lage sein wird, so wird es auf der anderen Seite aber auch für die breiten Massen des Proletariats notwendig sein, eine wesentliche Anderung ihrer Einstellung zur sozialen Frage zu bewirken.

Durch mehr als ein halbes Jahrhundert haben die breitesten Massen des Proletariats soziale und sozialistische Ideen ergriffen. Wir haben gesehen - wenigstens diejenigen Menschen, die nicht schlafend die letzten Jahrzehnte miterlebt haben -, welche Wandlungen die soziale Frage innerhalb der Reihen des Proletariats durchgemacht hat. Man hat sehen können, welche Gestalt sie in dem Augenblick angenommen

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hatte, als die Schreckenskatastrophe, die man einen «Weltkrieg» nennt, ausgebrochen ist. Dann kam das vorläufige Ende dieser furchtbaren Katastrophe. Das Proletariat sah sich in einer neuen Lage. Es sah sich jetzt nicht mehr wie früher bloß in eine gesellschaftliche Ordnung ein­gespannt, welche, wenigstens für Mittel- und Osteuropa, von den alten regierenden Mächten beherrscht wurde. Dieses Proletariat selber war in einem weitgehenden Maße aufgerufen, nunmehr an der Neugestal­tung der sozialen Einrichtung der Menschheit zu arbeiten. Und gerade dieser Tatsache, dieser völlig neuen geschichtlichen Tatsache gegen­über erlebten wir etwas ungemein Tragisches.

Die Ideen, denen sich das Proletariat durch Jahrzehnte, man darf sagen, mit seinem Herablut hingegeben hatte, erwiesen sich als nicht tragfähig jetzt, da sie in ihre Verwirklichung eintreten sollten! Und jetzt erlebten wir einen großen geschichtlichen Widerspruch, eigent­lich Widerstreit. Wir erlebten, wie die Tatsachen selber, die weitge­schichtlichen Tatsachen, die sich um uns herum abspielten, zum großen Lehrmeister der Menschheit werden konnten. Wir erlebten, wie diese Tatsachen auf der einen Seite zeigten, daß die bisher führenden leitenden Kreise im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte keine Ideen entwickelt hatten, welche richtunggebend sein können und konn­ten für das, was sich namentlich in wirtschaftlichen, aber auch in an­deren sozialen Tatsachen des menschlichen Erlebens abspielte. Das Merkwürdige erlebte man, daß diejenigen, welche innerhalb der Tat­sachenwelt die Macht hatten zu handeln, zu wirken, sich dazu gebracht hatten, die Tatsachen wie von selbst sich ablaufen zu lassen. Die Ge­danken, die Ideen waren zu kurzmaschig geworden, um noch die Tat­sachen in sich einbeziehen zu können. Die Tatsachen des Lebens waren den Menschen über den Kopf gewachsen. Dies zeigte sich ganz be­sonders schon durch lange Zeiten hindurch im Wirtschaftsleben, wo der Wettstreit auf dem sogenannten « freien Wirtschaftsmarkt» als einzigen Antrieb in der Regelung der Wirtschaft « Profit» und ähn­liches zurückgelassen hatte, wo nicht die Ideen wirkten, die das Wirt­schaftsleben einzig und allein nach den Fragen der Gütererzeugung, des Güterumlaufs und des Güterverbrauchs gestalteten, sondern dasjenige, was aus dem Zufall des freien Marktes fortwährend in Krisen hineinführen

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konnte. Und sehen kann, wer nur sehen will, wie zuletzt dadurch, daß der soziale Betrieb dieser gedankenlos abrollenden Tatsachen sich über die großen Staatsimperien ausgedehnt hatte, auch die Angelegen­heiten dieser großen Staatsimperien ins Rollen kamen, ohne daß die Menschen durch ihre Gedanken imstande waren, die rollenden Tat-sachen irgendwie zu meistern oder zu ihrer Orientierung irgend etwas zu tun.

Gerade solchen Dingen gegenüber sollte der Mensch der Gegen­wart nachdenklich werden. Er sollte sich vor die geistigen Augen füh­ren können, daß es heute in der Tat notwendig ist, tiefer in das Men­schengetriebe hineinzuschauen, um so etwas wie die soziale Frage anders zu begreifen, als es gewöhnlich geschieht. Es ist ja handgreiflich, wie die Gedanken gegenüber den rollenden Tatsachen zu kurz ge­worden sind. Aber die Menschen wollen solche Dinge nicht sehen. Sie haben sich im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte angewöhnt, Geschäftsroutine, öffentliche Routine für « Lebenspraxis » zu nehmen. Sie haben sich angewöhnt, jeden, der etwas hinausschaut und aus einem Überblick über die Dinge urteilen kann, für einen Utopisten oder un­praktischen Idealisten zu halten. Ich darf. um das, was ich eben gesagt habe, nur etwas zu illustrieren, von einer scheinbar persönlichen Be­merkung ausgehen. Aber diese persönliche Bemerkung ist nicht per­sönlich gemeint. Denn heute, wo das Schicksal des Einzelnen so eng mit dem allgemeinen Schicksal der Menschheit verstrickt ist, können nur ehrlich gemeinte Tatsachen, die selbst beobachtet sind, hinreichend illustrativ wirken für das, was im öffentlichen Leben die Impulse, die Antriebe sind.

Im Frühfrühling des Jahres 1914 war ich in einer Vortragsserie, die ich in Wien über geisteswissenschaftliche Gegenstände gehalten habe, damals, Monate vor dem Ausbruch des sogenannten Weltkrieges, ge­nötigt, vor einer kleinen Versammlung - hätte ich dasselbe vor einer größeren gesagt, sie hätte mich selbstverständlich ausgelacht - das­jenige zusammenzufassen, was sich mir als Ansicht über das soziale Werden der gegenwärtigen Verhältnisse bilden mußte. Ich sagte da­mals: Für den, der mit wachem Seelenauge überblickt, was in unserem öffentlichen Leben innerhalb der zivilisierten Welt geschieht, zeige sich

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dies durchsetzt wie von einer sozialen Geschwürbildung, einer schwe­ren sozialen Krankheit, einer Art sozialer Krebsbildung. Und was so schieichende Krankheit innerhalb unseres Wirtschaftslebens, aber auch innerhalb unseres ganzen sozialen Lebens ist, das müsse in der nächsten Zeit in einer furchtbaren Katastrophe zum Ausdruck kommen.

Nun, was war man im Frühfrühing 1914, wenn man von einer bevor­stehenden Katastrophe sprach aus den Ereignissen heraus, die sich gewissermaßen unter der Oberfläche der Dinge abspielten? Man war ein «unpraktischer Idealist » - wenn einem die Leute nicht sagen woll­ten, daß man ein Narr ist. Was ich damals sagen mußte, kontrastiert allerdings mit dem, was in jener Zeit und sogar noch etwas später die sogenannten «Praktiker » sagten, jene verantwortlichen Praktiker, die Routiniers waren, statt Praktiker zu sein, die aber hochmütig auf jeden herunterschauten, der aus irgendeiner Ideenerkenntnis die Zeitge­schichte zu erfassen versuchte. Was sagten jene Praktiker über die da­malige Zeit? Einer jener Praktiker, der sogar Außenminister eines mitteleuropäischen Staates war, verkündete den erleuchteten Vertre­tern seines Volkes kurz darauf, die allgemeine Entspannung der poli­tischen Lage mache erfreuliche Fortschritte, so daß man sich in der nächsten Zeit auf einen friedlichen Zustand innerhalb der europäischen Völker gefaßt machen dürfe. Er fügte hinzu: Unsere freundnachbar­lichen Verhältnisse zu Petersburg stehen aufs allerbeste, denn dank der Bemühungen der Regierungen kümmert sich das Petersburger Kabi­nett nicht um die Auslassungen der Pressemeute, und unsere freund­schaftlichen Beziehungen zu Petersburg werden sich auch für die Zu­kunft so gestalten, wie sie bisher waren. Und unsere Unterhandlungen mit England hoffen wir zu einem solchen Abschiuß zu bringen, daß auch zu England in der nächsten Zeit schon die allerbesten Beziehungen vorhanden sein werden. - Der das sagte, war ein «Praktiker». Was der andere sagte, war «graue Theorie»!

An unzähligen Beispielen könnte man die Anschauungen, besser gesagt, die Einsichten in die Tatsachen von seiten der Praktiker im Beginne jener Zeit, die so schreckensvoll für die Menschheit geworden ist, charakterisieren. Es ist ja in der Tat sehr lehrreich, die Tatsachen sprechen deutlich, wenn man sieht, daß solche Praktiker von dem Frieden

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redeten - und die nächsten Monate diesen Frieden so brachten, daß durch einige Jahre hindurch die zivilisierten Völker sich damit be­schäftigten, zehn bis zwölf Millionen Menschen, gering gerechnet, tot­zuschlagen und dreimal soviel zu Krüppeln zu machen. Ich wlli diese Dinge nicht der Aufwärmung von Sensationen willen erwähnen. Ich muß sie erwähnen, weil sich daran zeigt, wie die Gedanken der Menschen kurzmaschig geworden sind und nicht mehr ausreichen, um die Tat­sachen zu meistern. Man wird diese Vorgänge erst dann im richtigen Lichte sehen, wenn man in den Tatsachen den großen Lehrmeister dafür anerkennen wird, daß wir nötig haben, um zur Wiedergesundung unserer sozialen Verhältnisse zu kommen, nicht an kleine Umwand-lungen von diesen oder jenen Einrichtungen zu denken, sondern an ein großes Umlernen und Umdenken, nicht an eine kleine Abrechnung, sondern an eine große Abrechnung mit dem Alten, das morsch und faul ist und nicht mehr hineinmünden darf in das, was für die Zukunft ge­schehen soll.

Was man so für die großen Angelegenheiten der Menschheit sagen kann, könnte man auch für das Rechts- oder Wirtschaftsleben im ein­zelnen sagen. Überall wird so geredet, daß die Gedanken nicht aus­reichen, um die Tatsachen zu meistern. Daher kann man sagen, die bisher leitenden führenden Kreise haben die Praxis, ihnen fehien aber für diese Praxis die nötigen wirksamen lebenspraktischen Ideen und Gedanken. Und diesen führenden Kreisen steht gegenüber die große Masse des Proletariats. Dieses Proletariat hat sich in einer, man darf sagen, strammen Schulung der marxistischen Gedanken herangebildet durch mehr als ein halbes Jahrhundert. Aber heute ist es nicht etwa richtig, herumzuschauen bei den proletarischen Massen, um sich zu informieren, wie sie denken. Es ist verhältnismäßig leicht, sogar manch­mal recht, recht leicht, sachgemäß dasjenige zu widerlegen, was die proletarischen Massen und ihre Führer über wirtschaftliche Angelegen­heiten denken. Aber darauf kommt es nicht an. Sondern darauf kommt es an, daß es eine geschichtliche Tatsache ist, daß durch die Seelen, durch die Herzen der proletarischen Massen die Niederschiäge von dem ge­gangen sind, was aus intensiv wirkenden Gedanken sich herausge­bildet hat, man möchte schon sagen, als eine proletarische Theorie.

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Aber diese Theorie, die jetzt, nachdem das Alte zusammengebrochen war, sich wahrhaffig schon mehr hätte bewähren können, als sie sich gegenüber der Lebenspraxis bewährt hat, diese Theorie zeigt eine ganz besondere Eigentümlichkeit, die begreiflich ist. Denn so wie die Dinge in der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit durch den Ein­fluß der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der neueren Technik im Laufe der drei bis vier letzten Jahrhunderte, insbesondere aber des neunzehnten, sich herausgebildet haben, wurde das Proletariat immer mehr und mehr eingespannt bloß in das wirtschaftliche Leben; aber so eingespannt, daß jeder einzelne Angehörige dieses Proletariats eine sehr eng umgrenzte Arbeit zu leisten hatte. Diese eng umgrenzte Arbeit war im Grunde genommen alles, was er von dem immer umfassender werdenden Wirtschaftsleben real sah. Was Wunder, daß der Proletarier erlebte - erlebte an dem Schicksal seines Leibes und seiner Seele -, wie sich das neuere Wirtschaftsleben unter dem Einfluß von Technik und Privatkapital entwickelte, daß er aber die Triebräder und Triebfedern, die in diesem Wirtschaftsleben wirkten, nicht überschauen konnte! Er war sozusagen der Arbeitende an diesem Wirtschaftsleben, aber er war durch seine soziale Position verhindert, sachgemäß hineinzuschauen in die Ordnung dieses Wirtschaftslebens, in die Art, wie dieses Wirt­schaftsleben verwaltet wird. Und nur allzu begreiflich ist es, daß sich durch solche Tatsachen etwas herausbildete, dessen Früchte nun eben da sind. Es bildete sich wie aus unterbewußten, instinktiven Trieben und Forderungen des Proletariats eine weitgehende proletarische so­zialistische Theorie heraus, die aber im Grunde genommen sowohi von den wirtschaftlichen wie von den anderen sozialen Tatsachen sehr, sehr weit entfernt ist, weil ja der Proletarier keinen Einblick in die eigentlichen Triebräder und Triebfedern der wirtschaftlichen und an­deren sozialen Tatsachen gewinnen konnte und daher hinnehmen mußte, was ihm auch in einseitiger Weise durch den Marxismus ge­bracht wurde. Und so finden wir, daß im Laufe von Jahrzehnten Dinge sich tief einfraßen in das Gemüt der proletarischen Menschen, Dinge, die im Grunde genommen, im wesentlichen, so tief wie nur möglich berechtigt sind, - die aber an den Tatsachen völlig vorbeigehen.

Ich möchte ein Beispiel nennen. Wie stark hat in der Agitation, die

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sich über das Proletariat aus den theoretischen Anschauungen seiner Führer heraus ergossen hat, zum Beispiel das Wort gewirkt: Es darf in der Zukunft nicht mehr produziert werden, um zu produzieren. Es darf nur produziert werden, um zu konsumleren I - Gewiß, ein treffen­des Wort, ein Wort, das - was nicht von vielen Schlagworten der Ge­genwart gesagt werden kann - sogar «wahr » ist, aber ein Wort, das ein wesenloses Abstraktum wird und einem entschiüpft, wenn man es mit praktischem Sinn, mit wirklicher Einsicht in die Wirtschaftsver­hälmisse durchdenkt. Denn der Praxis kommt es darauf an: Wie macht man die Dinge? Der Praxis gegenüber ist nichts getan, wenn man bloß die Forderung erhebt: man solle nur produzieren, um zu konsu­mieren. Das ist etwas, was die Vorstellung vor die Seele ruft, wie schön das Wirtschaftsleben sein könnte, wenn nicht mehr der Profit herrschte, sondern stets nur der Ausblick auf den Konsum. Aber es liegt gar nichts in diesem Satz, was irgendwie darauf hinwiese, wie nun die Struktur des Wirtschaftslebens gestaltet werden solle, damit die Empfindung, die in diesen Worten sich ausdrückt, wirklich Platz greifen könne. Und so ver-hält es sich mit vielen der Worte - wir werden noch mancherlei berüh­ren-, die manchmal tiefen Wahrheiten entstammen, die aber Agitations­undParteischlagworte des Proletariats geworden sind. Sie sindAbstrak­tionen geworden und nehmen sich wie utopistische Ilinweisungen auf eine unbestimmte Zukunft aus. Und wer es mit dem Proletariat ganz ehrlich meint, muß sich sagen: So lebt dieses arme Proletariat, das heute seine berechtigten Forderungen erhebt, in solchen Anschauungen, von denen zu sagen ist, daß sie zwar eine Theorie sind, aber fernstehen den Tatsachen des Lebens - weil der Proletarier aus diesen Tatsachen her­ausgerissen und an einen abgesonderten Ort hingestellt worden ist, wo er immer nur eine ganz einzelne Ecke des Lebens übersah.

Das ist der Widerstreit, auf den ich habe hinweisen wollen, der sich ausdrückt auf der einen Seite in der Verfassung der leitenden führenden Kreise, welche die Macht über die Tatsachen haben, aber keine Ideen, um diese Tatsachen zu beherrschen, - und auf der anderen Seite in dem Proletariat, welches Ideen bekommen hat, aber mit diesen Ideen als ganz abstrakten Ideen ferne den Tatsachen steht, fremd den Tatsachen gegenübersteht.

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Wenn man so etwas, wie ich es jetzt gesagt habe, durch einige Worte charakterisiert, weist man auf in der Geschichte wirkende Kräfte und Impulse hin, die im Grunde genommen bedeutungsvoller sind als irgend etwas, was sich bisher im geschichtlichen Ablauf der Mensch­heit vollzogen hat. Worte wie die von der «ideenlosen Praxis der füh­renden Kreise» und der « unpraktischen Theorie des Proletariats» wägt man nur richtig, wenn man ern Gefühi hat für das, was so furcht­bar lebendig, so einander zerstörend durch die gegenwärtigen Ent­wicklungsströmungen der Menschheit flutet. Die Tatsache, daß ein solcher Gegensatz zwischen der Seelenverfassung der leitenden füh­renden Kreise und derjenigen des Proletariats vorhanden ist, führt dazu und führte dazu, daß heute eine tiefe Kluft besteht zwischen allem, was Denken, Empfinden, Wollen und Handeln der leitenden führenden Kreise ist, und zwischen dem, was Sehnsuchten, Wünsche, Wiliensim­pulse des Proletariats sind. Man versteht nicht einmal richtig, was eigentlich heute aus den Tiefen werden sollte, was aus dem Proletariat als die Forderung der Zeit einem entgegentönt! Wenn einem aus pro­letarischen Kreisen die Lehre vom Mehrwert, die eben angedeutete Lehre, man solle nur produzieren, um zu konsumieren, die Lehre von der Umwandiung des Privateigentums in Gemeineigentum entgegen-klingt, so versteht man diese Dinge gewiß dem Wortlaute nach. Aber dieser Wortlaut der proletarischen Wünsche und Anschauungen - was ist er denn eigentlich? Ist er das, was den bürgerlich fürenden leiten­den Kreisen Veranlassung geben sollte, diese proletarischen Theorien, wenn sie ausgesprochen werden, logisch zu kritisieren? Es gibt nichts Naiveres in der Gegenwart, als wenn von proletarischer Seite her die Lehre vom Mehrwert ertönt und dann irgendein Syndikus oder Direk­tor einer Aktiengesellschaft das Selbstverständliche sagt, daß der Mehr-wert, aus den Banknoten und so weiter zusammengerechnet, so niedrig ist, daß, wenn man ihn aufteilen wollte, für den Einzelnen nichts her­auskommen würde. Es ist das Allernaivste, so sich zu verhalten zum Beispiel der Theorie des Mehrwertes gegenüber. Denn was da die Her­ren an «Rechnung » leisten, ist ja ganz selbstverständlich, dagegen ist durchaus nichts einzuwenden. Aber um diese Dinge handelt es sich gar nicht. Denn wenn man das, was unmittelbar in den Worten der prole­tarischen

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Theorien gesagt wird, in dieser Weise «widerlegen » will, dann ist das gerade so, als wenn man in einem Zimmer am Thermo-meter sieht, es zeigt so und so viele Grade, und dann, wenn einem die Anzahl der Grade nicht paßt, wenn sie zu niedrig oder zu hoch sind, etwa mit einer kleinen Flamme das Thermometer höhersteigen lassen wollte. Dadurch, daß man sich damit beschäftigt, das Thermometer zu korrigieren, beschäftigt man sich wahrhaftig nicht mit dem, was da wohl als Ursachen zugrunde liegt. Was heute proletarische Theorien sind, wörtlich zu nehmen und zu widerlegen, das ist naiv. Denn die proletarischen Theorien sind nichts weiter als - wollte ich gelehrt spre­chen, so wurde ich sagen - ein Exponent von etwas, das viel tiefer liegt, als dort, wo man es jetzt sucht. Ebenso wie das Thermometer die Tem­peratur ernes Zimmers anzeigt, aber sie nicht selbst macht, so sind die proletarischen Theorien etwas, um wie an einem Instrument, an einem Zeichen zu erkennen, was in dieser Weise in der sozialen Frage in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft lebt. Und da macht man es sich in der Regel allzu bequem. Da betrachtet man diese Frage bloß als eine Wirtschaftsfrage, weil sie einem zuerst entgegengetreten ist als eine wirtschaftliche aus den Forderungen des Proletariats heraus, das eben eingeschnürt war in das Wirtschaftsleben in der Zeit des Privat-kapitalismus und der Technik. Und man sah nicht, was eigentlich hinter all den Auffassungen steckt, die sich bei den proletarischen Theorien auf Kapital, auf Arbeit und auf Ware beziehen. Der Proletarier erlebt das gesamte Gebiet des menschlichen Lebens auf dem Felde des Wirt­schaftlichen. Daher rückt sich ihm die soziale Frage ganz in eine wirt­schaftliche Perspektive.

Wer Gelegenheit hat, sich einen weiteren Blick anzueignen, sollte sehen, wie deutlich voneinander zu unterscheiden sind drei Lebensge­biete, auf denen sich uns drei der Kernpunkte der sozialen Frage zeigen. Wer gelernt hat, nicht nur über das Proletariat zu denken - vielleicht erst jetzt zu denken, nachdem die Revolution gekommen ist -, wer ge­lernt hat durch sein Lebensschicksal, nicht bloß über das Proletariat zu denken und über dasselbe zu empfinden, sondern mit demselben zu denken und zu empfinden, der kann von dem, was in den Worten liegt, die, ich möchte sagen, als Kernworte durch alle sozialistischen Theorien

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ziehen, auf das hinschauen, was in den Tiefen der Besten der Pro­letarier vorgeht. Was sind denn solche Kernworte?

Da haben wir erstens das Kemwort vom Mehrwert, auf das ich schon hingewiesen habe. Man muß nur mit vielen Proletariern als Mensch zu Mensch verkehrt haben, und man muß gesehen haben, wie in die Gemüter der Proletarier dieses Wort vom Mehrwert eingeschia­gen hat. Und auf dieses Einschlagen kommt es an, nicht auf die theore­tische Bewahrheitung. Wer, gleich mir, in den Jahren, in welchen sich gerade einschneidend Dinge abspielten innerhalb der sozialen Bewe­gung der neueren Zeit, hier in Berlin gewirkt hat an der von Wilhelm Liebknecht, dem alten Liebknecht begründeten Arbeiterbildungs schule, der weiß einiges mehr über diese Frage, die eben angedeutet worden ist, mehr aus der Lebenspraxis heraus als vielleicht Gewerkschaftsführer und namentlich als - wie soll ich mich nun aussprechen, damit ich nicht verletze? Man hat mit Recht gesagt: es gab «Kriegsgewinnler» und nach dem Kriege « Revolutionsgewinnler »; mir ist es immer so vorge­kommen: es gab « Kriegsschwätzer » und nach dem Kriege - «Revo­lutionsschwätzer»! Aber was man unter Mehrwert verstand, das war, daß man sagte: Der Proletarier arbeitet werktätig, er bringt diese oder jene Produkte hervor. Der Unternehmer dagegen bringt diese Pro­dukte auf den Markt, und er gibt dem Arbeiter so viel als nötig ist, da­mit der Arbeiter sein Leben erhalten kann, denn sonst könnte er auch nicht für den Unternehmer arbeiten, - das übrige ist Mehrwert. Gewiß, mit diesem Mehrwert verhält es sich durchaus so, wie heute etwa Walther Rathenau darüber spricht - ich will gar nichts über diesen viel verleumdeten Mann sagen -, aber in bezug auf die soziale Frage be­findet er sich in den größten Irrtümern. Es ist durchaus so, daß dieser Mehrwert, wenn man ihn verteilen würde, den Angehörigen der brei­ten proletarischen Massen keine Aufbesserung bringen würde. Aber durch Rechnungsoperationen, die etwa in der Luft herumschwirren, kommt man den Dingen auch nicht bei. Man muß vielmehr diesen Mehrwert in der richtigen Weise in bezug auf seine soziale Bedeutung abfangen. Sollte dieser Mehrwert denn wirklich so wenig vorhanden sein, wie zum Beispiel Rathenau «richtig » errechnet? Nein! Denn dann gäbe es in Berlin keine Theater, keine Hochschulen, keine Gymnasien,

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alles das nicht, was man Kulturleben, was man Geistesleben der Menschheit nennt. Das alles ist ja in Wahrheit zum größten Teile von dem sogenannten Mehrwert erhalten. Darum handelt es sich aber gar nicht, wie dieser Mehrwert in der Ware und in der Geldairkulation an die Oberfläche getrieben wird, sondern darum, daß in dem, was nur mit dem Schlagworte Mehrwert besprochen wird, sichausdrücktdiegan­ze Beziehung des neuzeitlichen Geisteslebens zu der breiten Masse des nicht an diesem Geistesleben unmittelbar teilnehmen könnenden Volkes.

Wer jahrelang unter Arbeitern gelehrt hat und sich bemüht hat, vor ihnen das zu lehren, was unmittelbar aus der allgemeinen menschlichen Empfindung herausdrängt, was gesprochen ist von Mensch zu Mensch, der weiß, was für einen Charakter eine Geistesbildung haben muß, die allgemein menschlich sein soll, und wie sich diese Geistesbildung von derjenigen unterscheidet, die sich im Laufe der letzten drei bis vier Jahr­hunderte gerade unter dem Einfluß der privatkapitalistischen und der technischen Wirtschaftsordnung herausgebildet hat. Wenn ich wieder persönlich reden darf - das Persönliche illustriert das Allgemeine -, so darf ich vielleicht sagen: Ich wußte, wenn ich in Wochen, Stunden, vor den Proletariern sprach, da spreche ich so, daß in den Seelen verwandte Saiten erklingen; da empfangen diese Menschen ein Wissen, eine Er­kenntnis, mit der sie gehen können, die sie aufnehmen können. Aber dann kamen auch diejenigen Zeiten, in denen auch der Proletarier die Mode erfüllen mußte, an der «Bildung» teilzunehmen - an derjenigen Bildung, welche in geistiger Beziehung das Ergebnis der herrschenden, führenden Kultur war. Da mußte man diese Proletarier in die Museen führen, mußte ihnen zeigen, was aus der Empfindungsweise der herr­schenden, bürgerlich fühlenden Menschenklasse hervorgegangen ist. Ja, da wußte man - wenn man ehrlich war, wußte man das, wenn man nicht ehrlich war, sagte man sich allerlei Phrasen von Volksbildung und dergleichen vor -: Das alles ergibt keine Brücke zwischen der Geistes-kultur und der Geistesbildung der leitenden führenden Kreise und dem, was Geistessehnsucht und Geistesbedürfnis des Proletariats ist. Denn Kunst, Wissenschaft, Religion kann man nur verstehen, wenn sie aus Menschenkreisen hervorgehen, mit denen man auf gleichem sozialen Boden steht, so daß man mit ihnen die gleichen sozialen Empfindungen

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und Gefühle teilen kann -, nicht wenn ein Riß geht zwischen denjeni­gen, welche die Bildung genießen sollen, und denjenigen, welche diese Bildung wirklich genießen können. Da empfand man eine tiefe Kultur-lüge. Und heute darf wahrhaftig nicht wohlwollend Dunkel über diese Dinge verbreitet werden, sondern heute müssen sie klar gesehen wer-den. Da empfand man diese tiefe Kulturlüge, die darin bestand, daß man allerlei Volkshochschulen oder Bildungsschulen errichtete und den Leuten eine Bildung mitteilen wollte, die über keine Brücke zu ihnen gehen konnte. Da stand dann der Proletarier auf der einen Seite des Abgrundes, sah hinüber auf das, was an Kunst, an Sitte, Religion, Wissenschaft erzeugt wurde von den leitenden führenden Kreisen, ver­stand es nicht, hielt es für etwas, was nur - wie ein Luxus - diese leiten­den führenden Kreise angeht. Da sah dann das Proletariat dieVerwen­dung, die Verwirklichung des Mehrwertes, indem es das Wort vom Mehrwert aussprach. Dieses Proletariat fühlte etwas ganz anderes, als was in dieser Thermometersprache vom Mehrwert gesagt wurde. Es fühlte: Da ist ein Geistesleben, das erzeugt wird durch unsere Hervor­bringungen, durch unsere Arbeit; das produzieren wir, von dem sind wir aber ausgeschlossen!

So muß die Sache vom Mehrwert angesehen werden, wenn sie nicht theoretisch - wenn sie lebensvoll, wenn sie so angesehen wird, wie sie wirklich im Leben darinsteht. Da sehen wir dann auch das, was die erste Kernfrage der umfassenden sozialen Frage ist: da sehen wir den geistigen Teil der sozialen Frage. Da sehen wir, wie in derselben Zeit, in welcher in den letzten drei bis vier Jahrhunderten neuere Technik, neuere Wissenschaft und zugleich privatkapitalistische Wirtschafts­form heraufkamen, auch ein Geistesleben heraufgekommen ist, das immer mehr und mehr nur dasjenige wird, was in den Seelen jener Men­schen leben soll, die durch eine tiefe Kluft getrennt sind von den großen breiten Massen, für deren Bildung sie in unzulänglicher Weise sorgen, von deren Bildung sie sich abtrennen. Daher sieht man mit so bluten-dem Herzen darauf hin, wenn man erfährt, wie man gutmeinend und gutwillig in diesen leitenden führenden Kreisen sich in gutgeheizten Spiegelzimmern unterhielt über die Art, wie man brüderlich ist mit allen Menschen, über die Art, wie man alle Menschen lieben solle, wie

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man sich unterhielt von allen christlichen Tugenden - bei einer Ofen-wärme, die erzeugt war durch diejenigen Kohlen, welche heraufbe­fördert wurden aus den Kohlenschächten, in die hinuntergelassen wur­den neunjährige, elfjährige, dreizehnjährige Kinder, welche buchstäb­lich - für die Mitte des ,9. Jahrhunderts war es buchstäblich so; später ist es nicht durch das Verdienst der herrschenden leitenden Kreise besser geworden, sondern durch die Forderungen des Proletariats - vor dem Aufgange der Sonne in die Schächte hinunterwandern mußten und erst nach dem Untergange der Sonne wieder heraufkommen konnten, so daß diese armen Kinder die ganze Woche hindurch das Sonnen­licht nicht sahen.

Man glaubt heute, diese Dinge werden gesagt, um aufzuhetzen. Nein! Sie müssen gesagt werden, um darauf hinzuweisen, wie sehr sich das, was Geistesleben der letzten drei bis vier Jahrhunderte ist, abge­trennt hat von dem wirklichen Leben der Menschen. Man hat reden können - abstrakt - von Moral, von Tugend, von Religion, ohne daß das wirkliche tätige praktische Leben irgendwie berührt wurde von diesem Gerede von Brüderlichkeit und Nächstenliebe, von Christen­tum und so weiter. Das ist es denn, was vor uns hinstellt als einen ab­gesonderten Kernpunkt der sozialen Frage die Geistesfrage. Wir blicken da auf den ganzen Umfang des Geisteslebens, insbesondere des Geisteslebens mit Bezug auf den Menschen der Gegenwart und der nächsten Zukunft, das sich abspielt auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichtswesens. Es ist einmal so gekommen, daß im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte durch die Art, wie die einzelnen fürstlichen Territorien sich zu den einzelnen Wirtschafts-National­staaten gestaltet haben, das Geistesleben in seinen wichtigeren öffent­licheren Teilen von der Staatsordnung aufgenommen worden ist. Und heute ist man solz darauf, daß man von seiten der Wissenschaft, von seiten des Geisteslebens überhaupt, das Unterrichts- und Erziehungs­wesen - gewiß mit Recht - der mittelalterlichen Zugehörigkeit zur Religion, zur Theologie entrissen hat. Man ist recht stolz darauf und hat es immer wieder wiederholt: Im Mittelalter war es so, daß das Geistesleben, das Wissenschaftsleben der Theologie, der Kirche die Schleppe nachgetragen hat. Gewiß, diese Zeiten sollen nicht wieder

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zurückgewünscht werden; wir wollen nicht rückwärts, wir wollen vor­wärts. Aber heute ist schon wieder eine andere Zeit. Heute darf nicht bloß in Hochmut darauf hingewiesen werden, wie im Mittelalter das Geistesleben der Kirche die Schleppe nachgetragen hat. Heute muß auf etwas anderes hingewiesen werden. Nehmen wir ein Beispiel zur Illustration, das uns hier nicht so ferne liegt.

Ein sehr bedeutender naturforschender Gelehrter, den ich sehr achte

- durchaus werden diese Dinge nicht zur Verkleinerung der Menschen gesagt -, der zugleich Sekretär der Berliner Akademie der Wissen­schaften war, er sprach darüber, wie diese Berliner Akademie zu dem öffentlichen Staatswesen stand. Der Herr sagte damals in einer wohl-gefügten Rede: die Mitglieder dieser gelehrten Akademie rechneten es sich zu ihrer ganz besonderen Ehre, die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern zu sein. Das ist nur ein Beispiel von solchen, die man nicht hundertfältig, sondern tausend- und abertausendrältig anführen könnte, welches die Frage auf die Lippen bringt: Was ist heute an der Stelle dessen, wo in alten Zeiten das Geistesleben der Kirche die Schlep­pe nachgetragen hat? Wem trägt heute das Geistesleben die Schleppe nach? Das war nicht einmal so schlimm in der jüngsten Vergangenheit, wie es werden müßte, wenn wahrhaftig staatliche Ordnungen eintreten würden, unter denen das furchtbare Unterrichtsregiment sich auftun könnte, welches im Osten Europas sich aufgetan hat, und was hinläng­lich beweist, daß es den Tod aller Kultur bringen würde. Sie müssen nicht nur in die Vergangenheit, sondern vor allem in die Zukunft schauen und müssen sagen: Es ist die Zeit herangerückt, wo das Gei­stesleben als ein selbständiges Glied des sozialen Organismus wird auftreten müssen, wo es auf Selbstverwaltung wird gestellt werden müssen.

Man begegnet, indem man so etwas ausspricht, heute unzähligen Vorurteilen. Man wird geradezu als ein verrückter Mensch angesehen, wenn man heute nicht hinweisen kann auf den großen Segen, der in der Verstaatlichung des Unterrichts- und Erziehungswesens liegt. Aber das Heil, das gesucht werden muß, es wird erst gefunden werden, wenn vom Lehrer der untersten Schulstufen an bis hinauf zu dem Unterrich­tenden an den Hochschulen das gesamte Unterrichts- und Erziehungs­wesen

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und das mit ihm zusammenhängende Geistesleben in Selbst­verwaltung gestellt ist - nicht in die Verwaltung des Staates! Das gehört zu den großen Abrechnungen, die heute gepflogen werden müssen.

