GA 330

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER DAS SOZIALE LEBEN UND
DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

Neugestaltung des sozialen Organismus

Vierzehn öffentliche Vorträge, gehalten in Stuttgart
zwischen dem 22. April und dem 30. Juli 1919

GA 330

1983

Inhaltsverzeichnis


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ÖFFENTLICHER VORTRAG FÜR DIE VERSAMMLUNG DER UNTERZEICHNER DES AUFRUFES «AN DAS DEUTSCHE VOLK UND AN DIE KULTURWELT» Stuttgart, 22. April 1919

Gemäß dem Programm der heutigen Versammlung wird es an diesem Abend besonders meine Aufgabe sein, einiges zu sprechen über den Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt», der in Ihren Händen ist. Sie werden mir gestatten, daß ich heute, wo ich zu einer Versammlung zu sprechen habe, die im wesentlichen mit dem Inhalt des Aufrufes bekannt ist, mehr aphoristisch spreche. Im Zusammenhange werde ich über die sozialen Anschauungen, die dem Aufruf und meinem in einigen Tagen erscheinenden Buche über die soziale Frage zugrunde liegen, dann am nächsten Montag zu sprechen haben. Das­jenige, was heute aus mit der Menschheit mitfühlenden Impulsen her­aus zu einem solchen Aufruf, wie er Ihnen vorgelegt worden ist, führen kann, das sind wahrhaftig nicht irgendwelche Programmideen, zu denen man aus diesen oder jenen Interessen hinneigt, nein, das sind die laut, laut und deutlich sprechenden Tatsachen, welche sich herausentwickelt haben aus der furchtbaren Weltkatastrophe, die wir in den letzten Jahren durchgemacht haben. Wenn man mit wachender Seele auf diese Tatsachen den aufmerksamen Blick richtet, dann wird man vor allen Dingen zu einem ganz bestimmten Eindruck kommen. Ich möchte diesen Eindruck in der folgenden Weise charakterisieren.

Wir haben es oftmals gehört: In den Schreckensjahren, die wir durch­gemacht haben in dieser Weltkatastrophe, die über die Menschheit hereingebrochen ist, ist etwas geschehen, was ohne Beispiel dasteht in dem geschichtlichen Verlauf der Menschheitsentwickelung, den man gewöhnlich als solchen überblickt. Man hatte in weitesten Kreisen die Empfindung, so etwas war in der ganzen großen Zeitspanne, die man als Geschichte bezeichnet, noch nicht da. Sollte nun nicht auch das an­dere hervorgerufen werden, das allerdings, wie mir scheint, bisher noch

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nicht völlig hervorgerufen ist, - das Gefühl, daß nun auch für eine Neugestaltung der Weltverhältnisse Dinge notwendig sind, die auch gewissermaßen hervorgeholt werden aus Menschheitsimpulsen, die in radikaler Weise neu sind, die in radikaler Weise brechen, nicht nur mit alten Einrichtungen, sondern die brechen vor allen Dingen mit alten Denkgewohnheiten. Müssen wir nicht, indem wir hinblicken auf die laut sprechenden Tatsachen, uns vor allen Dingen sagen: Über große Partien der zivilisierten Welt breiten sich Schatten aus, die eigentlich chaotisch der jetzigen Menschheit von ihrer Vormenschheit überlassen worden sind. Können wir demgegenüber sagen, daß sich aus dem Ge­wirr heraus, aus dem Chaos heraus, solche Ideen, solche Gedanken schon ergeben haben, die diesen Tatsachen gewachsen sind? Kommt es uns nicht, wenn wir mit nüchternem Blick diese Tatsachen überschauen, so vor, daß wir uns sagen müssen: Alte Parteimeinungen sind da, alte Gesellschaftsanschauungen sind da, gewisse Gedanken, wie es sein soll unter den Menschen, sind da, aber alles das genügt nicht, um irgendwie zu einer Neugestaltung desjenigen zu führen, was aus der unrnittel-barsten Vergangenheit in unsere Gegenwart herein zurückgeblieben ist.

Das stellt für diese Gegenwart große, umfassende Aufgaben. Wir werden ihnen vielleicht doch am leichtesten gerecht, wenn wir ganz offen und ehrlich - denn Offenheit und Ehrlichkeit werden dasjenige sein, was allein uns in die Zukunft tragen kann -, wenn wir uns offen und ehrlich fragen: Wodurch sind wir eigentlich in diese Verhältnisse hineingekommen? Wenn ich die bedeutsamste Erscheinung der Gegen­wart bezeichnen soll und etwa fragen wollte: Woraus eigentlich haben sich die gegenwärtigen Zustände ergeben?, so kann ich nicht hinweisen darauf, daß sie sich bloß ergeben haben aus den Verirrungen der einen oder der anderen Menschenklasse. Ich möchte sagen: Was sich eigent­lich heute abspielt, es brandet herauf wie aus einem Abgrund. Was ist das für ein Abgrund? Ein Abgrund ist es, der sich aufgetan hat im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte zwischen den bisher füh­renden Klassen der Menschheit und denjenigen, welche heraufstreben aus dem Geführtwerden und heute ihre Forderungen erheben. Nicht von der einen Seite und nicht von der anderen Seite kommen im Grunde genommen die Wirren, aber aus dem kommen die Wirren, was dazwischen

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liegt. Das ist keine pedantische Bemerkung, das ist etwas, von dem ich glaube, daß es sich tief begründen läßt und zugleich Licht wirft auf das, was eigentlich zu geschehen hat. Auf der einen Seite haben wir die bisher führenden Kreise der Menschheit, die im Grunde genommen -gestehen wir es uns nur alle offen und ehrlich - im Laufe der letzten Jahrhunderte und insbesondere des letzten Jahrhunderts sich so ent­wickelten, daß sie nur wenig Geneigtheit erwiesen haben, irgendwie in die Zukunft zu blicken, irgendeine Ahnung davon zu haben, was im Schoße der gesellschaftlichen Ordnung eigentlich liegen kann, inner­halb welcher sie leben.

Wenn man hinblickt auf das, was unter dem Einfluß der Gedanken, der Empfindungen, der Willensrichtung, des Handelns dieser bisher führenden Kreise der Menschheit geworden ist, dann erinnert man sich an den Grad von Einsicht, an den Grad von Gedankenschlagkraft, der da war, nun, sagen wir, im Frühjahr des Jahres 1914. Es ist schon not­wendig, auf solche Dinge heute hinzuweisen. Im Frühling des Jahres 1914 konnten wir hören, daß zu einer Versammlung, die wenigstens in bezug auf politische Dinge erleuchtet sein sollte, zu einer Versamm­lung derjenigen Männer, denen dazumal die Führung des Volkes an­vertraut war, der damalige Außenminister sagte, er könne den Herren des Deutschen Reichstages mitteilen, daß die allgemeine Entspannung Europas große Fortschritte mache. Die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Rußland seien die denkbar befriedigendsten, denn die Pe­tersburger Regierung sei gar nicht geneigt, hinzuhorchen auf die Trei­bereien der Presse; die freundnachbarlichen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reiche und Rußland versprächen das Allerbeste. Ferner sagte er, es seien Verhandlungen angeknüpft worden mit England, welche zwar noch nicht zum Abschluß gekommen seien, die aber ver­sprächen, daß das beste Verhältnis mit England eintreten werde.

Ja, eben gerade, wenn man offen und ehrlich dasjenige ins Auge fassen will, was Gedankenschlagkraft der führenden Kreise und der aus diesen führenden Kreisen Auserlesenen in jener entscheidungsvollen Zeit war, dann muß man schon auf solche Dinge hinweisen. Das An­gedeutete konnte gesagt werden in den Wochen, die unmittelbar vorangingen jener furchtbaren Zeit, in welcher innerhalb Europas, gering

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gerechnet, zehn bis zwölf Millionen Menschen getötet und dreimal so­viel zu Krüppeln geschlagen worden sind! Auf diese Dinge muß hin-geschaut werden, denn heute kommt es darauf an, von dem, was man in den letzten Zeiten gewöhnlich die Lebenspraxis genannt hat, endlich abzukommen und Vertrauen zu gewinnen zu dem, was wirkliche Ein­sicht in die Tatsachen vermag. Wenn wir uns nicht entschließen, mutig und ohne Hinterhalt auf dasjenige hinzublicken, wozu wir - nun, lassen Sie es uns gestehen - durch die Gedankenlosigkeit gegenüber dem, was die Gegenwart für die Zukunft in ihrem Schoße trägt, geführt worden sind, so können wir nicht vorwärtskommen. Das ist es, was heute ins Auge gefaßt werden muß. Ich will wahrhaftig am heutigen Abend nichts Persönliches zu Ihnen sprechen, aber ich darf vielleicht einlei­tungsweise doch auf eines hinweisen.

In derselben Zeit, in der von den führenden Leuten solche Dinge, wie ich sie eben angeführt habe, von der «allgemeinen Entspannung» und dergleichen gesprochen worden sind, mußte ich in einer kleinen Versammlung in Wien dasjenige zusammenfassen, was ich mir als Vor­stellung gebildet hatte durch Jahrzehnte hindurch über die Zukunfts-möglichkeiten des europäischen, des modernen zivilisierten Lebens überhaupt. Vor einer kleinen Gesellschaft mußte ich es damals sagen -eine größere hätte mich wahrscheinlich ausgelacht, denn alle die, die dazumal die Führung der Menschheit in Händen hatten, die waren nur geneigt, solche Dinge als Phantasterei anzusehen. Was ich damals zu sagen hatte, habe ich in folgende Worte gefaßt, nur wiederholend, was ich im Laufe der letzten Jahrzehnte in der einen oder anderen Form bereits ausgesprochen hatte:

Die in der Gegenwart herrschenden Lebenstendenzen werden im­mer stärker werden, bis sie sich zuletzt in sich selbst vernichten werden. Da schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt, wie überall furchtbare Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen aufspros­sen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für denjenigen, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt, und was selbst dann, wenn man allen Enthusiasmus sonst für das Er­kennen der Lebensvorgänge durch die Mittel einer geist-erkennenden Wissenschaft unterdrücken könnte, einen dazu bringen müßte, von dem

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Heilmittel zu sprechen, das Heilrnittel der Welt gleichsam entgegen-zuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker werden wird. Was auf einem Felde, in einer Sphäre so sein muß, wie die Natur schafft durch Überfluß in freier Konkur­renz - in dem Verbreiten geistiger Wahrheiten - das wird zur Krebs-bildung, wenn es in der geschilderten Weise in die soziale Kultur eintritt.

Mir scheint, daß mit diesen Auseinandersetzungen genauer getroffen ist, was auf den Frühling des Jahres 1914 folgte, wo diese Worte ge­sprochen worden sind, als mit all den Worten, welche die sprachen, die sich dazumal für Lebenspraktiker hielten, die da glaubten, daß sie aus den Wirklichkeiten heraus schöpften, während sie nur aus ihren politi­schen, aus ihren Lebensillusionen heraus schöpften.

Wenn ich kurz bezeichnen soll, was zu solchen Dingen geführt hat, nun, es ist eben der Mangel einer jeglichen Voraussicht, der Mangel eines Willens zur Voraussicht in dasjenige, was im Schoße der Gegen­wart liegt als Entwickelungskeime der Zukunft. Nicht angeklagt - bloß charakterisiert soll werden!

Überblickt man, was in den letzten Jahrhunderten allmählich her­aufgekommen ist in jenen führenden Schichten, die zuletzt eingelaufen sind in die sogenannte bürgerliche Gesellschaftsklasse, so muß man sagen: Es ist ja viel außerordentlich Löbliches angestrebt worden, vie­les, das man nicht anders bezeichnen kann als: es sind gewaltige Fort­schritte gemacht worden in der allgemein menschlichen Kultur bis zur Gegenwart. Aber was haben gerade diese Fortschritte notwendig ge­macht? Sie haben notwendig gemacht, daß man sich in einen furchtbaren Lebenswiderspruch hineinverwickelt hat. Man brauchte einfach, als in der neueren Zeit heraufkam auf der einen Seite die moderne Technik mit ihrem notwendigen Zubehör des modernen Kapitalismus, und auf der anderen Seite die moderne Weltanschauung, die parallel geht der kapitalistischen und technischen Entwickelung, man brauchte not­wendig eine gewisse Verbreiterung der Bildung. Ich werde etwas sehr Paradoxes sagen müssen, allein die Wahrheiten, die uns heute not­wendig sind, klingen vielleicht den Denkgewohnheiten der Zeit noch etwas paradox. Ich kenne unter denjenigen, die in hervorragender

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Weise sich geäußert haben, eigentlich nur einen Mann, der in der rich­tigen Weise gesagt hat, wie eigentlich die Welt behandelt werden müßte, wenn es so fortgehen sollte, wie es in diesen leitenden, führen­den Kreisen Seit Jahrhunderten gemacht worden ist; einen Mann kenne ich, der ausgesprochen hat, was, wenn Sie konsequent wären, diese leitenden, führenden Kreise eigentlich tun müßten. Und dieser Mann, eben das ist das Paradoxe, ist das Oberhaupt des Heiligen Synods, wie er in Rußland heißt, es ist der Oberprokurator Pobjedonoszew. Es gibt eine Schrift dieses Mannes, welche in einer außerordentlich ein­dringlichen und geistvollen Weise radikal verurteilt allen Parlamen­tarismus der neueren Zeit, radikal verurteilt die Demokratie, vor allen Dingen aber die Presse der westlichen Welt. Pobjedonoszew war vor­aussichtig genug, zu wissen, daß man entweder diese Dinge aus der Welt schaffen muß, Parlamentarismus, Presse, Demokratie, oder daß man zum Vernichten desjenigen kommen werde, wovon die leitenden, führenden Kreise glauben, daß es das Richtige für die neuere Zeit sei. Selbstverständlich hatte nur ein solcher Vorsitzender des Heiligen Synods den Mut, in solch radikaler Weise zu sprechen. Dasjenige, was in den Seelen der Menschen, die am fortschrittlichsten dachten, in den leitenden, führenden Kreisen lebte, es war ein innerer Widerspruch. Es war im Grunde genommen ein Widerspruch schon gegen die Er­findung der Buchdruckerkunst. Unmöglich war es, durch all die neueren Einrichtungen die weiteren Kreise zum Selbsturteil, zum einsichtigen Denken heranzurufen und zugleich in der Weise weiter zu wirtschaf­ten, wie man gewirtschaftet hatte. Das mußte notwendig führen zu dem, wozu es geführt hat: zur Selbstvernichtung dieser Kultur. Das ist auf der einen Seite. Hätte man in den weitesten Kreisen die Konse­quenz des Oberprokurators Pobjedonoszew gezogen, dann hätte man sich gesagt, lange schon gesagt: Etwas anderes, etwas radikal anderes ist notwendig als das, was wir haben heraufkommen lassen in den letzten Jahrhunderten. Das ist zu sagen auf der einen Seite. Ohne An­klage sage ich das, nur zur Charakteristik. An den Ausführungen des Oberprokurators konnte man sehen, wenn sie auch für die neuere Zeit selbstverständlich ein Unsinn waren, daß man eine radikale Umkehr notwendig habe. Denn eigentlich hätte man sich nur halten können,

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wenn man so gedacht hätte wie er. Das ist das Paradoxe, was zunächst nach der einen Seite hin zu sagen ist. Das steht auf der einen Seite des Abgrundes. Dann kommt der Abgrund, und auf der anderen Seite stehen die heraufziehenden Proletarier, diejenigen, die aus anderen Lebenskreisen herangerufen worden sind im Laufe der letzten Jahr­hunderte zur Maschine, in die Fabriken; gerufen worden sind so, daß ihr Leben hineingestellt worden ist in den für sie seelenverödenden modernen Kapitalismus. Aus ihrer Seele heraus erhoben sich jene For­derungen, die heute wahrhaftig keine Brotfragen bloß sind; sie sind das auch - aber das Wichtige ist heute nicht die Brotfrage, denn die ist im Grunde genommen in Mitteleuropa für alle Menschen berechtigt -, sondern es ist, wie wir gleich sehen werden, eine umfassende Wirt­schafts-, Rechts- und Geistesfrage. Aber sehen wir uns nun von einem Standpunkte aus, wie ich ihn hier einnehmen will bezüglich der Cha­rakteristik gerade dieser Seite, die andere Seite des Abgrundes an. Sehen wir dasjenige an, was in der proletarischen Welt heraufkommt. Wahrhaftig, es war etwas Bedeutsames, das mitzuerleben, was sich da entwickelte. Während auf der einen Seite die bürgerlichen Kreise die Oberschicht bildeten und eine gewisse Kultur ausgestalteten, die sich nur entwickeln konnte auf dem Unterbau des Proletariats, während also die Oberschicht des Bürgertums ihre eigene Kultur entwickelte, konnte man sehen, wie schon seit Jahrzehnten die geringe Zeit, die der Proletarier neben seiner Arbeit erübrigte, für ihn ausgefüllt war mit dem Erstreben einer sozialen Welt- und Lebensanschauung. Die ist aus ganz andern Untergründen erwachsen als die bürgerliche Kultur. Was das bedeutet, das weiß man nur, wenn man gelernt hat, durch Lebens-schicksale, nicht nur über das Proletariat zu denken, sondern mit dem Proletariat zu denken. Das ist es, worauf es heute ankommt, um diese Seite zu beurteilen. Und was sehen wir auf dieser Seite? Nun, es gibt heute schon Gegenden der bisher zivilisierten Welt, wo das Proletariat aufgerufen ist, aus dem Chaos heraus Ordnung zu machen. Wir haben sie sich entwickeln gesehen, wahrhaftig durch allen Scharfsinn, der dem unverbrauchten Intellekt des Proletariats, an den ich glaube, ent­spricht, - wir haben sie gesehen, die Idee, die mit ungeheurer Stoßkraft begabte Idee der sozialen Weltanschauung des Proletariats. Wir haben

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sie sich entwickeln gesehen bis zum Ausbruch der Weltkatastrophe. Wir wissen es, wie innerhalb des Proletariats umfassende Anschauungen entstanden sind über dasjenige, was geschehen soll. Jetzt stehen zahl-reiche von denen, welche sich diese Ideen in ihrer Weise gebildet haben, welche glauben, sich durchgerungen zu haben zu einer proletarischen Weltanschauung, jetzt stehen sie so, daß sie diese Weltanschauung aus­führen könnten, jetzt sind ihnen gewisse Einrichtungen überliefert über große Teile Europas hin. Sehen wir, daß sie es können? Wir sehen, daß auch von dieser Seite die Gedanken viel zu kurz sind für diese Tat­sachen.

Wir sehen, wie auf der einen Seite eine wie in den Niedergang hineintreibende Weltanschauung lebt, wie auf der anderen Seite eine gewisse Welten-Menschheitsströmung nicht hat dazu kommen können, im entscheidenden Augenblick diejenigen Impulse, diejenigen sozialen Impulse zu finden, welche zu einer Neugestaltung führen können. Zwi­schen den beiden liegt der Abgrund, und aus diesem Abgrund herauf brandet dasjenige, was uns heute schon entgegenschlägt und was wahr­haftig der Menschheit, der bürgerlichen und der proletarischen, immer stärker entgegenschlagen wird, wenn diese Menschheit nicht die Hin-neigung finden wird zum Begreifen desjenigen, was die Gegenwart und die nächste Zukunft aus den Lebensnotwendigkeiten der Menschheits­entwickelung heraus nötig haben. Auf diese Lebensnotwendigkeiten kann man hinblicken, wenn man gerade die proletarische Bewegung, wie sie heraufkommt, beobachtet, wenn man sieht, wie sie sich allmäh­lich gebildet hat.

Man kann sagen, in drei Lebensgebieten entwickelt sich, was in der proletarischen Seele lebt, entwickelt sich aber auch, was als unweigerlich zu befriedigende Forderung der Gegenwart und der nächsten Zukunft sich geltend macht. In drei Lebensgebieten. Diejenigen, die etwas be­kannt geworden sind mit der proletarischen Welt- und Lebensauffas­sung der letzten Jahrzehnte, die von den einsichtigen Menschen dieser Bewegung immer wieder zusammengefaßt wurde in die Worte: So kann es nicht weitergehen, wie es geworden ist -, die fanden vor allen Dingen, wie tief eingeschlagen hat in die proletarischen Gemüter der neueren Zeit eine Idee, welche ausging von demjenigen Proletarierführer,

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dessen Name seit siebzig Jahren im europäischen und amerika­nischen Proletariat lebt, und der trotz all seiner Nachfolger noch nicht überboten ist, welche ausgegangen ist von Karl Marx. Man muß nur wissen, wie in die modernen Gemüter, die, von der Arbeit abgehetzt, in ihren Abendversammlungen sich aufklären wollten über das, was geschehen soll, eingeschlagen hat alles dasjenige, was zusammenhängt mit dem Worte Mehrwert. Das rührte an die tiefsten Empfindungen des Proletariats. Aber das rührte nicht nur an die tiefsten Empfindungen des Proletariats, nein, es rührte zu gleicher Zeit an die intensivsten Forderungen der neuzeitlichen Menschheitsentwickelung. Nur muß man, wenn man solche Dinge wirklich verstehen will, tiefer blicken als nur in dasjenige hinein, was sich die Menschen mit ihrem Verstand, mit ihrem Kopfbewußtsein sagen. In den Tiefen der Menschenseele ruht oft noch etwas ganz, ganz anderes als das, was sich die Menschen bewußt klar zu machen wissen. Unendlich Bedeutungsvolles wurde aufgerührt in der Proletarierseele, wenn von Mehrwert gesprochen wurde. Unendlich viel wurde aufgerührt von dem, wovon der Prole­tarier sich keine klar bewußten Vorstellungen macht, was aber in ihm lebt und was jetzt zum Ausbruch kommt mit elementarischer Gewalt, und was verstanden werden muß, wenn man zu irgendeinem Ausweg aus den Wirren kommen will. - Ob vor der Beurteilung der volkswirt­schaftlichen Wissenschaft die Lehre vom «Mehrwert> im Sinne von Karl Marx bestehen kann, darauf kommt es für das Gemeinte nicht an. Auch wenn diese Idee auf Irrtum beruhte, müßte ihre soziale, ihre sozialagitatorische Wirkung in der Arbeiterklasse als geschichtliche Er­scheinung ins Auge gefaßt werden.

Was lebte denn eigentlich in den tiefsten Untergründen der Prole­tarierseele, wenn von Mehrwert gesprochen wurde? Nun, die führen­den, leitenden Kreise, sie sprachen von der Entwickelung der Mensch­heit, sie fühlten sich in dieser Entwickelung der Menschheit darin. Ja, wenn sie ausdrücken wollten, was eigentlich zugrunde liegt dieser Ent­wickelung der Menschheit, dann sagten sie, je nach ihrem Bedürfnis, göttliche Weltregierung, sittliche Weltordnung, geschichtliche Ideen oder dergleichen. Der Proletarier, der mit dem Heraufdämmern der neuen Zeit, in der Morgenröte dieser neueren Zeit übernommen hatte

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als ein Erbgut diese bürgerliche Weltanschauung, dem wurden gewisse Begriffe geboten, die sich im Laufe der Zeit ausgebildet hatten. Aber er konnte nichts sehen, wenn er hinschaute auf die führenden Kreise, von einer Offenbarung desjenigen, wovon diese führenden Kreise als von göttlicher Weltenlenkung, sittlicher Weltordnung und geschichtlichen Ideen sprachen. Warum konnte er nichts sehen? Nun, er war einge­spannt - das ist ja erst in der letzten Zeit und wahrhaftig nicht durch die Verdienste der führenden Kreise etwas besser geworden -, er war eingespannt in keine sittliche Weltordnung oder göttliche Weltord­nung, sondern in das Joch der neueren Wirtschaftsordnung. Und er sah hin auf dasjenige, was sich als Geistesleben entwickelte bei den führenden Klassen. Was empfand er da? Er empfand das einzige Ver­hältnis, das er in Wahrheit hatte - denn das andere konnte er nicht haben - zu dieser Kulturanschauung, zu diesem Kulturgut der leiten­den, führenden Kreise. Was hatte er für ein Verhältnis dazu? Er pro­duzierte an demjenigen, was dieses Kulturgut kostete, er produzierte für andere Mehrwert, das allein verstand er.

Und was man ihm geben wollte von diesem Kulturgut so in allerlei Volksunterhaltungen, Volkstheatervorstellungen, in Volkskursen, in künstlerischen Volksdarbietungen anderer Art, das war doch nur etwas, wozu er ein inneres Verhältnis nicht gewinnen konnte. Denn das kann man nur gewinnen, wenn man lebendig sozial in dem entsprechenden Geistesleben drinnen steht. Aber der Abgrund zwischen den beiden Klassen hatte sich aufgetan, und im Grunde genommen war es eine Unwahrheit, wenn der Proletarier irgend etwas empfand in dem, was ihm da als Kulturgutbrocken zugeworfen worden ist. Und so kam eines herauf - ich will es heute nur kurz bezeichnen, am Montag werde ich etwas mehr darüber sagen -, eines kam herauf, was dem Kultureinsich­tigen tief ins Herz schnitt, wenn er, wie derjenige, der heute vor Ihnen sprechen darf, teilgenommen hat an dem proletarischen Leben und pro­letarischen Streben. Das kam herauf, daß innerhalb des Proletariats sich festsetzte die seelenverödende Anschauung, daß alles Geistesleben, Kunst, Religion, Sitte, Recht, alle Wissenschaft im Grunde genommen nichts sind als das Spiegelbild des Wirtschaftslebens. Unter den ein­sichtigen Proletariern konnte man ein Wort immer wieder hören zur

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Bezeichnung alles Geisteslebens, das Wort Ideologie. Dasjenige, was der Proletarier empfand, indem er hinschaute auf Kunst, auf Wissen­schaft der neueren Zeit, auf Religion, Sitte und Recht, das war für ihn nichts anderes als etwas, was wie ein Rauch aufsteigt aus dem einzig wirklichen, dem materiellen wirtschaftlichen Leben - Ideologie. Und die Anschauung entstand, jene Anschauung, die einem eben tief ins Herz schnitt, jene Anschauung, welche alles geistige Leben, den gesam­ten Inhalt des menschlichen Geistes als Ideologie auffaßte. Man kann theoretisch, und das taten die modernen Proletarier, namentlich ihre Führer -, man kann diese Anschauung haben: Alles Geistesleben ist im Grunde genommen nur entspringend aus den unwirklichen mensch­lichen Gedanken, die aufsteigen aus den Bedingungen des Wirtschafts­lebens -, man kann diese Anschauung auch streng wissenschaftlich be­weisen. Oh, was läßt sich nicht alles streng wissenschaftlich beweisen! Wir haben in der neueren Zeit viel davon gelernt. Selbstverständlich läßt sich so streng wie nur möglich diese Anschauung auch wissenschaft­lich beweisen, aber eines läßt sich nicht mit dieser Anschauung: es läßt sich nicht mit ihr leben. Und das ist das große tragische Geschick der neueren Zeit, daß das Proletariertum ein letztes großes Vertrauen ent­gegengebracht hat der bürgerlichen Gesellschaftsklasse, indem es über­nommen hat, was in der neueren Zeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung aus dem Geistesleben geworden ist. Das, was da geworden ist, es wurde übernommen von dem Proletariat, und es wurde als ein leeres Gewebe von Gedanken empfunden, wie Rauch, möchte man sagen, der aufsteigt aus den wirtschaftlichen Verhältnissen. Mit dem Geistesleben läßt sich aber nur leben, wenn man es so erlebt, daß man durch dasselbe in seiner tiefsten Seele kräftig getragen wird. Sonst verödet die Seele, sonst wird die Seele leer.

Und niemand versteht die furchtbaren Schäden der neueren Kul­tur, der nicht hinweisen kann auf dieses Unterbewußte, der nicht Ein­sicht hat in dieses Unterbewußte, der nicht weiß, daß gerade unter dieser scheinbar so leicht zu beweisenden Lebensauffassung von der Ideologie des Geisteslebens die Seele veröden mußte und diese daher aus der Verödung heraus dazu kam, eben zu verzweifeln an irgend etwas anderem im Leben als höchstens an einer Aufbesserung der äuße­ren

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materiellen Verhältnisse. Das liegt zugrunde dem, was man be­zeichnen muß als die eigentlichen Geistesforderungen des modernen Proletariats. Das ist dasjenige, was nicht anders gekennzeichnet werden kann als daß man sagt, die bürgerliche Gesellschaftsordnung der neue­ren Zeit hat an das Proletariat einen Seeleninhalt, einen Geistesinhalt überliefert, der Seele und Geist des Menschen nicht adeln kann, und jetzt schlägt dieser bürgerlichen Gesellschaftsordnung das entgegen, was aus den verödeten Seelen, aus den leergelassenen Seelen geworden ist. Man hat sie herbeirufen müssen, diese Seelen, mit der notwendig zu ver­breitenden Demokratie zur Teilnahme an der Bildung. Man durfte und konnte sie nicht ausschließen und wollte es auch selbstverständlich nicht. Aber man hat sie gerufen zu einer Empfindung von dem modernen Geistesleben, deren Konsequenz man nicht selber gezogen hat, weil man sie nicht selber zu ziehen brauchte. Man lebte, wenn man Ange­höriger der bürgerlichen Gesellschaftsklasse war, noch in den Impulsen, die von alten religiösen Vorstellungen, von alten sittlichen oder ästheti­schen Anschauungen heraufkamen aus alten Zeiten. Der Proletarier wurde hingestellt an die Maschine, wurde eingepfercht in die Fabrik, in den Kapitalismus. Daraus erwuchs ihm nichts, was ihm die große Frage beantworten konnte: Was bin ich eigentlich wert als Mensch in der Welt? Er konnte sich nur allein an das wenden, was die wissen­schaftliche Orientierung in der neueren Zeit war. Das Geistesleben wurde ihm zur Ideologie, zu etwas Seelenverödendem. Daraus ent­sprangen seine bis heute allerdings noch immer unbestimmten Forde­rungen. Nur das Verständnis dieser Tatsache kann dazu bringen, einen heilsamen Weg in die Zukunft zu gehen. Die Dinge liegen viel ernster und auf ganz anderem Gebiete, als man heute gewöhnlich glaubt.

Der Proletarier hat nun seinerseits nach und nach gar wohl gesehen, wie in der neueren Zeit dasjenige entsprang, was Geistesleben war -es würde heute die Zeit nicht ausreichen, um den Gedanken voll zu Ende zu führen -, aus der Wirtschaftsordnung der bürgerlichen Kreise. Wie die Leute gestellt waren, wie ihre Existenz und ihre wirtschaft­lichen Verhältnisse waren, so war auch ihr Geistesleben. Ich darf gerade, wenn ich diese Dinge erzähle, vielleicht auf ein persönliches Erlebnis hinweisen, denn ich halte dieses persönliche Erlebnis für außerordentlich

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charakteristisch. Ich war lange Jahre an der von Wilhelm Liebkned't gegründeten Arbeiterbildungsschule Lehrer der verschieden­sten Zweige des menschllchen Wissens. Ich war da auch Lehrer der Rede-übungen. Im Umgang mit den Schülern, die heute im Parteileben drin­nen stehen, die da und dort auch eine Rolle spielen, konnte ich viel von dem sehen, was gerade um dieWende des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts groß geworden ist. Ich habe mich dazumal, indem ich auch Geschichte vortrug, um eines bemüht, ich habe mich bemüht, meinen Schülern, die es auch verstanden, klarzumachen, was das Geistes­leben zur Ideologie gemacht hat, und das ist eben das Wirtschaftsleben der letzten vier Jahrhunderte. Und indem der Proletarier und der pro­letarische Theoretiker sich im wesentlichen beschränkt auf die Beobach­tungen des Lebens in den letzten vier Jahrhunderten, kommt er dazu, das ganze Geistesleben als Ideologie anzusehen. Aber dazu ist es eigent­lich erst in den letzten vier Jahrhunderten geworden. Unter diesem Irrtum lebt die proletarische Weltanschauung, daß sie eine Tatsache der letzten vier Jahrhunderte für eine Tatsache der ganzen menschheit­lichen Entwickelung nimmt. Ich habe immer wieder gesagt: Für die letzten vier Jahrhunderte ist das richtig, aber wir stehen jetzt eben vor der Zeitforderung, an die Stelle der Ideologie wiederum wirkliches, die menschliche Seele tragendes Geistesleben setzen zu müssen. Nicht in dem Konstatieren dessen, daß das Geistesleben Ideologie ist, liegt das Heilsame, sondern in dem Willen, wieder ein Geistesleben zu schaffen, das nicht Ideologie ist. Denn diese Ideologie ist das Erbgut gerade der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Ich wurde dazumal von den Partei­führern aus der Schule hinausgedrängt, trotzdem die Schüler selber für mich waren und mich auch verstanden hatten. Man konnte sich nicht so leicht Verständnis mit denjenigen Ideen verschaffen, die doch vor allen Dingen die tragenden Ideen einer sozialen Neugestaltung sein müssen, wenn man zunächst auf die soziale Frage als auf eine Geistes-frage blickt.

Das zweite, was wir sehen als Lebensgebiet, aus dem sich herauf-entwickelt hat, was in den proletarischen Forderungen zutage tritt, das liegt auf dem Rechtsgebiet, auf demjenigen Gebiet, welches, wie der Aufruf besagt, das eigentliche Staatsgebiet sein soll. Was ist denn

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eigentlich Recht? Ja, ich habe mich wahrlich bemüht, durch Jahrzehnte hindurch, die verschiedenen Anschauungen der Menschen gerade über die Ideen des Rechtes zu durchschauen. Ich muß gestehen, wenn man lebensgemäß, wirklichkeitsgemäß, also nicht theoretisch an das heran­tritt, was man unter dem Recht versteht, so sagt man sich zuletzt: Das Recht ist etwas, was als ein Ursprüngliches, als ein Elementares aus jeder gesunden Menschenbrust kommt. So wie die Fähigkeit, blau oder rot als Farbe zu sehen, aus dem gesunden Auge kommt, und so wie man niemals jemand, der ein krankes oder blindes Auge hat, die Vor­stellung der blauen oder roten Farbe beibringen kann, so kann man niemand das beibringen, was auf irgendeinem konkreten Gebiete Recht ist, wenn nicht das Rechtsbewußtsein, das etwas Elementares, etwas Ursprüngliches ist, wie das Farbe-Sehen oder Ton-Hören etwas Ele­mentares ist, in ihm lebt. Dieses Rechtsbewußtsein quillt, ich möchte sagen, aus einer ganz anderen Ecke des Seelenlebens hervor als alles, was sonst im Geistesleben in der Entwickelung der Menschheit geschaf­fen wird. Was sonst im Geistesleben geschaffen wird, das beruht alles auf Begabung. Das Rechtsbewußtsein hat im Grunde genommen mit der Begabung nichts zu tun. Es ist etwas, was sich aus der menschlichen Natur elementar entwickelt, aber nur im Umgange mit Menschen, so wie man auch die Sprache nur im Umgang mit Menschen lernen kann. Dieses Rechtsbewußtsein, ob es laut und deutlich spricht, ob es dunkel aus der menschlichen Seele hervorquillt, das ist etwas, was die mensch­liche Seele in sich ausbilden will. Als der Proletarier durch die modernen Bildungsverhältnisse, durch die Demokratie, teilnahm an dem allge­meinen Geistes- und Rechtsleben, Rechtsstaatsleben, da entstand auch bei ihm die Frage nach dem Rechte. Er aber fand, indem er nach dem Rechte fragte - ja, was fand er? Sehen Sie hinein in seine Seele, dann finden Sie die Antwort auf diese Frage. Er fand, wenn er von seinem Gesichtspunkte aus den Rechtspunkt beurteilte, nicht Rechte, sondern Vorrechte, bedingt durch die Unterschiede der Klassen der Menschheit. Er fand, daß dasjenige, was sich als positive Rechte festgesetzt hatte, eigentlich nur hervorgegangen war aus Vorrechten der bevorzugten Klasse, als Benachteiligung des Rechtes bei den besitzlosen Klassen. Er fand auf dem Rechtsboden den Klassenkampf anstatt der Auslebung

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des Rechtes. Das erfüllte ihn rnit dem Bewußtsein, daß er auch nur vorwärts dringen könne, wenn er ein klassenbewußter Proletarier ist, wenn er aus dieser Klasse heraus sich sein Recht suche. Das führt ihn zu dem zweiten Gliede seiner Weltanschauung: die Klassenunterschiede zu überwinden, damit auf dem Boden, auf dem sich im Laufe der ge­schichtlichen Entwickelung diese Klassenunterschiede ergeben haben, die Struktur des Rechtsstaatslebens entstehen könne.

Das dritte Gebiet, aus dem hervorsprossen diejenigen Forderungen, die die proletarischen Forderungen und zu gleicher Zeit notwendige Forderungen der Gegenwart sind, das ist das Wirtschaftsgebiet. Dieses Wirtschaftsgebiet, wie es sich so deutlich herausgebildet hat durch die kapitalistische Weltordnung und durch die moderne Technik, wie traf es den Proletarier? Wie traf diese Wirtschaftsordnung, dieser Wirt­schaftskreislauf den Proletarier? Nun, so traf es ihn, daß er sich völlig eingesponnen sah in diesem Wirtschaftskreislauf. Die anderen, sie hatten das Geistesleben, das er allerdings als Ideologie ansah, an dem teilzu­nehmen für ihn eigentlich eine Lüge war, weil er nicht in dem sozialen Zusammenhang stand, aus dem es entsprungen war. Die bürgerlichen Kreise, sie hatten ihre besonderen Vorrechte und Kulturgüter, und sie hatten ein Wirtschaftsleben, das nebenher ging. Für sie war das Leben dreigeteilt, wenn sie es auch zusammenfaßten in den Einheitsstaat. Er aber, der Proletarier, er fühlte sich mit seiner ganzen Persönlichkeit eingespannt in dieses Wirtschaftsleben. Wieso? Darauf bekommt man wiederum eine Antwort, wenn man hinschaut auf die Empfindungen -überall muß man, wenn man diese Dinge verstehen will, auf das reale Leben hinschauen -, die sich in der modernen Proletarierseele im Laufe der letzten sechs bis sieben Jahrzehnte immer heftiger entwickelten. Ebenso wie dem Proletarier klar wurde, daß er von dem Geistesleben nichts hat, daß er keine anderen Beziehungen dazu hat, als daß er den Mehrwert dafür produzieren darf, so bekam er von dem neuen Wirt­schaftsleben selbstverständlich die Empfindung, daß in diesem Wirt­schaftsleben etwas darinnen ist, was nicht darin sein darf, wenn er als Proletarier eine menschenwürdige Antwort gerade auf diese Frage bekommen will: Was ist das menschliche Leben wert im menschlichen Weltzusammenhang?

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Im wesentlichen bewegt sich im Wirtschaftslebenskreislauf eigentlich nur das, was mit Ware oder menschlicher Leistung bezeichnet werden darf. Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenverbrauch, das ist im Grunde genommen das Wirtschaftsleben. Für die leitenden, führen­den Kreise war es auch so, für den Proletarier aber war es anders. Eingesponnen war in diesem Wirtschaftskreislauf seine Arbeitskraft. Ebenso, wie man Waren kaufte auf dem Warenmarkte, so kaufte man die menschliche Arbeitskraft dem Proletarier ab. Wie die Ware ihren Preis hatte, so hatte die menschliche Arbeitskraft in Form des Lohnes ihren Preis auf dem Arbeitsmarkte. Das ist wiederum etwas, was an die unbewußten Empfindungen der Proletarierseele rührte, wieder etwas, was gar nicht notwendigerweise zur voll bewußten Klarheit zu kommen brauchte, was aber gerade in elementarer Weise in den großen, bedeutenden, laut sprechenden Tatsachen der Gegenwart sich auslebte. Zum Tiefsten der Proletarierseele sprach es daher, als Karl Marx die Worte anklingen ließ von der «Ware Arbeitskraft». Im Grunde ge­nommen stand der Proletarier rückschauend in der geschichtlichen Ent­wickelung der Menschheit drinnen, indem er diese Worte von der Ware Arbeitskraft in seinem Sinne verstand. Im Altertum brauchte die Wirt­schaftskultur Sklaven. Der ganze Mensch wurde verkauft wie eine Ware oder wie ein Tier. Nachher kam in einer anderen Wirtschaftsordnung die Leibeigenschaft. Weniger schon wurde verkauft vom Menschen, aber immerhin noch viel. Nun kam die neuere Zeit herauf, welche, damit sie sich kapitalistisch ausgestalten konnte, die breite Masse des Proletariats zu einer gewissen Schulbildung herbeirufen mußte, welche kultivieren mußte in einer gewissen Weise die Demokratie. Und nicht zur rechten Zeit wurde verstanden, dasjenige zu sehen, was als Keim für die Zukunft im Schoße der Gegenwart ruht. Nicht zur rechten Zeit wurde beobachtet, wie es notwendig ist, den Kauf und Verkauf der menschlichen Arbeitskraft herauszureißen aus dem Wirtschafts­kreislauf. Als eine Fortsetzung des alten Sklaventums empfand der moderne Proletarier die Tatsache, daß er seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte verkaufen mußte nach Angebot und Nachfrage, wie man Ware kauft und verkauft. So fühlte er sich in den Wirtschafts­prozeß eingesponnen, fühlte sich nicht aus diesem herausragend, wie

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die anderen Schichten der Bevölkerung. Er fühlte sich ganz in ihn hin­eingestellt. Denn muß man seine Arbeitskraft verkaufen, so verkauft man doch den ganzen Menschen, denn man muß ja den ganzen Men­schen dahin tragen, wo man die Arbeitskraft verkauft. Die Zeit war gekommen, wo man hätte einsehen sollen, daß die menschliche Arbeits­kraft so eingegliedert werden mußte in den sozialen Organismus, daß sie nicht Ware ist, wo das alte Lohnverhältnis nicht weiter bestehen durfte. Das hat man übersehen. Das ist die Tragik der bürgerlichen Lebensanschauung, daß überall der richtige Zeitpunkt verpaßt worden ist, daß verpaßt worden ist, was notwendig war im Laufe der mo­dernen kapitalistischen und demokratischen Entwickelung. Das ist das­jenige, was schließlich, nicht von unten aus dem Proletariat herauf, son­dern aus dem Nichtverstehen der Zeit, aus dem Schoße des Bürgertums, das gegenwärtige Chaos im Grunde genommen hervorgerufen hat. «Meine Schuld, meine große Schuld», sollten sich die leitenden Kreise gar offmals sagen, dann würde aus dieser Empfindung heraus das deut­liche Gefühl fließen von dem, was eigentlich zu geschehen hat. Damit ist das gekennzeichnet, was heraufgeführt hat diese Gegenwart, das, was jetzt aus dem Abgrund heraufbrandet als eine dreifache Forde­rung, als eine Geistesforderung, eine Rechtsforderung, eine Wirtschafts-forderung. Und nicht darf weitergebaut werden auf den Irrtum, daß aus der Wirtschaftsordnung alles Heil kommen könne. Denn das ist gerade das Schlimme, das Schädliche, daß der moderne Proletarier ganz in die Wirtschaftsordnung hinein versklavt worden ist. Heraus muß er aus der Wirtschaftsordnung!

Ich konnte nur eine Skizze geben desjenigen, was sich geschichtlich entwickelt hat. Wer diese Dinge, wie sie sich ergeben haben im Laufe der neueren Zeit, mit einem einsichtigen Blick verfolgt, wer den guten Willen und die innere Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit hat, über alle nationalökonomischen, geschichtlichen und sonstigen Urteile der Gegen­wart hin auf das Wirkliche zu sehen, der kommt gerade aus dem, was so in der Zeit sich entwickelt hat, einzig und allein durch die Beobach­tung der Verhältnisse namentlich der letzten drei bis vier Jahrzehnte, auf die Notwendigkeit dieser Dreigliederung, von der der Aufruf spricht.

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Der Proletarier hat in bezug auf das Geistesleben nur gesehen, daß dieses von dem Wirtschaftsleben abhängig ist. Er hat sich daraus die Vorstellung gebildet, daß alles Geistesleben von dem Wirtschafts­leben abhängig sein müsse. Er konnte nicht übersehen, daß dieses Gei­stesleben durch seine innere Schwäche, durch die Tatsache, daß es nicht mehr die Stoßkraft der alten Weltanschauungen hatte, sich selbst verur­teilt hat, ein Anhängsel des Wirtschaftslebens zu sein. So kam er zu sei­ner Anschauung von der Ideologie. Der Proletarier hatte etwas anderes weniger beachtet, was aber aus dem angeführten Grunde auch auf seiten der Bürgerlichen ungesehen geblieben ist, wie das Geistesleben auch in Abhängigkeit gekommen ist von dem Staatsleben. Ich will sogar die historische Berechtigung dieser Abhängigkeit in der neueren Zeit als etwas Notwendiges ansehen. Aber auch das ist notwendig, den richtigen Zeitpunkt in Betracht zu ziehen, in dem dieses Geistesleben emanzipiert werden muß, nicht nur von dem Wirtschaftsleben, sondern auch von dem Staatsleben. Im Laufe der letzten vier Jahrhunderte ist das Geistesleben der zivilisierten Welt immer abhängiger geworden von dem Staatsleben. Man hat dies geradezu als einen Fortschritt der neueren Zeit angesehen. Gewiß, das war notwendig, um das Geistes­leben herauszuheben aus den Fesseln der Kirche; jetzt aber ist dies nicht mehr notwendig. Man hat es als Fortschritt angesehen, das Geistes­leben ganz unter die Fittiche des Staatslebens zu stellen. Wie konnte man spotten über das Mittelalter, das wir wahrhaftig nicht wieder her-aufführen wollen, wie konnte man darüber spotten, wie damals die Philosophie, das heißt für das Mittelalter die Wissenschaft überhaupt, die Schleppe nachgetragen habe der Theologie. Nun, dazu ist es ja gekommen, daß wenigstens nicht überall die moderne Wissenschaft die Schleppe nachträgt der Theologie. Aber zu etwas anderem ist die Wissenschaft gekommen, ist das Geistesleben gekommen: zu der Ab­hängigkeit dieses Geisteslebens von den Bedürfnissen des Staatslebens, das eingerichtet wurde nach und nach - das hat insbesondere die Welt­kriegskatastrophe gezeigt - ganz nach den Bedürfnissen des modernen Wirtschaftslebens, die nicht allgemein menschliche Bedürfnisse waren. Gerade die Kriegskatastrophe hat uns das in Deutschland an einzelnen Erscheinungen sehr zum Bewußtsein gebracht, ich möchte sagen symptomatisch.

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Gewiß, ich könnte das Symptom verhundertfachen, ja ver-tausendfachen, aber Sie werden mich verstehen, wenn ich hinweise auf dasjenige, was aus einem gewissen Gelehrtentum hervorgegangen ist gerade während der Kriegszeit, die ja alles zum Extrem brachte. Die Sache war aber schon immer da. Ein sehr bedeutender Naturforscher der jüngsten Vergangenheit, vor dem ich als Naturforscher selbstver­ständlich den allergrößten Respekt habe, hat ein Wort gesprochen, das ganz besonders bezeichnend ist für die Abhängigkeit der Wissenschaft vom modernen Staate, er hat ein Wort gesprochen als Generalsekretär der Berliner Akademie der Wissenschaften, mit dem er diese Akademie der Wissenschaften nannte «Die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern». Nun, man braucht nicht überall gerade so weit zu gehen. Mit Bezug auf Mathematik und Chemie ist die entsprechende Tatsache sehr kaschiert, doch auch da ist sie vorhanden. Aber gehen Sie hinauf in diejenigen Gebiete, die eine große Lebensfrage der Welt­anschauung berühren, auf das Geschichtsgebiet, da ist in der neueren Zeit das Geistesleben wahrhaftig nichts anderes geworden als die wis­senschaftliche Schutzmacht für den modernen Staat. Das Geistesleben aber kann man nicht in seinem inneren Wesen kultivieren dadurch, daß man Gesetze gibt über Lehrfreiheit, über freie Wissenschaft und freie Lehre. Gesetze haben auf das Geistesleben gar keinen Einfluß, denn das Geistesleben ruht auf den elementaren menschlichen Bega­bungen. Und wer das offizielle Geistesleben der neueren Zeit kennt, der weiß, wenn das auch paradox klingt - ich sage es nicht einmal gerne, denn ich habe mich mit einem gewissen Widerwillen zu dieser Überzeugung durchringen müssen -, daß dieses moderne offizielle Gei­stesleben nach und nach entwickelt hat einen gewissen Haß auf die Begabungen und eine gewisse Vorliebe für Produktion des Durch­schnittlichen in der menschlichen Natur. Alles Geistesleben aber muß auf den ursprünglichen menschlichen Begabungen beruhen.

Wer hineinsieht in den Zusammenhang der menschlichen und indi­viduellen Begabungen mit der sozialen menschlichen Gesellschaftsord­nung, der weiß, daß das Geistesleben sich in Wirklichkeit nur beweisen kann, wenn es genötigt ist, aus seinem eigenen Wesen heraus diese Wirk­lichkeit zu beweisen, wenn es auf sich selbst gestellt ist von der niedersten

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Schule an bis hinauf zu den Hochschulen, von dem, was heute ge­radezu als Anhängsel des Staates empfunden wird bis zur freien Gestal­tung des Künstlerischen und so weiter. Die Sozialdemokratie hat bisher nur Gelegenheit gefunden, aus Empfindungen heraus, die vielleicht ver­kehrt sind, das soll hier nicht taxiert werden, die Forderung aufzu­stellen: Religion muß Privatsache sein. In einer ähnlichen Weise muß alles Geistesleben gegenüber der Staats- und Wirtschaftsordnung Pri­vatsache werden, wenn es seine eigene Wirklichkeit fortwährend be­weisen will. Diese Wirklichkeit kann nur bewiesen werden, wenn dieses Geistesleben auf sich selbst gestellt ist. Dieses Geistesleben, wenn es auf sich selbst gestellt wird, wird ferner nicht mehr jenen Unfug trei­ben, den es getrieben hat, indem es sich hineingenistet hat zum Beispiel in die Rechtsordnung des Staates. Man wird das Ungeheuerliche ein­sehen müssen, das darin besteht, daß in ein Staatsparlament, wie es der Deutsche Reichstag war, eine bloß auf geistigen Untergründen -man mag über sie denken dem Inhalt nach, wie man will - basierte Partei wie das Zentrum, sich hineingeschlichen hat, da hinein, wo nur Menschenrechte formuliert werden sollten und dergleichen. In dem Augenblick, wo in das Staatsieben eine solche Partei hineinkommt, wird dieses Staatsleben unbedingt von der einen Seite, von der geisti­gen Seite her, getrübt. Denn im Staatsleben kann nur das gedeihen, worin alle Menschen gleich sind, so wie sie bis zu einem gewissen Grade in der Sprache gleich sind. Innerhalb des Staatslebens kann nur das gedeihen, was nicht auf besonderer menschlicher Begabung beruht, sondern was von Mensch zu Mensch aus dem ursprünglichen Rechts-bewußtsein heraus ausgemacht wird. Es entsteht sowohl aus dem Durchschauen des Geisteslebens wie aus dem Durchschauen der Zu­stände, die in der neueren Zeit entstanden sind aus der Verquickung des Geisteslebens mit dem Staate, die Forderung, das Geistesleben als eigene Organisation völlig abzutrennen und auf sich selbst zu stellen. Man braucht nicht zu befürchten, was besonders auf sozialistischer Seite gefürchtet werden wird, daß zum Beispiel die Einheitsschule, die von dieser Seite gefordert wird, dadurch gefährdet werden könnte, daß schon die niederste Schule auf die eigene Grundlage des Geisteslebens, in eine selbständige geistige Verwaltung, gestellt wird. Die Bedingungen

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des sozialen Lebens werden so sein in der Zukunft, daß nicht Son­derschulen für Stände und Klassen werden entstehen können. Gerade wenn der niederste Lehrer nicht Staatsdiener ist, sondern nur von einer geistigen Verwaltung abhängig ist, dann wird daraus nichts anderes entstehen können als die Einheitsschule. Denn wodurch sind die Stände entstanden? Gerade dadurch, daß verquickt wurde das Geistesleben mit dem Staatsleben.

Auf der anderen Seite muß losgelöst werden von dem Staatsieben das Wirtschaftsleben. Indem man eine solche Forderung erhebt, steht man erst recht tief im praktischen Leben drinnen. Denn im Grunde genommen kann man sagen, das Wirtschaftsleben hat, indem es sich in der neueren Zeit entwickelt hat, etwas so eigenmächtig Zwingendes, daß es hinweggeschritten ist über die veralteten Staats- und sonstigen Vorstellungen. Darüber machen sich allerdings die Menschen heute noch nicht viel Begriffe, weil sie gerade auf das nicht hinschauen, was die notwendigen Forderungen der neueren Zeit sind. Lassen Sie mich Ihnen ein konkretes Beispiel vorführen, ein Beispiel, das aber verhun­dertfacht werden könnte, und das zeigt, wie sich das Wirtschaftsleben in sich emanzipiert hat von den anderen Gebieten, von dem Geistes­leben und dem Rechtsleben, in der modernen menschlichen Entwicke-lung. Ich will hinweisen auf die notwendige Gewinnung von Roheisen im Beginn der sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Da brauchte man für die deutsche Eisenindustrie ungefähr 799000 Tonnen Roheisen, die von etwas mehr als 20000 Arbeitern zutage gefördert wurden. In der verhältnismäßig kurzen Zeit bis zum Ende der acht­ziger Jahre brauchte man für die deutsche Eisenindustrie gegenüber den früheren 799000 Tonnen Roheisen schon 4500000 Tonnen Roh­eisen. Diese 4500000 Tonnen Roheisen wurden ungefähr - es ist nur ein ganz geringer Unterschied - von derselben Anzahl, von 20000 Arbeitern zutage gefördert. Was heißt das? Das heißt, daß unbeschadet alles desjenigen, was sonst in der Menschheitsentwickelung vorgegan­gen ist, unbeschadet dessen, was sich abgespielt hat in der menschheit­lichen Entwickelung, mit 20000 Menschen rein durch technische Ver­besserungen, durch technische Ausgestaltungen Ende der achtziger Jahre ungefähr fünfmal mehr Eisen gefördert wurde als in den sechziger

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Jahren. Das heißt, das, was dem Technisch-Wirtschaftlichen angehört, das hat sich selbständig gemacht, das hat sich herausgehoben aus der übrigen menschheitlichen Entwickelung. Aber man war nicht aufmerk­sam darauf, man hat es gar nicht gesehen - und dieses Beispiel könnte verhundertfacht werden -, wie das Wirtschaftsleben sich emanzipierte. Nirgends ist gefolgt dasjenige, was Menschen getan haben auf dem wirtschaftlichen Gebiete selber, dem Fortschritte, der innerhalb des Wirtschaftslebens durch die Technik geschehen war. - Man verkenne nicht die Meinung des hier Ausgeführten. Diese Meinung ist, daß wohl die Technik fortgeschritten ist, daß aber nicht auch eine Idee dafür vorhanden war, den technischen Fortschritt von einem entsprechenden sozialen Fortschritt begleitet sein zu lassen. - Derjenige, der Tatsachen zu beobachten versteht, der weiß, daß dieses moderne Wirtschaftsleben sich emanzipiert hat, und daß, wenn man dieses Emanzipieren vom Staatsleben fordert, man nichts anderes fordert, als daß die Menschen das zugestehen und solche Einrichtungen treffen sollen, wie sie sich von selbst ausgestaltet haben. So folgt noch aus manchem Beispiel, das nicht ich oder andere erdenken, das in den Tatsachen selbst lebt, die Not­wendigkeit der Emanzipation des Wirtschaftslebens. Es ist das, was die Tatsachen fordern. Was wird aber die Folge sein?

Nun, eine Grundforderung, eine Fundamentalforderung des mo­dernen Lebens kann nur erfüllt werden durch die Abgliederung des Wirtschaftslebens von dem Staatsleben. In entgegengesetztem Sinne als mancher sozialistische Denker der neueren Zeit denkt, muß hier die Entwickelung vorschreiten. Während mancher sozialistische Denker denkt, daß das Wirtschaftsleben sich entwickeln muß wie in einer großen Genossenschaft, daß es umfassen muß auch das Geistesleben und Staatsleben, muß gerade das Wirtschaftsleben sich absondern und nur verlaufen in dem Kreislauf Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsum. Das ist es aber, was allein zu einer Befriedigung not­wendiger Lebensforderungen der Gegenwart führen kann.

Sehen Sie, das Wirtschaftsleben grenzt auf der einen Seite an die Naturbedingungen. Die Naturbedingungen können wir nur bis zu einem gewissen Grade meistern. Ob eine Gegend fruchtbar ist, ob der Boden Rohstoffe für die Industrie enthält, ob fruchtbare oder un­fruchtbare

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Jahre da sind, das sind Naturbedingungen; die liegen dem Wirtschaftsleben zugrunde. Dieses baut sich als auf eine Unterlage von der einen Seite her darauf auf. Von der anderen Seite her muß es sich in Zukunft auf etwas anderem aufbauen, was ebensowenig innerhalb des Wirtschaftslebens geregelt werden kann wie die Naturkraft im Boden. Über die Naturkräfte kann man ja keine Verordnungen machen. Auf der anderen Seite muß das Wirtschaftsleben angrenzen an das Rechts-leben des Staates. So wie also das Wirtschaftsleben auf der einen Seite an die Naturbedingungen angrenzt, so muß es angrenzen auf der an­deren Seite an das Rechtsleben des Staates. Dazu gehören auch die Besitzverhältnisse, gehören die Arbeitsverhältnisse, das Arbeitsrecht. Heute steht die Sache so, daß der Arbeiter noch immer trotz des Ar­beitsvertrages in den Kreislauf des Wirtschaftslebens mit seiner Arbeits­kraft eingespannt ist. Diese Arbeitskraft muß heraus aus dem Kreislauf des Wirtschaftslebens, trotz der Angst Walther Rathenaus. Und zwar so muß sie heraus, daß auf dem Rechtsboden des Staates, der völlig unabhängig ist vom Wirtschaftsleben, Maß, Zeit, Art der Arbeit aus rein demokratischen Rechtsverhältnissen heraus geordnet werden. Der Arbeiter wird dann, bevor er in das Wirtschaftsleben eintritt, aus der demokratischen Staatsordnung heraus Maß, Zeit und Art seiner Arbeit selbst mitbestimmt haben. Wie dieses Maß, diese Art, dieser Charakter der Arbeitskraft bestimmt ist, das wird zugrunde liegen dem Wirt­schaftsleben von der einen Seite, wie ihm die Naturbedingungen zu­grunde liegen von der anderen Seite. Nichts wird im Wirtschaftsleben imstande sein, den Grundcharakter dieses Wirtschaftslebens auszu­dehnen auf die menschliche Arbeitskraft. Der Grundcharakter des Wirtschaftslebens ist, Ware zu erzeugen, um Ware zu verbrauchen. Das ist das einzig Gesunde des Wirtschaftslebens. Und das Wirtschaftsleben hat gerade das innere Wesen, daß dasjenige, was in seinem Kreislauf eingespannt ist, bis zum letzten Ende verbraucht werden muß. Wird die menschliche Arbeitskraft eingespannt in den Wirtschaftsprozeß, dann wird sie verbraucht. Menschliche Arbeitskraft darf aber nicht restlos verbraucht werden, darf daher nicht Ware sein. Sie muß auf dem Boden des vom Wirtschaftsleben unabhängigen Rechtslebens des Staates bestimmt werden, wie unten im Boden durch die vom Wirtschaftskreislauf

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unabhängigen Naturkräfte eine Grundlage für dieses Wirtschaftsleben geschaffen ist. Bevor der Arbeiter anfängt zu arbeiten, hat er aus dem Rechtsleben heraus Art und Maß und Zeit seiner Arbeit bestimmt.

Ich kenne alle Einwände, die gegen das Gesagte gemacht werden können. Eines wird man einwenden können vor allem. Als eine not­wendige Konsequenz dieser Anschauung ergibt sich ja doch, wird man sagen können, daß dasjenige, was man Nationaiwohistand nennt, in Abhängigkeit kommt von dem, was Arbeitsrecht ist. Ja, das wird auch geschehen, aber das wird eine gesunde Abhängigkeit sein. Das wird eine solche Abhängigkeit sein, die nicht fragt nach Produzieren und Produ­zieren und immer wieder Produzieren, sondern die fragt: Wie erhält sich der Mensch, der in den Wirtschaftsprozeß eingreifen muß, an Leib und Seele gesund trotz dem Wirtschaftsprozeß? Wie wird ihm neben dem Verbrauch der Arbeitskraft gesichert das Vorhandensein der Ar­beitsruhe, damit er teilnehmen kann an dem allgemeinen Geistesleben, das ein allgemein menschliches Geistesleben werden muß, nicht ein Klassengeistesleben? Dazu braucht er die Arbeitsruhe. Und nur dann, wenn so viel soziales Bewußtsein entsteht, daß die Arbeitsruhe auch die rein menschlichen Bedürfnisse des Proletariats befriedigt, wenn ein­gesehen wird, daß diese Arbeitsruhe ebenso zum Arbeiten, zum sozialen Leben gehört wie die Arbeitskraft, dann kommen wir aus den Wirren und aus dem Chaos der Gegenwart heraus. Es ist schon notwendig, daß diejenigen, für die das Angedeutete das Beißen in einen sauren Apfel ist, doch darein beißen. Sonst werden sie auf ganz andere Weise gewahr werden, was die modernen Forderungen bedeuten, die nicht aus Men­schenseelen allein entspringen oder aus menschlichen Köpfen, sondern aus dem geschichtlichen Werden der Menschheit selber. Dann, wenn diese Forderung bezüglich des Arbeitsrechtes erfüllt wird, dann wird jeg­liche Preisbildung in gesunder Weise abhängig sein von dem Arbeits-rechte und nicht umgekehrt, wie es heute trotz mancher Arbeiterschutz-gesetzgebung noch ist, wird der Lohn, das heißt, der Preis der mensch­lichen Arbeitskraft, von den sonstigen Verhältnissen des Wirtschafts-kreislaufes abhängen. Der Mensch wird bestimmend werden für das­jenige, was im Wirtschaftsleben da sein kann. Allerdings wird man nach

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einer gewissen Richtung hin ebenso wie der Natur gegenüber, der man durch technische Einrichtungen nur in beschränktem Maße beikommt, vernünftig sein müssen in der Bestimmung des Arbeitsrechtes und der Besitzverhältnisse. Aber im ganzen muß das Wirtschaftsleben einge­spannt sein zwischen dem Rechtsleben und den Naturbedingungen. Dieses Wirtschaftsleben selber, es muß aufgebaut werden auf den rein wirtschaftlichen Kräften, auf Assoziationen, die zum Teil aus den Be­rufsständen heraus sich bilden werden, aber namentlich aus der Har­monie von Konsumtion und Produktion.

Ich kann heute aus Mangel an Zeit nicht eingehen auf die Ursachen der großen Wirtschaftskrisen, namentlich nicht darauf, wie sie zuletzt hineingeführt haben in die große Katastrophe, Bagdadbahn und der­gleichen, aber notwendig ist doch, zu betrachten - und man kann es konkret zeigen -, wie diese Dinge eigentlich gedacht werden müssen.

Sehen Sie, ein gesundes Wirtschaftsleben kann sich nur ergeben, wenn die Konsumtionsverhältnisse als das Ausschlaggebende betrachtet wer­den, nicht die Produktionsverhältnisse. Nun darf ich vielleicht etwas anführen, was als Versuch einmal unternommen worden ist, was nur deshalb nicht gelungen ist, weil eben innerhalb der ganzen alten Wirt­schaftsordnung solch ein einzelner Versuch scheitern muß. Er kann erst gelingen, wenn in radikaler Weise die Wirtschaftsordnung emanzipiert ist von dem anderen Leben. In einer Gesellschaft, die ja die meisten von Ihnen nicht sehr lieben, weil sie viel verleumdet worden ist, ver­suchten wir, bevor die Kriegskatastrophe herankam, auf einem kleinen Gebiete, auf dem Gebiete der Brotproduktion, einiges von dem zu bewerkstelligen, was ausgebaut, natürlich unermeßlich ausgebaut, Wirt­schaftsordnung der Zukunft werden muß. Wir waren eine Gesellschaft, wir konnten Konsumenten für Brot zur Verfügung stellen. Die Konsu­menten waren zuerst da, und es handelte sich darum, daß nach dem Bedarf der Konsumtion produziert wurde. Aus verschiedenen Gründen ist die Sache gescheitert, besonders aber während der Kriegskata­strophe, wo solche Dinge nicht möglich waren. Nehmen Sie aber ein anderes Beispiel, das Ihnen vielleicht sonderbar erscheinen wird, weil es gegenüber dem «Idealismus» der heutigen Zeit in ungerechtfertigter Weise für viele - die Idealisten des Materialismus sind ja sonderbare

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Leute - das Geistesleben rnit dem Wirtschaftsleben verquickt. In der­selben Gesellschaft, die, wie gesagt, viele von Ihnen nicht lieben wer­den, versuchte ich auch immer das wirtschaftliche Element der geistigen Produktion auf eine gesunde Basis zu stellen. Bedenken Sie nur ein­mal, auf welcher ungesunden Basis, wirtschaftlich gedacht, die heutige geistige Produktion vielfach steht. Sie ist in dieser Beziehung wahr­haftig mustergültig für das, was auch auf den breitesten Gebieten unseres Wirtschaftslebens nicht herrschen sollte. Der oder jener - nun, wer ist denn heute nicht Schriftsteller? - schreibt ein Buch oder Bücher. Solch ein Buch wird in der Auflage von tausend Exemplaren gedruckt. Nun gibt es heute wahrhaftig recht viele Bücher, die in solcher Auflage gedruckt werden, von denen aber etwa fünfzig verkauft werden, die anderen werden makuliert. Was ist da eigentlich geschehen, wenn 950 Bücher makuliert werden? Da haben soundso viele Setzer, soundso viele Buchbinder unproduktiv gearbeitet, es wurde Arbeit geleistet, zu der nicht das geringste Bedürfnis vorlag. Das geschieht auf dem gei­stigen Gebiet in bezug auf das Wirtschaftsleben, in bezug auf das Mate­rielle. Ich glaubte, daß das Gesunde dieses sei: daß selbstverständlich zuerst die Bedürfnisse geschaffen werden müssen. Und innerhalb dieser Gesellschaft, die mit Recht oder mit Unrecht viele von Ihnen nicht lie­ben, ist die Notwendigkeit eingetreten, eine solche Buchhandlung zu begründen, wo ein Buch nur dann erscheint, wenn man sicher ist, daß es Abnehmer findet, wo nur so viel Exemplare produziert werden, als Bedürfnis da ist, so daß nicht menschliche Arbeit von Setzern und Buchbindern in das Nichts zersplittert wird, sondern wo das, was ge­schaffen wird, den menschlichen Bedürfnissen, die man meinetwillen unrecht finden mag, angepaßt ist. Und das ist es, was zu geschehen hat, daß die Produktion den Bedürfnissen angepaßt werden muß. Das kann aber nur geschehen, wenn auf Grundlage von Assoziationen in der geschilderten Art das Wirtschaftsleben aufgebaut wird.

Seit dem achtzehnten Jahrhundert tönt herein in das moderne soziale Leben die dreifache Devise: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wem tönten diese drei Worte nicht so in das menschliche Herz hinein, daß er weiß, mit ihnen ist Großes gesagt. Aber es hat gescheite Leute im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts gegeben, die bewiesen haben,

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diese drei menschlichen Impulse widersprechen sich. Sie widersprechen sich auch wirklich. Drei teure menschliche Devisen widersprechen sich. Warum denn? Weil sie entstanden sind in einer Zeit, in der man, so­weit diese Devisen in Betracht kommen, richtige menschliche Impulse empfand, aber in der man noch hypnotisiert war vom Einheitsstaat. Man konnte noch nicht durchschauen, daß nur in der Dreigliederung in einen geistigen Organismus, einen Wirtschaftsorganismus, einen Staats-Organismus das Heil der Zukunft liegen kann. Und so glaubte man in einem Einheitsstaat Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirk­lichen zu können. Da widersprechen sie sich. Gliedern Sie den gesunden sozialen Organismus in seine drei naturgemäßen Glieder, dann haben Sie die Lösung für dasjenige, woran die Menschenseele brütet seit mehr als einem Jahrhundert: Freiheit ist der Grundimpuls des geistigen Lebens, wo auf die Freiheit der individuellen menschlichen Fähigkeiten gebaut werden muß. Gleichheit ist der Grundimpuls des Staats- und Rechtslebens, wo alles hervorgehen muß aus dem Bewußtsein der Gleichheit der menschlichen Rechte. Brüderlichkeit ist das, was auf dem wirtschaftlichen Lebensgebiet herrschen muß im großen Stile; aus den Assoziationen wird diese Brüderlichkeit sich entwickeln. Einen Sinn bekommen plötzlich diese drei Worte, einen ungeahnten Sinn, wenn man das Vorurteil von dem Einheitsstaat fallen läßt und sich durch­ringt zu der Überzeugung von der Notwendigkeit der Dreigliederung.

Alle diese Dinge kann ich ja nur andeuten, und ich kann verstehen, wenn heute noch viele sagen: diese Dinge erscheinen rnir unverständlich. Ich habe mich immer wieder bemüht, in dem Aufrufe den Grund des eigentlichen Nichtverstehens zu suchen. Und viele waren unter denen, die da sagten, daß sie ihn unverständlich finden, bei denen ich zum Beispiel nicht recht verstehen kann, wie sie dann rechtfertigen wollen, was sie alles verstanden haben, wenn es ihnen zu verstehen befohlen worden ist in den letzten viereinhalb Jahren. Da haben die Leute manches verstanden, was ich wahrhaftig nicht verstanden habe. Aber mit diesem Aufruf dringt etwas an die Menschenseele, das sie verstehen soll aus ihrer freiesten innersten Entschließung heraus. Dazu bedarf es allerdings der inneren Kraft der Seele. Aber dieser inneren Kraft der Seele wird es bedürfen, wenn wir herauskommen wollen aus dem

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Chaos und den Wirren dieser Zeit. Der Aufruf war zunächst versucht worden mitten in der furchtbaren Zeit drinnen, in der wir standen, denn er war zuerst gedacht - jetzt sind wir ja in ein anderes Stadium eingetreten - als Grundlage für eine solche auswärtige Politik, von der ich annehmen konnte, daß bei einer gewissen Belebung der Ideen dieses Aufrufes, trotzdem sie nur scheinen wie innerpolitische Ideen, es mög­lich gewesen wäre, daß sie hineingetönt hätten in den Donner der Kanonen in den letzten Jahren. Dann wäre von Mitteleuropa etwas ausgeflossen, wovon man hätte glauben können, es hätte so in die Welt hinausgetönt, daß es gewachsen gewesen wäre den sogenannten Vier­zehn Punkten Woodrow Wilsons. Diesen vierzehn Punkten, die wahr­haftig in einem ganz anderen als im mitteleuropäischen Interesse gefaßt sind, hätte das mitteleuropäische Interesse entgegengestellt werden müs­sen. Dann wäre eine Möglichkeit gewesen, von Verständigung zu spre­chen, während alles andere Verständigungsgerede hohl war. Das ist es, was zuerst versucht worden ist da, wo es hätte Wirkung haben können. Aber man predigte tauben Ohren. Diejenigen Leute, die dazumal noch Einfluß hatten, diejenigen, die die Nachfolger derer waren, die von den «Fortschritten der allgemeinen Entspannung» vor dem Hinmor­den von zehn bis zwölf Millionen Menschen gesprochen haben, ihnen wurde gesagt: Sie haben die Wahl, entweder jetzt Vernunft anzunehmen oder etwas Verderbliches zu erwarten. Dasjenige, was in diesem Aufrufe steht, so sprach ich im Jahre 1917 in einem entscheidenden Augenblick, das ist nicht der Einfall eines Menschen, das ist aus hingebungsvollem Beobachten der Entwickelungsnotwendigkeiten Mittel- und Osteuropas entstanden. Sie haben die Wahl, entweder das, was sich verwirklichen will, aus Vernunft zunächst hinzustellen vor die Menschheit, damit diese Menschheit Mitteleuropas wieder ein Ziel hat und davon sprechen kann wie die westlichen Menschen, oder Sie stehen vor den furchtbar­sten Kataklysmen und Revolutionen. Man hörte sich solche Sachen dazumal an, man verstand sie auch; aber man hatte nicht den Willen, oder besser gesagt, man fand nicht die Brücke vom Verstandesverstehen bis zur Entfaltung des Willens. Heute sprechen die Tatsachen laut da­von, daß diese Brücken vom Verstehen zum Wollen gefunden werden müssen. Das ist es, was durch diesen Aufruf der Menschheit gesagt

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werden soll. Verstanden werden soll dieser Aufruf aus freiem inneren Entschließen heraus. Verstanden werden soll er aus dem Denkwillen heraus.

Was ich dazu beitragen kann durch das in diesen Tagen erschei­nende Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwen­digkeiten der Gegenwart und Zukunft», das werde ich dazu tun. Aber die Menschheit wird sich dazu bekennen müssen, daß ganz neue Denk-gewohnheiten für den Neuaufbau notwendig sind, daß etwas notwen­dig ist, was nicht links und nicht rechts in solcher Weise gedacht worden ist. Man sollte die Dinge nicht leicht nehmen. Die Menschheit wird sich dazu bequemen müssen. Dazu bequemt sie sich ja, äußerlich durch die Tatsachen gezwungen, einzusehen, daß die Zeit vorüber ist, in welcher man der Menschheit weismachte: Glücklich, zufrieden, sozial lebens­fähig könnt ihr nur sein, wenn Thron und Altar in Ordnung sind. Vom Osten von Europa tönt heute ein anderes Lied herüber: «Thron und Altar» sollen ersetzt werden durch «Kontor und Fabrik». In dem Schoße desjenigen, was in Kontor und Fabrik entsteht, liegt etwas ganz Ähn­liches wie in dem, was unter dem Einfluß von Thron und Altar ent­standen ist. Einzig und allein, wenn wir uns bequemen, weder nach links noch nach rechts zu schauen, sondern nur auf die großen histori­schen Entwickelungsnotwendigkeiten, werden wir den Weg finden, durch den wir ankommen bei dem, was wir brauchen, nämlich bei nichts Außermenschlichem, weder bei Thron und Altar noch bei Kontor und Fabrik, sondern bei dem befreiten Menschen. Denn dadurch, daß Sie den sozialen Organismus dreigliedern, lassen Sie den Menschen teil­nehmen an allen drei Gliedern. Er steht im Wirtschaftsleben, er steht im demokratischen Staate, er steht im Geistesleben drinnen oder hat ein bestimmtes Verhältnis dazu. Er wird nicht zersplittert, sondern er wird das verbindende Glied der drei Gebiete sein. Nicht um Aufrich­tung der alten Standesunterschiede handelt es sich, sondern gerade um eine Überwindung der alten Standesunterschiede, um ein vollständiges Ausleben des freien Menschen, dadurch, daß der soziale Organismus selbst in gesunder Weise das äußere Leben des Menschen gliedert. Das ist das, um was es sich in Zukunft handelt. Wir können den Menschen nur befreien, wir können ihn nur auf sich selbst stellen, wenn wir ihn

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so in die Welt stellen, daß er, ohne daß sein Menschentum zersplittert wird, in allen drei Gebieten drinnen steht.

Man kann ja allerdings sehen, wie diese Dinge heute noch unter Um­ständen recht schwer begriffen werden. Neulich hielt ich in einer Stadt in der Schweiz auch einen Vortrag über diese Sachen. Da stand ein Diskussionsredner auf, der sagte, die Dreigliederung verstehe er nicht recht, denn die Gerechtigkeit würde sich dann nur entwickeln auf dem Boden des Staates, sie müsse doch auch das Geistesleben, das Wirt­schaftsleben durchdringen, also es müsse auf allen drei Gebieten die Gerechtigkeit entwickelt werden. Ich antwortete mit einem Vergleich, um die Sache klarzumachen. Ich sagte: Nehmen wir einmal an, eine ländliche Familiengemeinschaft bestünde aus dem Herrn, der Frau, aus Kindern, Mägden und Knechten und aus drei Kühen. Die ganze Fa­milie braucht Milch zum Leben, aber es ist doch nicht notwendig, daß die ganze Familie Milch produziere, wenn die drei Kühe Milch produ­zieren, wird die ganze Familie Milch haben. - So wird dann in allen drei Gebieten des sozialen Organismus Gerechtigkeit walten, wenn auf dem Rechtsboden, auf dem Boden des emanzipierten Staates die Gerechtigkeit produziert wird. Es handelt sich darum, aus den ge­scheiten Gedanken und Ideen zu den einfachen Wirklichkeitsgedanken und Wirklichkeitsideen zurückzukehren. Ich bin der Überzeugung, die­ser Aufruf wird aus dem Grunde nicht verstanden, weil ihn die Leute nicht einfach genug nehmen. Die ihn einfach nehmen, die werden sehen, wie aus ihm und seinen Ideen die Sehnsucht sprechen will, daß wir aus den Wirren der Gegenwart, aus dem Chaos der Gegenwart, aus den Prüfungen der Gegenwart allmählich zu einem Leben kommen, in dem sich gerade durch die Dreigliederung des sozialen Organismus der ein­heitlich gesunde Mensch, der seelisch> leiblich, geistig gesunde Mensch entwickeln kann.

Schlußwort nach der Diskussion

Jemand stellt die Frage an Dr. Steiner, wo in unserem deutschen Leben augen­blicklich, in der Form, wie die heutige Regierung besteht, die beste Möglichkeit sich zeigt, die ausgesprochenen Ideen in die Wirklichkeit zu übertragen. Wird die Hoffnung

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vorhanden sein, daß bei einem Umsturz mehr zu erwarten ist für diese Ge-danken, die heute abend hier vorgetragen worden sind, oder wird mehr zu erwar­ten sein für den Ausbau dieser Ideen, wenn die heutige mehrheitssozialistische Regierung bestehen bleibt?