Der Kreis von Menschen, der mir zuerst Freundlichkeit erwiesen hat, als es sich darum handelte, den Impuls der Dreigliederung der Gegen­wart einzuverleiben, dieser Kreis ist derjenige, dem jetzt auch in Stutt­gart die erste wirkliche freie Einheitsschule entspringt. An die Waldorf­Astoria-Fabrik soll sich angliedern zunächst eine Muster-Einheits­schule, die gestellt sein soll auf jene Pädagogik und Didaktik, auf jene Erziehlehre, welche aus nichts anderem entspringt als aus der wirklichen und wahren Erkenntnis des werdenden Menschen. Der ist zwischen dem siebenten und fünfzehnten Lebensjahre kein an­derer, welcher Klasse und welchem Stande er auch angehört. Aber ihn muß man erst kennenlernen, wenn man ihn unterrichten und erziehen will.

Da ich derjenige war, der in Stuttgart den vorbereitenden Kursus für die an dieser Waldorf-Schule wirkende Lehrerschaft zu halten hatte, so kamen mir auch diejenigen Dinge in die Hand, die heute wie eine Selbstverständlichkeit hingenommen werden. Man ahnt gar nicht, was darin liegt, daß diese Dinge wie eine Selbstverständlichkeit hingenom­men werden! Aber sie haben sich eigentlich erst in den letzten Jahr­zehnten herausgebildet. Man darf bei einer solchen Gelegenheit - da die Dinge, die Gegenstand der Lebenspraxis sind, zugleich Gegenstand der Lebenserfahrung sein müssen - darauf hinweisen, daß man das, was man sagt, nicht aus dem Leichtsinn eines Jugendiebens sagt, son­dern es sich erst auszusprechen getraut, wenn man, wie ich, ein sechstes Lebensjahrzehnt fast vollendet hat. Da erinnert man sich daran, wie die Lelrrpläne früher noch kurz waren und wie das, was Gegenstand des Unterrichtes sein sollte, vertreten wurde durch die Vorträge, durch die Bücher und Erfahrungen derjenigen, die im lebendigen Erziehungs­wesen darin standen, die aus dem Geiste herausschöpften. Heute aber hat man nicht einen kurzen Lehrplan - heute hat man dicke Bücher, in denen nicht nur steht, man solle in dem einen Schuljahr dieses, in dem andern Schuljahr jenes durchnehmen, sondern in denen auch vorgeschrieben

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ist, wie man die Dinge behandeln soll. Was Gegenstand der freien Lehre sein sollte, das soll Gegenstand werden und ist schon Gegenstand geworden des «Verordnungsblattes ». Ehe man nicht ein deutliches, hinlängliches Gefühi von dem haben wird, was an Unsozia­lem in diesen Dingen steckt, eher wird man nicht reif sein, mitzuarbei­ten an der wirklichen Gesundung der Menschheit. In der Aufrichtung des freien, vom Staate unabhängigen Geisteslebens liegt daher der erste Kernpunkt der sozialen Frage. Da ist das erste der drei selbständigen Glieder des dreigliederigen sozialen Organismus zu errichten. Wenn man heute diese Dinge vertritt, wenn man darauf hinweist, wie es wohl sein kann, daß zukünftig niemand innerhalb des geistigen Gliedes des sozialen Organismus verwalten wird als der, welcher auch tätigen An­teil am geistigen Leben nimmt, dann wird das mit Bezug auf den Unter­richt wenig verwandt sein mit dem Unterricht im heutigen Einheits­staat. Das ganze Leben wird wie in einer Musterrepublik dastehen. Jeder wird nicht bloß nach den Forderungen einer Verordnung unter­richten, sondern aus dem Geiste schöpfen, was dem Unterricht und der Erziehung frommt. Man wird nicht bloß zu fragen haben, was die Berechtigungen des Menschen für den Sozialismus im dreizehnten oder siebzehnten Jahre sind, wohl aber: Was liegt im Wesen des Menschen selbst begründet, damit es herausgeholt werden kann aus dem werden-den Menschen, so daß er, wenn er diese Kräfte losgelöst erhalten hat aus der Tiefe seines Wesens, nicht als willensschwacher, gebrochener Mensch dasteht, wie heute so viele, sondern so dasteht, daß er seinem Schicksal gewachsen ist und auch mitarbeiten kann an dem, was seine Aufgaben im Leben sind. Das weist auf das erste Glied in der Drei-gliederung des sozialen Organismus hin.

Man wird allerdings, wenn man diese Gedanken ausspricht, zuerst mit einer Frage, mit einem Einwand abgefunden, wie ich es in einer süddeutschen Stadt erlebte. Da antwortete mir nach einem Vortrage, in der Diskussion, ein Hochschulprofessor ungefähr in folgender Weise: Wir Deutschen werden in der Zukunft ein armes Volk sein. Der Mann dort will das Geistesleben selbständig machen. Das arme Volk wird das selbständige Geistesleben nicht bezahlen können, denn es wird kein Geld haben. Man wird also nach dem Staatssäckel greifen

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müssen, wird doch aus den Steuern das Unterrichtswesen bezahlen müssen, und wie soll es dann selbständig werden, wie soll es da nicht das Aufsichtsrecht des Staates über sich gestellt haben müssen, da es vom Staate erhalten werden muß? -Ich konnte darauf nur erwidern, daß es mir sehr sonderbar vorkomme, wenn der Professor glaube, daß das, was man als Steuern aus der Staatskasse nimmt, irgendwie da heraus-wächst, und daß es in Zukunft nicht von dem «armen Volke» genom­men wird. Aber was einem am meisten begegnet, das ist die Gedanken-losigkeit auf allen Gebieten. Dem muß entgegengestellt werden ein wirkliches, in die Tatsachen des Lebens hineinschauendes, praktisches Denken. Das wird auch praktische Lebensprogramme bringen kön­nen, die zu verwirklichen sind.

Und wie das Geistesleben, das Unterrichts- und Erziehungswesen verselbständigt werden muß, so auf der anderen Seite das Wirtschafts­leben. Es ist sehr merkwürdig, wie in der neueren Zeit aus der Tiefe der Menschennatur heraus zwei Forderungen aufgestiegen sind: die nach Demokratie und die nach Sozialismus. Beide, Demokratie und Sozialismus, widersprechen einander. Vor der Weltkriegskatastrophe hat man diese zwei widersprechenden Impulse zusammengeschweißt und sogar eine Partei, die Sozialdemokratie, danach benannt. Hölzernes Eisen ist ungefähr dasselbe. Beide, Sozialismus und Demokratie, wider­sprechen sich, beide sind aber ganz aufrichtige und ehrliche Forderun-gen der neueren Zeit. Nun ist die Weitkriegskatastrophe an uns vor­übergezogen, hat ihre Ergebnisse gebracht, und nun hören wir, wie die soziale Forderung auftritt und nichts wissen will von einem demo­kratischen Parlament. Wie die soziale Forderung wiederum theoretisch, ohne eine Ahnung zu haben, wie die Tatsachen eigentlich sind, mit Schiagworten ganz abstrakter Art auftritt wie «Erringung der politi­schen Macht», « Diktatur des Proletariats » und dergleichen, das kommt allerdings aus den Untergründen des sozialistischen Empfindens her­vor, beweist aber, daß man jetzt darauf gekommen ist, daß auch das sozialistische Empfinden dem demokratischen Empfinden wider­spricht. Die Zukunft, die den Wirklichkeiten des Lebens, nicht den Schlagworten Rechnung zu tragen hat, sie wird erkennen müssen, wie der sozialistisch Fühlende Recht hat, wenn er sozusagen etwas Un­heimliches

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bei «Demokratie » empfindet, und wie anderseits der demo­kratisch Fühlende Recht hat, wenn er das Furchtbarste empfindet bei den Worten « Diktatur des Proletariats».

Wie liegen auf diesem Gebiete eigentlich die Tatsachen? Da brauchen wir nur das Wirtschaftsleben im Zusammenhange mit dem Staatsieben gerade so zu betrachten, wie wir eben vorher das Geistesleben im Zu­sammenhange mit dem Staatsleben betrachtet haben. Es war wiederum das Vorurteil der Menschen der neueren Zeit, insbesondere derjenigen, die glaubten, recht fortschrittlich zu denken, daß der Staat immer mehr und mehr zum Wirtschafter werden sollte. Post, Telegraph, Eisenbahn und so weiter wurden in Staatsverwaltung gestellt, und bald wollte man über immer weitere Wirtschaftsgebiete die Staatsverwaltung aus­dehnen. Das ist eine weite und umfassende Sache, die ich jetzt mit emigen Worten berühre, und ich muß mich leider - weil ich angewiesen bin, diese Dinge in einem kurzen Vortrage zu entwickeln - der Gefahr aussetzen, daß das, was in sehr sachlichen Worten dargelegt wird und mit unzähligen Beispielen aus der neueren Geschichte belegt werden könnte, als Dilettantismus hingestellt würde. Das ist es aber durchaus nicht. Aber was hier wie ein Vorurteil der Fortgeschrittensten ist, das wird sich gerade dann, wenn man den Sozialismus ernst nimmt, in seiner wahren Gestalt zeigen. Und es wird sich in seiner wahren Gestalt zeigen, wenn man ferner ernst nehmen wird ein Wort, welches aus seinen lichtesten Augenblicken heraus Friedrich Engels in seiner Schrift «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft», ausgesprochen hat. Er sagt ungefähr: Überschaut man das Staatsleben, wie es sich in die Gegenwart herein entwickelt hat, so findet man, daß es die Bewirtschaftung der Produktionszweige, die Leitung der Waren-zirkulation, umfaßt. Aber indem der Staat gewirtschaftet hat, hat er zugleich über Menschen regiert. Er gab die Gesetze, nach denen sich zu verhalten haben - ob in ihren wirtschaftlichen Handlungen oder außerhalb derselben - diejenigen Menschen, die im Wirtschaftsleben drinnen stehen. Dieselbe Instanz wirtschaftete - und gab die Gesetze für das Verhalten der Menschen, die im Wirtschaftsleben drinnen stehen. Das muß in Zukunft anders werden.

Dies hat Engels ganz richtig erkannt. In Zukunft darf auf dem Bo­den,

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auf dem gewirtschaftet wird, nicht mehr regiert werden über Men­schen, meinte Engels; sondern es darf auf diesem Boden nur verwaltet werden, was Produktion ist, und es darf auf ihm nur geleitet werden, was Warenzirkulation ist. Das war eine richtige Anschauung - aber eine halbe Wahrheit oder eigentlich nur eine Viertelswahrheit. Denn wenn das, was an Gesetzen verwirklicht ist auf diesem Wirtschafts­gebiete, das bisher mit dem Staatsleben zusammenfiel, herausgenom­men wird aus der Wirtschaftsverwaltung und Wirtschaftsleitung, muß es seinen eigenen Platz erhalten - allerdings nicht einen Platz, von dem aus die Menschen zentralistisch regiert werden, sondern den Platz, wo sie sich selber demokratisch regieren.

Das heißt: Die beiden Impulse, Demokratie und Sozialismus, weisen darauf hin, daß zwei voneinander getrennte Gebiete neben dem selb­ständigen Geistesglied des sozialen Organismus noch dastehen müssen in dem gesamten sozialen Organismus, nämlich das, was bleibt von dem ehemaligen Staate. Es ist das die Verwaltung des Wirtschaftiichen und die des öffentlichen Rechtes oder mit anderen Worten alles dessen, worüber jeder Mensch urteilsfähig ist, wenn er mündig geworden ist. Denn was liegt in der Forderung nach Demokratie? Es liegt darin, daß die neuere Menschheit geschichtlich reif werden will dafür, auf dem freien Staatsboden, auf dem freien Rechtsboden gesetzmäßig das­jenige zu verwalten, worin alle Menschen einander gleich sind, wor­über also jeder mündig gewordene Mensch neben jedem anderen mün­dig gewordenen Menschen mittelbar oder unmittelbar - mittelbar durch Vertretung, unmittelbar durch irgendein Referendum - ent­scheiden kann. So müssen wir in Zukunft einen selbständigen Rechts-boden haben, der die Fortsetzung des alten Macht- und Gewaltstaates sein wird, und der erst der wahre Rechtsstaat sein wird. Niemals wird ein wahrer Rechtsstaat anders entstehen, als daß in ihm nur diejenigen Angelegenheiten durch Gesetze geregelt werden, über die jeder mün­dig gewordene Mensch urteilsfähig ist, und zu diesen Angelegenheiten gehört wieder etwas, worüber das Proletariat viel gesprochen hat, wo aber seine Worte wieder genommen werden müssen als das soziale Thermometer. Denn wieder hat in das Gemüt des Proletariats tief ein­geschlagen ein Wort von Karl Marx: Es gibt ein menschenunwürdiges

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Dasein, wenn der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt seine Arbeitskraft wie eine Ware verkaufen muß. Denn wie man eine Ware bezahlt mit dem Warenpreis, so bezahlt man die Arbeitskraft wie gleichwertig mit der Ware durch den Lohn, durch den Preis für die Ware Arbeitskraft!

Das war ein Wort, nicht so sehr bedeutungsvoll in der Entwicklung der neueren Menschheit durch seinen sachlichen Inhalt, als durch das blitzartige Einschlagen in das Proletariat, jenes blitzartige Einschlagen, von dem sich die führenden Kreise eigentlich keine Vorstellung machen. Und woher rührt dies Ganze? Es rührt davon her, daß in den Wirtschaftskreislauf, das heißt in die Warenerzeugung, in die Waren-zirkulation und Warenkonsumation, die einzig in den Wirtschaftskreis-lauf hineingehören, in chaotischer, in unorganischer Weise auch hinein­gestellt ist die Regelung der Arbeit nach Maß, nach Zeit, nach Charak­ter usw. Und nicht eher wird Heil auf diesem Gebiete, bis aus dem Wirt­schaftskreislauf Charakter, Maß und Zeit der menschlichen Arbeit herausgehoben ist, ob sie geistige, ob sie physische Arbeit ist. Denn die Regelung der Arbeitskraft gehört nicht in das Wirtschaftsleben hinein, wo derjenige, welcher der wirtschaftlich Mächtigere ist, eben auch die Macht hat, die Art der Arbeit dem wirtschaftlich Schwachen aufzudrängen. Die Regelung der Arbeit von Mensch zu Mensch, was ein Mensch für den anderen arbeitet, das gehört geregelt auf dem Rechtsboden, da, wo jeder mündig gewordene Mensch jedem andern mündig gewordenen Menschen als gleicher gegenübersteht. Wieviel ich für den andern zu arbeiten habe, darüber dürfen nicht wirtschaft­liche Voraussetzungen entscheiden, sondern einzig und allein das, was in dem zukünftigen Staate, der der Rechtsstaat ist, gegenüber dem heutigen Machtstaat, sich entwickeln wird.

Auch da begegnet man wieder einem Bündel von Vorurteilen, indem man dergleichen ausspricht. Heute ist es billig, wenn die Leute sagen: Solange die Wirtschaftsordnung durch die Verhältnisse des freien Marktes gegeben ist, solange wird es selbstverständlich sein, daß die Arbeit von der Produktion abhängt, davon, wie die Waren bezahlt wer­den. Wer aber glaubt, daß es so bleiben müsse, sieht nicht ein, wie ge­schichtlich ganz andere Forderungen heraufziehen. In Zukunft wird man sagen müssen: Wie töricht wäre es, wenn die Menschen, die irgendeinen

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Betriebszweig zu verwalten haben, sich zusammensetzten und die Kontobücher des Jahres 1918 nähmen und sagten: Da haben wir so und soviel erzeugt, wir müssen in diesem Jahre auch soviel erzielen. Jetzt ist es September, wir brauchen also, um das zu erreichen, noch so und so viele Tage, wo es regnet, und so und soviele, wo Sonnen­schein sein muß, und so weiter. - Man kann nicht der Naturgrundiage vorschreiben, daß sie sich nach den Preisen richten soll, sondern man muß die Preise nach der Naturgrundlage einrichten. Auf der einen Seite wird das Wirtschaftsleben an die Naturgrundiage grenzen, auf der anderen Seite an den Rechtsstaat, wo auch die Arbeit geregelt wer­den wird. Da wird aus rein demokratischen Grundiagen heraus fest­zustellen sein, wie lange der Mensch zu arbeiten habe, und danach werden sich die Preise bestimmen - das heißt nach den Naturgrund-lagen, so wie heute nach den Naturgrundlagen die Preise in der Land­wirtschaft bestimmt werden. Es handelt sich nicht darum, daß man über die Verbesserung kleiner Einrichtungen nachdenkt; es handelt sich darum, daß man umdenken und umlernen muß. Erst wenn auf dem selbständig demokratischen Gemeinboden, wo der eine Mensch dem andern als Mündiggewordener, als Gleicher dem Gleichen gegenüber­steht, über die Arbeitskraft geurteilt wird, und wenn der Mensch als freier Mensch diese Arbeit in das selbständige Wirtschaftsleben hinein-trägt, wo nicht Arbeitsverträge, sondern Verträge über die Erzeugung geschlossen werden, erst dann wird aus dem Wirtschaftsleben weichen, was heute Unruhe erzeugend darin ist. Das muß durchschaut werden.

In der Kürze dieser Zeit kann ich diese Dinge nur andeuten. Ich würde sehr gern einen Zyklus von Vorträgen halten, aber das geht dies­mal nicht. Ich muß aber noch darauf hinweisen, wie sich das dritte Glied, das Wirtschaftsleben, in dem dreigliederigen sozialen Organis­mus gestaltet, wie es in die Zukunft hineinragen soll.

In diesem Wirtschaftsleben darf nicht, wie bisher, darin sein:

Kapitalverwaltung, Bodenverwaltung, Produktionsmittelverwaltung

- das ist übrigens Kapitalverwaltung -, Arbeitsverwaltung, sondern lediglich darf in ihm sein Verwaltung der Warenerzeugung, des Waren-umlaufs und des Warenverbrauchs. Und gleichsam die Urzelle dieses Wirtschaftslebens, das nur auf Sachkenntnis und Fachtüchn.gkeit gegründet

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sein soll, die Preisbildung, wie wird sie sich vollziehen müssen? Nicht durch den Zufall des sogenannten freien Marktes, wie es bisher in der Volkswirtschaft und in der Weltwirtschaft der Fall war! So wird sie sich vollziehen müssen, daß auf dem Boden von Assoziationen, die sachgemäß zwischen den einzelnen Produktionszweigen und den Kon­sumgenossenschaften entstehen, durch Menschen, die sachkundig und fachtüchtig aus diesen Genossenschaften hervorgehen, organisch das erreicht werde, vernünftig erreicht werde, was heute krisenhaft der Zufall des Marktes hervorbringt. Es wird in der Zukunft, wenn die Feststellung von Art und Charakter der menschlichen Arbeitskraft in den Rechtsstaat fällt, ungefähr innerhalb des Wirtschaftslebens sich zu­tragen müssen, daß der Mensch für irgend etwas, was er arbeitend voll-bringt, so viel an Austauschwerten erhält, daß er seine Bedürfnisse da­durch befriedigen kann, bis er ein gleiches Produkt wieder hervorge­bracht hat.

Grob, dilettantisch, oberflächlich gesprochen, wäre das eben Gesagte durch folgendes Beispiel erläutert, aber diese Erläuterung wird heute genügen: Wenn ich ein Paar Stiefel hervorbringe, so muß ich durch den gegenseitig fixierten Wert in der Lage sein, durch die Herstellung dieses Paares Stiefel so viele Güter einzutauschen, als ich brauche, um damit meine Bedürfnisse zu befriedigen, bis ich wieder ein Paar Stiefel hervorgebracht haben werde. Und Einrichtungen müssen vorhanden sein, welche innerhalb der Gesellschaft zu regeln haben die Bedürfnisse für Witwen, Waisen, für Invalide und Kranke, für die Erziehung und dergleichen. Daß aber solche Regulierung der Preisbildung, was einzig und allein Sache einer wirtschaftlichen Sozialisierung sein wird, statt-finden kann, das wird davon abhängen, daß sich Körperschaften bil­den - seien sie gewählt, seien sie designiert aus den Assoziationen der Produktionszweige in Verbindung mit den Konsumentengenossen­schaften -, welche berufen sind, im lebendigen Leben die gerechten Preise zu vermitteln.

Das kann nur dadurch geschehen, daß das ganze Wirtschaftsleben -allerdings nicht in Form einer Moellendorffschen Planwirtschaft, son­dern in einer lebendigen Form - so geordnet wird, daß zum Beispiel folgendes berücksichtigt wird: Nehmen wir an, irgendein Artikel habe

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die Tendenz, zu teuer zu werden. Was bedeutet das? Es wird zu wenig von diesem Artikel erzeugt; es müssen nach den Produktionszweigen Arbeiter durch Verträge hingeleitet werden, welche diesen Artikel er­zeugen können. Wird andererseits ein Artikel zu billig, so müssen Be­triebe stillgelegt werden und die Arbeiter davon abgezogen werden und durch Regelung in andere Betriebe hineinkommen. Wenn so etwas ausgesprochen wird, dann bezeichnen das die Leute heute als schwierig. Wer das aber als schwierig ablehnt, um bei kleinen Verbesserungen der sozialen Verhältnisse stehen zu bleiben, der sollte auch wissen, daß er damit auch bei den heutigen Verhältnissen bleiben wird.

Das zeigt Ihnen, wie durch Assoziationen, die rein aus den Wirt­schaftskräften selbst gebildet sind, das Wirtschaftsleben auf sich selbst gestellt werden soll, wie das Wirtschaftsleben, über welches heute der Staat seine Fittiche ausgedehnt hat, in der Tat nur von den wirtschaf­tenden Kräften selbst verwaltet werden soll, und zwar so, daß innerhalb dieser Verwaltung des Wirtschaftslebens die Initiative des Einzelnen möglichst gewahrt werde. Das kann nicht durch eine Planwirtschaft, nicht durch Aufrichtung einer Gemeinbewirtschaftung der Produk­tionsmittel, sondern einzig und allein durch Assoziationen der freien Produktionszweige und durch Ubereinkommen dieser Assoziationen mit den Konsumgenossenschaften geschehen.

Das ist der furchtbare Irrtum, daß die Verstaatlichung, die bisher von den führenden, leitenden Kreisen in die Wege geleitet worden ist, bis zum Extrem getrieben werden soll, daß über das ganze Staatsleben, den Rahmen dieses Staatslebens benutzend, Genossenschaften sich ausdehnen sollen, wodurch man allen Zusammenhang einer solchen Planwirtschaft mit den äußeren Wirtschaftskräften untergraben würde; während jene Assoziationen, die von der Dreigliederung gemeint sind, gerade darauf ausgehen, die volle freie Initiative des Wirtschaftenden festzuhalten, offenzuhalten alles, was einen geschlossenen Wirtschafts-körper mit dem äußeren Wirtschaftskörper verbindet.

Allerdings wird manches auch recht sehr anders ausschauen, zum Beispiel etwas, worauf ich durch ein Gleichnis nur hindeuten kann. Es verlangt die sozialistische Theorie die Aufhebung des Privateigen­tums, wie man sagt - lauter Worte, unter denen sich ein sachkundiger

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Mensch nichts vorstellen kann - und Überführung des Privateigentums in Gemeineigentum. Aber das heißt ja gar nichts. Was etwas heißen kann, das kann ich Ihnen in folgender Weise im Bilde sagen. Heute srnd die Menschen beispielsweise sehr stolz auf ihre Philosophen. Aber über eines denken die Menschen ziemlich richtig, wenigstens sobald es sich um geistige Hervorbringungen handelt; während sie es auf dem Gebiete des Materiellen nicht dazu bringen, in gleicher Weise gesund zu denken. Denn wie denkt man über das geistige Eigentum? So denkt man, daß man bei dem, was rnan geistig erwirbt, dabei sein muß. Man kann nicht gut sagen: Was ich als geistiges Eigentum hervorbringe, das solle durch Gemeinwirtschaft oder durch genossenschaftliches Be­wirtschaften hervorgebracht werden. Das wird man schon dem Ein­zelnen überlassen müssen. Denn es wird am besten dadurch hervor-gebracht, daß der Einzelne mit seinen Fähigkeiten und Talenten dabei ist, und nicht, wenn er davon getrennt wird. Aber man denkt doch sozial, indem das, was man geistig hervorbringt, dreißig Jahre nach dem Tode des Schaffenden - es könnte vielleicht die Zeit viel verkürzt werden - nicht mehr den Erben gehört, sondern demjenigen, der es wieder am besten der Allgemeinheit zugänglich machen kann. Das findet man selbstverständlich, weil die Menschen heute das, was sie als Geistiges empfinden, nicht als etwas Besonderes schätzen. Aber die Menschen machen keinen Versuch, darauf einzugehen, wenn man da-von spricht, daß das physische Privateigentum in derselben Weise be­handelt werden sollte, daß es nur solange im Privatbesitz sein sollte, als man mit seinen Fählgkeiten dabei sein kann, dann aber übergehen sollte - jetzt nicht an diese wesenlose Allgemeinheit, die Korruptionen und so weiter furchtbarster Art hervorbringen würde, sondern an den­jenigen, der wieder seinerseits die besten Fählgkeiten hat und die Sache in den Dienst der Allgemeinheit stellen würde.

Wo man unbefangen denkt, zeigen sich solche Dinge schon. Wir haben es unternommen, eine Hochschule für Geisteswissenschaft, das Goetheanum, in Dornach bei Basel in der Schweiz zu begründen. Wir nennen es Goetheanum seit dem Zeitpunkt, wo die Welt «verwood­rowwilsont » wird, wo es nötig wird, daß der Deutsche zeige, daß er ein Geistesleben vor den ganzen Erdkreis kühn hinstellen wird.

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Goetheanum im Auslande als Vertreter des deutschen Geisteslebens

- anders als es der Chauvinismus macht! Aber ich will jetzt etwas anderes hervorheben. Sie wird gebaut, diese Hochschule der Geistes­wissenschaft, und sie wird jetzt verwaltet von denjenigen Menschen, welche die Fähigkeiten dazu haben, diese Sache ins Leben zu rufen. Wem wird sie gehören, wenn diese jetzigen Menschen nicht mehr unter den Lebenden sind? Durch Erbschaft wird sie an niemanden übergehen, sondern sie wird an den übergehen, der sie wieder am besten im Dienste der Menschheit verwalten kann. Sie gehört eigentlich niemandem.

Denkt man wirtschaftlich sozial, so entstehen schon diejenigen Dinge, die entstehen müssen, wenn Heilsames in der Zukunft gesche­hen soll. Das Weitere über die Zirkulation des Privateigentums habe ich ausgeführt in der Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage», wo ich gezeigt habe, wie der soziale Organismus gegliedert werden muß in seine selbständigen und als solche zusammenwirkenden drei Glieder: in die geistige Organisation mit Selbstverwaltung aus den Untergründen eines freien Geisteslebens heraus, in die staatlich-poli­tisch-rechtliche Organisation mit demokratischer Verwaltung, gestellt auf das Urteilen eines jeden mündig gewordenen Menschen, und in ein Wirtschaftsleben, das lediglich gestellt sein soll in das Urteil der sachkundigen und fachtüchtigen einzelnen Personen und Korpora­tionen und ihren Assoziationen.

Das scheint so neu zu sein, daß mir, seit ich diese Sachen in Deutsch­land vertrete, auch einmal von jemandem folgendes unterbreitet wor­den ist: Du zerteilst da den Staat, der ein Einheitliches sein muß, in drei Teile. - Ich konnte darauf nur erwidern, ob ich denn den Gaul in drei oder vier Teile zerteile, wenn ich sage: er muß auf seinen vier Beinen stehen. Oder wird jemand behaupten, daß ein Gaul nur eine Einheit ist, wenn er auf einem Bein steht? Ebenso wenig wird jemand behaupten dürfen, daß das soziale Leben, wenn es eine Einheit sein soll, zusam­menfließen muß in einer abstrakten Einheit. Man wird sich in Zukunft nicht mehr hypnotisieren lassen müssen von dem abstrakten Einheits­staat, man wird wissen müssen, daß er dreigegliedert werden muß, in drei Glieder, auf denen er stehen kann: in ein sich selbstverwaltendes freies Geistesgebiet, in eine Rechtsorganisation mit demokratischer

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Gesetzgebung, in eine Wirtschaftsorganisation mit rein sachkundiger und fachtüchtiger Wirtschaftsverwaltung.

Die Hälfte von großen Wahrheiten wurde vor mehr als hundert Jah­ren im Westen Europas gesprochen in den Worten, die damals fielen als eine halbe Wahrheit: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, drei Ideale, die den Menschen wahrhaftig tief genug in die Herzen und Seelen geschrieben sein könnten. Aber es waren gewiß nicht dumme und törichte Menschen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts erklärt haben, daß diese drei Ideale sich eigentlich widersprächen: daß Frei­heit nicht sein kann, wo absolute Gleichheit herrscht; daß wieder Brü­derlichkeit nicht sein kann, wo absolute Gleichheit sein soll. Diese Einwendungen waren richtig, aber nur deshalb, weil sie in einer Zeit aufgetreten sind, wo man hypnotisiert war von dem sogenannten Ein­heitsstaat. In dem Augenblick, wo man von diesem nicht mehr hyp­notisiert sein wird, wo man die notwendige Dreigliederung des sozialen Organismus begreifen wird, da wird man anders sprechen.

Gestatten Sie, daß ich am Schlusse in einen Vergleich zusammen-fasse, was ich gerne noch länger ausführen würde. Ich konnte nur gleichsam Fäden zeichnen, in einer Skizze das darstellen, was ich sagen wollte; ich weiß, wie ich lediglich andeuten konnte, was nur bei aus­führlicher Darstellung durchschaut und eingesehen werden kann. Aber ich möchte am Schlusse darauf hlnweisen, wie der Einheitsstaat wie etwas Hypnotisierendes vor den Menschen stand und sie diesen Ein­heitsstaat beherrscht sein lassen wollten von den drei großen Idealen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Man wird lernen müssen, daß es anders werden muß. In der Gegenwart sind die Menschen gewohnt, wie einen Gott diesen Einheitsstaat anzuschauen. In der Beziehung ist ihr Verhalten schon so, wie das des Faust dem sechzehnjährigen Gret­chen gegenüber. Da erlebt man auch Dinge, die sich ausnehmen wie die Lehren, welche der Faust dem Kinde Gretchen gibt, die angemes­sen sind dem sechzehnjährigen Gretchen, und die von den Philosophen gewöhnlich als etwas Hochphilosophlsches angesehen werden. Da sagt der Faust: «Der Allumfasser, der Allerhalter, faßt und erhält er nicht dich, mich, sich selbst? » Fast ist es so gegenüber dem Einheits staate, daß die Menschen auch hypnotisiert sind von diesem Einheitsgötzenbilde

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und nicht einsehen können, wie dieses Einheitsgebilde dreiglied­rig werden muß zum Heile der Menschen in der Zukunft. Und mancher Fabrikant wird ganz gerne mit Bezug auf den Staat zu seinen Arbeitern so reden wie Faust dem Gretchen gegenüber, indem er sagt: Der Staat, der Allerhalter, der Allumfasser, faßt und erhält er nicht sich, dich, mich selbst? - Er müßte sich dann aber rasch die Hand vor den Mund halten und das «mich selbst » nicht zu laut sagen!

Die Notwendigkeit der Dreigliederung des sozialen Organismus muß eingesehen werden, besonders auch in den proletarischen Kreisen. Man wird sie erst einsehen, wenn man wissen wird: die Dreigliederung ist notwendig. Denn nicht geradezu darf in der Zukunft herrschen der Ruf « Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit » mit den Widersprüchen, die diese drei Ideale gegenseitig enthalten, sondern herrschen wird müssen in der Zukunft im selbständigen Geistesleben Freiheit des Geistes, denn da wird sie berechtigt sein; herrschen wird müssen Gleichheit gegenüber einem jeden mündig gewordenen Menschen im demokra­tischen Staatswesen, und herrschen wird müssen Brüderlichkeit in dem selbständig verwalteten, die Menschen nährenden und erhaltenden Wirtschaftsleben. In dem Augenblicke wo man diese drei Ideale so auf den dreigliederigen Organismus anwenden wird, werden sie einander nicht mehr widersprechen.

Möge die Zeit kommen, da man wird folgendermaßen charakteri­sieren können: Wir in Mitteleuropa blicken wahrhaftig mit Schmerzen hin auf das, was durch Versailles geschehen ist. Wir blicken darauf erst als auf einen Ausgangspunkt hin und auf viel Not und viel Elend und Schmerzen, die uns bevorstehen. Möge aber das sich erfüllen, daß man sagen kann: Äußeres können sie uns nehmen, denn Äußeres kann man den Menschen abnehmen. Sind wir aber imstande, zurückzugrei­fen auf die Jahre, in denen wir unsere Vergangenheit verleugnet haben, zu dem Goetheanismus jener Zeit von der Wende des 18., 19. Jahr­hunderts, als die Lessing, Herder, Schiller, Goethe und so weiter für ein anderes Gebiet wirkten - sind wir imstande, zurückzugreifen in unserer Not aus unserer Innerlichkeit heraus zu den großen mitteleu­ropäischen Gütern, dann wird in der Not der Zeit aus diesem Mittel­europa heraus der vor einem Jahrhundert in «Freiheit, Gleichheit,

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Brüderlichkeit » nur halb ertönenden Wahrheit die andere Hälfte ent­gegentönen; vielleicht in äußerer Abhängigkeit - aber in innerer Freiheit und Unabhängigkeit könnten von Mitteleuropa dann in die Welt hinaustönen die Worte:

Freiheit für das Geistesleben, Gleichheit für das demokratische Rechtsleben der Menschen, Brüderlichkeit für das Wirtschaftsleben!

In diese Worte kann man zusammenfassen, wie in einem Signum, was man heute sagen, empfinden und denken muß im Sinne eines um­fassenden Ergreifens der sozialen Frage in ihrer Ganzheit. Mögen recht viele Menschen dies erfassen und begreifen; dann wird praktisch sein können was heute eben eine Frage ist!