DR. STEINER: Wer versucht, tiefer in dasjenige einzudringen, was dieser Aufruf eigentlich meint, der wird, wie ich glaube, nicht schwer die Richtung finden können, in der die bedeutungsvollen, inhalts-schweren Fragen des verehrten Vorredners gestellt sind. Ich möchte auf die historische Erscheinung, welche der verehrte Herr Vorredner be­rührt hat, mit ein paar Worten eingehen. - Sehen Sie, ich habe es im Vortrage nur an zwei Stellen getan, allein ich glaube, daß das heutige öffentliche Leben für denjenigen, der wirklich versucht, in dasselbe ein­zudringen, und der es wagt, der sich zutraut es zu wagen, mitzureden, daß dieses öffentliche Leben in einer gewissen Weise seine Spiegelbilder in das persönliche Erleben schon hineingeworfen haben muß. - Ich habe nur an zwei Stellen Persönliches angeführt, allein ich darf gerade vielleicht anknüpfend an diese Frage sagen: Ich bin ja eigentlich selber aus proletarischen Kreisen hervorgegangen, und ich weiß mich heute noch zu erinnern, wie ich als Kind zum Fenster hinausgesehen habe, als die ersten österreichischen Sozialdemokraten in großen Demokraten-hüten vorbeigingen, um die erste österreichische Versammlung im be­nachbarten freien Walde abzuhalten. Es waren zum größten Teil Berg­arbeiter. Von da ab konnte ich eigentlich alles miterleben, was sich innerhalb der sozialistischen Bewegung abgespielt hat in der Art, wie ich es im Vortrag charakterisiert habe und wie es sich ergibt, wenn man vom Schicksal bestimmt ist, nicht bloß über das Proletariat, sondern mit dem Proletariat zu denken, wobei man sich ja noch immer einen freien Ausblick auf das Leben und alle einzelnen Gebiete des Lebens wahren kann. Vielleicht habe ich gerade Zeugnis dafür abgelegt im Jahre 1892, als ich meine «Philosophie der Freiheit» geschrieben habe, die wahrhaftig gerade für diejenige Struktur des menschlichen Gesell­schaftslebens eingetreten ist, welche heute von mir angesehen wird als notwendig gerade zur Entwickelung der menschlichen Begabung. Nun, sehen Sie, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte man an vielen Diskussionen und dergleichen innerhalb der sozialen

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Bewegung teilnehmen, in denen sich spiegelte, was da heraufkam an sozialistischen Ideen. Ich möchte sagen, ein gewisser Grundton war in alledem.

Es würde natürlich zu weit führen, darüber zu sprechen, denn die Geschichte des modernen Sozialismus ist eine sehr große; es würde zu weit führen, wollte ich über dieses Kapitel ausführlicher werden, daher wird das, was ich sage, schon dem Schicksal unterliegen, daß man gewissermaßen obenhin charakterisieren muß. In alledem, was in der proletarisch-sozialistischen Weltanschauung so recht lebte, war etwas, was ich bezeichnen möchte als Gesellschaftskritik. Es war etwas, was mit ungeheurer Schärfe, mit der Schärfe des menschlichen Selbsterleb­nisses hinweisen konnte auf den ganzen Prozeß des modernen Lebens seit vier Jahrhunderten. Man erlebte die sozialen Unmöglichkeiten der Gegenwart. Allein auch wenn man in kleinem Kreise über diese Dinge sprach, die Kundigsten, die Tätigsten - ich führe als Beispiel den jüngst verstorbenen V£ktor Adler und E. Pernerstorjer an -, die Kundigsten hörten mit der Diskussion in einem bestimmten Augenblick auf, dann wenn Vorstellungen entwickelt werden sollten über dasjenige, was geschehen soll, wenn jene innere Konsequenz, auf die man hinwies, die innere Konsequenz der modernen Wirtschaftsordnung, zu ihrer Auf­lösung führte, was man nannte «die Expropriation der Expropria­teure». Was soll dann geschehen? Wenn man die Nullität desjenigen, was damals als Antwort auf diese Frage gegeben wurde, was dann geschehen solle, ins Auge faßte, konnte man schon eine gewisse Kultur-sorge bekommen, denn man konnte dazumal schon in eine Zukunft blicken, die jetzt eigentlich da ist. In jene Zukunft, in der diejenigen, die so dachten, wie die Leute damals gedacht haben, aufgerufen wer­den zu positivem Schaffen. Diejenigen, die nun hervorgegangen sind aus diesen Anschauungen, die einem solche Kultursorgen machten -man brauchte ja wahrhaftig nicht ein fanatischer Bourgeois zu sein, um diese Kultursorge in der Diskussion mit Sozialdemokraten zu bekom­men, das konnte aus ehrlichem menschlichem Denken und Wollen her­vorgehen -, die Nachkommen dieser Leute sind eben die gegenwärtigen Mehrheitssozialisten, und die Kultursorge ist heute vor Tatsachen ge­führt. Das ist auf der einen Seite. Auf der anderen Seite haben alle die

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Leute, die so gesprochen haben, gesagt: Laßt uns nur ans Ruder kom­men, dann wird sich das übrige schon ergeben. - Wenn man nicht glau­ben konnte, daß sich «das übrige schon ergeben werde», wurde man doch mehr oder weniger Prophet desjenigen, wovor man heute steht:

vor der Ratlosigkeit der Nachfolger dieser Leute gegenüber den Tat­sachen. Dazumal war man ein fanatischer Kerl, wenn man hinwies auf das, was heute eingetreten ist.

Wahrhaftig, ich bewundere Karl Marx wegen seiner Gedanken-schärfe, wegen seines umfassenden historischen Blickes, wegen seines großartigen umfassenden Gefühles für die proletarischen Impulse der neueren Zeit, wegen seiner gewaltigen kritischen Einsicht in den Selbst­zersetzungsprozeß des modernen Kapitalismus und wegen seiner vielen genialen Eigenschaften. Wer ihn aber kennt, der weiß, daß Karl Marx im Grunde genommen eben der große Sozialkritiker war, der jedoch immer da im Stiche läßt, wo hingewiesen werden soll auf das, was eigentlich zu geschehen hat. Schon da liegt der Ursprung desjenigen, was wir heute als Tatsachen sehen, besser gesagt, als Unvermögen sehen, zu einem positiven Aufbau zu kommen. Nun sehen wir heute nicht nur die Konsequenz der Tatsachen, sondern auch die Konsequenz der Meinungen. Sehen Sie, als ich neulich an einer anderen Stelle, auch in Basel, aber vor einem anderen Publikum als das vorhin gemeinte, einen Vortrag hielt, da antwortete ein Diskussionsredner, es sei vor allen Dingen notwendig, wenn man zum Heile kommen wolle, daß Lenin Weltherrscher würde. Die anderen sozialen Angelegenheiten seien national. International sei, Lenin müsse Weltherrscher werden. Nun, gegenüber einer solchen Bemerkung mußte ich mir doch folgendes zu sagen erlauben: Wie wir auch den Begriff der Sozialisierung auffassen, mehr oder weniger der eine aus Einsicht, der andere aus Vorliebe oder unter dem Zwange der Tatsachen, - seien wir doch auch in diesen Din­gen ein wenig konsequent. Wenn man sozialisieren will, dann glaube ich, muß das erste sein, was man sozialisiert, die Herrschaftsverhält­nisse. Wer einen Weltherrscher fordert, der mag auf manchem Gebiet sozialisieren, auf dem Gebiet der Herrschaftsverhältnisse sozialisiert er gewiß nicht. Sozialisierung der Herrschaft ist das, was zunächst wirk­lich eine Grundforderung ist. So, sehen Sie, kann man heute radikal

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sein und grundkonservativ, sogar furchtbar reaktionär sein. So sind oft die, die heraufgekommen sind durch das, was ich charakterisiert habe.

Man muß heute in vielen Dingen paradox denken, weil das, was wahr ist, den Denkgewohnheiten so sehr widerspricht, daß die Leute heute lieber Widersprüche hinstellen als einfache Wahrheiten. Aber wir brauchen auch die Konsequenz der Meinungen. Betrachten wir ein­mal die Meinung eines so konsequenten Denkers - man mag sich zu ihm stellen, wie man will -, wie Lenin ist. Denn konsequent ist er schon, auch in bezug auf ein gewisses Handeln ist er konsequent. Be­trachtet man seine Anschauung, so muß man zunächst sagen, er ist sei­ner Meinung nach ganz feststehend, mehr als alle anderen, vor allem mehr als die Mehrheitssozialisten, auf dem, was Marxismus ist. Und in einem seiner Bücher, das ist sehr interessant, macht er gerade aus dem Marxismus heraus eine höchst interessante Bemerkung. Sie ist um so interessanter, wenigstens in formeller Beziehung, als sie nicht gemacht wird von einem, der in seinen vier Wänden über sozialistische Parteien schreibt, oder von einem, der vielleicht ein Minister oder sonst im öffentlichen Amt ist, sondern von einem allmächtigen Manne. Er be­spricht jene Anschauungen des Marxismus, in denen darauf hingewiesen wird, wie der alte bürgerliche Staat übergehen muß in den proletari­schen Staat, wie dieser proletarische Staat aber nur die einzige Aufgabe habe, sich selbst allmählich zu töten. Also Begründung eines Staates, der solche Gesetze macht, die ihn schließlich töten. In diesem Staate wird eine Gesellschaftsordnung sein, durch die alle Menschen gleich sind nicht nur in bezug auf das Gesetz, sondern auch in bezug auf wirt­schaftliche und geistige Verhältnisse. Oh, die geistigen Arbeiter werden keinen Pfennig mehr haben als die physischen Arbeiter. Aber gleich­zeitig ist Lenin durchaus der Ansicht, daß das nur ein Übergang ist. Denn es müsse, und das leitet er auch aus dem Marxismus her, nachdem der proletarische Staat getötet sein wird, also alles das, was er heute anstrebt, untergegangen sein wird, dann das andere kommen, das eigentliche große Ideal, das darin sich ausleben wird, daß eine Gesell­schaftsordnung da sein wird, in welcher jeder haben wird, jetzt nicht das gleiche wie der andere, sondern wo jeder haben wird nach seiner

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Begabung und seinen Bedürfnissen. Aber - jetzt bedenken Sie dieses große Aber -, aber, sagt Lenin, dieser Zustand ist mit den gegenwär­tigen Menschen nicht zu erreichen, da muß erst ein neuer Menschen­schlag kommen. Sehen Sie, das ist auch in einer gewissen Beziehung ein richtiges Denken, nur in eigentümlicher Weise ein richtiges Denken. Da haben Sie auf der einen Seite das Negative und auf der anderen Seite das Negative, das zur heutigen Tatsachenkonsequenz geführt hat, wo die Leute vor Aufgaben stehen, die sie aus alten Theorien, aus alten Dogmen heraus nicht bewältigen können. Sie haben die Meinungs­konsequenz. Es soll etwas durchgeführt werden, aber für Menschen, die noch nicht da sind.

Nun, sehr verehrte Anwesende, gegenüber alledem versucht unser Aufruf etwas für Menschen, die da sind. Und gerade dadurch unter­scheidet sich unser Aufruf von allem anderen, daß er radikal anders ist als im Grunde genommen alles andere, was auf diesem Gebiete jetzt auftritt. Was tritt sonst auf? Programme! Nun, Programme sind heute so billig wie Brombeeren. Man gründet eine Gesellschaft, eine Partei, macht ein Programm, das ist sehr leicht. Aber darum handelt es sich nicht. Dieser Aufruf steht nicht auf theoretischem, auf dogmatischem, sondern auf einem Wirklichkeitsboden, auf einem wirklich praktischen Boden. Daher richtet er sich nicht an Programme, sondern an Menschen.

Oft und oft hat man gesagt, wenn der Mensch von Geburt an einsam auf eine Insel versetzt wird, lernt er niemals sprechen, sprechen lernt er nur in der Gesellschaft von Menschen. So können sich die sozialen Impulse niemals in einzelnen Menschen entwickeln, sondern nur im Zu­sammenleben mit den anderen Menschen. In einer eigentümlichen Weise entwickeln sie sich im einzelnen Menschen. Dafür ein Beweis. Sie kennen heute unter den Bolschewiken Lenin, Trotzki und so weiter. Ich will Ihnen einen anderen Bolschewisten nennen, an den Sie vielleicht noch nicht gedacht haben, und bei dem Sie sehr erstaunt sein werden, wenn ich ihn einen Bolschewisten nenne. Dieser Bolschewist ist Johann Gott-lieb Fichte! Kein Mensch kann größeren Respekt haben vor Johann Gottlieb Fichte als ich, aber lesen Sie seinen «Geschloßnen Handels-staat», lesen Sie die Gesellschaftsordnung, die er darin entwirft. Wahr­haftig, sie wird in Rußland verwirklicht. Was liegt da eigentlich zugrunde?

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Fichte war ein großer Philosoph, war ein großer Denker, kann man sagen, alle diejenigen geistigen Wege, die er gegangen ist, die geht man mit Recht, wenn man dasjenige, was im menschlichen Innern ver­anlagt ist, was aus der menschlichen Begabung herausfließt, zur Ent­faltung bringt. Aber die neuere Zeit hat gerade den Menschen auf die Spitze der individuellen Persönlichkeit gestellt. Auf der einen Seite müssen wir heute diese Persönlichkeit ausbilden, aber aus ihr kommt ebensowenig eine soziale Ordnung, wie aus dem einzelnen Menschen die Sprache kommt, wenn er sich allein entwickelt. Soziale Ideen, soziale Impulse, soziale Einrichtungen können sich nur entwickeln in der So­zietät selber. Daher sollte man keine sozialen Programme aufstellen, sondern bloß finden: Wie müssen die Menschen sozial organisiert sein, wie müssen sie zusammen leben, damit sie in diesem Zusammenleben die richtigen sozialen Impulse finden? Das ist das, was gesucht wird in diesem Aufruf. Das ist das, worauf es ankommt: Wie die Menschen gegliedert sein müssen im sozialen Organismus, damit sie im Zusam­menhang, der sich dann ergibt aus der richtigen Gliederung, die sozialen Impulse finden. Dieser Aufruf glaubt nicht an die Idee, die bei sozialen Denkern so sehr häufig da ist, daß man gescheiter sei als alle anderen Menschen. Das bildet sich der nicht ein, der den Aufruf geschrieben hat; aber er glaubt, mit diesem Aufrufe zu einem brennenden Punkt der Wirklichkeit hingeführt zu haben. Zu den Menschen, zu denen ich oft gesprochen habe im kleineren Kreis, habe ich wiederholt gesagt: Ich könnte mir denken, daß von dem, was zugrunde liegt dem Aufrufe, kein Stein auf dem andern bleibt, daß alles anders wird, als es zunächst ausgedacht ist, aber darauf kommt es nicht an. Darauf kommt es an, daß man die Wirklichkeit so angreift, wie es hier gemeint ist, dann werden die Menschen, die die Wirklichkeit so angreifen, etwas heraus­finden, was auch wirklichkeitsgemäß sein wird. Es kommt mir nicht auf ein Programm, nicht auf Einzelheiten an, sondern darauf, daß die Menschen so zusammenwirken, daß durch das Zusammenwirken die sozialen Impulse gefunden werden. Das ist das, was heute einem wirk­lichkeitsgemäßen Denken zugrunde liegen muß: die Menschen in das richtige Verhältnis zu bringen. Wenn der Mensch aus sich selber her­ausspinnen will, wie Lenin, wie Trotzki, wie auch Fichte getan haben,

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irgendein sozialistisches Programm, so wird nichts daraus, weil das sozialistische Wollen nur im sozialen Zusammenhang sich entwickeln kann.

Daher hat man aufzusuchen die richtige Struktur, die richtige Ge­staltung des gesunden sozialen Organismus. Das, was heute als sozia­listische Theorie lebt, erinnert einen an alten Aberglauben, den Goethe im «Faust» behandelt hat, erinnert daran, wie man im Mittelalter aus den reinen Verstandesideen heraus zusammensetzen wollte gewisse Substanzen der Welt, um einen Homunkulus zu erzeugen. Darauf sieht man heute als auf einen mittelalterlichen Aberglauben gewiß mit Recht zurück. Aber in der menschlichen Entwickelung scheint es so zu sein, daß der Aberglaube aus dem einen Gebiet in ein anderes flüchtet. Die Homunkulusse sucht man nicht mehr in der Retorte, aber man versucht aus allerlei Gedankeningredienzien zusammenzusetzen ein Idealbild der sozialen Ordnung. Das ist soziale Homunkulusbildung, soziale Alchimie. Unter diesem Aberglauben leidet heute die Welt. Dieser Aberglaube muß verschwinden. Klar muß werden, daß die Wirklich­keit angefaßt werden muß, daß darauf hingewiesen werden muß, wie die Menschen im sozialen Organismus stehen müssen. Deshalb sagte ich: Schließlich kommt es mir nicht darauf an, wie diejenigen heißen, die sich beteiligen werden an dem Neuaufbau da oder dort. Darauf kommt es nicht an, welche ehemaligen Klassen und Gesellschaftskreise diejenigen sein werden, die sich an diesem Neuaufbau beteiligen. Dar­auf kommt es nicht an, ob sie dasjenige, was notwendig ist, so oder so nennen, ob es Diktatur einzelner in der Übergangszeit, ob es schon verbreitete Demokratie sein wird, das alles sind schließlich doch sekun­däre Fragen. Das, um was es sich handelt, ist, daß das Richtige gedacht, daß das Richtige empfunden, daß das Richtige gewollt wird. Immer wieder möchte ich betonen, man kann allerlei schöne Gedanken über die sozialen Einrichtungen haben, man muß sich heute auf jedem Platze, wo man nur kann, der Neugestaltung der sozialen Einrichtung wid­men, das ist ganz richtig. Aber derjenige, der tiefer in die Verhältnisse hineinzuschauen glaubt, der muß auch annehmen, daß sich ihm aus diesen Verhältnissen heraus das Folgende offenbart.

Machen Sie heute noch so gute Einrichtungen, lassen aber die Denkgewohnheiten

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der Menschen so wie sie sind, dann haben Sie in zehn Jahren von diesen Einrichtungen nichts. Heute brauchen wir nicht bloß eine Änderung der Einrichtungen. So paradox es klingt, was wir heute brauchen, sind andere Köpfe auf unseren Schultern! Köpfe, in denen neue Ideen sind! Denn die alten Ideen haben uns in das Chaos hinein­gebracht. Das muß eingesehen werden. Daher handelt es sich heute darum, Aufklärung über die Lebensbedingungen des gesunden sozialen Organismus in den weitesten Kreisen zu verbreiten. Wichtig ist es heute, anzufangen mit dem freien Geistesleben, anzufangen damit, überall die Möglichkeiten zu erweitern, die Menschen zum Verständnis der gesunden Bedingungen des sozialen Organismus zu bringen. Wir brauchen vor allen Dingen Menschen, welche nicht soziale Alchimie, sozialen Homunkulismus treiben, sondern Menschen, die aus der sozia­len Wirklichkeit heraus schaffen. Deshalb glaube ich nicht, wenn auch auf den vergangenen Umsturz ein anderer Umsturz und noch ein anderer und noch ein anderer folgt, ohne daß gründlich umgelernt wird mit Bezug auf die Gedanken, daß ein Umsturz etwas Heilsames bringt. Erst dann, wenn es ein Ideal wird, einzugehen auf die gesunde Organi­sation des Geisteslebens, Verbreitung gesunder Ideen, Erregung gesun­der Empfindungen, dann werden die Menschen da sein - gleichgültig, wie sie sich geltend machen, sei es in der Räteregierung oder in etwas anderem -, welche imstande sein werden, die Gesundung des sozialen Organismus herbeizuführen. Das halte ich für das Wichtigste. Das Wichtigste ist die Revolutionierung der menschlichen Gedanken-, Emp­findungs- und Willenswelt. Aus dieser Grundlage heraus wird sich erst dasjenige ergeben können, was der Herr Vorredner herbeisehnt. Ich glaube nicht, daß ohne diese Grundlagen durch irgend etwas anderes das Heil kommen kann. Weil ich die Sache so ernst betrachte, habe ich mich auf das Gebiet begeben, das in dem Aufrufe seinen Ausdruck gefunden hat. Nur wenn sich immer mehr und mehr Menschen finden, die den ehrlichen Willen und den Mut haben, diese Dreigliederung radikal zuerst zu verstehen und dann durchzuführen - durchzuführen ist sie von jedem Punkte aus, an dem man heute im praktischen Leben drinnensteht -, wenn genügend Menschen mit neuen Gedanken ablösen werden die Menschen mit alten, unfruchtbaren Gedanken, dann wird

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auf irgendeine Weise dasjenige werden, was zum Heile der Menschen und zur Befreiung der Menschen geschehen muß.

Ein kommunistischer Redner zweifelt daran, daß die Sozialisierung in der Form des Vortrages mit den heutigen Menschen durchgeführt werden könne.

DR. STEINER: Im Grunde genommen ist wohl nicht viel zu sagen in Anknüpfung an das, was der verehrte Vorredner gesagt hat, und zwar aus dem Grunde, weil er sich ja letzten Endes für die Dreigliederung ausgesprochen hat und eigentlich nur an einem gewissen Pessimismus laboriert, namentlich an dem Pessimismus, daß die Menschen heute un­reif seien zu dieser Dreigliederung und erst durchgehen müssen durch einen Kommunismus in dem Sinne der Lenin und Trotzki. Es ist gesagt worden, als ob diese hier besprochen worden wären in einer Weise, daß sie nicht zu ihrem Rechte gekommen sind. Ich sagte nur, «man mag darüber denken, wie man will», das ist das einzige, was ich über den Inhalt gesagt habe. Ich habe nur die Form charakterisiert. Es scheint mir, daß eigentlich der verehrte Herr Vorredner nicht daran glaubt, daß die Menschheit geistig wirklich dazu gebracht werden könnte, an­dere Köpfe auf die Schultern zu setzen. Nun, sehen Sie, wir haben ja alle auch das mitgemacht, daß die Menschen vor fünf Monaten noch den Weltkrieg wollten und so weiter. Aber, sehr verehrte Anwesende, ich glaube, daß es gegenüber allem, was heute gesagt werden kann von Menschen, gerade einen ungeheuren Lehrmeister gibt: das ist die Tat­sachenwelt selbst. Das ist diese furchtbare Weltkatastrophe selbst. Ich glaube allerdings nicht, daß für alle Menschen schon Zeit genug war, seitdem die Weltkriegskatastrophe in eine neue Phase eingetreten ist, umzulernen. Aber dem Pessimismus des Herrn Vorredners, in der Form, wie er ihn hat, kann ich zunächst aus ganz bestimmten Gründen nicht beitreten. Namentlich aus folgenden Gründen heraus nicht. Sehen Sie, wenn die Sache einfach so läge, daß man auf keinem anderen Wege zur Dreigliederung kommen könnte, als auf dem Umwege durch den Kommunismus - glauben Sie mir, ich leide wahrhaftig nicht an irgend­einer Kleinlichkeit oder Schwachmütigkeit gegenüber dem, was not­wendig ist -, dann könnte man auch dem zustimmen. Wenn nur das möglich wäre, was der Vorredner bezeichnet hat, durch den Kommunismus

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zur Dreigliederung zu kommen, sofort würde ich meinen, daß eben der Weg gemacht werden muß. Aber ich habe nicht ohne Bedacht, sondern aus jahrzehntelangen Lebenserfahrungen heraus die Sache gesagt von Thron und Altar auf der einen Seite, Kontor und Fabrik auf der anderen Seite. Sehen Sie, ich bin ja vielleicht zweieinhalbmal so alt als der Herr Vorredner ist. Nun, man hat ja gewiß auch in die­sem Alter heute, ich will das nur mit ein paar Worten streifen, die Meinung, daß recht viel von dem, was gemacht werden soll, nur durch die Jugend gemacht werden kann. Ich habe die Meinung, daß man am Ende des sechsten Lebensjahrzehntes stehen und eine ebenso junge Seele haben kann wie der Herr Vorredner. Das mag egoistisch sein. Aber ich habe das sehr wohl bedacht, was ich sagte über Thron und Altar auf der einen Seite, Kontor und Fabrik auf der anderen Seite.

Sehen Sie, die Sache liegt einfach so: Wenn man irgendeine soziale Struktur schafft, schafft man ja nicht irgend etwas für alle Ewigkeit im stabilen Zustand oder auch nur für lange Zeiten, sondern man schafft etwas Werdendes, etwas Wachsendes. Und für den, der sich die nötige Lebenserfahrung errungen hat, liegt die Sache so, daß er gut weiß, wenn einer ein Kind ist und wächst, wird er zu einer anderen Gestal­tung kommen, wenn er erwachsen ist. So hat man, wenn man eingeht auf die Lebensbedingungen des sozialen Organismus, auch die bestimmte Vorstellung, wie das wird und wächst. Da sehe ich auf der einen Seite etwas, was alt geworden ist, hervorgehend aus älteren Gemeinschaften:

die privatwirtschaftliche Verwaltung der neueren Zeit, den Kapitalis­mus der heutigen Zeit mit seiner furchtbaren Schädlichkeit. Das haben wir erlebt als Zersetzung unter Thron und Altar. Jetzt fangen wir wiederum neuerdings an mit dem Kommunismus, nur etwas anders gestaltet - nicht unter der Devise «Thron und Altar», sondern unter der Devise «Kontor und Fabrik».

Gut, fangen wir von neuem an. Nach einiger Zeit wird man nicht bei der Dreigliederung sein, sondern bei einer anderen Form, bei einer furchtbar verbürokratisierten Form unter der Devise «Kontor und Fabrik», unter dem, was heute im Kommunismus vorbereitet wird. Da wird es nicht geben, was heute der Besitzlose durch den Besitzenden erfährt. Da wird es geben, Sie mögen es nun glauben oder nicht,

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Stellenjägerei, um dasjenige zu erreichen durch Erjagen von bestimm­ten Stellen, was man heute durch kapitalistischen Profit erjagt. Da wird es geben anstelle der Schäden von heute ein ungeheures Spitzeltum, Spionentum. Das alles bedenken diejenigen nicht, die heute so aus kur­zen Gedanken heraus eine vergangene Gesellschaftsordnung einrichten wollen, um wiederum anzufangen, und dann glauben können, daß, wenn man mit dem anfängt, was man schon durchprobiert hat, an des­sen Greisenhaftigkeit wir angelangt sind, wir zu anderen Zuständen gelangen. Gewiß, gegenüber dem, was wir erlebt haben, wie so viele Menschen geglaubt haben an das, was ihnen befohlen worden ist, wäh­rend sie nur schwer herankommen an so etwas wie den Aufruf, kann man schon pessimistisch werden. Den Pessimismus als Zeiterscheinung begreife ich vollständig. Und in einer gewissen Beziehung habe ich auch, nun seit Monaten über diese Dinge redend, etwas empfunden, was wie eine Tragik der Zeit erscheint, daß man so wenig mit bürger­lichen Persönlichkeiten in Diskussion kommen kann. Das betrachte ich als eine sehr bedeutsame Erscheinung. Das ist etwas, was sehr, sehr zum Pessimismus auffordert. Da erlebt man so manches. Zum Beispiel neu­lich in einer südlichen Stadt erlebte ich, daß in einer Zeitungsbespre­chung von privater Seite gesagt worden ist, nun ja, der habe ja ganz gute Bemerkungen gemacht im ersten Teile seines Vortrages über das Geistesleben, aber gewünscht hätte man doch, daß aufgetaucht wäre ein Redner, welcher die privatwirtschaftliche Kapitalistik als seine An­gelegenheit betrachtet und sie verteidigt hätte, denn man könne sie schon verteidigen. Es sei traurig, daß kein einziger solcher Redner auf­getreten sei. Da möchte man doch glauben, daß die kapitalistische Ordnung an ihrem Ende angekommen sei. - Ein Knäuel von Wider­sprüchen. Erstens, man muß zugeben, die privatkapitalistische Verwal­tung, die privatkapitalistische Wirtschaftsordnung müßte verteidigt werden, sie muß also doch etwas Haltbares darstellen. Das zweite ist aber, daß der Schreiber selber an ihr zweifelt, weil kein Redner sich zur Verteidigung fand. Das dritte, wenn der Einsender selber dage­wesen ist, ja warum hat er denn eigentlich nicht selber geredet?

Es ist so, wie wenn die Menschen sich selber auslöschen und dadurch beweisen würden, wie sehr sie in der Nullität angekommen sind. Das

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alles kann ich auch verstehen, dennoch aber, für den, der nicht pessi­mistisch denkt, gibt es nur das: Wie kommen wir dazu, möglichst viele Menschen zu finden, die diese Dreigliederung verstehen, dann können wir sie tatsächlich in sehr kurzer Zeit verwirklichen. Ich habe nirgends gesagt, daß sie erst in zehn Jahren zu verwirklichen ist. Nein, schon heute läßt sich von jedem Punkte aus diese Dreigliederung verwirk­lichen. Und deshalb, daß es in die Köpfe hineingeht, deshalb wollen wir sie alle tief genug nehmen und für sie arbeiten. Um aber überhaupt an dem Heil der Menschen mitwirken zu wollen, muß man nicht pessi­mistisch sein, sondern an seine Arbeit glauben. Man muß den Mut haben, wirklich daran zu denken, daß man auch imstande sei, das zu verwirklichen, was man für das Richtige hält. Ich halte es für Selbst­vernichtung, wenn jemand sagt: Wir haben Ideen, die sich verwirk­lichen lassen, aber ich glaube nicht daran. Diese Frage halte ich nicht für eine Wirklichkeitsfrage, sondern nur die: Was tun wir, damit eine wirklichkeitsgemäße Idee sich so schnell als möglich verwirkliche? Den­ken wir nicht daran, wie die Köpfe heute sind, sondern wie sie werden mussen.

Fassen wir Mut, und wir werden nicht auf einen neuen Men­schenschlag zu warten brauchen, sondern wir werden die Menschen schon finden, die zwar niedergedrückt waren durch die Gewalt in den letzten Jahren, und die auf eine andere Art die neuen Köpfe auf ihre Schultern bringen werden als manche Menschen denken. Also nicht pessimistisch sein, sondern arbeiten und wirken, dann werden wir sehen, ob die Ideen durchdringen werden oder ob wir Anlaß zum Pessimismus haben. Wäre dieser Anlaß vorhanden, dann glaube ich allerdings, daß die zehn Jahre des Übergangs nicht zur Dreigliederung führen würden, sondern zu etwas anderem. Wir haben viel ruiniert und würden noch mehr ruinieren, und ehe zehn Jahre abgelaufen sind, wäre die Zeit da, wo wir vor der Möglichkeit stehen würden, nichts mehr ruinieren zu können, weil alles ruiniert ist. Deshalb ist es besser zu arbeiten, als in Mutlosigkeit zu verfallen.

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PROLETARISCHE FORDERUNGEN UND DEREN KÜNFTIGE PRAKTISCHE VERWIRKLICHUNG Vortrag für die Angestellten der Waldorf-Astoria Stuttgart, 23. April 1919

Wir stehen heute in einer höchst bedeutungsvollen Zeit, die sich durch laut sprechende Tatsachen schon über einen großen Teil Europas hin ankündigt, durch Tatsachen, die immer weitere und weitere Verbreitung gewinnen werden, und in dieser bedeutungsvollen Zeit ist es notwen­dig, gerade in diesen Kreisen ernstlich, ganz ernstlich nachzudenken über die Aufgaben, die man als Mensch, als arbeitender Mensch haben kann; über die Rechte, die man haben muß; über das, was das Leben überhaupt geben soll. Ernst nachzudenken und vor allem in einer ganz bestimmten Weise nachzudenken - darüber. wird es notwendig sein, einleitend einige Worte zu sprechen.

Sehen Sie, die meisten von Ihnen werden sich im Laufe der Jahre Ansichten gebildet haben darüber, was zur sogenannten Lösung der sozialen Frage, der sozialen Bewegung zu geschehen hat. Manches von dem, was als solche Ansicht gebildet worden ist, wird auch innerhalb der Arbeiterschaft umgedacht werden müssen. Darüber wird jetzt, wo wir vor ganz anderen Dingen stehen als vielleicht noch vor ganz kurzer Zeit -, darüber wird in der allernächsten Zeit und schon heute anders gedacht werden müssen. Wie man sich bemühen muß zu denken, dar­über wollen wir gerade heute sprechen. Aber wir müssen uns zuerst darüber verständigen, daß es vor allen Dingen heute darauf ankommt, daß wir Vertrauen zueinander haben und aus dem Vertrauen heraus irgend etwas wirklich schaffen können. Dieses Vertrauen konnte immer weniger und weniger vorhanden sein in der Zeit, die jetzt abgelaufen ist und die ja, welche Unmöglichkeiten sie enthielt, dadurch gezeigt hat, daß sie in jene furchtbare Katastrophe hineinführte, durch die in Eu­ropa, gering gerechnet, zehn bis zwölf Millionen Menschen totgeschlagen

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und dreimal so viel zu Krüppeln geschlagen worden sind. Das ist nun die letzte Konsequenz dessen gewesen, wie von den bisher führen­den Klassen der Menschheit sozial verkehrt gedacht und gewollt wor­den ist. Aus einer ganz anderen Klasse der Menschheit gehen heute die durchaus berechtigten Zeitforderungen hervor, sie gehen hervor aus dem Proletariat. Aber dadurch ist auch das Proletariat heute vor ganz andere Aufgaben gestellt, als es noch vor ganz kurzer Zeit gestellt war.

Ich will, um auf diese Aufgaben hinzudeuten, nur das eine sagen, daß selbst führende Sozialdemokraten kurze Zeit bevor die Oktober-Katastrophe, die November-Katastrophe in Deutschland eingetreten ist, gesagt haben: Ja, wenn dieser Krieg vorüber ist, dann wird die deutsche Regierung sich zu dem Proletariat ganz anders stellen müssen, als sie sich vorher gestellt hat. Sie wird das Proletariat berücksichtigen müssen bei allen Regierungshandlungen, in allen Gesetzgebungen. Sie wird es nicht mehr in der Weise behandeln können, das Proletariat, wie sie es früher behandelt hat. - Sehen Sie, das wurde von führenden Sozialdemokraten vor verhältnismäßig kurzer Zeit gesagt. Was heißt das aber? Das heißt, diese führenden Sozialdemokraten haben kurze Zeit vor der November-Revolution noch damit gerechnet, daß nach dem Kriege die alte deutsche Regierung obenauf sein werde. Nun stehen wir vor der Tatsache, daß, wie sonst in Europa, in Mitteleuropa diese Regierungen hinweggefegt worden sind. Dadurch hebt es sich von selber auf, daß sie die sozialen Forderungen berücksichtigen können. Man muß eben heute über diese Dinge rein aus den Tatsachen heraus ganz anders sprechen als noch vor kurzem selbst von einsichtsvollen, gut nachdenkenden Sozialdemokraten gesprochen worden ist. Denn heute steht der Proletarier selbst vor der Notwendigkeit, aus dem Chaos, aus den Wirren der Gegenwart etwas Vernünftiges zu schaffen. Daher ist es heute notwendig, daß man auf etwas noch ganz anderes sieht, als man vor kurzer Zeit gesehen hat.

Sehen Sie, wenn vor kurzer Zeit jemand, so wie ich jetzt vor Ihnen, geredet hat, dann ist man aufmerksam gewesen auf dasjenige, was er dem Inhalt nach gesagt hat. Man hat geprüft, ob die Dinge, die gesagt wurden, mit den alten sozialen Ideen oder den Idealen des Prole­tariats

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überhaupt übereinstimmten, und man hat den Betreffenden abgelehnt, wenn er nicht ganz genau, in vieler Beziehung wenigstens den Hauptsachen nach, dasselbe gesagt hat. Heute muß die Sache anders werden, sonst kommen wir nicht heraus, sondern immer tiefer hinein ins Chaos, in die Wirren. Heute müssen wir, ich möchte sagen, zur Erweckung des gegenseitigen Vertrauens etwas ganz anderes anwenden. Wir müssen die Absichten sorgfältig prüfen, müssen prüfen, ob, was dem, was gesprochen wird, zugrunde liegt, ehrlich und aufrichtig gemeint ist. Heute muß eigentlich ein jeder zu Worte kommen können, der es, gleichgültig, wie er sich das ausmalt, was zu geschehen hat, ehrlich und aufrichtig mit den Forderungen der proletarischen Welt meint. Wie wir jetzt diese Forderungen befriedigen, ist heute erst die zweite Frage. Die erste Frage ist die, daß derjenige, der heute über Neugestaltung oder Neuaufbau reden will, es ehrlich meinen muß mit den Forde­rungen des Weltproletariats; es in der Richtung ehrlich meinen muß, daß er überzeugt davon ist, die Forderungen als solche, dasjenige, was der Proletarier will, ist berechtigt. Denn erst, wenn man diese Forde­rungen als berechtigt anerkennt, kann auf einer gewissen Grundlage gesprochen werden, dann kann man darüber sprechen, wie diese For­derungen erfüllt und befriedigt werden können.

Nun sehen Sie, in mancher Beziehung werden Sie ja finden, daß der Aufruf, der Ihnen wohl auch bekannt geworden ist, von älteren, sozia­listischen Forderungen abweicht. Dennoch glaube ich, daß gerade, wenn Verständnis erweckt wird für das, was durch diesen Aufruf und das in diesen Tagen erscheinende Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage» angestrebt wird, in einer intensiveren, richtigeren Weise das erreicht wird, was die neuere proletarische Bewegung seit mehr als einem halben Jahrhundert eigentlich will. Das Wollen war gewissermaßen ein von der Zeit selbst Gefordertes. Es konnte so nicht weitergehen, wie die führenden Klassen das angerichtet hatten. Aber aus der Kritik des Ver­haltens der führenden Klassen müssen heute hervorgehen Ideen dar­über, wie man es zu machen hat - was man eigentlich zu tun hat. Nun hat im Grunde genommen gerade das Proletariat in der allerbesten Weise vorgearbeitet für eine solche Gestaltung, wie dieser Aufruf sie verlangt. Deshalb glaube ich, daß, wenn manche Mißverständnisse beseitigt

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werden, gerade unter dem Proletariat das allerbedeutsamste Ver­ständnis für diesen mit den Verhältnissen der Menschheit heute es ehr­lich meinenden Aufruf entstehen wird.

Nicht wahr, was man erlebt hat, wenn man, wie ich, nicht über das Proletariat, sondern immer mit dem Proletariat dachte, ist, daß das Proletariat durch die Verhältnisse der neueren Zeit ganz und gar ein­gespannt worden ist in den Kreislauf des Wirtschaftslebens. Was Wun­der, wenn das Proletariat heute denjenigen, die die Früchte dieses Wirtschaftsprozesses in der sogenannten «höheren Kultur» eingeheimst haben, wenn heute das Proletariat diesen führenden Klassen entgegen­ruft: Wir wollen aus dem Wirtschaftsprozeß eine ganz neue soziale Ordnung schaffen. - Die führenden Klassen haben durch Jahrhunderte hindurch, besonders im neunzehnten Jahrhundert, den Arbeiter ein­gespannt in das Wirtschaftsleben, haben ihn so sehr im Wirtschaftsleben beschäftigt, haben mit dem Wirtschaftsleben seine Zeit so sehr in An­spruch genommen, daß der Arbeiter im Grunde genommen nichts anderes sehen konnte als dieses Wirtschaftsleben. Er hat gesehen, wie seine ganze Arbeitskraft von diesem Wirtschaftsleben in Anspruch ge­nommen worden ist, wie er durch die Inanspruchnahme seiner Arbeits­kraft Mehrwerte schaffte, durch welche die sogenannte «höhere Klasse» ihre sogenannte «höhere Kultur» befriedigte. Er hat gesehen, von der Wirtschaft lebte er schlecht - die anderen gut, und hat sich zuletzt gesagt: Nun ja, alles ist Wirtschaftsleben, aus ihm heraus muß daher eine Ordnung kommen, welche irgendwie das Heil für die Zukunft bringt. - Selbstverständlich mußte diese Anschauung entstehen. Aber es handelt sich nicht darum, daß wir aus dem heraus, in das wir gerade hineingewachsen sind, über die soziale Ordnung urteilen, sondern daß wir uns fragen: Was ist notwendig, damit der soziale Organismus rich­tig lebensfähig wird? Und sehen Sie, über diesen lebensfähigen sozialen Organismus, der es jedem Menschen möglich macht, sich in einer men­schenwürdigen Weise die Frage zu beantworten: Was bin ich eigentlich als Mensch? - in einer solchen Weise nachzudenken, das war die Auf­gabe, die zuerst gestellt war, bevor aus Lebenserfahrungen, die fast ebenso alt sind wie die neuere soziale Bewegung, in dieser schwierigen, in dieser Prüfungszeit der Menschheit, dieser Aufruf an die Menschheit

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erlassen worden ist. Er ist nicht aus irgendeinem flüchtigen Gedanken heraus entsprungen, wie der Gedanken viele entstehen, die nun auch irgendwelche soziale Programme entwerfen, sondern er ist entstanden aus dem Miterleben der sozialen Bewegung, so lange ich zum Beispiel sie miterleben konnte. Da konnte man schon sehen, daß ein Haupt­grund, warum wir heute in bezug auf die Lösung der dringendsten sozialen Fragen noch so weit zurück sind, der ist, daß eben gerade die führenden Klassen nicht imstande gewesen sind, aus ihren Gedanken heraus etwas zu finden, was den sozialen Organismus in gesunder Weise auf die Beine stellen konnte. Das läßt sich natürlich auch nicht aus irgendwelchen bürgerlichen Gedanken heraus finden, sondern nur dann, wenn man weder bürgerlich noch proletarisch, sondern nur menschlich denkt.

Sie können sagen, sehr verehrte Anwesende, warum schließen sich diejenigen, welche diesen Aufruf vertreten, nicht einer sozialistischen Partei an? Ich möchte mit einem sehr einfachen Hinweis antworten:

Sicherer als solches Anschließen an irgendeine Partei, deren Programme ja alle umgestaltet werden müssen, darf Ihnen heute sein, daß der­jenige, der diesen Aufruf zunächst verfaßt hat, jedenfalls einer bürger­lichen Partei und einer bürgerlichen Vereinigung niemals angehört hat, niemals angehören konnte. Dieser Aufruf beginnt zunächst mit der Be­sprechung des geistigen Lebens. Für dieses geistige Leben wird eine völlige Neugestaltung gefordert, sogar eine radikale Neugestaltung. Ich glaube nicht, daß heute jemand ohne weiteres gesund und ursprüng­lich über die Neugestaltung urteilen kann, wenn er nicht schon seit Jahrzehnten das geistige Leben so treiben mußte, wie es in der Zukunft einfach gesund betrieben werden muß. Gewiß, wenn man solche Dinge ausspricht, dann muß man etwas radikal sprechen und mancher kann dann sagen: Die Dinge sind nicht so schlimm gemeint. - Ich selbst habe niemals zum Betriebe eines geistigen Lebens in irgendeiner Abhängig­keit gelebt vom Staate oder anderen Korporationen. Ich habe mein ganzes Leben hindurch versucht, das Geistesleben nur aus sich selbst heraus zu pflegen. Das gerade soll durch den Aufruf als etwas allgemein Menschliches angestrebt werden. Denn wer so das Geistesleben pflegen mußte, wer niemals in seinen geistigen Bestrebungen abhängig sein

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wollte von irgendeinem Staat oder von etwas anderem in den abgelau­fenen bürgerlichen Institutionen, der erlebt gerade mit Bezug auf das Geistesleben gar manches, was ihm Verständnis bringt für das proleta­rische Leben der Gegenwart. Man weiß, wie schwer es war, sich heraus­zuziehen aus den Fesseln des Geisteslebens, die so viel Unheil gebracht haben - mehr als Sie selbst heute mit Ihrer sozialistischen Gesinnung glauben können - gerade in Verbreitung von Not und Elend für das leibliche und seelische Leben des Proletariats.

Denn auf den materiellen Gebieten, auf den äußerlichen Wirtschafts-gebieten teilen sich heute die Menschen in zwei Klassen: in die Klasse der Bürgerlichen, die mit dem Adel verschmolzen ist, und in die Klasse der Proletarier. Der Proletarier weiß heute, weil er klassenbewußt geworden ist, was er zu fordern hat. Er ist Proletarier. Er hatte nicht die Wahl. Er wurde durch den Wirtschaftsprozeß in das Proletariat hineingeworfen. Der geistige Arbeiter hatte unter der alten Wirtschafts­ordnung und alten Staatsordnung nicht einmal die Wahl, entweder geistiger Unternehmer zu werden oder Proletarier - Proletarier konnte man da kaum werden, wenn man nicht seinen Frieden schloß mit den herrschenden Mächten. Auf geistigem Gebiete konnte man nur sich durchwinden durch die Schwierigkeiten, die sich in der alten Ordnung ergaben, oder, wenn man den Frieden mit den Mächten schloß, wenn man mitarbeitete, wie der Proletarier mitarbeiten muß auf materiellem Gebiete, dann wurde man nicht Proletarier auf geistigem Gebiete, son­dern Kuli. Entweder man mußte als geistiger Arbeiter alles auf sich nehmen, was einen herauszog aus der alten Ordnung, oder man mußte Kuli werden, hatte es schlechter als der Proletarier, wenn man sich in das hineinbegab, was die soziale Struktur in der alten Ordnung heraus­gebildet hatte. Weil das so ist - ich will keine persönliche Bemerkung machen, sondern auf sachlichem Boden bleiben -, weil das geistige Kuli­tum so sehr Handlanger geworden ist der wirtschaftlichen und staat­lichen Mächte, daher sind wir von der einen Seite in ein solches Elend hineingekommen. Der Arbeiter kann das von sich aus nicht so mit aller Stärke übersehen, weil er eben seit dem Heraufkommen der neueren Technik und des seelenverödenden Kapitalismus in die reine Wirt­schaftsordnung hineingespannt worden ist. Derjenige, der nicht gerade

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in dieser Weise, sondern in geistiger Weise hineingespannt worden ist, der weiß, daß gerade, was zum Heile der Menschheitsentwickelung geschehen muß, das ist, daß das Geistesleben emanzipiert wird. Er weiß, daß es unmöglich ist, daß diejenigen, die die Fähigkeiten, die Begabungen der Menschheit, das was der Mensch durch seine Geburt mit auf die Welt bringt, zu pflegen haben, fernerhin nur die Diener dessen sind, was sich in der neueren Zeit als Staats- oder Wirtschafts­ordnung ausgebildet hat. Das Geistesleben zu befreien, das ist die erste Aufgabe.

Dieses Geistesleben zu befreien, dagegen wenden sich heute noch viele Vorurteile auch auf proletarischer Seite. Die Sache liegt ja so, daß dieses Geistesleben in der neueren Zeit gleichzeitig heraufgekommen ist mit der Entwickelung der modernen Technik, mit der Entwickelung des seelenverödenden Kapitalismus. Da ist auch ein neueres Geistes­leben heraufgekommen, aber ein solches Geistesleben, das nur ein Klassen-Geistesleben ist. In dieser Beziehung wurde man und wird man noch sehr schwer verstanden. Ich möchte Ihnen ein Beispiel sagen. Ich habe einmal vor jetzt zwanzig Jahren im Berliner Gewerkschafts­haus in einem Vortrag vor der Berliner Arbeiterschaft, wobei auch Bürgerliche waren, die Behauptung, die für mich eine Erkenntnis ist, aufgestellt: Nicht etwa nur, was sonst in der Welt existiert, ist ein Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern vor allen Dingen ist auch unser Wissenschaftsbetrieb ein Ergebnis der kapitalisti­schen Wirtschaftsordnung. Das haben mir dazumal auch die meisten führenden Proletarier nicht geglaubt. Sie sagten: Wissenschaft ist doch etwas, was durch sich selbst feststeht. Was wissenschaftlich festgesetzt ist, ist eben festgesetzt; da kommt nicht in Betracht, ob es proletarisch oder bürgerlich gedacht ist. - Das waren Irrtümer, die in den Köpfen der Menschen spukten, gleichgültig, ob sie proletarisch oder bürgerlich waren; denn die bürgerliche Weltanschauung wurde vom Proletariat übernommen. Und wir stehen heute vor der Notwendigkeit, nicht dieses vom Bürgertum übernommene Wissen weiter zu pflegen, sondern uns für ein freies Wissen zu entscheiden, das sich nur entwickeln kann, wenn Vorurteile überwunden werden.

Man kann zum Beispiel sagen: Wir haben uns nun glücklich dazu

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durchgerungen, die Einheitsschule anzustreben; wenn nun das Geistes­leben befreit werden und nicht Staatszwang die Kinder in die Schule führen soll, sondern jeder aus freiem Willen heraus seine Kinder in die Schule schicken kann, die er wählt, da werden doch wieder die Höher-gestellten ihre eigenen Schulen begründen. Die alte Ständeschule wird wieder auftauchen. Dieser Einwand war noch berechtigt in der alten Ordnung, aber in sehr kurzer Zeit wird er nicht mehr berechtigt sein. Die alten Stände werden nicht mehr da sein. Und was in diesem Auf­ruf für das Geistesleben gefordert wird, die Emanzipation des Geistes­lebens von der untersten Schule bis herauf zur Universität, die wird nicht gefordert als einzelne Einrichtung, sondern im Zusammenhang mit einer ganzen Neugestaltung, die es möglich machen soll, daß bis zu dem Zeitpunkte, wo der Mensch der Schule entwächst, etwas anderes existieren wird als die Einheitsschule. Die Einwände, die gegen diese Dinge gemacht werden, sind nur konservative Vorurteile. Darüber muß man hinauskommen. Wir müssen sehen lernen, daß das Geistes­leben emanzipiert werden muß, daß es freigestellt werden muß auf sich selbst, damit es nicht mehr ein Diener der Staats- und Wirtschafts­ordnung ist, sondern ein Diener dessen, was das allgemeine menschliche Bewußtsein an Geistesleben hervorbringen kann; damit das Geistes­leben nicht für eine Klasse da ist, sondern für alle Menschen gleich.

Sehr verehrte Anwesende, Sie arbeiten heute von morgens an, so weit Ihre Arbeit reicht, in der Fabrik. Sie gehen aus der Fabrik heraus und gehen höchstens vorbei an den Bildungsanstalten, die für gewisse Menschen errichtet sind. In diesen Bildungsanstalten werden die fabri­ziert, die bisher die herrschende Klasse waren, die die Regierung ge­führt haben und so weiter. Ich frage Sie: Hand aufs Herz, haben Sie eine Ahnung davon, was da drinnen getrieben wird? Wissen Sie, was da drinnen vorgeht? Nichts wissen Sie! Da zeigt sich unmittelbar an­schaulich die Scheidung der Klassen. Da ist der Abgrund. Was in dem Aufruf angestrebt wird, ist, daß alles, was auf geistigem Boden getrie­ben wird, alle angeht, und daß der geistige Arbeiter der ganzen Mensch­heit verantwortlich ist. Das können Sie nicht erreichen, wenn Sie nicht das geistige Leben befreien und auf sich stellen. Deshalb haben die Worte von Karl Marx so eingeschlagen in proletariergemüter, die

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Worte von dem Mehiwert. Der Proletarier wußte das im Kopfe selbst nicht, aber im Herzen fühlte er das richtig, und diese Herzensforde­rungen kommen heute in weltgeschichtlichen Forderungen zum Aus­druck.

Warum haben diese Forderungen so eingeschlagen? Warum? Warum ängstigt sich Walther Rathenau schon in bezug auf den Mehrwert? Aus dem Grund, weil bis jetzt der Arbeiter von dem Mehrwert nichts anderes weiß, als daß er da ist. Verwendet wird er innerhalb von Kreisen, die sich von den anderen streng abschließen. Weiß der Arbeiter heute, daß er für Dinge arbeitet, die einfach nicht zu sein brauchen in der Welt, die fruchtlose Arbeit sind, die hervorgebracht worden sind, weil das bürgerliche Leben auch auf geistigem Gebiete unzähligen Luxus gebracht hat? Die meisten Leute verstehen heute aus Gedankenlosig­keit heraus noch nicht, eine richtige Idee zu bekommen über das Ver­hältnis vom Volkswirtschaftswert der Arbeit zum Geistesleben, das doch das Führende in der Menschheit sein muß. Ich will Ihnen ein Bei­spiel sagen, das Ihnen etwas komisch vorkommen wird. Denken wir uns einmal einen Studenten, der die Universität absolvieren soll. Sie wissen, er bekommt da eine Aufgabe gestellt, eine Doktorarbeit aus­zuarbeiten über die Parenthese bei Homer. Das heißt, es gibt nämlich keine Parenthese bei Homer, aber er soll sich eine ausklügeln. Dazu braucht er eineinhalb Jahre. Dann macht er eine nach den Forderungen der heutigen Bildung und Wissenschaft vorzügliche Arbeit über die Parenthese bei Homer. - Aber jetzt fragen wir nach dem Drinnen-stehen dieser Doktorarbeit im volkswirtschaftlichen Zusammenhang. Diese Doktorarbeit, wenn sie fertig ist, fertig gedruckt ist, wird sie in eine Bibliothek hineingestellt. Wieder eine Doktorarbeit; kein Mensch schaut danach, manchmal nicht einmal der Schreiber selbst. Aber prak­tisch betrachtet, muß der junge Student essen, muß sich kleiden, muß Geld haben. Geld haben aber heißt heute: die Arbeit von so und so viel Menschen haben. Der Proletarier muß arbeiten für diese Doktor­arbeit. Er verrichtet Arbeit für etwas, woran er nicht teilhaben darf. Ein groteskes, komisches Beispiel für Unzähliges, es kann nicht nur ver­hundertfacht, es kann vertausendfacht werden. Sie müssen also zu­nächst fragen: Wie sehen die aus, die uns geistig führen sollen? Die

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kommen von den Bildungsanstalten, an denen wir selbst nicht teilneh­men dürfen. Das wird anders sein, wenn das Geistesleben emanzipiert sein wird, wenn derjenige, der Geistiges pflegt, nicht mehr die Unter­stützung einer wirtschaftlichen Korporation oder einer kapitalistischen Ordnung haben wird, nicht die Unterstützung des Staates, sondern wenn er jeden Tag wissen muß, daß das, was er leistet, Wert hat für die Menschen, weil die Menschen Vertrauen dazu haben. Auf das Ver­trauen zwischen der Menschheit und den geistigen Leitern muß das geistige Leben gestellt werden. Es kann niemand erwidern: Heute wer­den ja schon die Leute nicht immer anerkannt, wenn sie begabt sind, es gibt verkannte Talente, sogar verkannte Genies -, wie soll es da erst in der Zukunft werden, wenn die Anerkennung auf dem Vertrauen beruhen muß? - denn womit sich einer privat beschäftigt, das ist seine Sache, wir reden von dem, wie sich das Geistesleben in den sozialen Organismus hineinstellt. Da muß es sich so hineinstellen, wie ich es geschildert habe. Es muß sich frei hineinstellen. Nur dadurch, daß das Geistesleben allmählich in den letzten Jahrhunderten hineingetrieben worden ist in die Abhängigkeit von Staats- und Wirtschaftsleben, da­durch ist es geworden, was es ist. Dadurch nur war es möglich, daß zuletzt aus diesem Geistesleben herausgewachsen sind diejenigen Leute, die so gesprochen haben, wie ich es gestern erwähnte, diese Leute, denen die Führung der Menschen anvertraut war.

Sehen wir uns an diejenigen Leute, die am Ruder gestanden haben bei Ausbruch des Weltkrieges. Der Außenininister sagte zu den erleuch­teten Herrn des deutschen Reichstages, die doch etwas verstehen sollten von der Weltlage: Die allgemeine pQlitische Entspannung hat in der letzten Zeit erfreuliche Fortschritte gemacht. Wir stehen in dem besten Verhältnis zu Rußland, das Petersburger Kabinett hört nicht auf die Pressemeute. Unsere freundnachbarlichen Beziehungen mit Rußland sind auf dem besten Wege. Mit England sind aussichtsvolle Verhand­lungen angeknüpft, welche wohl in nächster Zeit zugunsten des Welt-friedens werden zum Abschlusse kommen, wie überhaupt die beiden Regierungen so stehen, daß sich die Beziehungen immer inniger und inniger gestalten werden.

Nun also, so gesprochen im Mai 1914! Zu dieser Gescheitheit, zu diesem

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Grad von Einsicht in die Verhältnisse mußte das Geistesleben führen, das in den letzten Jahrhunderten in dieser Weise gegängelt worden ist. Es gibt ja ausgezeichnete Wissenschafter, denn sie werden gut gedrillt wissenschaftlich. Aber darum handelt es sich doch, daß auch Herz und Sinn gerade durch die geistige Bildung geweckt werden für das Leben; daß man lernt, das Leben zu erkennen, daß man im Mai nicht sagt «der Weltfrieden ist gesichert» und im August dann das ein­treten kann, was zehn bis zwölf Millionen Menschen totgeschlagen und dreimal so viel zu Krüppeln geschlagen hat. Das muß eintreten in der geistigen Bildung, und das kann nur eintreten, wenn das Geistes­leben frei ist und die Leute nicht nur Wissende werden und Defini­tionen geben können über allerlei, sondern daß sie gescheit werden. Wenn sie gescheit werden, dann werden sie gerade aus diesem freien Geistesleben heraus diejenigen werden, welche helfen können in der Leitung der Betriebe, in der Leitung der Volkswirtschaft. Dann wird der Arbeiter, der unter einer solchen Leitung ist, nicht mehr sagen:

Ich muß diesen Leiter bekämpfen - sondern: Es ist gut, daß wir diesen Leiter haben, der hat etwas im Kopfe, da wird meine Arbeit die besten Früchte tragen. Wenn da ein dummer Leiter steht, werde ich lange arbeiten müssen, wenn ein gescheiter Leiter dasteht, wird die Arbeitszeit gekürzt werden können, ohne daß der volkswirtschaftliche Wohlstand unmöglich gemacht wird. - Nicht darauf kommt es an, daß wir kurz arbeiten, sondern darauf, daß, wenn wir kurz arbeiten, wir nicht bei den teuern Lebensmitteln und den teuern Wohnungen nichts haben. Am Ganzen muß begonnen werden, zu einem Neuaufbau zu kommen, nicht an einzelnen Punkten. Deshalb betone ich so stark, daß vor allen Dingen eingegriffen werden muß im Geistesleben, daß es auf eine gesunde selbständige Basis gestellt werden muß.

Nun, man hat so lange gefragt, was der Staat alles tun soll. Ja, sehen Sie, dieser Staat ist im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte für die herrschenden, führenden Klassen - und viele andere haben es ihnen nachgesagt - geradezu zu einer Art von Gott geworden. Bei vielem, was namentlich während dieses furchtbaren Krieges gesagt worden ist über den Staat, erinnert man sich an das Gespräch, das Faust mit dern sechzehnjährigen Gretchen hat. Da sagt der Faust von dem Gotte: «Der

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Allumfasser, der Allerhalter, faßt und erhält er nicht dich, mich, sich selbst?» Ja, mancher Unternehmer könnte heute oder vor kurzer Zeit so unterrichtet haben seinen Arbeitnehmer von dem Staat, daß er hätte sagen können: Hält er nicht mich, dich, sich selbst? - Er würde dann noch gedacht haben: besonders aber mich!

Ja, sehen Sie, das ist dasjenige, was wir in bezug auf diese, ich möchte sagen, Vergöttlichung des Staates lernen müssen. Denn der bür­gerlichen Bevölkerung ist ja zum großen Teil unter dem Zwange der Tatsachen sehr rasch diese Vergöttlichung entflogen. Und wenn der Staat nicht mehr der große Protektor der Unternehmungen sein wird, dann wird die Staatsbegeisterung in diesem Kreise nicht mehr da sein. Aber es muß auch dem Proletarier klarwerden, daß man den Staat nicht als Gott behandeln darf. Man spricht natürlich nicht von ihm als von «Gott», aber man hält sehr viel davon. Den alten Rahmen des Staates benützt man, das Wirtschaftsleben hineinzuleiten. Das Gesunde ist aber, wenn man nicht das Wirtschaftsleben in den Staat überleitet, sondern wenn man nur das politische Leben, das reine Rechtsleben dem Staate überträgt. Da ist er auf seinem Boden. Da besteht er zu Recht. Das Wirtschaftsleben aber muß auf eigenen Grund gestellt werden, denn es muß in ganz anderer Weise verwaltet werden als das Rechts-leben des Staates. Dann können wir nur zu einer gesunden Grundlage für den sozialen Organismus kommen, wenn wir die Dreigliederung vornehmen. Auf der einen Seite das Geistesleben, das sich selbst sein Recht verschaffen muß, das keine Daseinsberechtigung hat, wenn nicht jeder, der etwas Geistiges leistet, das vor der Menschheit täglich er­weisen muß. In der Mitte das Staatsleben, das demokratisch sein muß, so demokratisch als möglich. Da darf nichts anderes entschieden wer­den als das, was alle Menschen gleich angeht. Da muß das zur Sprache kommen, was jeden Menschen vor jedem Menschen als gleichberechtigt hinstellt. Deshalb muß man abtrennen den Staat. Wie sollen wir dar­über verhandeln, ob einer das oder jenes besser kann? Das muß ab­getrennt werden vom Staat.

Im Staate kann nur die Rede sein von dem, worin alle Menschen gleich sind. Worin sind denn alle Menschen gleich? Heute nur zwei Beispiele, das eine für den Besitz, das andere für die Arbeit. Gehen

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wir von der Arbeit aus. Da hat das Wort von Karl Marx von der «Arbeit als Ware» tief eingeschlagen in die Proletariergemüter. Warum? Weil der Proletarier, wenn er auch im Oberstübchen des Kopfes es nicht genau definieren konnte, doch fühlte, was damit gesagt war. Gesagt war damit: Deine Arbeitskraft ist Ware. Wie man Waren ver­kauft nach Angebot und Nachfrage auf dem Markte, so kauft man dir auf dem Arbeitsmarkte deine Arbeit ab und gibt dir so viel dafür, als die wirtschaftliche Konjunktur ergibt. In der letzten Zeit haben sich die Leute darauf eingelassen, daß durch Versicherungen allerlei gebessert wird. Das aber wurde wahrhaftig nicht herbeigeführt durch bürgerliche Kreise. Die hatten ja gerade in der neueren Zeit in furchtbarer Gedan­kenlosigkeit gelebt. Nun, allerdings, wir wollen ihr nicht Unrecht tun, eines hat sie geleistet: Statistiken hat sie geleistet. Eine solche Statistik, eine solche Enquìte ist zum Beispiel zustande gekommen durch die englische Regierung in den vierziger Jahren, also in der Morgenröte der sozialen Bewegung. Was hat diese Statistik ermittelt? Zunächst be­zieht sich das hauptsächlich auf die englischen Bergwerke. Da hat sich ergeben, daß da unten in den Bergwerken arbeiten - es ist etwas besser geworden, aber wahrhaftig nicht durch das Verdienst dieser Kreise -, daß da unten arbeiten neun-, elf-, dreizehnjährige Kinder, Knaben und Mädchen. Da hat sich herausgestellt, daß diese Kinder außer am Sonntag niemals das Sonnenlicht gesehen haben, weil ihre Arbeitszeit so lang war, daß sie vor Aufgang der Sonne in die Schächte geführt wurden und erst nach Untergang der Sonne zurückkamen. Es wurde ferner festgestellt, daß da unten in den Bergwerken halbnackte, oftmals schwangere Frauen mit nackten Männern zusammenarbeiteten. Oben aber, in den mit Kohlen gut geheizten Zimmern haben sich die Leute unterhalten über Nächstenliebe, Brüderlichkeit und wie die Menschen einander lieben wollen. Sehen Sie, das hat man dazumal aufgenommen in die Statistik, aber eine Lehre ist es wahrhaftig nicht geworden. Zum Nachdenken darüber hat es nicht geführt. Der einzelne braucht dabei nicht angeklagt zu werden, aber das, was die bürgerliche Gesellschafts-klasse eigentlich, wenn man so sagen kann, verschuldet hat, daß sie überall versäumt hat, im rechten Augenblick in der richtigen Weise einzugreifen!

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Im Proletariergemüt ist der Gedanke entstanden: Im Altertum gab es Sklaven, da verkaufte man den ganzen Menschen. Er wurde Eigen­tum des Besitzers, wie eine Kuh ging er in dessen Besitz über. Später kam die Leibeigenschaft. Da verkaufte man etwas weniger aber immer noch genug vom Menschen. In der neueren Zeit verkauft man die Ar­beitskraft. Aber wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft verkaufen muß, muß er ja doch mit der Arbeitskraft dorthin gehen, wo er sie verkauft. Er muß in die Fabrik gehen. Also er verkauft sich dort selbst mit der Arbeitskraft. Er kann seine Arbeitskraft nicht in die Fabrik schicken. Hinter dem Arbeitsvertrag steckt deshalb nicht viel. Erst dann ist ein Heil zu erwarten, wenn die Verfügung über die Arbeitskraft ganz her­ausgenommen ist aus dem Wirtschaftlichen, wenn aus dem Staat heraus die Entscheidung auf demokratischer Grundlage über das Maß, über die ganze Art und Weise, .wie eigentlich gearbeitet werden soll, getrof­fen wird. Bevor der Arbeiter überhaupt die Fabrik oder die Arbeits-werkstätte betritt, ist schon auf demokratischer Grundlage aus dem Staate heraus, mit seiner Stimme über seine Arbeit entschieden. Was wird dadurch erreicht? Sehen Sie, das Wirtschaftsleben ist auf der einen Seite abhängig von Naturkräften. Die können wir nur bis zu einem gewissen Grade meistern. Die greifen ein in die menschlichen Verhält­nisse. Wieviel zum Beispiel in irgendeinem Lande Weizen gedeiht, wieviel Rohstoffe unter der Erde liegen, das ist von vornherein gegeben, danach muß man sich richten. Man kann nicht sagen, man muß die Preise des einen oder des anderen so haben, wenn das der Menge der Rohstoffe widersprechen würde. Das ist die eine Grenze. Eine andere Grenze muß werden die Verwendung der menschlichen Arbeitskraft. So wie die Naturkräfte unter dem Boden für das Korn liegen und der Mensch darüber nichts vermag im Wirtschaftsleben, so muß dem Wirt­schaftsleben die Arbeitskraft geliefert werden von außerhalb. Wenn sie von innerhalb geliefert wird, wird der Lohn immer abhängig sein von der wirtschaftlichen Konjunktur. Erst wenn außerhalb des Wirt­schaftlebens, ganz unabhängig, auf rein demokratischer, staatlicher Grundlage festgestellt wird, welcher Art die Arbeit ist, wie lange die Arbeit dauern darf, dann geht der Arbeiter mit seinem Arbeitsrecht in die Arbeit hinein. Dann wird das Arbeitsrecht wie eine Naturkraft.

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Dann ist das Wirtschaftliche eingeklemmt zwischen der Natur und dem Rechtsstaat. Dann findet der Arbeiter nicht mehr im Staate, was er in den letzten drei bis vier Jahrhunderten gefunden hat. Er findet nicht mehr Klassenkampf, Klassenvorrecht, sondern Menschenrechte. Nur auf diese Weise, daß wir den Staat als ein besonderes soziales Gebilde absondern von den beiden anderen Gebieten, kommen wir zum gedeih­lichen sozialen Fortschritt, kommen wir zu einem Heil, wie es sich überhaupt für alle Menschen auf der Erde finden kann. Über diese Vorurteile, daß der Staat vom Wirtschaftsleben aus geregelt werden soll und nicht das Wirtschaftsleben von dem von ihm unabhängigen Staate, über dieses Vorurteil müssen wir hinauskommen, sonst denken wir immer verkehrt in die Zukunft hinein.

Ebenso wie mit dem Arbeitsrecht ist es mit dem Besitzrecht. Sehen Sie, zuletzt gehen eigentlich die Grundlagen alles heutigen Besitzes auf alte Eroberungen zurück, auf alte Kriegsunternehmungen; aber das hat sich umgestaltet. Volkswirtschaftlich hat der Eigentumsbegriff über­haupt keinen Sinn. Er ist eine reine Illusion. Er ist nur da zur Beruhi­gung für gewisse bürgerliche Gemüter. Volkswirtschaftlich - was be­deutet denn der Eigentumsbegriff? Er bedeutet lediglich ein Recht, nämlich das Verfügungsrecht über Sachen, über Boden, über Produk­tionsmittel. Das Verfügungsrecht muß ebenso in die Kompetenz des Staates hineingestellt werden wie das Arbeitsrecht. Das können Sie nur, wenn Sie alle wirtschaftlichen und geistigen Gewalten fortschaffen aus dem Staate heraus. Das können Sie nur, wenn Sie das Wirtschafts-leben auf der einen Seite ganz selbständig führen, auf der anderen Seite ebenso selbständig das Geistesleben, und so dem Staate nur übrig bleibt die Demokratie.

Es wird zunächst schon schwer sein, sich in diese Gedanken hinein­zufinden, aber ich bin überzeugt, daß der Proletarier es fühlen wird, wie diese Gedanken Zukunft enthalten. Innerhalb des wirtschaftlichen Lebens darf sich nichts bewegen als Ware. Heute bewegt sich darin auch Besitz, das heißt eigentlich Recht. Man kann heute auch einfach Rechte kaufen. Mit der Arbeitskraft hat man ja auch das Recht der Verfügung über die Person. Mit dem Besitz von Produktionsmitteln, von Boden kauft man das Recht, darüber zu verfügen. Rechte kauft

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man. Rechte dürfen in der Zukunft nicht mehr gekauft werden; sie müssen vom Staate, der mit Kauf und Verkauf nichts zu tun hat, ver­waltet werden, so daß jeder Mensch in der gleichen Weise teilhat an der Verwaltung. Im Kreislauf des Wirtschaftslebens wird nichts anderes zirkulieren als das, was sich darstellen läßt in Warenproduktion, Wa­renzirkulation, Warenkonsumtion. Das geht immer durch den Ver­brauch, und daher muß der ganze Wirtschaftskörper in der Zukunft auf assoziativer Grundlage erbaut sein, auf Koalitionen erbaut sein, die sich aus Berufsständen ergeben, hauptsächlich aber aus dem Hervor­brechen der notwendigen Konsumbedürfnisse. Heute werden wir ge­rade durch das Darauflosproduzieren, also weil wir von der Erzeugung des Reichtumes ausgehen, zu fortwährenden Krisen geführt, die von dem sozialen Elend der Massen bewirkt sind. Geht man aus von der Konsumtion, dann wird das Wirtschaftsleben auf eine gesunde Grund­lage gestellt. Ich habe gestern ein Beispiel angeführt, wie man, wenn auch noch mangelhaft, den Versuch machen kann, bei der geistigen Produktion so vorzugehen, daß man nicht auf unfruchtbare Arbeit rechnet. Das möchte ich Ihnen jetzt erzählen. Sehen Sie, unsere Gesell­schaft ist für viele jetzt noch vielleicht ein Greuel. Aber diese Gesell­schaft hat auf dem Gebiete der geistigen Produktion doch gleich einen Versuch gemacht mit etwas, was sich ausdehnen muß über alle anderen Zweige. Vor zwanzig Jahren ungefähr habe ich begonnen, Bücher zu schreiben. Ich bin aber nicht dabei zu Werke gegangen wie viele meiner Zeitgenossen zu Werke gehen. Sie wissen ja, viele Bücher werden ge­schrieben, wenige gelesen. Wie hätte man auch nur Zeit, alles zu lesen, was heute geschrieben wird. Aber das ist gerade auf diesem Gebiete ein wirtschaftlicher Unfug. Denken Sie sich ein Buch - das ist in aber-tausend Fällen der Fall -, ein Buch wird geschrieben. Der Schreiber des Buches muß essen. So und so viele Setzer müssen den Druck setzen. Das Papier muß fabriziert werden, so und so viele Binder müssen das Buch einbinden. Dann kommt das Buch in, sagen wir, tausend Exem­plaren heraus. Es werden vielleicht fünfzig Exemplare verkauft, die anderen neunhunderfünfzig Exemplare müssen zu Makulatur gemacht werden. Was ist denn da in Wirklichkeit geschehen? Man muß ja immer auf die Wirklichkeit sehen. Da haben so und so viele Leute, die mit der

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Hand arbeiten mußten, umsonst gearbeitet für den, der das Buch ge­schrieben hat. Sehen Sie, auf der unproduktiven, nutzlosen, in den Wind gehauenen Arbeit beruht viel von dem heutigen Elend. Was haben wir daher gemacht in unsrer Gesellschaft? Mit dem gewöhnlichen Buchhandel, der da ganz in der heutigen Wirtschaftsordnung darinnen steht, da ist nichts anzufangen. Wir haben also selbst eine Buchhand­lung begründet. Aber niemals wurde ein Buch gedruckt, bevor so viele Leute da waren, daß alle Exemplare auch verkauft werden konnten, das heißt, bevor die Bedürfnisse da waren. Das wird selbstverständlich nur erreicht durch Arbeit. Man mußte die Leute aufmerksam machen, -natürlich nicht durch eine Tafel wie zum Beispiel «Maggi's gute Suppen-würfel». Die Reklame kann ja dazu da sein, daß man die Leute auf-merksam macht: Die Ware ist da. Aber von den Bedürfnissen, der Konsumtion muß ausgegangen werden. Das kann aber nur geschehen, wenn Konsumgenossenschaflen begründet werden, wenn das Genossen­schaftswesen im wesentlichen auf einen wirtschaftlichen Boden gestellt wird. Es ist nicht notwendig, das auf politischen Boden zu stellen, wenn man Demokratie hat. Heute aber sieht es der Proletarier nicht, er überschaut es vorläufig noch nicht gut. Und da ich ehrlich sprechen will, darf ich wohl auch die letzte Frage berühren, um zu zeigen, wie der Proletarier es am eigenen Schicksal erlebt, welche furchtbaren Dinge hervorgebracht werden durch die Verschmelzung des Wirtschafts­lebens mit dem Staatsleben. Was betrachten denn zahllose Proletarier als die einzige Rettung in wirtschaftlichen Nöten, da noch immer nicht der Staat auf wirklich gesundem Boden steht, dem der Demokratie, die unabhängig ist von den Bedürfnissen des Wirtschaftslebens? Man kann zum Beispiel sagen, Arbeitsruhe muß da sein, damit das Proletariat teilnehmen kann an dem allgemein menschlichen freien Geistesleben. Der Staat muß mitten drinnen stehen zwischen Wirtschaftsleben und Geistesleben, er muß auf seinen eigenen demokratischen Boden gestellt werden. Heute sind die Sachen verquickt worden durch bürgerliche Interessen der letzten Jahrhunderte und sehr stark auch verquickt wor­den innerhalb der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Was haben zahlreiche Proletarier als letztes Ziel oftmals - wir sehen es heute, wo die Tatsachen so laut sprechen -, was haben Sie, wenn Sie

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um berechtigte Forderungen kämpfen? Ich brauche nur ein Wort aus­zusprechen, da rühre ich an etwas, woran zahlreiche Proletarier denken, aber zugleich auch an etwas, worüber sie heute noch nicht richtig fühlen können, weil sie nicht die ganzen wirtschaftlichen Konsequenzen über­schauen, - ich brauche nur das Wort «Streik» auszusprechen. Ich weiß, sehr verehrte Anwesende, wenn der Proletarier hineingestellt wäre in die Möglichkeit, sich ohne Streik zu helfen, so würde er jeden Streik ablehnen. Ich kann mir wenigstens keinen vernünftigen Proletarier denken, der den Streik um des Streiks willen irgendwie wollte. Warum ist er heute oftmals so geneigt dem Streik? Aus dem Grunde, weil unser Wirtschaftsleben mit dem Staatsieben zusammengeht. Der Streik ist eine reine Wirtschaftssache und auch nur von wirtschaftlicher Wirkung. Es soll aber erzwungen werden eine staatliche Wirkung, eine politische Wirkung oftmals audi. Das kann nur sein in einem ungesunden sozialen Organismus, in dem noch nicht die Trennung eingetreten ist zwischen Staat und Wirtschaftsleben. Derjenige, der ins Wirtschaftsleben hinein-schaut, weiß, daß es nur dann gesund sein kann, wenn niemals die Produktion unterbunden wird. Mit jedem Streik unterbinden Sie die Produktion. Wer streiken zu müssen glaubt, handelt aus Notwendig­keiten, die sich aus der Verquickung zwischen Staats- und Wirtschafts-leben gebildet haben. Das ist das große Unglück, daß wir heute zur Zerstörung des Lebens gezwungen werden durch diese unglückselige Verquickung dessen, was dreigeteilt sein soll. Es gibt keinen anderen Weg, endgültig Streik in der richtigen Weise zu vermeiden, als die staatliche Demokratie auf eigenen Boden zu stellen und es unmöglich zu machen, auf wirtschaftlichem Boden Rechte zu erkämpfen. Würde das eingesehen, ich weiß, die Leute würden sagen: Nun, wenn die Menschen endlich Vernunft annehmen, wenn sie uns nur sagen würden, daß sie auf etwas eingehen, was die sozialen Forderungen erfüllen soll, dann würden wir nicht streiken, denn wir wissen ja auch, daß nicht alles von heute auf morgen erreicht werden kann; wir wollen warten, aber wir wollen Garantien haben. - Ich habe während des Krieges, um aus der furchtbaren Misere herauszukommen, zu mancher sogenannten «Autorität» von dem Aufrufe gesprochen, ihnen den Aufruf vorgelegt. Wichtigste führende Persönlichkeiten haben den Aufruf längst. Ich

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habe ihnen gesagt: Was hier aufgestellt ist, ist nicht aus Menschenköp­fen herausgesprungen. Ich bin nicht gescheiter als andere, aber ich habe das Leben beobachtet und das hat mir gezeigt, daß in den nächsten zwanzig Jahren alle Arbeit verwendet werden muß, um diese Drei­teilung zu verwirklichen, nicht als Programm - als Menschheitsforde­rung. Sie haben die Wahl, entweder jetzt Vernunft anzunehmen und den vierzehn Punkten Wilsons dies als mitteleuropäisches Programm entgegenzustellen - wenn wir uns nicht selbst helfen, kann uns auch Wilson nicht helfen -, entweder zur internationalen Politik den Auf­ruf hinzustellen und zu sagen, was geschehen soll, wenn der Friede ein­tritt; Sie haben die Wahl, entweder Vernunft anzunehmen, oder Sie stehen vor Revolutionen und Katastrophen. Vernunft haben die Leute nicht angenommen. Hat sich das letztere erfüllt oder nicht? Das muß man heute fragen. Das ist das, was einen heute mit solcher Sorge er­füllt, daß im Grunde genommen die alte Gedankenlosigkeit heute noch vorhanden ist, daß sie nicht ersetzt wird durch fruchtbare, wirk­lichkeitsgemäße, praktische Ideen. Die Dreigliederung ist wahre Lebens-praxis. Deshalb bin ich überzeugt, es wird kommen - und wir werden sie erleben - wenn auch nur einigermaßen die Möglichkeit vorhanden ist, daß das Proletariat einsieht: Es ist zu erzwingen, daß wir in dieser Weise sozial vorwärts kommen. Dann werden die unproduktiven so­zialen Bestrebungen aufhören. Es wird gearbeitet werden durch Ver­nunft, aus proletarischen Gemütern heraus aus Vernunft, nachdem die anderen nicht aus Vernunft gearbeitet haben. Das ist es, worauf es an­kommt. Ich hätte es auch verschweigen können, hätte es vermeiden können, über den Streik zu sprechen, aber ich wollte Ihnen zeigen, daß ich alles das, wovon ich überzeugt bin, jederzeit ausspreche. Das ist es, was mir vielleicht ein Recht gibt, den Anspruch zu erheben und zu sagen: Nehmen Sie vielleicht manches, was ich gesagt habe, so hin, als ob es Ihren Anschauungen widersprechen würde; aber zweifeln Sie nicht an der ehrlichen Bestrebung, dasjenige wirklich zu erreichen, was das Proletariat erreichen will und muß.

Seit mehr als einem Jahrhundert geht durch die Menschheit die Devise: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Viele, die gescheit waren, haben im 19. Jahrhundert darüber geschrieben, wie widerspruchsvoll

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diese drei Worte seien. Sie hätten Recht. Warum? Weil diese Worte noch aufgestellt waren unter der Hypnose des Einheitsstaates. Erst wenn diese drei Worte, diese drei Impulse aufgestellt werden so, daß die Freiheit dem Geistesleben, die Gleichheit dem demokratischen Staat, die Brüderlichkeit der Assoziation des Wirtschaftslebens gehört, erhal­ten sie ihre wirkliche Bedeutung. Erfüllen muß sich im 20. Jahrhundert noch dasjenige, was am Ende des 18. Jahrhunderts noch unverstanden als die Dreigliederung durch die Menschheit pulsierte. Machen wollen wir das, was wirkliche Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit ist, aber ein­sehen müssen wir zuerst, wie notwendig ist, dasjenige, was sozialer Organismus ist, in seine drei Glieder zu teilen. Denn, wenn man ein­sieht, wie notwendig es ist und wenn man Hoffnung hat, daß innerhalb des Proletariats Verständnis erweckt werden muß für diese Dreigliede­rung, dann darf man auch den Glauben aussprechen, darf sagen: Ich glaube einmal daran, daß eine gesunde, gute, zukunftsfreudige Idee die­jenige ist, die mehr oder weniger unbewußt in der neueren proleta­rischen Bewegung ruht. Der moderne Proletarier ist klassenbewußt geworden. Dahinter versteckt sich das Menschheitsbewußtsein, das Bewußtsein, daß Menschenwürde errungen werden muß. Durch das Leben selber will sich der Proletarier in einer menschenwürdigen Weise die Frage beantworten können: Was bin ich als Mensch? Stehe ich als Mensch menschenwürdig in der menschlichen Gesellschaft darinnen? Er muß eine Gesellschaftsordnung erringen, die ihn diese Frage mit «ja» beantworten läßt. Dann werden die heutigen Forderungen abgelöst sein durch einen gesunden sozialen Organismus. Damit wird die Ar­beiterschaft erreicht haben, was sie erreichen will: Die Befreiung des Proletariats aus leiblicher und seelischer Not. Sie wird aber auch er­reichen die Befreiung der ganzen Menschheit, das heißt, die Befreiung alles desjenigen Menschlichen im Menschen, was wert ist, wirklich befreit zu werden.

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WAS UND WIE SOLL SOZIALISIERT WERDEN? Vortrag vor Arbeitern der Daimler-Werke Stuttgart-Untertürkheim, 26. April 1919

In welchem Sinne mein Thema heute von mir behandelt werden soll, Sie werden es ersehen aus dem Aufruf, welcher jedem von Ihnen in die Hand gegeben worden ist. Es wird sich heute darum handeln, das­jenige, was man in der Gegenwart Sozialisierung nennt, was wie ein weltgeschichtlicher Ruf auf der einen Seite und wie ein allgemein menschlicher Ruf auf der anderen Seite heute so mächtig und gewal­tig ertönt, einmal von einem weiteren und breiteren Gesichtskreise zu behandeln, als es gewöhnlich behandelt wird. Und zwar nicht aus dem Grunde, weil das etwas irgendeiner Vorliebe Entsprechendes wäre, sondern weil die große, gewaltige Forderung unserer Zeit nur dann in der richtigen Weise erfaßt werden kann, wenn man das, um was es sich da handelt, so weitherzig und so großzügig als möglich anfaßt.

Wenn ich vielleicht vor fünf bis sechs Jahren in derselben Art, wie ich heute zu Ihnen sprechen will, zu einer Versammlung der Arbeiter­schaft gesprochen hätte, so wären die Bedingungen der Verständigung des Redners mit seinen Zuhörern ganz andere gewesen als heute. Das ist so, es wird nur noch nicht in weitesten Kreisen gut verstanden. Sehen Sie, vor fünf bis sechs Jahren hätte eine Versammlung wie diese mir zugehört, hätte nach den sozialen Anschauungen, die sie gehabt hat, sich ein Urteil darüber gebildet, ob das eine oder andere, was der Redner sagt, von den eigenen sozialen Anschauungen vielleicht in der einen oder anderen Weise abweicht, und man hätte ihn dann abgelehnt, wenn er irgend etwas vorgebracht hätte, was mit den eigenen Anschau­ungen wenig übereinstimmte. Heute muß es auf etwas ganz anderes ankommen, denn diese fünf bis sechs Jahre sind als bedeutungsvolle, einschneidende Ereignisse enthaltende über die Menschheit hingegan­gen, und heute ist es schon notwendig, daß das Vertrauen zu jemand,

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der in bezug auf Sozialisierung etwas sagen will, nicht nur dann ein­setzt, wenn er genau dasselbe will, was man selbst will, sondern wenn er zeigt, daß er mit Bezug auf die berechtigten Forderungen der Zeit, die sich ausdrücken in der immer mehr und mehr anwachsenden prole­tarischen Bewegung, daß er für diese berechtigten Forderungen der Zeit ein ehrliches, aufrichtiges Gefühl und Wollen hat. Heute stehen wir ganz anderen Tatsachen gegenüber - die Zeit hat sich rasch ent­wickelt -, als die waren, denen wir vor fünf bis sechs Jahren gegen-überstanden. Heute muß ganz anderes ins Auge gefaßt werden als vor fünf bis sechs Jahren. Dafür sei zunächst einleitungsweise das Folgende angeführt.

Sehen Sie, angesehene, sehr gescheite sozialistische Denker, sie haben, noch kurz bevor die Herbstrevolution des Jahres 1918 in Deutschland herangekommen ist, etwa das Folgende gesagt: Wenn dieser Krieg zu Ende sein wird, dann wird die deutsche Regierung ganz anders die sozialistischen Parteien behandeln müssen, als sie sie früher behandelt hat. Dann wird sie sie hören müssen. Dann wird sie sie in ihren Rat ziehen müssen. - Nun, ich will die Sache nicht fortsetzen, wie gesagt, so sprachen angesehene sozialistische Führer. Was zeigt das? Das zeigt, daß noch kurz vor dem November 1918 diese angesehenen Sozialisten­führer gedacht haben, man habe es nach dem Krieg zu tun mit irgend­einer Regierung, die im alten Sinn da wäre, und welche nur diese sozia­listischen Persönlichkeiten auch berücksichtigen würde. Wie schnell sind die Sachen anders geworden, wie schnell ist etwas gekommen, was sich also selbst diese sozialistischen Führer nicht haben träumen lassen! Jene Art von Regierung, von der sie geglaubt haben, daß sie noch da sein werde, sie ist in den Abgrund verschwunden. Das macht aber den großen, gewaltigen Unterschied, das stellt heute Sie alle vor ganz an­dere Tatsachen. Heute sind Sie in der Lage, nicht mehr «auch Berück­sichtigung» zu suchen, sondern heute sind Sie in der Lage, mitzutun an der Neuentwickelung der sozialen Ordnung, die eintreten muß. Da tritt an Sie eine positive Forderung heran, die Forderung zu wissen, nach­zudenken darüber, was zu geschehen hat, wie wir in vernünftiger Weise vorwärts kommen können in bezug auf die Gesundung des sozialen Organismus. Da muß nunmehr eine ganz andere Sprache geredet werden

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als früher. Da handelt es sich darum, daß man vor allen Dingen den Blick zurückwirft und sich erinnert an das, was uns hineingeführt hat in die furchtbare Lage der Gegenwart; was besser werden soll, was anders werden muß. Dafür lassen Sie mich nur auch einleitungsweise einiges anführen.

Ich will Sie nicht viel mit persönlich scheinenden Bemerkungen plagen. Aber wenn man nicht ein Theoretiker ist, nicht ein abstrakter Wissenschafter ist, sondern wenn man sich, wie ich, die Anschauungen über die notwendige soziale Entwickelung in einer mehr als dreißig­jährigen Lebenserfahrung erworben hat, dann fließt in eines zusammen dasjenige, was man im allgemeinen zu sagen hat, mit dem, was man persönlich empfindet. Ich will Sie, wie gesagt, nicht mit irgendwelchen persönlichen Ausführungen besonders langweilen, aber das darf doch vielleicht einleitungsweise bemerkt werden, daß ich gezwungen war, persönlich gezwungen war, im Frühling des Jahres 1914 in einer klei­nen Versammlung in Wien - eine größere Versammlung hätte mich wahrscheinlich dazumal aus den Gründen, von denen ich gleich sprechen werde, ausgelacht - zusammenzufassen, was sich mir, ich möchte bildlich sagen, in blutiger Lebenserfahrung über die soziale Frage und soziale Bewegung an Anschauungen herausgebildet hatte. Ich mußte dazumal als Abschluß jahrzehntealter Erfahrungen, jahrzehnte­langer Beobachtung des sozialen Lebens der heutigen sogenannten zivilisierten Welt das Folgende sagen: Die in der Gegenwart herr­schenden Lebenstendenzen werden immer stärker werden, bis sie sich zuletzt in sich selber vernichten werden. Da schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt, überall, wie furchtbar die Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen aufsprießen. Das ist die große Kultur­sorge, die auftritt für denjenigen, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt und was selbst dann, wenn man allen Enthusiasmus sonst für das Erkennen der Lebensvorgänge durch die Mittel einer geist-erkennenden Wissenschaft unterdrücken könnte, einen dazu bringen müßte, von den Heilmitteln zu sprechen, die dagegen verwendet werden können -, daß man Worte darüber der Welt gleichsam entgegenschreien möchte. Wenn der soziale Organis­mus sich so weiter entwickelt, wie er es bisher getan hat, dann entstehen

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Schäden der Kultur, die für diesen Organismus dasselbe sind, was Krebsbildungen im menschlichen natürlichen Organismus sind.

Nun, wenn einer das im Frühling 1914 gesagt hat, so haben ihn die sogenannten gescheiten Leute selbstverständlich für einen Phantasten gehalten. Denn was haben die sehr gescheiten Leute, diejenigen, denen als aus der führenden Klasse die Geschicke der Menschheit anvertraut waren, was haben die denn eigentlich über dasjenige, was der Welt bevorstand, gesagt? Man muß heute ein wenig kritisch nachforschen, wie die Köpfe dieser führenden Leute beschaffen waren, sonst werden die Menschen immer wiederum einwenden, es sei nicht notwendig, eine so ernste Sprache zu führen, wie wir sie heute führen wollen. Was haben diese sogenannten führenden Persönlichkeiten damals gesagt? Hören wir uns zum Beispiel an den für die äußere deutsche Politik damals mitverantwortlichen Außenminister. In einer entscheidenden Sitzung des deutschen Reichstages, vor mehreren hundert ja auch mit Politik erleuchteten Herren, hat er etwa folgendes zu sagen gewußt über dasjenige, was bevorstand. Er sagte: Die allgemeine Entspannung in Europa macht erfreuliche Fortschritte. Mit der Petersburger Regie­rung stehen wir jeden Tag besser. Diese Regierung hört nicht hin auf die Auslassungen der Pressemeute, und wir werden unsere freundnach­barlichen Beziehungen zu Petersburg weiter so pflegen, wie wir sie bisher gepflegt haben. Mit England sind wir in Unterhandlungen, die freilich noch nicht zum Abschluß gekommen sind, die aber doch so weit gediehen sind, daß wir hoffen können, in der nächsten Zeit schon zu den allerbesten Beziehungen zu England zu kommen, die wir nur wün­schen können. -

Diese allgemeine Entspannung hat so große Fortschritte gemacht, diese Beziehungen zu Petersburg sind von der Regierung so gut ein­geleitet gewesen, diese Unterhandlungen mit England haben solche Früchte getragen, daß bald darauf die Zeit begann, in welcher, gering gerechnet, zehn bis zwölf Millionen Menschen innerhalb Europas tot­geschlagen und dreimal soviel zu Krüppeln geschlagen worden sind. Nun darf ich Sie vielleicht fragen: Wie waren der Herr und diejenigen, denen er als seiner Klasse angehörte, unterrichtet über dasjenige, was in der Welt vorging? Wie stark war ihr Verstand in der Lage, dasjenige

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einzusehen, was man braucht für die allernächste Zeit? Waren sie nicht wahrhaftig mit Blindheit geschlagen? Und kam dazu nicht noch jener furchtbare, jener scheußliche Hochmut, der jeden als einen Phantasten bezeichnete, der darauf hinwies, daß da ein soziales Krebs­geschwür ist, welches in der nächsten Zeit in einer furchtbaren Weise aufgehen werde? Solche Fragen, sie müssen heute gestellt werden. Sie müssen aus dem Grunde gestellt werden, weil zahlreiche Persönlich­keiten heute wiederum, trotz der laut sprechenden Tatsachen, so blind wie jene sind mit Bezug auf dasjenige, was heute erst im Anfange sei­ner Entwickelung steht: die Gestalt der sozialen Bewegung, welche diese mehr als ein halbes Jahrhundert schon dauernde soziale Bewegung in ihrer neueren Form seit dem Herbst des Jahres 1918 angenommen hat. Das möchte man heute bewirken, daß es Menschen gäbe - solche Menschen müssen heute in der großen Masse der proletarischen Bevöl­kerung sein -, welche in ihren Köpfen ein Bewußtsein von dem haben, was eigentlich geschehen muß.

Wer im Laufe der letzten Jahrzehnte gelernt hat, nicht nur, wie so viele, die heute über Sozialismus reden, über das Proletariat zu den­ken, wen sein Schicksal dazu gebracht hat, mit dem Proletariat zu denken und zu empfinden, der muß heute in einer viel ernsteren, in einer viel breiteren Weise über die soziale Frage denken, als viele denken. Der muß hinschauen, was diese Bewegung heute geworden ist aus ihrer Entwickelung heraus in den letzten fünf, sechs, sieben Jahrzehnten, seit Karl Marx' großer Ruf durch die Welt gegangen ist; er muß ge­wahr werden, wie die soziale Bewegung, wie die sozialen Programme heute es notwendig haben, aus dem Stadium der Kritik herauszutreten, herauszutreten auf den Boden des Schaffens, auf den Boden, auf dem man wissen kann, was zu geschehen hat zu einem Neuaufbau der menschlichen Gesellschaftsordnung, dessen Notwendigkeit eigentlich heute jeder, der nur mit wacher Seele lebt, empfinden muß.

Auf drei elementaren Lebensgebieten hat die Arbeiterschaft emp­funden, was ihr eigentlich frommt, was für sie anders werden muß in ihrer ganzen Stellung zur Welt, zur menschlichen Gesellschaft und so weiter. Aber die Verhältnisse der letzten Jahrhunderte, namentlich des neunzehnten Jahrhunderts und ganz besonders des Anfangs des zwanzigsten

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Jahrhunderts, haben bewirkt, daß, während mehr oder weni­ger unbewußt, instinktiv der Arbeiter mit dem Herzen sehr wohl fühlte, daß der Wege zu seinem Zukunftsideal drei sind, doch ge­wissermaßen das Augenmerk nur auf ein einziges Ziel hingerichtet worden ist. Die moderne bürgerliche Gesellschaftsordnung hat alles gewissermaßen auf das Gebiet des Wirtschaftlichen abgeschoben. Dem modernen Arbeiter war es nicht gestattet, nicht möglich, aus seinem Arbeitsverhältnis heraus eine ganz freie, voll bewußte Ansicht über dasjenige zu bekommen, was eigentlich notwendig ist. Er konnte, weil ihn eingespannt hat die moderne Technik, namentlich der moderne Kapitalismus, in die bloße Wirtschaftsordnung, er konnte eigentlich nur, weil das Bürgertum alles aufs Wirtschaftliche geschoben hat, glau­ben, daß sich der Untergang des Alten, der Zusammenbruch des Alten, und der zu ersehnende, zu erwirkende Aufbau auf dem wirtschaft­lichen Gebiete ausbilden müßte, auf dem Gebiete, wo er sah, daß wirkte: Kapital, menschliche Arbeitskraft und Ware. Und heute, wenn der so berechtigte Ruf nach Sozialisierung ertönt, hat man eigentlich, selbst wenn man die anderen Lebenszweige berücksichtigt, nur im Auge die wirtschaftliche Ordnung. Wie hypnotisiert, möchte ich sagen, ist der Blick hingerichtet rein auf das wirtschaftliche Leben, rein auf dasjenige, was gefaßt wird unter den Namen Kapital, Arbeitskraft und Ware, Lebensverhältnisse, materielle Leistungen. Aber tief unten im Herzen des Proletariers, wenn er es auch im Kopfoberstübchen nicht so genau weiß, da sitzt es, was ihm sagt, daß die soziale Frage eine dreigliedrige ist, daß diese neuere soziale Frage, an der er leidet, für die er einstehen will, für die er kämpfen will, eine Geistesfrage, eine Rechts- oder Staatsfrage und eine Wirtschaftsfrage ist. Deshalb gestatten Sie mir heute, daß ich diese soziale Frage, diese soziale Be­wegung als eine Geistesfrage, als eine Rechtsfrage und als eine Wirt­schaftsfrage behandle.

Sie brauchen nur auf das Wirtschaftsleben zu sehen, dann werden Sie wahrnehmen können, wenn Sie mit wachen Augen auf dieses Wirt­schaftsleben sehen, daß noch ganz anderes in Frage kommt als allein dieses Wirtschaftsleben. Wenn wir heute mit Recht nach Sozialisierung rufen, so müssen wir doch auch fragen: Ja, was soll sozialisiert werden

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und wie soll sozialisiert werden? Denn von diesen beiden Gesichts-punkten aus:

Was soll sozialisiert werden?

Wie soll sozialisiert werden?

müssen wir vor allen Dingen das wirtschaftliche Leben betrachten, wie es sich entwickelt hat in der neuesten Zeit, und wie es in unseren Tagen eigentlich, geben wir uns darüber keinen Illusionen hin, wenigstens für unsere Gegend mehr oder weniger im Zusammenbruch ist. Wir müssen nämlich heute von einem uns durchdringen können, davon, daß wir gar nicht mehr etwas lernen können von alledem, was die Leute im Sinne des Kapitalismus, im Sinne der Privatwirtschaft als das Prak­tische, als das den Menschen Angemessene angesehen haben. Wer sich heute dem Glauben hingibt, daß man weiter kommt mit Einrich­tungen, welche nur so gedacht werden, wie man bisher gedacht hat, der gibt sich wahrlich den allergrößten Illusionen hin. Aber lernen muß man von diesen Einrichtungen. Sehen Sie, das Charakteristischste, was sich im sozialen Leben seit langer Zeit, aber besonders bis heute so stark ergeben hat, das ist ja das, daß auf der einen Seite die bisher führenden Klassen stehen, gewohnt in ihrem Denken an dasjenige, was ihnen bequem war seit langer Zeit; jene führenden Klassen, welche immer wieder in ihren Wortführern und bei ihnen selbst in das Lob, ja in eine wahre Lobhudelei ausgebrochen sind über all dasjenige, was die neuere Kultur, die neuere Zivilisation so Herrliches, Großes her­vorgebracht hat. Wie konnte man immer wieder hören: Märchenhaft gegen die früheren Möglichkeiten eilt heute der Mensch über Meilen hin; blitzschnell geht der Gedanke telegraphisch oder telephonisch durch die Welt. Die äußere künstlerische, wissenschaftliche Kultur brei­tet sich in ungeahnter Weise aus. - Ich könnte dieses Loblied, das nicht ich singen will, das unzählige Menschen, die teilnehmen konnten an dieser Kultur, immer wieder gesungen haben, noch lange fortsetzen. Heute aber muß gefragt werden, ja, die Zeit frägt selbst danach: Wie war allein in wirtschaftlichem Sinne diese neue Kultur möglich? Da­durch war sie allein möglich, daß sie sich erhoben hat als Oberkultur über dem leiblichen und seelischen Elend, über der leiblichen und

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seelischen Not der breiten Masse, die nicht teilnehmen durfte an der so viel gelobten Kultur. Wäre diese breite Masse nicht gewesen, hätte die nicht gearbeitet, so hätte diese Kultur nicht sein können. Das ist es, um was es sich handelt; das ist die geschichtliche Frage von heute, die nicht überhört werden darf.

Daraus ergibt sich aber das Kennzeichen des ganzen modernen Wirt­schaftslebens. Dieses Kennzeichen besteht darin, daß heute leicht irgend­ein Anhänger, ein Angehöriger der besitzenden Klasse einen beliebten «Nachweis» liefern kann; in der letzten Zeit wird dieser Nachweis wiederum reichlicher geliefert, eine Zeitlang hat man darüber geschwie-gen, weil man, da er so töricht ist, so dumm ist, endlich nicht mehr hat der Arbeiterschaft, den wahrhaft sozial denkenden Menschen kommen dürfen mit dieser Torheit. Aber heute hört man es wieder öfter, heute, wo so viele Torheiten durch die Luft, durch die sogenannte geistige Luft gehen. Leicht ist es denjenigen, die die heutige untergehende Wirt­schaftsordnung noch vertreten wollen, zu sagen: Ja, wenn man nun wirklich alles dasjenige aufteilt, was an Kapitalrente und Besitz von Produktionsmitteln vorhanden ist, in der Aufteilung verbessert es dasjenige, was der einzelne Proletarier hat, nicht besonders. - Es ist ein törichter, dummer Einwand, weil es gar nicht auf diesen Einwand ankommt, weil es sich gar nicht um diesen Einwand handelt, weil es sich um etwas viel Gründlicheres, Größeres und Gewaltigeres handelt. Um was es sich handelt, ist dieses, daß eben diese ganze Wirtschafts-kultur, wie sie sich entwickelt hat unter der Einflußnahme der herr­schenden Klassen, eine solche geworden ist, daß ein Überschuß, ein Mehrwert nur wenige eben mit den Früchten dieser Kultur beschenken kann. Unsere ganze Wirtschaftskultur ist so, daß eben nur wenige die Früchte genießen können. Es wird auch nicht mehr hergegeben an Mehrwert, als das, was nur wenige genießen können. Wenn man das Wenige aufteilen würde für die, die auch ein Recht haben, ein men­schenwürdiges Dasein zu führen, so würde das allerdings nicht einmal im mindesten genügen. Woher kommt das?

Diese Frage muß anders gestellt werden, als sie heute sehr viele stellen. Ich möchte Ihnen nur einige Beispiele anführen, ich könnte diese Beispiele nicht verhundert-, sondern vertausendfachen; einige

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Beispiele vielleicht in Form von Fragen. Ich möchte fragen: Brauchten innerhalb der deutschen Wirtschaftskultur der letzten Jahrzehnte wirk­lich zum Beispiel alle Maschinen genau so viel Kohlen, als unbedingt nötig war für diese Maschinen? Fragen Sie einmal sachlich, und Sie werden zur Antwort bekommen, daß unsere Wirtschaftsordnung in einem solchen Chaos war, daß viele Maschinen viel mehr Kohlen in Anspruch nahmen in den letzten Jahrzehnten, als nach den technischen Fortschritten notwendig gewesen wäre. Was heißt das aber? Das heißt nichts anderes, als daß zur Produktion, zur Förderung dieser Kohlen viel mehr Menschenarbeit aufgewendet worden ist, als hätte aufgewendet werden sollen und hätte aufgewendet werden können, wenn wahrhaftig sozialökonomisches Denken vorhanden gewesen wäre. Diese menschliche Arbeitskraft wurde nutzlos verwendet, sie wurde verschwendet. Ich frage Sie: Ist es den Menschen bewußt, daß wir in den Jahren vor dem Krieg innerhalb der deutschen Wirtschaft doppelt so viel Kohlen gebraucht haben, als hätten gebraucht werden dürfen? Wir haben so viel Kohlen verschwendet, daß wir heute sagen müssen, wir hätten mit der Hälfte der Kohlenförderung ausgereicht, wenn die Menschen, welche die Technik, die Wirtschaft zu versorgen gehabt haben, auf ihrer Höhe gestanden hätten. Ich führe dieses Bei­spiel aus dem Grunde an, damit Sie sehen, daß ein Gegenpol vorhanden ist zur Luxuskultur der wenigen auf der einen Seite. Diese Luxuskultur hat es eben nicht dahin gebracht, fähige Köpfe aus sich heraus zu er­zeugen, die wirklich gewachsen gewesen wären dem neueren Wirt­schaftsleben. Dadurch ist unendlich viel Arbeitskraft verschwendet wor­den. Dadurch ist die Produktivität untergraben worden. Das sind die geheimen Ursachen, ganz sachliche Ursachen sind es, durch die wir in jene Lage hereingebracht worden sind, in der wir jetzt drinnenstehen. Daher muß man auch die soziale und die Sozialisierungsfrage in tech­nisch-sachlicher Weise lösen. Die bisherige Kultur hat nicht die Köpfe hervorgebracht, die gewachsen gewesen wären, irgendwie eine Indu­striewissenschaft zu schaffen. Es gab keine Industriewissenschaft, alles beruht auf Chaos, auf Zufällen. Vieles war überlassen der Gerissen­heit, dem Übervorteilen, dem unsinnigsten persönlichen Wettbewerb. Das aber mußte sein. Denn wäre man durch Industriewissenschaft auf

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das Sachliche eingegangen, dann wäre längst nicht mehr das heraus­gekommen, was nur eine Luxuskultur von dem Mehrwert der arbeiten­den, produzierenden Bevölkerung für einzelne wenige ergeben hat. Man muß heute die Sozialisierungsfrage in einer ganz anderen Weise anfassen, als sie viele anfassen.

Sehen Sie, es kann heute einer kommen und kann sagen: Ja, sieh mal, du bist der Ansicht, daß es künftig nicht mehr faulenzende Ren-tiers geben darf? - Jawohl, ich bin dieser Ansicht. Da wird er mir sagen, wenn er im Sinne der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung als ihr Anhänger kämpft: Aber bedenke doch nur, wenn du alle die Renten-vermögen zusammenzähist und verteilst, wie wenig das ist, wie klein das ist mit Bezug auf dasjenige, was nun all die Millionen von arbei­tenden Menschen zusammen haben. - Ich werde ihm sagen: Ich weiß ebensogut wie du, daß die Rentenvermögen nur weniges sind, aber sieh mal, eine Gegenfrage: Es ist ein ganz kleines Geschwür, das jemand an irgendeiner Körperstelle hat. Dieses Geschwür ist im Verhältnis zum ganzen Körper sehr klein. Aber kommt es auf die Größe des Geschwürs an oder darauf, daß, wenn es auftritt, es zeigt, daß der ganze Körper ungesund ist? Nicht darauf kommt es an, die Größe des Rentenver­mögens auszurechnen, nicht darauf, die Rentiers unbedingt moralisch zu verurteilen - sie können ja nichts dafür, sie haben diese Weisheit, Rentner zu sein, ererbt oder dergleichen -, sondern darauf kommt es an, daß, ebenso wie sich im natürlichen menschlichen Organismus eine Krankheit, ein Ungesundes in seiner Ganzheit zeigt, wenn ein Geschwür ausbricht, so zeigt sich das Ungesunde des sozialen Organismus, wenn in ihm überhaupt Müßiggang oder Rente möglich ist. Die Rentner sind einfach der Beweis, daß der soziale Organismus ungesund ist; sie sind der Beweis, daß alle Müßiggänger wie alle diejenigen, die nicht selber arbeiten können, zu ihrem Unterhalt die Arbeit anderer benützen.

Die Gedanken müssen einfach in ein ganz anderes Fahrwasser ge­bracht werden. Man muß sich überzeugen können davon, daß unser Wirtschaftsleben ungesund geworden ist. Und man muß jetzt die Frage stellen: Woher kommt es denn, daß innerhalb des Wirtschaftskreislau­fes Kapital, Menschenarbeit, Ware sich in einer so ungesunden Weise -namentlich für die Frage der breiten Massen der Menschheit, ob man

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als Arbeiter ein menschenwürdiges Dasein führen kann - ausgestalten? Das muß gefragt werden. Dann aber kann man nicht mehr innerhalb des bloßen Wirtschaftslebens stehenbleiben, dann wird man notwendig dazu geführt, wenn man diese Frage in all ihrer Tiefe sieht, die soziale Frage dreigliedrig zu fassen, als Geistesfrage, als Staats- oder Rechts­frage und als Wirtschaftsfrage. Deshalb müssen Sie mir schon auch ein Viertelstündchen es zugute halten, wenn ich zunächst spreche über die soziale Frage als Geistesfrage. Denn derjenige, der sich gerade mit die­ser Seite ein wenig befaßt hat, der weiß, warum wir keine Industrie-wissenschaft haben, warum wir nicht haben dasjenige, was nun wirk­lich aus den Menschenköpfen heraus eine gesunde Leitung, eine gesunde Sozialisierung unseres Wirtschaftslebens längst ergeben hat. Wenn ein Ackerboden krank ist, dann wächst darauf auch keine Frucht. Wenn das Geistesleben einer Menschheit in einem bestimmten Zeitalter nicht gesund ist, dann wächst diejenige Frucht nicht darauf, welche wachsen soll als ökonomische Wirtschaftsübersicht, als eine Möglichkeit, die ökonomische Wirtschaftsordnung so zu beherrschen, daß wirklich ein Heil für die breiten Massen daraus entstehen kann. Auf dem Boden eines kranken Geisteslebens der letzten Zeit ist entstanden all das Chaos, welches heute in unserem Wirtschaftsleben vorhanden ist. Des­halb müssen wir zuerst darauf hinschauen: Was geht denn vor da drinnen in den Gebäuden, an denen der Arbeiter höchstens vorbeigeht, wenn er etwa am Sonntag von seiner Fabrik oder Arbeitsstätte befreit über die Straße geht? Was geht denn vor in denjenigen Anstalten, wo das sogenannte höhere Geistesleben sich abspielt, von dem wiederum Befehle ausgehen, Anordnungen ausgehen für das niedere Schulwesen, für das gewöhnliche Volksschulwesen? Ich frage Sie, Hand aufs Herz, was wissen Sie eigentlich von dem, wie fabriziert werden in den Uni­versitäten, in den Gymnasien, in den Realschulen diejenigen persön­lichen Fähigkeiten, welche im Geistesleben, im Rechtsleben, im Wirt­schaftsleben die eigentlich leitenden sind? Nichts wissen Sie davon! Einiges wissen Sie von dem, was Ihren Kindern in der Schule gelehrt wird, aber auch da wissen Sie nicht, welche Absichten, welche Ziele für diesen Schulunterricht aus den höheren Unterrichtsanstalten in die ge­wöhnlichen Schulen herunterfließen. Welche Wege die auf dem Boden

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des Geisteslebens aufwachsenden Leute die Menschen führen, davon hat die breite Masse des Proletariats im Grunde genommen keine Ahnung. Und das ist mitgehörend zu dem, was den Abgrund, die tiefe Kluft macht: auf der einen Seite das Proletariat, auf der anderen Seite die anderen. Was ist denn zur Besserung geschehen im Laufe der neueren Zeit? Weil es nicht anders ging, als der Demokratie gewisse Verbeu­gungen zu machen, hat man einige Brocken in allen möglichen Formen von der sogenannten neueren Bildung an das Volk abgegeben; Volks­hochschulen wurden errichtet, Volkskurse abgehalten, Künstlerisches dem Volke gezeigt, so wohlwollend: Es soll auch das Volk etwas haben davon. Was man damit erreicht hat, mit alledem, was ist es denn eigentlich? Nichts ist es, als eine furchtbare Kulturlüge. Es hat alles das die Kluft nur noch bedeutsamer aufgerichtet. Denn wann könnte denn der Proletarier mit einem aufrechten, ehrlichen Empfinden aus dem ganzen Herzen, aus der ganzen Seele heraus hinschauen auf das, was innerhalb der bürgerlichen Klasse gemalt, auf dasjenige, was innerhalb der bürgerlichen Klasse als Wissenschaft fabriziert wird, wie könnte er darauf hinschauen? Wenn er mit denjenigen, die es hervorbringen, ein gemeinsames soziales Leben hätte, wenn kein Klassenunterschied be­stünde! Denn es ist unmöglich, ein gemeinsames Geistesleben zu haben mit denjenigen, zu denen man nicht sozial gehört. Das ist es, was geistig vor allen Dingen die große Kluft gezogen hat. Das ist es, was einen geistig hinweist auf dasjenige, was zu geschehen hat.

Sehr verehrte Anwesende! Es soll wahrhaftig, wie schon gesagt, nicht viel Persönliches von mir gebracht werden, aber das, was ich zu Ihnen hier spreche, das spricht zu Ihnen jemand, der seine sechs Lebens-jahrzehnte so zugebracht hat, daß er sich möglichst, und später immer mehr und mehr, ganz ferne gehalten hat in seinem geistigen Streben von denjenigen, die in geistigem Streben gestützt werden vom Staate oder vom modernen Wirtschaftsleben. Nur dann konnte man ein wirk­lich auf sich gebautes Geistesleben, ein gesundes Urteil sich bilden, wenn man sich unabhängig gemacht hat von alledem, was mit dem modernen Staat, mit dem modernen Wirtschaftsleben in geistiger Beziehung zu­sammenhängt. Denn sehen Sie, Sie zählen sich zum Proletariat, Sie können sich dazu zählen, Sie können sich mit Stolz einen Proletarier

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nennen gegenüber dem Beamten, der einer anderen Gesellschaftsord­nung angehört. So ist es auf dem Gebiet der materiellen Welt. Sie wissen, was der Proletarier gegenüber dem Beamten in der Welt durch­zumachen hat. Aber auf dem geistigen Gebiete, da gibt es im Grunde genommen keine richtigen Proletarier; da gibt es nur diejenigen, die Ihnen offen gestehen: Hätte ich mich jemals gebeugt unter das Joch eines Staates, einer Kapitalistengruppe, ich könnte heute nicht vor Ihnen stehen und Ihnen dasjenige sagen, was ich Ihnen sage über die modernen sozialen Ideen, denn in meinen Kopf wäre dann das nicht hereingegangen. - Das können nur eben diejenigen sagen, die sich frei­gehalten haben vom Staat und von der kapitalistischen Wirtschaftsord­nung, die sich ihr Geistesleben selbst aufgebaut haben. Die anderen aber, sie sind nicht Proletarier, sie sind Kulis. Das ist es, daß heute der Begriff des Geisteskuli, der im Geiste abhängig ist von dem gegenwär­tigen Staat und der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, daß der im Geistigen die Leitung und damit auch im Grunde genommen wirtschaft­lich und staatlich die Leitung in der Hand hat. Das ist es, was sich aus der kapitalistischen bürgerlichen Wirtschaftsordnung im Lauf der letz­ten Jahrhunderte herausgebildet hat, was den Staat dazu gebracht hat, ein Diener zu sein der bürgerlichen Wirtschaftsordnung, was das Gei­stesleben wiederum dazu gebracht hat, dem Staate sich zu unterwerfen.

Die Aufgeklärten, die nach ihrer Meinung Aufgeklärten, die sehr ge­scheiten Leute, sie sind stolz, wenn sie heute sagen können: Im Mittel-alter, nun ja, da war es so, daß die Philosophie - so nannte man dazu­mal die gesamte Wissenschaft - der Theologie die Schleppe nachgetragen hat. Wir wollen diese Zeit nicht zurückwünschen selbstverständlich, ich will gewiß nicht das Mittelalter zurückrufen, aber was ist denn im Laufe der neuzeitlichen Entwickelung geworden? Der Theologie trägt ja heute, weil er sehr stolz geworden ist, der Wissenschafter nicht mehr die Schleppe nach, aber mit Rücksicht auf den Staat, was tut er denn da? Nun, dafür ein krasses Beispiel: Sehen Sie, es gibt einen modernen großen Physiologen, er ist jetzt schon tot, er war auch die Leuchte der Berliner Akademie der Wissenschaften. Ich schätze ihn sehr als Natur-forscher. So wie Shakespeare einmal sagte: «Ehrenwerte Leute sind sie alle», so möchte ich sagen: Gescheite Leute sind sie alle, alle, alle. -

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Aber dieser Mann, er hat etwas verraten von dem, was gerade dieses moderne Geistesleben charakterisiert. Er sagte nämlich - man sollte es nicht glauben, aber es ist doch wahr -, die Gelehrten der Berliner Aka­demie der Wissenschaften fühlten sich als die wissenschaftliche Schutz­truppe der Hohenzollern. - Ja, sehen Sie, wiederum ein Beispiel, das sich leicht verhundertfachen, vertausendfachen ließe.

Nun frage ich Sie: Ist es zu verwundern, daß der moderne Prole­tarier, wenn er hinschaute auf dieses Geistesleben, dieses Geistesleben empfand als ein Luxusgeistesleben? Ist es zu verwundern, wenn er sich sagt: Dieses Geistesleben, das wurzelt nicht in einem besonderen Geist, das trägt die menschliche Seele wahrhaftig nicht, das verrät auch nicht, daß es der Ausfluß ist einer göttlichen oder moralischen Weltordnung. Nein, es ist die Folge des Wirtschaftslebens. Wie die Leute ihr Kapital einheimsen, so leben sie geistig. Das macht ihnen ihr Geistesleben mög­lich. Deshalb konnte auch im modernen Proletariat nicht aufkommen eine wirklich freie Anschauung über ein Geistesleben, das die Seele wahrhaftig trägt. Aber ich weiß aus jahrzehntelanger Erfahrung: In dem modernen Proletarier lebt die tiefe Sehnsucht nach einem wahren Geistesleben, nicht nach einem solchen Geistesleben, welches haltmacht an der bürgerlichen Grenze, sondern welches hineinträufelt in die Seelen aller Menschen. Deshalb steht in dem Aufruf, über den zu sprechen mir heute Gebot ist, daß dieses Geistesleben in der Zukunft auf sich selbst gestellt sein muß, und nicht nur die letzten Reste des Geistes­lebens, der Kunst und dergleichen, enthält, die noch geblieben sind. In Berlin hat man auch diese schon stark in die Staatsallmacht einbeziehen wollen.

Das ganze Geistesleben, vom niedersten Schulwesen bis hinauf zum höchsten Schulwesen, muß auf sich selbst gestellt sein, denn der Geist gedeiht nur, wenn er jeden Tag aufs neue seine Wirklichkeit und Kraft zu beweisen hat. Der Geist gedeiht nimmermehr, wenn er abhängig ist vom Staate, wenn er der Kuli des Staates, des Wirtschaftslebens ist. Was auf diesem Gebiete geworden ist, das hat die Menschenköpfe ge­lähmt. Ach, wenn wir heute hinschauen auf die herrschenden Klassen, wenn wir, die wir verstehen wollen den Ruf nach Sozialisierung, hin­schauen nach denen, die heute die Fabriken leiten, nach denen, die die

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Werkstätten leiten, die die Schulen, die Universitäten leiten, die Staa­ten leiten - ach, es jammert einen in der Seele -, es fällt ihnen ja nichts ein, es geht in ihre Köpfe der ganze Ernst der Lage nicht hinein. Warum denn nicht? Ja, woran sind denn die Menschen allmählich gewöhnt wor­den gegenüber dem Wirtschaftsleben, dem Rechts- oder Staatsleben, und gegenüber dem Geistesleben? Der Staat übernimmt gewissermaßen, wenn der Mensch nur über die ersten Erziehungsjahre hinaus ist - die der Staat noch nicht übernommen hat, weil ihm die ersten Erziehungs-jahre des Menschen zu unreinlich verlaufen -, mit seiner Schule den Menschen. Er erzieht ihn dann so, daß dieser Mensch nur zu vollbringen braucht - so war es bis zur großen Kriegskatastrophe über die ganze zivilisierte Welt - dasjenige, was ihm befohlen wird, was ihm angeord­net wird, was der Staat von seinen Theologen, von seinen Medizinern -denn so hat es sich gerade während des Krieges herausgestellt -, na­mentlich auch von den Juristen, von den Philologen, eigentlich will. Ist einmal ein Gescheiter darunter, in den Prüfungskommissionen, dann hört man von ihnen schon einmal ein gescheites Wort. Ich saß einmal zusammen mit den Herren einer Prüfungskommission, und als wir so sprachen, wie schlimm es doch eigentlich mit unserem Gymnasialwesen beschaffen ist, da sagte er: Ja, es jammert einen auch, wenn man so die Leute prüfen muß und sieht dann, welche Kamele man loslassen muß auf die Jugend.

Ich erzähle Ihnen das als kulturhistorische Tatsache, als Symptom, damit hingewiesen wird auf dasjenige, was unter den Menschen lebt, die die Welt geleitet haben, denen in gewisser Weise die Führung der Menschen anvertraut war und warum die Menschen die Welt endlich in diese furchtbare Katastrophe hineingebracht haben. Aus Millionen von Einzelheiten setzen sich die Ursachen zusammen, die die Menschheit in diese Katastrophe hineingebracht haben. Und unter diesen Ursachen ist vorzugsweise diese soziale Erscheinung des Geisteslebens, und weil man heute an Sozialisierung denkt, so kommt es vor allen Dingen auf die Sozialisierung des Geisteslebens an. Darauf kommt es an, daß man in der richtigen Weise die menschlichen Begabungen und Fähigkeiten pflegt, wie auf dem Acker dasjenige, was auf dem Acker wachsen soll, gepflegt wird. Das ist bisher nicht geschehen. Der Staat übernahm den

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Menschen, dressierte ihn für seinen Gebrauch, da wurde alle Aktivität, alles Aufsichgestelltsein den Menschen ausgetrieben. Der Mensch hatte schließlich gegenüber dem Wirtschaftsleben, gegenüber dem Geistes­leben aus dem Rechtsleben des Staates heraus nur ein Ideal: Wirtschaf­ten. Der Staat hatte ihn übernommen, er hat ihn für sich ausgebildet. Nun beginnt, wenn der Mensch gut dressiert ist, das staatliche Wirt­schaftsleben für ihn. Da war er versorgt; dann war er brav, auch wenn er nicht mehr arbeiten wollte, bis zu seinem Tode versorgt in Form einer Pension, das heißt durch die Arbeit derjenigen, die keine Pension hatten. Und wenn er dann gestorben war, dann sorgte die Kirche für die Sache nach dem Tode. Die gab ihm die Pension für nach dem Tode. So war der Mensch wirtschaftlich bis zum Tode versorgt, wenn er den herrschenden Klassen angehörte, und im Grabe wurde er auch pen­sioniert nach dem Tode. Alles war für ihn in Ordnung, er brauchte nicht mehr selber zu denken oder einzugreifen so in die soziale Ord­nung, daß daraus etwas Gedeihliches entstehen konnte; er brauchte sich nicht aktiv zu beteiligen. Daher ist es so geworden, daß man nach und nach nicht mehr in der Lage war, nachzudenken über das, was ge­schehen soll, nachzudenken über das, was als eine Art von Neuent­wickelung in die Welt treten soll. Diejenigen, die ausgeschlossen waren von alledem, denen der Staat nicht einmal die geringe Versicherungs­rente bis zum Tode bewilligt hätte, wenn sie sie nicht erzwungen hät­ten, und denen die herrschenden Klassen auch kein Geistesleben über­liefert haben, denn dieses Geistesleben, das ihnen ein Patent gab für die Seele nach dem Tode, das wollten die Proletarier nicht annehmen, die verlangen die Neugestaltung. Daher haben wir als erste Forderung gerade die nach einer Emanzipation des Geisteslebens, nach einer Neu­gestaltung des Geisteslebens. Das ist die erste Frage, auf die es an­kommt.

Die zweite Frage, wir finden sie, wenn wir unsern Blick werfen auf das Rechtsgebiet, auf dasjenige Gebiet, welches dem eigentlichen Staat angehören soll. Allein, wir finden uns auf diesem Gebiet in der rechten Art heute nur verständnisvoll zusammen, wenn wir gerade von ihm aus auf das Wirtschaftsgebiet sehen. Was ist denn da eigentlich im Wirt­schaftsgebiet? Im Wirtschaftsgebiet ist Warenproduktion, Warenzirkulation,

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Warenkonsum. Die Waren haben gewisse Werte, die sich im Preis zum Ausdruck bringen. Aber durch die wirtschaftliche Entwicke­lung der neueren Zeit in ihrer Verknüpfung mit der staatlichen Ent­wickelung hat das Bürgertum hineingeschoben in das Wirtschaftsleben etwas, wovon heute der Proletarier in der allerberechtigtsten Weise fordert: es darf das nicht weiter in dem Wirtschaftsleben drinnen sein, und das ist die menschliche Arbeitskraft. Gerade so, wie es eingeschlagen hat in die Seelen der proletarisch Empfindenden, als Karl Marx das bedeutsame Wort vom Mehrwert ausgesprochen hat, so schlug das andere Wort in die Seelen der Proletarier ein, daß in unberechtigter Art die Arbeitskraft des Menschen zur Ware geworden ist in der mo­dernen Wirtschaftsordnung. Hier fühlt der Proletarier: So lange meine Arbeitskraft gekauft und verkauft werden muß auf dem Arbeitsmarkt, wie nach Angebot und Nachfrage Ware auf dem Warenmarkt, so lange kann ich mir die Frage: Führe ich ein menschenwürdiges Dasein? nicht mit Ja beantworten. - Was kennt im Grunde genommen von dem Gei­stesleben der moderne Proletarier? Trotz aller Volksunterhaltungen, trotz aller Führung in die Galerien und so weiter, er kennt nur das­jenige, was er den Mehrwert nennt. Mehrwert, das heißt dasjenige, was er liefern muß für ein Geistesleben, das nicht das seinige werden kann; das kennt er vom Geistesleben. Deshalb schlug das Wort vom Mehrwert so verständnisvoll in die Proletariergemüter hinein. Es kamen entgegen diesem Wort vom Mehrwert die Empfindungen des modernen Proletariers, als es bei Karl Marx ausgesprochen wurde. Und weil nim­mermehr die menschliche Arbeitskraft Ware sein darf, deshalb schlug wie ein Blitz das andere Wort von Marx von der «Arbeitskraft als Ware» wie eine tiefe Wahrheit in die Herzen und Gemüter der Prole­tarier ein.

Wer das menschliche Leben wirklich durchschaut, der weiß, daß dem, was ich eben gesagt habe, daß im modernen Wirtschaftskreis­lauf sich drinnen befindet unrechtmäßig die menschliche Arbeitskraft des Proletariers wie eine Ware, daß dem zugrunde liegt wiederum eine ungeheure Lebenslüge. Denn menschliche Arbeitskraft ist etwas, was sich niemals durch irgendeinen Preis vergleichen läßt mit einer Ware, mit einer Hervorbringung. Das kann man sogar ganz gründlich be­weisen.

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Ich weiß, die Vorträge, die ich jetzt halte in dieser Weise -gerade bei den führenden Klassen wird mir immer wieder und wie­derum direkt oder indirekt gesagt, sie seien schwer verständlich. Nun, jüngst hat mir ein Mensch gesagt: Sie sind halt schwer verständlich für diejenigen, welche sie nicht verstehen wollen. - Und als ich neulich in Dornach vor einer Proletarierversammlung ungefähr den Vortrag ge­halten habe, den ich Ihnen heute halte, da sagte auch jemand von der Sorte derjenigen Leute, die diese Worte so schwer verständlich finden, er hätte sie doch nicht richtig verstanden. Da antwortete ihm ein Prole­tarier: Na, da muß man ja ein Kalb sein, wenn man das nicht versteht. -Also ich fürchte diese Schwerverständlichkeit nicht, denn ich war jahre­lang Lehrer der von Wilhelm Liebknecht gegründeten Arbeiterbil­dungsschule und weiß, daß der Proletarier manches von dem versteht, was der Bürgerliche ganz unverständlich findet. Ich fürchte nicht, daß Sie mich nicht verstehen werden, wenn ich Ihnen sage: Alle Tendenzen, alle Ziele des Wirtschaftslebens gehen darauf hin, Ware zu verbrau­chen. Darum, daß in gesunder Weise die Ware verbraucht werde, darum handelt es sich. Was nicht aufgebraucht werden kann, das wird in un­gesunder Weise produziert. In irgendeiner Weise muß die Ware ver­braucht werden können. Wird aber durch die kapitalistische Wirt­schaftsordnung Menschenkraft, menschliche Arbeitskraft zur Ware gemacht, so geht derjenige, der sie zur Ware macht, nur darauf aus, sie zu verbrauchen. Menschliche Arbeitskraft darf aber nicht bloß ver­braucht werden, daher brauchen wir eine Wirtschaftsordnung, daher brauchen wir vor allen Dingen eine solche Sozialisierung, welche nicht nur die Arbeitszeit bestimmt, sondern welche vor allen Dingen be­stimmt auch die Zeit der Arbeitsruhe, denn diese muß da sein, wenn ein gemeinschaifliches soziales Leben da sein soll. Das ist das, was zeigt, daß eine Gesundung erst eintreten kann, wenn die leitenden Kreise der Gesellschaft, die dann berechtigt-leitenden Kreise der Gesellschaft ein ebenso großes Interesse daran haben, daß der Arbeiter seine Ruhezeit hat, wie die heutigen Kapitalisten ein Interesse daran haben, daß der Arbeiter seine Arbeitszeit hat.

Deshalb sage ich Ihnen: Niemals kann verglichen werden mensch­liche Arbeitskraft nach dem Preise mit irgendeiner Ware. Daher ist das

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Kaufen der menschlichen Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte - Sie ver­stehen, was das heißt - eine große soziale Lebenslüge, die ausgemerzt werden muß. Wie kommen wir dazu, die menschliche Arbeitskraft des Charakters der Ware zu entkleiden? Das ist eine große soziale Frage.

Die erste Frage war die Geistesfrage. Die zweite ist eine große soziale

Frage: Wie gelangt der moderne Arbeiter dazu, seine Arbeitskraft des Charakters der Ware zu entkleiden? Denn was empfindet der moderne Proletarier bei der heutigen wirtschaftlichen Verwendung seiner Ar­beitskraft? Er mag, weil er nicht immer Zeit hat, sich alles klarzu­machen, was er empfindet, was er im Herzen durchmacht, er kann sich vielleicht nicht in klaren Begriffen ausdrücken über diese Verhältnisse, aber er sagt sich: Im Altertum gab es Sklaven, da kauften und ver­kauften die Kapitalisten den Menschen, wie man eine Kuh kauft und verkauft, den ganzen Menschen. Später gab es eine Leibeigenschaft; da verkaufte man nicht mehr den ganzen Menschen, sondern nur einen Teil von dem Menschen, aber immerhin noch genug. Gegenwärtig, trotz aller Versicherung von Freiheit und Humanität, trotz des sogenannten Arbeitsvertrages, weiß der Proletarier sehr gut, daß jetzt noch immer gekauft und verkauft wird seine Arbeitskraft. Das weiß er. Darüber täuscht ihn der sogenannte Arbeitsvertrag keineswegs hinweg. Aber er fühlt im Innern seiner Seele, im Innern seines Gemütes: Ein Pferd, ein Paar Stiefel kann ich auf dem Markt verkaufen und dann wieder zu­rückgehen. Aber meine Arbeitskraft, die kann ich nicht hintragen und dem Fabrikanten verkaufen und dann wieder zurückgehen; ich muß mitgehen als Mensch mit meiner Arbeitskraft. Daher verkaufe ich doch noch meinen ganzen Menschen, wenn ich im Lohnverhältnis stehen muß, wenn ich meine Arbeitskraft verkaufen muß. So empfindet der moderne Proletarier den Zusammenhang des wahren Charakters seiner Arbeitskraft mit dem alten Sklaventum. Deshalb empfindet er es, was leider die führenden Klassen zu begreifen im rechten Moment verpaßt haben: daß heute der weltgeschichtliche Moment eingetreten ist, wo die Arbeitskraft ferner nicht mehr Ware sein darf. Das Wirtschaftsleben darf in sich nur den Kreislauf haben von Warenproduktion, Waren-konsumtion, Warenverkehr.

Nur Leute, die im alten Sinn nur denken können, wie zum Beispiel

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Walther Rathenau in semem jüngsten Büchelchen, das den Titel führt «Nach der Flut», die zeigen eine gewisse Angst vor dieser Erkenntnis. Walther Rathenau sagt: Wenn man die Arbeitskraft loslöst vom Wirt­schaftskreislauf, dann muß ja der Wert des Geldes furchtbar sinken. -Nun ja, er betrachtet das nur ganz einseitig. Für diejenigen, die mit ihm denken, wird dieses Sinken des Geldwertes ja allerdings eine große Bedeutung haben. Davon wollen wir uns nicht weiter unterhalten. Die Sache ist diese, daß das Wirtschaftsleben selbst nur in richtiger Weise betrachtet werden kann, wenn man sieht, wie dieses Wirtschaftsleben angrenzt auf der einen Seite an die Naturbedingungen des Wirtschafts­lebens. Da ist der Boden, er bringt Kohlen, er bringt Weizen hervor. Im Boden drinnen sind zum Beispiel die Naturkräfte, die eben dem Boden angehören, die den Weizen hervorbringen. Von oben geht der Regen herunter, der notwendig ist. Das sind Naturbedingungen. Man kann ihnen etwas mit technischen Hilfsmitteln beikommen, aber das Wirtschaftsleben hat doch da eine Grenze. Wie furchtbar töricht wäre es, wenn jemand aus wirtschaftlichen Konjunkturen heraus ein Gesetz geben wollte, in dem drinnen stände: Wenn wir vernünftige Preise, vernünftige wirtschaftliche Verhältnisse haben wollen, so brauchen wir im Jahre 1920 ein Jahr, in dem es so und so viele Regentage gibt und so und so viele Sonnentage, so und so müssen die Kräfte unter dem Bo­den wirken. - Sie lachen mit Recht. Der wäre sehr töricht, der Gesetze geben wollte über dasjenige, was die Natur selber bestimmt, der aus dem Wirtschaftsleben heraus die Anforderungen erfinden wollte, wie die Natur mit ihren Kräften wirken solle. So wie wir da mit dem Wirt­schaftsleben an eine Grenze kommen, wie der Boden eines bestimmten Landes nur eine gewisse Summe von Rohmaterialien liefern kann, so muß auf der anderen Seite das Wirtschaftsleben grenzen an dasjenige, was außerhalb dieses Wirtschaftslebens steht, an das Rechtsstaats­leben. Und in dem Rechtsstaatsleben darf nur dasjenige festgelegt und geregelt werden, worin alle Menschen gleich sind, was wirklich auf den Boden der Demokratie gestellt werden kann. So kommen wir zu einer Dreigliederung des gesunden sozialen Organismus.

Das Geistesleben steht auf sich selbst, das Geistesleben muß ein freies sein. Da drinnen müssen die Begabung, die menschlichen Fähigkeiten

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in der richtigen Weise gepflegt werden. Ein Staatsmann, der manchen Kohl geredet hat während der furchtbaren Kriegskatastrophe, hat auch gesagt: Künftig freie Bahn dem Tüchtigen! - Auf schöne Phrasen, auf Redensarten, die bloß dem Worte nach wahr sind, kommt es in dieser ernsten Zeit nicht mehr an. Wenn die Leute zwar sagen «Freie Bahn dem Tüchtigen», sie aber durch das Blut, durch soziale Vorurteile doch dazu veranlagt sind, Neffe oder Geschwi­sterkind für den Tüchtigsten zu halten, so ist mit einer solchen großartigen Devise nicht außerordentlich viel getan. Ernst gemacht werden muß im freien Geistesleben mit der Pflege der menschlichen Begabung, dann werden wir das Geistesleben sozialisieren. Dem Staat gehört alles dasjenige, worin alle Menschen gleich sind, wofür beson­dere Begabungen nicht in Betracht kommen, wofür das in Betracht kommt, das dem Menschen eingeboren ist, wie ihm eingeboren ist im gesunden Auge die Fähigkeit, blau oder rot zu sehen. Für den Staat kommt in Betracht das Rechtsbewußtsein. Dieses Rechtsbewußt­sein, es kann in der Seele schlafen, aber es ist in das Herz eines jeden Menschen gelegt. Der Proletarier suchte die Auslebung dieses Rechts-bewußtseins. Was fand er? Wie er auf dem Gebiete des Geisteslebens den Geistesluxus fand, der wie ein Rauch war, der aus dem Wirt­schaftsleben hervorquoll, so fand er auf dem Gebiete des Staates nicht die Auslebung des Rechtsbewußtseins, sondern Standesvorrrechte, Klassenvorrechte und Klassenbenachteiligungen. Da haben Sie die Wur­zel des antisozialen Lebenselementes der neueren Zeit. Dem Staat ge­hört alles dasjenige, worin alle Menschen gleich sind. Gleich sind sie nicht in bezug auf geistige und physische Fähigkeiten und Geschicklich­keiten. Die gehören zur Pflege dem freien Geistesleben. Der Staat wird erst dann etwas Gesundes sein, wenn er nicht im Sinne der modernen bürgerlichen Ordnung, man könnte auch sagen, der eben ihrem Nieder­gang entgegengehenden bürgerlichen Ordnung, aufsaugt das Geistes­leben und das Wirtschaftsleben, sondern wenn er auf der einen Seite das Geistesleben, auf der andern Seite das Wirtschaftsleben für deren eigene Sozialisierung freigibt. Das ist das, um was es sich handelt. Dann wird es möglich sein, daß der Arbeiter, als gleicher allen Menschen im Ge­biete des Staates gegenüberstehend, regelt Maß und Art und Charak­ter

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seiner Arbeitskraft, bevor er sich überhaupt in das Wirtschaftsleben zu stürzen hat. Es muß in Zukunft so unmöglich sein, daß durch wirt­schaftliche Konjunktur, durch die wirtschaftlichen Zwangsverhältnisse etwas über das Arbeitsrecht bestimmt wird, wie es einfach durch Na­turverhältnisse unmöglich ist, daß aus dem wirtschaftlichen Kreislauf oder aus sonstigem heraus die Naturkräfte, Regen und Sonnenschein, geregelt werden. Unabhängig vom Wirtschaftsleben muß staatlich fest­gestellt werden auf demokratischem Boden, wo ein Mensch dem andern gleich ist, in dem vom Wirtschaftsleben ganz abgesonderten Staat, was Arbeitsrecht ist, und was dasjenige ist, was diesem Arbeitsrecht ent­gegensteht, was Verfügung über eine Sache ist, was man heute Besitz nennt, was aber im weitestgehenden Umfang aufhören muß und einem Gesunden weichen muß in Zukunft. Wenn nicht das Wirtschaftsleben bestimmt die Arbeitskraft, sondern wenn umgekehrt das Wirtschafts­leben sich richten muß nach dem, was der Arbeiter aus sich selber her­aus in der staatlichen Demokratie über seine Arbeit bestimmt, dann ist eine wichtige Forderung erfüllt.

Nun ja, man wird einwenden können: Dann wird das Wirtschafts­leben abhängig von dem Gesetz und Recht über Arbeitskraft. Sehr wohl, aber das wird eine gesunde Abhängigkeit sein, eine ebenso natur­gemäße Abhängigkeit sein, wie die Abhängigkeit von der Natur. Der Arbeiter wird, bevor er in die Fabrik geht, wissen, wieviel und wie lange er zu arbeiten hat; er wird überhaupt gar nichts mehr zu regeln haben mit irgendeinem Arbeitsleiter über das Maß und die Art seiner Arbeit. Er wird nur zu reden haben über dasjenige, was als Verteilung zu existieren hat des gemeinsam mit dem Arbeitsleiter Hervorgebrach­ten. Das wird ein möglicher Arbeitsvertrag sein. Es wird Verträge geben bloß über die Verteilung des Geleisteten, nicht über die Arbeits­kraft. Das ist nicht ein Zurückkehren zum alten Stücklohn; das wäre nur so, wenn dieser Prozeß der Sozialisierung nicht im ganzen Großen drinnen gedacht würde.

Uber etwas kann ich noch kurz sprechen, was dem Arbeitsrecht, das den Arbeiter frei machen wird, entgegensteht. Der gewöhnliche Sozialis­mus spricht sehr viel davon, daß das Privateigentum in die Gemeinsam­keit übergehen soll. Aber die große Frage dieser Sozialisierung wird ja

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eben das Wie sein. In unserer heutigen Wirtschaftsordnung haben wir nur auf einem Gebiete ein bißchen gesundes Denken mit Bezug auf das Eigentum. Das ist auf demjenigen Gebiet, das der modernen bürger­lichen Phraseologie, der modernen bürgerlichen Unwahrhaftigkeit innerlich doch nach und nach das unbedeutendste Eigentum geworden ist, es ist nämlich das geistige Eigentum. In bezug auf dieses geistige Eigentum, sehen Sie, denken die Leute doch noch ein bißchen gesund. Sie sagen sich da: Mag einer ein noch so gescheiter Kerl sein, er bringt sich mit der Geburt seine Fähigkeiten mit, aber das hat keine soziale Bedeutung, im Gegenteil, das ist er verpflichtet der menschlichen Ge­sellschaft darzubringen, mit diesen Fähigkeiten wäre es nichts, wenn der Mensch nicht drinnenstehen würde in der menschlichen Gesell­schaft. Der Mensch verdankt, was er aus seinen Fähigkeiten schaffen kann, der menschlichen Sozietät, der menschlichen sozialen Ord­nung. Es gehört einem in Wahrheit nicht. Warum verwaltet man sein sogenanntes geistiges Eigentum? Bloß deshalb, weil man es hervor­bringt; dadurch, daß man es hervorbringt, zeigt man, daß man die Fähigkeiten dazu besser hat als andere. So lange man diese Fähigkeiten besser hat als andere, so lange wird man im Dienste des Ganzen am besten dieses geistige Eigentum verwalten. Nun sind die Menschen wenigstens darauf gekommen, daß sich nicht endlos forterbt dieses gei­stige Eigentum; dreißig Jahre nach dem Tode gehört das geistige Eigen­tum der gesamten Menschheit. Jeder kann dreißig Jahre nach meinem Tode drucken, was ich hervorgebracht habe; man kann es in beliebiger Weise verwenden, und das ist recht. Ich wäre sogar einverstanden, wenn noch mehr Rechte wären auf diesem Gebiet. Es gibt keine andere Rechtfertigung dafür, daß man geistiges Eigentum zu verwalten hat, als daß man, weil man es hervorbringen kann, auch die besseren Fähig­keiten hat. Fragen Sie heute den Kapitalisten, ob er einverstanden ist, für das ihm wertvolle materielle Eigentum einzugehen auf das, was er für das geistige Eigentum für das Richtige hält! Fragen Sie ihn! Und doch ist das das Gesunde. Es muß einer gesunden Ordnung zu­grunde liegen, daß jeder aus der geistigen Organisation, die eine ge­sunde Verwaltung der menschlichen Fähigkeiten sein wird - Sie finden das näher ausgeführt in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen

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Frage» -, zu Kapital kommen kann. Dahin muß es aber kommen, daß die Mittel und Wege gefunden werden, zu dieser großen, umfassenden Sozialisierung des Kapitals, das heißt der Kapitalsrente und der Pro­duktionsmittel, daß jeder zu Kapital und Produktionsmittel kommen kann, der die Fähigkeiten dazu hat, daß er aber nur so lange die Ver­waltung und Leitung von Kapital und Produktionsmitteln haben kann, als er diese Fähigkeiten ausüben kann oder ausüben will. Dann gehen sie über, wenn er sie selber nicht mehr ausüben will, auf gewissen Wegen in die Gesamtheit. Sie beginnen zu zirkulieren in der Gesamt­heit.

Das wird ein gesunder Weg sein zur Sozialisierung des Kapitals, wenn wir dasjenige, was sich heute als Kapitalien im Erbschaftsrecht, im Entstehen von Renten, von Müßiggängerrecht, von anderen über-flüssigen Rechten, was so sich aufhäuft in Kapitalien, in Fluß bringen im sozialen Organismus. Darauf kommt es an. Wir brauchen gar nicht einmal zu sagen: Privateigentum muß Gesellschaftseigentum werden. Der Eigentumsbegriff wird überhaupt keinen Sinn haben. So wenig wird er einen Sinn haben, wie es einen Sinn haben würde, wenn sich in meinem Leibe an einzelnen Stellen Blutzuschüsse anhäufen würden. Das Blut muß in Zirkulation sein. Das, was Kapital ist, muß von den Fähigen zu den Fähigen gehen. Wird mit einer solchen Sozialisierung der Arbeiter einverstanden sein? Ja, das wird er, weil ihn seine Lebens­lage dazu zwingt, vernünftig zu sein. Er wird sich sagen: Ist der mit den richtigen Fähigkeiten der Leiter, dann kann ich zu ihm Vertrauen haben, dann sind meine Arbeitskräfte unter dem richtigen Leiter besser angewendet als unter dem Kapitalisten, der nicht die Fähigkeiten hat, sondern den nur ein ungesunder Anhäufungsprozeß von Kapitalien an seinen Platz hingesetzt hat. Diese Dinge kann ich jetzt nur andeuten. Das wird die zukünftige Sozialisierungslehre von der Zirkulation von Kapital und Produktionsmitteln sein, der konkrete, der wahre Ausbau von dem sein, was auch von Karl Marx in abstrakter Weise als großes Menschheitsziel hingestellt worden ist: Jedem nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Wir sind heute durchgegangen durch eine harte menschliche Leidens-zeit, durch eine harte Menschheits-Prüfungszeit. Wir brauchen heute

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nicht mehr wie so manche zu sagen, ein neuer Menschenschlag muß da sein, der sozialisieren kann nach dem Prinzip: Jedem nach seinen Fähig­keiten und Bedürfnissen! - nein, wir können den rechten Glauben haben. Wenn wir nur wollen, dann werden solche gesunden sozialen Ideen von der Dreiteilung im Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben Platz greifen können. Denn dieses Wirtschaftsleben, das wird nur ge­sund, wenn es von den beiden anderen abgegliedert wird. Dann werden sich auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens, wie ich es in meinem Buche dargestellt habe, Assoziationen bilden, Genossenschaften bilden, die aber in gesunder Weise nicht darauf ausgehen, zu produzieren und zu profitieren, sondern die von der Konsumtion ausgehen und die Pro­duktion nicht so machen, daß Arbeitskräfte in die Luft verpulvert werden, sondern daß Arbeitskräfte aufgerufen werden zur Gesundung der Konsumtion, zur Befriedigung der Bedürfnisse.

Gestatten Sie noch, daß ich Ihnen den Anfang erzähle, den wir ge­macht haben in der Gesellschaft, von der ich gut begreife, da sie so viel verleumdet wird, daß Sie sie nicht lieben, - daß ich Ihnen erzähle, wie auf einem bestimmten Gebiet versucht wurde, das Geistesleben wirt­schaftlich zu sozialisieren. Als ich genötigt war, etwa vor zwanzig Jah­ren, mit meinen Freunden diese Gesellschaft zu führen, da handelte es sich mir darum, daß ich mir sagte: Gibst du die Bücher, die auf dem Boden dieser Gesellschaft von mir hervorgebracht werden, in derselben kapitalistischen Art in die Welt hinaus, wie es heute der Brauch ist im Buchhandel, dann versündigst du dich gegen ein gesundes soziales Den­ken. Denn wie werden heute die Bücher fabriziert? Viele Menschen halten sich ja heute für fähig, gute Bücher zu fabrizieren. Nun, wenn alles das gelesen werden sollte, was heute gedruckt wird, dann hätte man viel zu tun. Aber sehen Sie, deswegen gibt es einfach diesen Brauch im Buchhandel: Irgend jemand hält sich für ein Genie und schreibt ein Buch. Das Buch wird in tausend Exemplaren gedruckt. Von den mei­sten dieser Bücher werden 950 Exemplare wieder eingestampft, weil nur fünfzig verkauft sind. Was heißt das aber volkswirtschaftlich? Sehen Sie, soundso viele Leute, die das Papier fabrizieren müssen, so­undso viele Setzer, soundso viele Buchbinder und die sonst noch be­schäftigt waren, sind zur Arbeit angestellt worden; diese Arbeit ist

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unproduktiv, diese Arbeit wird verpufft. Darin liegt der große Schaden. Oh, Sie würden staunen, wenn Sie nur einmal den Versuch machten, sich die Frage zu beantworten, wieviel von der Arbeit, die die ver­ehrten Anwesenden, die hier sitzen, verrichten müssen, wieviel davon verpufft. Das ist der große Sozialschaden. Wie habe ich es also versucht zu machen? Ich sagte mir: Mit dem Buchhandel ist nichts zu machen. Wir haben selbst eine kleine Buchhandlung gegründet. Dann aber habe ich zunächst dafür gesorgt, daß die Bedürfnisse dafür vorhanden sind, für die das Buch gedruckt werden sollte. Das heißt, ich mußte mir die Mühe machen, zuerst die Konsumenten zu schaffen; nicht auf dem Wege natürlich, daß ich eine Säule anbringen ließ, wie die Säulen mit der Anzeige: Macht mit Maggi gute Suppen! - sondern auf dem Wege, zuerst die Bedürfnisse zu schaffen - man kann gegen diese Bedürfnisse etwas sagen, selbstverständlich -, und dann erst mit Drucken zu begin­nen, wenn ich gewußt habe, kein einziges Exemplar bleibt liegen, kein einziger Handgriff ist fruchtlos getan. Auch mit der Brotfabrikation wurde es versucht, da war es nicht in derselben Weise möglich bei den heutigen Verhältnissen, aber wo es durchgeführt werden konnte, da zeigte sich gerade in wirtschaftlicher Beziehung das Fruchtbare, wenn man ausgeht nicht von der blinden Produktion, die nur auf das Reich-werden abzielt, sondern von den Bedürfnissen, von der Konsumtion. Dann, wenn das geschieht, dann wird auf dem Wege des genossen­schaftlichen Wirtschaftslebens eine wirkliche Sozialisierung durchgeführt werden können.

So habe ich Ihnen heute auf einem breiteren Boden sprechen müssen von der Sozialisierung. Denn das allein, was auf diesem breiten Boden entsteht, ist das wahrhaft Praktische. Sonst wird immer nur in der Sozialisierung gepfuscht werden, wenn man nicht die allererste Frage diese sein läßt: Was hat der Staat zu tun? Er hat zuerst freizugeben das Geistesleben nach der einen Seite, dann das Wirtschaftsleben nach der andern Seite; er hat auf dem Boden des Rechtslebens stehenzu-bleiben. Das ist nichts Unpraktisches, sondern das ist eine Sozialisierung, die jeden Tag durchgeführt werden kann.

Was gehört dazu? Mut, Courage, nichts anderes! Aber warum wollen denn die Leute das für unpraktisch ansehen? Ich habe Leute

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genug kennengelernt, die haben in den letzten viereinhalb Jahren im­mer wieder und wiederum gesagt, diese Weltkriegskatastrophe wäre eine so furchtbare, daß die Menschen solche Schrecken, seit eine Ge­schichte gedacht wird, nicht erlebt haben, es sei das größte Erlebnis der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit. Nun, ich habe aber noch nicht die Menschen gefunden, die auch sagen: Wenn die Menschen dazu verurteilt waren, durch die alten Gedanken, durch die alten Denk­gewohnheiten in solches Elend hineingeführt zu werden, dann müssen sie sich jetzt aufraffen dazu, diese alten Gedanken zu verlassen und zu neuen Gedanken, zu neuen Denkgewohnheiten zu kommen. Wir brau­chen vor allen Dingen eine Sozialisierung der Köpfe. In den Köpfen, die wir auf den Schultern tragen, muß anderes darinnen sein, als bisher in den Menschenköpfen drinnen war. Das ist, was wir brauchen. Des­halb muß man die Frage in breiter Weise anfassen.

Und nun zum Schlusse möchte ich noch das sagen: Als die Morgen­röte der neueren Zeit anging, da waren diejenigen Menschen, welche am meisten ein Herz hatten für den Fortschritt der zivilisierten Mensch­heit, durchdrungen von drei großen Idealen: Freiheit, Gleichheit, Brü­derlichkeit. Diese drei großen Ideale, es hat damit eine sonderbare Bewandtnis. Auf der einen Seite fühlt jeder gesunde und innerlich mutige Mensch: Das sind die drei großen Impulse, welche die neuere Menschheit nun endlich führen müssen. Aber ganz gescheite Leute haben im neunzehnten Jahrhundert immer wieder nachgewiesen, wel­cher Widerspruch doch eigentlich herrsche zwischen diesen drei Ideen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ja, es herrscht ein Widerspruch, sie haben recht. Darum sind sie aber doch die größten Ideale, trotzdem sie sich widersprechen. Sie sind eben aufgestellt in einer Zeit, in der der Blick der Menschheit noch wie hypnotisiert hingerichtet war auf den Einheitsstaat, der bis in unsere Zeit noch wie ein Götze verehrt worden ist. Insbesondere diejenigen, die den Staat zu ihrem Protektor und sich zu den Protektoren des Staates gemacht haben, die sogenannten Unter­nehmer, sie könnten zu dem Arbeitnehmer sprechen, wie Faust zu dem sechzehnjährigen Gretchen sprach von dem Gotte: Der Staat, mein lieber Arbeiter, er ist der Allumfasser, der Allerhalter, faßt und erhält er nicht dich, mich, sich selbst? - Und unterbewußt kann er denken:

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besonders aber mich! - Auf diesen Götzen Einheitsstaat wurde der Blick wie hypnotisiert gerichtet. Da, in diesem Einheitsstaate, da wider­sprechen sich allerdings diese drei großen Ideale. Diejenigen aber, die sich nicht haben hypnotisieren lassen von diesem Einheitsstaat auf dem Gebiete des Geisteslebens, die von der Freiheit dachten wie ich selbst in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit», das ich im Anfang der neunziger Jahre verfaßt habe, und das gerade jetzt in unserer Zeit der großen sozialen Fragen, des großen Umdenkens wieder erscheinen mußte, die wußten: Nur deshalb sah man Widersprüche zwischen den drei größten sozialen Idealen, weil man glaubte, sie im Einheitsstaat verwirklichen zu müssen.

Erkennt man in richtiger Weise, daß der gesunde soziale Organis­mus ein dreigegliederter sein muß, dann wird man sehen: Auf dem Gebiet des Geisteslebens muß herrschen die Freiheit, weil gepflegt werden müssen Fähigkeiten, Talent, Begabung des Menschen in freier Weise. Auf dem Gebiet des Staates muß herrschen absolute Gleich­heit, demokratische Gleichheit, denn im Staate lebt dasjenige, worin alle Menschen einander gleich sind. Im Wirtschaftsleben, das ab­gesondert sein soll von dem Staats- und Geistesleben, aber dem ge­liefert werden soll vom Staatsleben und vom Geistesleben die Kraft, muß herrschen Brüderlichkeit, Brüderlichkeit in großem Stile. Sie wird sich ergeben aus Assoziationen, aus Genossenschaften, die aus den Be­rufsgenossenschaften und aus jenen Gemeinschaften hervorgehen werden, die gebildet sind aus gesunder Konsumtion, zusammen mit gesunder Produktion. Da wird herrschen können im dreigeteilten Or­ganismus Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Und verwirklicht wird werden können durch die neuere Sozialisierung dasjenige, was gesund denkende und gesund fühlende Menschen seit langer Zeit ersehnen. Man wird nur den Mut haben müssen, manches alte Parteiprogramm wie eine Mumie zu betrachten gegenüber den neuen Tatsachen. Man wird den Mut haben müssen dazu, sich zu gestehen: Neue Gedanken für neue Tatsachen, für die neuen Entwickelungsphasen der Menschheit sind notwendig. Und ich habe Erfahrungen bei allen Klassen gemacht in meinen Lebensbeobachtungen, die wahrhaftig Jahrzehnte umfassen, die entstanden sind aus einem Schicksal, das mich empfinden und denken

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gelehrt hat nicht über, sondern mit dem Proletariat, und ich habe daraus das Gefühl gewonnen, daß das Proletariat das gesunde ist, daß selbst dasjenige, was jetzt als eine Konsequenz aufgetreten ist der un­zulässigen Verschmelzung des Wirtschaftslebens mit dem Staatsleben, daß das von dem Proletarier empfunden wird in der richtigen Weise. Derjenige, der mir heute zugehört hat, der wird wissen, daß ich es ehrlich meine mit den berechtigten Forderungen des modernen Prole­tariats, die historische Forderungen sind. Aber ich weiß auch, daß letz­ten Endes über alles dasjenige, was Streik ist, der vernünftige Prole­tarier so denkt, wie der vernünftige Mensch überhaupt. Ich weiß, der vernünftige Arbeiter streikt nicht um des Streikes willen, er streikt nur, weil die Wirtschaftsordnung es dahin gebracht hat, daß politische For­derungen verquickt sind mit wirtschaftlichen Forderungen. Erst dann wird das Wirtschaftsleben völlig in vernünftige Bahnen gebracht wer­den können, wenn diese Trennung des politischen Lebens von dem wirtschaftlichen Leben eingetreten sein wird. Auch darüber würden wir uns, besonders wenn wir Gelegenheit hätten, genauer darüber zu spre­chen, verstehen. Wir würden verstehen gegenüber jedem Streik: er könnte unterlassen werden; der vernünftige Arbeiter, er wird ihn nur gezwungen unternehmen wollen. Das ist auch etwas, was zur gesunden Sozialisierung gehört, daß wir hinauskommen über dasjenige, was wir eigentlich nicht tun wollen, was unvernünftig ist zu tun. Dazu hat selbst die moderne Wirtschaftsordnung es gebracht, daß Ungewolltes, daß als unvernünftig Angesehenes oftmals vollbracht wird.

Sie werden mich verstehen, und Sie werden auch verstehen, wenn gerade auch von diesem Standpunkte aus ich sage: So schlechte Erfah­rungen ich auch gemacht habe bei den alten Klassen, die Menschen müssen doch den Weg finden zur Dreigliederung, und ich erhoffe gerade von den gesunden Sinnen des modernen Proletariats sehr viel. Ich habe geschaut, wie hinter dem, was das moderne Proletariat sein Klassen­bewußtsein nennt, ein unbewußtes Menschheitsbewußtsein steht; wie der klassenbewußte Proletarier eigentlich fragt, wie komme ich zu einer Weltordnung, die mir die Frage mit Ja beantwortet: Ist das Men­schenleben für mich lebenswürdig und lebenswert? - Heute noch kann der Proletarier diese Frage aus der wirtschaftlichen Ordnung, aus der

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Rechtsordnung, aus dem Geistesleben nur mit Nein beantworten; er will sie morgen mit Ja beantworten. Und zwischen diesem Nein und zwischen diesem Ja liegt die wahre Sozialisierung, liegt dasjenige, durch welches das wirklich seiner selbst bewußte Proletariat dieses Proletariat befreien und erlösen wird und damit befreien und erlösen wird alles Menschliche im Menschen, das verdient, befreit und erlöst zu werden.

Schlußwort nach der Diskussion

Nun, sehr verehrte Anwesende, im Grunde genommen hat ja die Diskussion nichts so Wesentliches ergeben in Anlehnung an dasjenige, was ich gesagt habe, daß ich in diesem Schlußwort Sie noch lange auf­zuhalten brauchte. Zunächst möchte ich aber eine Antwort geben auf die direkte Frage, die zum Schluß an mich gestellt worden ist: warum ich soviel Agitatorisches in meinem Vortrage verwendet hätte. Nun, ich will mit dem verehrten Fragesteller wahrhaftig nicht, wie Sie be­greiflich finden werden, mich einlassen in eine Diskussion, inwiefern ich, weil man von mir sagt, ich sei ein Philosoph, nur berechtigt sei, Unverständliches, Unagitatorisches, also Redensarten zu sagen. Darauf kommt es mir nicht an. Aber ich war einigermaßen überrascht, recht sehr überrascht darüber, daß auf dasjenige, was ich gesagt habe, das Wort agitatorisch überhaupt angewendet worden ist. Denn ich bin mir wahrhaftig nicht bewußt, ein einziges anderes Wort gesprochen zu haben, als was aus meiner Wahrheitsüberzeugung, aus meiner Anschau­ung der gegenwärtigen Verhältnisse hervorgeht. Was ist agitatorisch? Wenn, sagen wir, sich ein stockkonservativer Mann die sehr gemäßig­ten Worte irgendeines sehr linksstehenden Menschen anhört, und der sie agitatorisch findet, sind sie dann unbedingt agitatorisch? Warum redet der für den stockkonservativen Mann agitatorisch? Er kann gar nichts dafür. Die Worte werden erst so in der Auffassung des stock­konservativen Mannes. Also, sehen Sie, dasjenige, was der eine als demagogisch auffaßt, das braucht für den andern gar nicht demagogisch zu sein. Das, was dem einen recht unangenehm ist, das nennt er oftmals demagogisch. Nun hat zu Ihnen auch Ihr technischer Leiter gesprochen.