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GEISTESWISSENSCHAFT, GEDANKENFREIHEIT UND SOZIALE KRÄFTE Stuttgart, 19. Dezember 1919

Es kann sich etwas wie ein Alpdruck auf die Seele des Betrachters des gegenwärtigen Kulturlebens der Menschheit legen, etwas wie eine Art Zusammenpressen des gequälten Herzens, wenn man bemerkt, wie es doch noch verhältnismäßig wenige Menschen gibt, die mit unbefange­nem Blicke sehen wollen, wie wir uns mit Bezug auf die wichtigsten Zweige unseres Kulturlebens auf einer abschüssigen Bahn befinden. Diese abschüssige Bahn ist ja genügend wahrnehmbar geworden durch die Ereignisse der letzten Jahre, durch alles das, was über die Menschen hereingebrochen ist. Aber wir finden doch vielfach heute noch, daß die Menschen sich der Meinung hingeben: Ohne daß etwas Durchgreifen­des getan werde, müsse es wenigstens bei jenem Grade des Chaos blei­ben, bis zu dem wir schon vorgedrungen sind, und man könne nun aus dem, was eben da ist, weiterarbeiten; es werde sich das andere schon ergeben. Immer wiederum habe ich im Laufe der Jahre gegen diese Zeitempfindungen sprechen müssen, hinweisen müssen darauf, wie es notwendig ist, durch Umlernen und Umdenken die Geneigtheit zu fin­den, aus den tiefsten Fundamenten des Geistes- und Kulturlebens her­aus an einen wirklichen Neubau unserer öffentlichen Verhältnisse, un­seres öffentlichen Lebens zu denken. Und wenn es auch eine kleine Anzahl von Menschen heute schon gibt, welche darauf aufmerksam ge­worden sind, wie alle Anzeichen dafür sprechen, daß ohne solche durch­greifende Tat die abschüssige Bahn weiter und weiter gewandelt wer­den muß, so kann man auch bei diesen wenigen Menschen nur geringes Verständnis für dasjenige finden, was aus dem Erstreben einer neuen Metamorphose des menschlichen Geistes notwendig ist, um zu einer Gesundung, zu einer Heilung von manchem Kranken zu führen, das sich eben in der abschüssigen Bahn unseres Kulturlebens auslebt.

Drei Erscheinungen sind es, aus denen ein Wichtigstes für das Ver­ständnis unserer Zeit und dessen, was in ihr notwendig ist, hervor-leuchten kann. Das Erste möchte ich nennen den Hauptmangel unserer

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Zeit. Seit Jahrzehnten sind die Vorträge über Geisteswissenschaft be­müht gewesen, auf diesen Hauptmangel hinzuweisen und auch auf mancherlei, was aus diesem Hauptmangel einer nicht hinlänglichen Er­kenntnis und Durchschauung des Geisteslebens selbst für die Entwick­lung der Menschheit der Gegenwart und der nächsten Zukunft folgen muß. Das Zweite, was laut und deutlich aus den Tatsachen der Gegen­wart heraus spricht, möchte ich die Hauptforderung nennen. Und diese Hauptforderung tönt seit mehr als einem Jahrhundert in viele Herzen hinein, seit jener Zeit, als Schiller in seinem «Don Carlos» die Worte sprechen ließ: « Geben Sie Gedankenfreiheit! » Wer tiefer hineinblickt in das soziale und in das Geistesleben unserer Zeit, wird finden können, wie sich hinter manchem, was heute von den Leuten bewußt formuliert wird als diese oder jene soziale Forderung, eigentlich die Forderung nach einer freien Betätigung des innersten Menschenwesens, des menschlichen Gedankens verbirgt. Seufzend stehen viele Menschen unter dem Zwang ihres Gedankeniebens, der ihnen entweder aus alten bestehenden Einrichtungen oder auch aus den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen heraus kommt. Sie finden sich entweder durch offiziell bestehende Bekenntnisse oder auch durch den Zwang des wirtschaft­lichen Lebens in ihrer freien Entfaltung des Gedankens gehemmt. Was eigentlich in den Seelen lebt, bleibt zum guten Teil unbewußt; was aber ins Bewußtsein heraufsteigt, kommt darin zum Ausdruck, daß man mit irgend etwas nicht zufrieden sein könne; daß etwas da ist, was den Men­schen nicht offen und frei vor sich bekennen läßt: Ich darf ein men­schenwürdiges Dasein führen. Und so entstehen die mannigfachsten Programme, die sehr schöne Dinge enthalten, aber nicht hinunterrei­chen auf den Grund der Seele, um zu schauen, was da eigentlich lebt. Sucht man nach dem, was da lebt: es ist die Sehnsucht nach freiester Be­tätigung des innersten Menschenwesens, nach dem, was man zusam­menfassen könnte mit dem Ausdruck der Zeitforderung nach Gedan­kenfreiheit. Und man braucht nur das Wort « soziale Kräfte» auszu­sprechen - und es kann gefühlt werden, wie damit darauf hingewiesen ist, daß uns die modernen Geistes-, die modernen Rechts- und politi­schen, die modernen wirtschaftlichen Verhältnisse ein Zeitalter herauf-geführt haben, in dem die produktiven Kräfte des Lebens kompliziert

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wirken, und wie wir nicht imstande sind, aus dem heraus, was wir gei­stig bezwingen, aus dem heraus, was wir programmatisch verarbeiten wollen, diese sozialen Kräfte, in die die Menschen hineinverwoben sind, so zu organisieren, daß innerhalb dieser Organisation der einzelne Mensch, der zum Bewußtsein seines Menschentums gekommen ist, sich die Frage befriedigend beantworten kann: Führe ich ein menschen­würdiges Dasein?

Ich darf voraussetzen, daß der größte Teil der heute hier versammel­ten Zuhörer aus den Vorträgen und den Schrften, welche den Inhalt dieser Vorträge weiter ausführen, und die von mir veröffentlicht sind, im Laufe vieler Jahre haben entuehmen können, welches der innere Sinn und welches der Geist der hler gemeinten Geisteswissenschaft ist. Diese Geisteswissenschaft glaubt, aus einer Zeituotwendigkeit heraus sich hineinstellen zu müssen in das gegenwärtige Kulturleben. Ich werde heute, da ich auf die zahlreichen hier schon gehaltenen Vorträge verweisen darf, nur einiges Prinzipielle darüber anzudeuten brauchen. Vor allen Dingen möchte ich aber noch einmal auf eines einleitungs-weise hindeuten, das schon in den verschiedensten Formen besprochen worden ist.

Wenn von Geisteswissenschaft die Rede ist, so bringt die Außenwelt sie vielfach mit allen möglichen Formen einer vertrackten Mystik, einer vertrackten Theosophie und so weiter zusammen. Trotzdem diese Geisteswissenschaft tut, was sie kann, um über ihren eigentlichen Sinn aufzuklären, so wird doch in weitesten Kreisen heute noch so über sie gesprochen, daß es das gerade Gegenteil von dem darstellt, was diese Geisteswissenschaft eigentlich sein will. In erster Linie empfinden es die Träger dieser Geisteswissenschaft, daß seit drei bis vier Jahrhunderten eine Denkweise innerhalb der Menschheit heraufgezogen ist, die unser ganzes Leben beherrscht, und die ihren bedeutsamsten Ausdruck in der Vorstellungsart der neueren Naturwissenschaft gefunden hat. Ich bitte, mich in diesem Punkte nicht mißzuverstehen. Nicht will ich den Glau­ben erwecken, als ob ich annähme, daß von jener Geistesrichtung nur diejenigen Menschen erfüllt sind, die irgendeine naturwissenschaftliche Bildung durchgemacht haben. So ist die Sache nicht, sondern Menschen weitester Kreise, bis hinunter zu denen mit einer ganz primitiven Kul­tur

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und Bildung, die heute eine Aufklärung haben wollen über das Wesen des Menschen, über das Wesen des sozialen Lebens, über das Wesen auch des Weltalls, sie denken so, sie stellen in einer solchen Rich­tung vor, wie es in der Hauptsache durch die Naturwissenschaft zum Ausdruck gekommen ist. Und es ist kein Wunder, daß das so ist, denn unser ganzes Leben, das uns umgibt, in das wir den ganzen Tag über hineinverwoben sind, ist im Grunde genommen ein Ergebnis dieset naturwissenschaftlichen Denkweise.

Diejenigen, die mich öfters gehört haben, wissen, daß ich diese na­turwissenschaftliche Denkweise nicht unterschätze, daß ich ihre großen Triumphe wohl anerkenne. Aber sie hat diese Triumphe gerade da-durch erzielt, sie hat einen Teil unseres praktischen Lebens in so groß­artiger Weise ergreifen können, weil sie im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte grandios einseitig geworden ist. Alles, was nach die­ser Richtung hin die Menschen denken, fußt auf der Erkenntnis der leblosen Natur, des Physikalischen, des Chemischen, was dann über­geht in die Technik, in alles das, was unseren Lebenseinrichtungen zu­grunde liegt, was auch zum Beispiel in unsere Heilmethoden übergeht, also in diejenigen Erkenntnisse, die für das Menschenleben von einer gewissen Seite her hilfreich sein sollen. Wer aber in vorurteilsloser Weise anerkennt, wie gewaltig die Fortschritte naturwissenschaftlicher Vorstellungsart in biologischer, physikalischer, chemischer Hinsicht sind, und wer zu würdigen versteht die Tragweite dessen, was gewis­senhafte Methodik in diesem Punkte geleistet hat, gerade der wird zu gleicher Zeit die Grenzen dieser naturwissenschaftlichen Vorstellungs-weise auch voll ins Auge fassen können. Ich habe das unzählige Male hier ausgeführt, und ich möchte es jetzt zusammenfassen in die Worte:

Wer tiefer eindringt in das, was wir heute echte Naturwissenschaft nen­nen, wird finden, daß diese Naturwissenschaft vorzügliche Aufschlüsse gibt über die leblose Natur und über dasjenige am Lebendigen, was, ich möchte sagen, aus Einschlüssen in dieser leblosen Natur besteht. Aber eines gibt es, vor dem wir gerade dann stehen bleiben müssen, wenn wir die Erkenntnistragweiten der naturwissenschaftlichen Vorstel­lungsart überschauen: Wir müssen stehen bleiben vor dem eigentlichen Wesen des Menschen. Es gibt keine Möglichkeit, wenn man sich nicht

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einer Selbsttäuschung hingeben will, zu glauben, daß diese Anschauun­gen, die uns so tief hineingeführt haben in das Leblose, die uns « so herrlich weit gebracht » haben in unseren technischen Leistungen, -daß diese Anschauungen einen Aufschluß geben können über das We­sen des Menschen. Dieser Aufschluß über das Wesen des Menschen -das kann derjenige wissen, der nicht an jener fahle convenue festhält, die zwar nicht Geschichte ist, die man aber Geschichte nennt -, diese Erkenntnis des Menschen war bis zu dem Zeitpunkt, der drei bis vier Jahrhunderte zurückliegt, dem Menschen etwas Instinktives. Es lebte eine gewisse Erkenntnis des menschlichen Wesens aus einem ursprüng­lichen.elementaren Instinkt der Menschheit. Allein gerade so, wie das einzelne Menschenwesen eine Entwicklung durchinacht, so auch die ganze Menschheit. Und die Menschheit ist einmal - man mag aus Täu­schungen heraus noch so sehr etwas anderes behaupten - in ihrer Ent­wicklung an jenem Punkte angelangt, wo sie über das Menschenwesen nicht mehr aus dem bloßen Instinkt heraus urteilen kann, wo es not­wendig ist, daß der Mensch bewußt eindringe in das Wesen des Men­schen selbst, wie er bewußt eindringen muß seit Kopernikus, seit Galilei in die Erscheinungen des äußeren Naturlebens. Wenn man an den ent­scheidenden Punkt kommt, wo man stille stehen muß mit der Natur­wissenschaft vor dem Einblick in die menschliche Wesenheit, da gibt es nichts anderes, als sich hinzuwenden zu dem, was ich schon öfters ge­nannt habe die dem Menschen notwendige intellektuelle Bescheiden­heit, die erst die Grundiage abgeben kann für das Erstreben einer wirk­lichen menschlichen Entwicklung.

Wer nicht aus echtem Erkenntnissinn heraus diese intellektuelle Be­scheidenheit entwickeln kann, vermag nicht zu einer wirklichen Er­kenntnis des Menschenwesens zu kommen. Man muß sich sagen kön­nen: Ich sehe ein fünfjähriges Kind, und ich gebe ihm einen Band Goe­thescher lyrischer Gedichte. Es sieht ihn an, es zerreißt vielleicht das Buch. Es hat alles das vor sich, was der Erwachsene, der eine Entwick­lung durchgemacht hat, auch vor sich hat, so daß er wirklich das finden kann, was aus diesem Band Gedichte zu ihm sprechen soll. Aber wie man zugeben muß, daß das Kind sich erst entwickeln muß, um in der richtigen Weise zu dem zu stehen, was es vor sich hat, so muß man

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heute auch sagen: So wie der Mensch durch die Natur in das Dasein hereingestellt ist, steht er vor dem Menschenleben selbst wie ein fünf­jähriges Kind vor einem Band Goethescher Gedichte, wenn er nicht den Willen hat, seine Entwicklung über das hinauszuführen, was man heute gewöhnlich für die einzig möglichen Methoden hält. Man muß seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen. Dann aber zeigt sich, daß in dieser Menschenwesenheit unbekannte, verborgene Kräfte sind, die auferweckt werden können und die eine ebenso streng wissenschaft­liche Erkenntnis geben, wie sie nur je eine Naturwissenschaft zu geben vermag, die aber über das Erkennen der Außenwelt, der Sinnenwelt hinausgehen und in das Übersinnliche führen und dann erst dahin lei­ten, das Wesen des Menschen wirklich zu durchschauen. Gestehen muß man sich können: Mit den gewöhnlichen Kräften, die für das Natur-erkennen ausreichen, können wir nicht an das Menschenwesen heran-treten. Wir können es nur, wenn wir Erkenntniskräfte, die sonst in uns schlummern wie die Verständniskräfte im fünfjährigen Kinde, - wenn wir diese herausholen aus den Tiefen der menschlichen Seele.

Und so vertritt die hier gemeinte Geisteswissenschaft die Anschau­ung, daß es möglich ist, von dem Standpunkt aus, der hinreichend ist, um die äußere leblose Natur zu erkennen, den Menschen weiterzu­führen zu Gesichtspunkten der Erkenntnis, von denen aus man erst in das menschliche Wesen eindringen kann. Diese Geisteswissenschaft will nicht sein ein müßiges Grübeln in innerer Mystik, diese Geisteswissen­schaft will auch nicht irgendwelche äußeren Machinationen handhaben, um zum Geiste vorzurücken, sondern will etwas sein, was so streng auf dasjenige baut, wofür der Mensch wirklich entwicklungsfähig ist, wie etwa der Mathematiker auf die Entwicklung jener Fähigkeiten baut, die auch ganz aus dem Innern des Menschen hervorgeholt werden. So streng logisch will diese Geisteswissenschaft sein wie nur irgendein anderer Zweig der Wissenschaft, sie will aber diese Logik nur auf das anwenden, was sich als geistige Schauung ergibt, wenn naturgemäß das im menschlichen Innern Schlummernde wirklich erweckt wird. Ich habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» darauf hingewiesen, daß es durchaus innerliche, seelisch-geistige Methoden sind, durch die diese Entwicklung innerer, geistig-seelischer

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Kräfte im Menschen bewirkt wird, und wie dadurch in ihm aufgeht, um mit den Goetheschen Worten zu sprechen, ein Geistesauge, ein Seelen-ohr, ein Geistesohr, damit er das Geistige, das Seelische schauen, hören kann, für das wir heute im Grunde genommen nur Worte haben. Da wird darauf hingewiesen, daß es darauf ankommt, eine gewisse Ver­stärkung des Gedankenlebens immer wiederum zu pflegen. Ich habe darauf hingewiesen, wie eine gewisse Selbstzucht, ein In-die-Hand-Nehmen derjenigen Entwicklung notwendig ist, in der wir uns sonst einfach dem Leben überlassen, damit das geistige Auge, das geistige Ohr aufgeht.

Die meisten Zeitgenossen verhalten sich noch durchaus ablehnend gegen alles, was von dieser Seite kommt. Und dennoch, man braucht nur darauf hinzuweisen, wie in unserer Zeit, in welcher die sozialen Forderungen an allen Orten nur so aufschleßen, die antisozialsten Triebe walten. Woher kommen diese? Sie kommen davon her, daß die Menschen eigentlich ohne Verständnis aneinander vorübergehen und daß sie einander nicht begreifen. Und warum begreifen sie einander nicht? Weil das, was sie Erkenntnis, was sie ihr Wissen nennen, nicht in den ganzen Menschen eingreift, weil das im Kopfe bleibt, weil sich das beschränkt auf den bloßen Intellekt. Das ist das Eigentümliche der hier gemeinten Geisteswissenschaft, daß die Erkenntnisse, die sie lie­fert durch die entwickelten Kräfte, den ganzen Menschen ergreifen, daß sie nicht nur zum Intellekt, nicht nur zum Kopfe sprechen, sondern daß sie Gefühl und Willen durchtränken, daß sie eingießen in das Fühlen Menschenverständrus, Verständnis alles dessen, was da lebt und webt neben und außer uns, daß sie den Willen durchpulsen mit Ethik, mit Sittenlehre, mit einer sozialen Gesinnung, die zu gleicher Zeit auf das unmittelbar praktische Leben einwirkt.

Diese Geisteswissenschaft kennt nicht jene unglückselige Teilung, die man heute an allen Straßenecken besprochen findet, die Teilung in Kopf- und Handarbeit. Was ist schließlich unsere Handarbeit? Sie ist nichts anderes als der Gebrauch unserer Leibeswerkreuge im Dienste unseres Willens. Wenn wir uns aber klar sind darüber - und ich habe oft auch davon gesprochen -, daß dieser Wille als ein Geistiges alles durch­pulst, was wir als ganzer Mensch verrichten, und wiederum zurückstrahlt

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auf den Verstand unseres Kopfes, - wenn wir wirklich den gan­zen Menschen im Auge haben, dann erst werden wir den innersten Im­puls dieser Geisteswissenschaft verstehen.

Verzeihen Sie, wenn ich bei dieser Gelegenheit etwas Persönliches erwähne. Aber Persönliches wird in diesem Falle gerade dienlich sein, um Sachliches klarmachen zu können. Der Geisteswissenschaft, von der hier gesprochen ist, ihr soll dienen auf dem im Nordwesten der Schweiz gelegenen Dornacher Hügel, einem Stück Jura, das dort er­richtete Goetheanum, das gedacht ist als eine Hochschule für Geistes­wissenschaft. Als darangegangen wurde, diese Hochschule für Geistes­wissenschaft zu begründen und ihr den äußeren Bau zu widmen, konnte es sich nicht darum handeln, nun zu irgend jemand zu gehen, der aus den alten architektonischen oder künstlerischen Anschauungen heraus einen Bau gebaut hätte, in den man dann eingezogen wäre, um diese Geisteswissenschaft zu betreiben. Nein, da mußte es sich um etwas anderes handeln. Diese Geisteswissenschaft ist von Anfang an so fruchtbar gedacht gewesen, daß sie eingreifen kann in das ganze äußere Kulturleben, daß sie wirklich dasjenige, was alt geworden ist in unserer Kunst, in unserer Architektonik, in unserem Leben, in unserer Arbeit, neu befruchten kann. So konnte man nicht einfach jemandem den Auf­trag geben: Baue mir im griechischen, im romanischen, im gotischen oder sonst einem Baustil einen Bau. Sondern aus dieser Geisteswissen­schaft selber gingen so wie die anderen Gedanken des Lebens, wie die anderen Impulse des Lebens, auch die architektonischen Gedanken hervor, die eingaben: so muß dieser Bau sein in jeder Linie, in jeder ein­zelnen Form. Und so wurde der Bau unternommen, daß er in der Tat in jeder einzelnen, auch in der kleinsten seiner Formen die äußere Kristallisation dessen sein wird, was als Vorstellungsweise, als Gesin­nung dieser Geisteswissenschaft zugrunde liegt.

Und so darf ich vielleicht folgendes Persönliche sagen: Es war im Herbst 1913 und im Winter auf 1914, als ich selber das Modell dieses Baues ausarbeitete, den ganzen Bau im kleinen. Ich frage nun, da ich das Modell ausgearbeitet habe, nach dem sogar die architektonischen Zeichnungen gemacht sind: War das, was ich ausarbeitete in Handar­beit, war das Handarbeit oder Kopfarbeit? Das war etwas, wo beides

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zusammeniloß und als eine Einheit wirkte. Das weiß ich, weil ich die Sache eben gemacht habe. Dann wiederum: Es gibt kaum etwas an diesem Bau, wo ich nicht, wie jeder einzelne Arbeiter, da und dort Hand angelegt habe. Und wen es gerade interessieren könnte, dem möchte ich sagen: Wir arbeiten als Mittelpunktsfigur dieses Baues eine neunein-halb Meter hohe Holzgruppe, welche darstellen soll das Menschenrät-sel unserer Zeit, aber in künstlerischer Erscheinung. Da handelte es sich darum, eine bildhauerische Holzarbeit herzustellen. Trotzdem die Arbeit künstlerisch ist, ist sie, wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf, ein Holzhacken, und ich könnte schon die Schwielen an meinen Fingern zeigen, die den Beweis liefern, daß hierGeistesarbeitinunmittel­barer Handarbeit vom Morgen bis zum Abend selber ausgeführt wird.

Vor kurzem hatten wir eine gewisse finanzielle Frage zu entscheiden; wir mußten die Stühle herstellen. Wir ließen uns den Kostenvoran­schlag geben. Der Preis war ein ungeheuerlicher. Nun machten wir in unserem künstlerischen Atelier selbst das Modell eines Stuhies, wir arbeiteten dabei zusammen mit einem Arbeiter, der in der Tat außer­ordentlich geschickt ist. Als das Modell fertig war - der Stuhl wird nur zwei Fünftel kosten von dem, was er nach dem andern Vorschlag ge­kostet hätte-, da konnte man wiederum nicht sagen, wo da die Geistes-arbeit aufhört und wo die Handarbeit anfängt.

Man darf sogar sagen: Nach der Art, wie da zusammengearbeitet wird im sozialen Zusammenleben mit den Mitarbeitern, die sich aus Freunden unserer Bewegung einerseits und aus Arbeitern andererseits zusammensetzen, gibt es eigentlich nur ein Hindernis, ohne welches es sich zeigen würde, daß überall die Geistesarbeit zusammenfließt mit der Handarbeit. Wir haben zum Beispiel eine Dame, die für ärztliche Hilfsarbeit diplomiert ist und die vom Morgen bis zum Abend für un­sere Bildhauerarbeit die Messer schleift. Und wir können fragen: Was hindert es nun, daß dasjenige, was wir, die man geistige Arbeiter schimpft, leisten, einfach ungetrennt überffieße in das, was die Arbeiter machen, zur vollsten Zufriedenheit von beiden Teilen, zum vollstän­digst befriedigenden sozialen Zusammenarbeiten? Ja, ich habe wohl Verständnis für alles, was als soziale Erscheinungen heraufgezogen ist. Dennoch muß ich sagen: Wenn ich von dem einzigen Hindernis spre­chen

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soll, was unmöglich macht, daf3 zugleich Handgti und Geistesar­beit übergeben werden dem Handgriff des Handarbeiters, so ist es das Organisiertsein der Arbeiter, die mit Mißtrauen auf alles sehen, was von den geistigen Arbeitern kommt, die doch eigentlich dasselbe tun.

Woher kommt es denn, daß im Grunde genommen heute ein so tiefer Abgrund besteht zwischen dem, was in unserer Kunst, in unserer Wis­senschaft, kurzum in unserem geistigen Leben und auch in der geistigen Leitung unseres sozialen Lebens liegt, und in der äußeren Arbeit, mit der sich heute hauptsächlich die proletarische Bewegung zu schaffen macht? Dieser Abgrund ist dadurch gekommen, daß aus unserer Denk­weise herausgeflohen ist dajerige, was den ganzen Menschen betrifft. Eine Gesundung dafür liegt nur in der Geisteswissenschaft, nicht in einer einseitig vertrackten Mystik oder Theosophie, welche müßige Leute in ihrem Kämmerchen betreiben mögen, ohne daß eine Stoß­kraft vorhanden ist. Das Gesundende dieser Geisteswissenschaft liegt darin, daß durch sie der ganze Mensch in Anspruch genommen wird. Und ich habe das jetzt deshalb gesagt, um daran die Bemerkung zu knüpfen: Ich weiß, daß die Erkenntnisse, die ich heute vor der Welt mit voller Verantwortung vertrete, mir nicht gekommen wären, wenn ich nur mit dem Kopf gearbeitet hätte, wenn ich nicht mein ganzes Leben hin so etwas hätte treiben müssen, was man gewöhnlich Handarbeit nennt; denn dieses ist ja auch von einer gewissen Wirkung auf den Menschen. Was nur die sogenannte Kopfarbeit ist, was nur den Intel­lekt in Anspruch nimmt, das reicht nicht bis zum Geist. Und etwas, was heute vielen Menschen als höchst paradox erscheinen wird, das möchte ich hier erwähnen. Man sagt heute draußen im praktischen Leben: Handarbeit, Praxis; drinnen, aus dem Intellekt heraus: geistige Arbeit! 0 nein, so ist es gar nicht, wie diese Worte glauben machen möchten. Wir haben die Trennung zwischen äußerer Lebenspraxis und dem so­genannten Geistesleben, weil aus beiden der Geist gewichen ist, weil wir heute in der mechanischen Tretmühle der Technik drinnenstehen, weil der Arbeiter an der Maschine steht und bloß mechanische Verrich­tungen verübt nach Anieitungen des Intellekts, und weil auf der andern Seite diejenigen, die für ein intellektuelles Leben erzogen werden, zu wenig hineingestellt werden in die realen praktischen Arbeiten. So

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geistlos unsere Praxis ist, so geistlos ist unser intellektualistisches gei­stiges Leben. Erst dann, wenn aus der vollen Betätigung des Menschen in der Welt dasjenige wiederum zurückfließt auch nach unserem Kopf, auch zu unserem Denken, was nur aus diesem ganzen Menschenwesen hervorgehen kann in harmonischer Betätigung von allem, was am Menschen ist, nur dann, wenn wir nicht bloß denken mit dem Kopf, sondern so denken, wie man denkt, wenn man einmal mit der Hand etwas geformt hat und gespürt hat, wie das zurückstrahit in den Kopf, nur dann wird der Gedanke so voll gesättigt von Wirklichkeit, daß Geist darinnen ist. Das bloß Ausgedachte ist geradeso geistlos wie das geistlos an der Maschine Gearbeitete.

Nicht lebensfremde Mystik soll die Geisteswissenschaft, die hier ge­meint ist, treiben. Sie soll entsprießen aus dem vollen Sich-Hineinstel­len in das Leben und soll gerade viel mehr mit Wirklichkeit gesättigt sein als das, was heute gewöhnlich als Geistesleben gemeint ist. Oder ist etwa, was heute als Geistesleben gemeint ist, mit Wirklichkeit gesättigt? Sehen wir nicht, wie ohnmächtig die Wissenschaft ist, um wirklich zu einem Ergreifen des Geistes zu kommen? Da glauben die Menschen, die heute landläufig in unserer Zeitkultur drinnenstehen, sie treiben vorurteilslose Naturwissenschaft. Aber diese vorurteilslose Naturwis­senschaft - wodurch ist sie denn eigentlich entstanden? Dadurch, daß durch lange Jahrhunderte hindurch alles, was die Menschen zu wissen ersehnten über Seele und Geist, über das, was herausreicht über Geburt und Tod, daß sie in bezug auf alles das angewiesen waren - angewiesen durch die sozialen Verhältnisse - auf dasjenige, was die Bekenntnisse monopolisierten. Als der Geist der neueren Naturwissenschaft herauf-zog - wie sah es denn da eigentlich im sozialen Leben aus? Monopoll­siert war alles das, was der Mensch wissen durfte über Seele und Geist, monopolisiert in den Dogmen der Bekenntnisgesellschaften. Man durfte nicht denken über Seele und Geist, man durfte es nur über die äußere Sinneswelt. Und darin haben sich die Menschen, die Naturwis­senschaft getrieben haben, hineingefunden. Sie haben sich gewöhnt, nur über die äußere Sinneswelt zu denken und zu forschen, weil durch Jahrhunderte verboten war, nach Geist und Seele zu forschen. Das haben sie sich übersetzt in gewisse Vorstellungen, sie haben bloß äußere

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Sinneswissenschaft getrieben. Das ist dann durch eine Selbsttäuschung grandioser Natur zu dem Glauben geworden, exakte Wissenschaft könne nur über äußere Sinneswelt etwas entscheiden, und das Forschen nach Seele und Geist liege jenseits der Grenzen der Erkenntnis. Das aber wurzelt auch im Seelenieben des modernen Menschen und durch-dringt alles Leben. Man kann mit einer solchen Anschauung fruchtbare Gedanken über die Natur gewinnen. Sobald man aber heraufdringen will ins soziale Leben, reicht diese Denkweise nicht aus. Da ist es not­wendig, zur Begründung einer wirklichen Volkswissenschaft, einer wirklichen sozialen Wissenschaft, die auch eingreifen kann in das Le­ben, - daß wir uns durchdringen mit einer Anschauung über den ganzen Menschen. Und die fehit uns, weil die Einflüsse, die ich charakterisiert habe, es verhinderten.

So ist es gekommen, daß man sich sagte: Geist und Seele ist etwas, was Jahrhunderte lang durch Dogmen festgelegt worden ist. Darüber kann nicht geforscht werden. Das ist etwas, was nur durch den Men­schenwillen sich wie Rauch und Nebel über dem wirklichen Leben be­wegt, und da formt man als das Wirkliche nichts anderes als die ökono­mischen Kräfte selber. Der Unglaube entstand: Das Geistige waltet in dem, was die äußeren wirtschaftlichen Kräfte sind. Und aus dem Un­glauben entstand, was verhängnisvoll Platz gegriffen hat in den Köpfen und Herzen der Menschen. Der Glaube entstand, daß das Geistesleben von selbst sich herausentwickeln könne aus den wirtschaftlichen Kräf­ten, wenn diese nur in gewisser Weise organisiert werden. Keine Ein­sicht ist vorhanden, daß alles, was wirtschaftlich entstanden ist, ur­sprünglich die Ergebnisse des Geisteslebens sind, daß aber unser Gei­stesleben weltfremd geworden ist, daß ein Abgrund zwischen ihm und dem äußeren Leben besteht und daß wir für eine Gesundung unseres Lebens eine wirkliche Geisteswissenschaft brauchen, die eindringt in das Wesen des Menschen, die den Menschen ebenso durchdringt wie die äußere Naturwissenschaft die Maschine, die aber auf die entwickelten Kräfte der menschlichen Natur aufgebaut sein muß. Kurz, die Erkennt­nis ist außerordentlich erschwert, daß Geisteswissenschaft der Grund werden muß für die Erkenntnis und Bemeisterung des sozialen Lebens. Das ist es, was der Träger der Geisteswissenschaft zu erkennen glaubt,

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daß der menschliche Intellekt nicht Stoßkraft genug hat, auch nicht da, wo er im heutigen sozialen Leben pulsiert, um ins wirkliche Leben un­terzutauchen, und daß Letzteres mehr und mehr ins Chaos kommen muß, wenn nicht die Impulse belebt werden, die hineinreichen ins Füh­len und Wollen, die Mensch zu Mensch so stellen können, daß die so-zialen Kräfte organisiert werden können. Nehmen Sie, was Sie wollen an naturwissenschaftlichen Methoden von jener exakten Naturwissen­schaft, die in unserer Zeit ihren Höhepunkt erreicht hat, Sie können keine Sozialwissenschaft damit begründen. Gegenüber der Sozialwis­senschaft verhalten sich die Vorstellungen, die man ohne die Geistes­wissenschaft gewinnt, so, wie sich etwa eine Farbe verhält, die man an einer öligen Fläche anstreichen will. Wie die ölige Fläche die Farbe zu­rückweist, so weist das Leben zurück, was als bloße Intellektualwissen­schaft unter uns waltet.

So schreit das äußere Leben nach einer solchen Vertiefung, wie sie gerade von der Geisteswissenschaft gegeben ist. Geisteswissenschaft wird es sein müssen, welche die Grundlagen abgibt für das, was unbe­wußt die Menschen heute in ihre sozialen Forderungen kleiden, was sie nicht klar formulieren können, weil die Denkkraft nicht vorhanden ist. Daher ist es notwendig, diese Geisteswissenschaft nicht als etwas aufzu­fassen, dem man sich nebenbei mit ein paar Gedanken widmen könnte, sondern als etwas, was zu den notwendigsten Bedingungen der Gesun­dung unseres Lebens gehört. Ich weiß wohi - denn ich glaube wahr­haftig kein unpraktischer Mensch zu sein-, die Leute sagen: Wir haben unsere Berufe, wir können uns nicht widmen dieser immerhin recht ausführlichen Geisteswissenschaft. Sollte nicht auch der andere Ge­danke ein wenig einziehen in die Herzen und Seelen der Menschen: Zeigt nicht die heutige abschüssige Bahn, auf der wir wandeln - wenn wir auch noch so sehr drinnen stehen im Beruf-, daß wir nur mitarbei­ten an der Gestaltung des Weges in das Chaos hinein? Und sollten wir es nicht für notwendig halten, jede Stunde, die wir erübrigen können, solchen Anschauungen zu widmen, die nun wirklich radikal die Frage nach der Gesundung aufwerfen?

Und innig zusammen hängt das, was hier als Geisteswissenschaft ge­meint ist, mit jenem Ruf in unserer Zeit, der aber, wie ich ausgeführt

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habe, weit älter als ein Jahrhundert ist, mit jenem Ruf, den ich bezeich­nen möchte als den Ruf nach Gedankenfreiheit. Dieser Ruf ist aber überhaupt der Ruf nach sozialer Freiheit. Merkwürdig, wenn man in unserer Gegenwart versucht, hineinzuschauen in dasjenige, was in den Wellen der sogenannten sozialen Forderungen an die Oberfläche geht, dann stößt man immer wieder auf die Notwendigkeit, einzusehen, wie es sich eigentlich mit der menschlichen Freiheit verhält, mit jenem Im­puls, der sich in der einen oder andern Form als der Impuls der mensch­lichen Freiheit äußert. Daß man da einen wichtigen Punkt berührt, darauf kann selbst der Mann, den ich für den unglückseligsten Men­schen betrachte unter den sogenannten hervorragenden Menschen un­serer Zeit, die einen Einfluß auf die Gestaltung der Verhältnisse gewon­nen haben - darauf kam sogar Woodrow Wilson. Da ich über Woodrow Wilson auch im neutralen Auslande während der Kriegszeit, während er von allen Seiten so angebetet worden ist, nie anders gesprochen habe, darf ich auch heute so wie immer über Woodrow Wilson sprechen. Es finden sich in seinen Schriften zahlreiche Stellen, in denen er darauf hinweist, wie eine Gesundung der Verhältnisse - er kennt vorzugs­weise die amerikanischen - nur daraus hervorgehen könne, daß dem Streben der Menschen nach Freiheit wirklich Rechnung getragen werde.

Allein, was ist für Woodrow Wilson Freiheit des Menschen?

Da kommt man auf ein sehr, sehr interessantes Kapitel im gegenwär­tigen menschlichen Denken - denn eine Art repräsentativer Denker ist dieser Woodrow Wilson ja doch -, da finden Sie in seiner Schrift über die Freiheit folgende Anschauung: Den Begriff Freiheit kann man sich bilden, wenn man auf eine Maschine schaut, wie da ein Zahnrad ange­bracht ist. Wenn es so angebracht ist, daß die mechanische Einrichtung sich so bewegen kann, daß es ohne Hinderung geschieht, so sagt man, das Zahnrad laufe frei. Wenn man ein Schiff betrachtet, sagt er, so muß das Schiff derart konstruiert sein, daß die Maschinerie in den Wellen-gang eingreift, so daß es nicht gehindert wird, daß es also gewisser­maßen mit den Wellenkräften sich fortbewegt, ihnen angepaßt ist, frei läuft in den Wellenkräften. Mit dem, was ein solches Zahnrad in einer Maschine, was ein Schiff in den Wellen des Meeres ist, vergleicht

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Woodrow Wilson das, was der Impuls der menschlichen Freiheit wirk­lich sein soll. Er sagt: Ein Mensch ist dann frei, wenn er ungefähr so wie das Rad in der Maschinerie frei läuft, wenn er frei läuft in den äuße­ren Verhältnissen, so daß er sich in ihnen fortbewegt, daß er hinein­greift mit seinen Kräften in das, was außen läuft, sodaß er nicht gehin­dert wird.

Nun, ich denke, es ist sehr interessant, daß aus der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Vorstellungsart und Gesinnung diese sonder­bare Anschauung über die menschliche Freiheit hervorsprießen kann. Denn ist es nicht das Gegenteil von Freiheit, wenn man an die Verhält­nisse so angepaßt ist, daß man nur in ihrem Sinne laufen kann? Fordert es nicht die Freiheit, daß man sich nötigenfalls den äußeren Verhältnis­sen entgegenstemmen kann? Würde man nicht, was als Freiheit lebt, vergleichen müssen mit dem, was sich nötigenfalls so benehmen könnte, daß sich das Schiff gegen die Wellen wendet und stoppt?

Woher kommt diese so merkwürdige Anschauung, aus der nimmer-mehr eine gesunde staatsmännische Einsicht entspringen kann, son­dern höchstens die 14 abstrakten Punkte der Wilsonschen Kundgebun­gen, die man leider auch hierzulande in einer gewissen Zeit wenigstens teilweise bewunderte? Daher kommt es, daß in unserer Zeit nicht ein­gesehen wird, wie man zurückgehen muß auf den menschlichen Gedan­ken selber, auf jenen Gedanken, der als Gedanke gefaßt wird und der, wenn von Freiheit wirklich geredet wird, den einzigen wirklichen freien Impuls für das Menschenieben abgeben kann. Das war es, was ich vor jetzt mehr als dreißig Jahren versuchte, in meiner «Philosophie der Freiheit» darzustellen, von der vor kurzem eine Neuauflage mit ent­sprechenden Ergänzungen erschienen ist. Da versuchte ich allerdings in anderer Art diesen Impuls nach Freiheit aufzufassen, als es gegenwärtig geschieht. Ich versuchte zu zeigen, wie falsch gefragt worden ist nach der menschlichen Freiheit. Man fragt: Ist der Mensch frei oder ist er nicht frei? Ist der Mensch ein freies Wesen, das mit wirklicher Verant­wortung aus seiner Seele heraus die Entschiüsse fassen kann, oder ist er eingespannt in eine natürliche oder geistige Notwendigkeit wie ein Naturwesen? So hat man gefragt, ich möchte sagen, durch Jahrtausen­de, und so fragt man noch. Diese Frage schon ist der große Irrtum.

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Man kann so nicht fragen, sondern die Frage nach der Freiheit ist erne Frage der menschlichen Entwicklung, einer solchen menschlichen Entwicklung, daß der Mensch im Laufe seines Jugendiebens oder viel-leicht seines späteren Lebens Kräfte in sich entwickelt, die er nicht ein­fach von Natur aus hat. Man kann gar nicht fragen: Ist der Mensch frei? Von Natur aus ist er es nicht, aber er kann sich immer mehr und mehr frei machen, indem er Kräfte erweckt, die in ihm schlummern und die die Natur nicht erweckt. Der Mensch kann immer freier und freier wer­den. Man kann nicht fragen: Ist der Mensch frei oder unfrei, sondern nur: Gibt es für den Menschen einen Weg zur Erringung der Freiheit? Und diesen Weg gibt es. Wie gesagt, vor dreißig Jahren versuchte ich zu zeigen: Wenn der Mensch dazu aufrückt, ein inneres Leben in sich zu entwickeln, so daß er die sittlichen Impulse für seine Handiungen in reinen Gedanken erfaßt, kann er wirklich Gedankenimpulse, nicht bloß instinktive Emotionen seinen Handiungen zugrunde legen, - Gedan­ken, die in die äußere Wirklichkeit so untertauchen wie der Liebende in das geliebte Wesen. Dann nähert sich der Mensch seiner Freiheit. Die Freiheit ist ebenso ein Kind des Gedankens, der in geistiger Hellsichtig­keit erfaßt wird - nicht unter einem äußeren Zwang -, wie sie ein Kind der wahren hingebungsvollen Liebe ist, der Liebe zum Objekt des Handelns. Wonach das deutsche Geistesleben in Schiller strebte, als er sich Kant gegenüberstellte und etwas ahnte von einem solchen Frei­heltsbegriff, das ziemt uns, in der Gegenwart weiter auszubilden. Da aber stellte sich mir heraus, daß man nur sprechen kann von demjeni­gen, was den sittlichen Handiungen zugrunde liegt - wenn es auch bei den Menschen unbewußt bleibt, vorhanden ist es doch -; und daß man das nennen muß Intuition. Und so sprach ich in meiner «Philosophie der Freiheit» von einer moralischen Intuition.

Damit aber war auch der Ausgangspunkt gegeben für alles, was ich später auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft zu leisten versuchte. Glauben Sie nicht, daß ich heute über diese Dinge in einer unbescheide­nen Weise denke. Ich weiß sehr gut, daß diese «Philosophie der Frei­heit», die ich vor mehr als dreißig Jahren als junger Mensch konzipiert habe, gewissermaßen alle Kinderkrankheiten desjenigen Gedanken-lebens hat, das im Laufe des 19. Jahrhunderts heraufgezogen ist. Aber

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ich weiß auch, daß aus diesem Geistesleben heraus das entspros sen ist, was eine Hinaufleitung des Gedankeniebens in das wirklich Geistige ist. So daß ich mir sagen kann: Wenn sich der Mensch zu den sittlichen Impulsen in moralischer Intuition erhebt und ein wirklich freies Wesen darstellt, dann ist er bereits, wenn ich das verpönte Wort gebrauchen darf, mit Bezug auf seine sittlichen Intuitionen «hellsehend». In dem, was über alles Sinnliche hinausliegt, liegen die Antriebe alles Sittlichen. Im Grunde genommen sind die wirklich sittlichen Gebote Ergebnisse menschlichen Hellsehens. Daher war ein gerader Weg von jener «Phi­losophie der Freiheit » zu dem, was ich heute als Geisteswissenschaft meine. Freiheit entsprießt im Menschen nur, wenn der Mensch sich entwickelt. Er kann sich aber weiter entwickeln, so daß er dasjenige, was schon der Freiheit zugrunde liegt, auch dazu treibt, daß er unabhän­gig wird von allem Sinnlichen und sich frei in die Gebiete des Geistes erhebt.

So hängt Freiheit mit der Entwicklung des menschlichen Denkens zusammen. Freiheit ist im Grunde genommen immer Gedankenfrei­heit, und gerade, wenn wir auf solche repräsentativen Leute hinschauen wie Woodrow Wilson, müssen wir sagen: Weil solche Menschen nie­mals erfaßt haben, was eigentlich der Gedanke an wirklich Geistigem ist, wie er im Geistigen wurzeln muß, wenn er nicht abstrakt sein soll, deshalb können sie so paradoxe Definitionen erfinden, wie Woodrow Wilson für die Freiheit erfunden hat. An solchen Dingen ersehen wir das Ungenügende des gegenwärtigen Geisteslebens, dessen Haupt­mangel darin besteht, daß es nicht das geistige Wesen des Menschen erkennt. Wir sehen, was die Haupiforderung ist: Gedankenfreiheit, und was Hauptnot ist: die Bemeisterung der sozialen Kräfte, wenn dieses Leben sich zur Grundlage für diese drei großen Forderungen in der Ge­genwart für die nächste Zukunft entwickeln soll. So hängt dasjenige, was ein wirklich ursprünglicher Impuls im Menschen ist, nicht an dem im Menschen, was man durch naturwissenschaftliches Denken errei­chen kann, sondern an demjenigen, was nur durch geistige Anschau­ung zu erreichen ist.

Über Freiheit ist so viel gestritten worden, weil die Menschen darüber entscheiden möchten, ohne den Boden zu betreten, auf dem sich die

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Erkenntnis über die Unsterblichkeit der Menschenseele ergibt. Und niemand, der nicht in unbefangener Weise darauf eingeht, über die Er­kenntnis der menschlichen Unsterblichkeit, über das Ewige im Men­schen zu denken, ist imstande, auf das Wesen der menschlichen Freiheit einzugehen. Sucht man das Wesen dieser Freiheit nicht im Aufleuchten des nicht bloß von der Natur gegebenen Gedankens, dann findet man dieses Wesen der Freiheit nicht. Aber nur, wenn man es gefunden hat, dann durchdringt und durchpulst es den Menschen so, daß er ein wirk­lich soziales Wesen werden kann, denn es trägt ihnso neben die anderen Menschen in die soziale Ordnung hinein, daß von innen heraus die sozialen Kräfte entbunden werden können, und diese Empfindung der sozialen Kräfte brauchen wir.

Ich habe vorhin erwähnt, daß wir in Dornach bei unserem Bau in der Lage sind, Menschen hinzustellen, die sogar gewisse Höhepunkte der geistigen Schulung erreicht haben und die die gewöhnlichsten, schmut­zigsten Arbeiten verrichten, die darin wahrhaftig nichts denjenigen nachgeben, die man gewöhnlich auch Handarbeiter nennt. In sozialer Beziehung beruht der Bau von Dornach allerdings auf Grundiagen, die nicht ohne weiteres dieselben sind wie bei einer auf materiellen Erwerb gerichteten Unternehmung. Aber gehen Sie ein auf das, was ich ausein­andergesetzt habe in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» und in den Vorträgen über die Dreigliederung, dann werden Sie finden, daß die Möglichkeit besteht, ähnliche Grundlagen für das ganze Leben zu schaffen, wie sie in Dornach bei dem Bau geschaffen worden sind, der als Repräsentant für unsere geisteswissenschaftliche Bewegung daste­hen soll. Es ist nur schade, daß dieser Bau heute von vielen Leuten in andern Ländern nicht besucht werden kann, weil wir es leider dahin gebracht haben, daß die Überschreitung der Landesgrenzen geradezu eine Unmöglichkeit geworden ist.

Warum aber ist es möglich, doch in einem solchen Kreise die sozialen Kräfte so zu entbinden, daß das Ideal der proletarischen Bewegung -allerdings anders, als man es sich träumt - erfüllt wird? Weil allem, was da getan wird, zugrunde liegt die Auffassung des Lebens, dieses Ganz-in-Angriff-Nehmen des Lebens, das aus den Impulsen der Geisteswis­senschaft heraus erfolgt, weil auch alles Einzelne aus der Geisteswissenschaft

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heraus getan wird. Was da im kleinen aus der Geisteswissenschaft heraus getan wird, es kann auch im ganzen sozialen Leben aus der geisteswissenschaftlichen Erfassung des Lebens getan werden. Jede Fabrik, jede Bank, jedes äußere Unternehmen kann so organisiert wer­den, wie es nur der organisieren kann, der über das praktische Leben mit einer Wissenschaft zu denken vermag, die so tief in das menschliche Wesen hinabsteigt, daß sie nicht abstrakte Gedanken und Naturgesetze ergreift, sondern lebendige Tatsachen. Auf diese lebendigen Tatsachen kommt man, wenn man nur tief genug durch die angezeigten Methoden in das menschliche Wesen hinuntersteigt. Nicht eine abstrakte Mystik wird gesucht, sondern die Tatsachen des Lebens, durch die der Mensch in der Wirklichkeit drinnensteht. Und indem man den Menschen er­kennt, findet man durch diese Geisteswissenschaft zugleich dasjenige, was die sozialen Kräfte in die entsprechende Organisation bringen kann, so daß die in dieser Organisation lebenden Menschen die Frage sich befriedigend beantworten können: Ist das menschliche Leben menschenwürdig?

So hängen die drei Dinge zusammen: soziale Kräfte, Gedankenfrei­heit und Geisteswissenschaft. Geisteswissenschaft ist wahrhaftig das Gegenteil dessen, als was man sie oftmals darstellt. Ein Eckensteher des Lebens, so glaubt man, ein Traum müßiger Leute. Nein, Lebenspraxis, gerade diejenige Lebenspraxis, die unserer Zeit am meisten fehlt, will diese Geisteswissenschaft sein. Untertauchen will sie in das Leben, mei­stern will sie das Leben in Wissenschaft und Praxis, weil sie in die Wirk­lichkeit des Menschen, nicht bloß in das menschlich gedachte Leben untertauchen will. Es gibt heute gutmeinende Menschen, die sagen:

Der bloße Verstand, der bloße Intellekt, der sich in den letzten Jahr­hunderten und bis in unsere Zeit herein entfaltet hat, sie taugen nicht mehr zur Gesundung unseres Lebens. Wenn man sie aber fragt, was denn taugt, dann geben sie allgemeine Antworten - eine Wiederbe­fruchtung der Seele durch den « Geist ». Redet man von wahrer Geistes­wissenschaft, so lehnen sie sie ab, weil sie noch Furcht vor ihr haben, oder gebrauchen die sonderbarsten Ausreden. So findet man immer wieder, daß die Leute sagen: Es kann doch nicht ein jeder ein Geistes­fotscher werden. Gewiß, das kann nicht jeder, das habe ich auch hier

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immer wieder und wiederum betont. Denn man kann zwar jene ersten Schritte in die geistigen Welten, in das übersiliche Dasein hinein tun, wie ich sie beschrieben habe in meine Buche «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten? » und im zweiten Teil meiner «Geheimwis­senschaft »; es kann sie jeder jederzeit tun, aber das Vorrücken zu jenen Fragen, die von den Wesenheiten der übersinnlichen Welten in tieferem Sinne handeln, das ist allerdings gebunden an mancherlei Erlebnisse, zu denen heute noch nicht jeder geeignet ist. Derjenige, der hinein­schauen will in die geistige Welt, der in dem eigentlichsten Sinn geisti­ger Forscher werden will, muß manche Überwindungen durchmachen. Sie brauchen nur zu bedenken, daß in dem Augenblick, wo man wirk­lich mit einer Erkenntnis, die sich nicht der Sinne bedient, in dem Augenblick, da man in ein leibfreies Erkennen eintritt und die gewohnte äußere Welt nicht mehr da ist, - daß man da in einer Welt ist, die allerlei Ungewohntes darbietet: Alle Dinge, die einen gewöhnlich stützen, die sichere äußere Erfahrung, der gewöhnliche Intellekt, sie müssen ande­ren, inneren Richtekräften weichen. Man ist wie über einem Abgrund und muß sich durch den Schwerpunkt seines eigenen Wesens halten. Davor haben viele Leute eine unbewußte oder unterbewußte Furcht, die sie dann in Logik kleiden gegenüber der Geisteswissenschaft. Die schönsten Gründe können Sie hören; in Wahrheit ist es nur die Furcht vor dem Unbekannten.

Dann aber müssen Sie auch bedenken, daß man ja, so wie man ist als Mensch, nicht angepaßt ist an die geistige Welt, daß man nur angepaßt ist an die äußere Sinneswelt. Man kommt in eine vollständig andere Welt hinein, für die man keine Lebensgewohnheiten entwickelt hat. Das verursacht, wenn man tiefer dringt, jene furchtbar schmerzvollen Erfahrungen, die überwunden werden müssen in wirklicher Geist-Erkenntnis. Dann, wenn sie überwunden sind, folgen die Erkenntnisse aus dem Innersten unseres Wesens, die Aufschluß geben über das, was das Ewige in der Menschennatur ist, was das Geistige ist, das der Welt zugrunde liegt. Nicht alle Menschen können diesen Weg so weit durch­machen. Aber ich mußte auch immer wieder behaupten, daß es nicht nötig ist, diesen Weg durchzumachen, sondern daß nur nötig ist der gesunde Menschenverstand. Denn dieser gesunde Menschenverstand,

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wenn er nur nicht beirrt ist durch die Vorurteile der äußeren Anschau­ungen, kann unterscheiden, ob der, der als Geistesforscher auftritt und von zunächst unbekannten Welten spricht, logisch spricht oder wie ein Spiritist oder sonstwie. Logik hat man, und man kann beurteilen, ob der Betreffende logisch spricht und so spricht, daß die Art seines Spre­chens darauf hinweist, daß die Erfahrungen, von welchen er erzählt, in geistiger Gesundheit durchgemacht werden.

Wenn man immer wieder einwendet: Ja, von dem, was die äußere Wissenschaft sagt, kann sich jeder überzeugen, so ist das richtig. Es braucht einer nur die Laboratoriumsmethoden zu behandeln, so kann er es. Ebenso kann man aber auch sagen: Jeder kann sich überzeugen, daß das richtig ist, was beschrieben ist in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höherenWelten? » und «Theosophie»; man kann aus der Art, wie der Geistesforscher ist, auf den inneren Wert seiner Erkenntnisse schließen. Dann sind diese Erkenntnisse für das Leben so viel wert wie in der Seele des Geistesforschers selber. Aus den äußeren Tatsachen kontrolliert man den Forscher in der äußeren Wissenschaft; aus der Art und Weise, wie gesprochen wird, wie eingekleidet werden die Erkenntnisse, kontrolliert man das, was der Geistesforscher zu sa­gen hat. Kontrolliert werden kann er durch den gesunden Menschen­verstand.

Bedenken Sie, welche sozialen Kräfte es einmal entbinden wird, wenn immer mehr und mehr Menschen da sein werden, die als Zeugen auf­treten für die geistigen Kräfte, die nur im Übersinnlichen gefunden werden können, und die andere Menschen, die nicht selber Geistes-forscher sein können - es kann ja auch nicht jeder Chemiker, nicht jeder Physiker sein -, annehmen aus ihrem gesunden Menschenverstand her­aus, aus dem Vertrauen, das sich auf den gesunden Menschenverstand gründet. Welche Art des sozialen Zusammeniebens aus dieser Bewer­tung des Menschen entsteht, ist gerade einer der wichtigsten Punkte, um soziale Vertrauenskräfte zu erwecken. Untergraben werden sie in unserer Zeit, wo jeder, ohne daß er erst seine Entwicklung in die Hand nimmt, kaum daß er erwachsen ist, über alles mögliche urteilen will. Und daß diese Geisteswissenschaft wirklich im sozialen Leben prak­tische Impulse abgeben kann, wir haben es ja hier versucht durch die

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Begründung der Waldorfschule, die wir unserem lieben Herrn Molt verdanken, in der das Schulwesen auf wahrer Erkenntnis aufgebaut werden soll. Wir wollen eine soziale Frage in der richtigen Art lösen; denn wir möchten, daß in jedem Kinde heranwachse ein Mensch, der für das spätere Leben jene Richtkraft erhält, daß vom Menschen aus die sozialen Kräfte in fruchtbarer Weise enifaltet werden, nicht aus einem stumpfen, unzulänglichen Wissen heraus, wie es vielfach gerade das soziale Denken unserer Zeit beherrscht. Wir möchten wirklich soziales Denken enifalten, das auf menschlichem Vertrauen, das auf sicheren Grundiagen der menschlichen Seele gebaut ist. Und indem wir in jedem Kinde, das in dieser Schule ist, den werdenden Menschen sehen, indem wir versuchen, ihn zu entwickeln durch Erkenntnisse, welche die päd­agogischen Grundlagen beleben können, sehen wir etwas, was notwen­dig ist, wie in allem, was wir aus dieser Geisteswissenschaft hervorzuho­len versuchen.

Natürlich kann ich immer nur aus ein paar Gesichtspunkten heraus diese Geisteswissenschaft als eine notwendige Forderung der gegen­wärtigen und zukünftigen Entwicklung bezeichnen. So kommt es, daß aus solchen einseitigen Andeutungen Gegnerschaften erwachsen, weil man nicht das Ganze ins Auge faßt. Allein, ich möchte jetzt am Schluß auf den Anfang zurückkommen und darauf hinweisen, wie schwer es einem ums Herz werden kann, wenn man sieht, wie wenig Menschen es gibt, welche die abschüssige Bahn einschätzen; wie man nicht nach den Grundlagen sucht zu einem Neuaufbau unseres geistigen, sittlichen und übrigen Kulturlebens.

Aus gar manchem kann man das entnehmen. Lassen Sie mich zum Schluß ein paar Beispiele dafür anführen. Selbst Menschen, von denen man glaubt, daß sie im äußeren Leben feststehen, - zu welcher Anschau­ung sind sie gekommen aus den Tatsachen heraus? Die Worte, die der österreichische Staatsmann Czernin in seinem neuesten Buche geschrie­ben hat, diese Worte - man kann sich sonst dazu stellen, wie man will-, sie verdienen beherzigt zu werden:

«Der Krieg geht weiter, wenn auch in veränderter Form. Ich glaube, daß kommende Generationen das große Drama, welches seit fünf Jah­ren die Welt beherrscht, gar nicht den Weltkrieg nennen werden, son­dern

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die Weltrevolution, und wissen werden, daß diese Weltrevolution nur mit dem Weltkriege begonnen hat. Weder der Versailler Friede noch St-Germain werden ein dauerndes Werk schaffen. In diesem Frie­den liegt der zersetzende Keim des Todes. Die Kämpfe, die Europa schütteln, sind noch nicht im Abnehmen. Wie bei einem gewaltigen Erdbeben dauert das unterirdische Grollen an. Immer wird sich bald hier, bald dort die Erde öffnen undFeuer gegen denHimmel schlendern. Immer wieder werden Ereignisse elementarer Gewalt verheerend über die Länder stürmen, bis alles hinweggefegt ist, was an den Wahnsinn dieses Krieges erinnert. Langsam unter unsäglichen Opfern wird eine neue Welt geboren werden. Die kommenden Generationen werden zurückblicken auf unsere Zeit wie auf einen langen bösen Traum. Aber der schwärzesten Nacht folgt einmal der Tag. Generationen sind in das Grab gesunken, ermordet, verhungert, der Krankheit erlegen. Millio­nen sind gestorben in dem Bestreben, zu vernichten, zu zerstören, Haß und Mord im Herzen. Aber andere Generationen erstehen, und mit ihnen ein neuer Geist. Sie werden aufbauen, was Krieg und Revolution zerstört haben. Jedem Winter folgt der Frühling. Auch das ist ein ewi­ges Gesetz in dem Kreislauf des Lebens, daß aus dem Tod die Auferste­hung folgt. Wohl denen, die berufen sein werden, als Soldaten der Ar­beit die neue Welt mit aufzubauen.»

Nun, vom neuen Geist wird auch hier gesprochen; ich weiß, würde man diesem Czernin von dem neuen Geist sprechen, so würde erzurück­schaudern, würde es für Phantastik halten. In abstracto sprechen die Leute vom neuen Geist, sie wissen, daß er kommen muß. Vor dem konkreten Geist nehmen sie Reißaus. Aber es ist eine ernste Angelegen­heit, hinzuschauen auf den konkreten Weg dieses neuen Geistes. Es gibt viele, die heute zum Beispiel vom Standpunkt ihres vermeintlichen Christentums aus die Geisteswissenschaft angreifen, die gar nicht er­kennen wollen, wie diese Geisteswissenschaft gerade für ein Wieder­beleben des Christentums die lebendigsten Grundlagen liefert; wie das Christentum in die Zukunft hinein leben wird gerade dadurch, daß Geisteswissenschaft wieder lehren wird den lebendigen Christus und das Ereignis von Golgatha als geschichtliche Tatsache aus geisteswis­senschaftlicher Forschung heraus. Ein großer Teil der Theologen hat

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es soweit gebracht, diesen Christus nicht mehr zu lehren als den eigent­lichen Sinn der Erde, sondern ihn zu dem « schlichten Mann von Naza­reth» zu machen. Das Geistige des Christentums wird durch die Gei­steswissenschaft wiederum begründet werden. Diejenigen aber, die sich heute fürchten gerade aus christlichen Unterlagen heraus, denen sollte man sagen: Das Christentum ist auf so festen Grundlagen aufge­baut, daß man für es nicht zu fürchten hat vor der Geisteswissenschaft, so wenig wie vor der Entdeckung der Luftpumpe und anderer Dinge -und also auch nicht vor der Lehre der wiederholten Erdenleben oder vor der Schicksalslehre, wie die Geisteswissenschaft sie gibt. Das Chri­stentum ist so stark, daß es alles aufnehmen kann, was von der Geistes­wissenschaft kommt. Ob aber auch alle die heutigen Träger der christ­lichen Bekenntnisse so stark sind, das ist eine andere Frage, aber auch eine ernste Frage.

Wir müssen in Weltperspektiven denken, das hat doch dieser soge­nannte Weltkrieg uns eingebläut. Über unser Europa und seine Kultur denken viele Menschen ähnlich wie ein japanischer Diplomat, dessen Worte ich Ihnen anführen möchte. Dieser japanische Diplomat, der ein gebildeter Mann ist, sagte:

«Während einer Reihe von Jahren haben wir in Japan geglaubt, daß Recht und Gerechtigkeit wirklich in der christlichen Welt des Westens existierten. Aber seit den letzten Jahren wissen wir: dies ist nicht so! Die hochtönenden Lehren und Erklärungen der christlichen Nationen sind nichts weiter als eine anmaßende Maske zur Verhüllung von Un­gerechtigkeit und Habgier. Wir wissen jetzt, daß solch ein Ding wie internationale Gerechtigkeit nicht existiert; wir wissen ferner, daß die kapitalistische Macht des Westens nicht begrenzt werden kann, es sei denn - durch größere Macht. Japan hat dies gelernt, und ganz Asien steht im Begriff, es zu lernen. Dadurch ist unsere Stellung zu China er­klärt: wir wissen, daß wir uns auf kein Recht verlassen können, daß wir auf keine ehrliche Behandlung irgendwelcher Angelegenheiten von seiten der Westmächte rechnen dürfen. Sie werden China teilen und zerstören, dann werden sie Japan zum Vasallentum herabdrücken, sie werden dies ohne Gewissen, ohne Überlegung tun, sie werden es tun ohne Zögern, wenn wir in Japan nicht unsere Herrschaft aufrechterhal­ten,

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wenn wir selbst China nicht halten und entwickeln. Denn zuletzt würde diese westliche Ausbeutung Chinas der Ruin Chinas sein, wäh­rend unsere Politik Chinas schließliche Erlösung sein wird. In China und in unseren pazifischen Gebieten müssen wir voll gerüstet sein, um uns selbst genügend verteidigen zu können. Wollten wir uns auf einen angelsächsisch gemachten Staatenbund verlassen, wollten wir an eine latent vorhandene oder gar schon herrschende Gerechtigkeit in der christlichen Zivilisation glauben, so wäre dies ein Beweis unsererseits von Geistesschwäche, ein Beweis auch dafür, daß wir unser Schicksal nationalen Ruins, welches uns unentrinnbar von seiten der Westmächte bevorstünde, verdient hätten.»

Man mag sich zu diesem Inhalt stellen, wie man will: So denkt man in der Welt, und wir haben alle Ursache, auf diese Gedanken als auf Tat­sachen hinzuschauen. Da ist es wahrhaftig recht deplaziert, wenn gegen das, was ich in ehrlicher Weise für eine neue Geistesrichtung einsetzen will, gerade von seiten derjenigen, die eigentlich die Bedingungen des geistigen Lebens kennen müßten - gestatten Sie, daß ich das charakteri­siere -, wenn von dieser Seite aus die Einwände, die so oft und oft be­schrieben worden sind, immer wieder kommen, zum Beispiel der Ein­wand: Man kann ja nicht prüfen, was der Geistesforscher sagt. So ist neulich eine Broschüre von einem gar nicht weit von hier entfernten Herrn erschienen: «Rudolf Steiner als Philosoph und Theosoph.» Ich möchte nur von einem Punkt aus auf den Geist und die Logik, die da herrscht, hinweisen. Da findet sich ein schöner Satz: « Ich muß eben unter Umständen Historiker, Physiker, Chemiker werden, um selb-ständig prüfen zu können. Die theosophischen Wahrheiten dagegen kann ich nicht nachprüfen, wenn ich nicht Hellseher bin.» Das heißt, er sagt, die Historiker, Physiker, Chemiker behaupten allerlei Dinge; will man diese prüfen, so muß man eben Historiker, Physiker, Chemiker werden. Ich sage: Will man die geisteswissenschaftlichen Dinge prüfen, so muß man Geisteswissenschafter werden. Was sagt der Herr? «Ich muß eben unter Umständen Historiker, Physiker, Chemiker werden, um selbständig prüfen zu können. Die theosophischen Wahrheiten da­gegen kann ich nicht nachprüfen, wenn ich nicht Hellseher bin.» Na­türlich! Ich kann auch nicht die Ergebnisse der chemischen Forschung

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nachprüfen, wenn ich nicht Chemiker werde. Man kann aber Chemiker werden. Aber Geistesforscher will man eben nicht werden. Da sagt man also etwas ganz Merkwürdiges: Ich muß prüfen können, aber prüfen können, ohne irgendwie mich einzulassen auf die Methoden der Prü­fung. Die Frage ist für diesen Herrn, wie er selbst, wie Sie gleich hören werden, sagt, nicht, ob man entscheiden kann, wenn man sich die Gründe für die Entscheidung angeeignet hat, sondern: « Die Frage ist, ob sie von mir nachgeprüft worden sind oder nachgeprüft werden kön­nen, und das muß ich, abgesehen von der formalen logischen Kritik, verneinen.» Nun, daß er es verneinen muß, das gebe ich ihm gerne zu. Aber wie ich zugebe, daß jeder Chemiker werden muß, um die Ergeb­nisse der chemischen Forschung nachprüfen zu können, so muß sich eben jeder auf den geistesforscherischen Weg begeben, um die geistes-wissenschaftlichen Wahrheiten nachzuprüfen. Das lehnt aber jener Mann ab. Von dieser Logik ist eigentlich seine ganze Schrift. Und von dieser Logik ist vieles getragen, was sich entstellend über die Geistes­wissenschaft hermacht. Da hat man wirklich etwas Besseres zu tun, als sich um derlei Einwände zu kümmern.

Insbesondere aber wäre es diesem deutschen Volk, diesem vielge­prüften deutschen Volk angemessen, zu denken, wie es sich zu den eigentlichen Grundiagen des Geisteslebens stellen soll. Ich kann hin­weisen auf einige Sätze, die 1858 Herman Grimm, der geistvolle Kunst-geschichtsschreiber, hingeschrieben hat in seinem Aufsatz über Schiller und Goethe. Er schreibt vor mehr als 60 Jahren: «Die wahre Geschichte Deutschlands ist die Geschichte der geistigen Bewegungen im Volk. Nur da, wo die Begeisterung für einen großen Gedanken die Nation er­regte und die erstarrten Kräfte ins Fließen brachte, geschehen Taten, die groß und leuchtend sind.» Sollten wir nicht solche Worte heute be­herzigen können? Oder die Worte, die Herman Grimm - also gewiß kein Revolutionär - 1858 geschrieben hat: «Die Namen der deutschen Kaiser und Könige sind... keine Meilensteine für den Fortschritt des Volkes.» Er meinte, die Meilensteine für den Fortschritt des Volkes sind die Taten auf dem Gebiete des Gedankens, des ins Geistige hinein-gehenden Gedankens.