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Nicht wahr, wenn alle diejenigen, die aus jenen Lebensbedingungen heraus, in denen Ihr verehrter technischer Leiter steht, so sprechen würden, wie Ihr verehrter technischer Leiter, dann, meine sehr ver­ehrten Anwesenden, würden wir bald dasjenige erreichen, was wir erreichen wollen. Wenn sehr viele Menschen so denken würden, dann würden wenige notwendig haben zu sagen, daß durch solche Worte wie die meinigen, die die Wahrheit reden wollen, die keinen Abgrund aufrichten wollen, daß durch solche Worte die Kluft noch größer ge-macht werde. Aber es gibt auf der anderen Seite, auf der rechten Seite des Abgrundes, auch ganz andere Menschen als Ihr verehrter technischer Leiter, der zu Ihnen gesprochen hat, einer ist, die ganz anders sprechen wie er. Zwischen ihm und uns wird keine große Kluft sein. Vielleicht wird die Kluft erst da beginnen, wo auch er mehr auf der anderen Seite steht. Ich glaube, daß schon verstanden werden könnte dasjenige, was ich über das Schicksal manches Geistesarbeiters gesagt habe.

Sehen Sie, man konnte verschiedenes erleben, wenn man wirklich in der neueren Menschheitsentwickelung drinnen steckt. Ich habe vor vielen, vor reichlich 27 oder 28 Jahren einmal eine Versammlung mit­gemacht, in der Paul Singer gesprochen hat. Da haben einige Menschen aus dem Proletariat irgendwie bemerklich gemacht, daß sie geistige Arbeit nicht gleich der physischen Arbeit schätzen. Da hätte man hö ren sollen, wie Paul Singer in Gemeinschaft mit der überwiegenden Majori­tät die geistige Arbeit in Schutz genommen hat! Ich habe nie erlebt, daß die geistige Arbeit von den Proletariern verkannt worden ist. Ich habe ja gar nicht gesprochen von irgendeiner Kluft zwischen der physi­schen und der geistigen Arbeit, ich habe gesprochen von der Kluft zwischen Proletariat, Menschenarbeit und Kapitalismus. Darin müssen wir uns nur richtig verstehen. Und seien wir uns klar, solche Reden, wie wir sie von Ihrem verehrten Leiter zu unserer großen Freude -wenigstens zu meiner und gewiß auch zu Ihrer großen Freude - gehört haben, solche Reden, wir hören sie noch auf anderer Seite nicht leicht. Wir werden nicht so leicht die Menschen finden, deren Hand zu er­greifen ist.

Und noch das eine zum Schluß: Ja, gewiß, ich sage Dinge, die unter Umständen nötig machen, daß mit Bezug auf so manches rasch gehandelt

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werde. Ich verstehe, da ich selber Wissenschafter bin, sehr gut die Worte des verehrten Herrn Vorredners, wenn er sagt: Langsam muß die Entwickelung gehen; man muß Geduld haben abzuwarten. Vor dreißig Jahren schon sind Dinge von Mathematikern entdeckt worden, die heute erst anerkannt werden. - Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, und namentlich richte ich mich jetzt auch an Ihren von mir sehr verehrten technischen Leiter: Es gibt aber heute Dinge im sozialen Leben, auf die können wir nicht warten, sondern denen gegen­über sind wir genötigt, unsere Köpfe etwas aufzumachen und zu schnel­lem Verständnis fähig zu machen. Deshalb habe ich mich über folgen­des mehr gefreut als über die Betonung der Langsamkeit.

Ich habe in den verschiedensten Städten der Schweiz Vorträge über soziale Fragen gehalten. Ich habe begriffen, daß jemandem, der so her­ausfällt aus dem gewöhnlichen Programm, zuerst Mißtrauen entgegen­kommt. In Basel war es, da haben sich zunächst Freunde bemüht, den Vorstand der Sozialistischen Partei zu veranlassen, von mir einen Vor­trag in seinem Kreis halten zu lassen. Der Vorstand - es ist ihm nicht übelzunehmen, ich begreife das, ich habe ja auch heute gesprochen von berechtigtem Mißtrauen - hat, vielleicht weil er mir nicht absagen wollte, auf Prinzipielles sich gestützt und hat gesagt, man wisse nicht, ob es wünschenswert sei, fremde Einflüsse an die Parteimitglieder herankommen zu lassen. Man hat also meinen Vortrag abgelehnt. Das scheint die Ansicht mancher Führer jetzt zu sein. Da hat man die Kon­sequenz gezogen, ich solle doch nicht reden. Dann kam ein Sozialdemo­krat zu mir und sagte, er wolle sich bemühen, im Eisenbahnarbeiter­verein mich zu einem Vortrag kommen zu lassen. Auch das wurde abgelehnt. Ich hielt dann in Zürich einen Vortrag. Wir haben dann in Basel Handzettel gemacht, haben sie einfach auf der Straße ausgeteilt und haben für einen sozialen Vortrag in Basel den größten Saal ge­nommen, und ich habe diesen Vortrag halten können vor reichlich 2500 Menschen. Sehen Sie, das war vor ganz kurzer Zeit. Jetzt, gerade bevor ich abfahren mußte, nachdem ich vor dem Basler Proletariat diesen Vortrag gehalten hatte, bekam ich von dem Eisenbahnarbeiterverein, der dazumal abgelehnt hatte, eine Einladung, ich solle nun seinen Mit­gliedern auch einen solchen Vortrag halten. So sind die Dinge vierzehn

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Tage voneinander entfernt: Zuerst lehnt der Verein ab, dann wußte er, was er zu hören bekam und verlangte nun auch seinen Vortrag. Das war eine rasche Entwickelung, eine Entwickelung in vierzehn Tagen. Ich glaube, man muß heute mehr hinschauen auf solch schnelles Denken, das in vierzehn Tagen verläuft, als auf solches Denken, das Ihnen sagt, es muß langsam gehen. Ich möchte heute viel froher sein über diejeni­gen, die zuerst ihren freien Willen geltend machen wollen, die aber lernen wollen und rasch lernen wollen. Denn, meine sehr verehrten Anwesenden, wir gehen einer Zeit entgegen, die furchtbar werden wird, wenn wir uns auf die Langsamkeit einstellen wollen. Wir brau­chen einen gesunden Impuls zu Gedanken, die ebenso schnell gehen, wie die Tatsachen gehen werden. Das ist dasjenige, was wir uns heute in die Seele schreiben wollen. Ich weiß, der verehrte Redner hat nicht gemeint, aus Bequemlichkeit langsam gehen zu wollen, aber andere Leute sind bequem. Wer es aber heute ernst meint, der weiß, wie schnell wird gehen müssen das Umdenken und Umlernen, wenn wir nicht zurückbleiben und in Elend und Vernichtung hineinkommen wollen.

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DIE KERNPUNKTE DER SOZIALEN FRAGE IN DEN LEBENSNOTWENDIGKEITEN DER GEGENWART UND ZUKUNFT Öffentlicher Vortrag, Stuttgart, 28. April 1919

Auch heute wird es mir obliegen, zu sprechen in Anknüpfung an den Aufruf, den die meisten der verehrten Zuhörer vielleicht zu Gesicht bekommen haben werden, «An das deutsche Volk und an die Kultur­weit», der im wesentlichen einen Ausweg sucht aus den schweren Wir­ren, in die wir hineingeraten sind, einen Ausweg aus dem weitgeschicht­lichen Chaos durch eine besondere Art der Erfassung des sozialen Lebens und der sozialen Bewegung. Anknüpfen wird ferner dasjenige, was ich auszuführen haben werde, an mein eben erschienenes Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft». Gegenüber all demjenigen aber, was in die­ser ernsten Zeit zu sagen ist, enthält auch dieses Buch zunächst gerade durch die Art seines Gesichtspunktes nur die ersten, die allerersten Leitlinien. Und insbesondere werde ich Sie bitten müssen, auch heute zu berücksichtigen, daß ich ja in der kurzen Zeit eines Vortrages nicht mehr werde geben können als die allerersten Andeutungen des sozialen Standpunktes, von dem die Rede sein soll. Vielleicht kann in einer nachfolgenden Diskussion manches Spezielle hinzugefügt werden. Im übrigen ist ja ein weiterer Vortrag in Aussicht genommen, der dann manches, was heute nur angedeutet werden kann, des weiteren aus­führen soll.

Dasjenige, was heute zu sprechen veranlaßt, so wie ich hier sprechen möchte, das sind ja die wahrhaft laut genug sprechenden sozialen Tat­sachen, die deutlich genug bemerkbar sind über einen großen Teil der zivilisierten Welt hin. Und wer sie in ihrer wahren Gestalt zu wür­digen vermag, diese Tatsachen, der kann ihnen absehen, daß wir mit Bezug auf die Bewegung, welche sie einleiten, erst im Anfange sind. Aber es wird gut sein, gerade in diesen Anfängen den vollen Ernst der

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Sache ins Auge zu fassen. Da wird vor allen Dingen denjenigen, welche das verfolgt haben, was wir heute die soziale Bewegung nennen, die ja in dieser ihrer Gestalt mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist, auf­gefallen sein, daß jetzt, wo wir den Tatsachen, die sich aus der furcht­baren Weltkriegskatastrophe herausgebildet haben, gegenüberstehen, sich lang, lang gehegte Gedanken, Parteimeinungen, Anschauungen, wie, man möchte fast sagen, Urteilsmumien ausnehmen, die unter uns herumwandeln und die sich überall tot erweisen gegenüber dem, was die sozialen Tatsachen heute von uns fordern. Wollen wir zu einer fruchtbaren Meinung kommen, dann ist es wohl notwendig, wenig­stens kurz hinzuweisen auf die Ursachen, warum lang gehegte Partei-meinungen aller Schattierungen sich gegenüber den Tatsachen so unzu­länglich erweisen. Ich war vor nicht zu langer Zeit anwesend bei jener Konferenz in Bern, welche es sich zur Aufgabe gemacht hat, Stellung zu nehmen zu der Begründung des sogenannten Völkerbundes. Heute, wo es notwendig ist, denn sonst kommen wir keinen Schritt weiter, in allen Dingen offen und ehrlich zu sprechen, darf wohl behauptet werden, daß dasjenige, was bei dieser Völkerbundskonferenz gewiß über manches Bedeutsame, über manches sehr schön Gedachte die Herren und Damen da gesprochen haben in Bern, dem, der die ganze Tiefe, den ganzen Ernst der sozialen Weltbewegung heute ins Auge zu fassen vermag, so erscheint, wie ungefähr das beschaffen war, was die Staatsmänner der europäischen Staaten im Frühling des Jahres 1914 zu den Völkern, zu den Vertretungen der Völker gesprochen haben. Ich will im einzelnen auf die Dinge heute nicht eingehen, möchte aber doch auch vor dieser Versammlung auf die bezeichnende Tatsache hinweisen, daß der verantwortliche Außenminister des Deutschen Reiches in einer entscheidenden Sitzung des Frühlings 1914 zu sagen wagte, die all­gemeine politische Entspannung - bedenken Sie bitte, die allgemeine Entspannung, mit der gemeint war der Weg zu einer Sicherung des Weltfriedens für Jahre -, die hätte erfreuliche Fortschritte gemacht. Nun, sie hat solche Fortschritte gemacht, daß auf sie folgte jene Kata­strophe, durch welche, gering gerechnet, zehn bis zwölf Millionen Men­schen der zivilisierten Welt totgeschossen und dreimal soviel zu Krüp­peln geschlagen worden sind. Daran und an manches andere muß man

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sich erinnern, wenn jetzt diejenigen, die über die Weltvorgänge, das soll ja nicht geleugnet werden, recht gescheit reden, gewissermaßen blind sind gegenüber dem, was in den Tatsachen als Keim für das Zu­kunftsgeschehen wirklich verborgen liegt. Und damit trifft man, ich möchte sagen von vornherein, einen der Hauptpunkte, über die wir heute werden zu sprechen haben.

Man kann zurückblicken in die letzten Jahrzehnte, und wenn man ein Herz und einen Sinn gehabt hat für dasjenige, was als proletarische soziale Bewegung heraufgekommen ist, so wird man sich sagen: Da hat sich mancherlei im Laufe von mehr als einem halben Jahrhundert ge­zeigt an Hinweisen auf das, was die breite Masse des Proletariertums in ihrem Innersten als ihre Forderungen empfindet. Man hat schon sehen können, wenn man die Dinge verfolgt hat, wie sich, ich möchte sagen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die proletarischen Forderungen in einer immer anderen Weise ausgesprochen haben. Man hat daraus, wenn man einen Sinn hatte für weltgeschichtliche Menschheitsbewegun­gen, sich sagen müssen: Im Grunde genommen ist all dasjenige, was bewußt gesprochen wird, was da als Theorie formuliert wird, was als Programm aufgestellt wird, gar nicht in Wirklichkeit dasjenige, um was es sich handelt. Um was es sich handelt, das wären - wenn ich das in der neueren Zeit oft gebrauchte Wort auch hier anwende - mehr oder weniger instinktive, unbewußte Impulse, welche in einem großen Teil der Menschheit lebten. Diese unbewußten Impulse, sie sprachen sich aus zum Beispiel in mancherlei Vorspielen zu den gegenwärtigen Ereig­nissen. Ich will nur einige Etappen erwähnen.

In dem Eisenacher sozialen Programm von 1869, da sehen wir zu­erst auftauchen aus ganz dunkeln, dumpfen Seelenuntergründen des Proletariats herauf die Forderung nach einer, wie man sagte, «gerech­teren Entlohnung der handwerklichen Arbeit innerhalb der sozialen Gesellschaft». Dann aber, nach verhältnismäßig kurzer Zeit, schon 1875 im sogenannten Gothaer Programm, nahmen diese Forderungen eine ganz andere, ich möchte sagen, schon eine eigentlich kommunisti­sche Gestalt an. Da handelt es sich nicht mehr, wenigstens nicht in dem, was man bewußt aussprach, darum, die Arbeit in gerechter Weise zu entlohnen, sondern da handelte es sich bereits darum, Güter nach den

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Bedürfnissen der Menschen in irgendeiner Weise gerecht zur Vertei­lung, zur Ausgleichung zu bringen. Dann wiederum sahen wir, wie aber doch in der proletarischen Bewegung dasjenige lebendig bleibt, was ich den Grundton nennen möchte eines politischen Programms. In den proletarischen Forderungen lebte bis in den Beginn der neunziger Jahre mehr oder weniger deutlich, daß angestrebt wird eine Ausgleichung der sozialen Ungleichheiten und vor allen Dingen eine Überwindung des Prinzips des Arbeitslohnes. Dann sehen wir, wie diese politische Farbe des Programms, ich möchte sagen, merkwürdig zurücktritt, und wie ein rein wirtschaftliches Programm, die Vergesellschaftung der Pro­duktionsmittel, die gesamtgenossenschaftliche Art der Arbeit, zum Thema wird. Und so könnte man noch weiter gehen. Ich will ja nur das Prinzipielle andeuten. Wer wirklich eingeht auf dieses Werden der modernen sozialen Bewegung, der muß nun aber auch nach der an­deren Seite hinüberblicken. Er muß sich sagen: Was ist alles zum Un­heil der Menschheit nicht geschehen gegenüber dem, was da auftrat! Was hätte geschehen können? Was ich jetzt sage, soll nicht eine Kritik geschichtlicher Entwickelungen sein, denn ich weiß selbstverständlich so gut wie jeder andere, in welchem Sinne geschichtliche Entwickelungen notwendig sind, und wie unsinnig es ist, etwa gar eine moralische oder sonstige verurteilende Kritik in die Vergangenheit zu senden. Etwas anderes ist es aber, an manchem Versäumten für die Gegenwart gerade zu lernen. Was hätte geschehen sollen, das kann ja doch wohl nicht anders als so ausgesprochen werden: Wir hatten leitende, führende Persönlichkeiten innerhalb der Oberschichte der menschlichen sozialen Ordnung - diese leitenden, führenden Schichten, haben sie sich geneigt gezeigt, aus dem, was sie als soziale Erfahrung, als soziale Wissenschaft auf Grundlage ihrer Klassenbevorzugung heraufgebracht haben in die neuere Zeit, tiefer zu verstehen, was das Proletariat will, als dieses Proletariat selbst?

Natürlich ist es eine Hypothese, wenn ich das Folgende ausspreche, aber eine Hypothese, welche vielleicht doch die Situation beleuchtet.

Sehen Sie, wie anders wäre alles geworden, wo stünden wir heute, wenn sich innerhalb der führenden Schichten der Menschheit Persön­lichkeiten gefunden hätten, welche die proletarischen Forderungen aufgefangen,

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sie durchdrungen hätten mit sozialen Erfahrungen, mit sozia­lem Wissen, mit solchen sozialen Erfahrungen, solchem sozialen Wissen, die hätten praktisch werden können - und wenn von da der Ausgangs­punkt hätte gewonnen werden können für eine Umgestaltung des so­zialen Lebens vielleicht schon vor Jahrzehnten! Das darf man sich für eine gesunde Selbstbesinnung nicht ersparen: zu erkennen, was nach dieser Richtung furchtbar versäumt worden ist. Versäumt worden ist aus dem Grunde, weil man es in einem gewissen Sinne hat versäumen müssen, weil das Geistesleben der neueren Menschheit ein solches war, daß es einfach nicht zulangte, um ein solches Verständnis aufzubringen. Und hier stehen wir vor dem ersten Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft.

Ich weiß sehr gut, daß ich mit dem, was ich in dem ersten Drittel meiner Ausführungen heute werde zu sagen haben, für manchen etwas Unbequemes, vielleicht sogar Unverständliches, ja Langweiliges sagen werde. Aber wer den Ernst gerade des ersten Gliedes der sozialen Frage, der geistigen sozialen Frage nicht einsieht, der wird nichts bei­tragen können zum Herauskommen aus dem Chaos und der Wirrnis der Gegenwart. Wir müssen uns unbedingt gestehen, daß das Geistes­leben, welches heraufgebracht worden ist durch die Oberschichten der menschlichen Gesellschaft, daß dieses Geistesleben, so wie es gestaltet war, den Tatsachen nicht gewachsen war. Heute noch immer zeigt sich das Erbgut dieses Geisteslebens den Tatsachen erst recht nicht gewach­sen. Sehen wir einmal hin, was eigentlich geschehen ist. Es ist oftmals und zwar mit Recht betont worden, daß die neuere proletarische Be­wegung heraufgekommen ist innerhalb der Entwickelungsgeschichte der Menschheit durch die neuere Technik und durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Gegen diese Betonung von wahren Tatsachen soll selbstverständlich nichts eingewendet werden. Allein so wahr, so rich­tig wie diese Tatsachen sind, eine andere Tatsache, die man gerne ab­leugnen möchte, sie ist ebenso wahr, sie ist ebenso richtig; und sie ist vor allen Dingen für dasjenige, was heute zu geschehen hat, eigentlich wichtiger als alles andere: Vor vielleicht drei bis vier Jahrhunderten beginnt, zugleich mit dem Heraufkommen der neueren Technik und des seelenverödenden Kapitalismus, der Prozeß desjenigen, was man

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nennen könnte die moderne, mehr wissenschaftlich orientierte Welt­anschauung.

Ich habe bei Proletariern und Nichtproletariern, bei Arbeitern und Bürgerlichen vor etwa zwanzig Jahren den heftigsten Widerspruch erfahren, als ich im Berliner Gewerkschaftshaus damals, was ich klar zu erkennen glaubte, aussprach: Die moderne Arbeiterbewegung trägt im eminentesten Sinne - es klingt paradox, doch ist es so - den Cha­rakter einer Gedankenbewegung. So sonderbar es klingt, es ist so. Sie geht aus von Gedanken. Geht von Gedanken aus, die sich, immer wei­tere und weitere Kreise ziehend, hineinsenkten in die Seelen der prole­tarischen Bevölkerung in den Stunden des Abends, die sich diese prole­tarische Bevölkerung abrang von der Ermüdung des Tages, und in denen wahrhaftig vielfach eine lebenswirklichere Weltanschauung, eine lebenswirklichere Auffassung der sozialen Tatsachen gepflegt worden ist, als von den Nationalökonomen der Universitäten und Lehranstal­ten, die im wesentlichen dasjenige gaben, was die bürgerliche Klasse über das Wirtschaftsleben und das sonstige Leben der neueren Zeit zu sagen hatte. Was in die Gedanken und namentlich in die Denkgewohn­heiten des modernen Proletariats sich einlebte, es ist im Grunde genom­men wichtiger, bedeutungsvoller als alles andere für die Bewegungen, die heute durch die zivilisierte Welt gehen. Denn was liegt da eigent­lich vor? Nun, ich sagte schon, mit dem Heraufkommen der neueren Technik, mit dem Heraufkommen der kapitalistischen Wirtschaftsord­nung kam auch aus den alten Weltanschauungen, die mehr einen all­gemein menschlichen oder auch einen religiösen Charakter hatten, die neuere, mehr wissenschaftlich orientierte Weltanschauung herauf. Diese wissenschaftlich orientierte Weltanschauung, wie trat sie den Bürger­lichen, wie trat sie dem Proletariat entgegen?

Über diese Tatsache kann man nur ein Urteil gewinnen, wenn man nicht von oben herunter, wie so viele in der Gegenwart, bloß gelernt hat, über das Proletariat zu denken, nein, wenn einen sein Schicksal dazu gebracht hat, mit dem Proletariat zu denken! Sehen Sie, was man im Zeitalter der Technik, im Zeitalter des Kapitalismus zu denken, zu empfinden gelernt hat, das führte ja gewiß viele Angehörige der leiten­den, führenden Kreise der Menschheit dazu, freigeistig, freireligiös zu

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werden. In dieser Beziehung lebte eben leider, leider die moderne Menschheit in einer furchtbaren Illusion, die heute durchschaut werden muß. Ja, man konnte ein solcher Naturforscher wie Carl Vogt sein, man konnte ein naturwissenschaftlicher Popularisator wie Büchner sein, man kann ganz aufrichtig und ehrlich mit dem Kopfe dem Natur-gedanken ergeben sein, aber der ganze Mensch, er kann doch in einer sozialen Ordnung drinnenstehen, die es ihm unmöglich macht, mit mehr als mit dem Kopfe sich empfindend zu bekennen zu den neueren Denk-gewohnheiten. Anders war das beim Proletariat. Ich möchte eine Szene erwähnen, die nicht verhundertfacht, die vertausendfacht werden könnte. Eine Szene von der Art, wie sie sich als folgenschwer zugetra­gen haben und die in ihrer ganzen weitgeschichtlichen Bedeutung zu er­kennen die führenden Klassen bisher doch versäumt haben. Sehen Sie, ich erinnere mich lebhaft, weil ich daneben stand, als vor jetzt zwanzig Jahren einmal Rosa Luxemburg in Spandau bei Berlin sprach zu einer Proletarierversammlung in ihrer eigentümlichen, gemessenen, über­legten Art. Sie sprach über die Wissenschaft und die Arbeiter, eine von jenen Reden, deren Früchte jetzt in der ganzen Welt aufgehen. Nur mit wenig Worten will ich Ihnen das Wesentlichste dieser Rede hier an­deuten. Da sprach ganz aus dem Bewußtsein moderner wissenschaft­licher Orientierung heraus Rosa Luxemburg zu den Arbeitern, die sich am Sonntagnachmittag versammelt hatten mit ihren Frauen, ja mit ihren Kindern, um etwas zu hören über die Frage: Wie kommt der Mensch als Arbeiter zu einem menschenwürdigen Dasein? oder: Wie hat er über sein Dasein als Mensch zu denken? - Sie sagte damals:

0 lange, lange hat die Menschheit in Illusionen gelebt über die alten Zeiten. Jetzt endlich ist die Menschheit dazu gekommen, durch ihre Wissenschaft zu erkennen, wie alle Menschen vom gleichen tierischen Ursprung sind. Wie der Mensch sich anfangs - das sind fast ihre eige­nen Worte - höchst unanständig als Baumkletterer benommen hat. Dann fügte sie hinzu: Kann da noch jemand glauben, daß bei solch gleichem Ursprung für alle Menschen irgendeine Berechtigung da sei für das, was als soziale Ungleichheiten heute auftritt?

Sehen Sie, da war ein Wort gesprochen, das der moderne Proletarier in einer ganz anderen Weise auffaßte, als es aufzufassen vermochte

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der Angehörige der bisher führenden Schichten der Menschheit. Der Angehörige der bisher führenden Schichten der Menschheit war mit seinem Kopfe von einem solchen Wort vielleicht überzeugt, aber er stand als ganzer Mensch in einer sozialen Ordnung drinnen, die ein Überbleibsel war von Weltanschauungen früherer Zeiten, in allerlei, wenn er es auch sich nicht gestand, in allerlei religiösen, künstlerischen und sonstigen Empfindungen. Er war nicht darauf angewiesen, seinen ganzen Menschen in das Licht einer solchen Weltanschauung zu stellen. Der Proletarier aber war genötigt, seinen ganzen Menschen im Lichte einer solchen Weltanschauung zu sehen. Warum? Nicht daß die Ma­schine aufgekommen ist, nicht daß der Kapitalismus heraufgekommen ist, war das Wesentliche. Das Wesentliche war, daß der Proletarier hinweggerufen worden ist von den früheren Lebensbedingungen, die ihm aus dem Handwerk oder dergleichen selbst heraus irgend etwas mitgaben zur Beantwortung der Frage: Was bist du als Mensch wert unter Menschen? Jetzt stand er an der Maschine; das gibt ihm keinen Zusammenhang zwischen sich und den andern Menschen. Jetzt stand er drinnen in der bloßen Wirtschaftsordnung des Kapitalismus. Jetzt war er genötigt, von einer ganz anderen Seite her sich die Frage zu be­antworten: Was bist du eigentlich als Mensch? - Daher wandte er sich wie an seine neue Religion an diese moderne Weltanschauung, die für die anderen eben eine Kopfüberzeugung war, für ihn aber etwas, was seinen ganzen Menschen erfüllte. Nun, was da der Proletarier über­nommen hatte und was zuletzt auch ausfüllte alles, was sich ausbreitete als soziale Anschauung in der Arbeiterschaft, woher stammte das alles? Es stammte doch, wenn das auch nicht immer durchschaut worden ist, aus der Entwickelung der führenden, namentlich der bürgerlichen Schichten der menschlichen Gesellschaft. Das, was der Proletarier über­nommen hatte an Weisheit, an Wissenschaft, an materialistischer An­schauung über den Menschen, das war nicht in dem Intellekte des Prole­tariers gewachsen, das war Erbgut desjenigen, was das bürgerliche Denken in der neueren Zeit ausgebildet hatte. Der Proletarier brachte nur, während er ganz anders leben mußte, das bürgerliche Denken bis zu seiner letzten Konsequenz, bis zu seiner äußersten Ausgestaltung. Und was wurde es in seiner Seele? Oh, er war überzeugt davon, daß

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dieses letzte Erbgut von seiten des Bürgertums ihm doch etwas Seelen-tragendes geben müsse. Es war gewissermaßen unbewußt das letzte große Vertrauen, das das Proletariat dem Bürgertum entgegenbrachte, und das darin bestand, daß es die neuere materialistische Weltanschau­ung von dem Bürgertum übernahm. Dieses letzte große Vertrauen, es ist - das ist wenigstens das unbewußte Gefühl des Proletariers -, es ist getäuscht worden. Und das ist es, was den heutigen sozialen Tatsachen, trotz aller Auswüchse, im innersten Wesen doch zugrunde liegt.

Wenn wir auf diese Tatsache hinsehen, dann müssen wir gerade das Unbewußte, gerade dasjenige, was die Folge des Erwähnten in der Seele des Proletariers war, das müssen wir so recht ins Auge fassen. Der Bürgerliche - greifen Sie sich ans Herz, versuchen Sie es zu erkennen durch eine wahre Selbstbesinnung, wenn Sie Bürgerlicher sind oder Ihre Vorfahren Bürgerliche waren -, der Bürgerliche hat als Überlieferung früherer Zeiten ganz andere Empfindungen. Der moderne Proletarier wies nach seiner Lebensart, nachdem er zur öden Maschine, zum öden Kapitalismus gerufen worden ist, diese alten Überlieferungen ab. Seine Seele sollte diese neuere Weltanschauung ausfüllen, sie konnte es nicht. Und so sehr mit Begeisterung der Proletarier sich bekannte zu dem, was diese Weltanschauung sagte, er fühlte sich in seiner Seele verödet, er fühlte sich lechzend nach einem anderen Geistesleben. Denn dieses Geistesleben, die Frucht der neueren Geistigkeit, hat keine Stoßkraft für die großen Seelenfragen der Menschheit. Dieses Geistesleben sagt nichts aus über den Zusammenhang des Menschen mit dem, was ein jeder Mensch doch in seiner Brust als seine höhere Menschlichkeit fühlt. Das wirkte verödend. Das wirkte so in der Seele des Proletariers, daß er nach etwas Unbestimmtem lechzte. Das ist es, was in allen möglichen Forderungen sich dann maskierte, was in allen möglichen Ausgestal­tungen zutage trat. Wir werden diese Maskierung, diese Ausgestal­tungen nicht verstehen, wenn wir uns nicht entschließen können, die Sache in ihrer vollen Tiefe von dem Gesichtspunkte einer wirklichen Weltanschauungsfrage ins Auge zu fassen. Keine Stoßkraft für Welt­anschauungsangelegenheiten, keine Stoßkraft für das Allgemein-Menschliche hatte dieses neuere Geistesleben. Wenn die führenden Schichten der neueren Menschheit suchten nach einer solchen Stoßkraft,

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suchten nach etwas im Geistesleben, das seelentragend sein sollte, dann wandten sie sich an die alten religiösen Vorstellungen, an die alten künstlerischen, ästhetischen, ethischen oder sonstigen Anschauungen. Aber das, was sie dem Proletarier vermittelt haben, was der Proletarier allein verstehen konnte, das war nicht seelentragend, das ist bis heute nicht seelentragend. Fragen müssen wir: Woher kommt denn das? Da müssen wir nicht die Theoretiker fragen, da müssen wir wahrhaftig keine grauen Theorien aufbauen. Da müssen wir in eine wirkliche Lebenspraxis untertauchen, wenn wir klar sehen wollen. Ich kann natürlich die weittragenden Tatsachen heute nur skizzieren, sie lassen sich aber voll zum Beweise bringen. Indem die neuere Zeit mit ihrer Technik, mit ihrem Kapitalismus heraufrückte, da war aus der früheren Entwickelung etwas zurückgeblieben, was für den Kenner nur sehr entfernt ähnlich sieht demjenigen, was wir heute Staat nennen, insofern dieser Staat wahrhaftig von genügend Menschen, man möchte sagen, fast wie ein Götze angebetet und verehrt wird. Diejenigen Menschen-klassen, die die führenden waren im Beginn der neueren Zeit, als Tech­nik und Kapitalismus heraufkamen, sie benützten den Rahmen des Staates, um in diesen Rahmen all dasjenige hineinzubringen, was hin­einzubringen ihnen bequem war. Und wir sehen eigentlich berechtigt vom damaligen Standpunkt aus, wenigstens begreiflich vom damaligen Standpunkt aus, wo man gegen die Kirche, gegen manche andere Mächte zu kämpfen hatte, wie seit der Morgenröte des neueren Gei­steslebens, des geschichtlichen Lebens überhaupt, das Geistesleben im­mer mehr und mehr einbezogen wird in die Sphäre des Staates. Die Schule, andere Zweige des Geisteslebens, sie wurden immer mehr und mehr einbezogen in die Sphäre des Staates. Man sah darin gerade den großen Fortschritt der neueren Zeit. Deshalb ist es heute so schwer, auf diesem Gebiete gegen das allgemeine Vorurteil anzukämpfen und auszusprechen, daß gerade auf diesem Gebiete der Rückzug angetreten werden muß, wahrhaftig nicht in ein schwarzes Mittelalter, aber in die Befreiung des Geisteslebens auf allen Gebieten vom Staate. Das ist es, was man heute wird einsehen müssen, daß es notwendig ist, wenn man nur mit irgendeiner auch nur geringen Kraft wird mitwirken wollen zum Herauskommen aus der furchtbaren, der schrecklichen Lage, in

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die sich die Menschheit selbst hineingebracht hat. Als ein Fortschritt wurde es angesehen, alles nach und nach in die Aufsicht des Staates zu setzen, was dem Geistesleben angehörte. Nur wenigen künstlerischen Gebieten, einigem, was man für lebensunwichtig ansieht, wurde auf dem geistigen Gebiete noch die Freiheit gelassen.

Ja, derjenige, der die Verhältnisse auf diesem Gebiete kennt, der weiß, was es bedeutet, daß man in der neueren Zeit so hochmütig gewor­den ist mit Bezug auf das Urteil, das man immer wieder hören kann, im Mittelalter habe die Philosophie, und man meint damit alle Wissen-schaft, alles menschliche Geistesleben, die Schleppe nachgetragen der Theologie. Nun ja, die Schleppe wird ja freilich der Theologie heute von der Mehrzahl derjenigen, die sich geistig wirklich betätigen auf der Höhe der Zeit, nicht nachgetragen, aber etwas anderes findet statt. Ich möchte es kennzeichnen, indem ich Ihnen ein Wort anführe, das aber verhundertfacht, nein, vertausendfacht werden könnte. Ein sehr be­rühmter, mit Recht berühmter, bedeutender Naturforscher der neueren Zeit sprach sich einmal als Generalsekretär der Berliner Akademie der Wissenschaften über seine Kollegen, über die ganze Körperschaft der Berliner Akademie der Wissenschaften aus und sagte, diese Gelehrten, sie seien mit Stolz die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzol­lern. Nun, das, denken Sie es einmal aus, bezeugt Ihnen, in welche Abhängigkeit das Geistesleben geraten ist, nachdem es sich gerettet hat aus den Fängen der Theologie. Es trägt nicht mehr der Theologie die Schleppe nach. Was es aber geneigt ist, gegenüber dem Staate zu tun, oh, die letzten viereinhalb Jahre beweisen es. Lesen Sie dasjenige, was deutsche Geschichtsschreiber geschrieben haben. Und wahr, leider höchst wahr ist es - nicht allein die Verwaltung, die Stellenbesetzung der Wis­senschaften hängt etwa ab von dem Staate, nein, derjenige, der die Dinge wirklich kennt, der weiß, daß diese Wissenschaft, die vom Staate abhängig geworden ist, auch ihrem Inhalte, ihrem Bestande nach vom Staate abhängig wurde, und vor allen Dingen insofern, als solche Men­schen sie machten, die den Quell ursprünglichen Geisteslebens in sich ertöteten und mehr oder weniger ganz und gar nur Mittler wurden zur Behauptung desjenigen, was eigentlich der Staat in ihnen behauptet. Schwierig wird es sein, dasjenige, was das eben Ausgesprochene alles

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enthält, frank und frei und mutig zu bekennen, aber es muß bekannt werden. Denn eingesehen werden muß, daß Geistesleben nur so mög­lich ist in seiner wirklichen Wesenheit, daß es die Menschen trägt, daß es vor allen Dingen die Seelen trägt, daß Geistesleben nur möglich ist, wenn es auf sich selbst, auf die eigene Freiheit gestellt ist, wenn vom Lehrer der untersten Schule ab jeder weiß: Du unterstehst keinem Be­fehl des Staates, sondern lediglich der Verwaltung derjenigen, die aus dem Geistesleben herausgewachsen sind und ihm dienen. Mit diesem Geistesleben, das vom Staate vollständig unabhängig ist, mit diesem Geistesleben wird etwas geschaffen werden können, was ein gesunder Boden für Geistesentwickelung überhaupt ist.

Was haben wir denn erlebt innerhalb der geistigen Entwickelung der neueren Zeit? Oh, wie ist im Grunde genommen das alles fremd dem wirklichen Leben, was innerhalb der Mauern des wissenschaft­lichen Betriebes gepflegt wird. Und was vermissen wir daher auf dem Boden des Wirtschaftslebens überall? Einsichtige Kenner dieses Wirt­schaftslebens geben heute zu, daß uns das Allerwichtigste fehlt gerade im Wirtschaftsleben, daß uns fehlt zum Beispiel eine wirkliche Indu­striewissenschaft. Das Wirtschaftsleben, das konnte nicht zurückblei­ben, das mußte mit dem Gang der neueren Entwickelung gehen. Es war unmöglich, daß man zum Beispiel in Deutschland dabei blieb, für die deutsche Eisenindustrie nur 799000 Tonnen Roheisen zutage zu fördern, wie man es in den ersten sechziger Jahren des neunzehnten Jahr­hunderts getan hat. Nein, es war notwendig, schon Ende der achtziger Jahre nicht 799 000 Tonnen Roheisen zutage zu fördern, sondern 4500000 Tonnen. Was ist das Bemerkenswerte an dieser Roheisen­gewinnung? Daß diese 799000 Tonnen Roheisen im Beginn der sech­ziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts von etwas mehr als 20000 Arbeitern zutage gefördert worden sind und merkwürdigerweise die 4500000 Tonnen in den achtziger Jahren von auch nur wenig mehr als 20000 Arbeitern zutage gefördert wurden. Was heißt das? Das heißt: So sind die technischen Vervollkommnungen fortgeschritten, so drängte das Wirtschaftsleben zum Fortschritt, daß von derselben An-zahl Arbeiter Ende der achtziger Jahre 4500000 Tonnen Roheisen zu­tage gefördert werden konnten, von denen anfangs der sechziger Jahre

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nur 799000 Tonnen gefördert worden sind. Da fragt man sich aber dann: Ist gefolgt in der richtigen Weise dieser Vervollkommnung der Technik die Vervollkommnung auf anderen sozialen Gebieten? Nein. Und einsichtige Kenner gestehen es heute ohne weiteres, daß uns fehlt eine Wissenschaft, welche zum Beispiel geeignet ist, nach den Anfor­derungen der Gegenwart der Produktion im Sinne der gesteigerten Konsumtion so zu helfen, daß die Betriebe überall am richtigen Ort angelegt werden, daß die Betriebe von anderen, sie unterstützenden Betrieben in der Nachbarschaft richtig begleitet werden. Wer heute verfolgt, was wegen des Mangels einer Industriewissenschaft in dieser Beziehung an wirtschaftlichem Chaos zutage gefördert worden ist, der sieht erst hinein in die wahren Gründe, in die wahrhaft praktischen Gründe für die heutige soziale Bewegung. Denn ein gesundes Geistes­leben, ein Geistesleben, das nicht in bequemer Art abhängig sein darf, sich stützen lassen darf vom Staate und seinen Hilfskräften, sondern an jedem Tage aufs neue zu beweisen hat seine Fähigkeit, seine Kraft für die soziale Ordnung, ein solches Geistesleben, das ist ein gesunder Boden für alle Geistigkeit. Und geradeso wie Sie sich sagen, wenn Sie einen schlechten Weizen aufsprießen sehen, da ist ein unvollkommener Boden darunter -, so müßten Sie sich heute sagen: Daß wir keine Indu­striewissenschaft haben, daß wir dasjenige nicht haben, was wir wie das Brot selber brauchen zur Gesundung unseres Wirtschaftslebens, das rührt davon her, daß der Boden, auf dem die praktischen Wissenschaf­ten gedeihen sollten, ungesund ist, daß das Geistesleben nicht aufsprie­ßen läßt diejenigen Menschen, die die richtigen Leiter der kapitalisti­schen Verwaltung sind, diejenigen Menschen, die nun wirklich Ver­trauen finden können in der breiten Masse derer, die arbeiten müssen. Sehen Sie, so sind die Zusammenhänge. Entweder sieht man die Zu­sammenhänge so, dann findet man einen Weg hinaus aus dem Chaos - es ist aber nötig, in diesen tieferen Zusammenhang hineinzuschauen - oder man sieht diesen Zusammenhang nicht, dann geht man, was man auch unternehmen mag im Sinne des alten Denkens über die Wirtschaft, dann geht man weiter hinein in das Chaos, weiter hinein in den Raub­bau, in den Abbau. Denn nur dadurch kommen wir über diesen Raub­bau, über diesen Abbau hinaus, daß wir anfangen bei der Sozialisie­rung

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des Geisteslebens selber. Sozialisieren im Geistesleben heißt aber, dieses Geistesleben emanzipieren vom Staatsleben, dieses Geistesleben von der untersten Schulstufe bis hinauf zur Universität auf sich selbst stellen und die Beziehungen der Menschheit zu diesem Geistesleben vollständig freimachen.

Glauben Sie mir, ich kenne alle die Einwände, die gemacht werden können gegen dasjenige, was ich eben gesagt habe. Ich weiß, daß so­wohl von bürgerlicher wie von proletarischer Seite mir gesagt werden wird: Nun, wenn die Schule wieder frei werden wird, dann wird wieder Analphabetismus blühen und ähnliche Dinge. Sehen Sie, ich möchte vor allen Dingen eines anführen gegen die Einwände, die von sozialistischer Seite gegen das gemacht werden mögen, was ich jetzt eben ausgesprochen habe. Von sozialistischer Seite legt man einen großen Wert auf die sogenannte Einheitsschule. Man sagt sich, es darf in der Zukunft nicht mehr eine Ständeschule existieren, es müssen die Kinder aller Menschen in einer Einheitsschule wenigstens bis zum vier­zehnten oder fünfzehnten Jahre unterrichtet werden. Nun gut, glau­ben Sie aber, daß eine andere Schule als eine Einheitsschule bestehen wird, wenn aus sachlichen Gründen der selbständige geistige Organis­mus, der vom Staate unabhängige geistige Organismus diese Schule einrichten wird? Ich habe ein kleines Büchelchen geschrieben: Die Er­ziehung des Kindes vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus. Sie mögen zu diesem Standpunkte was immer für eine Stellung ein­nehmen. Ich kann jede gegnerische Stellung zu diesem Standpunkte voll begreifen; aber sehen Sie von dieser Stellung ab, sehen Sie ab von dem, was rein vom schulphilosophischen Standpunkte aus über eine solche Anschauung zu sagen ist, und Sie werden sehen, da wird, indem die Erziehung des Kindes besprochen wird, rein Rücksicht genommen auf dasjenige, was sich im Menschen bis zum Reifealter entwickelt. Da kommt man gar nicht darauf, wenn man aus sachlichen Gründen des Geisteslebens über die Konstitution einer Schule spricht, etwas an­deres als eine Einheitsschule auszugestalten. Das wird ein Bedürfnis des vom Staate emanzipierten Geisteslebens sein, daß dieses Geistes­leben sich jeden Tag aufs neue in seinen Vertretern wird als wirksam zu erweisen haben, daß es nur auf sich selbst gestützt seine wahre

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Wesenheit und Kraft dem sozialen Leben zur Verfügung stellen wird. Ein solches Geistesleben wird nicht in abstrakten Höhen leben, es wird nicht predigen. Ein solches Geistesleben wird nicht weltfremde Wissen­schaftlichkeit hinter Mauern pflegen, es wird Menschen ausbilden, die, wenn sie die Gedanken dieser Geistigkeit in sich tragen, zu richtigen Leitern des Wirtschaftslebens werden, unseres so komplizierten, so viele Anforderungen stellenden Wirtschaftslebens.

Das Geistesleben ist durch den Staat nicht praktisch, es ist unprak­tisch geworden, es ist abstrakt geworden. Ich habe seit Jahrzehnten denjenigen, zu denen ich sprechen durfte, immer wieder gesagt: Ihr kennt Lehren, Ihr kennt Theorien, die sich zum Beispiel zuspitzen zur Ethik, zur Moral, so daß den Menschen gepredigt wird «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», oder gepredigt wird von Brüderlichkeit, von allgemeinem Mitgefühl und dergleichen. Mir kommen diese Predigten vor, wie wenn man zum Ofen, der im Zimmer steht, sprechen würde:

Du, Ofen, so siehst du aus; deine Wesenheit fordert dich auf, das Zim­mer warm zu machen, das ist deine Ofenpflicht, dein kategorischer Imperativ, so mache also das Zimmer warm! Beim Ofen nützt die Pre­digt so wenig wie beim Menschen. Darum handelt es sich, daß wir dem Ofen gar nicht predigen, daß wir aber Holz oder Kohlen hineinlegen und sie anzünden. Ebensowenig passen in unsere heutige soziale Ord­nung noch diejenigen geistigen Betriebe, welche in abstrakter Höhe sich halten, es passen hinein allein diejenigen, welche wirklich den Zugang finden zu dem, was in dem Menschen lebt. Glauben Sie, daß wenn zum Beispiel seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts - aber das ist natürlich eine Hypothese - ein wahrhaft lebendiges Geistesleben be­standen hätte, man wäre ebenso unverständig dem Eisenacher, dem Gothaer, dem Erfurter Programm gegenübergestanden, wie man ihnen gegenübergestanden hat? Nein, nimmermehr! Auf dem Boden eines gesunden Geisteslebens hätte sich eine gesunde Industriewissenschaft, eine gesunde soziale Wissenschaft entwickelt. In der Sozialwissenschaft insbesondere haben wir immer das Pferd beim Schwanze aufgezäumt. Statt daß diejenigen, die berufen waren über soziale Ordnung, über Wirtschaftsordnung zu sprechen, irgendwie etwas gefunden haben, was zu geschehen hat, was hätte entsprechen können den Anforderungen

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des Proletariats, statt dessen haben die Herren dasjenige verzeichnet, was schon da war. Das ist es, was uns auf diesem Gebiete so tief her­untergebracht hat. Und der Proletarier, ihm war nichts anderes mög­lich, als an seinem Leibe die Folgen dessen zu erleben, was aus solchen Tatsachen heraus, wie ich sie dargestellt habe, mit der Wirtschaftsord­nung, in die er eingespannt war, angerichtet wurde. Er sah von seinem Standpunkte an der Maschine, von seiner Einspannung in den seelen­verödenden Kapitalismus hin auf das Geistesleben der leitenden, füh­renden Klassen. Nun ja gewiß, diese leitenden, führenden Klassen, die konnten nicht anders, als das Leben immer mehr und mehr demokra­tisch gestalten, sie riefen die breiten Massen der Menschheit zur Demo­kratie auf. Sie verfielen nach und nach auch darauf, von dem, was sie als Geistesleben pflegten, allerlei abzugeben an das Proletariat; Volks­hochschulen wurden gegründet, Kunsthäuser, in denen dem Volke ge­zeigt wurde, was die anderen Klassen an Kunst hervorbringen und so weiter. Was sich da ausgestaltete - niemand soll natürlich ein Vorwurf gemacht werden, denn die Leute glaubten, das Rechte zu tun, was im Sinne des Fortschritts in der Demokratie lag -, aber was in Wirklich­keit in Szene gesetzt wurde, war nichts weiter als eine große Lebens-lüge. Man verstand sie nur nicht, diese Lebenslüge. Wenn man aufrief die breiten Massen des Proletariats, daß sie anschauen sollten die Bil­der der Bürgerlichen, daß sie zuhören sollten bei den Schulkursen der Bürgerlichen, und wenn ihnen dann eingeredet wurde, sie verständen etwas davon, dann war das nicht wahr. Denn man kann auf dem Ge­biete des Geisteslebens nichts erleben, wenn nicht das Erzeugte inner­halb der gleichen Gemeinschaft erzeugt ist. Indem eine tiefe Kluft sich auftat in bezug auf die sozialen Erlebnisse des Proletariats und des Bürgertums, war auch das angebliche Verstehen der bürgerlich-gei­stigen Hervorbringung von seiten des Proletariats weiter nichts als eine Lebenslüge.

So konnte das Proletariat nicht anders, als sich hineingestellt fühlen in das bloße Wirtschaftsleben. Es war ja alles daraufhin organisiert, daß nur wenige die Früchte dieses Geisteslebens wirklich genießen konnten. Das Proletariat aber, was nahm es denn wahr? Auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens nahm es wahr das Kapital, die Wirksamkeit

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seiner eigenen Arbeitskraft und die Warenzirkulation, Warenerzeugung und den Warenkonsum. Das war alles, was es in Wirklich­keit erlebte. Sah es aber auf den Staat hin, welcher in dieser Weise seinem Rahmen nach benützt wurde, wie ich es eben dargestellt habe von den leitenden, führenden Schichten der neueren Zeit, dann fühlte der Proletarier etwas, was jeder Mensch fühlen kann, der seelisch ge­sund organisiert ist. Man kann viel nachdenken darüber, was der wich­tige Begriff des Rechtes innerhalb der Menschlieit, besser gesagt, inner­halb der Menschlichkeit, eigentlich bedeutet. Man wird sich zuletzt sagen: Das Rechtsbewußtsein ist etwas so Ursprüngliches gegenüber der menschlichen Natur wie dem gesunden Auge gegenüber die Wahr­nehmung der blauen oder roten Farbe. Zu dem gesunden Auge kann man immer sprechen von der roten oder blauen Farbe, aber man kann nicht irgendeine abstrakte Vorstellung davon hervorrufen. So kann man zu jedem gesunden Menschen über die einzelnen Rechte sprechen. Das fühlte auch die breite Masse des Proletariats in den Zeiten, in denen es durch das demokratische Prinzip zur Selbstbesinnung gekom­men ist an der Maschine und im Kapitalismus drinnen. Dann aber sah dieses Proletariat hin nach dem Staate. Was glaubte es von seinem Standpunkte aus mit Recht innerhalb dieses Staates zu finden? Wahr­haftig nicht die Verwirklichung des Rechtes, sondern den Klassenkampf mit seinen Klassenvorrechten und Klassenbenachteiligungen. Hier haben wir wieder ein Beispiel, wo das bürgerliche Denken sich kraftlos er­wiesen hat. Auf der einen Seite war es genötigt, Demokratie walten zu lassen, auf der anderen Seite trug es nichts dazu bei, die Konsequenz dieser Demokratie zu ziehen, und ließ sich nicht wirklich dazu herbei, dasjenige vom Staate auszuscheiden, was ausgeschieden werden muß, und in die Sphäre des Staates einzubeziehen, was in die Sphäre des Staates einbezogen werden muß.

Ich will heute wegen der vorgerückten Zeit nur auf etwas hinweisen, aber auf ein Wichtigstes, auf den zweiten Kernpunkt der sozialen Be­wegung der neueren Zeit. Ich will darauf hinweisen, wie eingeschlagen hat - wie gesagt, derjenige, den sein Schicksal dazu bestimmt hat, mit dem Proletariat zu denken, der hat es immer wieder und wiederum gesehen - in die Gemüter der Proletarier das Wort von Karl Marx,

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daß das moderne Proletariat leiden muß darunter, daß seine Arbeits­kraft auf dem Arbeitsmarkte gekauft wird wie eine Ware, daß im Wirtschaftsleben nicht bloß zirkulieren Waren, sondern daß mensch­liche Arbeitskraft da zirkuliert. Die Entlohnung ist nichts anderes als das Kaufen der menschlichen Arbeitskraft wie eine Ware. Gewiß, der Proletarier war nicht so gebildet durch das Erbgut der bürgerlichen Wissenschaft, die er übernommen hat, daß er sich im Verstande deutlich machen konnte, was eigentlich vorlag. Und die proletarischen Führer hatten ja erst recht die bürgerliche Wissenschaft geerbt, sie konnten es erst recht nicht. Aber der Proletarier fühlte im Herzen gegenüber dem eben angeführten Wort von Karl Marx das Folgende. Er blickte zurück in alte Zeiten und sagte sich: Es gab einmal Sklaven, da konnte der Kapitalist den ganzen Menschen kaufen wie eine Kuh oder wie einen Gegenstand. Dann kam die Zeit der Leibeigenschaft, da konnte man schon weniger vom Menschen kaufen, aber immerhin noch genug. Dann kam die neuere Zeit, die Zeit, in der man dem Menschen weismachte, er sei ein freies Wesen. Aber der Proletarier konnte sich seiner Freiheit nicht erfreuen, denn er mußte jetzt noch immer etwas von sich ver­kaufen, nämlich seine Arbeitskraft. Man kann nicht die Arbeitskraft verkaufen wie etwas, das man erzeugt hat. Ein Wagenrad, ein Pferd kann man auf den Markt bringen und verkaufen und dann wieder zurückgehen, mit der Arbeitskraft muß man mitgehen. Da ist ein Rest von Sklaverei im wirklichen Leben, wenn auch noch so viel geredet wird und noch so viel wissenschaftlich gelehrt wird von der sogenann­ten Freiheit. Das war dasjenige, was sich in den Gefühlen des Prole­tariers festlegte, was auch hätte gefühlt werden müssen von einem wirklichen Geistesleben in den leitenden, führenden Kreisen. Aber in-dem man zwar die Demokratie mit Recht heraufbrachte, die dieses Gefühl großzog gegenüber der menschlichen Arbeitskraft, war man kurzsichtig genug, diesem Gefühl durch keine Einrichtung entgegen-zukommen. Jetzt endlich sprechen die Tatsachen so, daß unbedingt notwendig ist, als die zweite Kernfrage der sozialen Bewegung aufzu­werfen: Wie entkleidet man die menschliche Arbeitskraft des Charak­ters der Ware? Das ist nicht anders möglich, als daß man, wie man auf der einen Seite das Geistesleben aus dem angeführten Grunde abglie­dern

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muß von dem eigentlich politischen oder Rechtsstaat, man auf der anderen Seite das Wirtschaftsleben abgliedert von diesem politi­schen oder Rechtsstaat, wenn man also drei selbständige soziale Orga­nismen nebeneinanderstellt, die gerade dann eine richtige Einheit wer­den können, wenn sie selbständig sind. Dann werden sie einander or­ganisch innerlich recht helfen, während die heute bestehende Einheit von Wirtschaftsleben, staatlichem oder Rechtsleben und Geistesleben uns eben in ein Chaos hineingeführt hat. Das Wirtschaftsleben nun, überlegen Sie sich, auf der einen Seite grenzt es an Naturbedingungen. Wie töricht wäre es, wenn irgendeine Korporation sich zusammen­setzen und bestimmen würde aus den Bedürfnissen für das Jahr 1920 schon heute, was für Naturbedingungen notwendig seien, zum Beispiel wieviel Tage im Jahr es regnen und wieviel Tage Sonnenschein sein müsse. Das wäre eine Torheit selbstverständlich. Auf diesem Gebiet, wo das Wirtschaftsleben an die Naturgrundlagen grenzt, da begreift man diese Torheit, aber gegenüber der anderen Grenze, wo das Wirt­schaftsleben an den von ihm freien Staat, der selber nicht wirtschaften darf, grenzt, da begreift man heute ein Ähnliches noch nicht. Selbst Wal­ther Rathenau hat in seinem neuesten Schriftchen «Nach der Flut» be­tont, die Loslösung der Arbeitskraft vom Wirtschaftskreislauf würde einen ungeheuren Sturz der Geldwerte herbeiführen. Er kann sich eben gar nicht finden in das, was gerade durch die Befreiung des Wirtschafts­lebens vom Staatsleben doch möglich sein wird - die Arbeitskraft her-auszuziehen aus dem Wirtschaftsleben, um dem Wirtschaftsleben nichts zu lassen als dasjenige, was dem Menschen gegenüber objektiv, vom Menschen unabhängig ist. Der Arbeiter wird im Staat auf einem sol­chen Boden stehen müssen, auf dem jeder Mensch gegenüber dem an­deren Menschen gleich ist. Das wird die Zukunft des vom Geistesleben und vom Wirtschaftsleben befreiten Staates sein, daß auf dem Boden dieses Staates sich alles entwickeln wird, was, es läßt sich genau ab­grenzen, so in der Menschheit lebt, daß ihm gegenüber alle Menschen vollständig gleich dastehen.

Nicht gleich stehen die Menschen da in bezug auf ihre individuellen Fähigkeiten und Begabungen. Alle diese individuellen Fähigkeiten und Begabungen müssen im freien Geistesleben, in dem vom Staate unab­hängigen

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Geistesleben entwickelt werden. Da vermag die Demokratie nichts. Die Demokratie hat zu ihrem Inhalte alles dasjenige, worin alle Menschen gleich sind und wozu keine Lebenserfahrung gehört. Lebens­erfahrung aber ist das Element des Wirtschaftslebens. Der Staat darf nicht wirtschaften, sondern er hat alles dasjenige festzusetzen und zu regeln, worin ein Mensch dem anderen vollkommen gleich ist, worin wahre Demokratie herrschen kann. Dazu gehört neben dem Besitzrecht, das Sie in meinem Buche weiter ausgeführt finden, vor allen Dingen das Arbeitsrecht. Zeit, Maß und Art der Arbeit wird in der Zukunft von dem vom Wirtschaftsleben unabhängigen Staate geregelt werden müs­sen, so daß der Arbeiter, der selber mit dabei ist bei dieser Regelung, schon wenn er die Fabrik, die Werkstätte betritt, mit einem durch das Recht begrenzten Arbeitsmaß kommt, mit einer vor allen Dingen durch das Arbeitsrecht begrenzten Arbeitszeit kommt, bevor er irgend­einen Vertrag mit einem Arbeitsleiter abschließt. Wie das Wirtschafts­leben auf der einen Seite an die Naturgrundlage grenzt und man höch­stens durch einige technische Maßnahmen dieser Naturgrundlage bei-kommen kann, aber im weiteren von ihr abhängig ist, so wird das Wirtschaftsleben zukünftig müssen auf der anderen Seite an das fest geregelte Arbeitsrecht grenzen. Man wird nicht nach dem Gebrauchs-wert der Güter den Lohn bestimmen können, wie das im wesentlichen noch heute innerhalb unserer Wirtschaftsordnung der Fall ist. Man wird allen Wohlstand, alle Produktion innerhalb des Wirtschafts­lebens nur als eine Konsequenz desjenigen gestalten können, was vom Staate als Arbeitsrecht festgesetzt ist, wie man das Wirtschaftsleben auf der anderen Seite nur entwickeln kann als abhängig von den Na­turgrundlagen. Das weitere müssen Sie schon nachlesen in meinem Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft». Wir kommen da eben zum zweiten der Kernpunkte der sozialen Frage, zu der Regelung des Arbeitsrechtes durch eine Abtrennung des Wirtschaftslebens von dem staatlichen Leben.

Der dritte der Kernpunkte der sozialen Frage ist die wirtschaft­liche Frage selbst. Diese findet ihre Regelung dann, wenn dieses Wirt­schaftsleben real zwischen den beiden eben bezeichneten Grenzen eingeklemmt,

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innerhalb dieser Grenzen aus rein wirtschaftlichen Kräften, den Kräften der Berufsstände, aus den Kräften namentlich von Produk­tion und Konsumtion durch Genossenschaften und dergleichen assozia­tiv geregelt wird in einer völligen Unabhängigkeit vom Rechts- und Geistesleben. Es ist heute nicht mehr Zeit, im einzelnen - das kann im nächsten Vortrage geschehen - einzugehen darauf, wie das emanzi­pierte Wirtschaftsleben dann das bringen kann, was allerdings als Wohlstand abhängig sein wird von dem Arbeitsrecht, auch vom Be­sitzrecht, aber in einer gesunden Abhängigkeit davon sein wird und vor allen Dingen in einer moralisch notwendigen Abhängigkeit, wie es auf der anderen Seite in einer natürlichen Abhängigkeit ist. Im ein­zelnen wird allerdings notwendig sein, daß die beiden anderen Gebiete des sozialen Organismus, das geistige und das rechtlich-staatliche, ihre Kräfte liefern dem Wirtschaftsleben. Aber sie werden sie liefern gerade dann, wenn sie auf ihrem Boden in der richtigen Weise sich ausbilden.

Als ich neulich in einer Stadt in der Schweiz über diesen Gegenstand sprach, da sagte mir ein sehr gescheiter Mensch in der Diskussion - gewiß, ich erkenne alle gescheiten Einwände an, ich bin mir bewußt, wieviel einzuwenden ist gegen das, was ich hier vorschlage; aber es ist aus der Wirklichkeit heraus, und daher ist soviel einzuwenden, wie in der Regel gegen die Wirklichkeit einzuwenden ist; gerade deshalb ist das Vorgeschlagene praktisch, weil zunächst soviel einzuwenden ist und weil wiederum den Einwänden in praktischer Weise begegnet wer­den muß, nicht mit Urteilen -, da sagte er: Ja, du willst nun den Staat mit seinem Recht und seiner Gerechtigkeit abgrenzen, aber es muß doch Gerechtigkeit herrschen, sowohl im Geistes- wie im Wirtschafts­leben! Ich erwiderte ihm mit einem Bilde: Ich stelle mir vor eine länd­liche Familie, den Mann, die Frau, die Kinder, Knechte, Mägde und drei Kühe. Die Kühe geben Milch. Die ganze Familie braucht Milch, ist es deshalb just notwendig oder auch nur möglich, daß die ganze Familie auch Milch gibt? Nein, wenn die drei Kühe richtig Milch geben, wird die ganze Familie mit Milch versorgt sein, und es ist gar nicht notwendig, daß die anderen auch Milch geben sollten. So ist es mit den drei Gliedern des sozialen Organismus. Jedes der Glieder liefert gerade dadurch für die anderen Glieder dasjenige, was ihnen geliefert

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werden kann, weil es in seiner Emanzipation auf seine gesunde, wesen­hafte Grundlage gestellt wird. Das ist es, was man sich vor allen Din­gen gegenüber diesen wirklich praktischen, aus der Wirklichkeit her­ausgeholten sozialen Vorschlägen zu überlegen hat.

Seit mehr als einem Jahrhundert tönt durch die Menschheit hindurch eine dreifache Devise: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wer könnte sich verschließen der kräftigen Impulsivität dieser drei Ideale. Den­noch, sehr gescheite Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, sie haben mit Recht, ich sage ausdrücklich mit Recht, die Widersprüche nachge­wiesen zwischen diesen drei großen menschlichen Idealen und haben gesagt: Wenn man die Freiheit der Individualität entwickeln soll, wenn die Individualitäten wirklich nebeneinander zu ihrem Recht kommen sollen, wie soll da Gleichheit herrschen? Oder wiederum: Wie soll neben der Gleichheit, neben dem Ausbreiten des reinen Rechtes noch die Brüder­lichkeit zu ihrer Geltung kommen? Nun, sehen Sie, es liegt hier ein kapi­taler, fundamentaler Widerspruch vor. Warum? Weil diese drei großen Ideale der Menschheit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit noch gefaßt worden sind in einer Zeit, wo die Menschen hypnotisiert von der Idee des Einheitsstaates lebten, jenes Einheitsstaates, der uns eigent­lich in die heutige Katastrophe hineingeführt hat. Aber etwas Richtiges, etwas Hohes, etwas Gewaltiges war doch mit diesen drei Impulsen gefühlt, und dies kann erst realisiert werden, wenn man wissen wird, daß ein jedes dieser drei Ideale für das auf seinen eigenen Boden ge­stellte Glied des dreigliedrigen sozialen Organismus taugt. Es muß sich in der Zukunft entwickeln der freie geistige Organismus aus den Im­pulsen der Freiheit heraus, der staatliche, politische Organismus aus den Impulsen der Gleichheit heraus, der wirtschaftliche Organismus aus dem Prinzip der Brüderlichkeit großen Stiles über die Erfahrungen von Mensch zu Mensch, der Organisationen, der Assoziationen, der Genossenschaften und so weiter.

Das hat denjenigen, der heute zu Ihnen spricht, bewogen, als wir mitten drinnen standen in jener furchtbaren Katastrophe, die uns hier in Deutschland in unsere heutige Lage gebracht hat, an manche Stellen sich zu wenden, damit dazumal in den Ton der für Deutschland -man konnte das damals schon sehen - vergeblich donnernden Kanonen

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hätte hineintönen sollen eine geistige Stimme gegenüber dem, was sonst die Welt erfüllte, damit Mittel- und Osteuropa gehört hätten, daß sie künftig nicht mit Kanonen, sondern mit dem Geiste arbeiten sollten. Der Weg sollte gesucht werden, der verhindert hätte, was nun gekom­men ist. Viel Mühe haben sich meine Freunde gegeben, an die betref­fenden Stellen, die dazumal noch berufen waren und heute in den Ab­grund versunken sind, dasjenige heranzubringen, was hervorgeholt ist aus den notwendigen Menschheitsentwickelungsbedingungen der Gegenwart und nächsten Zukunft. Und gesagt habe ich zu manchen in der damaligen Zeit: Was in diesem Entwurfe ausgesprochen wird - er war dazumal hauptsächlich für die auswärtige Politik formuliert -, das ist dasjenige, was in hingebungsvoller Arbeit seit Jahrzehnten den Ver­hältnissen von Mittel- und Osteuropa und der zivilisierten Welt über­haupt abgelauscht ist, was sich realisieren will in den nächsten zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren. Und gesagt wurde: Sie haben jetzt die Wahl, entweder Vernunft anzunehmen und der Menschheit zu sagen, daß Sie das realisieren wollen, oder Sie stehen vor Kataklysmen und Revolutionen. Denn was man nicht durch Vernunft realisieren will, das erst führt zur Revolution. Das darf heute jemand sagen, der vor dieser Kriegskatastrophe als von einer sozialen Geschwurbildung, von einer sozialen Krebskrankheit gesprochen hat. Damit wurde man damals als Phantast angesehen, und als Praktiker galten diejenigen, die, kurz bevor das Schlachten begann, von einer allgemeinen Entspannung spra­chen.

Hoffen wir, daß in denen, die schon etwas einsehen von der Not­wendigkeit eines Umdenkens - nicht bloß einer Umänderung der Ein­richtungen, sondern eines Umdenkens, Umlernens in den Menschen-köpfen -, hoffen wir, daß in ihnen aufleuchte der Impuls für die soziale Bewegung, die durch so laut sprechende Tatsachen sich ankündigt. Hoffen wir, daß er aufleuchte in den Menschen, bevor es zu spät ist. Denn dasjenige, was durch Tatsachen spricht, es muß mit Gedanken eingeholt werden. Wir brauchen heute nicht ein leichtes Hinreden über dies oder jenes, was geändert werden soll. Wir brauchen neue Gedan­ken in den Menschenköpfen drinnen. Viele Menschen haben gesagt:

Eine solche Katastrophe wie dieser Krieg ist seit dem Beginn der

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Menschheitsgeschichte noch nicht dagewesen. Wenige aber haben seit­her gesagt: Deshalb sind jetzt auch notwendig Gedanken, die manchem ja so vorkommen können, wie wenn sie noch nicht dagewesen wären, aber wir brauchen sie, diese Gedanken, wenn wir herauskommen wol­len aus jener furchtbaren Katastrophe, die noch da ist, herauskommen wollen aus Wirrnis und Chaos. Greifen wir zur Selbstbesinnung! Ver­suchen wir, zu der Einsicht das mutige soziale Wollen zu fügen, dann wird es noch nicht zu spät sein, wenn auch die Lage heute schon schwie­rig ist. Versuchen wir zu verhindern den Augenblick, wo wir uns dann in furchtbarer Menschheitstragik trauernd sagen müßten: Zu spät!

Schlußwort nach der Diskussion

Ich will Sie heute nicht mehr sehr lange aufhalten. Zuerst wird es meine Aufgabe sein, Ihnen herzlich zu danken für Ihr Vertrauen. Sie können mir glauben, es ist tatsächlich nicht irgendwie entsprechend einer persönlichen Sehnsucht, zu Rate gezogen zu werden in dieser ern­sten Zeit. Sondern wenn ich Ihr Vertrauen als etwas außerordentlich Bedeutungsvolles ansehe, so ist es lediglich, weil ich mich gegenüber­stellen muß dem Ernste der Zeit. Und würde ich nicht glauben, daß wir in dieser Zeit wahrhaftig nicht lange warten sollten, sondern rasch zu Taten kommen müssen, so würde ich Ihnen vielleicht selber emp­fehlen: Uberlegen Sie sich das eine oder andere. Heute aber handelt es sich wirklich darum, heraus aus den Wirrnissen der Gegenwart den Weg zu raschen Taten zu finden. Ich bin jetzt gerade acht Tage hier in Stuttgart, und ich muß gestehen, nachdem ich über dieselben Ideen, von denen ich Ihnen heute abend gesprochen habe, längere Zeit hin­durch in der Schweiz gesprochen habe, waren mir die Eindrücke dieser letzten Woche hier in dieser Beziehung ein meine Erwartung und Hoff­nung doch besiegelndes Erlebnis, und zwar von einer ganz besonderen Seite her.

Sehen Sie, heute kommt es darauf an, daß die Menschen der breiten Masse das Vernünftige wollen. Aus meiner Rede wird Ihnen selbst hervorgegangen sein, wie seit Jahren versucht worden ist, bei Minderheiten,

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bei denjenigen, denen in gewisser Beziehung die Führung der Menschheit anvertraut war, das Richtige zu suchen. Man predigte tau­ben Ohren. Heute hängt sehr viel ab von der Masse, hängt sehr viel davon ab, ob man die Möglichkeit findet, in den breiten Kreisen Ver­nunft zu pflegen. Da war es mir ein großes Erlebnis, daß ich über diese Ideen, wie es Ihnen erwähnt worden ist, zu breiten Massen der Bevöl­kerung sprechen konnte und keinen Widerspruch erfuhr. Das halte ich heute für außerordentlich wichtig, denn es bezeugt mir, sucht man den Weg, dann findet man ihn, und ist er bisher nicht gefunden worden, so meine ich, er ist nicht in zweckentsprechender Weise gesucht worden. Das haben mir die letzten Tage bewiesen, deshalb waren sie ein wich­tiges Erlebnis für mich.

Zu den einzelnen Punkten der Debatte wäre allerdings viel zu sagen, aber bei der vorgerückten Zeit eigentlich zu viel. Gegen einiges aber möchte ich mich doch wehren, anknüpfend an letzte Worte, die eigent­lich von großem Wohlwollen gegen mich zeugten. Da möchte ich Ihnen nur empfehlen: Lesen Sie auf Seite 140 meiner Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und

Zukunft»: «Die dargestellten einzelnen Lebenseinrichtungen werden gezeigt haben, daß es der zugrunde liegenden Denkungsart sich nicht, wie mancher meinen könnte - und wie tatsächlich geglaubt wurde, als ich hier und dort das Dargestellte mündlich vorgetragen habe -, um eine Erneuerung der drei Stände, Nähr-, Wehr- und Lehrstand, han­delt. Das Gegenteil dieser Ständegliederung wird angestrebt.» Der Herr Vorredner sprach davon, daß man die Idee der Dreigliederung auch bei Plato findet. Nein, was ich Ihnen heute vorgetragen habe, ist das Gegenteil der Ständegliederung. Nicht die Menschen werden im Staate neu gegliedert, nicht die alten Stände werden aufgerichtet, nicht der platonische Gedanke wird verwirklicht, sondern das, was unab­hängig vom Menschen ist, der soziale Organismus, er wird dreifach gegliedert, und der Mensch kommt dadurch zu seiner vollen einheit­lichen Menschenwürde, daß er nicht in Klassen aufgeteilt wird. Da­durch, daß der soziale Organismus ein dreigliedriger wird, werden die Klassenunterschiede überwunden. Zwischen uns und Plato liegt eine Kluft. Wir müssen auch Plato gegenüber umdenken. Das muß ich auch

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wohlwollenden Worten gegenüber ausdrücklich bemerken. Es ist sehr wichtig, daß wir nicht das, was heute auftritt, mit irgendeiner alten Plato-Idee decken wollen.

Dann ist heute in einer mir sehr erfreulichen Weise wiederholt der Name Karl Christian Planck aufgetaucht. Es sind heute wohl auch, glaube ich, Persönlichkeiten hier im Saale, welche vor Jahren drüben im Bürgermuseum waren, wo ich gerade im Zusammenhang meiner damaligen Rede die Rechtsideen und Staatsideen von K. C. Planck in der entsprechenden Weise hervorgehoben habe. Ja, K. C. Planck ist auch einer von denjenigen, die ich am liebsten als Beweise anführen möchte für die Irrungen des geistigen Lebens der neueren Zeit. Hat sich ja doch eigentlich K. C. Planck genötigt gesehen, zu sagen, er möchte, daß nicht einmal seine Knochen im undankbaren Vaterlande begraben wür­den. So wenig ist auf dasjenige hingehorcht worden, was er für die damalige Zeit zu sagen hatte. Ich weiß aber, lebte Planck heute wieder auf, so würde er mit der Zeit gehen. Er würde, wenn er sich die Frage vorlegte: Wie würde sich mein Berufsrechtsstaat in die Wirklichkeit umgesetzt ausnehmen? - von selber auf die Dreigliederung kommen. Das ist es, was ich glaube, das das Lebensfähige ist bei Planck, und ich glaube, es wird eine gute Vorschule sein für das, was heute, allerdings so viele Jahrzehnte nach Planck, anders gesagt werden muß - es würde eine gute Vorschule sein, wenn recht viele Leute das Nun, sehr viel ist gesagt worden: Verhandlungen sollen gepflogen werden und dergleichen. Aber sind denn das nicht auch Verhandlun­gen, die nun schon begonnen haben, wenn soundso viele Menschen, von denen Ihnen erzählt worden ist, zu den Ideen zunächst einmal sich bis zu einem gewissen Grade bekannt haben. Das ist die Meinung auch unseres Komitees, daß auf dieser Bahn eben weitergeschritten werden müßte. Nun, ein Wort möchte ich aber doch aussprechen, ein Wort, das der ja auch von manchen für groß angesehene Gladstone einmal gesagt hat. Er hat einmal das Wort ausgesprochen, daß die nordameri­kanische Verfassung die musterhafteste Verfassung sei, die er kenne. Darauf hat ein anderer, vielleicht geistreicherer englischer Staatsmann gesagt, nach seiner Ansicht brauchte die Verfassung gar nicht so gut zu

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sein wie der Gladstone gesagt hat, denn die Nordamerikaner wüßten auch das Richtige für sich mit einer schlechten Verfassung zu machen. Es käme darauf an, was die Menschen eigentlich aus einer Verfassung machen.

Nun möchte ich, statt auf die Einzelheiten der Debatte einzugehen, hinweisen auf die Grundunterschiede, die bestehen zwischen dem, was ich meine, und dem, worin viele Menschen das Heil sehen. Sehen Sie, um was es sich hier handelt, ist nicht, irgendein abstraktes Programm aufzustellen, in dem sehr viele Menschen das Heil sehen, sondern es handelt sich hier darum, die Menschen im sozialen Leben in einen sol­chen Zusammenhang zu bringen, daß sie das Richtige finden können aus der sozialen Gemeinschaft heraus. Mein Aufruf und mein Buch wenden sich an die Menschen. Ich habe in den verflossenen Jahren wiederholt gesagt: Ich bilde mir nicht ein, gescheiter zu sein als andere, die auch Erfahrungen haben, aber das scheint mir doch in meinen Vor­schlägen zu liegen, daß sie an die Wirklichkeit herantreten, an das praktische Leben. In jedem Augenblick können die Dinge, um die es sich hier handelt, da und dort von jedem Ausgangspunkt aus verwirk­licht werden. Es handelt sich nur darum, daß man den Mut dazu hat. Ich sagte oftmals, vielleicht bleibt von meinen einzelnen Vorschlägen kein Stein auf dem anderen, aber man wird durch das Zusammenleben der Menschen das Richtige finden, wenn man ihnen die Möglichkeit da­zu gibt, dieses Richtige zu finden. Und dieses Richtige werden die Men­schen finden, wenn sie in der Dreigliederung im sozialen Organismus darinnenstehen. An die Menschen selber geht mein Appell. Wenn die Menschen die gemeinte Einrichtung treffen wollen, so kommen sie in Beziehungen zueinander, in denen sie ihr soziales Leben wirklich so einrichten können, daß die Bedingungen eines gesunden sozialen Orga­nismus erfüllt sind. Um Praktisches handelt es sich, um ein praktisches Zusammenfassen der Menschen nach dem dreigegliederten Organismus. Dann wird man auch in dem Geistesleben, dem Rechtsleben, dem Wirt­schaftsleben das Rechte finden, wenn die Menschen in dieser Weise in drei Gebieten sind. Um die Menschen handelt es sich, und man braucht im Grunde genommen, um diesen Aufruf zu verstehen, nichts anderes als den wirklichen Glauben an die Menschen. Es ist mir oftmals gesagt

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worden, der Aufruf sei schwer verständlich. Ich muß gestehen, ich habe mich gewundert, daß das die Menschen gesagt haben, die in den letzten vier bis fünf Jahren so viel verstanden haben, was ich nicht verstanden habe. Was hat man nicht alles verstanden oder zu verstehen geglaubt, wenn es vom Großen Hauptquartier oder sonst woher kam. Da ver­standen das alle Leute und rahmten sich sogar in goldene Rahmen die Aussprüche ein. Aber jetzt kommt es darauf an, daß die Menschen von sich aus einmal aus innerster freier Entschließung etwas verstehen. Auf sich muß der Mensch sich stellen, das ist die erste Forderung. Das geht als Grundton durch diesen Aufruf und durch alles das, was hier gewollt wird. Sie werden gerade aus dem, was ich zuletzt gesagt habe, den eigentlichen Grundton des Aufrufes schon entnehmen können, und ich hoffe, daß das, was gewollt wird, immer besser und besser verstanden werde.