Zu keiner Zeit hatte der Deutsche mehr die Notwendigkeit, sich an

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dieses zu halten, als gerade in dieser Zeit der Not, der harten Prüfung. Und deshalb darf man heute die Zeitgenossen auffordern, auf die gro­ßen Vorfahren hinzuschauen, damit wir ihre würdigen Nachkommen werden können. Sollen heute die Glaubensbekenntnisse zum Geistes­leben, die die Vorfahren des deutschen Volkes geäußert haben, nicht für die Gegenwart gelten, und müssen wir nicht fortbilden dieses Gei­stesstreben anstatt stehen zu bleiben in bloßen Worten, es zu zitieren? Wer heute Goethe bloß zitiert, versteht ihn nicht; nur wer ihn fortbildet, versteht ihn. WerJohann Gollkeb Fichte nur zitiert, tut etwas Unsinniges, wenn er ihn nicht fortbildet im Geistesleben. Sie haben gehört, wie die Welt über das europäische Geistesleben spricht. In der Welt muß man lernen zu erkennen, daß der Deutsche wiederum den Willen hat, hinzu-blicken auf dasjenige, was die eigentlichen Meilensteine für den Fort­schritt seines Volkes sind. Man hat in dieser Welt oftmals unsere Vor­fahren, die großen Träger des deutschen Geisteslebens, Träumer ge­nannt. Man hat sie verkannt, wie man heute das, was vom Geiste spricht, als Phantasterei oder sonst irgend etwas schildert. Aber es gab immer­hin Leute, die wußten, wie das, was für den Geist angestrebt wurde, in der Wirklichkeit fußte. Und in einem wichtigen Moment hat Johann Gottlieb Fichte den Leuten gesagt: Was die andern sagen, daß Ideen nicht unmittelbar ins praktische Leben eingreifen können, das wissen wir Idealisten ebenso, vielleicht besser als die anderen; aber daß das Leben nach ihnen orientiert werden muß, das wissen wir voraus. - Da wies er auf die Lebenspraxis hin, und er sagte: Diejenigen, die das nicht einsehen, gehören zu denen, auf die nicht mitgerechnet ist im Plan der Welt. So möge diesen Leuten zur rechten Zeit Sonnenschein und Regen gewährt werden und eine gute Verdauung und, wenn es möglich ist, auch einige gute Gedanken.

Es kommt darauf an, in welchem Geiste man zu dem Geistgebaren der großen Träger des deutschen Geisteslebens aufsieht. Darüber wird die Wirklichkeit entscheiden, nicht das abstrakte Urteil. Werden die Nachkommen dieser deutschen Vorfahren einen Sinn für die wirkliche Geistespraxis haben, dann werden die Menschen, die uns vorangegan­gen sind in dieser Geistespraxis, keine Träumer gewesen sein. Wenn wir aber versäumen, in die Wirklichkeiten der Geistespraxis einzudringen,

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dann werden sie nicht durch sich, sondern durch uns oder durch unsere Nachkommen, die nichts wissen wollen von wirklichem deut­schem Geist, erst zu Träumern werden. Hüte sich das deutsche Volk davor, seine großen Vorfahren, von denen die Welt so oft gesagt hat, daß sie Träumer seien, erst zu Träumern zu machen durch die Schuld, die herauskommt, wenn wir keinen Sinn haben für den Geist, der ange­rufrn und beschworen worden ist im deutschen Geistesleben! Möge er Nachfolger gewinnen! Das ist das letzte Wort, das ich gerade aus meinen heutigen Auseinandersetzungen heraus zu Ihnen sprechen möchte.

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DIE WELTBILANZ DES GEISTES- UND SEELENLEBENS DER GEGENWART Stuttgart, 27. Dezember 1919

Wenn man heute hinblickt auf die Tatsache, wie die einzelnen Länder und Volksgebiete voneinander abgeschlossen sind, so daß es teilweise ganz unmöglich und selbst in engen Grenzen äußerst schwierig ist, von einem Volksgebiet, Landesgebiet in das andere zu gelangen, so muß man sagen: Man kann, wenn man einigermaßen teilgenommen hat an dem Geistesleben, wie es sich entwickelt hat in der neueren Welt, nur sagen: Diese Tatsache ist so wenig wie nur irgend möglich vereinbar mit dem, was an tiefsten Sehnsuchten, an seelischen und geistigen Trie­ben im Innern der Menschen eigentlich lebt. Denn blickt man unbe­fangen in dieses menschliche Innere, so muß man verspüren, wie der Gehalt des Inneren, wie alle Kräfte dieses Inneren eines Menschen, der an der Kultur teilnimmt, zusammengesetzt sind aus den Gliedern des Geistes- und Kulturstrebens aller zivilisierten Völker auf unserer Erde, und kein Mensch ist heute in der Lage - wenn ich diesen kaufmänni­schen Ausdruck gebrauchen darf -, die Bilanz seines Geisteslebens ir­gendwie zu ziehen, ohne in die einzelnen Posten einzusetzen dasjenige, was zusammengeflossen ist in der Gesamtheit unserer Seelen- und Gei­stesverfassung aus allen Kulturgebieten der Welt. Aber wie steht es ei­gentlich mit diesem Bilanziehen unseres Seelen- und Geisteslebens in unserer unmittelbaren Gegenwart? Es scheint mir, daß es sich insbe­sondere innerhalb des deutschen Volkes ziemt, diese Betrachtungen an-zustellen. Es muß ja heute im Grunde genommen ernst von den Ange­legenheiten unseres Kulturlebens gesprochen werden. Man darf viel­leicht daran erinnern, ohne mißverstanden zu werden nach alledem, was wir erlebt haben, wie der Grübler und tief schürfende Denker Friedrich Nietzsche im Jahre des Aufganges des neueren deutschen Rei­ches sein Kulturbuch « Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» geschrieben hat. Über die Stimmungen, die dazumal durch die Seele des jugendlich strebenden Nietzsche zogen, schreibt er selbst, daß es ihm vorkomme, wenn er auf die Art und Weise hinblickt, wie dazumal

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das Reich inauguriert worden ist, daß bevorstehe die Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches. Es hat ja wirk­lich Jahre gegeben - und sie liegen nicht weit hinter uns -, da mußte ein solcher Ausspruch mehr oder weniger vielen Menschen als frivol er­scheinen. Aber die Tatsachen sind anders geworden, und ob man dem­jenigen, der einen solchen Ausspruch getan hat, heute recht oder un­recht gibt, darauf kommt es weniger an. Bedeutsam erscheint es immer gegenüber dem, was gesprochen worden ist, daß ein solcher Ausspruch während der Morgenröte der neueren Reichszeit getan werden konnte von einem, der wahrhaftig tief genug gelitten hat an all dem, was man doch zusammenfassen kann in die Worte: der Materialismus des 19. Jahrhunderts. Vielleicht darf man aber die Idee, die Empfindung, die zu diesem Ausspruch geführt hat, gedanklich fortsetzen. Man könnte sagen: Könnte es nicht vielleicht gerade die Not des deutschen Volkes sein, die seinem Organismus wiederum eingeistet und einseelt dasjenige, von dem Nietzsche meinte, daß es damals exstirpiert, ausgeschnitten worden ist?

Ich möchte mit diesen einleitenden Worten eigentlich nicht mehr sagen als hinweisen auf den Ernst, der über Betrachtungen schweben muß, die sich mit einer größeren Überschau über das gegenwärtige Geistes- und Seelenieben und seine Aufgaben beschäftigen. Wenn nur erne Art Streiflicht dazumal, im Jahre 1871, durch Nietzsche auf die Bilanz des Geistes- und Seeleniebens seiner Gegenwart gefallen ist, so können wir sagen, daß sich schon mancherlei nach Gründlichkeit und Ernst strebende Geister der deutschen Entwicklung im 19. Jahrhundert mit der Weltbilanz des Geisteslebens ihrer Zeit befaßt haben. Ich könnte an viele Persönlichkeiten erinnern, die im Sinne einer solchen Weltbilanz des Geistes- und Seeleniebens gedacht haben. Ich möchte nur hinweisen auf den ja gewiß durch seinen Materialismus heute vielen Menschen mit Recht nicht sympathischen David Friedrich Strauß. Die­jenigen der verehrten Zuhörer, die mich im Verlaufe der letzten Jahr­zehnte haben reden hören, werden ahnen, wieviel ich gegen so etwas auf der Seele habe, wie es das Buch «Der alte und der neue Glaube» von David Friedrich Strauß ist; aber es werden darinnen die großen Fragen von der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeworfen. Fragen wie: Haben

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wir noch Religion? Sind wir noch Christen? - sie wirft David Friedrich Strauß in eindringlicher Weise auf. Und wiederum möchte ich hier nicht darüber entscheiden, wie das Ja oder Nein in diesen Dingen steht, auch nicht wie das Ja oder Nein im Verhältnis zu David Friedrich Strauß selber steht. Aber darauf möchte ich aufmerksam machen, daß trotz allem Materialismus des David Friedrich Strauß, trotzdem bei ihm alles dasje­nige vorhanden ist, was gerade Nietzsche als solche Trivialitäten in sei­ner Weltanschauung empfunden hat, Ehrlichkeit schwebt über dem­jenigen, was dazumal David Friedrich Strauß niedergeschrieben hat.

Welche Fragen, und von welchen Gesichtspunkten aus wollte sie David Friedrich Strauß denn beantworten? Er hat alles aufgenommen, was das 19. Jahrhundert an naturwissenschaftlicher Weltanschauung und Gesinnung gebracht hat. David Friedrich Strauß versuchte, sich aus den allerneuzeitlichsten Elementen heraus ein Weltbild zu kon­struieren, und man muß sagen: mit all dem, was in der neueren Zeit geleistet worden ist bis Darwin und Haecke/ heran, hat David Friedrich Strauß sein Weltbild geformt, ehrlich es als seine Überzeugung und als den ganzen Umfang seines Seeleniebens sich geformt und dann rück­haltlos ehrlich die Frage aufgeworfen: Kann ich noch Religion im alten Sinne haben, wenn ich, wie es der Gesinnung der neueren Zeit ent­spricht, mich zu diesem Weltbild bekenne? Kann ich ehrlicherweise noch Christ sein, wenn ich mich zu diesem Weltbild bekenne? Und beide Fragen beantwortet sich Strauß ehrlich mit einem Nein. Er zieht die Weltbilanz der modernen Bildung, des modernen Geistes- und See­lenlebens in diesem Sinne.

So scharf sich der Bekenner der Geisteswissenschaft gegen dieses Glaubensbekenntnis des David Friedrich Strauß aussprechen muß - das muß gesagt werden, daß dazumal durch ihn, wie durch viele andere, eine ehrliche Bilanz des Geistes- und Seeleniebens gezogen worden ist. Sieht man unbefangen daraufhin, was seit jener Zeit, die ungefähr seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verflossen ist, an ähnlichen Bestrebun­gen aufgetreten ist, dann kann man zunächst nicht von einem ehrlichen Bilanzziehen sprechen, dann kann man eigentlich nur davon sprechen, daß man auf vielen, vielen Seiten bemüht ist, die Weltbilanz des Geistes-und Seeleniebens zu verschleiern. Verschleierung der Weltbilanz des

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Seelen- und Geisteslebens, das ist etwas, was uns heute auf Schritt und Tritt entgegenkommt. Wir sehen es auf Schritt und Tritt, wenn wir hin­schauen auf das, was von zahlreichen Vertretern dieses oder jenes Be­kenntnisses geltend gemacht wird. Auf der einen Seite finden solche Menschen oftmals Worte, die wie selbstverständlich erscheinen als Zu­geständnisse an die naturwissenschaftliche Gesinnung, und neben­bei, nichts ahnend von der Ehrlichkeit eines David Friedrich Strauß, reden sie weiter in den alten Denkgewohnheiten von Christentum und Religion, und es fällt ihnen nicht ein, eine wirkliche Bilanz zu ziehen zwischen denjenigen Posten, die von den verschiedensten Seiten her einziehen in unser Geistesleben. Verschleierung der Bilanz des Geistes-und Seelenlebens, das ist die geheimnisvolle Signatur vieler Kultur-bestrebungen der Gegenwart.

Aber wir kommen gar nicht damit zurecht, wenn wir aus einem klei­nen Kreis heraus versuchen, wieder einmal zu einer ehrlichen Bilanz vorzudringen. Das Bestreben, aus kleinen Kreisen heraus zu umfassen­den Anschauungen zu kommen, das ist es gerade, was uns ad absurdum geführt hat. Das Hängen an bequemen kleinen Gedanken, das ist es, was uns nicht ein taugliches Verhältnis zu den Tatsachen der Welt hat gewinnen lassen, das ist es, was doch schließlich die furchtbare Kata­strophe der letzten Jahre im Grunde herbeigeführt hat. Lernen sollte die Menschheit aus den furchtbaren Erfahrungen, aus der furchtbaren Not dieser Katastrophe, daß es wahrhaftig an der Zeit ist, den Blick auf­wärts zu wenden, dahin, wo sich wirklich diejenigen Gesichtspunkte ergeben, die das Leben beherrschen, so, daß wir es bewußt beherrschen lernen, während wir uns unbewußt von diesem oder jenem haben gän­geln lassen.

Wir sind heute wahrlich nicht arm an allerlei Programmen, an allerlei programmatischen Ideen. Man möchte sagen: Billig wie Brombeeren wachsen die Vereine und die Programme und die programmatischen Ideen. Sie können schließlich billigerweise wachsen, denn unser intel­lektuelles Leben hat es sehr weit gebracht, und aus einem weitgedie­henen intellektuellen Leben läßt sich immer das eine oder andere Ver­nünftige sagen, auf das man dann wie auf ein heiliges Wort schwören kann. Und so entstehen dann jene zahlreichen Programme - ob es nun

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politische Programme sind oder Programme des geistigen Lebens, Pro­gramme auf irgendeinem Gebiete der Moral, des sozialen Tuns und so weiter - Programme, deren Träger immer denken: Was ich da als das Richtige für die Menschheit ansehe, das muß so bald als möglich sich einbürgern in die ganze gegenwärtige Welt, denn das habe ich ersonnen als das Richtige, Heilsame für die Menschheit, das muß sich ausbreiten über die Menschheitssphäre, wie sie heute in Betracht kommt, über Amerika, Europa, Asien. Und da denkt sich ein Programm-Mensch sehr häufig noch dazu: Dasjenige, was ich da ersonnen habe, das muß nun wiederum gelten, ja, so ungefähr bis ans Ende aller Erdenzeiten; denn es ist absolut für die ganze Erde und für alle späteren Zeiten das Heilsame.

In dieser Denkweise, in dieser alles verabsolutierenden Denkweise liegt das Verhängnis und die eigentliche Sünde des intellektuellen Lebens unserer Zeit. Unsere Zeit will nicht hinschauen auf die konkre­ten Verhältnisse, die unter den Menschen bestehen, will nicht hin­schauen darauf, wie verschieden die Lebensbedingungen, sagen wir zu­nächst, des Orients und des Okzidents sind. Skizzenhaft nur möchte ich heute von diesem Gesichtspunkte aus über die Weltbilanz des Gei­stes- und Seelenlebens sprechen, indem ich darauf aufmerksam machen möchte, wie verschieden alles ist, was aus der Seele hervorquillt, als Lebens- und Weltanschauungsbild, auf der einen Seite in der Welt des Orients, auf der andern Seite in der Welt des Westens. Und wir hier in Mitteleuropa, sind wir denn nicht eigentlich mit unserem Seelen- und Geistesleben innig verwoben mit demjenigen, was auf der einen Seite aus dem Orient her ffießt, herausgeflossen ist seit Jahrhunderten und Jahrtausenden? Und sind wir nicht wiederum nach der anderen Seite verwoben mit alledem, was als besonderes neues Element aufquillt und aufgequollen ist seit langer Zeit im Westen? Wenn wir auf das schauen, was aller Kulturentwicklung unseres Gebietes und unseres Lebens zu­grunde liegt, wenn wir auf das Christentum schauen, auf diesen mäch­tigsten Impuls aller Erdenentwicklung, der aber vor allen Dingen der abendländischen Kultur nach allen Seiten ihre Gestaltung gegeben hat, dann finden wir, daß, ganz abgesehen davon, daß sich das Ereignis von Golgatha im Orient vollzogen hat, die erste Strömung des Christentums

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aus dem orientallschen Geiste hereingeströmt ist nach Europa; daß wir, indem wir im europäischen Seelenieben den Christus-Impuls haben, im Grunde genommen damit einen orientalischen Einschlag haben. In alte Zeiten weist die ganze Konfiguration, die ganze Art des orientalischen Geisteslebens zurück. Und heute - Sie brauchen, um das zu bekräftigen, nur solche eindringliche Worte einer Gestalt zu lesen, wie sie Rabindranath Tagore darstellt.

Wenn wir nach Asien hinübersehen, wo sich wiederum unter den Gebildeten alles regt, wo alles teilnimmt an der Bilanzbildung des Gei­stes- und Seelenlebens, so sehen wir etwas, was sich in gewisser Art als eine gradlinige Fortentwicklung des uralten, dem Orient eigentum­lichen Geisteslebens ergeben hat. Soviel wir auch Anteil haben an die­sem orientalischen Geistesleben, soviel es auch eingeträufelt hat in unsere Kultur, wir müssen uns immer auf unsere tiefsten Verständnis-und Erkenntniskräfte besinnen, wenn wir verstehen wollen, was heute im Orient an Strebenskräften lebt, und erst gar, wenn wir begreifen wollen, aus welchen, vor Jahrhunderten und Jahrtausenden im Orient mächtigen Geistesquellen sich das heutige orientalische Geistesleben entwickelt hat. Schauen wir hin auf dieses Geistesleben, so finden wir heute noch in ihm dasjenige, was man nennen möchte Spiritualität, Geistigkeit. Diese Geistigkeit ist dort gewiß im Niedergange, in der Dekadenz, und kaum läßt sich vergleichen dasjenige, was selbst aus den besten Geistern des Orients kommt, mit demjenigen, was an tiefem, bedeutungsvollem Geistesleben einstmals in Asien für die Menschheit aufgegangen ist. Einen Grundcharakter trägt das - und uns wird dieser Grundcharakter anschaulich, je weiter und weiter wir zurückgehen -, einen Grundcharakter trägt es. Wenn wir alles das, was wir von dem Kulturleben, von dem Seelenieben des Orients wissen können, durch­prüfen, so mus sen wir sagen: Es ist entsprungen jedenfalls nicht aus einer solchen Seelenverfassung und Seelenstimmung, wie die unsrige, die des Okzidents, im normalen Menschenleben ist; es ist entsprungen so, daß beim Schaffen dieses Geisteslebens andere Seelenkräfte Anteil haben als diejenigen, die wir selbst bei unserer fortgeschrittenen Wis­senschaft und dem fortgeschrittensten geistigen Streben anwenden. Um zu empfinden, um so recht zu fühlen die Konfiguration, die ganze Art

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des orientalischen Geisteslebens - wie gesagt, heute ist es in der Deka­denz -, muß man sich fragen, wie oftmals hier in diesen Vorträgen von mir gefragt und aus geisteswissenschalichen Untergründen die Ant­wort zu geben versucht worden ist, - man muß sich fragen: Kann aus dem Menschen nicht auch etwas sprechen, was höherer Art ist als das­jenige, was sich nur der äußeren Sinnes- und Nervenwerkzeuge oder überhaupt der leiblichen Werkzeuge bedient, urn Ausdruck zu werden für das Seelen- und Geistesleben?

Oftmals ist hier aus geisteswissenschaftlichen Untergründen heraus gezeigt worden, wie der Geistesforscher vordringen kann, indem er ebenso streng wissenschaftlich bleibt, wie die heutige Naturwissen­schaft streng wissenschaftlich ist, zu dem, was man nennen kann das Ewige, das Unsterbliche im Menschen, zu dem, was in den mensch­lichen Leib einzieht, was in den vererbten Leib als dasjenige einzieht, was als nicht vererbt aus der geistigen Welt hereingebracht werden muß, was einzieht durch die Geburt oder Empfängnis, und was wie­derum, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, hinausgeht in die geistige Welt. Vernehmen wir, was besonders aus den älteren Elementen des orientalischen Geisteslebens zu uns spricht, so müssen wir sagen: Da spricht nicht dasjenige aus dem Menschen, was sich nur der äußeren leiblichen Werkzeuge bedient, wie in unserer Wissenschaft, Dichtung, Kunst; da spricht über dasjenige hinaus, was leibliche Werk­zeuge vermögen, der geistige Mensch, der als ewiges Wesen aus gei­stigen Welten heruntersteigt durch Geburt oder Empfängnis und der wiederum durch die Pforte des Todes zurückkehrt in die geistige Welt. Das geistige Leben des Orientalen ist etwas wie eine Offenbarung des­sen, was sich der Mensch mitgebracht hat durch die Geburt oder Emp­fängnis ins physische Dasein, dessen, was er in gewissem Sinne hier nicht anwenden kann, sondern wiederum durchtragen muß durch die Pforte des Todes. Man kann sagen: Alles, was der orientalische Gebil­dete als wirklich geistige Kultur betrachtet, ist ein Ausfluß des höheren Menschen im Menschen, wenn ich schon diesen trivial gewordenen Ausdruck gebrauchen darf; das ist etwas, was über das alltägliche Menschliche weit hinausgeht.

Wir haben im Grunde genommen in unserem Seelenieben nur etwas

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wie einen Teil unseres Wesens, aus dem wir uns wirklich eine gründ­liche, rechte Vorstellung machen können von der ganzen Art und Weise, wie der Orientale in seinen besten Urzeiten zu seinem Geistes-leben stand. Um uns eine solche Vorstellung zu machen, müssen wir auf die Art und Weise hinblicken, wie in uns auftaucht, wenn wir die besten Kräfte unseres Menschenwesens zusammennehmen, dasjenige, was wir unsere sittlichen Impulse nennen, dasjenige, woran wir messen das Sittlich-Gute und Sittlich-Schlechte in uns. Wenn diese unsere sitt-lichen Impulse sich im Innersten unseres Wesens als Intuitionen an­kündigen, wenn sie Richtschnur unseres Lebens auf moralischem Ge­biete werden sollen, dann erleben wir in diesen Impulsen etwas von Seelenkraft, das wir uns nun ausgedehnt denken müssen über alles, was der Orientale empfindet, wenn er sein Geistesleben hereinzaubert in die physische Welt. Nichts von jener Stimmung, die wir etwa haben, wenn wir über die Natur etwas ausmachen, nichts von jener Stimmung, die unsere Philosophien und Weltanschauungen und unsere trivialen Mo­nismen durchzieht, sondern jenes Bewußtsein in der Seele, ein Über-weltliches, ein Übersinnliches zu empfangen, das bestimmte den Orien­talen in allem, was dem einen Inhalt gab, was er seine Weltanschauung hätte nennen können.

Mit dieser Art, ich will nicht sagen, über die übersinnliche Welt zu denken, sondern mit dieser Art, sich zu der übersinnlichen Welt zu stellen, mit dieser Art, zu empfinden über dasjenige, was sich aus der übersinnlichen Welt in die sinnliche herein offenbaren kann, wußte im Grunde genommen der Angehörige der westlichen Zivilisation seit langer Zeit nichts anzufangen. Abstrakt ist wohl aufgetreten im äuße­ren moralischen Leben dasjenige, was man den höheren Menschen im Menschen nennt. Aber jenes gewaltige, unmittelbare Erlebnis, durch das dieser höhere Mensch hereinschafft in diese sinnlich-physische Welt eine geistige Kultur, die unmittelbar Ausdruck eines Übersinnlichen ist, das ist der westlichen Kultur im hohen Grade verlorengegangen. Das sollte man sich heute als ehrliches Resultat einer Weltbilanz des Geistes- und Seelenlebens eigentlich gestehen.

Blicken wir nun auf einzelne Erscheinungen hin. Auf der einen Seite sehen wir, wie - ich habe schon darauf aufmerksam gemacht - der Chri­stus-Impuls

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in alle unsere Kulturströmungen eingezogen ist. Er trat einmal mit einer ungeheuren Stoßkraft in das abendiändische Leben ein. Er verlor diese Stoßkraft. Wenn wir zurückgehen in alte christliche Zeiten, so finden wir, daß die Menschen, die sich im Ernst der christ­lichen Weltanschauung nähern wollen, die Christus-Gestalt durch über-sinnliches Wissen ergreifen wollen. Im 19. Jahrhundert sind gerade die fortgeschrittensten Theologen, die fortgeschrittensten Bekenner des Christentums stolz darauf gewesen, das Übersinnliche auch aus der Gestalt des Christus Jesus zu enifernen, und es hat gegeben und es gibt noch Universitätslehrer der christlichen Theologie, die stolz darauf sind, den Christus Jesus nur als den « schlichten Mann aus Nazareth » anzu­sehen, die stolz darauf sind, so wenig wie möglich Übermensch­liches in diese Gestalt des Erdeniebens hineinzubringen. Wir sehen, wie allmählich sozusagen verduftet ist der Sinn für das Übersinnliche auch gegenüber den heiligstenüberzeugungen der abendländischen Mensch­heit, oftmals gerade bei führenden Geistern. Die Menschen im Abend-lande konnten nichts anfangen selbst mit dem, was sich ihnen durch die Jahrhunderte hindurch herausentwickelt hat aus dem Geiste des Orients heraus. Sie vermateriallsierten es. Die signilikanteste Erschei­nung ist die Vermaterialisierung des Christentums der Theologie, denn eine Vermateriallsierung ist es, wenn das Christus-Wesen, das als ein außerweltliches gedacht werden muß, vereint mit der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth, ausgelöscht wird, und wenn bloß auf die per­sönlichen Eigenschaften des Jesus von Nazareth wie auf eine andere historische Erscheinung hingeschaut wird.

Wir können auch an anderen Beispielen sehen, wie merkwürdig sich dieser abendiändische Geist zu dem orientalischen verhält. Unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft verwechseln manche Leute, manche bewußt, manche unbewußt, manche gutwillig, manche böswillig, mit demjenigen, was sich in englischsprechenden Gegenden Theosophie nennt. Ich will heute wahrhaftig nicht sprechen über die Beziehungen unserer anthroposophisch orientierten Geisteswissen­schaft zu demjenigen, was in England unter Blaz'atsky und Besant Theo-sophie genannt wird, aber ich will darauf aufmerksam machen, daß das Welteroberervolk England im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts

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eine, wenn auch im Verhältnis zur ganzen englischen Kultur kleine, aber doch bemerkenswerte Erscheinung hatte, die sich ausdrückte in der dortigen theosophischen Bewegung. Was wollte diese theosophi­sche Bewegung innerhalb der im eminentesten Sinne abendländischen Kultur? Sie wollte Vertiefung des Geisteslebens, wollte ein Wieder-suchen der Quellen geistigen Erlebens. Was tat sie? Die Mitglieder des Eroberervolkes strebten nach den Quellen des Geistes, sie gingen hin zu dem eroberten Volke der Inder und entnahmen dort altorientalische Weisheit. Daß wir das nicht nachmachten, das war es gerade, warum man uns von dieser theosophischen Seite her so verketzerte. Und ver­gleicht man dasjenige, was innerhalb dieser englisch4heosophischen Gesellschaft lebt, was ganz entlehnt ist aus dem orientalischen Inder­tum, mit dem, was einstmals als Weisheit dort lebte, so muß man in all dem, was da tradlert wird als, sagen wir, «Ätherleib », «Astralleib », eine Vermaterialisierung des im Orient drüben spirituellen, rein geistig Gedachten sehen. Aber fur eine andere Tatsache ist das charakteristisch, was ich eben angeführt habe. Es ist den Angehörigen der abendländi­schen englischen Kultur so wenig möglich, aus sich selbst heraus ein Streben nach den Quellen eines neuen geistigen Lebens zu treiben, daß man sich zu der Zeit dekadenten orientallschen Geisteslebens wendet, um bei ihr eine Anleihe zu machen, um fremdes Gut herüberzutragen nach dem Abendland. Gerade an diesem Beispiel kann man sehen, wie wenig eigene Begabung in diesem Abendlande vorhanden ist, selber so etwas hervorzubringen, wie die Hervorbringungen desjenigen Men­schen sind, der als höherer Mensch, als spiritueller Mensch, als ewiger Mensch, als unsterblicher Mensch im sterblichen lebt, und dessen Aus­druck doch schließlich die orientalische Geisteskultur ist. Der Orien­tale versteht daher sehr gut, was der höhere Mensch im Menschen ist, was der Mensch ist, der nicht rein auf der Erde lebt, sondern in geistigen Welten über die Erde hinaus lebt.

Was haben wir für ein Analogon im abendländischen Geistesleben, und was haben wir immer mehr für ein Analogon, je weiter wir nach dem Westen gehen, gegenüber diesem höheren Menschen, wie ich es jetzt in stammelnden Worten zu charakterisieren versuchte für das orientalische Geistesleben - was haben wir dafür Entsprechendes

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eigentlich im alltäglichen, gewöhnlichen, landläufigen Geistesleben des Abendlandes? Man muß sich lange besinnen, um daraufzukommen, was die bis heute tonangebende abendländische Kultur als das Ent­sprechende für den höheren spirituellen Menschen des Orients hat. Wenn man heute nachsieht in gebräuchlichen Handbüchern über die Bevölkerung unserer Erde, so findet man bekanntlich angegeben: Auf der Erde leben ungefähr 1500 Millionen Menschen. Das ist im Grunde genommen dann richtig, wenn man auf diejenigen Menschenwesen hinschaut, die für die Menschheitskultur schaffen, indem sie auf zwei Beinen über die Erdoberfläche gehen, aber es ist nicht mehr richtig für unsere heutige Zeit, wenn wir nach der Menge der Arbeit fragen, die vor verhältnismäßig noch gar nicht langer Zeit die Menschen fast einzig und allein selbst für die Menschheitskultur geleistet haben. Wir haben es durch die Errungenschaften der abendländischen Kultur dazu ge­bracht, Maschinenarbeit in reichlichstem Maße an die Stelle von Men­schenarbeit zu setzen, und wir dürfen sagen: Im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte ist dasjenige, was für unsere Kultur fabriziert, hergestellt wird, nicht nur das Ergebnis dessen geworden, was die menschliche Arbeit leistet, sondern dessen, was Maschinenarbeit leistet. Würde die Maschine nicht da sein, so würde man sehen, wie viel Men­schen leisten müßten, damit das zustande kommt, was heute mit Hilfe der Maschine zustande kommt. Man kann nun ausrechnen, wieviel Menschen mehr auf der Erde leben müßten, wenn das durch Menschen-arbeit geleistet werden müßte, was durch Maschinenarbeit geleistet wird. Ich habe mich bemüht, das auszurechnen, und bekomme für eine achtstündige Arbeitszeit heraus - man kann es etwa nach dem Kohlen-verbrauch und anderem berechnen -, daß ungefähr 700 bis 750 Millio­nen Menschen mehr auf der Erde arbeiten müßten, als jetzt vorhanden sind an fleischlichen Menschen. Das heißt, es ist nur bedingt richtig -wenn wir auf die Menge der geleisteten Arbeit sehen -, daß wir unsere Erde von i 5 oo Millionen Menschen bewohnt haben. Wir haben sie von mehr bewohnt, aber von solchen, die nicht wirklich Menschen, sondern eigentlich Homunkeln, Maschinen, sind, aber die Arbeit leisten, die sonst Menschen leisten müßten. Dem Orientalen ist es in einer gewis­sen Weise in bezug auf seine eigene Seelenverfassung ziemlich unbehaglich

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bei diesem Gedanken der menschlichen Homunkeln, der da in die Menschenkultur hereinbrechenden 700 bis 750 Millionen Menschen, die keine Menschen, sondern Maschinen sind.

Diese Art von Menschen, die da mitarbeitet, die der Träger, der maschinelle Träger der Menschenkraft ist, das ist das wirkliche Ana­logon, das wirklich Entsprechende in der normalen westlichen Kultur, dieser Untermensch für den höheren Menschen, für den spirituellen Menschen des Orients. Und ich glaube nicht, daß heute einer ehrlich die Weltbilanz des Seelen- und Geisteslebens zieht, der nicht zu dieser Rechnungslegung dasjenige heranzieht, worin in den besten Zeiten, die der Menschheit etwas gegeben haben, die orientallsche Geisteskultur in dem höheren Menschen gipfelte, gegenüber dem, was das schließlich von der westlichen Kultur Hervorgebrachte ist: der Untermensch, die Maschine, die Menschenarbeit verrichtet.

Gewiß, in der neueren Zeit sind die Orientalen ganz gewiß nicht Idea­listen geblieben, sondern haben sich dasjenige angeeignet, was die Ma­schine des Abendlandes leisten soll, aber für die Gesamtkonfiguration ihres Geisteslebens finde ich doch noch immer die Tatsache charakte­ristisch, die sich vor etwa 45 Jahren zugetragen hat. Da bekamen die Japaner die ersten Kriegsdampfer von den Engländern und waren stolz, daß sie nun auch das können, was die Engländer können: Kriegsdampfer befehligen. Und sie dankten ihren englischen Lehrmeister ab und fuhren selbst hinaus. Die Leute schauten vom Lande aus zu, wie ein Kapitän einen Kriegsdampfer im Meere herumtrieb. Da aber wurde ihnen etwas unbehaglich: der Dampfer drehte sich und drehte sich und wollte nicht aufhören, sich zu drehen. Denn er mußte sich drehen, der Engländer war ja entlassen, der es verstanden hätte, den Dampf durch die entsprechende Vorrichtung zum Entweichen zu bringen. Und so mußte der japanische Kapitän im Meere draußen drehen und drehen, bis der Dampf ganz aufgezehrt war. Nun gewiß, so ist es ja nicht mehr im äußeren Leben, aber in der inneren Seelen- und Geistesverfas­sung ist es so. Der orientalisch Gebildete steht im Grunde genommen vor der abendländischen Geisteskultur so wie jener japanische Kapi­tän auf seinem Kriegsdampfer, dessen Vorrichtung für das Auslas­sen des Dampfes er nicht zu dirigieren verstand. Es ist ein gewaltiger

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Abgrund zwischen der inneren Konfiguration dieses orientalischen und okzidentalischen Geisteslebens. Und so schwierig es dem Okzi­dentalen wird, sich wirklich innerlich ehrlich hineinzufinden in das orientalische Geistesleben, so schwierig wird es andererseits auch dem Orientalen heute noch, sich in das abendländische Geistesleben hinein­zufinden.

Daher ist es gekommen, daß das nun insbesondere für uns in Mittel­europa - die wir, ich möchte sagen, hineingekeilt sind zwischen orien­talisches und okzidentalisches Geistesleben - zu einer Schwierigkeit geworden ist. Dasjenige, was ich Ihnen eben für das orientalische Gei­stesleben auseinandergesetzt habe, ist im Grunde genommen ein Cha­rakteristikon des orientalischen Geisteslebens alter Zeit. Was man dar­über heute noch findet und was schon stark im Übergang zu einer neuen Metamorphose ist, das ist im Grunde genommen nur ein letzter Aus­läufer. Nur für denjenigen, der etwas von diesen Dingen versteht, weist dieser Ausläufer auf dasjenige hin, was das orientallsche Geistesleben eigentlich war. Aber wir, insofern wir selbst dem Abendlande angehö­ren, wir haben lange gezehrt von dem, was uns aus diesem orientalischen Geistesleben gekommen ist. Man darf nicht sagen, daß das Ereignis von Golgatha etwa selber aus dem orientalischen Geistesleben gekommen wäre. Es hat sich im Orient vollzogen, aber es ist eine Tatsache, die sich für die ganze Menschheit vollzogen hat. Aber dasjenige, wodurch aus der menschlichen Seelen- und Geistesverfassung heraus das Abendland das Mysterium von Golgatha bisher verstanden hat, das kam aus orien­talischer Überlieferung. Und unsere Art, christlich zu denken über das Mysterium von Golgatha, ist für denjenigen, der solche Dinge unbe­fangen beobachten kann, eben das letzte Ergebnis dessen, was wir aus orientalischer Überlieferung haben.

Unsere Normalkultur, unsere heutige alltägliche Kultur lebt noch fort von den Strömungen des Orients, hat noch nicht neue Ansätze gezeitigt, um das Ereignis von Golgatha und anderes Übersinnliche in einer neuen Art zu begreifen. Doch dasjenige, was im Orient drüben schon im Niedergang ist, aber dort doch ein dem heutigen Orientalen entsprechendes Element ist, was ist es geworden bei uns durch ganz Europa und bis zum europäischen Anhang, bis nach Amerika hinüber?

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Phrase ist es geworden. An wichtigen Punkten können wir zeigen, wie dasjenige Phrase geworden ist, was wir in unseren Seelenadern noch zum Verstehen des Übersinnlichen haben und was in diese Seelenadern eingezogen ist durch uralte orientalische Geistesströmungen, zu denen wir noch nichts Neues aus unserer gewöhnlichen Ailtagskultur hinzu-gefunden haben. Wer heute unser Geistes- und Seelenleben wirklich verfolgt, der wird sich sagen müssen: Vieles, unendlich vieles in diesem Geistes- und Seelenleben ist nichts mehr als Phrase, hat seinen Inhalt verloren. Wir denken noch in den Worten, die uns entweder direkt aus dem orientalischen Sprachelement überliefert oder die ihm nachgebil­det sind. Aber Phrase ist es geworden, und Phrase ist zum großen Teil unser Geistesleben geworden. Wir sprechen dieWorte aus für dasjenige, was einmal in der alten orientalischen Geisteskultur einen grandiosen Sinn hatte, aber es ist in unserem Munde, in unserem Verstande, in unserem Herzen Phrase.

Der Mensch empfindet das heute noch nicht in genügendem Maße, und das ist das Unglück unserer Zeit. Denn aus der Phrase heraus wer­den zwar Parteiprogramme, aus der Phrase heraus werden auch Welt­anschauungen phrasenhafter Art geboren, aus der Phrase heraus wer­den aber niemals fruchtbare Taten und Ideen für die wirkliche Weiter­entwicklung der Menschheit entstehen. Man kann mit Phrasen agitie­ren, man kann aber mit Phrasen nichts schaffen. Wir blicken hin nach dem orientalischen Geistesleben mit seiner Erbschaft für uns und sagen uns: Es ist zur Phrase geworden, was da als spirituelle Welt gelebt hat. Und wir blicken jetzt hin aufdasjenige, was - wir haben es einigermaßen charakterisieren können - das Wesentlichste des abendländischen Gei­steslebens ist: das mechanistische Element. Wie kann das empfunden werden, wenn es gar nicht mit derjenigen Spannkraft spirituellen Gei­steslebens empfunden wird wie einstmals, und wenn es nur ungefähr empfunden wird, wie kann dieses mechanistische Leben empfunden werden? Kann man denn leugnen, daß das, was wir gewohnt worden sind: daß an Maschinenkraft 700 bis 750 Millionen Menschen auf der Erde ersetzt sind, kann man das denn leugnen, daß das unsere sozialen Gedanken, unsere Staatsgedanken beherrscht, daß es eingezogen ist in unsere Köpfe, - kann man denn das leugnen?

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Es hat allerdings - aber das sind Ausnahmen - Menschen gegeben innerhalb der abendländischen Menschheit, die in tiefer Weise solches empfunden haben, und wiederum darf hingewiesen werden auf eine bedeutungsvolle Schöpfung des österreichischen Dichters Robert Ha­merling, auf seinen «Homunkulus ». Er versuchte in diesem «Homun­kulus» in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das Bild des­jenigen Menschen zu zeichnen, der in seinem ganzen Geistes- und Seelenleben und Geistes- und Seelenwesen aus der modernen mechani­stischen Kultur herauswächst. Er versuchte die Denkweise zu charak­terisieren, die daraus entspringt, die eigentümliche Form des egoisti­schen Strebens. Das alles versucht Robert Hamerling in seinem «Ho­munkulus» zu zeichnen. Er zeichnet den Menschen, der keine Seele hat, weil ihm die mechanistische Denkweise seine ganze Seele ausgetrie­ben hat; er zeichnet einen Menschen, der aus den Usancen dieser mecha­nistischen Kultur herausgewachsen ist. Dieser Mensch wird Billionär. Und Hamerling zeichnet manches voraus, was dazumal noch nicht eine äußerliche Wirklichkeit war; er zeichnet die Luftschlffahrt und all die Dinge voraus, die dazumal noch nicht in dieser Art Wirklichkeit waren. Wie ein Homunkulus, wie ein künstlich mechanistischer Mensch in seinem Seelen- und Geistesleben, so erschien der westliche Mensch Robert Hamerling. Nicht wie derjenige, der aus den spirituellen Im­pulsen heraus, aus dem im Innersten des Menschen sich offenbarenden Übersinnlichen heraus sich sein Leben zimmert, sondern der gezimmert wird von den mechanistischen Mächten der Außenwelt, so charakteri­siert Robert Hamerling den Typus des normalen abendländischen Men­schen als Homunkulus.

Und man muß sagen: Gerade, wenn man auf so etwas hinblickt, was eindringlich die Empfindungen schlidert, die der heutige gebildete Orientale hat über das Leben des Abendlandes, so empfindet man selber, so fühlt man diesem Orientalen, zum Beispiel Tagore, der mit der gan­zen Inbrunst einer spirituellen Weltanschauung wieder seine orienta­lische Geisteswelt erfaßt, nach: er schaut alles das, was er beobachten kann in der westlichen Welt an Naturanschauung, an Staatsanschau­ung, an sozialen Gedanken; er schildert es so, daß man sich sagt - nur eben mit den Nuancen, wie ein Orientale spricht -: 50 schildert dieser

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heutige gebildete Orientale alles das als den Homunkulus. Der Okzi­dentale trägt in seinem Geistes- und Seelenleben die Nachklänge des­jenigen, was einstmals groß war im Orient drüben, als Phrase. Der Orientale empfindet das, was die okzidentalische Kultur bisher als Größtes hervorgebracht hat, als Homunkulus-Kultur.

Ich weiß sehr gut, daß Bequemlinge heute sagen, diese Dinge seien übertrieben. Das rührt aber nur davon her, daß man nicht den Mut hat, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. Es ist jedoch notwendig, ehrlich die Bilanz des Seelen- und Geisteslebens zu ziehen. Und damit haben wir auf das hingewiesen, was diese westliche Kultur eigentlich charakterisiert, worauf man ganz besonders in unseren Tagen hinwei­sen muß. Ist es denn nicht mit Händen zu greifen, daß sich aus der letz­ten Weltkatastrophe Zustände herausentwickelt haben, die auch für diejenigen, die schwer von Begriff sind, endlich begreifen lassen, was der Unbefangene längst sehen konnte, auch vor dem Jahre 1 914? Ist es denn nicht mit Händen zu greifen, daß sich in Form des englischen, des anglo-amerikanischen Weltreiches dieses anglo-amerikanische Wesen eben mit der Homunkulus-Natur über dle Erde zum großen Teil ausbreitet?

Das sage ich nicht etwa aus dem Grunde, weil ich jetzt hier an einem Orte Deutschlands zu Ihnen spreche. Ähnliche Dinge habe ich in den letzten Wochen und seit langem auch den Angehörigen der englisch-amerikanischen Bevölkerung selber gesagt. Ich habe Angehörigen der englisch-amerikanischen Bevölkerung ruhig gesagt: Im Grunde ge­nommen haben es die in Mitteleuropa lebenden Deutschen jetzt doch besser als ihr, denn dadurch, daß sich die Dinge so entwickelt haben, wie sie sich entwickelt haben, ist ein großer Teil jener Verantwortlich­keit von den Deutschen genommen - eine andere kommt! -, jener Ver­antwortlichkeit, die jetzt auf das anglo-amerikanische Element über-gegangen ist. Weniger hat man heute zu denken auf dieser Seite, ob jenes - ja, wie soll man es nennen? - ein einsichtiger Engländer hat es neulich mir gegenüber «Zusammenräubern der verschiedenen Gebiete der Welt » genannt; vielleicht ist es angemessener, mit diesem Ausdruck zu sprechen, als eine nationale deutsche Bezeichnung zu nehmen - weni­ger hat man zu denken an dieses Zusammenräubern; zu denken hat man vielmehr daran, daß es eine Tatsache ist, die ihren Lauf nimmt, daß aber

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diejenigen, die in jenen Ländern überhaupt noch menschlichen Sinn in ihrer Brust tragen, die Riesenverantwortung für die Fortentwicklung der Menschheit fühlen müssen, die auf ihnen lastet, weil sie innerhalb dieser Ausbreitung der anglo-amerikanischen Welt stehen.

Wir aber, wie haben wir darauf zu sehen, was denn eigentlich das Wesentliche ist dieser durch die anglo-amerikanische Welt repräsentier­ten Weltkultur mit ihrem mechanistischen Charakter? Glauben Sie nicht, daß gerade ein Angehöriger der Geisteswissenschaft in reaktio­närer Weise über diese mechanistische Kultur etwa loswettern möchte, glauben Sie nicht, daß mir auch nur einen Augenblick beifallen möchte, irgendwelche reaktionären Gedanken zu äußern über das Heraufbe­schwören alter Einrichtungen, oder etwas, was aus der Welt schaffen möchte eine einzige Errungenschaft dieser neueren Kultur! Diese ist mit derselben Notwendigkeit da wie einstmals die spirituelle Kultur. Notwendigkeiten der Weltentwicklung müssen in gebührender Weise beachtet werden. Aber was ist das Wesentliche? So wie im Orient einst­mals groß war das Streben nach dem höheren Menschen, nach dem, was im Menschen sich offenbaren kann als das Spirituelle, als der gött­liche Mensch, so wie aber da drüben im Orient dieses Sichhinauferhe­ben zum spirituellen Menschen schließlich in die Dekadenz gekommen ist, so daß es heute etwas ist, was wie aus märtyrerisch gearteten Trieben hervorwächst, was sogar heute schon über zahlreiche Gebiete dieses Orients verwechselt jenes soziale Zusammenleben, das sich auf spiri­tueller Grundlage begründet, mit dem von Westeuropa eingeschlepp­ten sogenannten sozialen Leben - wir sehen: Was im Orient einstmals als das Große war, es ist nicht mehr, hat seinen eigentlichen inneren Impuls verloren; es ist Vergangenheit, und der Hauch der Vergangen­heit lastet über dem ganzen Geistesleben und der Geisteskultur des Orients. Und es ist Dekadenz des Abendlandes, Ausgepreßtheit von allen guten Geistern des abendländischen Menschentums, wenn sich heute viele Menschen finden, welche Beihilfe zu ihrem abendländischen Geistesleben suchen durch Aufnahme von orientalischem Wesen. So wie dort Vergangenheit schwebt über dem, was äußerlich da ist in der Gegenwart - so grotesk sich das auch ausnimmt -, so schwebt über dem, was westliche mechanistische Kultur ist, Zukunft.

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Ich rede nicht als Reaktionär über diese westliche Kultur, ich rede nicht so, als ob nur ein i-Tüpfelchen von dieser westlichen Kultur ver­mint werden sollte; aber so, wie es sich ausbreitet durch den mechanisti­schen Untermenschen in 700 bis 750 Millionen Exemplaren, ist es eine Tatsache, daß wir heute noch kein Geistes- und Seelenleben haben, das sich mit voller Wucht und Stoßkraft hineinstellen kann in eine Welt, die also mechanistisch ist. Und es ist mein Glaube, den ich oftmals hier nicht als einen bloßen Glauben, sondern als aus der Geisteswissenschaft hervorgehende Erkenntnis charakterisiert habe, es ist mein Glaube, daß dasjenige, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft ge­nannt wird, was seit zwei Jahrzehnten als diese Geisteswissenschaft vorgetragen wird, entsteht aus derselben Geisteskraft, die, wenn sie sich nach außen auf das bloße Zeitliche und Räumliche und Sinnliche wendet, zur äußeren Mechanik wird, die in die grandiose Technik aus­läuft. Solch ein Geistesleben, das unsere Maschinen und die mechani­stische Kultur schafit, es hätte diejenigen Menschen, die einstmals aus dem spirituellen orientalischen Menschen heraus die geistige Kultur des Orients geschaffen haben, es hätte sie zersprengt, es wäre unmög­lich gewesen, das mit ihrer Art des spirituellen Lebens zu verbinden. An ihnen war es nicht, ein solches äußeres mechanistisches Leben in ihrer Umgebung zu haben; an uns im Abendlande ist es, ein solches Leben in der Umgebung zu haben, unsere Intelligenz, unsere ganzen menschlichen Geistes- und Seelenkräfte so anzuwenden, daß wir die inneren, starken Gewalten haben, um all das zu beherrschen, was in unseren mechanistischen, elektrotechnischen Kulturen auftritt.

Aus derselben geistigen Konfiguration muß durch Erhebung über das Sinnliche in das Übersinnliche hinein diejenige Kraft der mensch­lichen Seele erwachsen, die ich geschildert habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft » - die Kraft erwachsen, die uns auf eine Weise, wie sie niemals im Orient war, in die übersinnlichen Welten hineinführt. Damit aber steht die Menschheit des Abendlandes erst in ihrem Anfange, dafür ist erst der Ausgangspunkt vorhanden, und noch wenige Menschen sehen heute ein, daß es möglich, ja, daß es notwendig ist, aus demselben Geiste heraus, der die Gesetze unserer Maschinen

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durchdringt, der in unserer Elektrotechnik arbeitet, aus demselben Geiste heraus durch innere geistige Entwicklung aufzusteigen auf so strengen inneren Seelenwegen, wie nur die strengste Wissenschaft zu ihren Ergebnissen aufsteigt, zu jener Erkenntnis, wo man ebenso schaut, nur in anderer Art, wie einstmals der orientalische Mensch in übersinnlichen Welten geschaut hat. Wir müssen zu einer Geisteswis­senschaft kommen, die durch die ganze Art des inneren menschlichen Geistes- und Seelenlebens gewachsen ist jeder Art von wissenschaft­lichem und Erkenntnisstreben der neueren Zeit des Abendlandes. Wir dürfen nicht zurück zu dem, was vielfach in den Bekenntnis-Religionen Phrase geworden ist, nicht zurück zu jenem billigen Gebrauch der alten Phrasen, um etwa auch die neue Geisteswissenschaft zu charakterisie­ren. Diese neue Geisteswissenschaft muß mit demselben Ernst, mit der­selben Stoßkraft - nur auf spirituelle Art - geschaffen werden wie die äußere Wissenschaft.

Das ist das, was herauskommt, wenn man versucht, in vernünftiger Weise zusammenzustellen die Aktiv- und Passivposten unserer Zeit. Fahren wir fort, selbst unsere sozialen Anschauungen nur auszubauen auf jenen Grundlagen, die uns die äußere sinnliche Naturwissenschaft gegeben hat, dann bekommen wir nur auf der rechten Seite unseres Seelen- und Geisteskontobuches unsere Posten, dann begreifen wir mit einer solchen soziologischen oder historischen Anschauung nur das­jenige, was in unserem sozialen und geschichtlichen Leben zugrunde geht. Denn mit der äußeren Naturwissenschaft begreifen wir nur das Tote, und wenden wir diese Naturwissenschaft des Toten auf das an, was im sozialen Leben oder im geschichtlichen Leben enthalten ist, so begreifen wir auch dort nur das Sterbende. Deshalb sind die neuen sozialen Theorien, die sich nun auch über die Wirklichkeit hermachen, nachdem sie bisher bloß Kritiken des Bestehenden gewesen sind, so ertötend für das wirkliche Leben, weil sie dem Toten nachgebildet sind. Eine wirkliche soziale Anschauung werden wir erst haben, wenn wir sie aus denselben Quellen herausschöpfen, aus denen wir heute, wie ich geschildert habe, unser übersinnliches Leben schöpfen müssen. Wir sehen lediglich als Passivposten dasjenige, was von der bloß mechani­stischen Naturanschauung herkommt. Wir sehen aber auch als bloße

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Passivposten alles dasjenige, was nachgebildet wird in den Jahrhun­derte alten und ihre Kraft verloren habenden Bekenntnissen, denn die gegenwärtige Menschheit braucht mehr als eine andere die Kraft des Christus. Sie braucht aber einen neuen Weg zu diesem Christus. Alles das, was offen oder verschleiert, auf alten Wegen führt, das steht auf Seite der Passivposten. Die Aktivposten brauchen wir. Das sind die­jenigen, die aus einer Erneuerung der geistigen Weltbetrachtung her­aus kommen werden. Heute ist sie noch manchem zu schwer, insbeson­dere in westlichen Ländern, wo jene kuriose geistige oder spirituelle Richtung herkommt, wo nicht gesucht wird in den starken Kräften der Seele selber der Weg in die geistige Welt hinein, sondern wo nach Art einer Nachäffung naturwissenschaftlicher Experimente die Götter oder Geister oder auch die Seelen Verstorbener veranlaßt werden, ab und zu einmal einen Besuch in die physisch-sinnliche Welt herein zu unter­nehmen und sich im Kostüm der physisch-sinnlichen Welt zu zeigen. Solch ab und zu unternommenen tileatralisch aufgeputzten Logierbe­such läßt sich der Spiritismus machen. Das ist gerade der Widerpart wirklichen Geistessuchens. Wollen wir heute wirklich nach Geist suchen, dann darf das nicht darin bestehen, daß das Leben äußerlich materialistisch verläuft und wir im äußeren Leben nirgends geistige Wesen suchen, sondern nur ab und zu wie auf einem Theater plötzlich geistige Wesen zu Logierbesuchen empfangen, damit sie uns beweisen, daß es eine geistige Welt gibt, um die wir uns gar nicht kümmern. Was haben selbst Naturforscher von der Sorte eines Lombroso getan? Die Naturwissenschaft ist ihnen geistlos geblieben; es kam ihnen darauf an, auf spiritistische Weise außerhalb der Natur etwas zu finden, damit sie dann um so mehr materialistisch das treiben konnten, was mensch­liches Leben und menschliche Umgebung ist. Wir brauchen aber eine geistige Vertiefung, die in alles Materielle wirklich eindringen kann, die unser Leben auf Schritt und Tritt begleiten kann.

Ihnen eine solche geistige Lebensanschauung zu schildern, die in ihren Ideen imstande ist, Taten zu bilden, die aus ihrer Seelenkraft zu gleicher Zeit Moral werden, die aus ihrer Seelenkraft heraus zu gleicher Zeit religiöse Verehrung erzeugen kann, Ihnen zu zeigen, daß es eine solche Geisteswissenschaft gibt in dem, was ich jetzt schon seit zwei

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Jahrzehnten Ihnen vorzutragen mir erlaube, das wird auch weiterhin meine Aufgabe sein. Heute wollte ich darauf hinweisen, in welcher Art dieses Geistesstreben als Aktivposten den vielen Passivposten unseres Geistes- und Seelenlebens in der Gegenwart entgegengestellt werden muß. Und sollte nicht, da wir hineingekeilt sind zwischen dem Osten und dem Westen als die Mitglieder des deutschen Volkes, des vielge­prüften, in große Not hineingehenden deutschen Volkes, sollten wir nicht imstande sein, aus demjenigen, was als Anlauf zur Spiritualität bei unseren großen geistigen Vorfahren vorhanden war, zu finden den Weg zu neuem Geistessuchen? Mag dann im äußerlich Politischen kommen, was da will: wenn wir die Kraft haben, uns hinzuwenden zu diesem Geistesweg, um dem Orientalen in der Zukunft etwas zu sagen von einem Geistesleben, das er in anderer Gestalt einstmals gehabt, aber verloren hat, um es dann von uns zu empfangen, wenn es uns mög­üch ist, dem Westen etwas zu sagen von einem Geistesleben, das einst­mals sich hineinstellen können wird in all diejenigen Forderungen, die so hinunterziehend sind aus der bloß mechanistischen Kultur, dann werden wir in Europas Mitte, wenn wir einen solchen Weg suchen, eine Aufgabe erfüllen.

Es scheint, als ob die katastrophalen Ereignisse fur die Deutschen etwas Sonderbares erwiesen hätten. Wahrhaftig, auch die Deutschen haben auf der einen Seite teilgenommen an dem Sichüberflutenlassen mit dem noch verfrühten Wirtschaftsleben des Westens, haben teilge­nommen an dem lendenlahmen Sichhinwenden zum Orient, wenn es darauf ankommt, wiederum geistige Erneuerung zu suchen. Aber es scheint - ich sage: es scheint, um nicht zu sagen, was fur mich besser gesagt wäre: es ist so-, es scheint, daß die Deutschen auch in der Zeit, als sie materialistisch gestrebt haben, eben bewiesen haben, daß sie kein Talent zum Materialismus haben. Dieses Talent muß anderswo in der Welt gesucht werden. Wenn wir aus unserer Not heraus erkennen, daß die Deutschen kein Talent zum Materialismus haben, dann wird uns vielleicht von dieser Erkenntnis aus der Trieb kommen, in die Spiri­tualität hineinzugehen. Dann aber wird uns auch aus dieser Notwendig­keit heraus der Impuls kommen zu eigenem geistigen Streben, nicht zu einer Anleihe beim Orientalen, und wird vielleicht aus jener reinsten,

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flitriertesten Gestalt des Gedankenstrebens, das wir bei den Deutschen um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts gefunden haben, durch richtige Erkenntnis der Wurzeln deutscher Kraft spirituelle Arbeit ent­stehen für die ganze Menschheitsentwicklung der Zukunft. Was auch sonst des Deutschen Schicksal sein mag - dann dürfen wir sagen: Für dasjenige, was wir uns erringen können, indem wir auf die Wurzeln unserer Geistes- und Seelenkräfte zurückgehen, dürfen wir sagen: Der deutsche Geist hat nicht vollendet, er will hineinleben in Zukunfts­taten, in Zukunftssorgen, und er hat hoffentlich von diesem spirituellen Gesichtspunkte aus neben manchem anderen der Zukunft der Mensch­heit noch viel, sehr viel zu sagen.

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GEISTERKENNTNIS ALS TATENGRUNDLAGE Stuttgart, 30. Dezember 1919

Vor zwei Jahren etwa, als die katastrophalen Ereignisse der letzten Zeit ihren Entscheidungen entgegengingen, ergaben die Verhältnisse, daß die Freunde unserer in Dornach errichteten Hochschule für Geistes­wissenschaft eine Namensänderung für diese Hochschule für Geistes­wissenschaft vornehmen wollten. Es sollte ausgedrückt werden, wie man sich aus dem Bewußtsein des deutschen Geisteslebens heraus mut-voll entgegenstellen will alledem, was sich auch gegenüber diesem Gei­stesleben in der Gegenwart oder in der Zukunft erheben möge. Man hat dazumal - und Sie werden das Bedeutsame dieser Namengebung fühlen - jenes Gebäude, das auch in seiner künstlerischen Ausgestaltung wiedergeben soll, was in anthroposophisch orientierter Geistes­wissenschaft lebt, man hat dazumal diese Hochschule für Geisteswissen­schaft Goetheanum genannt. Und es steht also dieses Goetheanum auf einem der nordwestlichsten Hügel der Schweiz als Wahrzeichen wirk­lich internationalen Geistes, aber eines solchen Geistes, der jenes be­deutsame Element in sich haben will, das man an den Namen Goethe anknüpfen kann. Und daher wird es gestattet sein, bei geisteswissen­schaftlichen Betrachtungen, wie solche hier gepflogen werden, ab und zu an Goethesches zu erinnern.

Ich werde heute scheinbar weit Hergeholtes zum Ausgangspunkt nehmen, aber dieses scheinbar Weithergeholte wird vielleicht geeignet sein, auf ein Charakteristisches in der hier gemeinten Geisteswissen­schaft hinzuweisen.

Es ist vielleicht bekannt, wie Goethe, nachdem er seine Verpffich­tungen in Weimar übernommen hatte, aus gewissen Zusammenhängen seines dortigen Lebens heraus intensiv sich naturwissenschaftlichen Betrachtungen widmete. Und als er dann, nachdem er in Weimar und in dem benachbarten Jena über Pflanzen und Tiere die mannigfachsten Versuche und Studien gemacht hatte, in der Mitte der achtziger Jahre auf seiner italienischen Reise sich von Gebiet zu Gebiet, das er durch-wanderte, mit allem Naturwissenschaftlichen beschäftigt hatte, schrieb

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er einmal über die Ideen, die er sich nunmehr machen müsse über den Zusammenhang der Pflanzen und der Erde. Er schrieb an seine Wei­marischen Freunde nach Hause, er sei der Urpflanze nun völlig auf die Spur gekommen, jener Pflanze, von der er überzeugt war, daß sie ein nur im Geiste zu erfassendes Gebilde sei, daß sie etwas sei, das zwar allen einzelnen Pflanzenformen zugrunde liege, das aber doch nur ein geistig erfaßtes Iiinheitsgebilde sei. Und ein merkwürdiges Wort schrieb er dazumal an seine Weimarischen Freunde: Mit diesem Gebilde in der Seele müsse man imstande sein, die Pflanzenwelt so zu erkennen, daß, wenn man dieses Gebilde - Goethe nannte es ein sinnlich-übersinnliches Gebilde-in der entsprechendenWeise abändert, indem manihm konkre­te Form gibt, man innerlich im Geiste etwas schaffen müsse, das die Mög­lichkeit habe, äußerliche Wirklichkeit zu gewinnen. Mit dieser Urpflan­zein der Seele müsse mandas Pflanzerlebensotieferfaßthaben, daß man eine Phantasiepflanze erfinden könne, die aber ebenso die Berechtigung habe, äußerliche Wirklichkeit zu sein wie die Pflanzen, die draußen auf den Wiesen und in den Wäldern und auf den Bergen wachsen.

Was meinte Goethe und was empfand er, indem er solches aussprach, in dem Augenblick, wo er sich für ein gewisses Erkenntuisgebiet auf dem Gipfel seiner Anschauung glaubte? Sehen wir diesem Ausspruch nicht an, namentlich wenn wir auf alles das Rücksicht nehmen, was in Goethes Natur lebte, daß Goethe der Natur gegenüber eine Erkenntnis anstrebte, die, wie er sich ausdrückt, geistgemäß ist, also eine Erkennt­nis, bei der nicht nur die Sinne, bei der nicht nur die Intelligenz mit­wirken, sondern eine Erkenntnis, bei der mitwirkt das ganze Geistige des Menschen? Aber sehen wir nicht auch, wie Goethe eine solche Er­kenntnis anstrebt, die untertauchen kann zu dem Wesen der Dinge, die sich so eins mit den Dingen weiß, daß sie, indem sie in sich die Idee der Dinge schafit, sich klar sein kann, daß in dieser Schaffenskraft, die in der Seele lebt und produktiv ist, dasselbe lebt und webt wie in der Wachs­tumskraft der Pflanze da draußen? Goethe war sich klar darüber: Wenn die Pflanze da draußen wächst, wenn sie Blatt für Blatt, Knoten für Knoten, Blüte für Blüte entwickelt, da lebt in ihr Wachstumskraft. Aber mit dieser Wachstumskraft, die da draußen lebt, wollte Goethe sich selber verbinden, die wollte er in der eigenen Seele leben lassen.

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In dem, was er als Erkenntnis-Ideen über die Dinge erschuf, sollte etwas leben, was dasselbe ist, wie es draußen in den Dingen liegt.

Eine ungeheure Intimität des Miterlebens mit den äußeren Dingen wird durch eine solche Erkenntnis angestrebt. Man unterschätzt heute noch immer die Wucht, die eintritt in dem Erkenntnisstreben der Menschheit, als Goethe sich zu solchen Ideen erhebt; denn wir leben heute im Grunde genommen in ganz anderen Erkenntnisideen. Die hier gemeinte anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft will aber Goetheanismus sein, das heißt nicht etwa Goethe-Wissenschaft nach der Art, wie diese oder jene Goethe-Sammlungen es machen mit dem, was Goethe gesagt oder geschrieben hat, sondern in dem Sinne, daß sie ergreift, was in anfänglicher, elementarer Art in Goethe gelebt hat, was aber innere Lebendigkeit hat, um weitere und weitere Früchte zu tragen, was heute etwas ganz anderes ist, als es i S 3 z sein konnte, als Goethe starb. In Goethe lebte ein Geist, der sich lebendig fortentwik­kelt, auch nachdem Goethe für diese Erde tot war. Heute können wir von einem Goetheanismus des Jahres 1919 sprechen. Der braucht nicht wieder aufzuwärmen, was Goethe selbst wortwörtlich gesagt hat, er muß aber wirken in seinem Geiste. Und man kann glauben, in seinem Geiste am besten zu wirken, wenn man das, was er für seine Zeit vor fast anderthalb Jahrhundert versucht hat auf einem kleinen Gebiete, auf dem des Pflanzlichen und ein wenig auch des Tierischen, auszubilden

- und da auch nur für die äußeren Formen -, wenn man das zum Impuls einer umfassenden Weltanschauung macht und vor allen Dingen den Menschen in diese umfassende Weltanschauung aufnimmt. Damit aber bekennt man sich zu einem Goetheanismus, der umgestaltend wird wir­ken müssen auf alles das, was heute von den angesehensten Teilen unse­res Erkenntnisstrebens, von den naturwissenschaftlichen Teilen aus zur Weltanschauung erwachsen will.

Ich darf vielleicht, etwas anklingend an dasjenige, was ich schon in vorigen Vorträgen gesagt habe, noch einmal charakterisieren, wie die geistige Entwicklung der zivilisierten Menschheit in den letzten vier Jahrhunderten war. Was haben wir denn da als die Hauptkraft in der menschlichen Entwicklung und in dem Erkenntnisstreben heraufkom­men sehen? Wir haben gesehen heraufkommen das intellektuelle, das

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verstandesmäßige Leben, und wenn wir auch gerade auf dem Gebiet der Naturwissenschaft die großen Triumphe erlebt haben, so müssen wir doch sagen: Trotzdem uns diese Naturwissenschaft in Hülle und Fülle die äußeren Tatsachen schildert, - die Art und Weise, wie wir uns als Mensch über die äußere Welt hermachen, nämlich wie wir uns in unserer Seele Ideen bilden über die äußere Natur und über das Leben, die ist durch und durch intellektualistisch gefärbt.

Man gelangt zwar, wenn man vorzugsweise das intellektualistische Moment in der menschlichen Natur zu seiner Richtscbnur nimmt, in ein sehr Geistiges hinein. Unsere abstrakten Ideen und Begriffe sind selbstverständlich ein innerlich sehr Geistiges. So, wie sie sich in den letzten vier Jahrhunderten geltend machen, sind sie in sich selbst gei­stig, sind aber nicht in der Lage, etwas anderes zu werden als Spiegel­bilder der äußeren sinnlichen Tatsachen. Das ist das Charakteristische in unserem Geistes- und Seelenleben: Wir haben es allmählich dahin gebracht, abstrakte, ganz feine, ins Geistige hinein filtrierte Ideen und Begriffe zu entwickeln, aber es sind solche Ideen und Begriffe, die sich nur an das äußere Sinnlich-Wirkliche heranwagen, die nicht in sich die Kraft haben, irgend etwas anderes im Leben zu erfassen als das äußere Sinnlich-Wirkliche. Diejenigen Menschen, die heute in dieser intellek­tualistischen Richtung ihr Seelisches anstrengen, glauben oftmals, ganz voraussetzungslos unbefangen den Wegen ihres Forschens, ihres Den­kens nachzugehen. Aber dieses Denken und Forschen, das sich auf sol­chen intellektualistischen Wegen bewegt, ist durchaus nicht unabhän­gig von der historischen Entwicklung. Und es ist interessant, zu sehen, wie mancher, der sich heute einen Philosophen, einen Wissenschafter nennt, glaubt, in irgendeiner Weise aus der Menschennatur oder der Wesenheit der Welt rechtfertigen zu können, warum er gerade in dieser oder jener Weise forscht, während die Art und Weise, wie er forscht, nur das Ergebnis einer Jahrtausende alten Menschheitserziehung ist.