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WEGE AUS DER SOZIALEN NOT UND ZU EINEM PRAKTISCHEN ZIELE Öffentlicher Vortrag, Stuttgart, 3. Mai 1919

In der gegenwärtigen ernsten Lage eines großen Teiles der Menschheit, insbesondere der Menschheit Mitteleuropas, wäre es verhängnisvoll, wenn die Heilung verschiedenartiger schwerwiegender sozialer Schä­den mit kleinen und kleinlichen Mitteln gesucht würde. Es ist notwen­dig, sich heute aufzuschwingen zu umfassenden eindringlichen Impul­sen, die begründet sind in einer wirklichen Erkenntnis desjenigen, was uns hineingetrieben hat in die Wirrnisse und in das Chaos, und es ist notwendig, unbefangen, ehrlich und aufrichtig den Blick auf das­jenige zu wenden, was eigentlich da ist und aus dem wir herauswollen. Von diesen Erwägungen, die mit den eben angeführten paar Sätzen charakterisiert sind, ist bei Abfassung jenes Aufrufes zur Dreigliede­rung des sozialen Organismus ausgegangen worden, der Ihnen bekannt ist und über den ich auch heute wieder sprechen will. Es ist immer nur möglich, ich möchte sagen, von diesem und jenem Gesichtspunkte aus auf die Notwendigkeit desjenigen hinzuweisen, was in diesem Aufrufe und jetzt etwas ausführlicher, aber auch nur etwas ausführlicher, in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnot­wendigkeiten der Gegenwart und Zukunft> gesagt ist. Und man hätte viele Vorträge notig, wenn man auf alles das nur hinweisen möchte, was zugrunde liegt den Impulsen, die zu diesem Aufrufe geführt haben. Daher muß ich Sie schon bitten, das, was ich in einem einzelnen Vor-trage sagen kann, auch so hinzunehmen, daß es immer gewissermaßen nur ein Ausschnitt aus demjenigen sein kann, was eigentlich zum Ver­ständnis jenes sozialen Wollens führt, das mit dem Aufrufe gemeint ist. Vor allen Dingen möchte ich aber heute darauf hinweisen, daß auch ein Blick auf dasjenige, was aus der internationalen Lage heraus in die furchtbare Katastrophe der letzten Jahre geführt hat, wenn man es sachgemäß und unbefangen betrachtet, zu diesem Aufrufe hinführen

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muß. Auswärtige - wenn wir vom Gesichtspunkte Deutsch­lands sprechen - politische Verhältnisse und innerpolitische Verhält­nisse scheinen hinzuzwingen zu den Impulsen, die hier gemeint sind. Es geht ja dieser Aufruf in seinen Grundgedanken davon aus, daß die furchtbare Lage, in die wir hereingeraten sind, im wesentlichen von jener Entwickelung in der neueren Zeit herrührt, die zu einer Ver­mischung und Vermengung dreier Lebensgebiete geführt hat, die sich von jetzt ab selbständig entwickeln müssen, der drei Lebensgebiete des geistigen Lebens, des eigentlich politischen oder Rechts- oder staatlichen Lebens und des wirtschaftlichen Lebens.

In dem Einheitsstaate, der immer mehr und mehr, wie die Mensch­heit hypnotisierend, als das Allheilmittel der sozialen Ordnung an­gesehen worden ist, wurde verschmolzen all dasjenige, was die Kräfte dieser drei Lebensgebiete sind. Heute muß das Heil zu einem wirk­lichen praktischen Ziele in bezug auf unseren sozialen Organismus in der Verselbständigung dieser drei Lebensgebiete gesucht werden. Das ist zunächst in abstrakter Form, ich möchte sagen, der Grundimpuls, der diesem Aufrufe zugrunde liegt. Wir müssen, wenn wir von einem der vielen Gesichtspunkte aus, die in Betracht kommen, verstehen wol­len, was namentlich die mitteleuropäische Menschheit in die furchtbare, die schreckensvolle Katastrophe von heute geführt hat, gewissermaßen nach links und nach rechts schauen. Gegen Westen und gegen Osten war Deutschland, war das deutsche Volk in den Krieg verwickelt, und man kann schon sagen: Aus den Verhältnissen des Westens und des Ostens in ihrem Zusammenwirken müssen wir auch verstehen, in wel­cher Lage wir heute in Mitteleuropa stehen.

Wer nach Westen blickt, der wird, wenn er zunächst vor allen Dingen die soziale Not ins Auge fassen will, gewahr werden, wie ge­rade in den Ländern des Westens, in denjenigen Ländern, mit denen am längsten Krieg geführt wurde, in der geschichtlichen Entwickelung der neueren Zeit eine deutliche Verschmelzung von wirtschaftlichem Le­ben mit politischem Leben stattfand, so daß aus den Volksinstinkten namentlich der englischsprechenden Bevölkerung heraus, ich möchte sagen, auf diesem Gebiete der Erde wie elementar natürlich entstanden ist vor allen Dingen ein Staatsstreben unter den besonderen Gesichtspunkten

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des Wirtschaftslebens. Alles Politische wurde da durchdrun­gen von dem Wirtschaftlichen. Die wirtschaftlichen Gesetze wurden da politische Gesetze. So sehen wir die Verschmelzung des politischen und des wirtschaftlichen Lebens, wenn wir den Blick nach dem Westen lenken.

In anderer Art sehen wir die Verschinelzung des politischen Lebens mit dem Kulturleben zunächst in der Form der nationalistischen Volks-kulturen und ihres aus diesem Nationalistischen herausgehenden Gei­steslebens. Nach Osten blickend, sehen wir die Verschmelzung des Geisteslebens mit dem politischen Leben. Alles - hier kann es nur an­gedeutet werden, gerade eingehendes, gründliches Studium der euro­päischen und amerikanischen Verhältnisse belegt es -, alles weist dar­auf hin, daß die Zündstoffe, die sich allmählich zwischen Mitteleuropa und dem Westen angehäuft haben, nur verstanden werden können aus dem Konflikt, der im Westen selber zwischen dem Wirtschaftsleben und dem Staatsleben dadurch entstanden ist, daß Wirtschafts- und Staatsleben, aber mit besonderem Uberhandnehmen des Wirtschafts­lebens, in chaotischer Weise verschmolzen waren. Im Osten lagerten sich die Zündstoffe auf durch das Verschmelzen der einzelnen geistigen Kulturen der nationalen Gemeinschaften mit dem politischen Staats-leben.

Zwischen das, was sich da anhäufte, waren wir in der Entwicke­lung der neueren Zeit hineingestellt. Wir haben bisher versäumt zu lernen, was unsere Aufgabe in diesem Eingekeiltsein zwischen Westen und Osten ist. Die furchtbare Weltkatastrophe, welche aus diesen bei­den Impulsen, die ich charakterisiert habe, hervorgegangen ist, sie sollte uns lehren, wohin wir zu steuern haben gerade in Mitteleuropa, das lernen sollte vom Westen und Osten. Vom Westen sollte es lernen, daß es als Nachbar dieses Westens die Aufgabe habe, zu sondern und zu verselbständigen Wirtschaftsleben und politisches Staatsleben. Vom Osten hat es zu lernen die Sonderung des Geisteslebens von - wenn wir oberflächlich betrachtend es auch nur im nationalen Leben sehen - dem Staatsleben. Riesengroße Irrtümer - es hilft nichts, sich heute vor dieser Tatsache zu verschließen -, riesengroße Irrtümer haben sich aufgetürmt in der Politik der Mittelstaaten, in der lässigen, endlich ganz in die

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Nullität hinführenden Politik dieser Mittelstaaten, weil die Staats­männer nicht fähig waren, zu sehen, wie es im Westen durch gewisse Volksinstinkte heute noch unschädlich ist, daß das Wirtschaftsleben mit dem politischen Leben verschmolzen ist und in demselben die Ober­hand hat, wie es aber Zündstoffe über Zündstoffe lieferte im Osten, daß das geistige Leben mit dem Staatsleben in unorganischer Weise verschmolzen ist. Riesengroße politische Irrtümer, die man eben in ihrer historischen Notwendigkeit erkennen muß, sind es, welche zuletzt sich entladen mußten in jener Katastrophe, die gerade uns das furcht­barste Unheil gebracht hat. Hatte man in der letzten Zeit, und ich meine schon eine lange letzte Zeit, ja, hat man eigentlich bis heute den guten Willen, in eindringlicher Weise diese Verhältnisse anzuschauen? Finden sich nicht wiederum unter uns trotz der heutigen furchtbaren Lage viele Persönlichkeiten, die ein Hinblicken auf die wirklich prak­tischen Impulse wie wertlosen Idealismus ansehen, weil diese prak­tischen Impulse heute große Ideale sind, und welche aus der Be­quemlichkeit und dem Kleinmut des Geistes heraus nach kleinen Zielen Verlangen tragen, die sie allein praktisch nennen, während sie sich gegen eben heute notwendige große Ziele als gegen die unpraktischen wenden. Diese Leute, welche heute die wirklich praktischen, großen Ziele als Idealismen ablehnen und nur auf das allernächste sehen möch­ten, diese Leute sind dieselben oder die Nachkommen derselben, welche die mitteleuropäische Menschheit, die europäische Menschheit über­haupt, in die heutige Lage hineingebracht haben und welche bewirken werden, daß die Schäden noch immer größer werden. Wenn es nicht möglich ist, daß wirkliche Lebenspraxis an die Stelle der sogenannten Lebenspraxis der Spießer und Philister tritt - heute muß die Lage der Sache unbefangen und ehrlich angesehen werden -, so wird nie kom­men, was das Ergebnis einer wahren Außenpolitik ist, was auf die Impulse der Dreigliederung des sozialen Organismus führt.

Aber wir haben es heute nicht nur mit einer Folge der Außenpolitik zu tun. Wir haben es zu tun mit Entwickelungskräften, die noch von ganz anderer Seite her fluten und Wellen schlagen in der Menschheit! Dasjenige, dem wir heute gegenüberstehen, man kann es vergleichen mit der Völkerwanderung und dem Begegnen dieser Völkerwanderung

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im Beginn des Mittelalters mit dem Christentum. Wer die großen Im­pulse des Christentums in ihrer Wirksamkeit durch das Mittelalter und die bisherige neue Zeit in Betracht zieht, dem muß eigentlich auffallen, welchen Charakter die Impulse des Christentums gerade bei den Völ­kern, von denen man gewöhnlich spricht, wenn man die Völkerwande­rung betrachtet, und welchen sie bei den mehr südlichen Völkern an­genommen haben. Drüben in Asien entstanden, wirkte das Christen­tum zuerst auf die hochentwickelten Völker Griechenlands und Italiens, auf die hochentwickelten Intellekte dieser südlichen Gebiete Europas. Dann erst drang es ein in die Länder der «Barbaren», wie die südlichen Völker die vom Norden Heranstürmenden nannten. Verschafft man sich einen Überblick über diese Verhältnisse, dann findet man, daß eigentlich dasjenige, wodurch das Christentum als solches weltwirkend wurde, nicht sich bildete beim Durchgang durch die auf höchster, aber schon in absteigender Entwickelung begriffenen südlichen Völker, son­dern es entfaltete seine gewaltigen Impulse in den Herzen, in den Köpfen derjenigen Völker, die noch unverbrauchte Intelligenz, unver­brauchte Seelenkraft hatten. Das war, ich möchte sagen, die horizon­tale Völkerwanderung mit ihren Eigentümlichkeiten im Beginn des Mittelalters. Heute stehen wir, indem wir die proletarische Bewegung betrachten, vor einer vertikalen Völkerwanderung. Aus den Tiefen des Kulturlebens heraus zu den führenden Strömungen der Kultur strömt dasjenige, was Proletariat genannt werden kann. Das aber, was wir suchen müssen als das neue, uns rettende Kulturelement, als die großen Impulse, die uns aus den Wirrnissen herausführen, das wirkt, ich möchte sagen, aus grauen Geistestiefen heraus so, wie das Christen­tum einstmals auf die griechischen und römischen Völker. Und wir sehen, wie dasjenige, was die Zukunft ergreifen will zu einer Neu­gestaltung der Welt in geistiger, in staatlicher, in wirtschaftlicher Be­ziehung, braucht die unverbrauchten Intellekte, die unverbrauchten Gemuter jener Völkermassen, die in der heutigen vertikalen Völker­wanderung von unten nach oben strömen, während, wie ich schon das letztemal hier ausgeführt habe, in den verbrauchten Gehirnen derjeni­gen, die ähnlich wie einstmals die Griechen und Römer auf der Höhe der Kultur stehen, bei den bisher leitenden, führenden Kreisen kaum

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etwas von jenem Feuer wahrzunehmen ist, das wir heute notwendig haben, um die Wege aus der sozialen Not zu wirklich großen, prak­tischen Menschheitszielen zu finden. Daß solche Wege gefunden werden müssen, dafür spricht vor allen Dingen auch dasjenige, das sich als eine solche vertikale Völkerwanderung im Laufe der neueren Menschheits­entwickelung ausgelebt hat.

Die äußere Politik weist uns auf die Dreigliederung des sozialen Organismus. Was zeigt uns das innere politische Geschehen? Es zeigt uns, daß eben gerade diejenigen Volkselemente, die den unverbrauch­ten Intellekt, die unverbrauchten Gemütskräfte der Seele von unten nach oben tragen - so wenig das heute vielleicht noch viele zugeben wollen, so wenig das Proletariat selbst heute schon passende und ent­sprechende Worte und Ideen für gewisse Erscheinungen findet -, daß diese Volkselemente in ihrer Seele fühlen, fühlen auch an der Not ihres Leibes, fühlen in alledem, was ihnen entgegentrat, man kann schon sagen seit drei bis vier Jahrhunderten, aber insbesondere im neunzehn­ten und im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, in dreifacher Weise die dreifache Not der sozialen Ordnung. Sie fühlten, wie sie gegen-überstanden erst einem Geistesleben, mit dem sie keine andere Gemein­schaft empfanden als diejenige, die ihnen in dem letzten halben Jahr­hundert charakterisiert wurde mit dem Karl Marxschen Worte vom «Mehrwert». Es ist, was da zugrunde liegt, keineswegs, weder auf der einen, der bürgerlichen, noch auf der anderen Seite, der proletarischen, voll verstanden worden. Die Dinge werden ja gerade in der neueren Bildung ziemlich äußerlich genommen. Was zugrunde liegt, ist, daß sich die ganze, so viel gelobte, so viel gepriesene geistige Kultur der neueren Zeit in allen ihren Verzweigungen nur entwickeln konnte als die Kultur Weniger auf dem Unterboden der Entbehrungen an Kultur von seiten der großen, breiten Masse. Nicht, als ob durchaus die bisher führenden Klassen aus einem bösen Willen, aus einer Teufelei heraus den proletarischen Massen Not und Elend gebracht hätten. Nein, ge­bracht haben sie diese - das habe ich letzten Montag zu zeigen ver­sucht - durch Unverstand, durch Verständnislosigkeit gegenüber den­jenigen Aufgaben, die sich weltgeschichtlich dadurch ergaben, daß immer breitere und breitere Massen von der neueren vertikalen Völ­kerwanderung,

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von dem Streben nach einem von ihnen entbehrten Geistesleben ergriffen wurden. Aber so war es einmal, und das ist das Wesentliche, daß das, was wir an Kunst, ja, was wir an Wissenschaft, was wir an Erziehung mit Bezug auf das Geistesleben geleistet haben, auf der einen Seite nur für wenige sein konnte und daß es erarbeitet werden mußte unter den Entbehrungen vieler. Diese besondere Art des Geisteslebens konnte nicht da sein, ohne einen Abgrund zu schaffen zwischen Bevorzugten und Benachteiligten. Das empfand die breite, nach aufwärts strebende Masse gegenüber dem Hauptgliede des mensch­lichen Lebens, gegenüber dem Geistesleben.

Gegenüber dem Staats- oder politischen oder Rechtsleben empfand sie gerade in ihrem Aufsteigen mehr und mehr, daß es etwas gibt für die Menschennatur, welches für alle Menschen ein Gleiches ist. Dieses Gleiche kann man nicht in irgendeiner Theorie entwickeln, es ist ein­fach vorhanden in den Erlebnissen jeder gesunden Seele. Wie man zu einem Menschen mit blinden Augen nicht sprechen kann über eine blaue oder rote Farbe, so kann man nicht sprechen mit einer nicht gesund entwickelten Seele über dasjenige, was in jeder gesunden Seele lebt als das Rechtsbewußtsein, jenes Rechtsbewußtsein, welches den Menschen auf dem zweiten Gebiete des sozialen Lebens, dem Staats-leben, gegenüber allen anderen Menschen gleich macht. Dieses Gefühl aber, das in alten patriarchalischen Zuständen, auch noch in den Zu­ständen des Mittelalters, in den breiten Massen noch zurückgedrängt war, dieses Gefühl von dem gleichen Rechte, es kam in den letzten Jahrhunderten und insbesondere in der proletarischen Entwickelung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts immer intensiver her­auf. Die leitenden, führenden Klassen konnten nicht anders, als die breite Masse zur Demokratie aufzurufen. Das brauchten sie für ihre Interessen. Sie brauchten ein immer mehr und mehr schulmäßig gebil­detes Proletariat. Aber man kann nicht eines in der Seele ausbilden, ohne daß sich das andere mit ausbildet. Indem die herrschenden, füh­renden Klassen die Proletarier zu gelernten Arbeitern für die kompli­zierten Verrichtungen in ihren Fabriken und für anderes gemacht haben, mußten sie, weil das eine ohne das andere nicht möglich ist, weil sich das andere von selbst entwickelt, zugleich zulassen, daß in dem Prole­tariat

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jenes Rechtsbewußtsein heraufkam, das jeder zu sich selbst ge­kommenen Menschenseele eigen ist. Dieses Rechtsbewußtsein ent­wickelte sich aber bei dem Proletarier ganz anders als in den bisher leitenden, führenden Kreisen der Menschheit. In den bisher führenden, leitenden Kreisen der Menschheit entwickelten sich die Gefühle von Recht an den Interessenkreisen, in die diese Klassen seit langem hinein-geboren waren. Der Proletarier war, indem er an die Maschine gestellt war, indem er eingespannt wurde in den seelenverödenden Kapitalis­mus, mit solchen Interessen nicht ausgerüstet. Jene Beziehungen, die überall bestanden zwischen dem, was die führenden Klassen im sozia­len Leben vorstellten, und dem, was sie als ihr Menschliches empfan­den, jene Interessenzusammenhänge gab es nicht für den Proletarier. Ich meine es wirklich nicht humoristisch, wenn ich sage: Für den An­gehörigen der führenden Klassen mag aus dem sozialen Zusammen­hang, in den er hineingestellt war, etwas hervorgegangen sein von einem innerlichen Menschheitsbewußtsein, das ihm ein gewisses Rechts­bewußtsein gab, wenn er, nun sagen wir, auf seine Visitenkarte schreiben konnte «Fabrikbesitzer> und dergleichen, oder auch «Reserve-leutnant». Aber für den Proletarier gab es einen solchen Interessen-zusammenhang nicht zwischen der seelenverödenden Maschine und seinem Menschlichen, und nicht zwischen dem Eingespanntsein in den Kapitalismus und wiederum seinem Menschlichen. Der Proletarier war auf sein bloßes Menschenrecht gestellt, und indem er hinsah auf die anderen, erblickte er statt allgemeiner Menschenrechte Klassenvor­teile, Klassenvorrechte und Klassenbenachteiligung. Das war die zweite Erfahrung, die Erfahrung auf dem Gebiete des Staatslebens.

Und die dritte Erfahrung ergab sich für den Proletarier auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens. Da sah er, wie seine Arbeitskraft im Lohnverhältnis von den leitenden, führenden Kreisen genau ebenso behandelt wurde wie eine Ware. Das hat dann tief, gründlich tief eingeschlagen in die Empfindungen, in die Gefühle des modernen Pro­letariats. Das erzeugte ein Bewußtsein, das sich vielleicht nicht ganz deutlich im Kopfe aussprach, das aber tief und intensiv in den Herzen der ihrer Menschheit bewußten Proletarier immer mehr und mehr sich festsetzte: Im Altertum gab es Sklaven, der ganze Mensch konnte ver­kauft

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und gekauft werden wie eine Sache; später gab es Leibeigen­schaft, weniger vom Menschen konnte gekauft und verkauft werden, aber immer noch genug; heute gibt es noch Kauf und Verkauf der menschlichen Arbeitskraft für den, der nichts anderes besitzt als diese Arbeitskraft. Diese Arbeitskraft, man muß mit ihr gehen, indem man sie verkaufen muß, man kann sie nicht hintragen wie einen Gegenstand auf den Markt und wiederum zurückgehen, nachdem man den Gegen­stand verkauft hat, man muß sich selbst ausliefern demjenigen, der die Arbeitskraft kauft. Einspannung der Arbeitskraft in den Wirtschafts-kreislauf, das war das dritte Erlebnis des modernen Proletariats. So fand in dem, was sich herausbildete als sozialstaatliche Ordnung, der Proletarier miteinander verquickt dasjenige, was wir eben vorher auch in der Außenpolitik verquickt fanden; er fand im modernen Staate ver­quickt Geistesleben, staatliches Rechtsleben und Wirtschaftsleben. So wie die Verquickung in den großen Imperialismen zu Explosionen des Weltkrieges geführt hat, so führte andererseits dasjenige, was von unten nach oben sich bewegt, was dreifach erlebt wird im Geistesleben, im Rechts- oder Staatsleben und im Wirtschaftsleben, zur sozialen Explosion. Beides gehört zusammen. Die alte Ordnung explodierte in der Weltkriegskatastrophe aus den Imperien heraus, in die sich der moderne Kapitalismus aus dem Großbetrieb umgewandelt sah, ohne daß er es recht wußte. Aus dem Großbetrieb sind Imperialismen ge­worden, und aus dem Zusammenstoß der Imperialismen ist die Welt­kriegskatastrophe entstanden. Dasjenige, was vertikal sich bewegte, von unten nach oben, das enthält dieselben Impulse. Das führt nur in anderer Richtung zu jener sozialen Not, die eine weltsoziale Not war in den Verhältnissen der neueren Imperien, die entweder, so wie im Westen, Interessenimperien, oder wie im Osten, Zusammenschmel­zungen von Staatsimperien mit Nationalimperien geworden sind. Die Verschmelzung der drei Lebensgebiete führte zur Explosion des Welt­krieges und in eine soziale Not größten Stiles hinein, denn etwas an­deres als frühere Kriege ist dieser sogenannte Weltkrieg. Er ist das Ausleben der alten Ordnung in einer furchtbaren Art. Schauen wir, wie ein Neues beginnen will, von unten nach oben. Versäumen wir nicht zu sehen, welche Impulse da anders werden wollen für die Wei­terentwickelung

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der Menschheit, als diejenigen gewesen sind, die sich von der alten Wirtschaftsordnung in die Weltimperialismen hinein-entwickelt haben und so zu den furchtbarsten Schrecknissen der neue­sten Zeit führten. So sprechen heute die Zeichen der Zeit. So muß der Mensch heute zu diesen Zeichen der Zeit sich zu stellen wissen. Haben wir es nicht erlebt, daß gerade in Mitteleuropa sich gezeigt hat, wie die Menschen allmählich verloren haben ein wirklich gesundes Urteil über das Geistesleben, über das Wirtschaftsleben, über das politische Leben, wegen der unnatürlichen, der unmöglichen allmählich herauf­kommenden Verschmelzung der drei Gebiete?

Ich frage Sie, ohne mich in eine Kritik der Verhältnisse einzulassen, ich frage Sie, ob nicht Ereignisse, ob nicht Tatsachen der letzten mensch­heitlichen Entwickelung - wir wollen sie jetzt nur mit Bezug auf Europa ansehen - geradezu entstanden sind unter dem Einfluß der Verschmelzung, zum Beispiel von Politik und Wirtschaftsleben? Die ganze Welt hat geschrien - ich will mich in eine Kritik dieses Schreiens nicht einlassen, gewiß, es sind nicht hüben bloß Lämmer und drüben bloß Wölfe -, aber die ganze Welt hat geschrien über den Durchbruch durch Belgien am Anfang des Krieges. Dieser Durchbruch, wodurch konnte er nur zustande kommen? Nur dadurch konnte er zustande kommen, daß die strategischen Bahnen dorthin gebaut worden sind. Die wären nicht dagewesen, wenn innerhalb des deutschen Gebietes die wirtschaftlichen Kräfte von den politischen Kräften getrennt gewesen wären. Sehen Sie sich die Karte von Europa an, betrachten Sie sehr viele Eisenbahnnetze und studieren Sie dann aus einer gesunden Indu­striewissenschaft heraus - die wir noch gar nicht haben -, ob diese rein wirtschaftlichen Einrichtungen, die Eisenbahnen, so wären, wie sie sind - selbst in neutralen Ländern können Sie diese Studien machen -, wenn sie bloß dem wirtschaftlichen Leben dienen und aus diesem her­aus sich entwickeln würden. Oder fällt uns nicht auf, wenn wir auf die Beziehungen zwischen wirtschaftlichem und politischem Leben sehen, wie gerade aus Mitteleuropa allmählich, weil immer mehr und mehr das Reich zusammengeschmolzen ist mit den wirtschaftlichen Verhält­nissen, auch hier nach westlichem Vorbild immer mehr und mehr ein großes Geschäftshaus geworden ist? Fällt es uns nicht auf, daß die

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politische Schulung immer mehr und mehr dahinschwand? Denken Sie einmal, welche Unsummen von Intelligenz, welche Unsumme von Um­sicht auf das reine Geschäftsleben, auf das Wirtschaftsleben gelenkt worden ist, während die Völker Mitteleuropas gerade in den letzten Zeiten immer unpolitischer geworden sind, selbst noch gegen ihre Un­politik der früheren Jahrhunderte. Entpolitisiert haben wir uns durch die Verschmelzung der Politik mit dem Wirtschaftsleben.

Und endlich, immer mehr und mehr sind wir hineingekommen in eine vollständige Abhängigkeit alles Geisteslebens von dem Staats­leben. Auch da muß man immer wieder darauf hinweisen, wie nicht nur Stellenbesetzung, Schulverwaltung in Abhängigkeit gekommen sind von dem modernen Staatsleben, sondern der Inhalt des Geistes­lebens selbst, der Inhalt der Kunst, der Inhalt der Wissenschaft. Die Leute merken dies heute noch nicht, daher erhebt sich gerade auf die­sem Gebiet das ungeheuerste Vorurteil, wenn auf dasjenige losgegangen wird, worauf es ankommt. Und es kommt heute darauf an, daß wir uns aufschwingen, hinzuwirken auf eine gesunde Trennung des wirt­schaftlichen Lebens von dem Staats- oder politischen oder Rechtsleben auf der einen Seite, und wiederum auf eine Abtrennung des gesamten Geisteslebens vom Staatsleben auf der anderen Seite.

Der Ruf nach Sozialisierung geht heute durch unser Wirtschafts­leben. Er geht hervor, möchte man sagen, aus der früher angedeuteten vertikalen Völkerwanderung wie eine weltgeschichtliche Devise. Und so wenig auch noch zu sehen ist von einem auch nur einigermaßen hin-länglichen Verständnis für wahre Sozialisierung, so müssen wir doch sagen, wenn wir auf das soziale Leben ohne Voreingenommenheit hin­schauen: So unklar auch gedacht werden mag über die Sache, etwas weltgeschichtlich Deutliches spricht sich in dem Ruf nach Sozialisierung aus. Wir sehen das wohl vielleicht am besten dadurch, daß gerade aus den furchtbaren wirtschaftlichen Erfahrungen des Krieges heraus im­merhin selbst kapitalistisch orientierte Denker nicht umhin konnten, von der Notwendigkeit der Sozialisierung der Wirtschaft zu sprechen. Diese Notwendigkeit der Sozialisierung der Wirtschaft, sie wird zum Beispiel ganz energisch betont von einem sonst ganz in kapitalistischen Bahnen denkenden Manne, von Walther Rathenau. Ja, mit demjenigen,

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was der «Aufruf» meint, kann sogar in manchem der oder jener Be­rührungspunkt gefunden werden mit demjenigen, was Walther Rathe­nau zum Beispiel in seinem Büchelchen «Die neue Wirtschaft> ausführt. Aber wie wir gleich sehen werden, für den, der die Impulse der Drei-gliederung des sozialen Organismus wirklich versteht, für den gibt es einen radikalen, einen fundamentalen Unterschied in der Sozialisierung des Wirtschaftlichen zwischen dem, was auf dem Boden dieser Drei-gliederung als solche Sozialisierung gefordert werden muß, und Rathe­naus Anschauungen. Und in diesem fundamentalen Unterschied zeigt sich gerade, was zum Allernotwendigsten im sozialen Streben der Ge­genwart gehört.

Wodurch sind denn die Menschen eigentlich auf wirtschaftlichem Gebiet in die Sozialisierungsgedanken, in die Sozialisierungsforde­rungen hineingekommen? Man hat ja durch lange Zeiten hindurch ein menschliches Ideal gesehen in dem, was man das freie Spiel der wirt­schaftlichen Kräfte genannt hat. Ein großer Teil dessen, was man nennen kann die moderne privatkapitalistische Wirtschaftsform, das entstand als Ergebnis des freien Spiels der wirtschaftlichen Kräfte, der freien Konkurrenz der wirtschaftenden Persönlichkeiten und Gruppen. Dann aber, im Verlaufe jener Entwickelung der Wirtschaftsform, die sich herausgebildet hatte unter dem Einfluß der modernen Technik, unter dem Einfluß des modernen Kapitalismus und unter dem Einfluß des freien wirtschaftlichen Kräftespiels, da zeigte sich, daß immer mehr und mehr abgesondert wurde von einer menschlichen Minorität eben die proletarische Majorität, welche der Träger wurde jener drei großen Forderungen, die ich gerade vorhin charakterisiert habe. Und so ent­stand aus dem Proletariat heraus der berechtigte Ruf nach Soziali­sierung, das ist nach dem Gegenteil des reinen Spiels der Kräfte auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens. Dasjenige, was sich nach den Gedanken führender Persönlichkeiten des Proletariats im Wirtschaftsleben fortan entwickeln sollte, das sollte sein Durchorganisierung des ganzen Wirt­schaftslebens. Und wir sehen ja, wie auf gewissen Gebieten, allerdings zum Schreck und Abscheu von vielen, das verwirklicht wird, was eine solche durchgreifende Organisierung ist. Für das alte freie Spiel der Kräfte fand man als Nachklang an frühere Staats- und Wirtschaftsordnungen

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noch den schönen Spruch von dem Heilsamen von Thron und Altar. Jetzt wird aus der Weltkriegskatastrophe heraus der Ruf und die Begeisterung für Thron und Altar verlassen, aber wir sehen etwas lauern, was sich auftut gegenüber dem früheren Thron und Altar. Nicht nur die bisher führenden Klassen, auch schon breiteste Schichten des wirklich vernünftigen, denkenden Proletariats, sie emp­finden etwas Beängstigendes in der Frage: Wie wird es, wenn nun an die Stelle von Thron und Altar treten Kontor und Maschine, wird es da für uns besser werden? Könnten sich nicht unter Umständen aus den Reihen derer, die mit Fabrik und Kontor arbeiten, dieselben Dik­tatoren entwickeln, die sich entwickelt haben unter dem Einfluß von Thron und Altar? Hier liegt eine bedeutungsvolle Frage, aber auch eine Frage, deren gesunde Beantwortung auf einen Weg aus der so­zialen Not zu wirklich praktischen Zielen führen muß. Ich rede ja gewissermaßen noch sehr abstrakt, allein in diesem Gedanken, den ich aussprechen will, liegt etwas, das praktische Anwendung finden kann auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens, wenn man nur einmal die gesamten Angehörigen des Wirtschaftslebens zur Ordnung dieser An­gelegenheiten aufruft. Aber so aufruft, daß Vertrauen herrschen kann zwischen allen diesen Gliedern des Wirtschaftslebens.

Sprechen wir auf diesem Boden einmal ein offenes, ehrliches Wort. Es waren mir die Tage, die ich hier in Stuttgart mit den Vorträgen vor zahlreichen Proletarierversammlungen erlebt habe, ein großes Erlebnis. Ich sprach kaum, nur in der Form höchstens, zu den Proletariern an­ders, als ich hier spreche. Ich wurde, das zeigte sich, in der Schweiz und hier in breitesten Kreisen des Proletariats verstanden. Und was lehrte mich dieses? Das lehrte mich, daß es nur möglich ist, weiterzukommen, sei es mit Sozialisierung, sei es mit anderen sozialen Forderungen der Gegenwart, wenn wir arbeiten mit dem Vertrauen der Menschheit. Daß wir nur weiterkommen, wenn wir mit den Menschen arbeitend uns in Einklang setzen mit ihrem Wollen, wenn wir ablassen davon, das Heil nur darin zu suchen, Verordnungen von oben zu geben aus scheinbar überlegenem Verstand heraus. Wir können heute Diktaturen nur vermeiden, wenn wir diejenigen Worte finden, die, wenn sie der Einzelne ausspricht, ausgesprochen sind aus dem Herzen, aus den Emp­findungen

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der breitesten Massen gerade der arbeitenden Bevölkerung heraus. Das wollte ich vorausschicken. Es weist darauf hin, daß nicht in kleinen Zirkeln, mögen sie sich so oder so nennen, die sozialen Fra­gen, die unmittelbar dringend sind, gelöst werden können, daß sie gelöst werden müssen auf der breiten Basis der Fabriken, der Werk­stätten, aus den Menschen heraus, nicht aus den sozialistischen Theorien heraus.

Eine der ersten Forderungen, wenn man mit diesem Menschlichen rechnet, ist für das Wirtschaftsleben diese, daß nun aus den herben, aus den schreckensvollen Ereignissen der Weltkriegskatastrophe, das heißt, aus dem, woraus die Weltkriegskatastrophe geworden ist, daß aus dem gelernt werde, wie die Sozialisierung sich zu vollziehen hat. Das müssen wir lernen, daß alles von Unheil sein muß, was zu einer solchen Sozia­lisierung führt, die neuerdings staatliches oder rechtliches Leben mit wirtschaftlichem Leben vermengt.

Immer wieder muß ich hinweisen auf jene unnatürliche Verquickung des wirtschaftlichen Lebens mit dem staatlichen oder Rechtsleben, wie es sich in Österreich in dem letzten Drittel des neunzehnten Jahr­hunderts herausgebildet hat. Daß Österreich in einer so schrecklichen Weise verfallen ist, zum Verfall reif war lange vor der Weltkriegs-katastrophe, daran ist schuld, daß man gerade auf diesem heißen Boden nicht verstanden hat, wie zerstörend es wirken mußte, wenn im Aufgang des neueren Verfassungslebens der Rechtsstaat aus wirtschaft­lichen Kurien heraus gebildet wurde. Nur durch Zwang ist man später, aber viel zu spät, zu etwas anderem übergegangen, als in den sechziger Jahren versucht worden ist. Man hat den sogenannten Reichsrat aus vier wirtschaftlichen Kurien gebildet: Großgrundbesitzer; Handels­kammern; Städte, Märkte und Industrialorte; Landgemeinden. Rein wirtschaftliche Interessen wurden geltend gemacht auf dem Boden des Staates, wo das Recht entstehen sollte. Wirtschaftliche Interessen wur­den in Rechte umgewandelt! Und wer jene staatliche Entwickelung, die man unter dem Ministerium Taaffe im letzten Drittel des neun­zehnten Jahrhunderts das Wursteln genannt hat, wer jene politische Entwickelung Österreichs sachgemäß studiert, der weiß, welche Keime des Unterganges darin lagen, daß man in diesen, auf die verschiedensten

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Nationalitäten sich stützenden Territorien nicht den Impuls fand, das Rechtsleben für sich gesondert zu entwickeln und das Wirtschafts­leben für sich gesondert zu entwickeln. Ich müßte viel sprechen - und durchgehend durch die Parlamente eigentlich aller gegenwärtigen Staa­ten, könnte man viel sprechen -, wenn ich im einzelnen nachweisen wollte, wie überall größer und größer geworden ist die Unmöglichkeit der Verschmelzung von politischem oder staatlichem oder Rechtsleben mit dem Wirtschaftsleben. Das muß von heute ab das erste Erfordernis sein, dieses wirtschaftliche Leben wiederum loszulösen von dem staat­lichen Leben. Dann können wir mit Inanspruchnahme aller im Wirt­schaftsleben tätigen Menschenkräfte, im Vertrauen auf diese zur sach­gemäßen Sozialisierung schreiten, welche bestehen wird - ich habe das in meinem Buche ausgeführt und auch an anderen Orten angedeutet -in der Bildung von Assoziationen zunächst nach Berufen, dann nach Zusammenhängen, Koalitionen, Genossenschaften, die sich bilden aus dem Streben nach Harmonisierung der Verhältnisse in der Konsumtion und Produktion. Nur auf dieser Grundlage kann sich eine gesunde Sozialisierung ergeben. Sie wird sich ergeben, wenn man sowohl die Schäden des freien Spiels der Kräfte als auch die Schäden der mechani­schen Sozialisierung sehen wird - beide Vorurteile haben sich für die Menschen ergeben -, nur dann wird sie sich ergeben, wenn gelernt wird aus den Dingen, die sich in der Weltgeschichte gezeigt haben, so daß man aus dem freien Spiel der Kräfte heraus sozialisieren wird in der Art, daß die Sozialisierung nicht entstehen wird durch die Ausrottung des freien Spiels der Kräfte, sondern gerade durch die verständnisvolle Arbeit des freien Spiels der Menschenkräfte. Das können Sie nur, wenn Sie Vertrauen ausbreiten, aber dann können Sie es! So ungefähr, möchte man sagen, ein gewisses Wort Gretchens zu Faust nachsprechend, so ungefähr meint es Walther Rathenau auch, aber die Dreigliederung des sozialen Organismus meint noch etwas wesentlich anderes. Sehen Sie, deshalb ist Walther Rathenaus Entwurf einer Sozialisierung etwas ganz anderes als jene Sozialisierung, die von der Dreigliederung vor­geschlagen werden mußte, weil Walther Rathenau sich gar nichts an­deres vorstellen kann, als daß die Sozialisierung vor sich gehe und doch die Staatsaufsicht fortbestehe, und daß der Staat fortlaufend Gewinn

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herausziehe aus dem, was in den sozialisierten Betrieben produziert wird.

Das bezeugt nur, daß ein Mensch, der schließlich von der Praxis gelernt haben könnte, doch in einer blinden Theorie befangen bleibt. Das bezeugt nur, wie stark suggestiv die Gedanken, die sich im Laufe der Entwickelung des neueren Kapitalismus gebildet haben, selbst bei den nach Sozialisierung Strebenden nachwirken, wie sehr man not­wendig hat, sich gegen Vorurteile auf diesem Gebiete zu stemmen mit aller Kraft einer freien praktischen Einsicht in die Verhältnisse. Alles dasjenige, was an Ordnung des wirtschaftlichen Lebens, an das wirt­schaftliche Leben durchziehender Vernünftigkeit, Verständigkeit, an Moralität aufgebracht werden soll, muß von den das Wirtschaftsleben selbst leitenden, selbständigen Persönlichkeiten und Körperschaften kommen. Gesund wird das Wirtschaftsleben erst entwickelt, wenn der Staat nichts anderes in das Wirtschaftsleben hineinzureden hat als das, was er durch die Persönlichkeiten, die am Wirtschaftsleben beteiligt sind, als Rechte besitzende Persönlichkeiten, hineinzureden hat. Selbst­verständlich, wenn einer den andern betrügt auf dem Gebiet des Wirt­schaftslebens, dann unterliegt er dem Staatsgesetz. Er unterliegt dem Staatsgesetz als Persönlichkeit. Aber dasjenige, was seine Funktionen, was seine Wirksamkeit im Wirtschaftsleben sind, das hat in der wirt­schaftlichen Sozietät drinnen auf dem bloßen Vertrag zu beruhen, auf dem bloßen Vertrauen. Mag das auch auf sozialistischer Seite heute noch vielen Vorurteilen begegnen; wer nicht urteilt aus Begriffen, aus Ideen heraus, sondern aus jener Erfahrung, die die letzten Jahrzehnte europäischer Wirtschaft bis zum wirtschaftlichen Untergang im Kriege gebracht haben, der wird dieses sagen. Und er muß sagen: Zu gesunden wirtschaftlichen Verhältnissen werden wir nicht eher kommen, als bis die Loslösung des Wirtschaftslebens von dem Staatsleben sich vollzogen hat. Wir sind in die gegenwärtige Lage hineingekommen durch die Ver­quickung dessen, was auf Vertrauen und Vertrag beruhen soll, mit dem Staatlichen, das allein auf Gesetzen beruhen soll. Die Gesetze des Staates dürfen nur hineinleuchten in das Wirtschaftsleben, insofern sie durch die Persönlichkeiten hineinleuchten. Nur dadurch bringen wir heraus aus dem Wirtschaftsleben, was herausgebracht werden muß, das,

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was als Arbeitskraft gleich einer Ware heute für das proletarische Emp­finden unrechtmäßigerweise in den Wirtschaftskreislauf hineinge­spannt ist.

Das Wirtschaftsleben grenzt auf der einen Seite an die Natur-bedingungen. Man denke sich einmal folgende Absurdität: es würde sich irgendein wirtschaftliches Konsortium zusammensetzen, es be­stimmte seine Bilanz, die wahrscheinliche Bilanz für 1919; und dieses Konsortium nähme die Bilanz von 1918 vor und wollte danach aus Aktiven und Passiven bestimmen, wieviel Tage es zum Beispiel im Sommer 1919 regnen soll, damit eine wünschenswerte geschäftliche Konjunktur für das nächste Jahr herauskäme. Es ist das natürlich der reinste Unsinn, nicht wahr. Ich sage aber diesen Unsinn nur aus dem Grunde, weil daraus ersehen werden soll, daß sich nach der einen Seite hin das Wirtschaftsleben aufbaut auf die Naturbedingungen, die wir nicht aus diesem Wirtschaftsleben heraus restlos regeln können. Durch technische Einrichtungen können wir einiges tun, restlos regeln können wir sie aber nicht aus dem bloßen Wirtschaftsleben heraus. Ebenso nun, wie das Wirtschaftsleben auf der einen Seite an das Naturleben grenzt, so muß in der Zukunft das Wirtschaftsleben an das Rechtsleben des Staates grenzen, und in dem Rechtsleben des Staates muß alles regu­liert werden, was eben dem Rechtsleben unterliegt, vor allen Dingen die menschliche Arbeitskraft. Für den Wirtschaftskreislauf muß die Regelung der menschlichen Arbeitskraft des Arbeiters außerhalb dieses Wirtschaftsprozesses liegen. So wie die Naturkraft unter dem Boden das Korn, den Weizen reift außerhalb des wirtschaftlichen Prozesses, so muß die Regulierung von Maß, Zeit und Art der Arbeitskraft des Arbeiters außerhalb des Wirtschaftsprozesses liegen. Nicht darf aus der wirtschaftlichen Konjunktur, nicht darf aus den wirtschaftlichen Voraussetzungen und Kräften heraus irgend etwas bestimmt werden mit Bezug auf Maß und Art der menschlichen Arbeitskraft. Mit Bezug auf die Arbeitskraft steht Mensch dem Menschen ganz anders gegen­über als mit Bezug auf jene Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, denen entsprochen wird durch den Wirtschaftskreislauf in Warenerzeu­gung, Warenverkehr und Warenkonsum. Aus dieser Zirkulation des Produzierens muß die Arbeitskraft herausgenommen werden, und im

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rein demokratischen Staatsleben, im abgesonderten, vom Wirtschafts­leben emanzipierten Staate reguliert werden. So ist der Wirtschafts-prozeß in gesunder Weise eingezwängt zwischen der Natur auf der einen Seite und dem Rechtsleben des Staates auf der andern Seite. Das muß alles im Geiste der Dreigliederung eingerichtet werden. Es kann nur dadurch geschehen, daß auf dem Boden des Staatslebens sich nicht das entwickelt, was sich nur im Drinnenstehen des Wirtschafts-prozesses von Mensch zu Mensch entwickeln kann, sondern daß auf dem Boden des Staatslebens nur alles das steht, was sich bezieht auf das Verhältnis des Einzelmenschen zum Einzelmenschen, das, worin jeder einzelne Mensch jedem anderen einzelnen Menschen gleich ist. Auf dem Boden dieses Staatslebens darf daher auch kein Gewinn walten, der von einem Menschenkonsortium, von einer wirtschaftlichen Gruppe, von einer wirtschaftlichen Gemeinschaft herkommt. Was auf wirtschaft­lichem Boden gewonnen wird, muß auch wiederum in das Wirtschafts-leben der Menschen zur Erhöhung ihres Lebensstandes hineinfließen. Was dem Staate, nennen wir es Steuer oder wie immer, zufließt, das darf, wenn ich mich deutlich ausdrücken soll, nur aus dem Portemon­naie des einzelnen individuellen Menschen kommen. Dem Staat gegen­jiber kann nur der einzelne Mensch stehen; dann steht auch auf dem Boden des Staates nur der einzelne Mensch dem einzelnen Menschen gegenüber. Dann gedeihen auf dem Boden des Staates wirklich Mensch­heitsrechte. Dann löst sich die soziale Frage, insofern sie eine Arbeits­frage ist, durch die Emanzipation des Staatslebens von dem Wirt­schaftsleben, in dem dann nicht mehr walten kann der Zwang, durch den die Arbeitskraft im freien Spiel der Kräfte selbst ein Gegenstand dieses freien Spiels der Kräfte wird. Der Arbeiter muß seine Arbeits­kraft reguliert haben, bevor er in die Werkstätte, bevor er in die Fabrik, bevor er in den Wirtschaftsprozeß eintritt. Dann tritt er als eine freie Persönlichkeit, deren Freiheit durch das Staatsarbeitergesetz garantiert ist, dem Leiter der Arbeit gegenüber; dann erst entwickelt sich ein ge­sundes Verhältnis.

Hier stehen wir auf einem Boden wahrhaft praktischer Sozialisie­rung. Derjenige, der die Verhältnisse dieses Bodens durchschaut, der weiß, daß man aus andern Voraussetzungen Sozialisierungs-Rahmengesetze

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ohne Ende machen kann. Man kann sie heute machen, nach zwei Jahren nichtsnutz finden, reformieren, nach fünf Jahren wieder nichts­nutz finden und reformieren und so weiter. Man wird nicht früher zu einem gesunden, heilsamen Zustand kommen, bevor man sich auf-schwingt, die Praxis an einem solchen Punkte anzugreifen, wie der ist, auf den ich eben hingewiesen habe. Das ist gerade das Charakteristische in der Entwickelung der neueren Zeit, daß diese Entwickelung vielfach für das menschliche Denken, für die menschlichen Denkgewohnheiten an der Oberfläche der Dinge haftet. Und jetzt, wo wir vor weltum­wälzende Tatsachen gestellt sind, sehen wir in so vielen Fällen leider, leider die Unzulänglichkeit der alten Parteiurteile, die aufbauen soll­ten, und die sich im Aufbau oftmals verhalten nicht wie Urteile, die in die Wirklichkeit eingreifen, sondern wie Urteilsmumien, die gestor­ben sind unter der Parteisteifheit, unter der Parteiphilistrosität der neueren Zeit. Deshalb werden, man kann schon sagen, in den jetzigen Tagen, wo die Dinge eindringlich und gerade und ehrlich und wahr gesehen werden sollten, die wichtigsten Dinge so schief gesehen. Es ist begreiflich, daß gar manche, die den modernen Kapitalismus in seiner Heraufentwickelung gesehen haben, heute die Ansicht haben: Dieser ganze Privatkapitalismus muß fort, Gemeineigentum an allen Pro­duktionsmitteln muß eintreten. -Begreiflich ist es, daß dieses Urteil, das sich durch Jahrzehnte, ich möchte sagen, aus blutenden Seelen heraus, aus Not und Elend gebildet hat, schwer abgelegt werden kann. Den­noch wird eine tiefere Frage auftauchen müssen - wir können ja in der modernen Wirtschaft ohne Kapitalanhäufungen nicht auskommen -, die Frage: Was muß mit den Kapitalanhäufungen verbunden sein? Mit den Kapitalanhäufungen muß verbunden sein die inviduelle Fähigkeit der Menschen, die Kapitalien in der entsprechenden Weise nicht in ego­istischem, sondern gerade in sozialem Sinne zu verwenden. Das können wir nicht, wenn wir nicht die menschlichen individuellen Fähigkeiten pflegen, wenn wir nicht diesen menschlichen individuellen Fähigkeiten gerade zugänglich machen die jeweiligen Kapitalverwaltungen der Be­triebe. Deshalb mußte auf dem Boden, auf dem dieser Ihnen heute wieder erwähnte Aufruf zur sozialen Dreigliederung entstanden ist, über die zukünftige Wirksamkeit des Kapitals zu einer Idee gegriffen

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werden, die etwas ganz anderes darstellt als das, was man heute noch vielfach als Sozialisierung des Kapitals auffaßt.

Merkwürdig, man wird, gerade wenn man praktisch denkt, dazu geführt, die Kapitalverwaltung abhängig machen zu müssen von dem dritten Gebiete, das selbständig werden muß im gesunden sozialen Organismus, von dem emanzipierten geistigen Organismus. Wir haben es immer mehr und mehr dazu gebracht, daß das Band zwischen gei­stigem Arbeiten und zwischen der Arbeit des Kapitals im Wirtschafts-prozeß zerrissen wurde. Dadurch kamen wir immer mehr und mehr dazu, statt in den wirtschaftlichen Aufschwung, der mit Erhöhung des Lebensstandes der großen Massen verbunden sein kann, uns hinein­zuentwickeln, trotz allen technischen Aufschwunges in eine Art wirt­schaftlichen Raubbaues. Gerade mit Bezug auf die im modernen Wirt­schaftsleben eine großartige Rolle spielenden Impulse, zum Beispiel den Impuls des Kredits, hat sich das moderne Wirtschaftsleben in eine merkwürdige Sackgasse hinein verrannt. Der Kredit auf dem Boden des Wirtschaftslebens ist heute etwas, was fast nur getragen werden kann von schon vorhandenen wirtschaftlichen Faktoren. Wir brauchen in der Zukunft die Möglichkeit, daß Kredit nicht nur auf dem Boden des Wirtschaftslebens geboren werde, wir brauchen die Möglichkeit, daß Kredit von außen her in das Wirtschaftsleben hineingeboren wer­den kann. Nicht wahr, eine paradoxe Behauptung, eine sonderbare Behauptung; aber dasjenige, was zugrunde liegt, ist so, wie es ist, noch sonderbarer. Man wird dadurch, daß das Geistesleben gegen die Zu­kunft hin selbständig wird, daß es aus seinen eigenen Bedingungen heraus sich entwickeln wird, hinauskommen über jenes abstrakte Gei­stesleben, über jenes Luxusgeistesleben, das keine Beziehung zur Lebenspraxis finden kann. Diejenigen, die mich kennen, werden mir nicht zumuten, daß ich das Geistesleben irgendwie heruntersetzen will. Allein dasjenige Geistesleben, das abgesondert von den beiden anderen sozialen Organismen sein wird, das aus seinen eigenen Bedingungen heraus sich entwickeln wird, das wird nicht ein abstraktes, bloß predi­gendes oder in abstrakten geistigen Höhen sich haltendes Geistesleben sein, das wird ein Geistesleben sein, das nicht zum abstrakten Wissen über das oder jenes bloß führt, sondern das dahin führt, die Menschen

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als Mensdien fähig zu machen. Unsere dem Leben fremden Gymnasien werden wir in einer zukünftigen sozialen Ordnung allerdings nicht mehr brauchen können. Ähnliches auch nicht.

Dasjenige aber, was leben wird, das wird etwas sein, was geistige Stoßkraft hat, was die menschliche Seele zu tragen vermag in all ihren geistigsten Bedürfnissen für das Leben. Gerade wenn man das ausbildet, was heute noch so viele Menschen als ein fernliegendes Geistesleben ansehen, dann kommt man dazu, jenen Weg zu finden, der nicht ge­funden werden kann von unserer an den Staat geschmiedeten Erzie­hung, jenen Weg, der den Menschen als ganzen Menschen ausbildet, der den Menschen so ausbildet, daß irgendeine Geisteskultur nicht mehr möglich sein wird, ohne zugleich eine Geschicklichkeit für praktische Dinge zu sein, eine Möglichkeit, in praktische Dinge hineinzuschauen. Der Materialismus der neueren Zeit hat die Menschen unpraktisch ge­macht. Ein wahres Geistesleben, das nicht Staatsknechtsleben auf dem Gebiete des Geistes sein wird, das wird die Menschen wieder praktisch machen, das wird nicht auf dem Gebiete der höchsten Kultur Menschen erzeugen, die glauben, Weltanschauungen zu haben, aber die nicht wis­sen, was eine Bank, was Kredit, was Hypotheken und so weiter sind, und wie diese im wirtschaftlichen Leben wirken. Das wird nicht Men­schen erzeugen, die die Kräfte, von denen die Physik spricht, kennen, die aber niemals im Leben Holz gehackt haben. Ich meine das natürlich immer vergleichsweise. Von einem wahren, auf sich gestellten Geistes­leben zu der Leitung des Wirtschaftslebens führt eine wirklich prak­tische Brücke. Der Kapitalismus kann in seinen Schäden nur dann überwunden werden, wenn die Verwaltung des Kapitalismus eng an-geknüpft wird an die Gesundung des Geisteslebens. Dann wird das herauskommen, was gesunde Sozialisierung des Kapitals genannt wer­den kann. Dann werden aus dem Geistesleben immer diejenigen Men­schen aufsteigen, die auch Kredit, neuen Kredit in das Wirtschaftsleben hineintragen können, die das Wirtschaifsieben immer neu befruchten können. Dann wird der Kreislauf des Kapitals möglich sein, von dem ich in meinem Buche spreche. Ich kann auf diese Punkte heute nur hinweisen. In den nächsten Vorträgen, die ich hier werde halten dür­fen, wird über einzelne besondere Fragen dieser Art von mir gesprochen

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werden müssen, namentlich über die Beziehung von Kapital und Men­schenarbeit.

So sehen wir, wie sich werden verwirklichen können durch den drei­geteilten sozialen Organismus jene drei großen Impulse der mensch­lichen sozialen Entwickelung, die seit der Französischen Revolution, wie ich schon neulich erwähnte, als leuchtende Devisen vor dem mensch­lichen Streben stehen. Freiheit auf dem Gebiet des selbständigen Gei­stesleben, Gleichheit auf allen Gebieten des Staatslebens, Brüderlich­keit durch die Assoziationen und Genossenschaften des auf sich selbst gebauten Wirtschaftslebens.

Nun möchte ich zum Schlusse nur noch dieses sagen: Ich weiß, daß, wenn man so das Allgemeine hört, und noch nicht im speziell Prak­tischen das, was heute wieder gesagt worden ist, man viel dagegen haben kann, denn man weiß nicht, wie in den Gedanken von dieser Dreigliederung des gesunden sozialen Organismus wirklich alles prak­tisch zusammenhängt, von der Begründung der Universität bis zum Verkauf einer Zahnbürste. Gerade darauf beruht das Praktische des hier gemeinten Vorschlages, daß man mancherlei einwenden kann, wenn man nur das Allgemeine hört. Aber die Praxis wird hervortreten, wenn sich die Menschen aller Berufsklassen, aller menschlichen Betätigungsweisen in sozialer Arbeit im einzelnen Konkreten gerade an der Verwirk­lichung dieser Idee beteiligen. Gegenüber dem Einwand, daß das Idea­lismen oder gar, daß es etwas Utopistisches sei, gegenüber diesem Ein­wand wird sich erheben, was immer mehr und mehr zu den Menschen aus den ernsten Tatsachen der Zeit heraus sprechen wird.

Solche Ideen, wie sie heute noch viele für praktisch halten, die sind im Juli und in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 in einer sonder­baren Weise ad absurdum geführt worden durch die weltgeschichtliche Entwickelung. Ich habe in meiner Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage» am Schlusse, wo die internationalen Verhältnisse besprochen werden, darauf aufmerksam gemacht, wie die Menschheit des In- und Auslandes heute noch keine Ahnung hat von dem, was in Berlin wirk­lich vorgegangen ist am letzten Julitag und in den ersten Augusttagen 1914. Was da vorgegangen ist, die Welt wird fordern, es kennenzu­lernen. Man wird sehen, wenn über diese Dinge die Wahrheit gesagt

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werden wird, daß ein furchtbares Licht fällt auf die Ereignisse in der neueren Zeit, ein Licht, welches zeigen wird, daß wir nicht bloß eine Umwandlung des einen oder anderen brauchen, daß wir neue Ge­danken, neue Denkgewohnheiten brauchen, daß wir nicht nur Einrich­tungen umwandeln müssen, sondern daß wir in den Gedanken unserer Köpfe umlernen, umdenken müssen.

Wer sich ehrlich und aufrichtig in diese Sachlage hineinfindet, der wird nicht mutlos zurückweichen gegenüber den Einwänden derer, die da sagen: Du Idealist, bleib' bei deinem Leisten, bleib' bei deinen Idealen, schwätz uns nichts in die Praxis herein! - Diese Praktiker, sie werden sehen, als welcher Schädling sich diese Lebenspraxis enthüllen wird. Diejenigen, die aber die wahren Praktiker sind, und die aus den großen Impulsen der Menschheitsentwickelung heraus denken, die schreiben sich gar nicht eine besondere Gescheitheit zu. Denn dasjenige, was uns heute dazu drängt, so zu sprechen, wie zum Beispiel auch ich heute wiederum gesprochen habe, das sind die Tatsachen der Gegen­wart selber. Oh, da kommt man sich manchmal so vor, daß man sich vergleichen möchte mit jenem Knaben, der da einmal saß an der Ma­schine und zu bedienen hatte die beiden Hähne, wo durch den einen der Dampf, durch den andern das Kondensierwasser eingelassen wurde. Der Knabe war wahrhaftig schon wegen seines Alters nicht ein genialer Erfinder, aber er stand vor der Maschine, die ihm durch ihre Tatsachen etwas enthüllte. Er sah, wie das Öffnen des einen Hahnes mit dem Herabgehen des Balanciers auf der einen Seite, das Öffnen des anderen Hahnes mit dem Herabgehen der Balancierstange auf der anderen Seite zusammenfielen. Da nahm er in seiner Naivität Stricke und knüpfte die Hähne an die Balancierstange - und siehe da, da stand er an seiner Dampfmaschine und konnte zuschauen, wie der Balancier immer auf und ab ging und die Hähne öffnete und wieder schloß. Da­mit aber war etwas Wichtiges gefunden. - Nicht der hatte damals recht, der nun zu jenem Knaben trat und sagte: Du Nichtsnutz, weg mit den Schnüren, bleibe nur beim Öffnen der Hähne mit der Hand, - sondern der hatte recht, der die Selbststeuerung der Dampfmaschine fand durch die naiven Machinationen jenes Knaben.

So gewaltig sprechen heute die Tatsachen, daß man sich wahrhaftig

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auch naiv vorkommt, wenn man findet, wie die Selbststeuerung des gesunden sozialen Organismus gefunden werden soll. Ich konnte Ihnen das heute nur andeuten. Sie wird gefunden werden, wenn in voller Selbständigkeit wirken werden: das Geistesleben auf sich selbst gestellt, das Wirtschaftsleben auf sich selbst gestellt, das politische oder Staats-leben auf sich selbst gestellt.

Möge, damit möchte ich auch heute wiederum schließen, möge die Menschheit, insbesondere die mitteleuropäische Menschheit einsehen, was diese Impulse in den Lebensnotwendigkeiten der neueren Zeit be­deuten, bevor es zu spät ist. Denn eingesehen werden muß, daß wir uns heute nur wirksam zu praktischen Zielen aus der sozialen Not bewegen können, wenn wir zu Ideen kommen, die den Keim von Taten in sich haben. Keimhaltende Gedanken, Tatenkeim haltende Gedanken sind es, die gesucht werden sollen, und wir, die wir den dreigliedrigen sozialen Organismus vertreten in seinen drei Impulsen des selbstän­digen Geistes-, Wirtschafts- und Rechtslebens, wir glauben, daß diese Impulse in die Menschheitsentwickelung hineingetragen werden müs­sen, bevor es zu spät ist.

Schlußwort nach der Diskussion

Meine sehr verehrten Anwesenden! Lange möchte ich Sie nicht mehr aufhalten mit meinem Schlußwort, nicht so sehr darum, weil nicht noch manches zu sagen wäre zu den Ausführungen der verehrten Diskus­sionsredner, sondern vor allen Dingen darum, weil wir schon zu sehr in der Zeit vorgeschritten sind. Deshalb wird wohl manches von dem, was, ich möchte sagen, doch nur dunkel angeklungen hat bei manchen der verehrten Diskussionsredner, in den nächsten zwei hier zu halten-den Vorträgen berücksichtigt werden müssen. Ich möchte aber auf eini­ges doch heute noch, wenn auch ganz kurz, eingehen. So verzeihen Sie die Kürze der Antwort auf die direkten Fragen, die an mich gestellt worden sind.

Es ist die Frage gestellt worden, warum ich selbst - eventuell durch diejenigen, auf die mein Wort irgendwelchen Eindruck hätte machen können - nicht schon früher die Stimme des Friedens erhoben habe. -

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Nun, wenn auch selbst in dieser Diskussion Redner waren, die wieder den Vorwurf des Idealismus erhoben haben, so möchte ich doch ganz stark betonen, daß ich durch und durch Praktiker des Lebens bin und sein will, und daß daher für mich niemals in Betracht kommt, bloß gedachte Dinge zu propagieren, die nicht ihre Verwirklichungsmög­lichkeiten in den Tatsachen des Lebens zeigen. Ich möchte deshalb auch mit einigen Tatsachen auf diese Fragen antworten. Was, glauben Sie, wäre ein wirklich praktischer Weg gewesen, Friedenspropaganda real, sagen wir hier in Stuttgart, zu treiben, nun, sagen wir in der Mitte des Jahres oder im Frühling des Jahres 1916? Indem man Sie hier zusam­mengerufen und Ihnen von der Notwendigkeit des Friedens schöne Worte gesprochen hätte? Glauben Sie, daß das etwa im Frühling des Jahres 1916 so leicht ein wirklicher Lebenspraktiker hätte zustande bringen können? Nun, es gab aber andere Wege. Über diese Wege, die aus der Erkenntnis, aus der vollinhaltlichen Erkenntnis der Sache her­aus kamen, versuchte man das, was dazumal das Richtige war, zu tun. Es wird schon einmal in gar nicht zu ferner Zukunft notwendig sein, über die Geschichte der letzten vier bis fünf Jahre ernsthaft zu reden, nicht so, wie man auch heute noch in weiten Kreisen über die Geschichte dieser Jahre redet. Ich habe, um eine der Tatsachen zu erwähnen, das­jenige, was ich für notwendig hielt, schon im Frühling des Jahres 1916 an derjenigen Stelle, wo es möglich gewesen wäre, zu praktischer Tat überzugehen, voll vertreten. Ich habe alles mögliche versucht. Zum Teil wegen Mangel an Zeit, denn ich müßte viel darüber reden, will ich es nicht weiter ausführen. Es kam so weit, daß einmal meine Aufgabe gegenüber den furchtbaren Ereignissen an einem bestimmten Tag hätte beginnen sollen. Da aber kam von letzter Instanz, trotzdem diejenigen, die die Sache geprüft hatten, die Sache für sehr aussichtsvoll hielten, da kam von derjenigen Instanz, an welche zahlreiche Menschen glauben, weil ihnen befohlen war, zu glauben, die sonderbare Verfügung, so will ich es nennen: Der ist ja ein österreichischer Deutscher. Bevor wir für solche Dienste Österreicher verwenden, müssen wir unsere fähigen deutschen Leute dazu anstellen. - Das ist die Wahrheit! So kann eine Wahrheit sein! Würde ich Ihnen im ganzen Zusammenhang die Dinge erzählen, dann würde mich niemand fragen, warum ich nicht früher

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für dasjenige eingetreten bin, für das ich heute eintrete. Und noch etwas. Im Beginn dieses Jahrhunderts und am Ende des vorigen Jahr­hunderts war ich Lehrer an einer Arbeiterbildungsschule, die von dem alten Wilhelm Liebknecht gegründet war. In jener Arbeiterbildungs­schule habe ich mir bei den Schülern eine sehr treue Anhängerschaft herangebildet. Vielleicht wissen aber die hier anwesenden Angehörigen der Sozialistischen Partei, daß es auch innerhalb dieser Partei soge­nannte Bonzen gibt. Und so kam es denn eines schönen Tages, daß jene Bonzen, weil ich nicht eine rechtgläubige, dogmatische, materialistische Geschichtsauffassung lehren wollte, daß vier Leute gegen sechshundert meiner Schüler - vier Leute, die mich nie gehört hatten, gegen sechs­hundert meiner Schüler, die mich seit Jahren gehört hatten - auftraten und es zuwege brachten, daß mir der Stuhl vor die Türe gesetzt wor­den ist. Das ist auch ein kleines Kapitel, warum diejenigen Dinge, von denen jetzt von mir gesprochen wird, nicht früher gesprochen worden sind. Wer weiß, wie und wo ich sie gesprochen habe, der frägt nicht danach. Aber etwas anderes ist es, ob jemand etwas spricht oder ob ihm jemand zuhört. Ich glaube sehr stark, daß viele von denen, die mir heute zuhören, ganz und gar nicht zugehört hätten, bevor die großen Lehren der furchtbaren, der schrecknisvollen Ereignisse der letzten Jahre gekommen sind. Das ist auch etwas, was berücksichtigt werden muß.

Wenn gesagt worden ist, daß ein Zankapfel geworfen werden sollte zwischen Staat und Arbeit, dann, bitte, muß ich auch auf einen der nächsten Vorträge verweisen. Da wird hervorgehen, daß der verehrte Herr Vorredner mich ganz mißverstanden hat, wenn er glaubt, daß ich nur in irgendeinem Punkte den Staat zum Wirtschafter machen möchte. Das wird nicht der Fall sein, sondern der Staat wird in nichts eine wirt­schaftliche Rolle spielen, also kann er auch nicht der Auszahler des Lohnes sein, sondern es handelt sich für ihn um die Freiheit der Arbeits­kraft. In diesem Sinne bin ich auch von vielen richtig verstanden worden.

Nun habe ich nur kurz mit einzelnen Tatsachen auf gewisse Fragen geantwortet. Es wird schon im Laufe der Zeit gerade auf diese Fragen noch recht, recht sehr anders geantwortet werden.

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Wenn nun einer der verehrten Herren Vorredner darauf hingewiesen hat, daß gesagt worden ist, ich hätte die Dinge nicht begründet, so muß gesagt werden, daß es sich ja gerade darum handelt, daß diese Dinge nur aus der Lebenserfahrung heraus begründet werden können, daß, wenn sie ausgesprochen werden, sie als ein Appell an das menschliche Denken und menschliche Erfahren gehen. Man muß sich wirklich ein­mal zum Leben hinwenden, sonst kommen wir nicht vorwärts. Hier ist einmal etwas, was an die Menschen so herantritt, daß sie ihm ihr freies Verständnis entgegenbringen sollen. Wir haben ja leider erlebt, daß viel verstanden worden ist in der letzten Zeit - nun, was ich nicht ver­standen habe, sind die Dinge, die sich gewisse Herrschaften in den letzten Jahren in recht schöne Rahmen haben einrahmen lassen, die Spruchworte von gewisser Seite her, die habe ich nicht verstanden. Der Unterschied zwischen dem, was hier verstanden werden soll und dem­jenigen, was so leicht verstanden wurde im Laufe der letzten Jahre, der Unterschied zwischen beiden ist der, daß natürlich hier mit dem Verstehen eine Tat der inneren Freiheit vorliegen soll. Dort war das Verständnis befohlen. Richten wir uns einmal auf, versuchen wir zu verstehen, was uns zu verstehen nicht befohlen wird, und versuchen wir darauf zu kommen, wieviel von dem, was wir zu verstehen glau­ben, wir nur deshalb zu verstehen glauben, weil es uns eingeimpft, ein-erzogen oder zu verstehen befohlen ist. Nun, wer ein Lebenspraktiker ist, kann schließlich verstehen, wenn jemand sagt: Seid nicht hart gegen den Geldsackträger, habt doch Mitleid mit dem oder jenem. Aber solche Anweisungen sind doch eigentlich nur recht egoistische Anweisungen, wirklich nur egoistische Anweisungen, denn darauf kommt es ja nicht an, ob nun jemand einsieht, daß das Geld Dreck ist, oder fortdauernd glaubt, daß das Geld ein kleiner Gott ist. Darauf kommt es den sozial Denkenden ja gar nicht an, sondern darauf kommt es an, was das Geld und ein Mensch, der das Geld hat, für eine soziale Rolle spielt.

Man muß sich nicht verschließen in solchen Gefühlen: Wir haben Mit­leid mit dem Geldsackträger -, sondern man muß den Kopf aufmachen für die Verhältnisse, nicht bloß für das, was man nach seinem Ge­schmack bemitleiden oder nicht bemitleiden will. Da handelt es sich darum, sich das müßige Predigen abzugewöhnen. Dieses müßige Predigen

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gehört zu dem, was uns in Not und Elend gebracht hat. Ich habe immer wieder zu meinen Zuhörern bildlich gesagt: Alles Reden über Nächstenliebe, über Brüderlichkeit ist ja schön, es tut so wohl der innerlich egoistischen Seele, wenn man in gutgeheiztem Zimmer über die Nächstenliebe redet, darüber, daß man alle Menschen ohne Unter­schied des Standes lieben soll und so weiter. Aber das ist nun gegenüber der Wirklichkeit so, wie wenn ich mich vor den Ofen hinstelle, so sagte ich, und spreche zu dem Ofen: Du Ofen, es ist deine Ofenpflicht, das Zimmer zu heizen. So wie du aussiehst, trägst du Ofenphysiognomie, solch ein Gegenstand hat den kategorischen Imperativ, das Zimmer warm zu machen. - Aber es wird nicht warm, ich kann predigen, soviel ich will.

Und so predigen die Leute in Abstraktionen immer wieder und wiederum, es wird nicht warm, aber draußen geht es mittlerweile drunter und drüber. Das, um was es sich handelt, ist, daß ich mein Predigen einstelle, durch meine Gedanken sorge, wie Wärme zustande kommt auf vernünftige Weise, und daß ich Brennholz herbeischaffe und Feuer mache. Bei den Dingen, um die es sich jetzt handelt, kommt es darauf an, daß in unseren Gedanken Keime liegen zu dem, was getan werden kann. Das glaube ich, wird derjenige, der wirklich sucht, finden in dem, was mit dem Aufruf, was mit meinem Buche «Die Kern­punkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegen­wart und Zukunft» eigentlich gemeint ist. Der Worte, die bloß Worte sind, sind schon genug gewechselt, jetzt brauchen wir Taten. Aber über die Taten müssen wir uns, wenn sie vernünftig sein sollen, erst ver­ständigen. Keimgedanken zu Taten brauchen wir, solche Keimgedan­ken, die möglichst bald zu Taten führen, ehe es zu spät ist.

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DIE ZUKUNFT VON KAPITAL UND MENSCHLICHER ARBEITSKRAFT Öffentlicher Vortrag, Stuttgart, 13. Mai 1919

Es könnte scheinen, als ob in den Vorgängen der großen Weltkatastro­phe, die heute auf der Stufe «Versailles» steht, wie etwas nicht ganz Begründetes erschiene das Thema: Die Zukunft des Kapitals und der menschlichen Arbeitskraft. Man darf aber, die Ereignisse in ihren Tiefen verfolgend, vielleicht doch darauf hinweisen, daß diese beiden Themen:

Weltkatastrophe und dasjenige, dem die heutige Betrachtung gewid­met sein soll, innig zusammenhängen. Denn eigentlich muß jedem mehr oder weniger klar sein, der n:it offenen, wachen Seelensinnen die Er­eignisse der letzten Jahre beobachtet hat, daß etwas von dem, was man den Weltkapitalismus im großen Stile nennen könnte, eingemündet ist in diesen sogenannten Weltkrieg, daß sich dieser Weltkapitalismus in der Weise, wie es Ihnen schmerzlich bekannt ist heute, in seiner Art gebärdet innerhalb der sogenannten Friedensbedingungen, und daß durch einen großen Teil der zivilisierten Welt heute schon wie eine mächtige geschichtliche Opposition dasjenige geht, was man nennen könnte die Forderung, die sich richtet gerade gegen den Kapitalismus. So liegt eigentlich in dem Gegensatz Kapital und menschliche Arbeits­kraft vielleicht das tiefste, das bedeutungsvollste Problem unserer Zeit verborgen. Der Kapitalismus schwang sich zuletzt auf zu dem, was genannt werden kann, auch oft genannt worden ist, der Imperialismus. Die menschliche Arbeitskraft keuchte unter der Herrschaft dieses Im­perialismus. Und sieht man etwas genauer hin auf das bedeutsamste Kennzeichen des Kapitalismus, so findet man gerade, daß er gewisser­maßen seinen Auslauf fand in der furchtbaren Weltkatastrophe.

Welches ist denn eines der hauptsächlichsten Kennzeichen der kapi­talistischen Weltwirtschaftsordnung? Es ist dies, daß der Mensch aus­geht für sein Erwerbsleben, für seine Bereicherung von der sogenann­ten Rentabilität, der Anlagefähigkeit des Kapitals. Nun frage ich Sie:

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Wieviel ist denn in den Ursachen der Schreckenskatastrophe von dem darinnen, was sich zurückführt auf die Anlagefähigkeit von Kapitalien im großen? In wie weitem Maße wurde denn eigentlich gekämpft für die Erweiterung der Anlagefähigkeit von Kapitalien gewisser Imperia­lismen? Und so zeigt sich schon jetzt, und so wird sich immer mehr und mehr zeigen, daß aus den Tiefen der Menschheit herauf sich erhebt und erheben wird die Forderung: Wie kommen wir zu einer Neugestal­tung des menschlichen Daseins, nachdem diejenigen Formen, welche die Weltwirtschaftsordnung unter dem Kapitalismus, Imperialismus, ange­nommen hat, erstens in so hohem Grade sich als Unheil der Menschheit gezeigt haben, zweitens aber schon lange daran sind, sich ihrer eigenen Vernichtung entgegenzuführen? Und so besprechen wir eigentlich mit dem, was wir heute besprechen als den Gegensatz von Kapital und Arbeit, eine untergehende Weltwirtschaftsordnung auf der einen Seite, und eine aufsteigende Weltwirtschaftsordnung auf der anderen Seite.

Indem ich diese Frage hier bespreche, bitte ich Sie zu berücksichtigen, daß es gerade von den Gesichtspunkten aus, von denen hier gesprochen wird, notwendig ist, zuerst voll deutlich zu sprechen von den umfassen­den, den großen Impulsen, damit dann auf der Grundlage des Ver­ständnisses dieser großen, umfassenden Impulse in die Einzelheiten eingegangen werden kann. Denn niemand, der es heute in den Tagen der großen Weltabrechnung vermeiden will, zu großen, umfassenden Impulsen sich zu wenden, kann irgendwie daran denken, heilsam zu wirken am Neuaufbau der Welt. Wer heute große, umfassende Ge­sichtspunkte unpraktisch nennt, der bringt eigentlich dadurch, ob er will oder nicht, zum Ausdruck, daß er durch sein Bleiben in seinem sogenannten Praktischen, in seinem Kleinen, nicht teilnehmen möchte an dem, was wirklich notwendig ist für die Entwickelung der Mensch­heit. Daher gestatten Sie mir, heute noch in Anknüpfung an meine beiden letzten Vorträge bei etwas umfassenderen Impulsen zu bleiben, damit ich dann am nächsten Freitag nur Einzelheiten, die sich ergeben aus dem umfassenden Plane der Dreigliederung des sozialen Organis­mus, in voll deutlicher Weise werde besprechen können. Diese Einzel­heiten würden sich nicht besprechen lassen, ohne daß man zuerst den Bauplan vollständig aufrollt.

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Wenn man heute jene Forderungen kennenlernen will, welche aus den breitesten Schichten des Volkes aufsteigen, und in welchen sich zugleich bedeutungsvolle geschichtliche Notwendigkeiten zum Ausdruck bringen, dann hat man erstens nötig, wirklich den guten Willen zu haben, auf dasjenige hinzuhorchen, was angesichts der neuen Zeitlage heute das Notwendigste ist, um den besonderen Forderungen der Menschen eine Gestalt zu geben, welche in die Wirklichkeit der Menschheitsentwicke­lung sich einleben kann. Es sind die Verhältnisse in den letzten Jahren gegen früher so sehr anders geworden, daß sie als völlig Neues er­scheinen, und doch können viele Menschen heute noch nicht loslassen von alten Denkgewohnheiten und alten Denkempfindungen, und sie haben keine Ohren, wenigstens keine geneigten Ohren für dasjenige, was am allernotwendigsten ist. Wir stehen ja heute vor Forderungen, die nicht von dieser oder jener Stelle ausgehen, die auch nicht von dieser oder jener Stelle aus propagiert werden können, - wir stehen heute tatsächlich vor den Forderungen der breitesten Massen, die aus den Untergründen des Menschheitsempfindens, Menschheitserlebens und Menschheitswollens heraufkommen. In dieser Zeit ist vor allen Dingen notwendig Vertrauen, Vertrauen der Menschen untereinander, Vertrauen der Menschen zu denjenigen, die über die Forderungen der Zeit etwas zu sagen haben. Vertrauen vor allen Dingen, das sich nicht auf etwas Persönliches begründet, sondern Vertrauen, das sich einzig und allein auf die Sache begründet. Da merken wir heute etwas sehr Bedeutsames. Man kann sagen, es ist, wenn man den Zugang zu ge­winnen versteht zu den breitesten Volksmassen, verhältnismäßig leicht, Vertrauen zu gewinnen. So sonderbar es sich ausnimmt, gesagt muß es einmal werden: Vertrauen zu gewinnen ist heute um so leichter, je mehr man zu denjenigen Menschen spricht, welche durch die bisherige Wirt­schafts-, Rechts- und Geistesordnung gewissermaßen entwurzelt wor­den sind mit Bezug auf die menschlichen Lebensgüter, welche ange­wiesen sind, für ihre Lebensgestaltung sich lediglich auf dasjenige zu stellen, was die Kraft ihrer eigenen Person, was die Kraft ihrer Arbeit ist.

Da ist es merkwürdig, wie die umfassendsten Impulse von den­jenigen verständnisvoll aufgenommen werden, die am eigenen Leibe das Unzulängliche der Menschheitsentwickelung in den letzten Zeiten

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erfahren haben. Schwerer wird es, zu denjenigen zu reden, die heute gewissermaßen noch dastehen mit den Resten der alten Wirtschafts-, Rechts- und Geistesordnung; die hinübertragen in die neue Zeit, was sie sich aus der alten Ordnung erworben, ererbt oder auf sonstige Weise angeeignet haben. Die hängen, sei es an ihren Gütern, sei es an ihren Vorstellungen. Und schwierig wird es ihnen, anderes für prak­tisch zu finden als lediglich dasjenige, welches ihnen möglich macht, dieses Erworbene, Ererbte oder sonstwie Angeeignete wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu erhalten. Es fehlt heute eigentlich vielen Menschen, und um so mehr solchen Menschen, die zu der zuletzt ange­führten Klasse gehören, nicht nur die Möglichkeit, Vertrauen zu suchen, um durch Vertrauen der Menschen zueinander zu einem Neuaufbau zu kommen, sondern es fehlt ihnen sogar der Glaube an dieses Vertrauen, es fehlt ihnen der Glaube, daß das Verständnis derjenigen, die große Impulse verstehen wollen, ein echtes und ehrliches ist. Ich will nicht Kritik üben, ich will nur Tatsachen besprechen, Tatsachen aber, welche es so unendlich schwierig machen, heute durch dasjenige vorwärts zu kommen, durch das einzig und allein vorwärts gekommen werden kann - die Kraft, die in dem Menschen liegt für das Verständnis des anderen Menschen. Unendlich schwer ist es heute, diese Grundlage alles wirklichen Sozialismus populär zu machen: Verständnis des einen Men­schen für den anderen Menschen. Denn merkwürdig, in unserer Zeit, in der so bedeutsam, so großartig der Ruf nach Sozialismus ertönt, in dieser Zeit leben die stärksten antisozialen Triebe bis in die Tiefe der Menschenseele hinein. Daher kommt es auch, daß es, getrübt durch diese antisozialen Triebe, heute eigentlich wenigen Menschen möglich ist, hinreichende, wirklichkeitsgemäße, wahrhaft praktische Anschau­ungen über dasjenige zu bekommen, was uns für die Weiterentwicke­lung der Menschheit notwendig ist. Das, wovon in den vorigen Vor­trägen gesprochen wurde, und wovon heute und das nächste Mal ge­sprochen werden soll, das ist nicht aus Wolkenkuckucksheim herunter­geholt, das ist genommen aus dem unmittelbaren Leben. Denn viel von dem, was gerade durch die Impulse des dreigliedrigen sozialen Orga­nismus gefordert wird, das ist in dem geheimen Verlangen vieler Men­schen im Grunde genommen eigentlich schon da, schon da in der Weise,

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daß es sich aus Seelenuntergründen an die Oberfläche bewegen will, daß es sein Dasein erkämpfen will, und daß nur die Einrichtungen unserer bisherigen Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsordnung diese an die Ober­fläche drängenden Mächte zurückhalten wollen. Besonders stark wird man aufmerksam auf die merkwürdigen Erscheinungen, wie heute die Menschen aus ihrer alten Staatswirtschaftsordnung heraus geradezu entgegenarbeiten dem, was sich zu ihrem eigenen Heile in die Höhe kämpfen will, wenn man gerade den die Welt heute aufwühlenden Kampf zwischen dem Kapital und der menschlichen Arbeitskraft ins Auge faßt. Erwarten Sie nicht von mir, daß ich Ihnen beginnen werde mit irgendeiner mehr oder weniger befriedigenden Definition des Ka­pitals und der menschlichen Arbeitskraft. In der Wirklichkeit kämpft man nicht gegen Begriffe und Ideen, in der Wirklichkeit hat man zu kämpfen gegen Kräfte und Menschen. In der Wirklichkeit hat man aber auch zu kämpfen oftmals gegen den Irrwahn, die Unzulänglich­keit, ja die Blindheit. In bezug darauf liegen die Dinge heute außer­ordentlich merkwürdig.