Wenn man zunächst zurückgeht - und ich kann heute nur im großen und ganzen charakterisieren - durch die nachchristlichen Jahrhunderte ins alte Griechentum, so findet man in den letzten Jahrhunderten des vorchristlichen Gtiechentums schon die ersten Anklänge jenes intel­lektualistischen Denkens, dem wir uns seit dem i 5. Jahrhundert in der

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abendländischen zivilisierten Welt ganz und gar ergeben haben. Wir finden im alten Griechenland dasjenige aufgehen, was man lange Zeit hindurch die Dialektik genannt hat. Diese Dialektik ist das innere Reg­sammachen eines Gedankenelementes, das immer mehr und mehr nach der Abstraktion hingeht. Aber wer das griechische Leben unbefangen betrachtet, der sieht, daß dieses bei Plato noch sehr durchgeistigte, bei Aristoteles schon durchaus bloß logische Leben des Intellekts zurück­geht auf ein vollinhaltliches seelenhaftes Altes. Und wenn man etwa, wie Nietzsche das getan hat - grandios, wenn auch schon etwas krank-haft-, wenn man zurückgeht in die ältesten Zeiten griechischen Den­kens, griechischer Kulturentwicklung, dann findet man, daß in dem, was Nietzsche das tragische Zeitalter der Griechen genannt hat, - daß in diesem Geistesleben noch nicht das abstrakt dialektische, logische Element vorhanden ist, auch nicht das Hingewendetsein zur bloß äußerlichen Welt. Sondern in diesem Geistesleben ist noch etwas vor­handen von dem, was nur aufsteigen kann aus der innersten Menschen-natur selber, die wie aus sich selbst herausträgt das Wesen der Welt in den mannigfaltigsten Gestaltungen. Und wenn wir dem Ursprunge des-sen weiter nachgehen, was da in Griechenland aufgetreten ist, was später filtriert worden ist zu der bloßen Logik, dann finden wir im Orient drüben dasjenige, worauf ich neulich hingewiesen habe, was man nennen könnte ein der heutigen Menschheit - aber eben nur der heutigen Menschheit - geheimnisvolles Mysterien-Erkennen. Es ist das ein Erkennen, das auf eine Weise gewonnen wird, von der die heu­tige Menschheit in ihrem normalen Leben sich gar keine Vorstellung mehr machen kann. In jenen Schulen des alten Orients, die zu gleicher Zeit Schulen und Kunstanstalten und religiöse Stätten waren, hatte der Mensch nicht etwa bloß etwas zu lernen oder mit seinen intellektuellen Kräften zu erforschen, sondern, bevor er überhaupt herangeführt wurde an die Geheimnlsse des Daseins, hatte er eine Umgestaltung sei­nes ganzen Wesens durchzumachen. Es war in diesen Mysterien des Orients eine Selbstverständlichkeit, daß der Mensch, so wie er im äußeren Leben darinsteht, zu den Geheimnissen des Daseins nicht drin-gen könne. Daher mußte man erst den Menschen durch eine strenge Zucht seines ganzen Wesens hinaufführen zu jenem Zustand, in dem

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er ein anderes Wesen wurde, und diesem anderen Wesen übermittelte man dann, was man den Inhalt der Erkenntnis nannte. Auf einem rei­chen, historisch ganz gewiß nicht mehr vorhimdenen, durch Geistes­wissenschaft aber nachweisbaren, seelisch-geistig konkret gestalteten Leben hat sich im Orient einmal eine Erkenntnis aufgebaut, die sich dann hinüber nach Griechenland verbreitet hat, die in Griechenland filtriert worden ist zur Dialektik, zur Logik, zur bloßen Intelligenz, und die dann immer weiter und weiter filtriert wurde, bis sie zu jenem blo­ßen Intellektualismus geworden ist, in dem wir innerhalb der moder­nen Zivilisation seit der Mitte des 15. Jahrhunderts darinnenstecken.

Ohne rückhaltlos das Seelenauge nach solchen Dingen, wie ich sie jetzt charakterisiert habe, zu richten, kann man nicht in die verschie­denen Kulturströmungen und Kulturbilanzen des heutigen Daseins hineinschauen, kann man nicht zu fruchtbaren Anschauungen darüber kommen, was heute der Menschheit nötig ist. Heute handelt es sich darum, daß man wirklich rücknaltlos auf das hinschaut, was geworden ist, und daraus erkennt, in welchen geistigen Welten wir eigentlich darinstehen. Wenn man so die Art und Weise verfolgt, wie sich ein uns mehr oder weniger fremdes Geistesleben aus dem Orient nach Grie-chenland herüber verpflanzt hat, filtriert hat zu unserem Intellektualis­mus, dann kommt man zu der Frage: Wie hat sich denn eigentlich dieses Geistesleben entwickelt?

Dieses Geistesleben hat sich nicht anders entwickeln können als da­durch, daß es in einer gewissen Weise gebunden war an etwas Natur­haftes in der menschlichen Wesenheit. Prüft man, was eigentlich in der menschlichen Natur gewirkt und gewebt hat, damit dieses Geistesleben durch die geschilderte Umwandlung des Menschen sich hat entwickeln können, so muß man sagen: Darinnen spielt die Tatsache der Ver­erbung, die Tatsache der Blutsvererbung in der Menschheit eine große Rolle. Und wir können eigentlich nur studieren, wie die Erkenntnis-Entwicklung in der Menschheit vor sich gegangen ist, wenn wir sie herausholen aus der Erkenntnis der Tatsache der Blutsentwicklung. Daher ist auch die Erkenntnis in denjenigen Zeiten, auf die ich hin­gewiesen habe, um den Ursprung unseres gegenwartigen Erkennens darzulegen, an einzelne Völker, an einzelne Rassen, an Blutszusammenhänge,

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an Erblichkeitsverhältnisse gebunden. Differenziert nach den einzelnen Völkern tritt die Erkenntnis auf. Dasjenige, worauf man Rücksicht zu nehmen hatte, wenn der Schüler hereingeholt wurde aus dem äußeren Dasein in jene Mysterienschule, von der ich gesprochen habe, worauf man Rücksicht zu nehmen hatte bei seiner Ausbildung, das war: Welches Blut, welches Temperament im Blut, welche durch das Blut begründete Begabung lebte in ihm? Und dieses Naturhafte brachte man zur Entwicklung, bis das, was sich aus diesem Naturhaften ergeben konnte, in der Erkenntnis des betreffenden Menschen zutage trat.

Wer die Entwicklungsgeschichte der Menschheit wirklich kennt, wer sich nicht hält - ich darf dieses Wort noch einmal gebrauchen - an das Fable-convenue-hafte, was man heute Geschichte nennt, sondern an die wirkliche Entwicklungsgeschichte der Menschheit, der wird finden, daß dieses Gebundensein des menschlichen Seelen- und Geistes­lebens an den Blutbestand, an die Bluttatsachen, radikal aufhört um die Mitte des i 5. Jahrhunderts für den Umkreis der abendländischen zivi­lisierten Welt. Da beginnt etwas tonangebend zu werden, was in der Entwicklung der Menschen niemals an das Blut gebunden sein kann. Es ist sehr interessant, zu sehen, wenn man alles, was sich künstlerisch entwickelt hat seit dem ,5. Jahrhundert, in der modernen Menschheit betrachtet; wie alles das hervorgeht aus Quellen des menschlichen See­lenlebens, die nichts mehr zu tun haben mit jenem Naturhaften, elemen­tarischen Gefärbten selbst der größten geistigen Leistungen der frühe­ren Zeiten. Man mag das in vielen Kreisen verkennen. Wer richtig verstehen will, was in Äschylos lebt, was in einem alten griechischen Philosophen wie Heraklit oder Anaxagoras lebt, wer begreifen will, was in jenen alten Kulturen gelebt hat, muß sich klar sein, daß darin etwas lebt, was an das Bluthafte gewisser Rassen gebunden ist. Der Grieche war sich dessen noch bewußt, daß all sein geistiges Wesen gebunden war an das, was sein Blut als seelische Blüte hervorbrachte. Das kann man sich beweisen, wenn man etwas sinnvoll die griechischen Kunst­werke verfolgt, zum Beispiel die typischen plastischen Gestalten. Wenn man versucht, daraufzukommen, was in diesen Typen liegt, dann fin­det man, daß drei Typen in dem Umkreis der griechischen Plastik leben:

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zunächst der Satyr-Typus, dann der Merkur-Typus, der insbesondere in allen Merkurköpfen auftritt, dann aber der Typus, den wir finden bei Zeus, bei Hera, bei Athene, bei Apollo. Man vergleiche einmal sorg­fältig die Nasengestaltung, die Ohrengestaltung, alles einzelne an die­sen drei Typen, dann wird man wie selbstverständlich daraufkommen, wie der Grieche in dem Satyr-Typus und in dem Merkur-Typus etwas darstellen wollte, was untergeordnete Menschheit ist, innerhalb welcher sich als die blutsübergeordnete Menschheit jenes Ariertum ausgebrei­tet hat, dem der Grieche sein Abbild gab in dem Zeuskopf. Man möchte sagen: Es ist darin das Bewußtsein ausgedrückt, wie der Grieche seine Geistigkeit an das bluthaft Elementarische in der Menschheitsentwick­lung gebunden fühlte. Das versprüht allmählich und hört auf, für die Menschheit eine Bedeutung zu haben, in der Mitte des ,5. Jahrhunderts. Seit jener Zeit lebt in dem, was im äußeren normalen Leben an Geistig­keit hervorgebracht wird, das intellektuelle Element, das Vorstellungs­element, so daß alles, was da in der Seele aufgeht, was seelischer Artist, nichts mehr zu tun hat mit dem, was im Blute wallt, was das Blut her­vorbringt. Das müssen heute selbst philosophische Triviallinge zuge­ben, daß dasjenige, was in den Vorstellungen intellektualistischer Art lebt, nicht an Leibliches, am wenigsten an das Blut gebunden ist, jeden­falls auch nichts zu tun hat mit dem, was in der alten Geistigkeit eine so große Rolle spielte: mit der Vererbung, mit der Tatsache der Blutsver­wandtschaft innerhalb der Vererbung.

Da kommt seit der Mitte des ,5. Jahrhunderts etwas heraus in der Menschheitsentwicklung, das zwar sozusagen ein ganz Dünn-Geisti­ges, eben bloß Intellektualistisches ist, das aber diese moderne Mensch­heit zur Unabhängigkeit von allem bloß Naturhaften erzieht, das aller-dings diese Menschheit auch zugleich entfernt von all dem, was früher als menschenwesenhaft empfunden worden ist. Und ein Eigentüm­liches, ich möchte sagen, Tragisches trat ein in dieser Entwicklung der modernen Menschheit. Sie mußte sich erheben zu einem Erleben, das unabhängig ist von dem naturhaft Elementarischen, aber sie konnte mit dem, was sie so in die Seele hereinbekam, nicht mehr sich selbst begrei­fen. In jener alten Geistigkeit, in jener Geist-Erkenntnis, die noch auf das Blut gebaut war, hatte man mitbekommen mit den innerlichen Erkenntnissen

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eine Erkenntnis der menschlichen Natur und Wesenheit selbst; jetzt hatte man sich erhoben zu einer abstrakten Geistigkeit, die in der Naturwissenschaft große Triumphe erfahren kann, die aber un­möglich auf das Wesen des Menschen selber eingehen kann, die dem Wesen des Menschen fernbleibt.

Das aber hatte eine andere Folge. Wenn wir zurückschauen in jene Entwicklung, die ich charakterisieren durfte als gebunden an das natur­haft Elementarische, und unseren Blick nun nicht auf das Erkenntnis-wesen wenden, sondern darauf, was an guten oder bösen, an sympa­thischen oder antipathischen Taten durch die Geschichte geht, so finden wir, daß diese Taten sich an das naturhafte Erkennen, an das naturhafte Geist-Erleben anschließen, der Ausdruck des naturhaften Geist-Erle­bens sind: Der Mensch erlebt sich durch sein Blut, erhebt sich durch sein Blut zur Geistigkeit, erlebt dasjenige, was ihm sein Blut gibt, in mächtigen Bildern, in Imaginationen, die Repräsentationen des erleb­ten Geistigen sind, und was er in der Seele erlebt, das tritt über in seinen ganzen Menschen. Und der Ausfluß dessen, was pulsiert von seinen Vorstellungen, von seinen empfundenen Vorstellungen, empfundenen Ideen, das werden seine Taten.

Und heute? Wir sind an einem Kulminationspunkt angekommen. Wir haben drei bis vier Jahrhunderte intellektualistischen Lebens hinter uns, wir schauen uns um in der modernen zivilisierten Welt, wir finden überall eine intensive Entwicklung intellektualistisch forscherischen Lebens, die marnigfaltigsten Ideen, aber alle diese Ideen so, daß sie zu abstrakt, zu lebensfremd sind, um als Impulse in das Tatenleben überzugehen. Wenn man heute, wo die sozialen und sonstigen mensch­heitlichen Probleme so dringend sind, den allgemeinen Seelenschlaf sieht, in dem sich die Menschen befinden, aus dem heraus sie sich immer und immer nicht gestehen wollen, wie sehr wir auf einer abschüssigen Bahn sind und wie sehr wir nötig haben, tiefere Kräfte aus unserem Seelenieben hervorzuholen, um wiederum die Impulse zu finden, die in die Taten hineingehen können - dann wird man an einen Volks-spruch erinnert, der in früheren Jahrhunderten den Deutschen, die man schon dazumal schiäftig gefunden hat, zugerufen wurde: Schlaf, Michel, schlaf, im Garten geht ein Schaf, im Garten geht ein Pfäffelein,

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das führt dich in den Himmel ein. Schiaf, Michel, schlaf! - Ja, das ist heute vielfach Gesinnung: hinhorchen auf irgendein abstraktes Reli­giöses, das in keinem Zusammenhang steht mit der unmittelbaren äuße­ren Wirklichkeit und dem Leben in dieser Wirklichkeit. Wir haben den Zusammenhang verloren zwischen dem äußeren Naturerkennen, das wir nur intellektuell erfassen, und dem, was in unserer Seele lebt und was einbezogen wurde in der alten, blutbegründeten Naturerkenntnis, die Anschauung von der Wesenheit des Menschen.

Ich weiß, wie sehr man heute abgeneigt ist, sich solche Charakteri­stiken anzuhören, die man als irgend etwas Ausgefallenes betrachtet, als Phantasien, die die Dinge übertreiben wollen. Dennoch muß gesagt werden: Ehe man nicht hört auf das, was aus dieser Ecke kommt, kommt man nicht zu fruchtbaren Ideen über eine Neugestaltung oder einen Neuaufbau, der einem heute so notwendig dünkt, wenn man die Dinge unbefangen beobachtet. Das Geistige und Seelische - nun ja, unsere Schuiphilosophen reden ja noch über irgend etwas Seelisches im Verhältnis zu der äußeren Welt; aber jene klare Erfassung des Wesens des Menschen als Leib, Seele und Geist, das lebt schon längst nicht mehr in unserer abendiändischen Anschauungsweise. Da kann man eine sehr merkwürdige Tatsache wahrnehmen. Man kann nur zurechtkommen -das habe ich in anderen Vorträgen schon ausgeführt - in der Erkennt­nis des Wesens des Menschen, wenn man diesen Menschen zu gliedern vermag in Leib, Seele und Geist. Denn der Leib ist dasjenige, was ihm zwischen Geburt und Tod das Werkzeug für die Geisteskräfte ist, der Geist ist dasjenige, das sich dieses Werkzeuges bedient, und die Seele ist das, was weder Leib noch Geist, sondern was das Verbindende der beiden ist. Ohne diese Dreiheit zu durchschauen, knn man nicht in das Wesen des Menschen eindringen. Aber selbst hervorragende Philoso­phen sprechen davon: Der Mensch besteht aus Leib und Seele. Sie glauben vorurteilslose Wissenschaft zu betreiben. Ja, vorurteilslose Wissenschaft! Sie wissen nur nicht: Wir sind im intellektualistischen Leben abhängig von der ganzen orientalischen Entwicklung. So sind wir in diesem unserem Hinschauen bloß auf Leib und Seele abhängig von dem 8. allgemeinen Konzil in Konstantinopel 869, auf dem das Dogma aufgestellt worden ist, man habe als Christ nicht zu glauben an

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Leib, Seele und Geist, sondern nur an Leib und Seele, und habe zu glau­ben, daß die Seele einige geistige Eigenschaften habe. Das ist von da ab Dogma der katholischen Kirche geworden, das ist Gebot geworden für diejenigen, die äußerlich geforscht haben. Und heute glauben die Menschen, sie hängen einer unbefangenen Forschung nach, die sie aus sich selber herausspinnen, während sie nur der alten Erziehung folgen, die inauguriert worden ist durch das allgemeine Konzil zu Konstan­tinopel vom Jahre 869, wo der Geist abgeschafft worden ist.

Das alles hat mitgewirkt dazu, daß unser Geistesleben ein so abstrak­tes, ein so intellektualistisches geworden ist, daß nicht mehr darinnen ist - aber die Menschheit unterliegt eben einer Entwicklung, und es kann nicht mehr darin sein -, was den Willen impulsierend im alten Geistesleben gelebt hat. Und eine Zeit müßte kommen, in der der Mensch in bezug auf seine Taten vollständig gelähmt erscheinen würde, wenn wir innerhalb unseres abendländischen Geisteslebens nur den Materialismus behielten. Fühien muß man aus dem Gange der abend­ländischen Geistesentwicklung, daß eine Neubefruchtung dieser Geist-entwicklung notwendig ist; daß wir das, was wir als altes Bluthaftes verloren haben, von einer andern Seite her wiedergewinnen müssen. Es war recht, daß die Menschheit durch drei bis vier Jahrhunderte eine vom Blut unabhängige intellektualistische Entwicklung durchgemacht hat. Dadurch erzog sie sich zur Freiheit, zu einer gewissen Emanzipa­tion von dem bloß Naturhaften. Aber was wir da entwickelt haben an Intellektualismus, es muß wiederum imprägniert werden, es muß in unserem Wesen wiederum erfüllt werden von einem solchen Erkennen, das in die Taten des Menschen hineinfließen kann, das den Menschen willensgemäß durchseelen und durchgeistigen kann. Eine solche Geist-Erkenntnis, eine moderne Geist-Erkenntnis, die nichts zu tun haben will mit einer Erneuerung der alten orientalischen Geist-Erkenntnis, strebt die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft an. Und in diesem Sinne möchte sie jetzt nicht nur für Pflanzen- und Tierformen, sondern namentlich für den Menschen jene Intimität mit allem, was im Universum lebt, erreichen, wodurch man sagen kann: Die Kräfte, die draußen leben, gehen in unser Wesen ein, sie erwachen in unserem Wesen selber, und indem wir erkennen, leben in uns die Wachstumskräfte

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der Natur und der geistigen Welt, vor allen Dingen unsere eige­nen menschlichen Wachstumskräfte. Wenn wir also unser intellektua­listisches Leben imprägnieren mit den Erfahrungen des Geistes, dann stehen wir in der modernen Zivilisation wiederum so darin, daß jetzt nicht ein Bluthaftes, sondern ein im freien Geistigen Geschautes in uns lebt, das wiederum begeisternd und erkraftend auf unser Tatenleben wirken kann.

Es ist schon so, daß das menschliche Willens- und Tatenleben erlah­men müßte, wenn es nicht den Einschiag bekäme von dem, was im Geiste erschaut werden kann. Es ist billig, wenn man heute zum Bei­spiel sagt: Ja, aber die Erkenntnisse dieser antliroposophisch orientier­ten Geisteswissenschaft werden doch im inneren abgezogenen, be­schaulichen Leben gewonnen! Gewiß, sie werden im innerlichen be­schaulichen abgezogenen Leben gewonnen, wie ja schließlich die che­mische Erkenntnis auch, abgeschiossen von der Anwendung der chemischen Errungenschaften in der praktischen Welt, in abgesonder­ten Laboratorien und Studierzimmern gewonnen wird. Gewonnen werden muß das, was uns Aufschiuß über das Wesen des Menschen geben kann, was heute den Inhalt einer wirklichen Geist-Erkenntnis bilden kann, indem wiederum - aber in ganz anderer Art als in den alten Mysterien - der Mensch sich umwandelt und dazu gelangt, eine geistige Anschauung zu gewinnen, wie er hier in der Sinnenwelt durch seine Sinnesorgane eine Sinnesanschauung und durch seinen Verstand eine intellektualistische Anschauung hat. Diese Bescheidenheit, von der ich im vorletzten Vortrag hier gesprochen habe, diese intellektuelle Bescheidenheit muß man entwickeln, daß man sich sagt: Wie sich das fünfjährige Kind erst erziehen lassen muß, um lesen zu lernen, so muß der Mensch, der im äußeren Leben steht, sich erst umwandeln, um an die wirklichen Geheimnisse der Natur- und Geisteswelt heranzukom­men. Und mit Entsagung, mit freiwillig getragenem Schmerz ist ver­knüpft, was wirkliche Erkenntnis über die menschliche Wesenheit er­gibt. Das können Sie schon aus der Tatsache ablesen, daß es nötig wird, daß der wirklich Erkennende, der in die geistige Welt vordringende Mensch nicht mehr die Welt so anschaut wie mit sonstigen Augen, nicht mehr so hört, wie man sonst hört, nicht mehr so denkt, wie man

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sonst denkt, sondern daß er in einem unabhängigen geistigen Organis­mus die Welt anschauen muß. Aber man ist zwischen Geburt und Tod nicht angepaßt an diese Welt, in die man da eintritt; man tritt in eine Welt ein, der man fremd gegenübersteht. Dieses Nicht-Angepaßtsein, dieses Hineingestelltsein ist eine Welt, der man, insoferne man sich seines Leibes bedient, nicht angehört, das ist etwas, was mit einem geistig-seelischen Schmerz charakterisiert werden muß, der natürlich nur durch Erfahrung erkannt werden kann. Durch solche und ähnliche Dinge, die gewiß abgezogen von den äußeren Stürmen und Fluten des Lebens liegen, muß man hineindringen in die geistige Welt. Aber man verleumdet, was durch die hier gemeinte Geisteswissenschaft gewon­nen wird, wenn man sagt: Das ist eine weltfremde Mystik; wenn man sagt: Das ist etwas Lebensfremdes oder Lebensfeindliches. Nein, was so, allerdings abseits vom Leben, im geistigen Forschen gewonnen wird, das ist etwas, was, wenn es vor die Menschheit hin-gestellt wird, ein Wissen, eine Erkenntnis ist, was begriffen werden kann durch den gesunden Menschenverstand, dann aber den Men­schen so impulsiert, daß es Träger seines Willens-, seines Tatenlebens werden kann.

Nach welcher Erkenntnis strebt anthroposophisch orientierte Gei­steswissenschaft, indem sie einen umfassenden Goetheanismus ent­wickeln will? Sie strebt nach einer Geist-Erkenntnis, welche die Grund­lage für ein kräftiges Willens- und Tatenieben sein kann. Nicht anders kann unserer Welt geholfen werden, als dadurch, daß in unser Willens-und Tatenieben einzieht, was aus dem Geist heraus erschaut werden kann. Die intellektualistische Erkenntnis und ihre Anwendung, die Naturerkenntnis, ist etwas Beschauliches, sie ist etwas, was höchstens in die Technik, in das Außermenschliche übergehen kann. Was aber aus dem Geiste heraus geschaut wird, das wird ein Impuls werden, das soziale Leben, dieses so schwierig werdende soziale Leben wirklich heilsamen Wegen entgegenzulenken.

Man könnte schon ein wenig mit sich zu Rate gehen und prüfen, ob solche hier charakterisierten Ansprüche der Geisteswissenschaft nicht doch berücksichtigt werden sollten, wenn man sieht, wie unendliches Leid der Menschheit dadurch hervorgerufen wird, daß heute im sozialen

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Leben so viel gepfuscht wird, daß in das soziale Leben hineinge­tragen werden Leninismen und Trotzklsmen und ähnliches, die nichts anderes sind als jenes intellektualistische Gift, das durch vier Jahrhun­derte allerdings zur Befreiung der Menschheit herangezogen werden mußte, aber nur so lange herangezogen werden konnte, als die alte soziale Form noch nicht von ihm ergriffen wurde. In dem Augenblicke, wo sie ergriffen wird, da muß sich die gIftige Wirkung des bloßen In­tellektualismus im sozialen Leben zeigen. Sie beginnt sich in furcht­baren Erscheinungen zu zeigen, und sie wird sich immer mehr und mehr zeigen. Es ist eine schreckliche Illusion, wenn die Menschen glau­ben, auf diesem Gebiete nicht erst im Anfange zu stehen, sondern in einem Punkte, wo man ruhig zuschauen kann. Nein, wir stehen im An­fange, und Heilung kann nur kommen, wenn sie vom Geiste aus kommt. Geist-Erkenntnis muß Grundiage werden. Statt allerlei, manchmal gut­gemeinte Deklamationen loszulassen zum Beispiel über die Art und Weise, wie diese Geisteswissenschaft nichts in der Religion zu suchen habe, wäre es besser, wenn man den Erscheinungen des Lebens unbe­fangen ins Auge sehen würde.

So wurde mir berichtet, daß hier in Stuttgart ein Vortrag über an­throposophisch orientierte Geisteswissenschaft gehalten wurde, in dem gesagt wurde: Es mag ja allerlei durch hellseherische Kräfte zutage ge­fördert werden, von denen die Geisteswissenschaft spricht; allein das hat nichts zu tun mit der einfachen Kindlichkeit, die in der Religion, im religiösen Auffassen auch des Christentums, wirksam sein soll. So kann man deklamieren, so kann man glauben, reden zu dürfen, wenn man von allen Geistern geschichtlicher Betrachtungsweise, von allen Geistern verlassen ist, die erklären, wie die Entwicklung der Mensch­heit ist. Ist man nicht von ihnen verlassen, so verkündet der Geist der Entwicklung der Menschheit laut und deutlich, daß jenes abstrakte Reden von einem abstrakten Sich-Vereinheitlichen von irgend etwas im Menschen, das man auch nicht definieren kann, mit einem undefi­nierbaren Wort, oder Christus, daß dieses Sich-Enthusiasmieren für ein kindliches Element uns in die soziale Misere hineingeführt hat, in der wir uns befinden. Zuerst wurde das seelische und geistige Element von den Bekenntnissen monopolisiert. Dadurch entstand eine Naturwissenschaft,

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in der kein Geist ist, die geistlos das Bild der Natur dar­stellt. Und indem man zugibt, durch Geisteswissenschaft könne allerlei Geistig-Tatsächliches der Menschheit geoffenbart werden, verlangt man jetzt, man solle sich bekennen, daß in diesem Geistig-Tatsäch­lichen nichts lebt von dem, was der Mensch als sein Göttliches suchen solle. Ja, der Materialismus der Naturwissenschaft hat es glücklich dahin gebracht, die Natur zu entgeistigen. Diese Religiosität wird es immer mehr und mehr dazu bringen, den Geist zu entgöttlichen. Und dann werden wir eine entgeistigte Natur, einen entgöttlichten Geist und eine inhaltlose Religion haben. Diese inhaltlose Religion, sie wird nichtirgendwelche Taten impulsieren. Geist-Erkenntnis muß Taten bringen, sonst stehen unsere sittlichen Impulse für unser abendländi­sches Geistesleben eigentlich in der Luft. Unsere sittlichen Impulse, sie streben aus unserem Inneren heraus in einer ganz anderen Art als die intellektualistischen Erkenntnisse. Wer unbefangen auf sich selbst zu schauen vermag, der weiß, daß die intellektuell gefaßten, zum Beispiel naturwissenschaftlichen Erkenntnisse im seelischen Leben etwas ganz anderes sind als jene Impulse, die als die sittlichen Antriebe, als die sitt­lichen Intuitionen uns innerlich aufgehen und von uns verlangen, daß wir sie ins Leben einführen. Aber dieses moderne Geistesleben hat durch seinen Intellektualismus keine Brücke zwischen seiner Natur­erkenntnis und seinem sittlichen Leben. Was ist zum Schluß die sitt­liche Weltanschauung geworden? Wenn wir absehen von einer heute mehr oder weniger inhaltlos gewordenen religiösen Anschauung, wenn wir hinsehen auf jene ehrlichen Leute, die sich aus der Naturwissen­schaft eine Weltanschauung zimmern, die ganz gewiß höchst einseitig, aber doch ehrlich ist, so müssen wir sagen: Sie stellen sich vor, da ist einmal aus einem Kant-Laplaceschen Weltennebel irgendein Zusam­menhang von Wirbelerscheinungen entstanden, und da ist nach und nach entstanden, was wir heute unsere Welt mit den Naturwesen und den Menschen nennen. Aber in dem Menschen treten sittliche Ideale, sittliche Intuitionen auf. Glaubt man nur an den Naturzusammenhang, dann sind diese sittlichen Ideale, diese sittlichen Intuitionen lediglich das, was herausdampft, was nur so lange Gültigkeit hat, als Menschen sich es sagen. Es leben nur noch viele alte Instinkte aus derjenigen

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menschlichen Entwicklung fort, die eigentlich schon im 1 5. Jahrhun­dert ihr Ende gefunden hat. Würden diese Instinkte nicht fortleben, werden sie einmal ausgerottet sein und würde nichts anderes eintreten in das menschliche Geistesleben, dann müßte man sich lediglich auf das äußere Dokumentieren dessen, was wir sittliche Ideale nennen, ver­legen. Und statt daß man sich innerlich verpffichtet fühit seinen sitt­lichen Idealen, daß man sich dem Geistesleben gegenüber, das alles physische Leben überragt, verpffichtet fühlt für seine sittlichen Ideale, statt dessen könnte höchstens auftreten, daß man es ehrenhaft findet, wenn einen die anderen Menschen für einen sittlichen Menschen halten, daß man es für opportun findet, nicht gegen das gesetzlich Fest­gestellte im Staate zu verstoßen. Kurz, jenes Durchglühtsein von einem beseelten Geistigen müßte, wenn unsere Intellektualität bliebe, aus dem menschlichen Sittenleben auch verschwinden. Denn eine Realität kann unserem Sittenleben nur gegeben werden, wenn wiederum Geist-anschauung imprägniert und durchdringt alles das, was wir uns durch drei bis vier Jahrhunderte erworben haben. Durchaus soll nicht in re­aktionärer Weise kritisiert werden, sondern es sollen nur die Notwen­digkeiten betont werden. Aber was zeigt uns diese Geistesschau, was ist das Sittliche unserer Geistesschau? Diese Geistesschau erkennt die äußere Natur, sie sieht in ihr schon in anfänglichem Sinne das, was ver­nünftige Geologen - ich will vergleichsweise sprechen - für die geolo­gische Erdenbildung annehmen. Solche Geologen sagen: Ein großer Teil unserer geologischen Erdenentwicklung ist bereits in absteigender Strömung begriffen. Für viele Gegenden der Erde gehen wir über er­storbenes Dasein, wenn wir über die Scholle gehen. Solches erstorbene Dasein ist aber viel universeller vorhanden als bloß im Geologischen, es erfüllt auch unser Kulturleben, und wir haben in der neueren Zeit eine nur auf das Tote, Unlebendige gerichtete Naturwissenschaft be­kommen, weil wir allmählich in unserer Kultur umgeben sind von dem Absterbenden. Man lernt das Absterbende kennen, das, was aus uralten Zeiten der Entwicklung herrührt und was in der Erdenentwicklung seine letzte Phase erreicht. Dann kann man aber das, was da seine letzte Phase erreicht, mit dem vergleichen, was in uns aufblüht als unsere sitt­lichen Ideale und Intuitionen. Was sind diese sittlichen Ideale und Intuitionen?

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Diese sittlichen Ideale und Intuitionen, wenn sie in uns ent­stehen, sie enthüllen sich dem, was hier anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft genannt wird, so, daß man in ihnen etwas sieht, was man vergleichen könnte mit dem Keim für die nächste Pflanze, der in einer Pflanzenblüte enthalten ist, während das, was an der Blüte ab-stirbt, die Erbschaft von der früheren Pflanze ist. Wir sehen aufsprießen unser sittliches Leben in unserem Innern. Indem wir das Naturhafte er­leben, erleben wir, was von alten Zeiten zu der Erde herüber sich ent­wickelt; indem wir die sittlichen Ideale aufblühen fühlen, erleben wir, was, wenn einstmals die Erde wie eine Schiacke als Leichnam abgewor­fen wird, mit den Menschenseelen so hinausziehen wird in ein kosmi­sches, unsterbliches Leben, wie der einzelne Mensch, wenn er seinen Leichnam abwirft, in das geistig-seelische Dasein eindringt. So sehen wir die in uns aufsprießenden Keime künftiger Erden-Metamorphosen, indem wir unser sittliches Leben entfalten.

Denken Sie, wenn man eine solche Idee, die gewiß der heutigen Menschheit noch phantastisch vorkommen mag, in ihrem vollen Ernste und in ihrer ganzen Tiefe zu nehmen vermag, was dann wird unter einem solchen Begriff wie sittliche Verantwortlichkeit! Da sagt man sich: Was bist du, Mensch? Du bist ein Ergebnis der Vergangen­heit und der ganzen Erdenentwicklung. Als solches gehst du den nie­dergehenden Weg. Dein Sittliches lebt in dir auf, das ist Keim der Zu­kunft, jetzt noch ein scheinbar Unreales, so daß wir es für etwas bloß Abstraktes halten; aber es ist der erste Anfang einer künftigen reichen Realität. Und man müßte sich doch sagen: Übst du nicht dieses Sittli­che, verbindest du dich nicht mit ihm,so sündigst du nicht bloß gegen­über deinem Mitmenschen, diesem gegenüber selbstverständlich auch, du sündigst gegenüber allen geistigen Welten. Denn sie haben in dich den Keim gelegt, durch deine Sittlichkeit in die Zukunft der Welt hin­überzuwachsen. Bist du unsittlich, schließt du dich aus von der Zu­kunft der Menschheit. Zu der Kraft, die für den Willen und das Taten-leben aus der Geist-Erkenntnis kommt, kann noch zum Sittenleben solcher Ernst einer, ich möchte sagen, kosmisch, universell orientierten menschlichen Verantwortlichkeit treten. Wir können fühlen: Im alten Griechenland war der Horizont des Gebildeten eingeschränkt. Man

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war Landesbürger. Es kamen die neueren Zeiten. Amerika wurde ent­deckt, die Kugelgestalt der Erde wurde durch unmittelbares Umwan­dern der Erde, durch Erfahrting neu gefunden. Der Mensch wurde Er­denbürger. Wiederum sind wir eine Etappe weiter. Die Menschheit ist durch das Landesbürgertum, durch das Erdenbürgertum hindurch-gegangen. Heute ergeht an sie der Ruf, Weltenbürger im wahren Sinne des Wortes zu werden, das heißt, sich zu fühlen als ein Bürger jener Welten, die außerhalb unserer Erde sind, die aber mit dieser als zu ei­nem Ganzen zusammengehören, Bürger auch jener Zukunftswelten, auf die ich hingedeutet habe.

So kann Sittenanschauung in Geist-Erkenntnis in einer neuen Weise wurzeln. Erst wenn solche Kraft unser sittliches Leben durchziehen wird, werden wir in der Lage sein, die Sittenlehre umzugestalten zu einer sozial wirksamen Lebensanschauung.

Solche Wege, wie sie hier angedeutet worden sind, sie wurden ver­sucht in so etwas, wie es die Dreigliederung des sozialen Organismus, in so etwas, wie es mein Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage » dar-stellt. Das halten ja viele für Abstraktionen, für Utopien, und ist doch das Allerrealste, weil es in jener Neu-Erfassung der Wirklichkeit ruht, die von keiner Naturwissenschaft erreicht werden kann, da diese zu sehr angekränkelt ist vom intellektualistischen Leben. Dieses intellek­tualistische Leben hat allmählich den Menschen gar sehr auf sich selbst zurückgewiesen. Man kann heute merkwürdige Proben bekommen, wie der Mensch dadurch, daß er aus seiner äußeren Naturkenntnis her­aus nicht mehr den Menschen selber begreift, egoistisch geworden ist. Der Egoismus ist zu gleicher Zeit mit dern Intellektualismus in den drei bis vier letzten Jahrhunderten in alles äußere und innere Menschen­leben eingezogen, vor allen Dingen - auch das muß unbefangen ange­sehen werden - hat dieser Intellektualismus, dieser Egoismus auch das religiöse Leben erfaßt. Heute kann nur - und das hat die menschliche Erziehung durch Jahrhunderte leider vorbereitet - von einem gewissen egoistischen Standpunkt aus über die Unsterblichkeit der menschlichen Seele gesprochen werden. Die Menschen beben heute davor zurück, daß etwa - wie es selbstverständlich nicht ist, wie es aber doch möglich wäre - das Aufhören ihres geistig-seelischen Wesens eintreten könnte,

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wenn der Leichnam der Erde übergeben wird. Das widerspricht dem, was von dem Naturhaften als ein deutliches Letztes übriggeblieben ist; das widerspricht einem deutlichen egoistischen Trieb. Man frönt die­sem egoistischen Trieb, wenn man nur, wie es auch wieder unter dem Zwang der Dogmen geschieht, von der Fortdauer des menschlichen Seelenlebens nach dern Tode spricht, die ja selbstverständlich gerade durch Geisteswissenschaft voll begründet wird; wenn man aber nicht davon spricht, daß unser Geistig-Seelisches vor unserer Geburt bezie­hungsweise Empfängnis in einer geistigen Welt war. Bevor wir herun­tersteigen in die physische Leiblichkeit und jene Umhüllung annehmen, die uns durch die Vererbung von Vater und Mutter gegeben wird, ma­chen wir in einer geistig-seelischen Welt ebenso eine Entwicklung durch, wie wir dies hier auf der Erde tun. Und genau ebenso wie unser Leben nach dem Tode eine Fortsetzung des Lebens hier auf der Erde ist, ein Ausbau der Erfahrungen hier, so ist das Leben, das wir zwischen Geburt und Tod durchmachen, eine Fortsetzung des Lebens, wie es war vor der Geburt.

Das legt zum Beispiel dem Pädagogen seine großen Pffichten auf, wenn er sich der Verantwortlichkeit voll bewußt ist, die auf seiner Seele lastet, indem er dasjenige zu entwickeln hat, was aus ewigen geistigen Höhen in einen Menschenleib herabgestiegen ist und sich durch die äußere Form und Hülle von Jahr zu Jahr immer mehr und mehr aus-prägt. Das ist das andere, das man hinzufügen kann zu jener dem Egois­mus entgegenkommenden Erkenntnis, die nur Rücksicht nimmt auf die allerdings selbstverständlich feststehende Tatsache der Unsterblich­keit der menschlichen Seele gegenüber dern Tod. Das ist die andere Seite, die insbesondere die Geisteswissenschaft für den neueren Men­schen betonen muß: das Leben vor der Geburt oder vor der Empfäng­nis und die Fortsetzung desselben durch das Leben hier. Leicht wird weltflüchtig, wer nur von dern Nachtodlichen spricht. Wer im Ernst das Vorgeburtliche ins Auge faßt, wird sich verpflichtet fühlen - da die Weltenordnung so ist, daß der Mensch herunterzusteigen hat ins phy­sische Dasein -, dieses zu einem tatkräftigen zu machen. Denn nur da­durch können wir das ausprägen, was wir auszuprägen suchen, wenn wir wissen, daß wir durch die Geburt ins physische Dasein herabstei­gen.

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Während zur Entseelung und Entgeistigung des physischen Da­seins die bloße Aussicht auf das führt, was nach dem Tode kommt, muß zur Durchkräftigung unseres Willens, zur Durcharbeitung unseres gan­zen Lebens das Bewußtsein führen, daß wir als Geist in dieses physisch-sinnliche Dasein herabgestiegen sind. Menschenhoffnungen für die Zu­kunft können sich in sicherer Weise nur aus der Geistesanschauung er­geben, wenn wir mit unserer Anschauung im Geiste wurzeln, wenn wir unser intellektualistisches Wesen durchprägen und durchimprä­gnieren mit dem, was uns die Geisteswissenschaft gibt. Dann kann wie­derum Taterimpuls, Willensimpuls einkehren in unser Leben. Und un­ser Leben wird diese geistigen Impulse nötig haben, denn dieses Leben ist ein absteigendes. Alte Generationen konnten noch auf ihre Instinkte schauen. Bei den alten Griechen konnten wir sehen, daß derjenige, der für das öffentliche Leben herangereift ist, nur seine Blut-Instinkte zu entwickeln brauchte. Das wird nicht mehr sein können, die Bildung würde verschwinden müssen, wenn wir nur auf das bauen wollten, was uns die Erde noch aus den Instinkten der Menschen heraus entgegen­bringen könnte. Der heutige osteuropäische Sozialismus rechnet auf diese Instinkte; er rechnet auf eine Null. Auf eine Wirklichkeit wird man rechnen, wenn man die Hofinung aufrichtet, daß auf geisteswis­senschaftlich orientierten Sozialismus aufgebaut werden soll. Aller­dings, solche Anschauungen, wie sie hier vorgebracht worden sind, werden noch nicht in ihrem vollen Ernste genommen, wenigstens von einer großen Anzahl Menschen nicht. Einzelne nehmen sie ernst, aller­dings von einem ganz gewissen Gesichtspunkte aus. So habe ich in un­serer Zeitschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus», als ich noch in Dornach arbeitete, gelesen, wie von gewisser Seite her recht wichtig genommen wird, was als Geisteswissenschaft auftritt; und es soll hier ein merkwürdiger Vortrag, ich glaube sogar mit Musikbeglei­tung, gehalten worden sein, der sich gestützt hat auf etwas, was wie ein Programm von gewisser Seite her auftritt, zum Beispiel in den «Stim­men der Zeit» von dem Jesultenpater Zirnrnerrnann, fast in jedem Heft, und was eben solche Niederschläge erzeugt, wie der, der sich hier er­geben haben soll. Da wurde gesagt, noch dazu von einem Domkapitu­lar, man könne sich ja über das, was der Steiner sagt, aus den Schriften

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seiner Gegner unterrichten, denn die Schriften, die er selbst schreibt, und die seiner Anhänger dürften Katholiken nicht lesen, denn die habe der Papst verboten. In der Tat, die römische hellige Kongregation vom 18. Juli 1919 hat ein allgemeines Edikt erlassen, welches das Verbot ent­hält, theosophische, anthroposophische Schriften zu lesen, wie es we­nigstens in der Interpretation dieses allgemeinen Ediktes durch den Jesultenpater Zimmermann heißt. Und man kann doch nicht glauben, daß dieser Jesultenpater Zimmermann immer lügt. Gelogen hat er: Er hatte behauptet, daß ich ein ehemaliger Priester gewesen wäre, daß ich einem Kloster entfiohen sei. Ich war nie in einem Kloster. Dann hat er gesagt: Die Behauptung, daß der Steiner ein entlaufener Priester sei, läßt sich allerdings heute nicht mehr aufrechterhalten. Eine sonderbare Art, das, was man erlogen hat, wiederum gutzumachen! Nun glaube ich nicht, daß das auch erlogen ist, was da jenen merkwürdigen Nieder­schlag gefunden hat, der dahin geht, daß man sich aus den Schriften meiner Gegner unterrichten kann, weil die antliroposophischen Schrif­ten von der heillgen Kongregation vom 18. Juli 1919 verboten worden sind. Ja, auf dieser Seite ahnt man, daß sich in der anthroposophlsch orientierten Geisteswissenschaft etwas, was sehr reale Kräfte hat, in die Gegenwart hereinstellen will.

Diese antliroposophisch orientierte Geisteswissenschaft - lassen Sie mich das zum Schlusse, ich möchte sagen, wie eine sachliche und zu­gleich persönliche Bemerkung noch sagen - diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft wird das, was sie als Erkenntnisgrund­lage des Tatenlebens, als Erkenntnisgrundiage des sittlichen und so­zialen Lebens, als Erkenntnisgrundiage der schönsten Menschenhoff­nungen vertreten muß gegen alle Widerstände, so gut sie es kann, wei­ter vertreten. Man kann ihr meinetwillen die Gurgel zuschnüren: so­bald sie sich nur wieder ein wenig regen kann, wird sie wiederum das geltend machen, was sie als der Menschheit notwendige Wahrheit glaubt erkennen zu können. Und wie in dem Augenblick, als sich die Aussicht auf den Sieg zu unseren Ungunsten zu wenden begann, der ganzen internationalen Welt gegenüber in dem Goetheanum ein Zeug­nis für das internationale Geistesleben erstellt worden ist, ohne davor zurückzuschrecken, daß dasjenige, was heute ausgebildeter Goetheanismus

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ist, doch aus den Wurzeln des deutschen Geisteslebens kommt, so wird auch allem andern gegenüber, was als Heminisse sich in den Weg stellen will, diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft für die Erkenntnis, die in ihre Überzeugung übergegangen ist, als für einen Weitinhalt kämpfen.

Es ist jetzt 35 Jahre her, da schrieb ich in einer meiner ersten Ausein­andersetzungen, um zu charakterisieren, wie das deutsche Wesen not­wendig hat, zurückzukehren zu den besten geistigen Quellen seiner Kraft, - da schrieb ich die Worte nieder wie einen Mahnruf an das deutsche Volk: «Bei allen Fortschritten, die wir auf den verschieden­sten Gebieten der Kultur zu verzeichnen haben, können wir uns doch nicht entschlagen, daß die Signatur unseres Zeitalters viel, sehr viel zu wünschen übrigläßt. Unsere Fortschritte sind zumeist nur solche in die Breite und nicht in die Tiefe. Für den Gehalt eines Zeitalters sind aber nur die Fortschritte in die Tiefe maßgebend. Es mag sein, daß die Fülle der Tatsachen, die von allen Seiten auf uns eingedrungen sind, es be­greiflich erscheinen läßt, daß wir über dem Blick ins Weite den in die Tiefe augenblicklich verloren haben. Wir möchten nur wünschen, daß der abgerissene Faden fortschreitender Entwicklung bald wieder ange­knüpft wird und die neuen Tatsachen von der einmal gewonnenen gei­stigen Höhe aus erfaßt werden.»

In dem Gefühl, daß, wenn der damalige geistige Tiefstand nicht in einer wirklichen geistigen Erhebung einen Widerpart finden würde, ein Katastrophales kommen müsse, in dieser Empfindung, mit herz­nagendem Schmerz schrieb ich vor 35 Jahren diese Worte nieder und ließ sie drucken. Ich glaube, daß ich gerade heute von solchen Gesichts­punkten aus, wie ich sie angeführt habe, sachlich-persönlich auf diese Worte hinweisen darf. Denn der Gang der Ereignisse in diesen dreiein­halb Jahrzehnten ist ein Beweis dafür, daß es berechtigt ist, den Ruf nach Geistigkeit wieder ertönen zu lassen. Möge er, da er damals nicht gehört worden ist, heute und in der nächsten Zukunft von den Deut­schen gehört werden, damit sie von innen heraus, aus der erfaßten Gei­stigkeit aufbauen können, was gerade bei ihnen in einer so furchtbaren Weise in den letzten Jahren zerstört worden ist, ja, was nur angefangen hat, zerstört zu werden, und was gewiß auf den Bahnen der Zerstörung

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weiterschreiten wird, wenn man nicht Geistigkeit mitnehmen wird für den Neuaufbau.

Das ist es, woran man heute appellieren möchte: an den Willen zur Geistigkeit gerade in dem deutschen Volk. Und man darf an diesen Willen zur Geistigkeit appellieren; denn sicher ist es: Entwickelt das deutsche Volk diesen Willen zur Geistigkeit, so muß es die Geistigkeit finden. Zum Materialismus, sagte ich neulich, hat es anscheinend - das beweisen gerade die Ereignisse der letzten Jahrzehnte - keine Bega­bung; für die Geistigkeit hat es Begabung, das beweist der Geist unserer Entwicklung durch Jahrhunderte. Deshalb darf man appellieren an den Willen zur Geistigkeit: das deutsche Volk, wenn es nur den Willen entwickelt, wird die Geistigkeit finden, es hat die Begabung dazu. Aber da es die Begabung hat, hat es auch vor dem Ruf nach Geistigkeit die große Verantwortlichkeit. Möge das Bewußtsein dieser Verantwort­lichkeit erwachen, erwachen in der Weise, daß das deutsche Volk wie­derum tatkräftig auf geistiger Grundlage und aus geistigen Impulsen heraus in die Entwicklung der Menschheit eingreifen könne, das fort-setzen könne, was es zum Segen der Menschheit durch viele Jahrhun­derte für diese Menschheit durch seine größten Geister geleistet hat.

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HINWEISE

Veröffentlichungen der Vorträge dieses Bandes erfolgten in folgenden Zeitschriften:

Ulm, 26. Mai T919, in «Gegenwart», 30. Jg. 1968/69, Nrn. 3/4 und 5/6.

Ulm, 22. Juli 1919, in «Das Goetheanum», 21. Jg. 1942, Nrn. 23-28; desgl. in «Gegen­wart», 30. Jg. 2968/69, Nrn. 7 und 8/9.

Berlin, 15. September 1919 in «Gegenwart», 30. Jg. 1968/69, Nrn. 10 und 11/12.

Stuttgart, 19.Dezember 1919 in «Die Drei», 5. Jg. 1925/26, Nr. 3; desgl. in «Die Men­sehensehule», 10. Jg. 1936, Nr. 11/12; desgl. in «Gegenwart», 31. Jg. 1969/70, Nrn. 1/2 und 3.

Stuttgart, 27. Dezember 1919 in «Die Drei», 5.Jg. 1925/26, Nr.8; desgl. in «Die Men­sehensehule», 14. Jg. 1940, Nr.5/6; desgl. in «Gegenwart», 31. Jg. 1969/70, Nr. 4/5.

Stuttgart, 30. Dezember 1919 in «Die Drei», 5. Jg. 1925/26, Nr.4; desgl. in «Gegenwart», 31. Jg. 1969/70, Nrn. 7 und 8/9.

Abweichend von der trsprDie in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke von Rudoff Steiner sind alle innerhalb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersieht am Schluß des Bandes.

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7 «An das deutsche Volk und die Kulturwelt»: 1. Auflage Dornach 1919, auch als Flugblatt und in zartlreichen Zeitungen erschienen. Siehe auch «Aufsätze über die Dreigliede­rung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921», Bibl.-Nr. 24/19, Gesamt-ausgabe Dornach 1961, Seite 418 ff.

10 Alfred Kolb: «Als Arbeiter in Amerika», 2.Auflage, Berlin 1904.

14 bedeutender Naturforscber: Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896, Hauptvertreter der phy­sikalischen Richtung in der Physiologie. «Reden», 2 Bde., Leipzig 1885-1887, 2. Auf-lage, Leipzig 1912.

einer gelehrten Gesellschaft: Preußische Akademie der Wissenschaften, 1700 auf Anre­gang von Leibniz durch König Friedrich I. gestiftet.

ein Hohenzoller des 18. Jahrhunderts: Friedrich Wilhelm I. ernannte den Trunkenbold Gundling zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, um den Gelehrtenstand zu verhöhnen.

wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern: Das Zitat ist frei wiedergegeben. Wört­lich: «Die Berliner Universität, dem Palaste des Königs gegenüber einqusrtiert, ist durch ihre Stiftungsurkunde das geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern.» Rektorstsrede vom 3. August 1870. «Reden» I. Bd. 2. Auflage, Leipzig 1912, S. 418.

15 Lehrer an der in Berlin von Liebknecht gegründeten Arbeiterbildungsschule: Siehe Rudolf Stei­ner, «Mein Lebensgang », Bibl.-Nr. 28, Gesamtausgabe Dornach 1962, Kap. XXVIII.

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19 Kommunistisches Man,fest: Grundlegendes Dokimient des Sozialismus, als Flugschrift von Marx und Engels verf,ßt, erschien 1848 in London.

22 von dem dreißigsten Jahr nach dem Tode: Die Schutzfrist flir Werke der Literatur und der bildenden Kunst beträgt heute im allgemeinen 50 Jahre. In Westdeutschland wurde sie 1965 durch ein neues Urheberreehtsgesetz auf 70 Jallle verlängert.

24 Schon Aristoteles hat gesagt: «Daher denn auch der Name für Zins (r6xoç) soviel wie ,Junges' bedeutet, denn das Junge pflegt seinem Erzeuger ähnlich zu sein, und so ist auch der Zins wieder Geld vom Gelde. Und diese Art von Erwerbskunst ist denn hiernach die widernatürlichste von allen.» «Politik», Erstes Buch, 20. Kapitel 1258 b, nach der Übersetzung von Franz Susemihl.

27 in einer kleineren Verrammlisg in Wien: Vortrag vom 14. April 1914 vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft, in «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwi­schen Tod und neuer Geburt», Bibl.-Nr. 153, Gesamtausgabe Dornach 1959, Seite 164 f. Wörtlich: «Es witd also heute für den Markt ohne Rücksicht auf den Konsum produziert, nicht im Sinne dessen, was in meinem Aufsatz ,Geisteswissenschaft und soziale Frage' angeführt worden ist, sondern ,Ilanstapelt in den Lagerhäusern und durch die Geldmärkte alles zusammen, was produziert wird, und daun wartet man, wieviel gekauft wird. Diese Tendenz wird immer größer werden, bis sie sieh - wenn ich jetzt das Folgende sagen werde, werden Sie finden, warum - in sich selber ver­nichten wird. Es entsteht dadurch, daß diese Art von Produktion im sozialen Leben eintritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzinom entsteht. Genau dasselbe, eine Krebs-bildung, eine Karzinombildung, Kulturkrebs, Kulturkarzinom! So eine Krebsbildung schäut derjenige, der das soziale Leben geistig durchhlickt, wie überall fürchtbare Anla­gen zu sozialen Geschwürbildungen aufsprossen. Das Ist die große Kultursorge, die auf-tritt für den, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, das so bedrückendwirkt, und was selbst dann, wenn man sonst allen Enthusiasmus für Geisteswissenschaftunter­drücken könnte, wenn man unterdrücken könnte das, was den Mund öffnen kann für die Geisteswissenschaft, einen dahin bringt, das Heilmittel der Welt gleichsam entgegen-zuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und immer starker und stärkerwer­den wird.»- «Geisteswissenschaft und soziale Frage», 1905, in «Luzifer-Gnosis 1903-1908», BibL-Nr. 34, Gesamtausgabe Dornach 1960, Einullausgabe Dornach 1957.

28 der deutsche Außenminister: Gottlieb von Jagow, 1863-1935, Staatssekretär des Auswär­tigen Amtes 1913-1916.

Völkerbundskonferenz: 7.-1 3. März 1919 in Bern. Am II. März 1919 hielt Rudoff Steiner im Berner Großratssaal einen öffentlichen Vortrag «Die wirklichen Grundlagen eines Völkerbundes in den wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Kräften der Völker», abgedruckt in der «Gegenwart»' V. Jg., Nr. 8/9, November/Dezember 1943; 2. Auflage Troxler Verlag, Bern 1944. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 329.

31 Theorien vom Mehrwert: Siehe Karl Marx, «Das Kapital- Kritik der politischen Ökono­mie» Bd. I. Hamburg 1867, Bd. II und III herausgegeben von Friedrich Engels, Ham­burg

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1855 und 1895; «Theorien über den Mehrwert», aus dem Nachlaß herausgege­ben von Karl Kautsky' 4 Bde. 1904.

32 Was mich aisbetrifft, ich bin kein Marxist: Siehe Brief von Friedrich Engels an Conrad Schmidt, London, 5.August 1890: «Auch die materialistische Geschichtsauffassung Ilst deren heute eine Menge [fataler Freunde], denen sie als Vorwand dient, Ge-schichte nicht zu studieren. Ganz wie Marx von den französischen ,Marxisten' der letz­ten siebziger Jahre sagte. Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin.» Marx-Engels, Ausgewähite Briefe, Zürich 1934, Seite 371 f.

35 zuerst ,ats Impuls gegeben worden: Siehe die «Memoranden», die Rudolf Steiner im Juli

1917 auf Bitte von Gruf Otto L'erchenfeld und Graf Ludwig Polzer-Hoditz für deut­sche und österrelehische Staatsmänner geschrieben hatte. Abgedrückt in «Aufsätze über die Dreigilederung», Seite 329 ff.

Ungetüm des Brest-Litowsker Friedens: Am 3. März 1918 unterzelehnete die sowjetrussi­sche Delegation im Hauptquartier des Oberkommandos Ost unter Protest den Frie­densverttag' durch den Rußland auf Kurland, LivIand, Estland, Litauen und Polen verzichtete, den deutschen Truppen bis zum Abschluß eines Weltätiedens das Besat­zungarecht in Weißrußland zugestand, Finnland und die Ukraine zu räumen hatte, die Rückgabe der 1878 eroberten armenischen Gebiete an die Türkei zusagte und sich zu einer Kriegsentschädigung von 6 Milliarden Goldmärk verpflichtete. Durch den Ver­sailler Vertrag wurde der Frieden von Brest-Litowsk für ungültig erklärt.

Broschüre über die Schuld am Kriege: «Betrachtungen und Erinnerungen des General­stabschefs H. v. Moltke über die Vorgänge vom Juli 1914 bis November 1914, her­ausgegeben vom ,Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus' und eingeleitet in Übereinstiminung mit Frau Eliza von Moltke durch Dr.Rudoff Steiner.» - Die Schrift gelangte nicht in Umlauf. Erst drei Jahre später erschienen die Memoiren Moltkes mit anderen Dokumenten, aber ohne Rudolf Steiners Einleitung, in General-oberst Helmuth von Moltke, «Erinnerungen, Briefe, Dokumente 1877-1916», Stutt­gart 1922. Siehe hierzu «Aufsätze über die Dreigilederung», Seite 389 ff.

52 das Urteil abgegeben: Siehe R. Hagen, «Die erste deutsche Eisenbahn», 1885, Seite 45.

53 in der naturvissenschaftlichen Literatur verzeichnet: Siehe Louis Waldstein' «Das unter-bewußte Ich und sein Verhältnis zu Gesundheit und Erziehung», Wiesbaden 1908. Vgl. Rudolf Steiner, «Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Frei­heit», Bibl.-Nr. 67, Gesamtausgabe Dornach 1962, Seite 291 ff.

57 Rudolf Steiner, «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissen­schaft», in «Luzifer-Gnosis. Gesammelte Aufsätze 1903-1908», Bibl.-Nr. 34, Gesamt­ausgabe Dornach 1960. Letzte Einzelausgabe Dorosch 1969.

61 Woedrow Wilson, 185 6-1924, Professor der Rechts- und Staatswissensehaften in Prince­ton, 1913-1921 Präsident der Vereinigten Staaten, die er 1917 in den Krieg gegen das Deutsche Reich führte, kurz nachdem er als «Friedenspräsident» wiedergewählt wor­den

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war. Im letzten der vierzehn Punkte seiner Botsift vom 8.Januar 1918 schlug er die Errichtung eines Völkerbundes vor. Nach einem englisch-amerikanischen Ent­wurf wurde die Satzung des Völkerbundes auf der Pariser Friedenskouferenz 1919 beschlossen und auf Drängen Wilsons in die einzelnen Friedensverträge aufgenom­men. Der Wunsch Deutschlands, zugleleh mit den Siegermächten Mitglied zu werden, wurde abgewiesen.

67 in einer Vortragsserie: Siehe Hinw'eis zu Seite 27.

68 einer jener Praktiker: Siehe Hinweis zu Seite 28.

74 Arheiterblldw:gsschule: Siehe Hinwels zu Seite 15.

Walther A',,'henan, 1867-1922 (etmordet von Reehtsrsdikalen), Wirtscbaftsführer, 1922 Reichsaußenminister. «Die neue Wirtschäft», Berlin 1918; «Die neue Gesell­schalt», Berlin 1919; «Nsch der Flut. Sozialisierung und kein Ende. Ein Wort vom Mehrwert», Berlin 1919.

78 Ein sehr bedeutender naturforschender Gelehrter: Siehe Hinweis zu Seite 14.

79 die erste wirklich freie Einheitsschule: Am 7. September 1919 wurde in Stuttgart die Freie Waldorfsehule eröffnet. Ihre Begründung durch Rudolf Steiner erfolgte auf Initiative von Dr. h. c. Emil Molt, 1876-1936, Generaldirektor der Waldorf-Astoria­Zigarettenfabrik in Stuttgart.

den vorbereitenden Kurs: «Allgemeine Mensehenkunde als Grundlage der Pädagogik», BibL-Nr. 293, Gesamtausgabe Dornach 1968; «Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches», Bibl.-Nr. 294, Gesamtausgabe Dornach 1966; «Erziehungakunse, Seminarbesprechungen und Lehiplanvorträge», Bibl.-Nr. 295, Gesamtausgabe Dorn-ach 1969.

82 Friedrich Engels in seiner Schrift «Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft», 6.Auflage, Berlin 1919, Seite 47 ff.

84 seine Arbeitskraft wie eine Ware verkaufen: Siehe Marx, «Das Kapital», Band I. Zwei­ter Abschnitt, Viertes Kapitel, 3: Kauf und Verkauf der Arbeitskraft.

86 nicht in Form einer Moellendorffschen Planwirtschaft: Richard von Moellendorff. 1881­1937, Professor an der Technischen Hochschule in Hannover, 1919 Unterstaats­sekretär im Reichswirtschaftsninisterium, entwickelte den Plan einer nationalen Gemeinwirtschaft, der jedoch von der Nationalversammiung abgelehnt wurde.

90 Da sagt der Fan't: «Faust» I, 3438 ff.

94 in seinem «Don Carlos»: Dritter Akt, Zehnter Auftritt.

99 um mit den Goetheschen Worten zu sprechen: Goethe spricht in mannigfachen Zusammen-hängen von Geistesaugen und Geistesohren, zum Beispiel in «Dichtung und Wahr­heit», Dritter Teil, Elftes Buch: «Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes,

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sondern des Geistes, mich ruir selbst denselben Weg zu Pferde entgegenkommen.» Ferner u.a. Naturwissenschsftliehe Sehrieten, Zur Zoologie: «Wir lernen mit Augen des Geistes sehen, ohne die wir, wie überaH, so besonders such in det Naturwissen­schaft, blind umhertasten.» - «Faust» II, Erster Akt, 4667f.:

Tönend wird für Geistesohren

schon der neue Tag geboren.

,00 die architektonischen Gedanken: Siehe Rudolf Steiner «Wege zu einem neuen Baustil», Bibl.-Nr. 286, Gesamtausgabe Stuttgart 1957; «Der Baugedanke des Goetheanum», Lichtbildervortrag mit 104 Abbildungen, Bibl.-Nr. 200, Gesamtausgabe Stuttgart 1958.

[06 Woodrnw Wilson: Siehe Hinweis zu Seite 61.

in seiner Schrift über die Freiheit: «The new freedom», 1913, deutsch «Die neue Frei­heit», München 1919, 12. Kap., S. 273 f.

114 Ottokar Czernin, 1872-1932, österreichischer Außenminister 1916-1918. «Im Welt-kriege», 2.Auflage Berlin und Wien 1919, S. 372 f.

116 ein japanischer Diplomat: Ein Beleg konnte bisher nicht gefimden werden.

117 Friedrich Traub, «Rudolf Steiner als Philosoph und Theosoph », Tübingen 1919, S. 34.

118 in seinem Aufsatz über Schiller und Goethe: Siehe Herman Grimm, «Fünfzehn Essays. Erste Folge», Berlin 1884, S. 166.

119 hat Johann Gottlieb Fishte den Leuten gesagt: Wörtlich: «Daß Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen, wissen wir andern vielleicht so gut als sie, vielleicht besser. Wir behaupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fürlen, modi>iziert werden müsse. Gesetzt, sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, daß nur auf sie nicht im Plane der Veredlung der Menschheit gerechnet ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; über jene wolle die gütige Natur walten, und ihnen zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nahrung und unge­störten Umiauf der Säfte, und dabei - kluge Gedanken verleihen! »Aus «Vorbericht» zu «Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten», 1794.

122 die Exstirpation des deutschen Geistes: Wörtlich: «Von aßen schiimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich gefürrte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schiimmste ein weit verbreiteter, ja allgemeiner Irrtum: der Irrtum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäß seien. Dieser \Vahn ist höchst verderblich: nicht etwa weil er ein Wahn ist - denn es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irttümer - sondern weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Nisderlage' ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Reishes'.» Aus «Umeitgemaß..e Betrachtungen», Erstes Stück:

«David Friedrich Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller», 1873.

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122 David Friedrich Strauß, «Der alte und der neue Glaube. Ein Bekennmis»' Leipzig

1872.

126 Rabindranath Tagore, 1861-1941, Dichter, Philosoph und Freiheitskämpfer' Abkömm­ling einer bengalischen Familie, die sich auf den Sanskritdramatiker des 8.Jahrhun-derts Bhatta-Narajana zurückführt.

129 Helina Petrow'sa Blavatsky, 1832-1891, glündete gemeinsam mit Henry Steel Olcott

1875 die Theosophische Gesellschaft.

Annis Besant, 1847-1933, von 1907 an Präsidentin der Theosophisehen Gesellschaft.

130 Daß wir das nicht nachmachten: Vergl. Rudolf Steiner, «Mein Lebensgar'g », Bibl.-Nr. 28, Gesamtausgabe Dornach 1962, Kap. XXXI.

135 Robert Hamerling, 1830-1889. Sein «Homunkulus. Modernes Epos in zehn Gesän­gen» erschien 1888. Siehe auch den Vortrag «Homunkulus», Berlin, 26. März 1914, in «Geisteswissenschaft als Lebensgut», Bibl.-Nr. 63, Gesamtausgabe Dornach 1959; ferner «Robert Hamerling - ein Dichter und ein Denker und ein Mensch», eine Denkschrift, herausgegeben von Marie Steiner, Dornach o. J. (1939).

140 Cesare Lombroso' 1836-1909, Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie in Turin, in weiteren Kreisen bekannt durch seine Lehre von der Beziehung zwischen Genie und Irrsinn.

142 Der deutsche Geist hat nisht vollendet: Wahrspruch, gegeben am Schiuß des Vortrags «Die gertlanische Seele und der deutsche Geist vom Gesichtspunkte der Geisteswis­senschaft», Berlin, 14. Januar 1915, in «Aus schicksaltragender Zeit», Bibl.-Nr. 64, Gesamtausgabe Dornach 1959; siehe «Wahrapruchworte», Bibl.-Nr. 40, Gesamtaus­gabe Dornach 1968.

143 eine Namensänderung für diese Hochschule für Geisteswissenschaft: Ursprünglich sollte der Dornacher Bau nach einer Hauptgestalt der Mysteriendramen Rudolf Steiners Jo­hannesbau heißen.

144 Er schrieb an seine Weimarischen Freunde: «Ferner muß ich dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und -organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles übrige seh' ich auch schon im ganzen, und nur noch einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunder­lichste Geschöpf von der Welt, um welches die Natur selbst mich beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schiüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unend­liche erilnden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht exi-stieren, doch ezistieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Das­selbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.» 17. Mai 1787 an Herder aus Neapel, «Italienische Reise», Bd. 2.

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152 8. allgemeines Kenzil zu Konstantinepel: In den «Canones contrs Photlum» wird unter Can. II festgelegt, daß der Mensch nicht «zwei Seelen», sondern «unam animam rationabilem et intelleetualem» habe. Dagegen hatte der Patriarch der Ostkirche, Photlus, gegen den das Konzil veranstaltet worden war, die Anschauung vertreten, man müsse zwischen einer niederen und einer höheren, denkenden Seele unterscheiden.

156 Vortrag über anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft: In einer Folge von gegneri­schen Vorträge sprach der evangelische Theologe Gogarten, der später zur Führer­schaft der von Hitler privilegierten «Deutschen Christen» gehörte.

158 was vernünftige Geologen ... annehmen: Rudolf Steiner bezieht sieh hier auf den namhaf­ten österreichischen Geologen Eduard Sueß, 1831-1914: «Das Antlitz der Erde», 3 Bände, Wien 1883-1901.

162 in unserer Zeitschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus»: In Nr. 21 berichtete Dr. Walter Johannes Stein über eirlen gegnerischen Vortrag des Domkapitulars Fr. Laun, Rottenburg, am II.November 1919 in Stuttgart. In dem Bericht heißt es: «Welcher Art die Kampfmittel des Vortragenden waren, geht wohi zur Genüge hervor, wenn ich erwähne, daß nach dem Vortrag keiner Diskussion stattgegeben wurde und daß der Vortragende darauf hinwies, daß, wer sich über Steiner orientieren wolle, dies bei Geguern Steiners, die er autahlte, tun könne, nicht aber durch Steiners Schriften selbst, da diese der Papst verbeten habe.»

163 Gelogen hat er: In den «Stiminen aus Maria-Leach», Katholische Blätter, Freiburg i. Br.

1912 (seit 1914 «Stiminen der Zeit»), dem Hauptorgan der Jesulten in Deutschland, erschien im Band 83, S. 80, die Besprechung eines Buches von Giovanni Busnelli SJ «Teosofia e Christianismo» durch Otto Zimmermann SJ. In dieser Besprechung wird Rudolf Steiner als «ein (dem Vernehmen nach) abgefallener Priester» bezeich­net, wahrend in dein Buch von Busnern - ebenso abwegig - von einem «ehemals katholischen Priester» die Rede ist. - Zimmermann hat seine Behauptung erst nach sechs Jahren mit der oberilächlichen Wendung «Was sieh nicht aufrechterhalten ließ» zurückgenommen («Stimmen der Zeit», Band 95, S. 331). 264 in einer meiner ersten Auseinandersetzungen: «Die geistige Signatur der Gegenwart» in «Deutsche Wochensehrift» 1888, VI. Jg. Nr.24. Siehe «Methodische Grundlagen der Anthroposophie» 1884-1901, Bibl.-Nr. 30, Gesamtausgabe Dornach 1961.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.