Damit komme ich zu dem zweiten, das berücksichtigt werden muß außer der sozial-psychologischen Tatsache des Vertrauensuchens. Aus der großen Masse des Proletariats und der sozial Denkenden erhebt sich der Ruf, und er erhebt sich schon lange, nach einer irgendwie gearteten Sozialisierung der Produktionsmittel, die ja im wesentlichen für das Proletariat dasselbe sind wie das Kapital. Derjenige, welcher in dem Sinne, wie ich es in meinen zwei letzten Vorträgen hier aus­einandergesetzt habe, sich einläßt auf die Entwickelung der sozialen und sozialistischen Ideen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhun­derts, der kann darauf kommen, daß in diesem Rufe nach Sozialisie­rung der Produktionsmittel etwas liegt, was dem Allerberechtigsten entspricht, das man nur erschauen kann in der neueren Entwickelung der Menschheit. Wer aber auf sich wirken läßt die Tatsachen, wie sie sich gewandelt haben durch die Weltkatastrophe, für den wird es nicht schwer sein, auch zu durchschauen, wie unzulänglich viele von den­jenigen Gedanken, Parteimeinungen und dergleichen, die auch auf so­zialistischer Seite sich geltend gemacht haben, jetzt geworden sind, wo die Tatsachen sich aus der Weltkatastrophe heraus mächtig und laut

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erheben und nach Gestaltung suchen. Jetzt müssen die Fragen aufge­worfen werden: Wie können wir das soziale Leben gestalten? Wie führt der Weg zu dem, was als ein gutes Ziel hingestellt wird: Sozia­lisierung der Produktionsmittel? Wie kommen wir zu solchen Ideen, die uns nicht nur das Ziel zeigen, das aus Leid und Entbehrungen her­ausgeborene Forderungen befriedigen kann, sondern die uns den Weg eröffnen zu diesem Ziele hin? Das ist es, was sich die Dreigliederung des sozialen Organismus zur Aufgabe macht, den Weg zu finden zu einem Ziele, das die breitesten Massen der Menschheit als ihr berech­tigtes anerkennen, das sie als solches fühlen, ja bis zu einem gewissen Grade auch verstehen. Immer wieder muß ich betonen, dasjenige, was ich hier zu sagen habe, es ist nicht aus irgendeiner grauen Theorie her­vorgeholt, es ist nicht entstanden aus der Gelehrsamkeit heraus, es ist entsprungen aus dem wirklichen Leben und seinen gegenwärtigen weit­tragenden Forderungen. Aber man macht sich zuweilen Gedanken dar­über, wie sich die Zeitentwickelung, wie sich die Menschengedanken zu so etwas stellen, das man herausgeholt hat gerade aus den Unter­gründen des Lebens. In der Form, in der heute der Ruf nach Soziali­sierung ertönt, stammt er ja von einer bedeutsamen welthistorischen Kundgebung, von dem sogenannten Kommunistischen Manifest des genialen Karl Marx. Und im Grunde genommen, was erlebt worden ist bis heute und was weiter erlebt werden wird an sozialen und sozia­listischen Impulsen, es werden Zweige und Sprossen sein desjenigen, was in der Wurzel gegeben ist mit diesem Kommunistischen Manifest. Aber es ist merkwürdig, in demselben Jahr, in dem das kommuni­stische Manifest erschienen ist, erschien ein ehrliches, ein wirklichkeits­gemäßes Buch. Und die Gedanken dieses Buches, sie sind entsprungen aus der Seele eines Menschen, der schon das Leben kannte, der auch geneigt gewesen wäre, sich restlos schon dazumal als Sozialist zu bekennen, wenn er es nach seinen Lebenskenntnissen gekonnt hätte. Es ist Bruno Hildebrand, der damals das Buch geschrieben hat, ein scheinbar anspruchloses Buch, ein symptomatisches Buch aber, ein Buch, das gründlich berücksichtigt werden sollte: «Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft». Ich erwähne das heute hier einleitungsweise aus einem ganz bestimmten Grunde. Wenn Sie alles dasjenige zusam­mennehmen,

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was von den Gegnern des Sozialismus seit dem kommuni­stischen Manifest Erhebliches vorgebracht worden ist, so können Sie wie im Extrakt klar alles das schon finden in dem Werke von Bruno Hildebrand aus dem Jahre 1848. Was liegt eigentlich dem Impulse dieses merkwürdigen Mannes zugrunde? Er sagte sich, ich muß mir vorstellen, wie da aussehen würde eine Gesellschaftsordnung, die rein sozialistisch gestaltet wäre! Er malt sich gewissermaßen aus eine solche sozialistisch gestaltete Gesellschaftsordnung. Würde er sie für möglich halten können, das merkt jeder aus den Ausführungen des Mannes, dann würde er sich sogleich dazu bekennen. Er kann sie nicht für mög­lich halten nach seinen Anschauungen. Warum? Nicht etwa, weil er glaubt, daß einzelne Menschen, die mit ihrem Erworbenen, Ererbten oder sonstwie an sie Gekommenen in die neuere Zeit hinübersegeln wollen, etwa unter die Räder kämen, sondern aus dem Grunde, weil ihm als einein Wirklichkeitsdenker, einem echt praktischen Denker klar wird, diejenigen, die den Sozialismus wollen, so wie sie sich ihn selber vorstellen, sie würden sich in kürzester Zeit unglücklich fühlen müssen in einer solchen sozialistischen Gesellschaftsordnung. Und war­um müssen sie sich unglücklich fühlen? Der Mann führt das alles an. Er zeigt, wie viele von den berechtigten Kräften des Menschen natur­gemäß verschwinden müßten, wenn eine sozialistische Struktur die menschliche Gesellschaft ergriffe. Er führt an, wie unmöglich sich gerade in der sozialistischen Gesellschaft auf die Dauer das Verhältnis von Kapital und Arbeit herstellen ließe.

Nun ist man einer solchen wirklichkeitsgemäßen Auseinandersetzung gegenüber in einer sehr merkwürdigen Lage. Man sagt sich, nun aber, die historische Notwendigkeit des Sozialismus liegt doch vor. Der So­zialismus muß kommen, und er kommt sicher. Soll man dasjenige wol­len, was vielleicht auch die ins Elend, wenigstens nicht ins Glück bringt, die die neue Ordnung wollen? Das ist die Frage, die heute auf den tiefer in die menschliche Entwickelung hinschauenden Menschen wie eine furchtbare Last drücken kann. Über das, wozu wir heute aufge­fordert werden durch die in der Menschheitsentwickelung liegenden Kräfte, ist wahrhaftig nicht ins klare zu kommen aus irgendwelchen agitatorischen oder demagogischen Untergründen heraus, sondern einzig

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und allein aus bitterem Ernst und heiligem Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber den Forderungen, den berechtigten Forderungen der Mensch­heit.

Aus diesen Untergründen heraus sind die Fragen entsprungen, die sich zuletzt ergeben haben für die Grundlegung der Impulse des drei-geteilten sozialen Organismus. Aus dem wirklichen Leben heraus stand da wie eine Zukunftsperspektive die sozial gegliederte menschliche Gesellschaft. Aber in dem Streben, nicht aus Illusionen und Forderun­gen heraus einfach zu sprechen, sondern in dem Streben, zu etwas zu kommen, was der Menschheit wirklich heilsam sein kann, mußte ge­fragt werden: Woran liegt es denn, daß das geschichtlich Notwendige, das, was gewiß kommen muß, zu gleicher Zeit wie etwas die Menschheit in bezug auf edelste Kräfte Störendes erscheinen kann? Beirren in der Einsicht von der Notwendigkeit einer sozialen Struktur der Gesell­schaftsordnung kann den Verantwortlichen ein solcher Ausblick nicht. Aber dazu kann er ihn treiben, nachzuforschen, wie es gemacht werden muß, damit Heil und nicht Unheil komme, damit die freie, nach allen Seiten sich entfaltende Menschennatur zur Geltung komme, und nicht eine im Innerlichen verdorrte, im Innerlichen verkümmerte Menschen­wesenlheit in dem geschichtlich Notwendigen leben müsse. Das führt dazu, diesen sozialen Organismus genauer, lebensgemäß zu studieren. Und da zeigt es sich, daß, wenn man einfach die alte Staatsordnung, den alten Staatsinhalt überleiten möchte in die neue soziale Ordnung, wenn man den alten Einheitsstaat forttreiben würde zu der neuen so­zialen Ordnung, dann das eintreten würde, was die Gegner des Sozia­lismus, wenn sie gutwillige Gegner sind, eben anführen. Sofort wird das trübe Bild mit Licht beschienen, wenn man gewahr wird: Man muß ja erst aus dem wirtschaftlichen Organismus, in den wir immer mehr und mehr hineingekommen sind, so daß Staats- und Geistesorganismus Diener der wirtschaftlichen Organisationen geworden sind, heraus­nehmen das eigentliche Rechts- oder Staats- oder politische Gebiet und das Gebiet der geistigen Kultur der Menschheit. Läßt man diese drin­nen, segelt man fort, hypnotisiert von dem Götzen «Einheitsstaat», und will man sozialisieren, dann gelten die Einwände. Gliedert man heraus aus dem Wirtschaftsleben, in das sich immer mehr konzentriert

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hat die neuere Menschheitskultur, das Rechts- oder politische oder Staatsleben auf der einen Seite, das geistige Leben auf der anderen Seite, dann bleibt in dem befreiten Wirtschaftskreislauf die Möglich­keit, in gesunder Art zu sozialisieren. Und zu gleicher Zeit ergibt sich die Möglichkeit, auch auf den beiden anderen Gebieten in gesunder Art zu sozialisieren.

Ich habe auf das aufmerksam machen wollen aus dem einfachen Grunde, weil heute, wenn über diese Dinge gesprochen wird, die Men­schen so leicht glauben, daß dasjenige, was gesagt wird, gewissermaßen als ein Einfall über Nacht gekommen ist. Was mit dem dreigliedrigen sozialen Organismus gemeint ist, ist kein solcher Einfall. Es ist etwas, was aus dem Zusammenleben mit der sozialen Wirklichkeit entsprun­gen ist. Denn wenn man den Ausblick auf den Ihnen letzthin und vor-letzthin charakterisierten dreigliedrigen sozialen Organismus hat, dann erst ergibt sich die Möglichkeit, die richtigen Lichter zu werfen auf solche Impulse in der neueren Menschheitsentwickelung und auf ihre Ausgestaltung in der Gegenwart und in die Zukunft hinein, die für Kapital und menschliche Arbeitskraft nötig sind. Unter den verwirren­den und ungerechten Kräften der neueren Zeit haben sich Ansichten herausgebildet, die eigentlich nicht immer nach dem richtigen Ziele hin­weisen. Man kann zum Beispiel sagen, diejenigen, die nachgedacht haben, um der Menschheitsentwickelung zu helfen, sie haben die kuri­osesten Gedanken geäußert über das, was sie sich eigentlich unter dem Kapital und seinen Wirkungen vorstellten. Es gibt einen National­ökonomen Roscher> der rechnet den Staat zum Kapital; es gibt einen Nationalökonomen Thünen, der rechnet den Menschen zum Kapital, und ich könnte Ihnen eine lange Liste anführen, die Ihnen beweisen würde, wie die Menschen die wirtschaftliche Welt ansehen und sich die sonderbarsten Vorstellungen über dasjenige machen, was im Wirt­schaftsleben tätig ist. Daher werden wir vielleicht über das, was eigent­lich heute die Menschheit bewegt und zerwühlt, klarer als durch die Vorstellungen solcher Leute und vielleicht auch die Vorstellungen, die wir uns selber machen können, dadurch werden, daß wir hinweisen darauf, worin eigentlich die Grundimpulse des entfesselten Kampfes zwischen Kapital und menschlicher Arbeitskraft liegen. Da dürfen wir

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zunächst hinweisen, ich möchte sagen, auf den Glauben der einen Seite und auf den Glauben der anderen Seite. Denn im Grunde genommen stehen zwei wirtschaftliche Glaubensbekenntnisse einander gegenüber.

Was glaubt eigentlich derKapitalist? Der Kapitalist glaubt, er lebe von seinem Kapital, oder wenn er wirtschaftlich ist, er lebe von den Zinsen dieses seines Kapitals. Das ist nun einmal sein Glaube. Er denkt nicht viel über diesen Glauben nach, denn er ahnt nicht, daß von Kapital und Zinsen niemand leben kann. Und er ahnt auch nicht, daß es eine gewisse Berechtigung hat, wenn ein sehr bedeutsamer Nationalökonom, der sogar ausnahmsweise preußischer Minister geworden ist, die Worte geäußert hat, das Kapital sei das fünfte Rad am Wirtschaftswagen. Man muß wirklich berücksichtigen, was das eigentlich heißt. Es heißt das nichts Geringeres als: die menschliche Gesellschaft braucht eigentlich das, was heute als Kapital angesehen wird, nicht. In Wirklichkeit aber nährt dieses Kapital viele Menschen, sehr viele Menschen. Diese Menschen werden alle durch das fünfte Rad am Wirtschaftswagen genährt, das heißt sie nähren sich so, daß, wenn sie sich nicht nähren würden, der Wirtschaftswagen auch fahren würde, nur daß sie selbst etwas anderes tun müßten, als sich vom Kapital zu nähren, nämlich arbeiten. Sehen Sie, das beleuchtet den Glauben des Kapitalisten. Es ist schwer anzu­kämpfen gegen diesen Glauben, wie überhaupt gegen Glaubensbekennt­nisse außerordentlich schwer anzukämpfen ist aus dem einfachen Grunde, weil Glaubensbekenntnisse intim mit der menschlichen Natur verknüpft sind. Und Sie mögen dem Kapitalisten noch so oft sagen:

Durch dein Kapital entsteht doch nicht Leben, solange dein Kapital sich nicht umwandelt durch die gesellschaftliche Ordnung in eine Macht, in die Macht, die du durch dein Kapital über andere Menschen hast, die arbeiten und dir durch ihre Arbeit den Lebensunterhalt verschaffen. Wer diese Dinge gründlich betrachtet, der merkt, daß das Kapital erst dann eine Bedeutung hat, wenn man es vom Standpunkte dieser Macht-frage ins Auge faßt. So viel zunächst über das Glaubensbekenntnis des Kapitalisten.

Nun, das Glaubensbekenntnis des Arbeiters, wenigstens desjenigen Arbeiters, welcher sich unter dem seelenverödenden Kapitalismus her­aufentwickelt hat in die neue Zeit, dieses Glaubensbekenntnis lautet:

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Ich lebe von meiner Arbeitl - Es ist in der heutigen Gesellschaftsord­nung ebenso ein bloßer Glaube, ein unberechtigter Glaube, daß man von seiner Arbeit leben könne, wie es ein unberechtigter Glaube ist, daß man leben könne von irgendeinem Kapital, obwohl der Glaube, daß man von seiner Arbeit leben kann, wenigstens eine gewisse ein­geschränkte Richtigkeit hat. Nur hat er keine volle Richtigkeit inner­halb unserer Gesellschaftsordnung. Denn innerhalb unserer auf Arbeits­teilung beruhenden Gesellschaftsordnung ist, damit man von dieser Arbeit leben kann, eine dreifache Tätigkeit des Menschen notwendig, die ausgeht von der geistigen Kultur der Zeit im weitesten Sinne. Erstens ist notwendig die erfinderische Tätigkeit, welche zu den Produktions­mitteln führt, und zweitens die organisatorische Tätigkeit, welche zu der Harmonisierung führt zwischen den Produktionsmitteln und menschlicher Arbeit, und drittens ist notwendig die spekulative Tätig­keit, welche führt zur Verwertung desjenigen, was mit Hilfe der Arbeit an den Produktionsmitteln produziert wird, zur Überführung der Er­zeugnisse an die entsprechenden Glieder der menschlichen Gesellschaft. Ohne diese dreifache geistige Tätigkeit ist Arbeit in dem sozialen Or­ganismus, der auf Arbeitsteilung beruht, etwas Unfruchtbares. Damit wird man aber von vornherein auf dasjenige hingewiesen, was, wie ich schon sagte, in einer gewissen Weise Licht verbreitet über das heute Notwendige. Man muß, was da ist, nur in richtigem Lichte anschauen. Die heutige Gesellschaft arbeitet unter dem Einfluß des Kapitals. Der Arbeitende empfindet ganz recht, wenn er als das Wesentliche des Kapi­tals die Produktionsmittel ansieht, das heißt dasjenige, was durch die Menschenarbeit geschaffen werden muß und nicht unmittelbar zum Verbrauch führt, also kein unmittelbarer Bedarfsartikel, kein un­mittelbarer Genuß artikel ist, sondern was zur Herstellung von Bedarfs-und Genußmitteln dient. Diese Produktionsmittel will der Sozialismus in eine andere gesellschaftliche Ordnung bringen als die ist, in die sie unter den Einflüssen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung der neue­ren Zeit gekommen sind. Nun kann man merkwürdigerweise sagen, es zeigt sich schon, daß in einer gewissen Weise die Produktionsmittel etwas für sich sind, daß sie abgesondert werden können von den Men­schen. Man vergleiche nur, wie in den älteren Wirtschaftsformen das,

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was der Mensch brauchte als Handwerker, um zu produzieren, wie das begründet war in seiner menschlichen Qualität. Nun, man vergleiche dann alles, was heute im großen getrieben wird mit Hilfe der moder­nen Produktionsmittel großen Stils, wie das gewissermaßen als Sachgut abgesondert werden kann von der menschlichen Individualität. Wir wissen ja, wenn man eine Summe von Produktionsmitteln, die einen Betrieb ausmachen, verkauft - es kann sie ein Mensch oder eine Aktien­gesellschaft verkaufen an einen anderen Menschen, an eine andere Aktiengesellschaft, beide haben vielleicht gar nichts anderes zu tun mit diesen Produktionsmitteln, als daß sie ihre Tantiemen, ihren Profit be­ziehen -, so zeigt sich, wie in weitestem Umfange eine Loslösung der Produktionsmittel von den Besitzern besteht. Hier haben wir durch die Wirklichkeit etwas, das in der Zukunft nur in entsprechender Weise in sein Gegenteil gewendet werden muß, dann kommen wir zu einer wirklichen Sozialisierung der Produktionsmittel. Eine solche an­zugeben, habe ich versucht in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zu­kunft».

Ein Zweifaches muß erreicht werden. Erstens muß erreicht werden, daß ein engeres Band hergestellt werde zwischen den Leitern eines Betriebes mit Produktionsmitteln und diesen Produktionsmitteln sel­ber. Ein Leiter oder ein Leiterkonsortium muß unbedingt dasjenige sein, welches durch seine geistige Arbeit, sei es disponierend, sei es kal­kulierend, sei es erfinderisch, in den Betrieb durch die Produktions­mittel eingreift und sich daran beteiligt. Zu einem solchen Konsortium, das durch seine ganze geistige Anlage, durch seine geistigen Fähigkeiten verbunden ist mit den Produktionsmitteln eines bestimmten Betriebes, ist in den weitesten Ausmaßen Vertrauen herzustellen von seiten der­jenigen, die als Handarbeiter an diesen Produktionsmitteln arbeiten müssen. Gegenüberzustehen haben sich in der Zukunft der Handwer­ker, der handarbeitende Mensch und derjenige, der nicht den Profit bezieht, der aus den Produktionsmitteln herauswächst, sondern der durch seine geistigen Fähigkeiten, durch seine geistigen Arbeiten, die er hinorientiert hat nach der Art bestimmter Produktionsmittel, einer bestimmten Betriebsart allein berechtigt ist, diesen Betrieb, diese Produktionsmittel

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zu leiten. Aber nur so lange hat dieser Betriebsleiter Produktionsmittel zu leiten, als er die Leitung reditfertigen kann durch das Verbundensein, das Zusammengewachsensein seiner Fähigkeiten mit diesen Produktionsmitteln.

Hier beginnt ein Punkt, wo allerdings diejenigen, die sich nur vor­stellen können, daß wenigstens das Wesentliche vom Alten bestehen bleibt, beginnen, verdutzte Gesichter zu machen. Und doch, wenn der Zeitpunkt eintritt, wo irgend jemand, der zusammengewachsen ist durch seine Fähigkeiten mit einer bestimmten Summe von Produk­tionsmitteln, dieses Zusammengewachsensein nicht mehr aufrecht er­hält, dann erwächst dem sozialen Organismus die Verpflichtung, diese Produktionsmittel ohne Kauf überzuleiten an eine andere Person oder Personengruppe. Das heißt nichts Geringeres als, es wird in der Zu­kunft stattfinden eine Zusammenfügung von - nun, nennen wir es Kapital oder wie wir wollen -, von Kapital und menschlichen Fähig­keiten ohne Kauf. Kapital hat dann nur die Bedeutung dessen, was ge­braucht wird, um große Betriebe einzuleiten. Es wird in der Zukunft Kapital entstehen durch einen für einen bestimmten Betrieb fähigen Menschen. Dieses Kapital wird nur entstehen durch das Vertrauen, das andere Menschen zu ihm haben, die ihm dasjenige geben werden, was sie als Mehrarbeit leisten über ihren Bedarf hinaus. Er wird in der Lage sein, gewissermaßen im Auftrage einer ihm vertrauenden Gruppe, das heißt aber der Allgemeinheit des sozialen Organismus, einen solchen Betrieb aufzubauen, der heute nur auf dem Privatkapital und Privat­kapitalgenuß aufgebaut werden kann. Dann aber, wenn der Betrieb aufgebaut ist, dann entfällt etwas, wogegen eigentlich heute die Arbeit in Wirklichkeit kämpft, es entfällt der Besitz der Produktionsmittel. Es stehen sich gegenüber, nachdem der Aufbau der Produktionsmittel vollzogen ist, der Arbeiter durch Vertrag und derjenige, der der tech­nische oder sonstige geistige Leiter des Betriebes ist. Die Produktions­mittel gehören niemand, der Besitz an Produktionsmitteln hört auf. Und in dem Moment, wo nicht mehr durch die besonderen Fähigkeiten des Leiters gerechtfertigt ist das Zusammenwirken des Betriebes mit diesem Leiter, ist der Leiter verpflichtet, die Produktionsmittel an ein anderes Konsortium, an eine andere Personengruppe überzuführen.

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Unmittelbar oder mittelbar! Dadurch wird für die Zukunft erreicht, was ich nennen muß Zirkulation des Kapitals und Aufhören des Privat­besitzes an Kapital! Das Kapital wird in gesunder Weise dem soziali­sierten gesellschaftlichen Organismus einverleibt werden. Es wird zirku­lieren in diesem gesellschaftlichen Organismus, wie das Blut im mensch­lichen oder im tierischen Organismus zirkuliert, wo es auch nicht ein­seitig in Anspruch genommen werden darf durch ein Organ, sondern durch alle Organe durchzirkulieren muß. Freie Zirkulation des Kapi­tals! Das ist es, was in Wahrheit für die Zukunft gefordert wird.

In einem solchen sozialen Organismus, in dem so das Kapital frei zir­kuliert, ist auch nur möglich wirkliche Freiheit der Arbeit. Denn so wie das private Kapitaleigentum tatsächlich gegenüber den gesellschaft­lichen Funktionen das fünfte Rad am Wagen ist, so ist als Gegenstück des Kapitals die menschliche Arbeitskraft in eine Zwangslage gekom­men unter der Herrschaft des Kapitalismus. Was für die Gesundung der menschlichen Gesellschaft notwendig ist, das wird erreicht durch die Zirkulation des Kapitals, das niemand besitzt. Was heute herausbezahlt, herausgeholt wird aus den Produktionsmitteln, was die Leute in den Hypothekenscheinen, in Pfandbriefen oder Obligationen und so weiter ihr Kapital oder ihre Rente nennen, das ist absolut unnötig im wirk­lichen Prozeß der menschlichen Entwickelung der gesellschaftlichen Ordnung. Das ist herausgenommen aus dieser Gesellschaftsordnung, und das stellt die Menschen, die es herausnehmen, selber aus dieser Ge­sellschaftsordnung heraus, macht sie mehr oder weniger zu Parasiten und zu denjenigen, welche die großen Kräfte der Unzufriedenheit innerhalb der gesellschaftlichen Organisation erzeugen. Was ich Ihnen hier auseinandergesetzt habe über die Zirkulation des Kapitals, wer­den manche Leute selbstverständlich alles höchst unpraktisch finden. Das glaube ich. Aber unpraktisch finden, das heißt in diesem Fall nichts anderes als nicht ablassen wollen von dem, was das fünfte Rad am Wagen der Wirtschaftsordnung ist, das heißt sich angewöhnt haben, nur das praktisch zu finden, was sich für einen selbst, für den Egois­mus als praktisch erwiesen hat. Der Mensch wird aber für die Zukunft sich hingeben müssen mit seiner ganzen Wesenheit an den gesellschaft­lichen Organismus. Da wird es nicht genügen, daß die Leute in den

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Zimmern sitzen und über Nächstenliebe, über Brüderlichkeit phanta­sieren und sich so recht gut finden dabei, und dann die Kupons ab­schneiden, die sie nur deshalb abschneiden können, weil die Leute in den Bergwerken, in den Fabriken in Not und Elend für sie arbeiten, damit sie sich wohltun können bei ihren Predigten von Menschenliebe, von Nächstenliebe und Brüderlichkeit.

Das so Reden, das so Gutsein, das wird aufhören müssen. Das Ein­richten der menschlichen Gesellschaft in solcher Art, daß sie den For­derungen vom Gutsein wirklich entspricht, das ist es, was als ein Ruf jetzt wirksam durch die Welt geht. Was heraufgekommen ist unter dem neueren Kapitalismus, was sich immer mehr und mehr entwickelt hat, was heute gewissermaßen auf dem Höhepunkt seines Bewußt­seins, nämlich seines Klassenbewußtseins angekommen ist, das ist die soziale Gruppe von Menschen, die vorläufig als soziale Gruppe im Grunde genommen nur aus der handarbeitenden Bevölkerung, aus dem Proletariat besteht. Was ist zu erfüllen mit Bezug auf diese soziale Gruppe? Nun, diese soziale Gruppe hat in einer gewissen Weise Selbst­hilfe geübt, sie hat auch mancherlei für sich erzwungen, was sie ab­gerungen hat dem kapitalistisch geleiteten Staate, der rein kapitalisti­schen Wirtschaftsordnung und so weiter. Genossenschaften, Gewerk­schaften sind zur Organisierung der sozialen Gruppe - es waren zu­nächst anarchische Arbeitermassen, nicht der Gesinnung nach, son­dern der Gruppierung nach zunächst anarchisch - entstanden. Aber solange wir unter der alten Wirtschaftsordnung standen, haben es diese Organisierungsversuche zu keinem rechten Ziel bringen könnnen. Trotz aller Lobhudelei des Arbeiterschutzes, des Arbeiterversicherungswesens, sogar des internationalen Arbeiterschutzes und so weiter sind alle diese Dinge nicht geeignet gewesen, die sozialen Gruppen, die als proletari­sche Bevölkerung leben, wirklich sachgemäß zu organisieren. Denn es blieb bei allen diesen Organisationsversuchen etwas zurück, es blieb zurück das gegenüberstehende Kapital und seine Vertreter. Und so bildete sich heraus, was da war, und was heute noch nicht anders ist, der Kampf zwischen der einen Gesellschaffsklasse, den Trägern des Kapitalismus, und der anderen Gesellschaftsklasse, dem Proletariat. Kampf, Konkurrenz, das ist es, was sich herausgebildet hat. Und wozu

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wir durch diesen Kampf, durch diese Konkurrenz gekommen sind, daß der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter seine Lohnerhöhung oder sonst etwas den Vertretern des Kapitals durch die Zusammen-schließung abringen muß, das haben wir ja gesehen. In dem, was heute das Proletariat fühlt, spricht sich deutlich aus, wie wenig die bisherige Organisation erfüllen konnte, was als Forderung innerhalb des Prole­tariats liegt.

Ich habe in früheren Vorträgen bereits darauf hingewiesen, worin der Hauptpunkt liegt. Man könnte sagen, zwei Hauptpunkte des gan­zen Sozialismus liegen in zwei Forderungen, zu denen sich dann wie von selbst, als eine selbstverständliche Konsequenz, eine dritte ergibt. Sie liegen erstens in der Forderung, die heute schon bei Besprechung des Kapitals mitbesprochen worden ist, in der Forderung, daß künftig­hin das in die Produktionsmittel eingeflossene Kapital nicht mehr Be­sitz sein dürfte. Kapital wird des Besitzcharakters entkleidet. Zweitens, Arbeit darf in der Zukunft nicht mehr Ware sein, das heißt in der zukünftigen sozialistischen oder sozialen Gesellschaft, im gesunden sozialen Organismus wird das Lohnverhältnis aufhören. Arbeit oder Arbeitskraft darf fernerhin nicht Ware sein. Derjenige, der hand-arbeitet, produziert als Kompagnon mit dem geistigen Arbeiter in der Weise, wie es schon charakterisiert worden ist. Es besteht kein Arbeits­vertrag, es besteht ein Vertrag lediglich über die Teilung der Lei­stungen. Das ist dasjenige, was nur erreicht werden kann, wenn der Arbeiter dem Arbeitsleiter als ein völlig freier Mensch gegenübersteht, das heißt wenn er imstande ist, auf einem ganz anderen Boden als dem der Wirtschaftsordnung Maß, Zeit, Art seiner Arbeitskraft festzulegen, wenn er frei verfügen kann über sich als ganzen Menschen, bevor er in ein Vertragsverhältnis eintritt.

Ich weiß, daß die Zöpfe von heute sich das Gesagte noch nicht vor­stellen können als etwas Praktisches. Allein, man hat vor fünfzig Jahren sich manches nicht als praktisch vorstellen können, was in den fünfzig Jahren seither etwas Praktisches geworden ist. Der Arbeiter tritt in das Vertragsverhältnis als ein freier Mensch ein, der sagen kann: Weil ich auf einem von dem Wirtschaftsleben unabhängigen Boden den Charakter meiner Arbeitskraft feststellen kann, trete ich

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dir jetzt entgegen und arbeite so, wie meine Arbeitskraft geregelt ist, mit dir zusammen. Dasjenige, was wir erzeugen, unterliegt einem Tei­lungsvertrag mit dir!

Sehen Sie, deshalb ist es notwendig, daß in der Zukunft losgelöst werde der eigentliche Staat, das eigentliche soziale Rechtsgebiet von dem Wirtschaftsgebiet. Dadurch, daß dies geschieht, wird man imstande sein, alles, was auf demokratischem Boden als Recht reguliert werden kann, auch wirklich unabhängig vom Wirtschaftsleben zu regulieren. Das Wirtschaftsleben selber kann nur aus der Erfahrung und aus den realen Grundlagen dieses Wirtschaftslebens heraus selber organisiert werden. Arbeitskraft aber kann schon organisiert sein, wenn der Ar­beiter überhaupt in das Wirtschaftsleben eintritt. Dann, wenn das der Fall ist, dann wird in der Zukunft leben auf der einen Seite das zirku­lierende Kapital beziehungsweise die zirkulierenden Produktions­mittel, die so keines Menschen Besitz sind, sondern zur allgemeinen Verwendung in Wirklichkeit da sind, die immer an den Fähigsten kommen können durch die Einrichtungen, die ich eben vorhin dar­gestellt habe. Dann wird da sein auf der andern Seite die Freiheit des Menschen, nicht nur in bezug auf allerlei ideale Güter, die aber der Handarbeiter heute nicht zu den seinigen rechnen kann, sondern vor allen Dingen mit Bezug auf die menschliche Arbeitskraft. Dann wird das wirtschaftliche Leben entlastet sein des Lohnverhältnisses, denn dann wird es im Wirtschaftsleben nur Güter geben oder meinetwegen nennen wir es Waren. Dann wird in anderer Weise sich gegenüberstehen das, was heute Kapital, Lohn und Markt ist. Dann wird, wie Sie ge­sehen haben, das Kapital entfallen sein, der Lohn ebenfalls, denn Lei­stungen werden da sein, welche der Arbeiter mit dem Arbeitsleiter gemeinsam hervorbringt. Der Lohnbegriff hört auf, einen Sinn zu haben.

Aber auch dasjenige, was heute der Markt ist, wird eine andere Ge­stalt annehmen. Heute hat der Markt, wenn er auch im Kleinlichen und Kleinen schon vielfach organisiert ist, noch etwas Anarchisches. Der Markt regelt die gegenseitigen Werte der Waren, und das ist das ein­zige, was an Werten in dem Wirtschaftsleben künftig da sein soll, denn menschliche Arbeitskraft hat einen mit nichts vergleichbaren Wert, darf

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nicht zu den wirtschaftlichen Werten gezählt werden. Was an wirt­schaftlichen Werten da sein wird, werden die vergleichsweisen Werte der Waren sein. Unter den geschilderten Verhältnissen wird möglich sein, daß die Waren solche vergleichsweisen Werte bekommen, welche den Menschen in weitestem Umfange, das heißt allen Menschen, die arbeiten, eine möglichst dem allgemeinen, nicht einem Gruppenwohl-stand angemessene Lebenslage geben. Das kann nur dann sein, wenn der Markt aufhört das zu sein, was er heute ist, wenn er durch und durch organisiert wird, wenn aus den umfassendsten wirtschaftlichen Erfahrungen heraus, aus dem Berechnen desjenigen, was die verschie­denen wirtschaftlichen Unterlagen sind, sich ergibt eine Feststellung von Warenwerten, die nicht den anarchischen Verhältnissen von An­gebot und Nachfrage unterliegen, sondern die hinorientiert sind auf den durch Erfahrung wohl festgestellten menschlichen Bedarf. Das wird nur erreicht werden können, wenn dieses Wirtschaftsleben, wenn der Markt, oder besser gesagt, die Märkte, verwandelt werden in Asso­ziationen, in Genossenschaften und so weiter. Dieser genossenschaft­liche Aufbau, dieser Aufbau nicht nur etwa auf solchen Genossen­schaften, wie sie schon versucht worden sind, sondern die Durch-ziehung des ganzen Wirtschaftslebens mit genossenschaftlicher Struk­tur, wird nur dann möglich sein, wenn man aus den Erfahrungen des Wirtschaftslebens heraus sich aneignen wird eine intuitive Erkenntnis der Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten. In dieser Beziehung gibt es auch Ansätze. Sie können sie kennenlernen in den Bestrebungen zum Beispiel von Sidney Webb, wo in Genossenschaften Großartiges geleistet ist, soweit sich Großartiges leisten läßt innerhalb der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, die noch außer diesen Genos­senschaften besteht. Wird aber die Wirtschaftsordnung überhaupt in der angedeuteten Art umgeändert, dann handelt es sich darum, daß man nicht nach subjektiven Forderungen, sondern nach dem, was die wirtschaftliche Struktur selber ergibt, den genossenschaftlichen Aufbau bewirken muß. Da möchte ich nur, damit Sie sehen, daß die Dinge nicht in der Luft hängen, eine bestimmte Bemerkung machen. Es wird sich selbstverständlich für den, der auf den in meinem Buche «Die Kern­punkte der sozialen Frage» beschriebenen Assoziationscharakter des

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Wirtschaftslebens Rücksicht nimmt, die Frage aufwerfen: Wie können wir zum Beispiel Genossenschaften begrenzen? - Wenn man sie willkür­lich oder aus irgendwelchen außerhalb des Wirtschaftslebens liegenden Rücksichten wird begrenzen wollen, dann werden sich immer falsche Preisbildungen und im Gefolge davon falsche Beeinflussungen der menschlichen Lebenslage ergeben. Nun gibt es ein ganz bestimmtes Gesetz, welches aus der Wirklichkeit heraus zum Aufbau einer genos­senschaftlichen Struktur führen kann. Sie können sich zunächst, wenn Sie die beiden Strömungen des Wirtschaftslebens, die Produktion und die Konsumtion, ins Auge fassen, Konsumgenossenschaften vorstellen, wo diejenigen Menschen sich zusammenschließen, welche in ökonomi­scher Weise kaufen wollen, so daß sie alles das ausnützen, was für das Kaufen auszunützen ist dadurch, daß sich Konsumenten zusammen­schließen.

Auf der anderen Seite können sich Produzenten zusammenschlie­ßen, bis zum Unfug ist das ja gerade innerhalb unserer Wirtschafts­ordnung geschehen, da ergeben sich dann die Produktionsgenos­senschaften. Nun haben beide Arten von Genossenschaften ganz ver­schiedene Tendenzen. Wer Konsumgenossenschaften studiert, findet, daß Konsumgenossenschaften alles Interesse daran haben, erstens mög­lichst billig einzukaufen und zweitens möglichst viele Menschen in ihren Reihen zu haben. Sie wehren sich niemals gegen die Vergrößerung ihrer Genossenschaft, wenn sie ihr wahres Interesse im Auge haben. Gerade die entgegengesetzte Eigenschaft haben die Produktionsgenossenschaf­ten. Die Teilnehmer werden die Konkurrenz fürchten, wenn sie sich vergrößern, und sie haben doch alles Interesse daran, möglichst teuer zu verkaufen. Das weist Sie darauf hin, daß in der Zukunft das Heil nur bestehen kann in der Zusammenfügung von Menschen mit Kon­sum- und Produktionsinteressen, in Konsum-Produktions- oder Pro­duktions-Konsumgenossenschaften, wo nicht nur der Konsum die Produktion regeln wird, sondern wo sogar die Größe der Genossen­schaft geregelt werden wird, indem der Konsum die Tendenz hat, die Genossenschaft möglichst groß zu machen, also auszudehnen, zu expan­dieren - die Produktion die Tendenz hat, der Genossenschaft Grenzen zu geben. Da wird aus der Sache selbst, aus der Wirklichkeit heraus

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das soziale Gebilde geschaffen. Ich könnte Ihnen unzählige Fälle an­führen, woraus Sie ersehen würden, daß, wer wirklichkeitsgemäß zu denken imstande ist, wer wirklich praktische Ideen heute im Kopfe haben will, der findet in den Ansätzen, die in der Wirklichkeit schon vorhanden sind, selber die Grundlagen wahrer, echter, den Menschen heilsamer Sozialisierung.

Alles das aber, was ich Ihnen gesagt habe, setzt voraus die wirkliche Dreigliederung des sozialen Organismus. Kapitalisten im heutigen Sinne, die rein aus dem Wirtschaftsleben heraus entstehen, wird es nicht geben. Geben muß es diejenigen Menschen, welche aus dem freien Gei­stesleben herauswachsen, wie ich es charakterisiert habe in den vorigen Vorträgen, aus jenem Geistesleben, das nicht lebensfremde, abstrakte Geistesprodukte produzieren wird, sondern das ein Geistesgut entfal­ten wird, welches allerdings auf der einen Seite zu den höchsten Höhen des Geistes steigt, auf der anderen Seite den Menschen ausbildet zum wirklich praktischen Menschen. Auf allen Stufen des Geisteslebens wer­den nicht Menschen, die lebensfremd sind, weil sie nur wissen, ausgebil­det, sondern Menschen, die denken können, die disponieren können.

Ein Kreislauf wird stattfinden in den Grenzen, die ich heute bereits angedeutet habe, innerhalb dessen hinüberschicken werden - wie ich es in meinem Buche ausgeführt habe - die Verwaltungen der geistigen Organisationen ihre befähigtsten Leute in das Wirtschaftsleben und das Wirtschaftsleben hinüberschicken wird seine Leute in die geistigen Organisationen, damit sie dort dasjenige, was sie an Erfahrungen im Wirtschaftsleben gewonnen haben, weiter vertiefen oder wohl auch als Lehrer die heranwachsende Jugend unterweisen im Wirtschaftsleben.

Ein lebendiger Kreislauf, getragen von Menschen selbst, wird statt­finden zwischen den drei Gliedern des sozialen Organismus. Nicht zer­fallen wird der dreigliedrige Organismus in drei nebeneinander ste­hende Gebiete. Der Mensch, der in allen drei Gliedern leben wird, wird die lebendige Einheit werden.

Der Mensch mit seinen sozialen Interessen und Kräften wird in der Zukunft überhaupt dasjenige bilden, was allem Leben zugrunde liegt. Auf den Menschen wird es viel mehr ankommen als heute, wo der scheinbare Einheitsstaat gerade die Menschheit noch gliedert in Klassen

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und Stände und die Menschen nicht volle und ganze Menschen sein läßt. Heute glaubt man noch, hat man irgendwo eine Verfassung, nun, dann ist viel gewonnen. In der Zukunft wird man verstehen, daß eine Verfassung nichts ist, wenn die Menschen nicht da sind, die in ihrer eigenen Lebendigkeit die Kräfte tragen, sich gegenseitig zu verfassen, wenn ich so sagen darf. Das ist es, worauf es ankommt, daß man ver­stehe, was ich neulich schon damit andeutete: Gladstone, der englische Staatsmann, sagte einmal, die vorteilhafteste Verfassung habe der nord­amerikanische Freistaat. Ein anderer Engländer, der mir geistreicher zu sein scheint als Gladstone, sagte darauf: Aber diese Nordamerikaner -das war eben seine Ansicht - könnten eine viel, viel schlechtere, sogar eine spottschlechte Verfassung haben, sie sind solche Leute, die aus einer guten und aus einer schlechten Verfassung dasselbe machen werden! -Daß wir das Menschliche an die Stelle setzen müssen des vom Menschen Abgesonderten, das ist es, was erreicht werden muß. Aus einem leben­digen Geistesleben werden die lebendigen Leiter der Betriebe hervor­gehen. Das Kapital entfällt! Neben solchen lebendigen Leitern wird der freie Arbeiter als ein ganzer Mensch dastehen. Er wird, wenn er die Frage aufwirft: Gibt mir die Gesellschaftsordnung meine Men­schenwürde? - mit ja zu antworten wissen. Und ein Markt, der nicht anarchisch, sondern organisiert ist, wird einen gerechten Ausgleich in den Warenwerten hervorzurufen imstande sein. Über alle diese Dinge sind viele Einzelheiten zu sagen. Ich konnte heute nur skizzieren, und Sie könnten viele Fragen stellen. Ich weiß, daß manches aus den heu­tigen Worten noch nicht voll verstanden werden kann. Nächsten Frei­tag sollen dann Einzelheiten, Belege und weitere Ausführungen ge­bracht werden, die Ihnen zeigen werden, daß es sich hier nicht handelt um etwas, was leichtsinnig in die Welt geworfen wird, sondern um etwas, das bringen soll dasjenige, was mit dem Rufe nach Sozialisie­rung als berechtigt gefordert wird. Was berechtigt gefordert wird, was aber vielleicht von dem berechtigt Fordernden noch nicht in aller Klarheit erkannt wird.

Was mit dem dreigliedrigen Organismus gegeben wird, das soll nicht sein etwa wie die Beschreibung eines Hauses. Die Beschreibung eines Hauses mag noch so schön sein, man kann einwenden, eine noch so

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schöne Beschreibung eines Hauses nützt gar nichts, das Haus muß auf­geführt werden. Aber ein Unterschied ist zwischen der schönen Be­schreibung eines Hauses und einem Bauplan. Und ein Bauplan will all dasjenige sein, was als Impulse angegeben wird für die Dreiteilung des sozialen Organismus. Mag das heute noch so sehr mißverstanden werden, es wird dasjenige sein, was einzig und allein die Menschheit heraus­führen kann aus dem Chaos und den Wirrnissen, in die sie hinein­gebracht worden ist. Ich weiß, daß man mich heute noch mißverstehen kann. Manche sagen, es handle sich hier um eine neue Parteibildung. Nicht im entferntesten handelt es sich um eine neue Parteibildung. Um das handelt es sich hier, was aus der Sache der Menschheitsentwickelung heraus selber folgt, was nichts zu tun hat mit irgendeiner Parteibil­dung.

Und derjenige, der da glaubt, hineinzuschauen in diese Mensch­heitsentwickelung, um dasjenige zu erkennen, was die Zeit selber for­dert, der setzt sich auch bei solchen, die mißverstehen wollen oder vielleicht in gutem Glauben mißverstehen, dem Mißverständnis aus, daß er persönlich irgend etwas wolle. Denn er weiß, daß das sachlich Erstrebte nicht so leicht einzufügen ist in die Menschheitsentwickelung gegenüber den Vorurteilen und Vorempfindungen der Menschen. Heute aber leben wir in einer Zeit, insbesondere hier in Mitteleuropa, wo wir hinblicken müssen auf das, was die letzten Auswüchse der alten kapi­talistischen Konkurrenzarbeit gebracht haben. Und wir in Mittel­europa erleben besonders schmerzlich die Folgen dessen, was die leiten­den Kreise, die bisher leitenden Kreise über die Menschheit gebracht haben. Wir erleben es in Schmerzen und Leiden, wir erleben es in die­sen Tagen mit blutender Seele. Wir dürfen sagen, Tage der Prüfung zeigen sich deutlich. In solchen Tagen darf man sich der Hoffnung und dem Glauben hingeben, daß gegenüber den ungewöhnlichen Erleb­nissen auch ungewöhnliche Gedanken verstanden werden, daß gegen­über dem großen Leiden auch der große Mut nicht zu kleiner, sondern zu großer Abrechnung gefunden werde.

Deshalb glaube ich und spreche, was ich zu sagen habe, auch in diesen leidensvollen Tagen aus diesem Glauben heraus: Durch Leiden, Schmer­zen und Prüfungen werden wir den Mut, die Kühnheit, das Verständnis

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finden für einen neuen Aufbau. Der Aufbau muß nicht nur durch Umwandlung alter Einrichtungen, sondern durch die Umwandlung all unseres Denkens, all unserer Empfindungsgewohnheiten, durch Um­wandlung unseres ganzen inneren Menschen erfolgen.

Schlußwort nach der Diskussion

Meine sehr verehrten Anwesenden! Was der zweite Herr Redner hier erörtert hat, das macht, obwohl ich völlig überzeugt bin, daß er sich gar nicht bewußt ist, wie er eigentlich zu seinen Behauptungen gekom­men ist, und obwohl ich ihm nicht im geringsten eine Art guten Willen absprechen will, auf mich den Eindruck, daß er Stück für Stück jedesmal das, was ich gesagt habe, zum Teil um ein Viertel, zum Teil um die Hälfte, manchmal auch ganz herumgedreht und dann gegen seine eige­nen Behauptungen polemisiert, mit ihnen diskutiert hat, um zuletzt bei etwas anzukommen, was nicht das geringste mehr mit dem zu tun hat, was Sie heute oder gestern von mir gehört haben. Es kommt ja sehr häufig vor, daß man sich die Möglichkeit der Diskussion durch solche Vorbedingungen schafft, und so möchte ich nur einzelnes weniges aus dieser vielleicht recht unbewußten Diskussionspraxis heraus besprechen. Zum Beispiel tanzt der Herr Vorredner wiederholt auf der Meinung herum, ich hätte vertreten die Tyrannis oder die Vorherrschaft der geistig Begabten. Wodurch macht er bemerklich, daß nach dem, was ich auseinandergesetzt habe, eine Folge sein könnte, daß die geistig Begabten herrschen sollten? Nun weiß ich nicht, ob der Herr Redner auch das gehört hat, was ich neulich hier gesprochen habe, oder ob er weiß, was in meinem Buche steht. Er würde sonst wissen, daß es sich bei alledem, was den Impulsen, von denen ich rede, zugrunde liegt, darum handelt, daß alle menschlichen Begabungen an ihre entspre­chende soziale Stelle hinkommen. Es handelt sich gerade um die Glie­derung eines solchen sozialen Organismus, der nicht irgendeiner Be­gabung den Vorrang gibt, sondern der es möglich macht, daß eine jede Begabung an den ihr angemessenen Platz kommt. Das kann durch nichts anderes erreicht werden, als wenn die durch und durch verschie­denen

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Begabungen da ausgelesen und entwickelt werden, wo man sich auf Begabungen versteht, wo Begabungen in der richtigen Weise ver­waltet werden können. Der geistige Organismus wird seine Haupt­aufgabe darin sehen müssen, Begabungen zu entwickeln. Lesen Sie aufmerksam mein Buch. Hören Sie nicht ein Eigenschaftswort zu dem hinzu, was ich sage, sondern nehmen Sie die Dinge so, wie ich sie wirk­lich sage, dann werden Sie sehen, daß auf dem Boden des Geisteslebens nicht nur die geistigen Begabungen entwickelt werden, sondern alle Begabungen bis in die körperlichsten Begabungen herunter. Der geistige Organismus ist nicht dazu da, um eine geistige Aristokratie zu schaffen, sondern um sämtliche Begabungen wirklich zu entwickeln. Abgesehen davon, daß ich das letztemal aufmerksam gemacht habe darauf, daß eine geistige Begabung gar nicht in Wirklichkeit bestehen kann, ohne zu gleicher Zeit die Möglichkeit zu bieten, wenn es nötig ist, eine manuelle Begabung zu entwickeln. Kurz, der Redner hat sich nicht die geringste Mühe gegeben, aus den bisherigen Denkgewohnheiten her­auszukommen und wirklich sich aufzuraffen zu dem Willen, umzu­denken, sondern er hat nach dem, was bisher üblich war, etwas kriti­siert, was bewußt herausstrebt aus dem, was bisher üblich war. Das aber erscheint mir als dasjenige, was vor allen Dingen überwunden werden muß. Die Menschen, welche sich nicht, wenn sie auch guten Willen haben, die Mühe geben, sich hineinzufinden in dasjenige, was der andere sagt und will, das sind gerade diejenigen, die uns in die heutige Lage hineingeführt haben. Und so schmerzlich es mir ist, muß ich doch sagen: Ich kann in dem Herrn Vorredner nur einen derjenigen Menschen sehen, die uns nicht hinauskommen lassen wollen aus der Wirrnis. Vor der großen Weltkatastrophe konnte man meinetwillen solche Menschen verstehen, denn dazumal waren nicht die große Prü­fung und die großen Fragen an die Menschheit herangekommen. Heute aber sollten wir wahrlich nicht durch unsere Denkeigensinnigkeit den Gang der Entwickelung aufhalten wollen. Das ist dasjenige, was mich so ängstlich macht, wenn die Menschen mit allen möglichen alten Schablonenbegriffen aufwarten und sogar graulich machen wollen, in­dem sie sagen, der andere sei Gedankenanarchist oder so ähnlich, ich habe das Eigenschaftswort nicht verstanden. Das sind Dinge, die graulich

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machen können. Dem muß man gegenüberhalten, was aus dem Gesagten wirklich hervorgehen kann. Nach der Einbildung geht das aus der Dreigliederung hervor, was der Redner gesagt hat, aber lesen Sie mein Buch, und Sie werden sehen, daß da alle möglichen Vor­kehrungen, wenn ich so sagen darf, getroffen sind, damit eben das­jenige, was hier scheinbar hervorgehen soll, gar nicht hervorgehen kann.

Zum Beispiel hat der Herr Redner behauptet, es treten die gegenteili­gen Interessen der Berufe auf. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber gerade durch die Abtrennung des Geisteslebens, durch die Abtrennung des Rechtslebens wird das aufgehoben. Ich habe Sie heute lange damit aufgehalten, Ihnen in einer Art Einleitung zu sagen: Wenn der Sozia­lismus verwirklicht wird und er läßt alles dasjenige drinnen im sozialen Organismus, was das bewirkt, was ich geschildert habe, dann tritt das ein. Gewiß, in dem sozialen Organismus, den der Herr Redner sich vorstellt, w ürde das drinnen sein. In der Dreigliederung wird eben gerade das, was er in die Wirtschaftsordnung hineinstellen will, aus der Wirtschaftsordnung herausgenommen. Es kam mir der Herr Redner vor, wenn er auch sich zum Rätesystem bekennt, als Vertreter jener hofrätlichen Denkweise, welche nicht aus dem Volksrätesystem, aber aus dem Hofratssystem mir einmal einen ähnlichen Einwand gemacht hat.

Die Sache hat auch nicht die außenpolitische Seite, die der Herr Redner hingemalt hat, sondern eine ganz andere. Die einzige Heilung für unsere außenpolitischen Zustände, die uns in diese Katastrophe hineingeführt haben, hat sich bei Besprechung der außenpolitischen Dinge - ich kann natürlich nicht in einem Vortrag alles besprechen -zeigen sollen. Was wir vor allen Dingen hinwegschaffen durch den drei-gegliederten sozialen Organismus, selbst wenn er nur von einem Staate und nicht in Nachbarstaaten, die noch die alte kapitalistische Ordnung behalten, durchgeführt wird, ist das bisherige Interessenspiel.

Es ist ja gerade das eigentümliche, daß die Dreigliederung jeder Staat für sich durchführen kann, ganz gleichgültig, ob die anderen beim alten bleiben, und daß zum Beispiel durch jenes Spiel der Interessen, das ganz anders sein wird als das bisherige, wenn die wirtschaftlichen Interessen

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allein für sich als Wirtschaftsinteressen auch über die Grenzen hinüberwirken, daß dann diejenigen Konfliktstoffe beseitigt werden, welche zu den Kriegen geführt haben, die man technisch die Rohstoff-kriege nennt. Der Hofrat nun, der diesen Einwand machte, hat mir gesagt: Ja, bisher war ein großer Teil der Kriege Rohstoffkriege, wenn Ihr System verwirklicht wird, dann gibt es ja keine Rohstoffkriege mehr, also widerspricht Ihr System der Wirklichkeit. - Ich mußte ihm sagen: Wenn Sie das zur Bestätigung gesagt hätten, verstände ich es; daß Sie es zur Widerlegung sagen, das ist eigentümlich. So muß ich sagen: Die einzige Hilfe gegenüber jener Stimmung, welche auf der Seite der Entente vorhanden ist, besteht darin, daß wir diese Stim­mung, diese Mißgunst in drei Glieder zerfällen. Das ist dasjenige, was auf diesem Gebiete für die augenblickliche Außenpolitik diese Dreiglie­derung bringen würde. Ich würde dem Herrn Redner empfehlen, gerade von einem weiteren als dem Hofratsstandpunkte heraus die aus der Dreigliederung folgende Außenpolitik zu studieren, er würde sich dann ersparen können die gänzlich unnütze Definition, ob der dreigliedrige Organismus anarchistisch ist oder dergleichen. Er würde einsehen kön­nen, wie wahr dasjenige ist, was ich eben nur durch einen Vergleich aussprechen kann, ich habe es hier schon angedeutet, die Einheitsschwär­mer, die gleichen eben Menschen, denen man sagen muß: Eine ländliche Familie besteht aus Mann, Frau, Kindern, Knecht und Magd und drei Kühen, sie alle brauchen Milch. Müssen sie deshalb alle Milch geben? Nein, es brauchen nur die drei Kühe Milch zu geben, dann werden alle Milch haben. So ist es notwendig, daß der gesamte Organismus in der richtigen Weise gegliedert wird; dann werden die Glieder auch in der richtigen Weise zur Einheit zusammenwirken, und das, was auf dem einen Boden entsteht, wird auch in der richtigen Weise auf die anderen Glieder wirken können.

Weil der Vorredner solches nicht beachtet, müßte er die Begabung durch das allgemeine Wahlrecht entscheiden. Nun, man kann die Be­setzung von Stellen, man kann alles mögliche durch das allgemeine Wahlrecht entscheiden. Wie Sie aber die Begabungen durch das all­gemeine Wahlrecht verwalten wollen, das bitte ich Sie nur einmal gründlich durchzudenken, und Sie werden sehen, wenn ich der Methode

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des Herrn Vorredners nachgehen und Ihnen die Konsequenzen ausmalen würde - aber diese Methode erkenne ich nur als eine sophistische Me­thode an, deshalb gehe ich nicht weiter darauf ein -, aber wenn ich Ihnen die Konsequenzen zeichnen würde, dann würden Sie sehen, was dabei herauskäme. Bei einer Demokratisierung der Begabung würden Sie vielleicht nicht sagen Gedankenanarchismus, aber irgend etwas anderes.

Ähnliche Dinge sind noch viel vorgebracht worden. Besonders über­rascht war ich, den Ausdruck «Geistkapitalismus» zu hören. Was man sich darunter vorstellen soll, das weiß ich nicht, insbesondere weiß ich nicht, wie er gebraucht werden mag nach einem Vortrag, in dem über die Zirkulation des Kapitals in der Weise gesprochen worden ist, wie ich gesprochen habe. Geistige Besitzer - ja, sehr verehrte Anwesende, man versuche doch nur einmal, mit Realitäten zu denken! Stellen Sie sich den sozialen Organismus - der Redner hat ihn ja nicht geschildert, wie er ihn sich vorstellt - vor nach den wenigen Andeutungen, die der Redner gemacht hat. Dann werden Sie doch wohl sagen müssen: Was ist denn das eigentlich, wenn, sagen wir, durch irgendeine sozialisti­sche Ordnung geistige Arbeiter eben arbeiten neben dem Handarbeiter? Ich weiß nicht, was das für ein Unterschied sein soll gegenüber dem, was auch in meinem Wirtschaftsorganismus da sein muß, daß der gei­stige Arbeiter arbeitet neben dem Handarbeiter. Ich habe ausdrücklich erklärt: Der Besitz hört auf in dem Moment, wo das Kapital realisiert ist, das heißt das Produktionsmittel da ist. Wie man dann von geistigen Besitzern sprechen kann, das ist mir ganz und gar unerfindlich. Aus einzelnen besonderen Erfahrungen, die der verehrte Redner angeführt hat, kann man selbstverständlich alles mögliche, was man nur will, herleiten. Von der Verkümmerung des Seelenlebens und dergleichen kann man selbstverständlich sehr viel herleiten. Das fand ich nicht sehr geschmackvoll, womit der Herr Redner geschlossen hat, daß er sich darauf bezog, er überläßt mir das Bürgertum, damit dann ihm um so besser das Proletariat gesichert sei. Nun, auf solche Dinge braucht man sich ja nicht weiter einzulassen, denn ob man das nun schließlich als agitatorische Phrase ansieht oder nicht, das ist durchaus Geschmacks­sache.

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Aber was da gesagt worden ist in bezug auf das Vertrauen und in bezug auf den Glauben an das Vertrauen - ja sehen Sie, dazu muß ich schon sagen, es handelt sich heute wahrhaftig nicht darum, das Ver­hältnis, das man kennengelernt hat aus den alten Zuständen heraus, zu kritisieren, sondern heute handelt es sich darum, neue Zustände zu begründen. Wenn mir heute einer und der zweite und der hundertste und der tausendste erzählen würde, er glaube nicht daran, daß Ver­trauen da sei, sondern er hat in soundso vielen Fällen mit Mißtrauen kämpfen müssen, dann sage ich ihm: Besser wird nichts, wenn wir uns nicht bemühen, dieses Vertrauen herzustellen, denn wir müssen heute mit dem Vertrauen arbeiten. Alle anderen Fäden,. mit denen man bis­her die Massen herangezogen hat, die versagen. Die Fäden der Zukunft können nur die des Vertrauens sein. Würde Mißtrauen morgen und übermorgen noch Platz greifen können, so müßten wir eben auf das, was auf morgen und übermorgen folgt, warten, denn wenn Gutes kom­men soll, kann es nur aus dem Vertrauen heraus kommen. Das Ver­trauen, das ich meine und an dem wir arbeiten müssen, dieses Ver­trauen wird aus den Seelen hervorgehen müssen. Dieses Vertrauen muß eben erzeugt werden, es ist sogar heute wichtiger als alles andere. Dann, wenn dieses Vertrauen erzeugt wird, das ich meine, dann gibt es das rechte Verhältnis zwischen den Handarbeitenden an den Produktions­mitteln und den geistig Arbeitenden. Dann macht dieses Vertrauen unmöglich, was der Redner als ein Schreckbild an die Wand gemalt hat.

Das ist gerade das, was heute in dieser sozial aufgewühlten Zeit so furchtbar fehlt, der Wille, aufzubauen auf Vertrauen. Oh, dieses Vertrauen, es wird vorhanden sein, je mehr und mehr Prüfungen über die Menschen kommen, und ich würde verzweifeln müssen an der Menschheit, wenigstens an dem Neuaufbau gesunder Verhältnisse, wenn ich nicht mehr glauben könnte, daß ein Mensch den Weg zum anderen Menschen durch Vertrauen wird finden können. Denn, meine sehr verehrten Anwesenden, sozialisieren Sie soviel Sie wollen, reden Sie von Sozialisierung soviel Sie wollen, eines wird dieser Sozialisierung zugrunde liegen müssen: die Sozialisierung der Seelen. Wer nicht sucht den Weg zur Sozialisierung der Seelen, der mag außen sozialisieren,

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soviel er will, er wird die Menschen in anarchistischere Zustände hin­einführen als dasjenige ist, was der Vorredner als eine Art von Anar­chismus hat hinstellen wollen. Und nicht anders heißt der Seelensozia­lismus als Vertrauen. Aber an diesem Vertrauen muß eben gearbeitet werden. Und heute, ist dieses Vertrauen nicht ein wenig erschüttert? Meine sehr verehrten Anwesenden, ich bin mit dem, was soziale Be­wegung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ist, seit langem verknüpft. Ich habe gearbeitet darin; ich weiß es. Was der verehrte Vorredner gesprochen hat, man hat es immer wieder und wieder aus­sprechen hören können gegen dasjenige, was ich heute gesagt habe. Ab­gesehen von der Dreigliederung, sind dieselben Einwände, die der Herr Vorredner mir heute gemacht hat, von anderen schon gemacht worden um 1898,1899. Das aber ist das Notwendigste, daß wir hinaus­kommen über die alten Gedanken, daß wir umlernen können, daß wir nicht beim alten stehenbleiben. So schmerzlich es mir auszusprechen ist, ich glaube, daß diejenigen uns am meisten zurücklialten, die sich nicht überwinden können, aus ihren alten Vorurteilen herauszukom­men. Und die Herren, welche die Methode anwenden, die Sätze erst halb oder ganz umzudrehen, um dann gegen ihr Eigenes zu polemi­sieren, haben immer leichtes Spiel, weil selbstverständlich nach dem einmaligen Anhören eines Vortrages nicht alle verstehen werden, wie die Sachen gemeint sind, wie sie, wenn sie sich in die Wirklichkeit hin­einstellen, aufgefaßt werden müssen. Denn gerade dasjenige, was nicht Theorien, nicht bloß gutem Willen entspricht, sondern das heraus-stammt aus einer gewissenhaften, der Verantwortlichkeit bewußten Lebenserfahrung, Lebensbeobachtung, gerade das kann nicht in einer Stunde erschöpft werden, sondern dafür können nur Anregungen ge­geben werden. Aber diese Anregungen, von ihnen habe ich seit der Zeit, und es ist ja schon ziemlich lange her, seit ich von der Dreigliede­rung spreche, immer wiederum gesagt: Mag sein, daß die Einzelheiten bei ihrer Verwirklichung ganz anders sich ausnehmen werden als das, was ich selbst beispielsweise über diese Einzelheiten sage. Mir kommt es darauf an, daß der Bauplan der Wirklichkeit entnommen ist und sich in die Wirklichkeit hineinleben kann, daß er wirklichkeitsgemäß ist. Und deshalb, weil ich glaube, daß nicht subjektiver menschlicher

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Wille es ist, der sich einbildet, diese Impulse realisieren zu müssen, son­dern weil die Beobachtung der Entwickelungskräfte der Menschheit in der Gegenwart und Zukunft selber dazu führt, deshalb glaube ich, es wird sich Verständnis dafür finden. Und ich hoffe, das muß ich noch einmal sagen, aus unserer schwergeprüften Zeit und aus unserer schmerz­lichen Lage werden wir für manches noch Verständnis finden, wofür Verständnis zu finden wir uns vielleicht heute noch gar nicht vorstellen können.

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EINZELHEITEN ÜBER DIE NEUGESTALTUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS Öffentlicher Vortrag, Stuttgart, 16. Mai 1919

Schon öfters durfte ich nun hier sprechen über die sogenannte Dreigliederung des sozialen Organismus, die der Weg sein soll zur Erfüllung der gegenwärtigen Zeitforderung, die sich ausspricht in dem Ruf nach Sozialisierung. - Heute möchte ich mir gestatten, ergänzend und er­läuternd zu dem in den vorigen Vorträgen Gesagten einiges einzelne hinzuzufügen. Ich weiß sehr wohl, daß auch das, was ich heute vorzu­bringen in der Lage sein werde, noch nicht für jeden das sein wird, was er sich vorstellt unter den geforderten einzelnen praktischen Ratschlä­gen. Aber ich möchte sagen, gerade das wird immer mehr und mehr erkannt werden, daß die Impulse, welche unter dem Namen des dreigliedrigen sozialen gesunden Organismus sich in die Welt setzen wollen, in dem Grade und von der Art durchaus praktische Impulse sind, daß es, wie bei allen wirklich praktischen Impulsen, notwendig ist, dem Vorgebrachten einen gewissen Wirklichkeitsinstinkt entgegenzubringen. Denn gerade das, was nicht ein vorgefaßtes Programm sein will, was von vornherein so gedacht und empfunden ist, daß es aus der Wirklichkeit herausgeformt und in die Wirklichkeit hineingedacht ist, das kann im Grunde genommen nur von demjenigen verstanden wer­den, der sich die Mühe gibt, sich hineinzuversetzen in die Lage, wie sich solche Dinge ausnehmen, wenn er Hand anlegen will, sie in die Wirk­lichkeit umzusetzen. Es ist leichter, irgendein vorgefaßtes Parteipro­gramm zu haben und dessen Verwirklichung zu fordern, als der Wirk­lichkeit selbst abzulauschen, was diese Wirklichkeit fordert. Der dreigliedrige soziale Organismus will das Sozialisierungsproblem so zur Lösung bringen, daß alles, was in der Richtung seines Impulses geschieht, sich bewähren muß erst in der Anwendung, in dem unmittel­baren Hineinstellen in die Wirklichkeit. Für Impulse solcher Art ist die

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heutige Zeit auf der einen Seite ebensowenig zugänglich, wie sie sie auf der anderen Seite gerade aus den wesentlichsten Zeitforderungen heraus notwendig hat. Dieser Impuls zum dreigliedrigen sozialen Organismus will in ehrlicher und offener Weise den Tatsachen zu Leibe gehen, welche einer wirklichen Sozialisierung unterliegen können. Er will vor allen Dingen nicht verunmöglichen alle die Früchte der Menschheits-kultur, welche sich ergeben haben aus den großen Entwickelungsfort-schritten der neueren Zeit heraus. Er will nicht abbauen, er will auf­bauen. Er will zum Beispiel nicht verunmöglichen, daß gewisse Be­triebszweige, die entstanden sind und die ganz bestimmt den mensch­lichen Bedürfnissen entsprechen, dadurch aus der Welt geschafft werden, daß in einer schablonenhaften Weise sozialisiert wird, ohne aus der sachlichen Erkenntnis der Einzelheiten heraus diese Sozialisierung zu bewirken. Für ein solches wirklichkeitsgemäßes Programm, wenn wir ein anderes Wort hätten, würde ich es nicht Programm nennen, muß man allerdings den guten Willen zum Verständnis aufbringen, denn man kann sehr leicht verkennen, was mit diesem dreigliedrigen sozialen Organismus eigentlich gemeint ist. Gemeint ist vor allen Dingen das, was herausgedacht werden kann aus unserer Lebenspraxis, wie sie sich gebildet hat durch die technischen, durch die industriellen Fortschritte, durch das, was an Produktionsmitteln und Produktionserkenntnissen geschaffen worden ist.

Aber noch aus etwas ganz anderem heraus muß heute ein wahrhaft praktischer Impuls nach dieser Richtung gegeben werden, er muß aus einer wirklichen Erkenntnis der Menschenwesenheit heraus gegeben werden. Deshalb muß ich immer wieder betonen, es handelt sich beim dreigliedrigen sozialen Organismus nicht um die Aufrichtung irgend­welcher neuen Klassen oder sonstigen Menschengruppen und ihrer Unterschiede, sondern es handelt sich darum, daß bloß alles dasjenige dreigegliedert wird, was um den Menschen herum in der Welt vorgeht. Wir sollen in der Zukunft eine eigene Wirtschaftsverwaltung, eine eigene Rechtsverwaltung, eine eigene Geistesverwaltung haben. Aber es werden dieselben Menschen sein, die in dem wirtschaftlichen Orga­nismus, die in dem geistigen, die in dem rechtlichen oder staatlichen Organismus drinnen tätig sind. Ein fortwährendes Hinüber- und Herüberwirken

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durch den Mensdien wird gerade in diesem dreigliedrigen Organismus die notwendige Einheit des menschlichen Gesellschafts-lebens herstellen können. Wer so etwas, wie es heute wirklichkeits-gemäß ist, einsehen will, der muß vor allen Dingen wissen, daß es etwas bedeutet, wenn der Mensch von einer Sphäre des Lebens in die andere Sphäre gebracht wird. Dieselben Menschen werden tätig sein im wirtschaftlichen Organismus, der für sich seine eigene Verwaltung, seine eigene Organisation haben wird. Dieselben Menschen, selbstver­ständlich nicht zu gleicher Zeit, werden tätig sein im Rechts- und auch im geistigen Organismus, wenigstens durch ihre Beziehungen zum gei­stigen Organismus.

Nun könnte man sagen, ja, was hat denn dann diese Gliederung für eine Bedeutung? Solch einen Einwand macht nur derjenige, der die Augen verschließen will vor der wahren Wirklichkeit. Ich will Ihnen eine naheliegende Erfahrung anführen. Für den, der das Leben ein wenig kennengelernt hat, für den waren bis vor sehr kurzer Zeit die Kaufleute ganz andere Menschen nach ihrem Lebenstypus, möchte ich sagen, nach der Art, wie sie sich darlebten, als, sagen wir, steife Büro­kraten. Nun ist etwas sehr Merkwürdiges in der letzten Zeit unter dem Einfluß der sogenannten Kriegswirtschaft geschehen. Es wurden Kauf­leute zu den bürokratischen Regierungsämtern zugezogen, und siehe da, diese Kaufleute wurden in den bürokratischen Regierungsämtern die schönsten Bürokraten. Nun, das ist ein unwünschenswertes Beispiel menschlicher Anpassung an das, in was der Mensch hineingestellt ist, aber dieses vielleicht unsympathische Beispiel weist auf eine allgemein menschliche Erscheinung hin. Der Mensch verhält sich einmal so, wie er sich aus einem gewissen Arbeitskreis heraus verhalten muß. Schafft man das gesamte menschliche Gesellschaftsleben so um, daß die drei wesentlichsten Lebenszweige ihre eigene Verwaltung, sagen wir ihre eigene Vertretung, ihre eigene Organisation haben, so wird der Mensch, der sich in eine solche Sphäre eines der Glieder des sozialen Organis­mus hineinzuleben hat, aus dem Geiste dieser Sphäre heraus wirken. Er wird imstande sein, das zum gesamten menschlichen Leben beizu­tragen, was er nimmermehr beitragen kann, wenn alles im gesellschaft­lichen Leben durcheinanderwirkt und durcheinandergemischt ist.

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Klarheit auf einem solchen Gebiet zu schaffen, das fordert allerdings hingebungsvolle Lebensbeobachtung und Lebenspraxis. Und wenn auf solcher hingebungsvollen Lebensbeobachtung und Lebenspraxis nicht beruhen wird, was zum Heile der Menschheit für die Zukunft erstrebt wird, so werden wir nur weiter in Wirrnis und Chaos hineinkommen, nicht aber aus denselben heraus. Vor allen Dingen müssen wir gerade dann, wenn wir im einzelnen Gesundes schaffen wollen, uns hin­gebungsvoll widmen können dem, was eigentlich die unmittelbare Gegenwart mit Bezug auf das soziale Leben uns lehren kann. Wir müssen nicht fragen: Was haben wir seit Jahrzehnten über Sozialis­mus, über sozialistische Programme gedacht? - und bei diesem Denken dann ganz übersehen, was um uns herum in der unmittelbaren Gegen­wart da ist, sondern wir müssen die Fähigkeit haben, wirklich hinzu-schauen auf diese unmittelbare Gegenwart. Diese unmittelbare Gegen­wart hat etwas heraufgebracht, was am meisten alle diejenigen überraschen sollte, die schon früher über Sozialismus gedacht haben.

Wer dieses Denken über Sozialismus auch bei den Sozialisten der ver­gangenen Jahrzehnte genau kennt, der muß eben sagen, eine Über­raschung müßten die Ereignisse der Gegenwart sein, wenn man die Dinge gerade heute nur wirklich sinngemäß und wahrheitsgemäß, offen und ehrlich nehmen will. Man frage sich einmal, wenn man nicht bloß auf das Äußerliche sieht, sondern wenn man imstande ist, auf das zu sehen, was in einer Erscheinung den Keim für die Zukunft enthält, welches ist denn die auffallendste, die bedeutsamste Erscheinung im Leben der sozialen Forderungen der Gegenwart? Wer wirklich sachgemäß sich ein­gelassen hat auf das, was eigentlich geschieht, der kann, glaube ich, keine andere Antwort auf diese Frage finden als: Die auffallendste Er­scheinung ist das sogenannte Rätesystem. Und man sollte, ich möchte sagen, die Begabung aufbringen, auf die ungeheuer bedeutsame sympto­matische Erscheinung des Rätesystems in gehöriger Art aufmerksam sein zu können. Denn in einer gewissen Beziehung kann gesagt werden, die Entstehung dieses Rätesystems ist es gerade, was den hergebrachten Sozialismus am allermeisten überrascht haben müßte. Bei diesem Räte-system müßte der hergebrachte, der alte Sozialismus aufmerksam auf-gehorcht haben, er müßte sich gesagt haben, das ist eigentlich im Grunde

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genommen die Widerlegung von vielem, was ich mir gedacht habe. Die Widerlegung vieler alter Vorstellungen vom Sozialismus ist das Räte-system. Man braucht sich nur, ich möchte sagen, skizzenhaft daran zu erinnern, was von seiten des hergebrachten Sozialismus immer wie­derum - es geschieht ja leider bis heute - betont wurde und wird: Die Menschen machen die sozialen Umwälzungen nicht, das macht die Ent­wickelung. - Es ist davon gesprochen worden, daß sich die wirtschaft­lichen Formen nach und nach, vor allen Dingen durch die Zusammen­ziehung der Produktionsmittel in den Händen weniger Kapitalisten, so umgestalten werden, daß gewissermaßen die alte Gesellschaftsart selbst in die neue hineinwächst.

Nun kam die die Menschheit erschütternde Weltkriegskatastrophe. Sie hat sich ergossen auf der einen Seite über den in seine eigene Vernichtung hineintreibenden Kapitalismus. Sie hat sich aber auch ergossen über die aus der Menschennatur heraus wahrhaftig gerecht­fertigten Bestrebungen, welche man die soziale Bewegung nennt. Was ist denn eigentlich entstanden aus dieser sozialen Bewegung her­aus? Menschen haben sich heraus erhoben, Menschen, die in der ver­schiedensten Weise als Räte, als Menschenräte, die Weiterentwickelung nun in die Hand nehmen wollen, die von sich aus, von ihrer mensch­lichen Entschlußkraft, von ihrer menschlichen Einsicht, von ihrem menschlichen Willen aus eingreifen wollen in die Entwickelung. Würde man heute ein genügend großes Unterscheidungsvermögen für die Tat­sachen der Wirklichkeit haben, dann würde man das Angedeutete eben als eine ungeheure Überraschung empfinden. Aber es scheint fast, als ob gerade in denjenigen Kreisen, die sich so recht eingelebt haben in die alten Vorstellungen vom Sozialismus, dieses Unterscheidungsver­mögen schwer zu erringen wäre. Die Novemberereignisse sind einge­treten. Das, was sich im Osten - ich will darüber weder beifällig noch abfällig sprechen - als Rätesystem angekündigt hat, trat auch in Mittel­europa auf. Man war genötigt, durch das, was durch die November-ereignisse da war, an irgend etwas zu denken, was man nennen konnte:

Verwirklichung des sozialen Strebens, dem man sich seit langer Zeit hingegeben hat und von dem man sich seit langer Zeit so viel verheißen hat. Da sind ganz merkwürdige Erscheinungen zutage getreten. Man

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braucht sich nur an weniges zu erinnern in dieser unserer jetzigen so merkwürdigen Übergangszeit, und man wird sogleich aufmerksam werden darauf, wie wenig die alten Denkgewohnheiten gewachsen waren der neuen Erscheinung, die eigentlich hätte überraschen sollen.

Ich will Ihnen ein Beispiel herausheben. Ein ganz kluger Mensch voller Begeisterung für soziale Ideen hat in Berlin einen Vortrag ge­halten über Sozialisierung. Er hat gewisse, ganz allgemeine Vorstel­lungen über Sozialisierung besprochen, wie man sie eben hatte, als der Sozialismus noch Kritik, berechtigte, aber eben bloß Kritik üben konnte, als er noch nicht, wie es seit dem November ist, aufgerufen war, Hand anzulegen an die Ereignisse. Da hat er sich ganz bestimmte allgemeine Vorstellungen über das, was als Sozialisierung nun eintreten sollte, gemacht, und ich glaube - denn das ist seinen Ausführungen für einen Menschen, der die Menschenseele zwischen den Zeilen des Aus­geführten erkennen kann, durchaus zu entnehmen -, der Mann hat sich sagen müssen: Was ich mir da vorgestellt habe in allgemeinen Pro­grammsätzen, das ist nicht zu machen! - Wenn nur irgend etwas nicht zu machen ist, dann sagt man heute - man hat es auch früher gesagt, aber heute ist es sehr charakteristisch geworden -, nun, die Menschen sind noch nicht reif dazu, das kommt später. Ja, später also kommt nach den Anschauungen dieses Mannes der wahre Sozialismus. Was aber kommt bis dahin? Er hat nun ein weites Sozialisierungsprogramm ausgearbeitet, es ist der Ingenieur Dr. Hermann Beck in Berlin, und er nennt dasjenige, was erreicht werden soll in der Übergangszeit, Sozial­kapitalismus. Wir haben es also glücklich dahin gebracht, daß uns die Ereignisse, die da eingetreten sind, nicht dasjenige als Ideal vorschwe­ben lassen, was immer gefordert worden war, eine wirkliche Über­windung der Schäden des Kapitalismus, sondern daß uns als Ideal vorschweben soll ein Sozialkapitalismus. Allerdings muß man unter­scheiden lernen zwischen wirklicher Sozialisierung und demjenigen, was heute vielfach angestrebt wird, der Überführung des Privatkapi­talismus in Staats- und Kommunalkapitalismus. Das ist keine Soziali­sierung, das ist Fiskalisierung oder etwas Äh nliches. Es darf nicht verwechselt werden Sozialisierung mit Fiskalisierung. Worauf hin-geschaut werden muß heute - wenn man Sinn für die Wirklichkeit hat,

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tut man es auch -, das ist, wie ich schon angedeutet habe, das Sich­herausheben der Menschen, die mittun wollen am sozialen Geschehen, und das spricht sich aus in dem sogenannten Rätesystem. Mit diesem Rätesystem aber wird niemand fertig, der da will aus abstrakten Grundsätzen, aus irgendeiner Ideologie heraus, aus irgendwelcher uto­pistischen Voraussetzung heraus den Übergang finden vom Kapitalis­mus zum Sozialismus.

Es ist untunlich heute, das zeigt gerade das Streben nach dem Räte-system, von oben herab irgendeinen Sozialisierungsversuch zu machen. Es ist heute der einzige Weg, in gemeinsamer Arbeit mit denjenigen, die heraufstreben nach dem Rätesystem, in unmittelbar menschlichen Ideen wirklich Meinungs- und Erfahrungsaustausch zu schaffen. Des­halb sagte ich, als ich am Dienstag hier sprach, notwendig ist heute, daß wir die Realität des Vertrauens verstehen lernen, daß wir lernen, wirk­lich mit denjenigen zu schaffen, die aus dem schaffenden Volke herauf­kommen und nach bestimmten Zielen streben. Viel wichtiger ist es heute, zu suchen, was derjenige zu sagen hat, der von der Arbeit kommt, als aus irgendwelchen Ideen heraus nachzudenken, wie irgend­ein Gesetz oder dergleichen werden soll. Was wir heute brauchen, was heute wirkliche Realität sein muß, das ist, anzuerkennen, daß aus dem Volke heraus geschehen muß, was geschehen soll. Es ist daher wichtiger als oben untereinander Sitzungen abzuhalten, die lebendige Verbin­dung mit den breitesten Massen des Volkes herzustellen. Sitzungen oben abzuhalten, das führt uns nur zur Fortsetzung der alten Schäden, denn was sich heute verwirklichen will, das muß unmittelbar aus dem Volke heraus stammen, und das Symptom dafür, daß dies die Ge­schichte will, das ist das Rätesystem. Und dazu kommt noch, dieses Rätesystem ist im Grunde genommen schon bis jetzt in doppelter Ge­stalt entstanden, und so wie der Leidensweg des Proletariats not­wendigerweise zur Dreigliederung des sozialen Organismus hingeführt hat, weil das Proletariat auf den drei Lebensgebieten an Leib und Seele seine Not erfahren hat, ebenso weist heute schon auf die Drei-gliederung des sozialen Organismus die merkwürdige Erscheinung des Rätesystems hin. Zunächst stellt sich dieses Rätesystem so dar, daß auf der einen Seite sogenannte Arbeiterräte erwachsen, auf der anderen

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Seite aber zeigt sich schon eine andere Räteform, diejenige Räteform, die jetzt auftritt als Forderung nach Betriebsräten.

Wer Instinkt hat für das, was sich aus der Zeit herausbildet, der kann heute schon wissen, das System der allgemeinen Arbeiterräte weist nach der politischen Seite, der Staatsseite, der Rechtsseite hin und kann seine Ausbildung nur dann erfahren, wenn wir entgegengehen können einem vom Wirtschafts- und Geistesleben getrennten Rechts-leben. Solche Dinge kommen, indem sie sich aus der Menschheit heraus loslösen, ich möchte sagen, mit der unvermeidlichen geschichtlichen Unklarheit heraus. Aber gefragt werden muß, wie kann auf einem gesunden Boden, der eine wirkliche Organisation der menschlichen Ge­sellschaft möglich macht, das gestaltet werden, was in dieser Weise sich geltend macht? Ebenso wie das Arbeiterrätesystem hinweist nach dem selbständigen Rechtsboden, so weist das Institut der Betriebsräte hin auf den selbständigen Wirtschaftsboden, denn darin soll die Praxis der Impulse für den dreigliedrigen sozialen Organismus gesucht werden, daß da nicht in die Luft hinein mit einem Programm gebaut wird, son­dern aus der geschichtlichen Wirklichkeit, die man nur richtig beob­achten muß, auf Grund und Boden gebaut wird. Es braucht wahrhaftig nicht diskutiert zu werden darüber, ob die Räte eine Wirklichkeit sind oder nicht. Sie sind es zum Teil, sie werden es immer mehr werden, kein Mensch wird sie wieder zurücktreiben können, sie werden in noch ganz anderen Formen auferstehen, als sie schon da sind. Das wirklich­keitsgemäße Denken, das fordert von uns, daß wir den Boden schaffen, auf dem mit diesen Räten gearbeitet werden kann.

Der eine Boden, auf dem schaffen will der dreigliedrige soziale Or­ganismus, ist der Wirtschaftsboden. Die verehrten Zuhörer, welche frühere Vorträge von mir gehört haben, werden wissen, daß es sich hier darum handelt, diesen Wirtschaftsboden so zu gestalten, daß auf ihm selbst verschwindet das sogenannte Lohnverhältnis, daß die Regu­lierung von Art und Zeit und dergleichen der menschlichen Arbeits­kraft aus dem Wirtschaftskreislauf abgeschoben und in den Rechtsstaat hineinversetzt wird, auf dem entschieden wird über Zeit, Art und Maß der menschlichen Arbeitskraft. Auf dem Wirtschaftsboden bleibt fernerhin dasjenige, was zur Offenbarung kommt in der Wirklichkeit

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als Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsumtion. Auch das werden Sie aus den früheren Vorträgen entnommen haben, daß es sich für das Wirtschaftsleben handelt um eine solche Organisierung, die in Assoziationen besteht, hauptsächlich in solchen Assoziationen, welche gemeinsam regeln die Konsumtionsverhältnisse und die Produktions­verhältnisse. Es ist oftmals gesagt worden von sozialistischer Seite: In der Zukunft kann nicht produziert werden, um zu profitieren, sondern es muß produziert werden, um zu konsumieren. Da ist es eine Selbst-verständlichkeit, daß das, was keine bewußte Rolle im Wirtschafts­prozeß selbst bisher in erheblichem Maße gespielt hat, in den Vorder-grund der wirtschaftlichen Arbeit tritt: das Konsuminteresse. Es werden sich Genossenschaften bilden müssen, in denen vertreten sind ebenso das Konsuminteresse wie das davon abhängige Produktionsver­hältnis. Bei diesen Genossenschaften wird es hauptsächlich darauf an­kommen, innerhalb der praktischen Arbeit immer herauszufinden, wie groß eine solche Genossenschaft sein muß. Die Größe einer solchen Ge­nossenschaft kann sich nicht aus den Grenzen der Staatsgebilde, welche im Laufe der neueren Geschichte entstanden sind, ergeben - aus dem einfachen Grunde, weil diese Staatsgebilde zu geschlossenen Verwal­tungskörpern aus noch ganz anderen Rücksichten heraus entstanden sind als aus den Produktions- und Konsumtionsverhältnissen, und weil andere Grenzen sich ergeben, sobald die Menschen sich in bezug auf Konsumtions- und Produktionsverhältnisse sozial so zusammen­schließen, daß durch die Regelung der Produktions- und Konsumtions­verhältnisse jener gegenseitige Wert der Waren herauskommt, der für die breitesten Volksschichten eine gesunde Lebenslage möglich macht.

Man wird, indem man sich solchen Aufgaben widmet, zu einer wirk­lichen Wirtschaftswissenschaft aufsteigen müssen, allerdings zu einer Wissenschaft, die nicht aus den Fingern gesogen werden darf, auch nicht aus subjektiven Menschenerfahrungen, sondern aus den Erfahrungen des gemeinsamen Wirtschaftslebens heraus. Man wird innerhalb dieser Erfahrungen beobachten müssen, wie zu kleine Genossenschaften dahin führen, daß die Angehörigen dieser Genossenschaften in bezug auf ihre wirtschaftliche Lage verkümmern müssen; zu große Genossenschaften müssen ebenso dazu führen, daß Verkümmerung eintritt in dem wirtschaftlichen

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Leben, das durch die Genossenschaften versorgt wird. Wenn man einmal das diesbezügliche Gesetz, welches ja dem Wirtschaftsleben zugrunde liegt, klar erkennen wird, dann wird man es mit folgenden Worten aussprechen: Zu kleine Genossenschaften fördern das Ver­hungern der Teilnehmer dieser Genossenschaften, zu große Genossen­schaften fördern das Verhungern der anderen im wirtschaftlichen Leben mit diesen Genossenschaften verbundenen Menschen. Darum wird es sich handeln, daß dieser zweifachen Verkümmerung der menschlichen Bedürfnisse ausgewichen werde. Das wird die Richtlinie sein, in welcher gearbeitet werden muß aus allen Gliedern des Volksganzen heraus. Denn es läßt sich nicht durch irgendein mathematisches Errechnen fin­den, wie groß eine solche Genossenschaft sein muß, sie muß an dem einen Orte eine bestimmte Größe haben, an einem anderen Orte eine andere. Sie muß ihre Größe regeln nach den tatsächlichen Vorausset­zungen. Diese tatsächlichen Voraussetzungen sind nun von denjenigen festzulegen, welche im wirtschaftlichen Leben selbst drinnenstehen. Sie lassen sich nicht anders regeln, als wenn man absieht von einer jeden staatlichen Gesetzgebung für das Wirtschaftsleben, dieses Wirtschafts­leben seiner eigenen Lebendigkeit überläßt, so daß durch das fortwäh­rende lebendige Zusammenwirken der Räte dieses Wirtschaftsleben gestaltet werde kann. Die eine Genossenschaft muß nach den Verhält­nissen zu einer gewissen Zeit vergrößert, die andere verkleinert werden. Denn der soziale Organismus ist nicht etwas, das sich durch eine Verfas­sung festlegen, sich durch einmal feststehende Gesetze bestimmen läßt, sondern er ist etwas, was in fortwährendem Leben ist wie im Grunde genommen auch ein natürlicher Organismus. Daher kann das, was Maßnahme des Wirtschaftslebens ist, sich nur ausdrücken höchstens in mehr oder weniger kurz- oder langfristigen Verträgen, welche ge­schlossen werden, niemals aber in irgendeiner Begrenzung oder Fest­stellung der Befugnisse der Räte, die in das Wirtschaftsleben hinein-gehören.

Sie können mit Recht heute noch sagen, der erzählt uns von dem Maß der Größe einer Genossenschaft, aber wo liegen die Beweise für diese Sache? Ja, das liegt eben darin, daß wir es bis heute noch zu keiner Wirtschaftswissenschaft gebracht haben, die im eminentesten

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Sinne beruhen muß auf wirtschaftlicher Erfahrung, die nicht konstru­iert, nicht aus der Idee heraus gewonnen sein kann, sondern nur aus dem Leben heraus. Ich sage Ihnen, daß niemand, der selbstlos hingebend das Wirtschaftsleben wirklich studiert hat, zu einer anderen Ansicht kommt als derjenigen, die ich Ihnen ausgedrückt habe. Denn es ist das Eigentümliche der sozialen Gesetze, daß sie niemals so bewiesen wer­den können wie natürliche Gesetze, sondern daß sie bewiesen werden müssen unmittelbar in der Anwendung, daß daher nur der einen Sinn für sie haben kann, der für die soziale Wirklichkeit einen gewissen Realitätsinstinkt hat. Das ist so schwierig in der Gegenwart, daß wir vor Tatsachen stehen, denen gegenüber dieser Realitätsinstinkt not­wendig ist, daß die Menschen sich aber so sehr sträuben, diesen in jeder Menschenseele vorhandenen Realitätsinstinkt zur Ausbildung zu bringen.

Was als zweite Aufgabe sich notwendig machen wird in der Zukunft, das wird eine aus den Gesetzen des Wirtschaftslebens heraus sich erge­bende Preisregulierung sein, die darstellen wird den gegenseitigen Wert der Waren. Denn nur dadurch wird es möglich sein, daß das Grund­gesetz aller Sozialisierung verwirklicht werde, wenn man eine solche Preisregulierung in der wirtschaftlichen Erfahrung wird wahrnehmen können. Dadurch wird es möglich sein, daß das Grundgesetz aller So­zialisierung erfüllt werde, das doch im Grunde genommen in nichts anderem besteht, als daß dasjenige, was ein normaler Mensch durch normale, in seinen Anlagen begründete Menschenarbeit leisten kann, gleichkommt demjenigen, was die Gesellschaft, in der er sich befindet, Für ihn leistet, so daß jeder für das, was er produziert, aus der Gesell­schaft heraus den äquivalenten Konsum haben kann. Dazu muß selbst­verständlich kommen, was aus der Gemeinschaft geleistet werden muß für diejenigen Menschen, die durch Krankheit, Alter oder Unnormali­tät von der Gesellschaft selbst erhalten werden müssen. Diese Sache wird durch keinerlei Lohnkampf oder ähnliches erreicht, sondern ledig­lich dadurch, daß sich die Wirtschaftszirkulation so vollzieht, daß eine gesunde Preisbildung, nicht zu niedere und nicht zu hohe Preise da sind. Die Preise an sich, meine sehr verehrten Anwesenden, man kann auch sagen, sie seien gleichgültig. Es kommt nur immer darauf an, daß

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man dasjenige verdient, was die Dinge kosten. Das wäre aber nur der Fall in solchen Gesellschaften, welche bloß Bodenprodukte erarbeiten. In dem Augenblick, wo in einer Gesellschaft zugleich Produkte fabri­ziert werden müssen, zu denen man vom Menschen wiederum fabri­zierte Produktionsmittel braucht, gibt es einen notwendigen Normal-preis, der nicht über- und nicht unterschritten werden darf.

In dieser Beziehung könnte selbst von der Geschichte außerordentlich viel gelernt werden, wenn man die Geschichte heute schon so betrachten könnte, daß dieser Betrachtung zugrunde lägen nicht Wirtschaftsphan­tastereien wie vielfach in den Wirtschaftsgeschichten der verflossenen Jahre, sondern wirkliche Erkenntnisse der wirtschaftlichen Gesetze. Es ist zum Beispiel außerordentlich lehrreich für den Menschen, der es auf diesem Boden ehrlich meint, daß wir für die wesentlichsten Gegenden Mitteleuropas schon einmal so weit waren, daß nahezu eine Art Nor­malpreisbildung über weite Territorien hin vorhanden war. Das war ungefähr im fünfzehnten, gegen die Mitte des fünfzehnten Jahrhun­derts. Diese Normalpreisbildung - bitte lesen Sie das in den Geschich­ten, die wenigstens einige Anhaltspunkte darüber geben, nach -, die dazumal über einen großen Teil von Europa ging, sie war nur dadurch möglich geworden, daß die alte Hörigkeit und halbe Sklavenverhält­nisse, die alte Erbpächterei und dergleichen allmählich besseren Zustän­den gewichen waren, besseren Zuständen, durchaus keinen idealen Zu­ständen. Dann aber trat ein Ereignis ein, welches dieser wirtschaftlichen Entwickelung den Boden entzog. Man kann gar nicht leicht sagen, was es für die europäische Menschheit bedeutet hätte, wenn dieses Ereignis nicht eingetreten wäre. Selbstverständlich will ich nicht schlechte Ge­schichtskonstruktion treiben, will mich keiner Geschichtskritik hinge­ben, sondern nur auf diese Dinge hinweisen zum besseren Verständnis, denn was geschah, mußte geschehen. Man kann gar nicht ausdenken, welche wirtschaftliche Entwickelung wir genommen hätten nach dem Günstigen hin, wenn dasjenige, was schon vorbereitet war um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, wenn das eine geradlinige Fortsetzung gefunden hätte. Aber es ist abgeschnitten worden durch die radikale Einführung der römischen Rechtsbegriffe; abgeschnitten worden da­durch, daß gerade von dem Rechtsboden aus das Wirtschaftsleben ge­stört

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worden ist. Wer diese Erscheinung in ihren Fundamenten kennt, der hat schon darin einen ungeheuer starken geschichtlichen Beweis für die Notwendigkeit der Abgliederung des eigentlich staatlichen Lebens von dem wirtschaftlichen. Alte Menschheitsgewohnheiten führten zu einer gewissen Sympathie für diese römischen Rechtsbegriffe. Im Bal­tenlande, von dem so viel Reaktionäres ausgegangen ist, fanden sich im Landtag Leute, welche sagten: Nach den römischen Rechtsbegriffen, die wir wieder einführen müssen, weil das die richtigen sind, müßten eigentlich die Bauern wiederum Sklaven werden.

Solche Dinge müssen heute, wo wir, wie ich schon sagte, nicht vor der kleinen, sondern vor der großen Abrechnung stehen, im Grunde genommen mit gesundem Seelenauge durchschaut werden, durchschaut werden in all ihrer Konsequenz für die Gegenwart. Man wird aber brauchen, wenn man nach dieser Seite hin und noch nach mancher an­deren das selbständige Wirtschaftsleben wird praktisch gestalten wol­len, eine wirkliche Organisierung gerade des Rätesystems. Es wird sich darum handeln, daß dasjenige, was heute ersehnt wird, was erhofft wird, was einige Menschen sich schon bestreben aus einem gewissen Zeitverständnis heraus auf seine Füße zu stellen, das System der Be­triebsräte, daß das in den Betrieb hineingestellt wird, damit es Vermitt­ler sein kann zwischen den Arbeitern und den Arbeitsleitern der Zu­kunft in dem Sinne, wie ich das in meinem letzten Vortrag hier charak­terisiert und wie ich es namentlich in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» dargestellt habe. Das wird die erste Aufgabe sein, auf welche die Betriebsräte werden kommen müssen, wirklich Vermitt­ler sein zu können für jene Verträge, die über die Leistungen abge­schlossen werden müssen zwischen den Arbeitern und Arbeitsleitern der Zukunft, die keine Kapitalisten weiter sein werden. Aber alle diese Dinge können heute schon vorbereitet werden. Alle diese Menschen, die in solcher Räteschaft drinnen stehen, können heute schon Funk­tionen, wenn es auch nur Übergangsfunktionen sein können, überneh­men. Weiter wird der Betriebsrat vor allen Dingen zu vermitteln haben alles das, was aus dem Betrieb heraus sich als allgemeine Interessen des Lebens in einem geschlossenen Wirtschaftskörper geltend macht. Noch anderes wird aber nötig sein für dieses Betriebsrätesystem, wenn man

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nicht wirtschaftlich weiter individualisieren will, womit gerade die Ar­beiterschaft nach kurzer Zeit am wenigsten einverstanden sein würde; wenn man das ganze Wirtschaftsleben, den zusammengehörigen Wirt­schaftskörper wird sozialisieren wollen, dann wird man manche andere Typen von Räten brauchen. Ich möchte nur aus den Arten der Räte herausheben, daß man Verkehrsräte brauchen wird und außerdem Wirtschaftsräte. Nahestehen werden die Betriebsräte den Produktions-verhältnissen und Produktionsbedürfnissen der arbeitenden Mensch­heit. Nahestehen werden die Wirtschaftsräte den Konsumtionsverhält­nissen.

Das wird einen Wirtschaftskörper geben, welcher vor allen Din­gen ein wirkliches Rätesystem darstellen wird. Ein solches Rätesystem, welches nicht verhindert - das wird es sein, worauf es ankommt bei der praktischen Ausgestaltung -, daß im einzelnen maßgebend sein kann die Initiative des einzelnen im Wirtschaftsleben tätigen Menschen. Das kann, wenn Vertrauen herrscht, aber wirklich ausgebaut werden. Würde diese Initiative des einzelnen Menschen etwa durch das Räte-system untergraben, dann würde alle Internationalität des Wirtschafts­lebens aufgehoben. Diese Internationalität des Wirtschaftslebens würde ja ganz besonders aufgehoben - darüber machen sich heute die Men­schen kaum eine Vorstellung, in welchem Grade -, wenn man statt der Sozialisierung eine Verstaatlichung, das heißt den Staatskapitalismus eintreten lassen würde, wenn man verquicken würde Wirtschaftsleben mit dem Staatsleben. Wenn der Staat wirtschaften würde, wie es manche anstreben - wer die tatsächlichen Verhältnisse kennt, weiß das -, dann würde es unmöglich sein, jene komplizierten Verhältnisse, welche die Internationalität des Wirtschaftslebens notwendig macht, zu beherrschen. Gliedert man ein wirkliches System von Wirtschafts-, Ver­kehrs-, Betriebsräten und ähnlichen Räten, die wahrhaftig nicht so viele Menschen zur Leitung aus der arbeitenden Menschheit herausnehmen werden wie die heutige Bürokratie, dann, wenn man bei der prakti­schen Ausführung noch dazu kommt, die Initiative des Verwaltungs-menschen nicht zu untergraben, dann werden all die feinen Apparate des Internationalismus trotz der Sozialisierung voll aufrecht erhalten werden können. Dann wird man bewirken, wenn die Räte wirkliche

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Räte sind, das heißt solche Institutionen, die Richtungen des Lebens ge­ben werden, daß diese Räte es durch das Zusammenleben mit den Ver­waltungsmenschen dahin bringen werden, daß der von ihnen mit Ver­trauen begabte Verwaltungsmensch auch die Initiative in ihrem Sinne im einzelnen ergreifen kann. Die großen Linien der Einrichtungen werden immer von der Räteschaft ausgehen. Dasjenige, was Tag für Tag unternommen werden muß, das wird gerade dadurch aus der Räteschaft herausgehoben werden können. In dieser Beziehung kann derjenige, welcher sich das Wirtschaftsleben abgegliedert denken kann, gerade aus der Berücksichtigung all der Verhältnisse, die heute da sind, an Einrichtungen herangehen, welche die Errungenschaften der alten Kultur nicht abbauen, welche es aber möglich machen, daß innerhalb dieser Errungenschaften für alle Menschen ein menschenwürdiges Da­sein herbeigeführt wird.

Sie können fragen, welche Mittel wird denn das vom Staat abge­trennte Wirtschaftsleben haben, um das, was als Maßnahme getroffen wird, auch in einem gewissen Sinne gegen die Widerstände der ein­zelnen Menschen durchzuführen? Heute denkt man sich allerdings, daß solche Durchführungen nur durch Zwangsmittel möglich sind. In dieser Beziehung ist man ja noch nicht sehr von den alten Denkgewohnheiten abgegangen. Ich weiß nicht, wieviele Menschen es bemerkt haben, daß in merkwürdiger Art sich solche alten Denkgewohnheiten fortsetzen. Wenn ich heute zum Beispiel eine gewisse Stelle aus einer gewissen Rede vorlese, so wird mancher Mensch erstaunt sein. Diese Stelle - sie ist eine Ansprache an einen Truppenbestand in Danzig - heißt: «Die Truppen sollen den Mann sehen, der für ihr Wohl und Wehe eintritt und für die militärische Zucht und Ordnung sich einsetzt. Wenn der richtige militärische Geist in der Truppe lebt, werde ich Treue mit Treue vergelten.» Sie werden sagen, in welcher alten Kaiserrede haben Sie denn das aufgegabelt? - Nein, das ist aus der Rede, die der Reichs­wehrminister Noske vor den freiwilligen Truppen in Danzig gehalten hat. So nisten sich die alten Denkgewohnheiten ein. Aber darauf kommt es an, daß wir über die alten Denkgewohnheiten hinauskom­men. Heute bemerken die Menschen noch gar nicht, wie sie in den alten Denkgewohnheiten fortwursteln, wie wenig sie aus den alten Dingen

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herausgekommen sind. So fragt natürlich mancher, der sich nur vor­stellen kann, daß durch irgendeine staatliche oder gar militärische Zwangsgewalt das ausgeführt werde, was als Maßnahme getroffen wird: Was hat der Wirtschaftskörper für Mittel, um das zur Durch­führung zu bringen, was in solcher Art, wie geschildert, aus seinem Schoß geboren ist? - Er hat in der Zukunft ein sehr wirksames, aber zu­gleich ein sehr menschliches Mittel, den Boykott. Der Boykott, der noch nicht einmal durch Zwangsmittel unter solchen Voraussetzungen, wie ich es geschildert habe, verhängt zu werden braucht, sondern der sich einfach von selbst ergibt. Wenn eine Genossenschaft für irgendeinen Betrieb und Konsumtionszweig besteht und jemand wird sich auf die Seite stellen wollen, so wird er nicht produzieren können, gerade unter dem Gesetz, daß dann der Kreis, aus dem heraus er produziert, zu klein sein wird. Und in ähnlicher Weise werden andere Voraussetzun­gen einer Durchkreuzung der wirtschaftlichen Maßnahmen durch den selbstverständlichen Boykott aus der Welt geschafft werden können. Würde etwa jemand glauben, daß der Widerspenstige dann selbst zu einer so großen Genossenschaft kommen könnte, daß er konkurrieren könnte - jener braucht nur nachzudenken über die wirklichen Gesetze des Wirtschaftslebens und er wird wissen, daß er, bis er zu dieser Kon­kurrenz kommen würde, längst draufgegangen sein muß.

Das müssen Sie als Lebenspraxis hinter der Dreigliederung suchen, daß diese Dreigliederung rechnet mit den Wirklichkeiten und diesen Wirklichkeiten Boden schaffen will. Allerdings wird man es mit gewis­sen Dingen ernst nehmen müssen, die heute noch gar sehr den mensch­lichen Denkgewohnheiten widersprechen. Man wird es ernst nehmen müssen mit dem, was ich in früheren Vorträgen schon ausgeführt habe, mit der Emanzipierung des Geisteslebens. Mit diesem geistigen Leben wird man etwas zu verwirklichen haben, das eigentlich in dem Ruf der sozialistischen Denker immer gelegen hat, aber gerade heute schlecht verstanden wird. Es hat das drinnen gelegen, daß es zu so etwas Neuem kommen muß, aber man hat niemals ein klares Denken darüber gehabt. Man hat immer wieder auf seiten des Sozialismus gesagt: An die Stelle der Konkurrenz, des Profitierens muß die sachliche Verwaltung treten. -Ganz richtig. Sie muß insbesondere auf dem Gebiet des Geisteslebens

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auftreten. Da wird allerdings notwendig sein, daß dieses Geistesleben aus sich selbst heraus sich wird verwalten können. Rein aus den Be­obachtungen über die Menschenwesenheit heraus wird man durch eine Massenpädagogik imstande sein, etwas wirklich Fruchtbares für die Zukunft zu schaffen. Ich weiß, daß ich für sehr viele heute vielleicht sogar etwas Tolles sage, indem ich sage: Wollen wir in gesunder Weise sozialisieren, dann müssen wir vor allen Dingen die menschliche Kraft und Anlage so zum Ausdruck bringen, daß der Mensch durch seine normale Lebenszeit hindurch kraftvoll in der Wirklichkeit drinnen stehen kann.

Das wird sich insbesondere in der freien Verwaltung des Unter­richtswesens zeigen. Auf anderen Gebieten hat es sich ja in wenig erfreulicher Weise schon gezeigt, indem die Beförderungsverhältnisse im alten Staat es dahin gebracht haben, daß auf den höchsten Rats­stellen in der Regel die alten Herren gesessen haben, die dann mög­lichst wenig mehr mit der Sache wollten zu tun haben. Aus der Selbstverwaltung des Geistes wird sich in der Zukunft gerade die Not­wendigkeit ergeben, daß diese alten Herren die verschiedensten füh­renden Aufgaben haben werden. Dazu müssen sie aber jugendfrisch sein. Unsere Staatsschule untergräbt die Jugendfrische. Diese Jugend-frische hat man allerdings im Reichsgreisenbahnamt, pardon Reichs­eisenbahnamt - man hat Reichsgreisenbahnamt gesagt, weil die Stellen meistens mit Greisen besetzt sind -, nicht angetroffen. Notwendig wird es sein, daß wir die allererste Stufe des Schulunterrichts, der sich nur im freien Geistesleben entfalten kann, aus einer gründlichen An­thropologie heraus gestalten können, damit nicht, wie es jetzt geschieht, die menschlichen Denk- und Fühl- und Willenskräfte so entwickelt werden, daß das spätere Leben nicht imstande ist, sie aufrecht zu er­halten, sondern sie abschwächt. Wir müssen in den Jahren, in denen der Mensch Denken, Fühlen und Wollen auszubilden hat, das alles so gestalten, daß wir dem Leben eine Unterlage schaffen. Nimmermehr kann nachgeholt werden vom Menschen dasjenige, was in den Jugend­jahren zu erreichen ist. Aber nur dann, wenn das Schulleben verwaltet wird aus den eigensten Gesetzen des Menschenlebens heraus, nicht aus der staatlichen Korporation, dann kann es möglich sein, daß durch das

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ganze Leben hindurch die Stärke seiner Kraft nicht abgeschwächt werde. Und für das soziale Leben wird es notwendig sein, daß wir künftig nicht bloß ein Wissen uns aneignen durch die Schulanstalten, sondern daß wir lernen zu lernen, vom Leben immer zu lernen lernen. Es sieht heute noch sonderbar aus, wenn man sagt, daß ein wirklich sachgemäß eingerichteter Schulunterricht uns ganz andere Greise liefern wird in der Zukunft, als wir sie heute haben.

Sehen Sie, da ist es notwendig, daß neue Dinge auftreten, Dinge, an die jetzt gar nicht gedacht wird. Die Leute machen heute noch ver­dutzte Gesichter, wenn man ihnen davon redet, daß man gerne das Geistesleben so hätte, daß es seinen eigenen Gesetzen folgen könnte. Sie können sich gar nichts anderes vorstellen, als ein vom Staate ver­waltetes Geistesleben, weil sie gar keine Ahnung haben von dem, was der Mensch selber ist in der menschlichen Gesellschaft. Die Dinge liegen heute ernst, und diejenigen, die die Dinge klein nehmen wollen, die kommen heute nicht zu dem, was uns so notwendig ist, zur Gesundung des sozialen Organismus. Man muß es immer wieder sehen, wie merk­würdig die Leute in den alten Denkgewohnheiten fortmachen, wie sie sich höchstens dazu aufraffen, einmal zu sagen, das ist uns so un­klar, was der sagt. Gewiß, solche Dinge, die die Kraft in sich haben müssen, eine langdauernde Wirklichkeit zu gebären, die muß man zu­nächst als etwas, was einem unklar ist, hinnehmen, denn man muß sich gewöhnen, durch die Beschäftigung mit ihnen sich eine neue Lebens­auffassung wirklichkeitsgemäß anzueignen. Heute haben wir die Pflicht, zu reflektieren auf unsere tiefen Instinkte. Wenn wir auf sie reflektie­ren, dann werden wir in der Lage sein, das, was scheinbar unklar ist, in Klarheit zu erkennen. Wenn heute viele Leute sagen, die Impulse des dreigliedrigen sozialen Organismus seien unklar, so liegt eben viel­fach die alte verkehrte Schulbildung zugrunde, welche die Menschen davon abgebracht hat, zu einem wirklich konzentrierten Denken zu kommen, zu der Auffassung von wirklichkeitsgemäßen Gedanken zu kommen. Und so ist man in der Lage, auf der einen Seite dasjenige sagen zu müssen, was notwendig ist, auf der anderen Seite darum kämpfen zu müssen, daß nicht allerlei Vorurteile aus alten Denk­gewohnheiten heraus neue Dinge in der Welt schaffen wollen. Wenn

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heute die Leute immer wieder sagen: Welches ist der Weg? Wie macht man es? - Ich möchte wissen, was ein klarerer Weg wäre, als dieser des dreigliedrigen Organismus, wenn man ihn nur gehen will. Aber denken Sie einmal, was da zunächst wird geschehen müssen, wenn man ihn gehen will. Was sich fortsetzt als Regierung aus den früheren Entwickelungsläuften, wird sich eines Tages sagen müssen: Wir behal­ten zurück all diejenigen Ressorts, die sich auf das rechtliche Leben, auf die öffentliche Sicherheit und dergleichen beziehen. Mit Bezug auf das Geistesleben, Kultus, Unterricht, technische Ideen auf der einen Seite, mit Bezug auf das Wirtschaftsleben auf der anderen Seite, auf Industrie, Handel, Gewerbe und so weiter, werden wir eine Liquidie­rungsregierung. Das braucht unsere Zeit als etwas unmittelbar Prakti­sches: die Einsicht, daß die Regierungen, die aus den alten Usancen und Gewohnheiten kommen, sich aufraffen können, sich solches, wie es eben angedeutet ist, zu sagen; abzuwerfen nach links und rechts das Geistes-und das Wirtschaftsleben, damit diese sich selbst gestalten und verwal­ten können.

Nur die Initiative kann bei den bisherigen Regierungen liegen, weil sie sich schon einmal aus den alten Verhältnissen heraus ent­wickelt haben, aber sie müssen die Selbstlosigkeit haben, nach links und nach rechts Liquidierungsregierungen zu werden. Das erfordert die große Abrechnung. Wer das unpraktisch nennt, ich kann ihn be­greifen, weil er eben nicht umdenken kann, was Jahrhunderte in seinen Kopf hineingehämmert haben. Heute aber stehen wir vor der Not­wendigkeit, hinauszuhämmern aus dem Kopf, was Jahrhunderte hin­eingehämmert haben. Heute stehen wir vor der Notwendigkeit, die Dinge mit dem allergrößten Ernst zu nehmen, denn nur dieses aller­größte Ernstnehmen ist das wirklich Praktische. Dieser Ernst, er wird sich dann vereinigen mit solchen Erkenntnissen, wie sie notwendig sind, und die ich Ihnen angeführt habe mit Bezug auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens, Größe oder Kleinheit dieser oder jener Genossen­schaften, Preisfestsetzung und so weiter. Aber das sind Aufgaben, die im Konkreten, im Praktischen bevorstehen, zu denen wir uns ent­schließen müssen, denn das sind die Grundlagen einer wirklichen So­zialisierung, die Grundlagen für eine wirklich soziale Gestaltung des

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menschlichen Lebens. Das wollen, wenn sie es auch noch nicht sagen können, die Rätegemeinschaften, die sich erheben wollen aus der großen Gemeinschaft des Volkes heraus. Deshalb hätten überrascht sein sollen die Menschen über die Rätesysteme, besonders alle diejenigen, die glaubten, schon genügend hingekommen zu sein zu dem, was man Sozialisieren nennt. Heute erlebt man merkwürdige Sachen.

Ich mußte heute nachmittag, weil man mir ihn brachte, einen merk­würdigen Satz lesen, der, ich möchte sagen, mit den sonderbarsten Gefühlen von mir aufgenommen werden mußte in dieser ernsten Zeit. Da las ich in Anknüpfung an die Impulse dieses dreigliedrigen Organismus folgenden Satz. Man möchte es eigentlich nicht recht glauben:

«Es handelt sich in dem gegenwärtigen Kampf gar nicht darum, eine Idee zu finden oder den richtigen Mann an die Spitze zu stellen, son­dern darum, wie die sozialistische Idee in die Wirklichkeit umgesetzt werden muß. Nicht um schöne Pläne handelt es sich, sondern um die Ausführung. »

Nun frage ich Sie, meine sehr verehrten Anwesenden, wie kann man ausführen, wenn man nichts zum Ausführen hat? Solche Dinge werden heute gesagt im guten Glauben, aus einer guten Meinung heraus. Sie sind aber nichts anderes als ein Symptom dafür, wie wenig Sinn und Verstand die Menschen haben für das, was zu geschehen hat. Jemand weist den Plan eines Hauses auf, und es wendet ihm jemand ein: Nicht auf den Plan des Hauses kommt es an, sondern auf die Ausführung. -Da darf wohl gefragt werden: Wo ist euer Plan? Wo zeigt er sich? -Wir würden schweigen, wenn euer Plan sich zeigte, denn wir sprechen wahrhaftig nur durch die Tatsachen gerufen.

Daß solche Dinge heute möglich sind, daß ein solches Denken gegen-über dem Ernst der Zeit möglich ist, das ist es, was einen immer wie­der und wiederum betrübt sein laßt, wenn man an die Möglichkeit und an die Notwendigkeit desjenigen denkt, was zu geschehen hat. Wir müssen heute ergriffen werden, gerade wir hier in Mitteleuropa, von dem Ernst der Lage. Denn nur dadurch, daß wir uns heute abge­wöhnen, außerhalb der Dinge - weil wir nie in die Dinge hinein­schauen - zu denken und zu reden, nur dadurch werden wir das große

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Unheil abwenden. Man braucht heute die Möglichkeit, aus der breite­sten Masse der Menschheit heraus zu schaffen. Versucht jemand diese Möglichkeit, dann wendet man ihm ein, er suggeriere den Massen etwas, denn die Massen verstünden das gar nicht. Die leitenden Kreise haben nämlich keine Ahnung davon, was alles die Massen heute schon ver­stehen in den unverbrauchten Gehirnen, wovon sie selber nichts verste­hen, weil sie nichts verstehen wollen. Diese Dinge sind ein Zeitproblem, und ich schrecke nicht zurück, von ihnen zu sprechen, wenn noch so viele Einwände gemacht werden über Suggestion und dergleichen, denn ich sage im Grunde nur das, was aus den Herzen und Seelen der Leute dann selber kommen würde, wenn sie darüber, was in diesen Herzen und Seelen lebt, zur Klarheit kommen würden. Ich möchte nur zur Klarheit bringen, was in den Herzen und Seelen lebt. Davon aber wollen viele Leute heute eben ganz und gar nichts wissen, weil sie das Zusammenleben mit denjenigen scheuen, die gerade die Forderungen der Zeit deutlich in ihrem Herzen tragen. Darüber erfährt man aller­dings aus allerlei Stimmen der Zeit gar mancherlei. So schrieb neulich ein Herr aus einer ganz bestimmten Empfindung heraus in der viel-gelesenen Zeitschrift «Die Hilfe» - und die ist ja keine sozialistische, aber sie will eine soziale Zeitschrift sein, in sozialistischen Zeitschriften kann man heute schon ähnliches lesen -: Wir können jetzt nicht sozia­lisieren. - Darauf kommt er nicht, daß er ja nicht weiß, wie man es macht, sondern er schreibt natürlich nicht sich, sondern den anderen die Ursache zu, warum er keine Ahnung hat, wie die Sozialisierung sich vollziehen soll. Da sagt er ganz naiv in seinem Artikel: «Der Ka­pitalismus hat uns eben die Menschen verdorben... Ja, wer über ein Volk von gesunden, arbeitsfrohen, fröhlichen, gutherzigen Menschen verfügte, denen die Brüderlichkeit ein lebensvoller Begriff und nicht, wie uns, nur ein Schlagwort wäre, der könnte es wagen, von heute auf morgen den Kommunismus einzuführen. »

Nun frage ich Sie, ob irgendein Mensch in der Welt notwendig hätte, den Kommunismus einzuführen, wenn wir in einer Gesellschaftsordnung lebten, in der die Menschen gesund sind, arbeitsfroh, fröhlich, guther­zig und in der allein die Brüderlichkeit lebte. Sehen Sie, das ist die Gedankenwelt von heute. Die Menschen ahnen gar nicht, was sie vor

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kurzer Zeit noch gesagt haben. Sie hätten es wahrhaftig nicht nötig, an ein Ideal des Sozialismus zu denken, wenn die Menschen so wären, wie ihnen die Möglichkeit geboten werden soll, zu sein, gerade durch die Sozialisierung.

Eines bedenken die Menschen immer nicht: ist der natürliche Orga­nismus gesund, dann spürt der Mensch das nicht, was Gesundheit des natürlichen Organismus ist. Dann muß er in der Gesundheit doch erst suchen, er kann es aber dann, die Harmonie seiner Seele, meinet­wegen die Freude seiner Seele. Ist aber der Organismus krank, dann spürt er den Schmerz, dann ist der Schmerz des Organismus ein Teil seines Seelenerlebnisses. Dann darf niemand kommen und sagen, ich kann dich nicht gesund machen, denn ich könnte das nur, wenn du zu­erst in deiner Seele dich gesund fühltest, wenn du Harmonie, Freude in deiner Seele hättest. - Wir haben den gesunden sozialen Organismus anzustreben. Das ist es, worauf es ankommt. Wir dürfen nicht fragen, wie der Herr, von dem ich eben gesprochen habe: Aber wo sollen wir Menschen dazu hernehmen? Die Menschheit muß für den Sozialismus erst erzogen werden! - Denken Sie an den Münchhausenschen Hel­den, der sich selbst an seinen Haaren in die Luft heben will. Nein, der Sozialismus soll da sein, damit die Menschen erzogen werden können.

Die Menschen unreif zu nennen, wenn man nicht in der Lage ist, selber zu reifen Impulsen zu kommen, das ist leicht. Unsere Aufgabe ist es in der Gegenwart, nicht die Menschheit anzuklagen, sondern Verhältnisse herbeizuführen, die es dahin bringen, daß wir nicht mehr nötig haben, im heutigen Ausmaß die Menschheit anzuklagen. Deshalb setzt sich der Impuls, von dem hier gesprochen wird, die Aufgabe, die Bedingungen des gesunden sozialen Organismus zu untersuchen. Man wird nicht weiterkommen, bis Verständnis erweckt ist für diesen dreigliedrigen sozialen Organismus. Dann möchte ich sehen, wenn in einer genügend großen Anzahl von Menschen - und darauf kommt es heute an - Verständnis vorhanden ist für das, was geschehen soll, welche Regierung solchem Verständnis widerstreben kann! Unter an­deren Voraussetzungen kommen wir mit allen Experimenten nicht vor­wärts.

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Heute muß die Mühe genommen werden, in breitesten Kreisen Verständnis zu erzeugen. Das kann schneller gehen, als man glaubt. Und das muß schneller gehen, als man glaubt, denn die Phrasen von der Unreifheit der Menschen sprechen nur diejenigen aus, die selber unreif sind. Wir haben keine Zeit, davon zu träumen, daß man lange brauchen wird, um zu sozialisieren. Sieht man die praktische Möglich­keit ein, sich auf die drei Grundlagen des Geistigen, des Rechtlichen, des Wirtschaftlichen zu stellen, dann wird man erkennen, daß man auf diesen drei Grundlagen eine wirkliche Sozialisierung durchführen kann. Aber man muß sich entschließen, nicht an den alten Vorurteilen festzuhalten. Man muß sich entschließen, wirklich umzulernen. Der­selbe Herr, von dem ich schon erzählt habe, sagt noch den schönen Satz dazu: «Jede Erneuerung, die dieser Entwicklung», er meint die Entwickelung nach gutherzigen, freundlichen, zufriedenen Menschen hin, «vorauszueilen versucht, muß scheitern, weil sie eben im Emp­finden des Volkes keinen Rückhalt findet.» - In den Empfindungen dieses Herrn findet sie allerdings keinen Rückhalt. Über solche Emp­findungen muß, wenn sie sich nicht bessern können, einfach hinweg-geschritten werden, denn die Menschheit darf nicht weiter zurückgehal­ten werden durch alte Vorurteile und alte Denkgewohnheiten. Wir haben heute nötig, daß wir tief in uns gehen, daß wir innerlich refor­mieren und revolutionieren unser Empfinden und unser Denken. Dann werden wir bei den Menschen den Resonanzboden finden. Wir brau­chen den Menschen nichts zu suggerieren, wir brauchen nur die Klarheit zu finden für dasjenige, was sie in berechtigter Weise wollen. Wir brauchen nur die Arbeit des Vertrauens zu tun und uns nicht vor dieser Zusammenarbeit mit den breiten Massen zu scheuen, dann werden wir im wahren Sinne des Wortes den Forderungen der heutigen Zeit dienen.

Heute muß sich, das will ich auch diesmal wiederum sagen, ein jeder bedeutungsvoll an das Wort halten: Ich muß verstehen lernen, was zu tun ist, aus den Erscheinungen der Zeit, aus den laut sprechen­den Tatsachen heraus, bevor es zu spät ist. Und es könnte sehr bald zu spät werden, was dann diejenigen am allermeisten bedauern wür­den, welche sich nicht herbeigelassen haben, sich aus dem Können heraus,

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das sie sich angeeignet haben, so umzugestalten, daß sie diese neuen Forderungen der Zeit wirklich verstehen und sich in ihren Dienst stellen können. Sich in den Dienst der Zeit stellen können, auch wenn wir im tiefsten Innern umlernen müssen, das muß die Aufgabe aller Menschen werden, ehe es zu spät ist!

Schlußwort nach der Diskussion

Da ja im Grunde genommen kaum irgend etwas in der Diskussion außer von einem der verehrten Redner vorgebracht worden ist gegen meine Ausführungen, so erübrigt es sich auch für mich, in dem Schlußwort besonders viel und Ausführliches zu sagen. Ich möchte ja auch auf die Ausführungen des widersprechenden Redners nicht zurück­kommen. Ich glaube, daß es doch eine gewiß merkwürdige Art ist, zu sagen, man solle die Dinge widerlegen, die durchaus gegenüber dem, was in meinem Buche steht, Unrichtigkeiten sind. So kann ja doch eine Diskussion nicht verlaufen, daß man während dieser Diskussion Unrichtigkeiten oder Schiefheiten aufstellt und einen dann verpflichtet zu widerlegen, was einem niemals eingefallen ist zu behaupten. Ich möchte nur auf das eine hinweisen. Es ist ja im Grunde genommen von Herrn L. schon gesagt worden und auch meine Überzeugung, daß gerade, was Karl Marx betrifft, derjenige, der Karl Marx kennt, wirk­lich kennt, wird sagen müssen, Karl Marx hat sich schon immer so von den Tatsachen der Geschichte, der zeitgenössischen Geschichte be­lehren lassen, daß ganz zweifellos heute jemand furchtbar rückständig sein würde, der nicht imstande wäre, sich die Antwort auf die Frage zu geben: Was würde unter den heutigen Verhältnissen gerade Karl Marx denken? - Sehen Sie, es gibt ein sehr, sehr merkwürdiges Wort von Karl Marx, das mir einfällt da, wenn jemand wie Herr W. in so sonderbarer Weise auf Karl Marx hinweist. Marx hat manche Zeit­genossen gefunden, die seine Anhänger waren, die sich Marxisten ge­nannt haben, und von Karl Marx rührt das merkwürdige Wort her, das aber eine sehr tiefe Bedeutung hat gegenüber diesen Marxisten:

Was mich anbetrifft, ich bin kein Marxist. - Solch ein Wort sollte

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einem eigentlich doch zu denken geben. Man muß sich manchmal fra­gen, wie es sich eigentlich mit den Anhängern einer gewissen Anschau­ung verhält. Eine Anschauung, wie die von Karl Marx vorgebrachte, sie ist gerade von dem Hervorbringer so gemeint, daß er sie hinein-fließen läßt in die volle Zeitbewegung. Und nur derjenige versteht sie in einer späteren Zeit, der sie so aufzunehmen vermag, daß er sie für seine Zeit wiederum umzuwandeln in der Lage ist. Das ist wohl über diese Bemerkung genug. Jetzt möchte ich nur, weil hier drei Fragen gefallen sind, über diese drei Fragen ein paar Bemerkungen machen. Alle drei Fragen beziehen sich nämlich auf die auswärtige Politik. Selbstverständlich könnte ich sie ja im einzelnen beantworten, wenn es nicht vielleicht heute doch besser sein könnte, bitte mißverstehen Sie das nicht, gerade diese drei Fragen nicht so in der Form, wie es der Fragesteller will, gegenüber den noch schwebenden Ereignissen zu beantworten. Es ist schon notwendig, gegenüber dem, was heute schwe­bende Ereignisse sind, zurückzuhalten, obwohl es nicht gerade wahr­scheinlich ist, daß dasjenige, was ich hier spreche, morgen im «Temps» steht. Aber es ist schon besser, wenn gewisse Dinge nicht dadurch ver­pfuscht werden, daß man in sie hineinredet. Ich will Ihnen aber doch das Folgende darüber sagen, damit Sie nicht glauben, daß etwas leicht­hin zurückbehalten werden könnte mit Bezug auf die Beantwortung dieser Frage. Sehen Sie, was jetzt dargeboten wird als Dreigliederung des sozialen Organismus ist zunächst in der furchtbar schweren Kriegs-zeit zuerst gerade als außenpolitische Angelegenheit behandelt worden. In einer Zeit, wo nicht daran gedacht werden konnte, innerhalb Deutschlands die Sozialisierung unmittelbar vor einem Kriegsende in Angriff zu nehmen, wo es sich nur darum handeln konnte, was setzt Deutschland zum Beispiel den «Vierzehn Punkten» Woodrow Wilsons entgegen, wenn es zu einer möglichen Beendigung der furchtbaren Ereignisse kommen möchte? Ich bin heute noch mehr als dazumal der Meinung, daß manches und viel hätte geholfen werden können, wenn man dazumal jener auswärtigen Politik Verständnis entgegengebracht hätte, welche neben der Sozialisierung in dieser Dreigliederung des ge­sunden sozialen Organismus liegt. Das ist es ja gerade, möchte ich sagen, was heute so betrüblich vor mir steht. Diese Gliederung wäre, wie ich

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meine, die einzige Möglichkeit gewesen, nicht zu solch einem schreck­haften Kriegsende zu kommen, wie man gekommen ist. Möge doch jenes Nichtverstehen, das dazumal die entsprechenden Kreise gezeigt haben, nicht auch das werden, was heute die, auf die es ankommt, die breitesten Schichten des Volkes, zu dem ihrigen machen. Könnte man doch die Herzen dieser breitesten Schichten des Volkes mehr finden, als man finden konnte die Herzen derjenigen, die statt irgendeine ver­nünftige Außenpolitik unter dem Einfluß dieser Impulse zu suchen, Brest-Litowsk und was darauf gefolgt ist, angerichtet haben.

Ich kann Ihnen ja nicht jetzt einen zweiten Vortrag über auswärtige Politik halten. Aber man wird einmal die wirklichen Ursachen, die weiteren und näheren, dieser unseligen europäischen Ereignisse der letzten fünf Jahre studieren. Man wird künftighin studieren zum Bei­spiel jenes Gewebe von sogenannten Kriegsursachen, die zum öster­reichisch-serbischen Konflikte geführt haben. In diesen Konflikt sind hineinverwoben als auswärtige Politik chaotische wirtschaftliche und politische Ursachen. Und wer wie ich sein halbes Leben, das ist drei Jahrzehnte, in Österreich zugebracht hat, wer die österreichischen Ver­hältnisse kennt, der weiß, daß das aus der unseligen Entwickelung dieser österreichischen Verhältnisse so kommen mußte, weil diese Ver­hältnisse nur zu halten gewesen wären, wenn man im richtigen Zeit­punkt hätte auseinanderlösen können die wirtschaftlichen und die politisch-rechtlichen Verhältnisse auch in bezug auf die äußere Poli­tik. Sehen Sie, ich kam dann während des Krieges einmal nach Wien. Da kamen mir verschiedene Leute entgegen und sagten, indem sie nur die eine Seite, die wirtschaftliche Seite der Kriegsursachen hervorhoben:

Ach, dieser Krieg mit Serbien ist ja nur ein Schweinekrieg. - Das drückt ja natürlich nur nach einem Gebiet die wirtschaftliche Ursache aus, aber sie ist drinnen gewesen. Dazu kamen die politischen und sogar die kul­turellen Ursachen, wenn sie auch in verschiedenen Volkssprachen lagen, von denen Österreich offiziell dreizehn hatte. Kurz, wie gesagt, ich müßte ausführliche Vorträge halten, wenn ich Ihnen zeigen wollte, wie diese Dinge über die ehemaligen Staatsgrenzen hinübergewirkt haben, die ich eine unorganische, chaotische Durcheinanderwürfelung der drei Lebenszweige nenne, welche in der Zukunft zunächst auseinandertreten

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müssen. So kann ich heute dies alles aus leicht begreiflichen Gründen ja nur andeuten.

Sehen Sie, dasjenige, was man jetzt Kriegsschuld nennt, was man Friedensbedingungen nennt, von denen hier in der Frage die Rede ist -ja, ist das eine Unmöglichkeit, wenn man an die Verwirklichung denkt? Nein, das ist nicht eine Unmöglichkeit, sondern ein bloßer Unsinn, denn das ist etwas wie das Hineinsegeln in eine Sackgasse. Es ist schlechterdings unbegreiflich, wie sich die Leute in Versailles überhaupt etwas vorstellen können bei diesen Dingen. Gewiß, man schaut viel­leicht nicht klar, nicht konkret genug hinein in die Verhältnisse, aber bedenken Sie doch nur das eine. Lassen wir die Kriegsschuld beiseite. Nehmen wir das an, was aus den alten Verhältnissen heraus sich ergeben hat an Schulden, die getilgt werden sollen innerhalb der deutschen Gren­zen selber. Also lassen wir die Kriegsschuld vorläufig weg, dann be­tragen für die nächsten Jahre die bloßen Zinsen, hören Sie wohl, meine sehr verehrten Anwesenden, die Zinsen, wie ich glaube, acht­undzwanzig Milliarden Mark jährlich. Also nicht bloß Unmöglichkeit, sondern wirklich Unsinn liegt vor. Dinge, die sich gar nicht realisieren lassen.

Das ist gerade die typische Erscheinung für die Gegenwart, daß wir überall unter dem Einfluß der alten Verhältnisse hineingesegelt sind in etwas, das sich nur dann überhaupt weiter entwickeln kann, wenn wir ganz, ganz neu, aus ganz neuen Fundamenten heraus etwas aufbauen. Nun, davon werden sich sehr bald die Menschen überzeugen, daß sie aus ganz neuen Fundamenten heraus aufbauen müssen. Die­jenigen, die heute noch nichts wissen wollen von der Dreigliederung des sozialen Organismus, die werden es gerade an der auswärtigen Politik lernen müssen, wie unmöglich es ist, aus den Kalamitäten herauszu­kommen, wenn wir nicht in die Lage kommen, über alle politischen und geistigen Verhältnisse hinweg aus den Notwendigkeiten des Wirt­schaftslebens internationale Beziehungen herzustellen. Natürlich, das muß im einzelnen studiert werden. Wird es studiert, so zeigt sich eben, daß die Gesundung nur kommen kann, wenn wir den Aufbau der internationalen Wirtschaftsverhältnisse auf dem Boden versuchen, der wenigstens für uns den sozialen Organismus dreigliedert. Das ist gar

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kein Hindernis, daß die Staaten der Entente nicht dreigliedern. Für uns wäre es nur notwendig, um vorwärts zu kommen, um überhaupt wiederum Luft zu bekommen und Lebensmöglichkeiten, daß nach Osten hin Rußland und die Ukraine auch eingehen könnten auf die Dreigliederung.

Aber wer aus tieferen Gründen heraus die Intentionen der russischen Volksseele kennt, der weiß, wieviel eigentlich verbrochen worden ist durch den Frieden von Brest-Litowsk, und wie es möglich gewesen wäre, wenn nicht so vieles verschüttet worden wäre, in der Tat mit diesem dreigliedrigen Organismus gerade in Rußland am ehesten An­hänger zu gewinnen. Das ist etwas, wofür natürlich Wege gesucht wer­den müssen, um es nachzuholen. Aber es gibt für den, der die Dinge nicht nach Programmen nimmt, nicht nach vorgefaßten Gedanken, sondern so, wie sie sich in Wirklichkeit darstellen, auch in der Außen­politik, nur die eine Möglichkeit, so zu erstarken über ein genügend großes Territorium über Ost- und Mitteleuropa hin, daß wir die Mög­lichkeit finden, keinen Schaden dadurch zu nehmen, daß im Westen jene Absicht besteht, die sich in den schauderhaften Friedensbedin­gungen zum Ausdruck bringt. Es sind eben - auf diese Tatsache möchte ich Sie hinweisen - die Impulse dieser Dreigliederung während des Kriegsablaufes als auswärtige Politik zuerst gedacht worden, und das ist es, was einen heute bedrücken kann: Soll das auch jetzt nach diesen furchtbaren, blutigen Erfahrungen wiederum so sein, wie es während des Krieges war? Dazumal versuchte ich klarzumachen, wie ganz an­ders reagiert worden wäre als auf alles übrige, wenn eine Manifestation nach dieser Richtung, die natürlich nicht so gelautet hätte, wie man jetzt über diese Dinge zu sprechen hat nach den Zeitforderungen, aber wenn eine Manifestation nach dieser Richtung geschehen wäre. Aber das ist etwas, was man wünschen möchte, daß jetzt, wo eine neue Zeit angebrochen ist, diese neue Zeit besser verstehen würde diese Dinge, als sie jene Menschen verstanden haben, die die letzten Nachzügler der alten Zeit gewesen sind, und die, weil sie diese Nachzügler gewesen sind, die europäische Menschheit in das furchtbare Unglück hinein-geführt haben. Möchten doch jetzt möglichst viele Menschen ihre Her­zen auftun, damit sie nicht Nachzügler seien, sondern Vorboten desjenigen,

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was allein helfen kann, nämlich desjenigen, was den inneren Organismus wirklich gesundet. Und der gesunde innere Organismus, der wird auch die Mittel und Wege finden, sich nach außen in der rich­tigen Weise geltend zu machen.

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DER IMPULS ZUM DREIGLIEDRIGEN ORGANISMUS KEIN , SONDERN UNMITTELBAR PRAKTISCHE FORDERUNG DES AUGENBLICKS Vortrag für die Versammlung des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus Stuttgart, 31. Mai 1919

Die Versammlung wird durch den Vorsitzenden, Herrn Dr. Unger, mit folgenden Worten eröffnet:

Sehr verehrte Anwesende! Ich eröffne im Auftrage des Arbeitsausschusses des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus die heutige Versammlung. Viel-leicht gestatten Sie mir, wenige Worte zu dem Aufruf zu sagen, den Sie auf Ihren Plätzen gefunden haben. Diejenigen der verehrten Anwesenden, die auch gestern unserer Veranstaltung beigewohnt haben, haben gehört, daß es sich im gegenwärtigen Augenblitk darum handelt, in starker Weise die Impulse zur Dreigliederung des suzialen Organismus zur Auswirkung zu bringen. Nachdem nun vorzugsweise die Emanzipation des Wirtschaftslebens aus dem Einheitsstaate heraus besonders betrieben wird, müssen wir uns im Sinne der Ausführungen des Herrn Dr. Steiner darüber klar sein, daß diese Emanzipation des Wirtschaftslebens nur dann für die Gesundung des sozialen Organismus eine Bedeutung haben kann, wenn zugleich aus dem Einheits­staate heraus gelöst wird der geistige Organismus, das geistige Glied des sozialen Organismus. Hierzu sind die starken Impulse notwendig, die in jeder einzelnen Menschenseele lebendig sein sollten als die Impulse der Freiheit. Diese Impulse sind notwendig zur eigensten Initiative, daß das Geistesleben auf seine eigenen Füße ge­stellt werden kann. Dazu ist notwendig ein revolutionärer Impuls für das Geistes­leben, zur Sozialisierung des Geisteslebens, daß in Wahrheit alle Kreise teilnehmen können und teilnehmen wollen an dem unbedingt notwendigen völligen Neuaufbau des Geisteslebens. Im Anschluß an dasjenige, was zur Fragebeantwortung des gestrigen Abends über diesen Punkt gesagt worden ist von Herrn Dr. Steiner zur sofortigen Gründung eines Kulturrates, haben wir uns erlaubt, Ihnen dieses Flugblatt vorzu­legen. Es ist von gestern auf heute entstanden, und ich will nur in wenigen Worten zusammenfassen, was eben der Impuls des gestrigen Abends war. Sie finden an dem Flugblatt eine Beitrittserklärung, und wir rechnen damit auf Persönlichkeiten, die in eigener Initiative den Willen entwicheln, eine Neubegründung des Geisteslebens in Angriff zu nehmen. Wir bitten, von dieser Beitrittserklärung Gebrauch zu machen und den Abriß, auf dem Name, Beruf, Wohnung und Art der Mitarbeit angegeben werden sollen, denjenigen Persönlichkeiten zu übergeben, die im Laufe des heutigen

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Abends, letzten Endes aber am Saalausgange bereit sein werden, diese Beitrittserklä­rungen entgegenzunehmen. Gestatten Sie mir, noch darauf hinzuweisen, daß auf der Rüdtseite der heutigen Eintrittskarte eine Erklärung steht zu den Vorschlägen des Herrn Dr. Steiner, und daß insbesondere die Mitarbeit und die Werbearbeit für die Dreigliederung aufgenommen werden möge. Wir bitten, auch von diesen Karten Ge­brauch zu machen, insbesondere von seiten solcher Persönlichkeiten, die noch nicht den Entschluß fassen konnten, dem Bunde für Dreigliederung des sozialen Organis-mus beizutreten. Ich werde mir erlauben, zum Schlusse des heutigen Abends noch einmal darauf hinzuweisen, daß die Karte sowohl wie der Abriß des Aufrufs am Ausgang abgegeben werden können.

Nun darf ich wohl Herrn Dr. Steiner, den Redner des heutigen Abends, bitten, das Wort zu nehmen.

DR. STEINER: Meine sehr verehrten Anwesenden! Wenn man heute so redet, wie es aus jener Gesinnung heraus gestisehen muß, die zu­grunde lag und liegt dem Impuls zur Dreigliederung des sozialen Or­ganismus, dann weiß man, weil man mit warmer Seele verfolgt haben muß die Ereignisse der Gegenwart, daß man in den Sturm hinein redet. Wenn auth dieser Sturm heute für viele Menschen noth unwahrnehm-bar ist, dieser Sturm ist dennoch da; und es darf in einem gewissen Sinne mit großer Verwunderung erfüllen, wenn, wie es geschehen ist, aus der Unbewußtheit über diesen Sturm heraus dann die Antwort ertönt, man habe es zu tun mit einer Ideologie, mit einer Utopie. Aus den Zeitereignissen heraus wird dasjenige geholt sein, was sich am heutigen Abend befassen will mit der Zurückweisung dieses Gedan­kens, daß man es beim Impuls für den dreigliedrigen sozialen Orga­nismus mit unpraktischem Idealismus, mit Utopie oder aber mit irgend­einer Ideologie zu tun habe.

Da dieser Aufruf, wie ja selbstverständlich ist, zunächst von einer persönlichen Erfahrung her kommt, so werden Sie verzeihen, wenn das Erstaunen, in das man geraten kann gegenüber dem Vorwurf der Ideologie und der Utopie, zu einer ganz kurzen einleitenden Betrach­tung führt, welche vielleicht persönlich befunden werden kann. Allein, es ist doch nur allzu wahr, daß heute alles Persönliche, das sich nicht darauf beschränkt, sich in sich selber einzukapseln, das versteht, mit der Menschheit zu leben, durch den Ernst der Zeitereignisse zugleich ein sehr Allgemein-Menschliches sein kann und vielleicht gerade sym­ptomatisch sein kann für das Allgemein-Menschliche in der heute so

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ernsten Gegenwart und gegenüber der zweifellos noch viel ernsteren Zukunft.

Zuerst war es im Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kultur­welt», wo in der Art, wie es jetzt gemeint ist vom Bund für soziale Dreigliederung, von dieser sozialen Dreigliederung gesprochen wurde, und dann in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft». - Diese Dinge, sie sind nicht ohne Grund durch einen Mann angeregt, der sie erst anregen wollte und anregen konnte am Ende seines sechsten Lebensjahrzehnts. Sie sind durchaus nicht aus irgendwelchen ausgedach­ten oder ausgeklügelten Forderungen heraus entstanden. Sie sind her­aus entstanden aus dem vollen Leben und seiner Beobachtung, und sie wären vielleicht auch heute noch nicht vor die Öffentlichkeit getreten, wenn derjenige, der sie der Öffenthchkeit vorgeführt hat, nicht aus den Zeitereignissen heraus zu der Überzeugung gekommen wäre, es geschieht heute in dieser ernsten Zeit so viel Unpraktisches, es dringt in die Menschenköpfe so viel Ideologisches und Utopistisches ein, daß derjenige, welcher dem etwas Praktisches entgegenzusetzen hat, einfach die heilige Verpflichtung hat, von dieser Lebenspraxis zu sprechen. Und doch - das Echo tönt: Utopie, Ideologie, unpraktischer Idealismus!

Also, verzeihen Sie ein paar persönliche Bemerkungen zur Einleitung. Nicht habe ich aus irgendeinem persönlichen Reiz heraus den Drang gefühlt, mit dieser Sache aufzutreten, nachdem ich mich jahrzehntelang bemüht hatte, auf dem einen Gebiet, das in Betracht kommt, dem gei­stigen, was von mir geschehen konnte, zu tun, um dieses eine Gebiet, nachdem es meiner Meinung nach von unserer Zeitkultur auf den Kopf gestellt worden ist, wiederum auf die Beine zu stellen. Nachdem ich mich bemüht hatte, in dem, was ich Geisteswissenschaft nenne, durch Jahrzehnte hindurch zu arbeiten, bin ich wahrhaftig nicht aus persön­lichem Reiz heraus zu einer Erweiterung über die beiden anderen Ge­biete gedrungen, sondern aus der Notwendigkeit heraus, welche die heutige Zeit dem Menschen auferlegt. Das stand drohend als die große Kultursorge vor Jahrzehnten vor mir, daß unser Geistesleben, wäh­rend es auf der einen Seite gerade durch seine besondere Art auf dem Gebiete der Naturwissenschaft die größten Triumphe feiern mußte,

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nicht fähig ist, das wirkliche menschliche Leben zu ergreifen, dieses Leben, das über das hinausgeht, was allein aus der Natur heraus wächst. Daß dieses Geistesleben daher auch unfähig bleiben müsse - das stand als eine drohende Kultursorge vor meinem Geistesauge - für die Er­fassung des großen sozialen Problems, das der Menschheit gerade in der Gegenwart auferlegt ist. Denn das soziale Problem ist letzten Endes ein geistiges. Niemand ist imstande, es in seiner Wahrheit zu erfassen, der es nicht aus dem Geiste heraus erfassen kann. Da, im Erfassen des Geistigen, fühlte ich zunächst meine Heimat, die Heimat, in der ich auch nicht gehört wurde in einer solchen Weise, wie ich gern gehört worden wäre, so daß übergegangen wäre das, was bloßes Wort war, in die Tat, in die Umgestaltung jenes Geisteslebens, das nicht mehr fähig war, das menschliche Leben wirklich zu durchdringen. Dennoch, ich wäre gern auf diesem Boden stehen geblieben, wenn nicht aus den Er­eignissen der letzten Jahre diejenigen Dinge herausgewachsen wären, die so sehr gezeigt haben, wie die Menschheit Utopien und Ideologien nachjagt und nicht dazu kommt, das allernächste Praktische anders als aus grauer Theorie oder Parteidoktrinen heraus zu fassen.

Mitten im Kriegsgewühl, als ich die Zeit gekommen glaubte, wo man meinen durfte, die Menschheit beginne jetzt einzusehen, daß eine weitere Fortsetzung der kriegerischen Ereignisse Ost- und Mitteleuropa in den Ruin hineinführen müsse, da zeichnete ich zum er&ten Male auf, was jetzt herausgekommen ist als der Entwurf für einen Plan des dreigegliederten sozialen Organismus. Denn ich sah während dieser kriegerischen Ereignisse heraufkommen eine furchtbare Utopie, eine Utopie, welche leider durch die besonderen Verhältnisse der Zeit sehr real wirkte. Sie konnte sehr real wirken, weil sie zwei Eigenschaften hatte. Sie war in alledem, was ihren Inhalt bildet, eine reine Utopie, und sie war durch die Begleitumstände etwas, was aus dem Interesse von Menschengruppen heraus in die Welt gesetzt wurde und was ge­eignet war, die Menschen, die sich für praktisch halten, dabei aber allen möglichen Utopien nachlaufen -, diese Menschen darüber hinwegzu­täuschen, wie aus bloßen und in diesem Falle sogar wirtschaftlichen menschlichen Interessen heraus diese Utopie entstanden ist. Sehen konnte man, wie diese Utopie aufstieg an dem Kulturhorizont der

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Gegenwart. Sehen konnte man, wie diese Utopie in der westlichen Welt nicht nur so wirkte auf die Menschen, daß sie diese Menschen in Stimmungen versetzte, sondern wie diese Utopie - weil sie zusammen­traf mit recht realen Interessen, die aber nicht in ihr, in ihrem Inhalt zum Ausdruck kamen -, wie diese Utopie auch Heere auf die Beine bringen konnte und Schiffe über die Meere trieb. Und immer größer und größer wurde in westlichen Ländern die Anhängerschaft für diese Utopie.

Diese Utopie nahm zuletzt die Gestalt der sogenannten «Vierzehn Punkte» des Woodrow Wilson an. In Deutschland hatte es damals kei­nen Zweck, in der Schweiz, wo es während des Krieges notwendig war, nach dieser Richtung hin die Wahrheit zu sprechen, habe ich immer wieder auf der einen Seite den utopistischen Charakter und auf der anderen Seite den aus rein westlichen Wirtschaftsverhältnissen hervor­gehenden wirtschaftlichen Charakter dieses sogenannten Wilson-Pro­gramms hervorgehoben. Diese Utopie hat so stark gewirkt, daß im Herbst 1918 nicht nur auf der Seite der Entente die Anhängerschaft für diese Utopie umfassend war, sondern daß zu der militärischen deutschen Kapitulation die Kapitulation des Geistes, die Kapitulation vor der Wilsonschen Utopie durch den Mann hinzugefügt worden ist, auf den wie auf eine letzte Hoffnung das deutsche Volk in seinen Schicksalstagen hingeblickt hat. Als diese Weltutopie noch nicht zu den sogenannten «Vierzehn Punkten» geformt, sondern erst im Aufgehen begriffen war, da versuchte ich niederzuschreiben, was als mitteleuro­päische Wirklichkeit hätte entgegengesetzt werden müssen dieser Welt­utopie. Bei niemand von denen, die die Sache hätten hören müssen, konnte man Verständnis finden für das, was durch seinen praktischen Charakter eine Weltutopie bekämpfen sollte.

Damals fand man es zum Beispiel sehr praktisch, in die Welt hinaus­zurufen das Wort: Herrschen muß unter den Menschen Macht und Recht. Das sind Staatsmänner, welche es nur bis zu den grauen Defi­nitionen von «Macht» und «Recht» bringen, die aber nicht dahin kom­men können, etwas Konkretes, etwas Wirkliches auch wirklich anzu­fassen. Nimmer kommen wir aus Wirrnis und Chaos heraus, ehe wir nicht fähig werden, etwas wirklich Praktisches praktisch anzufassen.

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Ich sagte, ich wollte nicht und konnte gewissermaßen auch nicht vor dem Ablauf meines sechsten Lebensjahrzehnts diese Sache vor die Öffentlichkeit bringen. Denn diese Sache blickt zurück auf das, was ich selbst erlebt hatte als Proletarierkind unter Proletariern, wo mir klar wurde, was aus den Seelen und aus der Resonanz der Wirtschafts-erfahrungen und Wirtschaftserlebnisse des heutigen, das heißt des da­maligen Proletariertums in den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts herauftönte. Ich lernte das, was man heute Klassenkämpfe nennt, dadurch kennen, daß mir das Schicksal reichlich Gelegenheit gab, die Klassen selbst kennenzulernen. Ich lernte kennen das Proletariertum als Mitglied dieses Proletariertums. Ich lernte spä­ter alle Regungen des Bürgertums kennen mit seiner Kurzsichtigkeit gegenüber den wirklichen praktischen Forderungen der Zeit, mit seiner Eingeschnürtheit in seine besonderen Verhältnisse, mit seiner Uninter­essiertheit an all demjenigen, was über diese besonderen Verhältnisse hinausgeht. Ich lernte auch diejenige Klasse von Menschen aus unmittel­barem Lebensverkehr kennen, die heute die hohe Politik macht, und auf diese Weise stellte sich mir vor das Seelenauge, was in der Zeit lebt: der Kampf zwischen den einzelnen Menschenklassen. Nahege-treten sind mir Bedürfnisse, Erfahrungen und Lebensschicksale all der­jenigen Klassen, von denen heute gesprochen werden muß, weil die große Abrechnung mit Bezug auf die Klassenunterschiede beginnt. Fern bleiben mußte mir durch die Verhältnisse nur eins. Das ist mir auch gründlich ferngeblieben. Fern bleiben mußte mir durch die Ver­hältnisse jede Mitarbeiterschaft mit irgend einer einzelnen Partei. Nie­mals gehörte ich in meinem Leben irgend einer Partei an. Mit unzäh­ligen Parteimännern habe ich verkehrt, unzählige Parteischablonen und Parteimeinungen lernte ich kennen. Niemals gehörte ich einer Par­tei an. In Österreich, wo ich meine Jugend zubrachte, konnte ich weder wählen noch gewählt werden, aus dem einfachen Grunde, weil dazumal solche Menschen nicht wählen durften und nicht gewählt werden konn­ten, die nicht ein bis zu einer gewissen Höhe gehendes jährliches Ein­kommen hatten. Später war ich niemals an einem Orte, wo mir die Möglichkeit gegeben worden wäre, an die Wahlurne heranzutreten, aus dem einfachen Grunde, weil ich bei meinem Durchgehen durch

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zwei andere Länder niemals in diesen Ländern heimatberechtigt ge­worden bin.

Parteiverhälmisse, Parteischablonen wirken nicht mit in demjeni­gen, was heute als der Impuls für den dreigliedrigen sozialen Orga­nismus vor die Welt tritt. Das allein wirkt mit, was man sich in einem Leben, das man dazu benützt hat, aneignen kann über die Be­dürfnisse, die Forderungen, die sonstigen Verhältnisse aller in den ver­schiedenen Klassen nebeneinanderstehenden Menschen. Wenn dann aus solchen Untergründen heraus heute ein praktischer Lebensweg ge­zeichnet wird, dann hört man diesem praktischen Lebenswege gegen­über, er sei eine Utopie, er sei eine Ideologie. Für mich ist dies ein Kultursymptom, daß heute gerade das, was alles Utopistische bekämpft, für eine Utopie gehalten werden kann von den mancherlei Utopisten, die in Parteien oder an sonstigen Stellen der Menschheit stehen. Ich darf sagen, von den Bedürfnissen des Gewürzkrämers, von den Be­dürfnissen des Tagelöhners an bis zu den Bedürfnissen derjenigen hin, die als Großkapitalisten, derjenigen, die, es gibt solche Leute auch, als Diplomaten in den letzten Jahrzehnten an den Weitgeschicken Anteil gehabt haben, ist alles eingeflossen in dasjenige, was in dem Aufruf selbstverständlich zunächst in ein paar Sätze zusammengefaßt werden mußte. Eingeflossen ist auch das, was von den Erfahrungen des Volks-schullehrers bis hinauf zu den Erfahrungen des dem Hochschulwesen Angehörigen heute in die Lebenspraxis einfließen kann. Dadurch allein scheint und schien es mir möglich, einen Ausgangspunkt zu gewinnen für das, was uns heute als die große soziale Aufgabe der Gegenwart gestellt ist.

Diese soziale Aufgabe der Gegenwart, worin drückt sie sich denn aus? In dem, was in sein kleines Handbüchlein mit kaum abschleifen-dem Stift der Gewürzkrämer einzeichnet als seine Einnahmen und Ausgaben bis hinauf zu demjenigen, was als geistiger Impuls einfließen soll, um der Menschheit eine Richtung und ein Ziel zu geben. In alle­dem liegen heute große, umfassende Aufgaben, ohne deren Berücksich­tigung nichts angefaßt werden kann vom Kleinsten bis zum Größten hin in bezug auf das, was uns als soziale Aufgabe obliegt.

Ich sprach vorhin von, ja, nennen Sie es Umwälzung, nennen Sie es

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Reform des Geisteswesens. Das betrachtete ich als meine eigentliche Heimat, und ich sagte: Da stand mir als eine große Kultursorge vor Augen, daß dieses Geistesleben, wie es sich reaktionär und konservativ in unsere Zeit hineingeschlichen hat, geeignet ist, große Naturerkennt­nisse zu begründen, daß es aber ganz unfruchtbar bleiben muß für eine wirkliche Erfassung des sozialen Wesens, für eine wirkliche Erzeugung eines sozialen Wollens. Das ist heute, man möchte sagen, mit Händen zu greifen.

Schauen wir hin, was erzeugt worden ist durch das Unvermögen, die Geisteskraft auszudehnen auf das soziale Wollen. Als in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, in denen die Menschheit angefangen hat, aus früher instinktiven patriarchalischen Zuständen herausgehend, nachzudenken über Volkswirtschaft, da kamen zuerst allerlei Anschau­ungen herauf, wie man die Volkswirtschaft gestalten müsse, Anschau­ungen, über die ich Ihnen heute nicht zu sprechen habe, die auch über­holt sind. Sie liefen aber zuletzt aus in dasjenige, was auf der einen Seite aus dem Geist und der Gesinnung der Universitätswissenschaft heraus zur Volkswirtschaftslehre sich gestaltet hat, was aber nichts an­deres ist, als der Niederschlag bürgerlicher Anschauungen über die Volkswirtschaft. Und sie kristallisierten sich auf der anderen Seite zu dem, was am klarsten, am stärksten, am umfassendsten in dem Mar­xismus zum Ausdruck gekommen ist, in der sozialen Anschauung von Karl Marx> was aber nichts anderes ist als das Spiegelbild derjenigen Impulse, aus denen heraus das Proletariat Volkswirtschaft getrieben wissen will.

Was sind die charakteristischen Züge dieser beiden Strömungen? Weisen wir auf sie hin, so weisen wir zu gleicher Zeit auf dasjenige hin, was in der Gegenwart nicht praktisch, sondern das Gegenteil aller Praxis, was Ideologie ist. Die Universitätswissenschaft, sie hat es zu­letzt zu nichts anderem gebracht als dazu, überhaupt alles soziale Wollen großen Stils wie etwas Unmögliches anzuschauen, und kleine sozialreformatorische Maßnahmen für große Taten zu halten. Im üb­rigen hat sich diese Universitäts-Nationalökonomie für impotent er­klärt, irgend etwas anderes zu tun als das, was schon in der Volkswirt­schaft spielt, zu registrieren oder, wie man auch sagen kann, um sich in

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der Sprache dieser Wissenschaft selber auszudrücken, historisch und statistisch zu erfassen. Durch diese historische und statistische Erfas­sung kam nichts anderes heraus als eine vollständige Lähmung alles sozialen Wollens. Man nahm, was in der Gesellschaft lebt, historisch auf, das heißt man verzeichnete, was geschah. Man nahm es statistisch auf, das heißt registrierte Zahlen über das, was geschieht, und tötete damit jeden Impuls für irgendein soziales Wollen, so daß alles soziale Wollen in der Praxis in Kleinlichkeiten sich erschöpfte. Was aber das Leben wirklich brachte, das war leer von allem wirklichen Willens-impuls, während die Zeit schon lange die großen sozialen Aufgaben stellte. Und dieses wirklich vom Leben Gebrachte mündete, weil es dahinströmte in Gedanken- und Willenlosigkeit, zuletzt in die Welt-katastrophe ein, die das große Ad-absurdum-Führen dieses sozialen Nichtwollens ist. Auf der anderen Seite wandte sich das in die Tech­nik, in die Fabrik, in den seelenverödenden Kapitalismus eingespannte Proletariat begeistert zum Marxismus, denn es sah in diesem die glän­zendste, die großartigste Kritik, die es selber in seinem Herzen fühlte gegen diejenige Gesellschaftsordnung, welche es bekämpfen mußte, weil ihm diese Gesellschaftsordnung keinen Anteil gab an ihren mate­riellen und geistigen Gütern.

Dieser Marxismus, großartig, gewaltig als Gesellschaftskritik, was ist sein Lebensnerv? Sein Lebensnerv ist: Die Entwickelung geht von selbst. Nach und nach haben sich in neuerer Zeit die Wirtschaftsformen so gestaltet, daß die Produktionsmittel nach und nach übergegangen sind an Trusts oder sonstige Genossenschaften. Das ist der Weg, auf dem das Proletariat expropriiert worden ist, das ist aber auch der Weg, auf dem ganz von selbst geschehen muß die Expropriation der Expro­priateure. Was auch die Menschen zur Förderung tun mögen, die Ent­wickelung muß von selbst gehen. - Das unpraktischste Bekenntnis war damit ausgesprochen, das Bekenntnis, daß die Entwickelung von selber gehen müsse, daß der Mensch eingespannt sei in das Rad der Geschichte, daß er abwarten muß, bis die geschichtlichen wirtschaftlichen Kräfte durch ihre vom Menschen abgesonderte Objektivität von selbst her­vorbringen, was dann den weitesten Kreisen des Proletariats zum Heile werden sollte.

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Da kam die Weltkatastrophe. Sie zeigte, alles Gerede von Selbst-entwickelung ist nur entsprungen aus der Lähmung des menschlichen Willens. Der Proletarierwille, der eingespannt war in die Fabrik, ein­gespannt war in den seelenverödenden Kapitalismus, war durch diese Einspannung zugleich gelähmt, er mutete sich nicht zu, Weltgestaltung herbeizuführen, er legte sich das Bekenntnis ab: Auch uns muß Heil werden, wir können es nicht herbeiführen. - Damit tröstete er sich, mit dem Glaubensbekenntnis: Es wird uns durch die objektive Entwicke­lung dieses Heil herbeigeführt. -Das ist die Lebensunpraxis und das große Glaubensbekenntnis der breitesten Proletariermassen. Die große Welt-katastrophe aber zeigte, daß nun plötzlich, was man geglaubt hatte, die Zusammenschoppung der Produktionsmittel nicht zu dem führte, was man von der Entwickelung erwartete, sondern daß sie den Prole­tarier selbst als Menschen auf die Beine stellte und an ihn die Forde­rung richtete: Jetzt handle! Und dieses: Jetzt handle! Handle mensch­lich aus deinem sozialen Wollen heraus! - das hängt heute als eine weithin leuchtende Tafel vor dem Proletariat.

Wenn man nicht schlafend durchs Leben ging und wenn man nicht Theoretiker war, der zu den Sätzen, die ihm entgegentreten in irgend­einer Weltanschauung, ja oder nein sagt, sondern der das, was die Menschen sagen, was die Menschen denken, als Ausflüsse eines viel Tieferen nimmt, als Symptom für die Ereignisse, die tief im Innern der Sache vor sich gehen, dann konnte man sich sagen, die Menschen segeln hinein in die Verachtung der Praxis, in die Lähmung des praktischen Wollens. In dieser Stimmung sind die großen Fragen heraufgezogen, die heute nur beantwortet werden können, wenn Lebenspraxis in die Unpraxis einzuziehen sich bequemt. In allen unseren Lebensverhält­nissen liegt drinnen ein unnatürliches Durcheinanderfügen von Rechten, von Arbeit und von dem, was zugrunde liegen muß dem Rufe nach sozialer Gestaltung in seiner wahren Form. In dem, was heute bekämpft wird, liegt nämlich noch viel mehr als dasjenige, was sich die zum Be­wußtsein bringen, welche den Kampf aufführen. Ja, an jedem Punkt in dem Geschehen unserer so ernsten Zeit merkt man das Hereinspielen des Unpraktischen. Der Ruf nach Sozialisierung durchzieht die weite­sten Reihen des Proletariats, er drückt sich in ganz bestimmten Impulsen

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aus, er drückt sich in der unmittelbaren Tagesforderung nach Betriebs­räten aus.

Sollen die Betriebsräte eine Tätigkeit entfalten in dem Zeitalter der Sozialisierung, so wie sie gefordert wird in Wahrheit, wie das Zeit-bewußtsein sie, wenn auch noch vielfach unbewußt, durch die weite­sten Kreise des Proletariats fordert, da müssen diese Betriebsräte er­wachsen auf dem selbständigen Boden des Wirtschaftslebens, das von allem übrigen, was politisches, was geistiges Leben ist, in seiner inner­lichen Struktur abgetrennt ist. Mit dem, was damit eigentlich gesagt ist, daß die Betriebsräteschaft aufsteigen muß durch freie Wahl der am Wirtschaftsleben beteiligten Personen, damit sie sich Konstitutionen für die Zukunft des Wirtschaftslebens geben kann, mit dem Wesen dessen, was aus tiefen unterbewußten Seelengründen heraufzieht und nach Taten sucht -, mit dem sind diejenigen, welche heute sich Lebens-praktiker nennen, so unbekannt, daß ein Gesetz projektiert ist über die Betriebsräte, welches in allen seinen einzelnen Punkten das Gegen­teil von dem trifft, was die Betriebsräte werden sollen, welches in allen seinen einzelnen Punkten hervorgeht aus dem Glauben, daß man nicht einer neuen Zukunft entgegengehen solle, sondern daß man konser­vieren könne, was innerlich schon abgestorben ist. Es gibt kein deut­licheres Symptom für die Unpraxis und das Utopistische unserer Zeit als die Erscheinung dieses lebensfremden Gesetzentwurfs. Ist es da nicht an der Zeit, daß selbst diejenigen, die sonst anderswo ihre geistige Heimat gefunden haben, aus ihrer Pflicht heraus sprechen müssen, weil sie sehen, wieviel Utopistisches die Zeit durchsetzt, wie unendlich ent­fernt diese an Lebensroutine so reiche Zeit von aller wirklichen Lebens-praxis ist?

Wir haben in unserer Zeit, bunt durcheinandergewürfelt, Impulse, die noch aus urältester Zeit herstammen, aus derjenigen Zeit, wo Völ­kermassen über Völkermassen hereingebrochen sind und Herrschaften aufgebaut haben, den Boden erobert haben und auf Grundlage der Eroberung des Bodens Bodenrechte gegründet haben, deren weitere Folge dann alles übrige Recht geworden ist. Wir haben in unseren Rechtsbegriffen und Rechtsimpulsen die urältesten, an die Eroberung des Bodens noch sich anschließenden Vorstellungen, Satzungen und Gesetze.

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«Von dem Rechte, das mit dir geboren ist», von dem ist auf vie­len Gebieten leider noch immer nicht die Frage. Diese Zeit hat vieles bei uns zurückgelassen; sie hat alles das zurückgelassen, was sich in der Volkswirtschaft an den Boden knüpft. Zu ihr ist später die Zeit des Industrialismus gekommen, sie hat zu dem geführt, was heute von den weitesten Kreisen so scharf bekämpft wird, zu dem Kapitalismus.

Was heißt Kapitalismus? Kapitalismus heißt nichts anderes, als der Privatbesitz an Produktionsmitteln. Und so stehen sich gegenüber - es zeigt sich dies, wenn man die Volkswirtschaft der ganzen zivilisierten Erde zu überschauen bemüht ist -, so stehen sich gegenüber auf der einen Seite diejenigen Verhältnisse, die aufsteigen aus der Verwertung des Bodens im Sinne menschlicher Volkswirtschaft, und die aufsteigen aus dem Besitze der Produktionsmittel und ihrer Verwertung im Sinne dieser Volkswirtschaft. Das sehen die wenigsten Menschen ein, daß bis ins kleinste, bis in die fünf Pfennig hinein, die ich aus meinem Porte­monnaie entnehme, um mir irgend etwas Geringfügiges zu kaufen, der volkswirtschaftliche Kampf spielt zwischen Bodenverhältnissen und Produktionsmittelverhältnissen. Unsere ganze Volkswirtschaft ist ein fortwährendes Suchen nach Ausgleich zwischen den Bodenverhältnissen und den Produktionsmittelverhältnissen. Da hinein sind wir gezwängt als Menschen der neueren Zeit mit unserem ganzen Lebensschicksal auf allen Lebensgebieten. Was dabei herausgekommen ist, als aus den alten aristokratischen Gesellschaftsstrukturen die bürgerlichen Gesellschafts­strukturen sich ergeben haben, das kann man damit bezeichnen, daß durch diese bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen der heutige Markt ent­standen ist, auf dem Angebot und Nachfrage in anarchischer Weise herrschen. Auf dem Markt erscheint das Kapital, das heute von Hand zu Hand geht, von Gesellschaft zu Gesellschaft. Unter dem Prinzip von Angebot und Nachfrage wirkt menschliche Arbeitskraft, die im Lohn-verhältnis steht, und zirkulieren eigentliche Güter, Leistungen der Menschen.

Dreierlei ist auf den Markt geworfen worden durch die bürgerliche Gesellschaftsordnung: Kapital, Lohn und Leistung, und unter dem Ein­fluß dieser bürgerlichen Gesellschaftsordnung ist das Kapital zu dem Ersatzmittel für etwas geworden, was früher unter der alten aristokratischen

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Weltordnung scheinbar etwas ganz anderes war. Unter der alten aristokratischen Weltordnung, die auf der Eroberung des Bodens be­ruhte, war alles dasjenige, was an Leistungen unter den Menschen aus­getauscht wurde, in die Rechtssphäre gerückt. Abgaben hatte man zu leisten an den Gutsherrn; zurückbehalten durfte man als Arbeiter soundsoviel. Das alles war in die Rechtssphäre gerückt. Ein Recht hatte man, soundsoviel selbst zu verzehren, eine Pflicht hatte man, weil der andere das Recht hatte, soundsoviel von dem zu verzehren, was man hervorbrachte in seinem Dienste. Recht regelte in der alten aristokrati­schen Ordnung, das heißt Vorrecht, Klassenrecht regelte, was mensch­liche Bedürfnisse waren. Vieles von dem tönt im Nachklang in unsere Zeit herein und schwingt fort bis zu dem Zehnpfennigstück, das ich aus dem Portemonnaie nehme, um mir irgend etwas zu kaufen. Und in dieses Getön tönt das andere hinein, was an die Stelle dieser alten Rechtsordnung getreten ist. Es tönt hinein, was Kapital, Menschen­arbeit und Leistung zur Ware machte, geregelt durch Angebot und Nachfrage, sich selbst regelnd dadurch nach der Rentabilität, nach der wüsten Konkurrenz, nach dem blindesten menschlichen Egoismus, unter dessen Einfluß jeder so viel erwerben will, als er aus der gesellschaft­lichen Ordnung herauspressen kann. Und so trat an die Stelle der alten Rechte das, was sich abspielte durch die wirtschaftliche Macht und den wirtschaftlichen Zwang. An die Stelle der Bevorrechteten und der recht­lich Benachteiligten des alten patriarchalischen Herrschafts- und Die­nerverhältnisses trat das wirtschaftliche Verhältnis des Bürgertums, sich gründend auf den Konkurrenzkampf, auf die Rentabilität, auf das wirtschaftliche Zwangsverhältnis zwischen Kapital und Lohn, in wel­ches Verhältnis eingezwängt ist der Warenaustausch, eingezwängt ist alle Preisgestaltung, die abhängig ist von dem egoistischen Kapital-und Lohnkampf. Und heute will sich herausgestalten - das ist das Praktischste, das zu sehen -, wie mehr oder weniger unbewußt, aber in vielen Kreisen heute schon bewußt sich eine neue Gesellschaftsord­nung bilden will, die gegründet sein soll nicht mehr auf das Zwangs-verhältnis, nicht mehr auf das wirtschaftliche Zwangsverhältnis, die gegründet sein soll auf Leistung und Gegenleistung in ihrem gerechten Austausch, die gegründet sein soll in dieser Beziehung auf wahre unegoistische

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soziale Denkweise innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Und nur derjenige ist heute ein praktischer Mensch, nur derjenige arbeitet nicht entgegen dem, was doch kommen muß, der vernimmt, wie aus allen Tiefen der Menschenseele herauf der Ruf ertönt: An die Stelle der alten Vorrechte, an die Stelle des alten Kapital- und Lohn-systems muß das Leistungssystem treten.

Wie viele Menschen verstehen heute schon alle Konsequenzen dieses großen, nicht durch menschliche Willkür heraufbeschworenen, son­dern aus der geschichtlichen Entwickelung selber aufquellenden neuen Lebensimpulses, der sich ein so blutiges Vorspiel gegeben hat in dem furchtbaren Weltkriege? Noch immer kann man selbst von sozialistisch Denkenden, die mit allen Fasern ihres Wollens den Kapitalismus be­kämpfen möchten, davon sprechen hören - das ist ein deutliches Sym­ptom unserer Zeit -, der Arbeiter müsse seinen gerechten Lohn erhal­ten, darin werde die Bekämpfung des Kapitalismus bestehen. Derjenige, der in die Verhältnisse hineinsieht, der weiß, daß es so lange Kapital geben wird, solange es Lohn geben wird. Denn in der wirklichen Welt stehen immer zwei Gegensätze nebeneinander: ein Nordpol und ein Südpol, ein Nordmagnetismus und ein Südmagnetismus; Positives hat Negatives, Kapital hat Lohn in seinem Gefolge, und wer in den volkswirtschaftlichen Betrieb der Gegenwart hineinsieht, der weiß, wie die Frage beantwortet werden muß: Woher wird der Lohn bezahlt?

Der Lohn wird aus dem Kapital bezahlt, und es muß so lange Kapital geben, als Lohn aus dem Kapital bezahlt werden muß. Antikapitalis­mus hat nur einen Sinn, wenn man zu gleicher Zeit weiß, daß mit dem Kapital das Lohnsystem selber verschwinden muß, daß eintreten muß die freie Vergeselischaftung des Handarbeiters und des Geistesarbeiters in der nicht kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Eine freie Vergesell­schaftung, durch die der Handarbeiter der freie Kompagnon ist des Geistesarbeiters, der nicht mehr Kapitalist ist, vertilgt den Lohnbegriff, das Lohnverhältnis, und mit dem Lohnverhältnis das Kapitalverhält­nis. Daher kann nur über den Kapitalismus so gesprochen werden, wie es geschehen ist vom Standpunkte der sozialen Forderungen der Ge­genwart, die besprochen sind in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft».

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Es muß ausgegangen werden von der großen Wahrheit, wie wir drinnenstehen in dem gegenseitigen Kampfe der Bodenrechte und der Produktionsmittelrechte. Und es muß gezeigt werden, daß für unsere künftige wirtschaftliche Ordnung der Boden nichts anderes ist als ein Produktionsmittel, daß das Produktionsmittel nur so lange Arbeitswert in sich aufnehmen darf, bis es fertig ist, daß es von da an in niemandes Besitz ist, daß von da an niemand ein eigentliches Erb­recht darauf hat, daß es von da an in die Zirkulation der Gesellschaft übergeht, wie ich das in meinem Buche beschrieben habe. Dann kommt man auch unmittelbar darauf, daß der Boden von Anfang an in diesem Verhältnis ist, daß alle Hypothekarisierung des Bodens ein Unding ist, daß Boden und fertiges Produktionsmittel keine Waren sind, son­dern auf einem anderen Wege als durch Eintausch gegen Waren von Mensch zu Mensch übergehen müssen. Das ergibt sich unmittelbar aus der Lebenspraxis der Gegenwart heraus.

Daß es sich aus der Lebenspraxis der Gegenwart heraus ergibt, ist auch ersichtlich aus dem folgenden Grunde. Derjenige sieht heute nicht mit praktischem Auge in das Leben hinein, der dieses Leben nur nach Schablonen, nach Parteibegriffen oder nach abstrakten Gedanken zu erfassen vermag. In der Gegenwart sind wir in die Zeit eingerückt, wo der Mensch in einem ganz anderen Sinne noch, als das jemals in einer früheren Zeit der Fall war, zur Selbstbewußtheit erwacht. Nur die Abgeneigtheit gegen Seelenbeob achtung kann die Menschen heute blind machen dafür, daß wir seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts in bezug auf menschliche Seelenentwickelung in ein ganz neues Zeit­alter eingetreten sind, in das Zeitalter, in dem die Menschenseele im­mer bewußter und bewußter wird. Diejenige Menschenklasse, aus deren unverbrauchtem Gehirn herauftönt der Ruf: Lasset mich als Seele zu meinem vollen Menschenbewußtsein kommen! - das ist, wenn es auch unter mancherlei unsympathischen Symptomen zutage tritt, die Prole­tarierseele. Und der erste Ruf nach dieser Selbstbewußtheit in einem menschenwürdigen Dasein, das ist der: Es darf ferner nicht Kapital über mich durch das Lohnverhältnis eine unberechtigte wirtschaftliche Zwangsmacht ausüben. In dem Lohn sieht der heutige Proletarier das, wogegen er sich zu wenden hat, wenn er aufrücken will zu dem Menschheitsbewußtsein,

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das einfach durch die Zeit gefordert ist, in die wir mit der Gegenwart eintreten. Dieser Zeit ist es auferlegt, die Leistung als solche hineinzustellen in den volkswirtschaftlichen Prozeß. Diese Lei­stung kann nur in diesen Prozeß hineingestellt werden, wenn durch alle anderen Maßnahmen dasjenige wieder losgelöst wird aus diesem volkswirtschaftlichen Prozeß, was sich mit ihm verbunden hat aus den alten aristokratischen und aus den alten bürgerlichen Verhältnissen heraus, wenn herausgehoben werden aus dem Wirtschaftskreislauf das staatliche Recht, die politischen Verhältnisse, herausgehoben wird das Geistesleben, das wahrhaftig lange genug geknechtet war von dem Staat auf der einen und der Wirtschaft auf der anderen Seite. Deshalb ist mit dem Erstreben einer sozialen Ordnung, in der die Leistung ihre gerechte Gegenleistung hervorrufen muß - in der Mensch für Mensch arbeiten muß, nicht bloß Menschen für sich -, verbunden die Gliederung des sozialen Organismus in diejenigen drei Glieder, die miteinander verschmolzen hat dasjenige, was ganz andere Interessen hatte als all­gemeine Menschheitsinteressen, was lediglich Standesinteressen, Klas­seninteressen hatte und nur haben konnte.

Aus den Einzelinteressen ergibt sich dann das, was einem als die Gesamtinteressen in den Weltangelegenheiten entgegentritt. Wer - wie ich im Beginn meiner heutigen Ausführungen, die etwas persönlich ge­färbt waren, bemerkte - sein Leben dazu benützt hat, um unbeeinflußt von der Parteien Meinungen die Lebensforderungen aller Menschen kennenzulernen, dem wurde auch der Blick etwas geschärft für die internationalen Verhältnisse, die aus der Verquickung von Wirtschafts­leben, von Rechts- oder politischem Leben und von geistigem Leben hervorgegangen sind. Wenn man nicht verschlafen hat, was geschehen ist, dann bietet sich so mancherlei dar in diesem Geschehenen als ein sehr deutliches Symptom für die Unmöglichkeit der Verquickung der drei Lebensgebiete auch im internationalen Leben.

Ich erinnere an eins. Wie ist, als aus politischem Leben heraus das Deutsche Reich gegründet worden ist, von Bismarck immer wieder der Satz geprägt worden: Dieses Reich ist politisch saturiert, dieses Reich bedarf keiner Ausdehnung. - Das war zunächst politisch gedacht, das war gedacht aus den politischen Impulsen heraus, aus denen das Reich

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gegründet worden ist. Dann traten, indem die Residuen, der Rest die­ser politischen Denkweise bei den Machthabern zurückgeblieben war, immer mehr sich verquickend mit diesen politischen Verhältnissen, die wirtschaftlichen Verhältnisse hervor und gewannen die Oberhand, so sehr, daß man, wenn man irgendeine maßgebende Persönlichkeit - und ich habe oft die Probe gemacht während dieses Weltkrieges - fragte:

Nach was strebt man in Deutschland aus politischen Untergründen heraus? - darauf keine Antwort bekam. Aber Antworten wurden schon sehr früh von besonderen Wirtschaftsgemeinschaften gegeben, das heißt es wollten Wirtschaftsgemeinschaften über Politisches entscheiden. Sol­che Dinge muß man nur im Sinne einer wirklich praktischen Lebens­auffassung gewahr werden. Seit Jahren spielte - indem sich in einem Knäuel zusammenzogen nationale, das heißt geistig-kulturelle Ver­hältnisse, wirtschaftliche Verhältnisse und politisch-internationale Rechtsverhältnisse - das sogenannte Bagdadbahn-Problem eine ver­hängnisvolle Rolle. Es war mitwirkend unter den Ursachen, welche zu dem Weltbrande geführt haben. Seit Jahren konnte der wirkliche Lebenspraktiker, der wirkliche Beobachter des Lebens sehen, wie in einen Knäuel immer wieder sich verflochten und sich störten wirt­schaftliche, politische, kulturelle Verhältnisse im Bagdadbahn-Problem. Wie sah man heraufziehen, was politisch begann mit den Jungtürken, die sich in Konstantinopel festsetzten, die das politische System des Liberalismus an die Stelle des alten konservativen türkischen Systems setzten.

Da hatten wir zunächst politische Gesichtspunkte. Sie vermisch­ten sich mit rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten in dem Problem der Sandschak-Bahn und in dem Dardanellen-Problem. Dazu kamen die kulturellen Verhältnisse der Slawenfrage, völkisch-kulturelle geistige Verhältnisse. Nichts hatte vorgearbeitet, diese auch im internationalen Leben der neueren Zeit sich verwirrenden Lebensgebiete in eine solche internationale Struktur zu bringen, daß sie sich nicht störten, sondern im Gegenteil ausgleichend aufeinander hätten wirken können. Der­jenige, der von der einzelnen Nationalität ab den Blick mit wirklicher Lebenserfahrung in das Internationale hineinrichtete, der sah die furchtbare Völkerdämmerung Europas aus dieser Verquickung der

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drei Lebensgebiete in allen großen weltpolitischen Fragen der neueren Zeit heraufkommen. Dem legte es sich auf die Seele wie ein Alp: Wann wird man einmal einsehen, daß aus dem Quell wirklicher sozialer Volksdenkweise die Gliederung desjenigen hervorgehen muß, was ungegliedert die Menschheit in Krisen und in Unheil hineinführt? Un­sere Diplomatie war Unpraxis, war Utopie, war Ideologie. Was Wun­der, daß auch von dieser Seite das, was ihr entgegengehalten werden muß, als Utopie, als Ideologie, als bloßer Idealismus angesehen wird! Das hat endlich Verhältnisse heraufgebracht, denen gegenüber man sich in der Gegenwart immer wieder sagt: Wird man sich endlich aufraffen für den Ernst der Zeit, wird man endlich sehen, daß die schlimmste Utopie in der Gegenwart diejenige ist, welche nicht einzusehen vermag, daß es sich um große Abrechnungen und nicht um kleine handelt? Und daß man sündigt wider den Geist dieser Zeit, wenn man von dem aus, was man aus irgendeinem Winkel heraus eben noch versteht, wenn man von diesem Gesichtspunkte aus das, was selbstverständlich appellieren muß an Lebenserfahrung, an den guten Willen zur Lebenserfahrung, wenn man das unpraktisch, wenn man es bloßen Idealismus nennt?

Wann wird man sich dazu aufraffen, in diesem Idealismus endlich die wahre Lebenspraxis zu sehen? Wann wird man sehen wollen, daß es heute darauf ankommt, nicht zu sagen: Das verstehe ich nicht -, sondern aus den Untergründen des Lebens heraus zu emp­finden, wenn irgendwo gesprochen wird nicht aus grauer Theorie, sondern aus der treulichen Beobachtung dieses Lebens selbst heraus? Sonst werden wir es immer wieder zum Unheil der Zeit erfahren, daß sich auf diesem sozialen Gebiete wiederholt, was das Charakteristikon des echten Spießer- und Philistertums ist. Als die erste deutsche Eisen­bahn gebaut werden sollte, da fragte man ein Medizinalkollegium, also praktische Leute, Kommissionen, ob man eine Eisenbahn bauen sollte. Sie aber sagten, man solle keine Eisenbahn bauen, denn wenn die Leute drinnen fahren werden, werde das gesundheitsschädlich sein, oder wenn schon solche Menschen sich fänden, die darinnen fahren wollen, so solle man wenigstens links und rechts von der Eisenbahn eine hohe Bretterwand aufrichten, damit die Menschen, an denen sie vorbeifährt, durch die schnelle Bewegung nicht Gehirnerschütterung

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kriegen. - Auch heute fürchten sich die Menschen vor dem Vorbeisausen der sozialen Bewegung. Sie möchten hohe Bretterwände aufrichten, weil sie sich fürchten, Gehirnerschütterung zu bekommen. Wehe den Schwachen, die solche Bretterwand aufrichten möchten, die sich fürch­ten vor der Wirklichkeit, daß sie ihnen eine Erschütterung des Gehirns bringen könnte. Darum legt es einem die Beobachtung der Zeit immer wieder nahe, so zu sprechen, daß sich dieses Sprechen dessen bewußt ist: Heute spricht man in den Sturm hinein. Mag dieser Sturm auch noch für viele unwahrnehmbar sein, er ist da. Möge er wahrnehmbar werden für eine möglichst große, genügend große Anzahl von Men­schen, bevor es zu spät ist.

Schlußwort nach der Diskussion

VORSITZENDER: Verehrte Anwesende, Sie haben durch Ihren stürmischen Beifall den Dank ausgesprochen für die Ausführungen des verehrten Redners. Ich stelle nunmehr die heutigen Ausführungen, die Frage der Dreigliederung des sozialen Organismus und insbesondere auch den Ihnen übergebenen Aufruf zur Diskussion und bitte, mir die Namen der Diskussionsredner auf Zetteln zu übergeben.

Vielleicht darf ich bemerken, daß die Aufsufe, die heute verteilt worden sind> vom Bund für die Dreigliederung des sozialen Organismu5 verbreitet worden sind. Verantwortlich ist der Bund, der unterzeichnet hat. Ebenso ist es mit dem Aufruf des heutigen Abends.

Es folgten Ausführungen von drei Rednern.

DR. STEINER: Sehr verehrte Anwesende! Ich habe nach alledem, was meine verehrten Diskussionsredner gesprochen haben, ja natürlich am heutigen Abend nicht mehr sehr viel hinzuzufügen. Ich möchte nicht etwa berichtigend, sondern nur damit kein Mißverständnis entstehe, darauf aufmerksam machen, daß ich mit der Kapitulation vor der Wilson-Utopie nichts anderes gemeint habe, als der Diskussionsredner, Herr 5., selbst gesagt hat. Ich habe nur auf das Bedeutsame hin­weisen wollen, und das besteht nach meiner Meinung darin, daß wir in diesem westlichen Vorschlag, dem Inhalte nach, wie ich gesagt habe, eine Utopie vor uns haben. Das Utopistische hat sich ja, wie ich denke, heute schon hinlänglich gezeigt. Eine Utopie ist dasjenige, was schöne Worte und ideal sein sollende Worte hinspricht, für deren Verwirk­lichung

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kein Boden da ist. In diesem Sinne war alles, was in diesen «Vierzehn Punkten» erschienen ist, insofern es ideale Zustände herauf-bringen sollte, utopistisch. Ich meine geradeso wie der verehrte Dis­kussionsredner, daß aber etwas ganz anderes dahintersteht, und ich habe es in meinem Vortrage selbst zum Ausdruck gebracht: Es steht dahinter höchst reales westliches Interesse. So haben wir es zu tun mit einer Utopie, welche in geschickter Weise eine Nichtutopie, ein ganz reales Interesse verdeckt. Und daß man auch in Deutschland im Oktober 1918 dieser Utopie erlegen ist, damit wollte ich ausdrücken, daß man in diesen Tagen geglaubt hat - nun, man hat es doch wohl wenigstens in gewissen Kreisen geglaubt -, daß es sich bei diesen Punk­ten nicht um eine Utopie, sondern um irgend etwas, was als Nicht-utopie genommen werden sollte, handelt. Ich möchte wissen, warum man sich sonst gewissermaßen ausgeliefert hätte dieser Utopie. Jeden­falls hat man nicht gesagt: Wir appellieren an die höchst realen selbst­süchtigen Interessen, die hinter den vierzehn Punkten stehen, und lie­fern uns denen aus, sondern man hat gesagt, man liefert sich den vierzehn Punkten aus, man appelliert an deren Verwirklichung. Also ich meine, in dem, was real zutage getreten ist, ist das wirkliche Kapi­tulieren vor einer wirklichen Utopie durchaus zu verspüren. Daß hinter dieser Utopie etwas ganz anderes gestanden hat, darin bin ich selbst­verständlich mit dem verehrten Diskussionsredner einer gleichen Mei­nung. Auch dasjenige, was ich im Vortrage gesagt habe, stimmt meiner Auffassung nach mit demjenigen, was er selber gesagt hat, vollständig überein.

Wenn ich ein paar Worte sagen soll über die aufgeworfene Frage der Betriebsräte, so weise ich auf die kurze Bemerkung hin, die ich schon in dem Vortrage gemacht habe, daß die Betriebsräteschaft her­vorgehen muß aus dem bloßen Wirtschaftskörper, so daß einfach in den Betrieben aus geistig- und handarbeitenden Persönlichkeiten her­aus, ohne irgendwie durch sonst etwas als durch das bloße im Zu­sammenarbeiten begründete Vertrauen zunächst die Betriebsräte auf die Beine gestellt werden müssen. Dann sind die Betriebsräte da, welche das Vertrauen ihrer Mitarbeiter in den Betrieben haben. Sozialisieren kann man nicht in den einzelnen Betrieben. Darin besteht eben gerade

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das Unpraktische dieses Gesetzentwurfs über die Betriebsräte, der von allem Sozialisieren wahrhaftig weit genug entfernt ist. Das wirklich Praktische wird darin bestehen, daß aus diesen Betriebsräten die zwi­schenbetrieblichen Einrichtungen entstehen, die entstehen müssen da­durch, daß die Betriebsräte, welche gewählt sind aus den einzelnen Betrieben, eine Betriebsräteschaft über ein geschlossenes Wirtschafts­system hin bilden und sich selbst erst in einer Art Urversammlung eine Konstitution geben, außerdem die Richtlinien angeben, wie aus der gemeinsamen sozialen Verwaltung der Betriebsräteschaft dann die ein­zelnen Betriebsräte wiederum in den Betrieben zu wirken haben. Aus den Kräften des Wirtschaftslebens selbst heraus, des auf sich selbst gestellten Wirtschaftslebens, muß hervorgehen, was aus menschlich sozialen Untergründen heraus, nicht aus bürokratischen, lebensfremden Regierungsmaximen heute - nun, man nennt es in der Amtssprache «marschieren» soll, obwohl dieses Marschieren gegenwärtig noch dem alten militärischen Marschieren recht unähnlich sieht, eher einem Zap­peln oder vielleicht einem Sich-Verstecken ähnlich sieht.

Was vorgebracht worden ist auf den verschiedensten Gebieten von den verehrten Diskussionsrednern, veranlaßt mich, nur noch zu dem, was ich gesagt habe, hinzuzufügen, daß wir im Verlaufe der geschicht­lichen Entwickelung der neueren Zeit eingetreten sind in das Zeitalter, das uns die große Aufgabe stellt, Geistiges und Handarbeitliches lei­stende Menschen zusammenzufassen, welche ihre Leistungen so ver­werten können, daß sie sozial zu ihrem Rechte kommen in der ganzen sozialen Gemeinschaft, in der sie drinnenstehen. Dazu ist notwendig, daß wir tiefernst auffassen die große Forderung der Zeit, um wirklich endlich dahin zu kommen, den Menschen aufzurufen zum gegenseitigen Sich-Verständigen von Mensch zu Mensch auf wirtschaftlichem, auf rechtlichem, auf geistigem Gebiete.

Daß diese drei Gebiete der wirklichen Lebenspraxis gegenüber, aus der Trennung am günstigsten wirken, das zeigt sich da, wo heute der Mensch sie aus sehr verschiedenen Quellen her zusammenwirken lassen muß, in der einzelnen Familie. Ja, man denke sich, was aus der heu­tigen einzelnen Familie würde, wenn in ihr chaotisch durcheinander­gewürfelt wäre das rechtliche, das Geistesleben und das Wirtschaftsleben.

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Es bedarf für die Zukunft, ja schon für die Gegenwart das, daß wir imstande sind, dasjenige, was selbstverständlich in der Familie wirkt, auch anzuwenden auf die großen sozialen Verhältnisse. Da ver­wirrt sich uns der Blick, da sehen wir dann den Wald vor lauter Bäu­men nicht: Da wird uns dann vorgeworfen, wenn wir von der Drei­gliederung des sozialen Organismus sprechen, wir wollten diesen sozialen Organismus in drei Teile spalten, während doch alles nur in einer Einheit leben könne. Gerade um die Einheit richtig lebendig zu machen, muß der soziale Organismus auf seine drei richtigen Grund­lagen gestellt werden. Ich will nicht unpraktisch den Gaul zerschnei­den; ich will nur, daß diejenigen zur Besinnung kommen, welche be­haupten, nur der Gaul sei einheitlich, der nicht vier, sondern ein Bein hat. So kommen mir diejenigen vor, welche behaupten, der will den sozialen Organismus in drei Teile zerschneiden, der ihn dreigliedern will. Nein, ich will die Einheit des sozialen Organismus begründen, damit dieser soziale Organismus auf seinen gesunden drei Beinen, dem rechtlichen, dem geistigen, dem wirtschaftlichen stehe. Aber man wird heute schon als Utopist verschrien, wenn man davon redet, daß der Gaul auf vier Beinen steht, und diejenigen gelten heute für die Prak­tiker, die behaupten, ein richtiger Gaul, ein einheitlicher Gaul sei nur derjenige, der auch auf einem Bein steht. Wir haben nötig, heute man­ches, was auf einem Beine steht, auf seine gesunde Zahl von Beinen zu stellen. Ja, wir haben sogar nötig, manches, was auf dem Kopfe steht durch die Utopisten, auf seine richtigen Beine zu stellen.

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DAS SOZIALE IN DEN RECHTS- UND WIRTSCHAFTSEINRICHTUNGEN UND DIE FREIHEIT DES MENSCHENGEISTES Öffentlicher Vortrag, Stuttgart, 16. Juni 1919

In einer Reihe von Vorträgen versuchte ich hier auseinanderzusetzen, inwiefern in der Gegenwart angestrebt werden sollte eine Gliederung des sozialen Organismus in ein Geistesgebiet mit selbständiger Verwal­tung, in ein Rechtsgebiet auf demokratischer Grundlage und in ein selbständiges Wirtschaftsgebiet. Die Idee und die praktische Ausgestal­tung dieser Anschauung über die Dreigliederung des sozialen Organis­mus war, als sie versuchte, sich in das heutige Kultur- und Geistesleben hineinzustellen, ausgesprochen zu denjenigen Menschen, von denen an­zunehmen war, daß sie durch die so laut sprechenden und deutlich spre­chenden Tatsachen der letzten vier bis fünf Jahre und auch unserer Gegenwart etwas für ihr Tun in Beziehung auf die Menschheitsent­wickelung gelernt haben. Und man sollte eigentlich glauben, daß in der Gegenwart jeder mit wirklich wacher Seele Lebende von diesen laut und deutlich nach Neugestaltung der sozialen Dinge sprechenden Tat­sachen lernen müßte. Es konnte selbstverständlich nicht eigentlich bei dem Träger dieses Dreigliederungsgedankens die Meinung aufkommen, daß diejenigen, welche durchaus aus ihrer ganzen Geistesverfassung heraus - Mentalität ist man gewohnt worden, es in der neueren Zeit zu nennen - festhalten wollen an alten Programmen, an alten Parteimeinungen, sich ohne weiteres bekennen werden zu einer Stellungnahme gegenüber dieser Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus. Denn was muß man denn eigentlich in sich tragen, um diese Idee als eine wirklich aus dem Leben der Gegenwart praktisch herausgegriffene zu erfassen?

Man muß sich sagen können: Die schreckensvollen Ereignisse der Weltkriegskatastrophe, sie haben gezeigt, wie die alten Anschau­ungen über das Wirtschaftsleben dieses Wirtschaftsleben der Menschheit

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in äußere Einrichtungen hineingetrieben haben, die zuletzt, in­dem sich die einzelnen Einrichtungen zusammengeschlossen haben zu den großen Staatsimperialismen, in die Weltkatastrophe hineinmün­den mußten. Sie mußten hineintreiben, weil dieses Wirtschaftsleben in einem gewissen Sinne sich so entwickelt hat, daß man es, ich möchte sagen, seinen eigenen Triebkräften überlassen hat; daß man es verab­säumt hat, zu wirklich umfassenden wirtschaftlichen Gedanken zu kom­men, welche sich durch die wirtschaftlichen Maßnahmen hätten aus-leben können. Ein Mann, der sich heute offiziell im Reichsministerium mit der Neugestaltung des Wirtschaftslebens zu beschäftigen hat, Wichard von Moellendorff, hat vor kurzem den Ausspruch getan, es sei seine Überzeugung, daß zwangsläufig unter allen Umständen, selbst wenn die Weltkriegskatastrophe nicht gekommen, oder nicht in der abge­laufenen Form gekommen wäre, das Wirtschaftsleben in eine Krise furchtbarster Art hätte hineintreiben müssen zum Unglück der Mensch­heit und der Völker, aus dem Grunde, weil diesem Wirtschaftsleben wirklich fruchtbare leitende Gedanken fehlten. Und innig verbündet waren mit diesem Wirtschaftsleben die Kräfte, welche in den Staaten, welche in den Rechtsanschauungen der Völker wirkten. Es war ja zu­letzt so gekommen, daß sich in den Rechtsanschauungen der Völker nur mehr die wirtschaftlichen Interessen auslebten. Und wir haben es erleben müssen, daß die gegenseitigen Beziehungen der Staaten zuletzt 1914 in solch unklare Strömungen einliefen, daß im Grunde genom­men bei ernstestem guten Willen keine Staatsmacht eigentlich damals in der Lage war, dem Furchtbaren, das drohte, auszuweichen.

So könnte es doch scheinen, als ob für das Wirtschaftsleben wie für das Staatsleben aus dem Gang der Ereignisse, die dann in die Unmög­lichkeit, in ihre eigene Vernichtung hineingeführt haben, viel zu lernen wäre für den inneren Antrieb, der da sagt: Ein Neues an Gedanken, an Willenskräften, muß gefunden werden, wenn die Menschheit in ihrer Entwickelung gedeihlich vorwärts kommen will; ein Neues an Gedanken für das Wirtschaftsleben, ein Neues an Gedanken auch für das Staats- oder Rechtsleben. Und fußt denn nicht schließlich alles Staats- und Rechtsleben und alles Wirtschaftsleben auf dem, was die Menschheit an Geisteskräften entfalten kann, was die Menschheit heranschulen

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kann in der heranwachsenden Generation, was dann an ver­nünftigen Gedanken eingreifen kann in die Wirtschaft und in das Rechtsleben? Kann man so nicht auch sagen, daß das Geistesleben durchaus auch zeigt, wie es in einer kritischen Epoche angekommen ist, und wie wohl aus ihm gelernt werden kann, daß über seine weitere gedeihliche Entfaltung und über neue Grundlegung desselben nach­gedacht, nachgesonnen werden muß?

Auf den drei wichtigsten Lebensgebieten der Menschheit, auf dem Gebiet des wirtschaftlichen, des Staats- oder Rechtslebens und des Gei­steslebens ging die große Frage auf, die Frage der Weltkriegskatastro­phe und dessen was sich aus ihr herausgebildet hat, und die Menschen müßten eigentlich da sein, welche von dem Gang der Ereignisse gelernt haben. Daß mit alten Gedanken, mit alten Parteimeinungen nicht die neue Entwickelungsphase der Menschheit zu bewältigen ist, das müßte doch eigentlich aus der Tatsachenwelt selber heraus eine Grundüber­zeugung des gegenwärtigen Menschen sein. Aus dieser Gesinnung, aus dieser Überzeugung heraus wurde in den Vorträgen gesprochen, die bisher hier von mir gehalten worden sind. In dem heutigen und in dem Vortrag von übermorgen möchte ich einiges zu dem schon Gesagten hinzufügen, das geeignet sein könnte, heute von der mehr geistigen, übermorgen von der mehr praktischen Seite in den Einzelheiten als Er­gänzung des bisher Gesagten zu dienen. Es hat sich eines ergeben, das im Grunde genommen gegenüber der eben ausgesprochenen Überzeu­gung und Gesinnung außerordentlich lehrreich ist.

Es hat sich ergeben, was ich charakterisieren möchte als ein merk­würdiges Bündnis, eine Art Koalition von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken. Mit Bezug auf die Gegnerschaft gegen dasjenige, was hier vorgebracht worden ist als die Grundgedanken des dreiglied­rigen sozialen Organismus, marschieren heute in vollstem Einklange miteinander Spartakisten, Unabhängige, Mehrheitssozialisten, Bürger-partei und äußerste Reaktionäre. Es hätte kaum, so könnte einem scheinen, eine bessere Gelegenheit geben können, als so in der Gesin­nung zusammenrinnen zu lassen die Spartakisten und die Bürgerlichen und die Reaktionäre.

Diese Merkwürdigkeit liegt also vor, daß im Grunde genommen we­nigstens

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der Form, der Gesinnung nach die holdeste Eintracht herrscht von links bis nach rechts. Von der äußersten Linken konnten wir vor ganz kurzer Zeit folgendes Urteil über dasjenige hören, was hier in diesen Vorträgen gesagt worden ist. Wir konnten hören, daß die Leute einverstanden seien, ganz einverstanden seien mit meiner Kritik der bisherigen Wirtschaftsordnung, daß sie auch ganz einverstanden seien mit der Dreigliederung des sozialen Organismus, daß sie sogar der Ansicht seien, daß diese Dreigliederung kommen müsse, aber - nun folgt das andere: sie werden alle Kräfte aufbieten, um dasjenige, was hier an Kritik der bisherigen Wirtschaftsform und über den dreiglied­rigen Organismus gesagt wird, bis aufs Messer zu bekämpfen.

Merkwürdige Sachen -, man erklart sein volles Einverständnis mit der Sache und erklärt zugleich, daß man die Sache durchaus bekämp­fen müsse! Aus ähnlichen Untergründen heraus kann man auch Aus­einandersetzungen auf äußerster rechter Seite hören. Also es hätte viel­leicht keine bessere Gelegenheit geben können zum Zusammenfinden derjenigen, die, sei es aus dem oder jenem Loch alter Anschauungen, haben kommen wollen, um dasjenige zu bekämpfen, was eben durch­aus einen Kompromiß mit alten Anschauungen nicht machen will und auch nicht machen wird.

Heute möchte ich zur Einleitung desjenigen, was ich im einzelnen praktisch übermorgen zu sagen haben werde, auf eine Seite der mo­dernen sozialen Bewegung hinweisen, die eigentlich immer verkannt wird, und die berücksichtigt worden ist gerade bei der Aufstellung, bei dem Ins-Auge-Fassen der Idee und der Praxis des dreigliedrigen Or­ganismus. Ich möchte von einer gewissen Seite her heute gerade die geistige Grundlage der gegenwartigen Menschheitsentwickelung strei­fen, weil ich der Anschauung sein muß, daß diese geistige Grundlage von ganz eminenter Bedeutung ist und daß die Mißverständnisse, welche entstehen mit Bezug auf dasjenige, was heute sozial gewollt werden kann und soll, gerade aus der Nichtberücksichtigung dieser geistigen Grundlage herrühren.

Und noch aus einem anderen Grunde ist es notwendig, dringend notwendig, eine Bewegung, die heute bloß wirtschaftlich sein will oder höchstens noch politisch, auf eine Geistesgrundlage zu stellen. Derjenige

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nämlich, der die heutigen Ereignisse, so wie sie sich abspielen, nicht nur an der Oberfläche verfolgt, sondern der versucht, tiefer ein­zudringen in das, was eigentlich in den Tiefen der Völkerentwickelun­gen heute geschieht, der muß sich doch im Grunde sagen: Der gewaltige, der furchtbare, schreckerfüllte Waffenkampf, der sich abgespielt hat, der ist doch nur die Welle, welche aufgestiegen ist aus irgend etwas, das sich in den tiefsten Untergründen der Menschennatur der Gegen­wart, wie eine innere Unruhe dieser Menschennatur fast über die ganze Welt hin zeigt. Man konnte es fühlen all die Jahre seit dem Ausbruch dieser Weltkatastrophe an den Tatsachen, wie sich immer mehr und mehr über die Kontinente hin Bevölkerungen anschlossen an dasjenige, was eigentlich sich da abspielt, sich so anschlossen, daß man manchmal wahrhaftig nicht wußte, warum eigentlich, oder daß die Gründe, die sie vorbrachten für den Anschluß, sehr zweifelhaften Eindruck mach­ten. Man konnte daraus sehen, daß etwas Elementarisches in dieser Weltkatastrophe liegt, etwas, was aus den Untergründen der Men­schenwesenheit über die ganze Erde herauftreibt. Und mir scheint, man hat nirgends mehr Gelegenheit zu einem wirklichen Erkennen desjenigen, was eigentlich da in den Untergründen der Menschheit spielt, als gerade in Mitteleuropa, in Mitteleuropa, das sich zuletzt ein-gezwängt sah zwischen dem gesamten Orient und dem gesamten Ok­zident.

Das fordert auf, einmal zu fragen: Was liegt denn da eigentlich zugrunde? Und man sollte es begreiflich finden, daß das Verstehen solcher Dinge beruhen muß auf einem gewissen inneren Anschauen der Verhältnisse, auf einem gewissen erfahrungsgemäßen Ergreifen der Tatsachen, daß zum Verständnis dieser Dinge etwas gehört wie in­stinktive, intuitive Anschauung. Daher sollte man Verständnis finden, wenn man auf dasjenige, was sich einer solchen Anschauung ergibt, so aufmerksam macht, daß man die Menschen, ich möchte sagen, auf das stößt, was vorgeht. Es wird heute nicht zu viel gesagt sein, wenn man dasjenige, was sich aus der Weltkriegskatastrophe heraus entwickelte an Stimmungen durch Mitteleuropa nach dem Osten hin, nach Ruß­land, nach Asien hinein und was sich entwickelt an Stimmungen nach dem Westen und bis nach Amerika hinüber, wenn man das so auffaßt,

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daß man darin sieht, wie sich fortsetzt nur jene elementarische Unruhe der Menschheit, die in der Weltkriegskatastrophe zuerst ihren schrek­kensvollen Ausdruck gefunden hat. Das war, wie ja viele gesagt haben, der furchtbarste äußere Waffenkampf, der stattgefunden hat seit jener Zeit, seit der man von einer Geschichte spricht. Und dieser Waffen-kampf ist mit den am meisten physischen Mitteln geführt worden von einem großen Teil der gegenwärtigen Menschheit. Aber man sieht her­vorgehen, aufsteigen aus dem, was diesen Waffenkampf hervorgebracht hat, etwas, was gleich bedeutungsvoll, gleich einschneidend die Mensch­heit ergreifen wird und an dessen Anfang wir eigentlich erst stehen.

War das, was wir erlebt haben, der schreckensvollste Waffenkampf, so werden wir erleben - alle die Anzeichen, die in den Volksstimmun-gen vorhanden sind, zeigen es -, so werden wir erleben auch den größ­ten Geisteskampf, die größte, die furchtbarste geistige Auseinander­setzung zwischen dem Osten, dem Orient und dem Okzident. Wir stehen am Anfang großer umfassender Geisteskämpfe der Menschheit. Und das, was sich jetzt abspielt in den sozialen Forderungen, das scheint nur wiederum die an die Oberfläche getriebene Welle eines Menschheitsgeisteskampfes zu sein. In diesen Menschheitsgeisteskampf werden sich hineinzustellen haben wohl selbst noch diejenigen Zeit­genossen, die schon heute ein respektables Alter erreicht haben. Ins­besondere aber werden sich hineinzustellen haben in diesen die Mensch­heit umfassenden Geisteskampf die heranwachsenden Generationen. Und was wir diesen heranwachsenden Generationen werden sagen können von dem, was wir lernen aus den Ereignissen, davon wird viel, sehr viel abhängen für die Gestaltung der Menschheitsentwickelung in der Zukunft. Heute kündigt sich zunächst das Kommende durch etwas äußerlich mit den Dingen Zusammenhängendes an, das ist: Halb Indien, mehr als halb Indien ist halb verhungert, und aus dem ver­hungerten Indien heraus ertönt aus tausend und abertausend Seelen heute der Ruf: Los von England! - Das darf nicht bloß von denjenigen politischen Gesichtspunkten aus beurteilt werden, die man von sonst-woher heute gewohnt ist, das muß beurteilt werden von weitergehen­den, einschneidenden, in der Menschheitsentwickelung wirkenden Kräften. Denn was im Orient lebt, das ist durchsättigt mit dem Erbgut,

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mit dem Erbstück uralten Geisteslebens, das nur in den Niedergang gekommen ist.

Ausgedrückt durch die Taten der Menschen werden die Erbstücke uralten orientalischen Geisteslebens in die Auseinandersetzung hinein­kommen mit den Geistesbestrebungen des Okzidents bis nach Amerika hinüber, und es wird sich zeigen müssen, ob diejenigen Kräfte der eng­lisch-amerikanischen Bevölkerung, die aus ihrer Zähigkeit heraus, aus einer großzügigen Erfassung ihrer egoistischen Volksinteressen heraus mit Mitteleuropa in der bekannten Weise fertig geworden sind, ob sie auch fertig werden mit Asien, wenn aus dem Hunger Indiens heraus noch ganz andere Gewalten sprechen werden als diejenigen, welche der Westen bisher hat sprechen hören? Damit ist nur angedeutet, was heute in der Kulturatmosphäre der Erde lebt. Weil dies drinnen lebt, deshalb genügt es heute nicht, aus den hergebrachten politischen und wirtschaft­lichen Begriffen das zu beurteilen, was eigentlich geschieht. Deshalb ist es notwendig, daß die Antriebe zu einer Neuentwickelung der Mensch­heitsverhältnisse herausgenommen werden aus einem geistigen Ver­ständnis desjenigen, was sich in den Menschenstimmungen über die ganze Erde hin heute abspielt. Heute darf nicht nur darauf gesehen werden, wie es dem Proletariat Rußlands oder Mitteleuropas oder der Entente geht, obwohl das selbstverständlich für uns die nächsten Fra­gen sind.

Heute darf auch nicht bloß darauf gesehen werden, wie gewisse Leute auf ihren Geldsäcken sitzenbleiben wollen. Heute muß, wenn man nicht das wichtigste Geschehen verschlafen will, als wesentlich mitwirkend in den sozialen Kräften der Gegenwart dasjenige ge­sehen werden, was eigentlich der noch halb schlafende Orient über die Welt ergießen wird. Man braucht ja im Grunde genommen nur ein paar Worte zu sagen, aber wenn diese paar Worte genommen werden mit all dem Gewicht, das sie für die Geistesentwickelung der Mensch­heit haben, so wird man in diesen paar Worten etwas hören, was bei der Neugestaltung der menschlichen Entwickelung mitspricht. Der Orient, insofern er der gebildete Orient ist - wenn wir diesen okziden­talischen Ausdruck auf den Orient anwenden dürfen -, der Orient lebte durch Jahrtausende und im Grunde genommen bis heute, ja heute

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gerade in seinen geistvollsten Vertretern in der Anschauung, daß Wirk­lichkeit, wahre Wirklichkeit nur dasjenige habe, was der Mensch gei­stig-seelisch in seinem Innern erleben kann, was im Menscheninnern aufsteigt als innerer Seeleninhalt, was den Menschen so erfüllen kann, daß er aus diesem inneren Seeleninhalt sein wahres Menschenbewußt­sein hervorholt. Das ist für den Orient - wie gesagt, soweit er der ge­bildete Orient ist - die wahre Wirklichkeit. Und die äußerliche, die physisch-sinnliche Welt, die Welt, in der wir arbeiten, die Welt, in der der Grund und Boden für unsere Arbeit liegt, in die wir hineinstellen für unsere Arbeit die Produktionsmittel, diese Welt ist für den Orien­talen die Maja, die große Scheinbarkeit, dasjenige, was nicht wirklich ist, was wie ein Nebenplanet der wahren geistig-seelischen Wirklich­keit, die nur im Innern aufsteigt, lebt. Diese Anschauung, mit ihr ist der Orientale eins. Mit ihr lebt er in seiner sozialen Gemeinschaft. Diese Anschauung erfüllt ihn jederzeit, ob er sich einsam zurückzieht zur Betrachtung, ob er Hand anlegt in orientalischer Weise an das, was er in der physischen Welt für seine Menschenbrüder tut. Man muß so etwas ins Auge fassen, wenn man jene Welt wirklich sehen will, die uns in den Menschen entgegentritt, die ostwärts von uns leben, denn im Grunde genommen fängt es in Rußland schon an, so zu sein, wie ich es eben charakterisiert habe. Es erreicht nur die Kulmination, den Höhe­punkt, wenn man weiter nach dem Osten hinüberschaut. Dem steht gegenüber eine ganz andere Menschheitsverfassung, ein ganz anderes inneres Leben, das wir sehen, wenn wir den Rhein überschreiten nach dem Westen hinüber, wenn wir insbesondere nach der anglo-ameri­kanischen Welt blicken. Dem steht aber gegenüber überhaupt alles, was eigentlich die Gesinnung und die Verfassung des Seelenlebens des Abendlandes ist, an der zum Schluß immer mehr und mehr teilzuneh­men auch der Grundcharakter der mitteleuropäischen Menschen ge­worden ist und da seinen Höhepunkt erreicht in der Gesinnung und Seelenverfassung der gegenwärtigen Sozialisten, der Sozialisten jeder Färbung im Grunde genommen.

Man kann eines immer wieder und wiederum finden, wenn man den Menschen des Westens und jetzt auch den Menschen Mitteleuropas so betrachtet, wie wir gerade den Menschen des Orients betrachtet haben.

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Man wird am Westen kennzeichnen dasjenige, was da zugrunde liegt, wenn man es erfaßt in der Art, in der es am klarsten, am radikalsten zum Ausdruck gekommen ist, wenn man es gerade erfaßt in der moder­nen sozialistischen Gesinnung. Da herrscht nun nicht als eine theo­retische Anschauung mehr, sondern als eine Grundstimmung der Seele dies, daß die einzige Wirklichkeit dasjenige ist, was in der physisch-sinnlichen Welt uns umgibt, das, was wir ergreifen, wenn wir unsere Arbeit in der physischen Welt für unsere Mitmenschen leisten. Was sich ausdrückt in dem Grund und Boden, auf dem unsere Arbeit ge­leistet wird, was sich ausdrückt in den Produktionsmitteln, mit denen unsere Arbeit geleistet wird, das ist das einzig Wirkliche, und was in den Menschenseelen als Recht, als Sitte, als Kunst, als Wissenschaft, kurz, als Geistesleben auftritt, das ist nur ein Ergebnis, ein Rauch gleichsam, dieser einzigen sinnlich-physischen Wirklichkeit; das ist, wie namentlich jeder sozialistische Denker der Gegenwart fest überzeugt ist, Ideologie. Ideologie ist ganz dasselbe innerlich angeschaut, was für den Orientalen die Maja ist. Der Orientale sagt: Physische Sinnlich­keit, die physische Welt um uns, die Wirtschaftswelt, das materielle Dasein, es ist Maja, es ist eine Ideologie, und die Wirklichkeit ist einzig und allein das, was in der Seele innerlich aufsteigt. Und der Okziden­tale sagt: Wirklichkeit ist allein dasjenige, was äußerlich sinnlich uns umgibt, was im Wirtschaftsleben liegt, und eine Ideologie, eine Maja ist, was innerlich in der Seele aufsteigt. - Weiß man, wie solche Grund-stimmung der Seele den Menschen eigentlich macht, wie sie ihn hinein-stellt in das Leben, dann sieht man in dem, was sich heute als Stim­mung abspielt innerhalb der Menschheit der Erde, diesen eben gekenn­zeichneten großen, gewaltigen Gegensatz. Und dieser Gegensatz hat eine ungeheure geschichtliche Stoßkraft. Aus diesem Gegensatz wird sich nicht bloß ein Völkerkampf, wird sich nicht bloß ein Rassenkampf, es wird sich ein Menschheitskampf entwickeln, in den wir und die, die uns nachfolgen, hineingestellt sein werden. Derjenige, der in dem, was sich jetzt in der Menschenstimmung ausdrückt, die Vorbereitungen sehen muß zu diesem Menschheitskampf, der wird nicht umhin können, in bezug auf die Ideen und Kräfte, welche für eine soziale Weltanschau­ung notwendig sind, sich befruchten zu lassen von dem, was eigentlich

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doch wirklich vorgeht in der gegenwärtigen Menschheit. Was in der Gegenwart noch so erfaßt werden kann, ich möchte sagen, wie zwei abstrakte Gedanken, was aber Wirklichkeit werden wird, sich aus­wachsen wird zu Kampfkräften, allerdings von anderer Form als die physischen Kampfkräfte des Waffenkampfes waren, aber zu Kampf-kräften, welche die innere Stärke, die innere Widerstandskraft des Menschen in einem noch größeren Maß werden herausfordern, als es der abgelaufene Waffenkampf getan hat.

Und wieder weiter: Ein merkwürdiger Parallelismus ergibt sich, wenn man etwa die Stimmungen weiter verfolgt, die Ihnen eben jetzt mit mehr oder weniger abstrakten, aber sehr wirklich gemeinten Ge­danken angezeigt worden sind. Wir blicken hinüber nach dem Orient und wir fragen uns heute mit Recht: Was ist denn aus jener Stimmung geworden, die in alten Zeiten - derjenige, der die Dinge kennt, weiß es - in der orientalischen Welt größtes Geistesgut geschaffen hat, was ist denn für die heutige Kulturmenschheit des Orients aus alledem ge­worden? Niedergedrückt in mystisch-dunkle Schwärmerei, in halbe Menschheitsschläfrigkeit ist der Mensch des Orients, und dasjenige, was früher unter dem Einfluß des Gedankens «Sinnlichkeit ist Maja, inneres Seelisches ist Wirklichkeit, göttliche Wirklichkeit» dem Orientalen Kraft und Stärke gegeben hat, es gibt ihm heute Schwäche, es macht ihn zum Fatalisten, zu dem, der sich willenlos dem Weltenschicksal er­gibt. Das ist die Frucht eines Geisteslebens, das namentlich auf das Menschlich-Geistig-Seelische hingerichtet war. Wenn man dazu das ent­sprechende Gegenbild des Okzidents malt, dann sagt man heute für sehr viele Leute - ich bin mir dessen wohl bewußt - etwas höchst, höchst Unbehagliches, etwas, was ihre Gegnerschaft stark hervorruft. Aber ich habe öfters schon gesagt: Wir leben heute nicht in der Zeit der klei­nen, sondern in der Zeit der großen Abrechnung, und man darf nicht davor zurückschrecken, den Leuten die Wahrheit zu sagen.

Wir haben gesehen, wie in einer gewissen Höherentwickelung das­jenige, was sich durch Jahrhunderte im Okzident vorbereitet hat, einen besonderen äußerst charakteristischen Ausdruck gerade in dem moder­nen Sozialismus gefunden hat. Durch die abendländische Entwickelung hat sich allmählich diejenige menschheitliche Stimmung herausgebildet,

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die eigentlich in der physisch-sinnlichen Welt des wirtschaftlichen Le­bens die einzige Wirklichkeit sieht. Und die führenden, leitenden Kreise, das heißt die, die es bisher waren, die haben das zuerst so empfunden, daß die physisch-sinnliche Welt und ihre materiellen wirtschaftlichen Faktoren die einzige Wirklichkeit sind, daß das andere, was in der Seele aufsteigt, Maja, Ideologie ist. Der Sozialismus hat bloß das aus­gesprochen, was die andern auch empfanden, aber es sich nicht aus­zusprechen getrauten. Bei dem Sozialismus ist es nur herausgekommen, daß die ganze Welt des Rechts, der Sitte, der Kunst, der Wissenschaft, das ganze, was man Geistesleben des Menschen nennt, für die neuere Menschheit des Westens eine Ideologie, eine Maja ist. Wodurch ist diese im Grunde genommen echt westliche Anschauung zu diesem Höhe­punkte gekommen? Sie ist dazu gekommen dadurch, daß sich immer mehr und mehr herausgebildet hat innerhalb des modernen Wirt­schaftslebens dasjenige, was bezeichnet wird als der moderne Privat-kapitalismus. Dieser moderne Privatkapitalismus hat im Wirtschafts­leben diejenige Stimmung erzeugt, die im Grunde genommen unser ganzes Gemeinschaftswesen zuletzt in eine Art Erwerbsgesellschaft ver­wandelt hat. Stück für Stück haben wir es kommen sehen im Laufe der letzten Jahrhunderte, wie aus früheren wirtschaftlichen Zuständen sich die gegenwärtigen ergeben haben. Es gab, wenn es heute auch die Men­schen nicht beachten, in den früheren Jahrhunderten in viel höherem Grade als heute ein sachliches Interesse an den Einrichtungen und den Erzeugnissen der Umgebung, an all dem, was in Recht und Wirtschaft lebte.

Ein viel tiefergehendes sachliches Interesse gab es als heute. Diesen oder jenen Gegenstand besitzen, weil er diese oder jene Form hat, weil er diesen oder jenen Ursprung hat, weil er diese oder jene Signatur trägt, das war für frühere Zeiten in viel höherem Grade ein mensch­liches Interesse, als es heute ist, wo dieses sachliche, menschliche Inter­esse an äußeren Einrichtungen vielfach getrübt und verdunkelt wird dadurch, daß man die Summe seiner Lebenshaltung einrichtet nach dem, was man rein dem Geld, dem Kapital nach im Konkurrenzkampf des Lebens erwirbt. Losgerissen von der Bewunderung der Schönheit dessen, was Menschen hervorbringen, losgerissen von dem Wertvollen,

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das etwas einfach deshalb hat, weil es ein Mensch gemacht hat, klebt heute das Interesse emer großen Anzahl von Menschen daran, bei ihrem Jahresabschluß nachsehen zu können, ob sie mit ihrer Umgebung in einem aktiven Bilanzverhältnis stehen. Das ist etwas radikal aus­gedrückt, aber es ist die wirtschaftliche Signatur der Gegenwart. Und diese wirtschaftliche Signatur, sie hat noch ein anderes hervorgebracht mit Bezug auf die Auffassung der menschlichen Arbeit. Schauen wir nur kurze Zeit zurück, da finden wir, wie die Menschen gewissermaßen ihre Arbeit zusammenwachsen ließen mit ihren Produkten. Man hat Gefühle, welche das ausdrücken, wenn man irgendwo in Museen steht, vor alten Türklinken, vor alten Schlössern, ja selbst vor alten Stiefeln, man merkt den Dingen an, wie die Menschenarbeit in sie hinein­geflossen ist. Heute ist die Menschenarbeit getrennt vom Produkte; daher sind die meisten Produkte, an denen sich die Menschen ergötzen, auch so scheußlich. Heute ist die Menschenarbeit etwas, was Marktwert nur dadurch hat, daß es mit einer gewissen Bezahlung entgolten wird. Heute ist die Menschenarbeit dasjenige, was vor allen Dingen seinem Marktwerte nach errechnet wird. Und so hat sich der Mensch mit Be­zug auf die Verwaltung der Güter, die kapitalistische Konkurrenzver­waltung der Güter, und mit Bezug auf sein Arbeitsverhältnis zu seinen Leistungen losgelöst von der Welt. Er steht gewissermaßen neben der Maschine da, hineingeklemmt in den seelenverödenden Kapitalismus der neueren Zeit, ohne Zusammenhang mit der äußeren Wirklichkeit, die er in seiner Umgebung sieht, die er nicht hinwegleügnen kann, ja, die für ihn sogar die einzige Wirklichkeit geworden ist. Und er kann nicht glauben, daß dasjenige, was in seinem Innern aufsteigt, das Gei­stig-Seelische, das hinweggerissen von Natur und Wirtschaftsordnung, daß das etwas anderes ist als eine Maja, als eine Ideologie. Das hat die moderne Wirtschaftsordnung gemacht.

In diese moderne Wirtschaftsordnung ist das moderne Proletariat hineingewachsen, hineingeschoben worden, insbesondere im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte, nach und nach bis zu dem Grade hineingeschoben worden, in dem es heute drinnensteht. Bis zu einem Höhepunkte hat es dieses Loslösen von der äußeren Wirklichkeit in der Menschheitsentwickelung der neueren Zeit gebracht. Man könnte

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das im einzelnen nachweisen, wie der Mensch allmählich, ich möchte sagen, sich selbst entfremdet worden ist. Sehen Sie, man kann heute unzählige Mitglieder des Proletariats sprechen - wenn man gelernt hat, mit dem Proletariat zu denken und zu empfinden, dann hört man aus ihrem Munde auch dasjenige, was sie vor allen Dingen bewegt -, dann aber hört man oftmals: Vor allen Dingen darf es nicht sein, daß wir den ganzen Tag arbeiten und arbeiten mit den Händen und daß unsere Seele dabei leer bleibt, weil wir des Abends ermüdet nach Hause kommen und nichts anderes tun können, als hinfallen und uns nieder-legen. Wir wollen eine angemessene Arbeitszeit. - Und aus dem, was mit der Arbeitszeit der Menschen in den letzten Jahrhunderten getrieben worden ist, was nun schon besser geworden ist, geht hervor die For­derung des achtstündigen Arbeitstages: 6>< 8 ist 48, die 48-Stunden-Woche. Das ist etwas, was heute von den Menschen, die arbeiten, er­rungen werden will. Man redet davon: Ja gewiß, so etwas wird an­gestrebt, die Menschheit muß vorwärtsgehen, aber in alten Zeiten hatten es eben die Menschen noch schlechter. In alten Zeiten mußten die Menschen eben noch mehr arbeiten, da waren sie noch mehr Last-tiere. - Ich kann Ihnen hier ein Dekret des Königs Ferdinand I. von Österreich aus dem Jahre 1550 mitteilen. In diesem Dekret heißt es:

Jeder Arbeiter soll - und ich bitte, die folgenden Worte besonders zu hören -, jeder Arbeiter soll wie von alters herkommend vor- und nachmittags jedesmal, mit Ausnahme des Sonntags und des Samstag-nachmittags, halbe Schicht, das heißt vier Stunden, arbeiten. Das gibt für das Jahr 1550 5>< 8 Stunden - eine halbe Schicht vormittags und einer halbe Schicht nachmittags von je vier Stunden - ist 40 Stunden, eine halbe Schicht noch am Samstag von vier Stunden, das gibt zu­sammen 44 Stunden in der Woche für das Jahr 1550. Und von diesen 44 Stunden die Woche wird gesagt: Jeder Arbeiter soll «wie von alters herkommend» arbeiten. Es wird darauf hingewiesen, daß das alter Brauch ist. Die Neuzeit hat uns aus dem Fortschritt der Menschheit heraus nicht bloß gebracht, was so bejubelt wird; die Neuzeit hat uns auch gebracht, daß man sich wieder zurückerobern muß, was schon einmal da war. Diese Dinge sollten, meine ich, doch zu denken geben! Und unter dem Einfluß solcher Dinge, namentlich unter dem Einfluß

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des Bestrebens, möglichst viel herauszusaugen aus der Arbeit, da ist entstanden dieses Haften des Menschen des Okzidents an der physisch-sinnlichen Wirklichkeit als der einzigen Wirklichkeit. Daraus ist ent­standen die Empfindung, das Geistig-Seelische ist Maja, ist Ideologie. Das hat aber auch hervorgebracht das Hineingestelltsein des moder­nen Proletariats in das bloße Wirtschaftsleben. Und so ist der große Irrtum des modernen Proletariats entstanden. Dieses moderne Prole­tariat war in das Wirtschaftsleben eingespannt durch die leitenden, führenden Kreise. Es hat sich sagen müssen: In diesem Wirtschaftsleben verödet die Seele, in diesem Wirtschaftsleben ist Geist nur Rauch und Schall, Maja. Wir müssen ein anderes Wirtschaftsleben haben. Wir müssen das Wirtschaftsleben umgestalten. Aus dem umgestalteten Wirtschaftsleben wird das Geistesleben hervorgehen, das nicht ein Klassengeistesleben ist, das ein allgemein menschliches Geistesleben ist.

Es ist nicht weiter wunderbar, daß das moderne Proletariat diesem Irrtum verfallen ist, denn es war ganz hineingedrängt in das Wirt­schaftsleben. Das, was es hatte, war nur aus dem Wirtschaftsleben her­aus geboren. Für das Proletariat war die andere Welt eine Maja, eine Ideologie. Es konnte als Proletariat nichts anderes glauben, als daß das ihm einzig bekannte Wirtschaftsleben bloß umzugestalten sei. Dann werde auch alles übrige von selber kommen. Statt - was zunächst eigent­lich gar nicht sein konnte, was erst aus den Lehren des blutigen Welt­krieges hervorgehen kann -, statt sich zu sagen, an unserer Lage ist schuld, daß wir einzig und allein in das Wirtschaftsleben hineingekom­men sind, daß dieses Wirtschaftsleben das Geistesleben von sich ab­hängig gemacht hat, also darf künftig das Geistesleben nicht mehr vom Wirtschaftsleben abhängig sein, es muß frei auf sich selbst gestellt sein -, statt diese radikalen Folgerungen zu ziehen, zog das Proletariat die andere: Ein anderes Wirtschaftsleben wird es schon machen, das wird ein anderes Geistesleben schon hervorbringen.

Heute stehen wir vor dem großen Wendepunkte, daß entweder das Proletariat sein Unglück heraufbeschwören wird, wenn es nur im Wirt­schaftsleben stehenbleibt und allein das umgestalten will, oder daß es einsehen muß, was die anderen Menschen mit ihm einsehen müßten, daß das Geistesleben, wie es projektiert wird von dem dreigliedrigen

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sozialen Organismus, herausgenommen werden muß aus Staat und Wirtschaftsleben, so daß es von diesen losgelöst wird und auf seine eigenen Füße gestellt wird, in seine eigene Selbstverwaltung gestellt wird.

Und was ist geworden? Durch diese Einflüsse, die ich eben charak­terisiert habe, was ist geworden aus diesem okzidentalischen Glauben, daß das Geistig-Seelische die Maja, die Ideologie ist, und das äußere Wirtschaftsleben das allein Wirkliche? Daraus ist das geworden, was dann seinen genialen Ausdruck gefunden hat in dem Marxismus, denn Genialitäten zeichnen sich auch dadurch aus, daß sie nicht nur die größ­ten positiven Errungenschaften der Menschheit, sondern auch die größ­ten Irrtümer hervorbringen. Es ist die Anschauung geworden: Da man ja doch nicht mit dem Geiste, mit dem Gedanken, mit dem, was man ideologisch ausgestaltet, in die Wirklichkeit hineinzaubern kann - denn das glauben ja nur die Spiritisten, daß man bloß einen Gedanken zu haben braucht und dann werden sich Maschinen bewegen -, da man mit Gedanken nicht arbeiten kann, nicht physische Erzeugnisse hervor­bringen kann, kann man auch nicht mit Gedanken das Wirtschaftsleben beherrschen. Also geht das Wirtschaftsleben allein durch sich selbst vor­wärts. Und wenn es die einzige Wirklichkeit ist, so muß es aus sich selbst hervorbringen, was für die Menschheit erreicht werden soll. Da­her die marxistische Lehre - wenn sie auch nicht bei Marx steht, denn Marx war kein «Marxist», wie er selbst gesagt hat, im Sinne vieler seiner Anhänger -, daher die Lehre, daß höchstens gefördert werden kann durch den Menschen, was durch den Produktionsprozeß, durch den wirtschaftlich-materiellen Prozeß, durch die äußeren Einrichtungen selber bewirkt wird, daß aber aller wirkliche Fortschritt eigentlich un­abhängig vom Menschen durch die wirtschaftlichen Kräfte und Fak­toren sich von selber vollzieht. Das hat sich verdichtet zu dem okziden­talischen Fatalismus, zu dem Glauben, die äußere Wirklichkeit wird es schon ohne den Menschen machen. Die Kapitalisten zum Beispiel werden immer mehr und mehr die Produktionsmittel konzentrieren, es entsteht die Konzentration der Produktionsmittel, und wenn diese genügend konzentriert sind, so werden sie in die neue Vergesellschaf-tung von selber einlaufen. Die Expropriation der Expropriateure wird

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sich vollziehen. Fatalistischer Glaube, Bekämpfung alles dessen als Uto­pie, was das Bewußtsein und die Überzeugung hat, daß der Mensch derjenige ist, der Geschichte macht, daß dasjenige, was Tat werden soll, zuerst im Menschengedanken leben muß -, die Schläfrigkeit des Orien­talen aus seinem uralten Geistesleben heraus geht parallel dem Fata­listischwerden der abendländischen Mehrheit in dem Glauben, die wirt­schaftlichen Verhältnisse werden es machen, man habe nur abzuwarten, wie die Entwickelung sich vollzieht. Ist es nicht so, daß man deutlich sieht, wir stehen an einem großen Wendepunkte der Menschheitsent­wickelung? Fatalismus im Osten - Fatalismus bei den am meisten fort­geschrittenen Menschen des Westens. Fatalismus da, Fatalismus dort. Ein Neues muß aufblühen aus dem, was beiderseitig im Niedergang begriffen ist. Wie sollte man den Glauben aufbringen an die Fortent­wickelung der Menschheit, wenn man nicht in der Lage wäre zu glau­ben, daß aus diesem beiderseitigen Fatalismus sich etwas ergeben kann, was neue Triebe, neue Entwickelungskräfte für die Menschheit bringt? Aus diesem Glauben heraus sind entstanden die Ideen zu dem drei­gliedrigen sozialen Organismus. Aus diesem Glauben heraus, aus diesem Glauben an den Fortschritt und an die Entwickelung der Menschheit ist entstanden die Betrachtung der Welt unter den zwei Gesichtspunkten: Wie setzt man sich auseinander mit den modernen Einrichtungen, insbesondere des Wirtschaftslebens? Wie setzt man sich auseinander mit dem modernen Geistesleben, damit es nicht ein An­hängsel bleibt des Wirtschafts- und Staatslebens, damit es ein freier Trieb an dem Entwickelungsbau der Menschheit werde?

Ich habe geglaubt, daß im Beginne der neunzigerJahre die Welt schon aus den damaligen Ereignissen heraus den Antrieb verstehen würde zum Hinweis auf Tiefen der Menschennatur, aus denen ein neues, be­freites Geistesleben sich allmählich entwickeln kann. Und ich habe versucht, diesem Glauben Ausdruck zu geben in meiner zum erstenmal im Jahre 1894 erschienenen «Philosophie der Freiheit». Diese «Philo­sophie der Freiheit», ich habe sie nicht wieder erscheinen lassen, trotz­dem sie längst vergriffen war, weil ich sehen konnte, daß für die Ge­danken, die in dieser «Philosophie der Freiheit» stehen, zunächst innerhalb derjenigen Jahrzehnte, die der Weltkriegskatastrophe vorangegangen

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sind, kein Entgegenkommen war. Insbesondere war kein Entgegenkommen in Mitteleuropa, wo man immerzu davon sprach:

Wir brauchen Sonne -, aber wo man in dieses Wort nicht einbeziehen wollte die Sehnsucht nach einer geistigen Sonne. Und erst als der Glaube entstehen konnte, daß aus den Lehren der furchtbaren Welt­kriegskatastrophe heraus die Menschen wiederum Verständnis ge­winnen können für Freiheit des Geistes, da drängte es mich, die Neuausgabe meiner «Philosophie der Freiheit», die jetzt vorliegt, zu besorgen. Denn in dem, was sich aussprach, immer wieder und wiederum aussprach aus unterbewußten, nicht aus bewußten Unter­gründen der Menschennatur in der neueren Zeit, was sich besonders ausspricht in den Dingen, die das moderne Proletariat nun empfindet, obwohl noch nicht bewußt ausdrücken kann, weil man ihm dazu die Bildung vorenthalten hat, in dem liegt ein dreifaches. Es liegt darin das dunkle Gefühl: Die äußeren Einrichtungen desRechts- undWirtschafts­lebens haben eine Gestalt angenommen, in die ich als Mensch so hinein-geklemmt bin, daß ich bloß gehemmt bin, und daß es im Grunde ge­nommen keinen Sinn hat, von einem freien Willen zu sprechen auf dem modernen Konkurrenzmarkt, wo jeder entweder kapitalistisch oder lohnhaft erwerben muß, wo erstorben ist aller Zusammenhang dessen, was der Mensch tun muß, das heißt dessen, was er arbeitet, mit dem, was dann Produkt ist. Da lebt nicht das Gefühl: Ich stehe mit der Welt so im Zusammenhang, daß mein Wille frei ist. Hemmung des Willens, das gerade empfand man. Und dann, wenn man sein Ver­hältnis zu anderen Menschen anschaute: Bis zu einem Höhepunkt scheint gekommen zu sein unter dem modernen kapitalistischen Kon­kurrenzkampf, unter der Zwangsarbeit der neueren Zeit im Lohn-verhältnis, bis zu einem Höhepunkt scheint gekommen zu sein, was man nennen kann Schwinden des Vertrauens von Mensch zu Mensch. An die Stelle der früher in alter, aber immerhin in alter Form vor­handenen sozialen Triebe sind im eminentesten Sinne antisoziale Triebe getreten, die sich zuletzt zusammengefügt haben in dem Sich-Nichtverstehen der modernen Klassen der Menschheit, die zuletzt auf­gerichtet haben jenen Abgrund zwischen Proletariat und Nichtprole-tariat, der in der neueren Zeit so schwer zu überbrücken ist. Das hat

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hervorgerufen die zweite Erlebnisart des inneren Menschen in der neueren Zeit, die Beklemmung in bezug auf das Rechtsgefühl. Und dazu trat ein drittes, das, was ich schon im Anfang meiner heutigen Aus­einandersetzung angedeutet habe: Man sah die Leute ihre wirtschaft­lichen Güter austauschen, man sah sie einschreiben dasjenige, was im Austausch dieser wirtschaftlichen Güter lebte auf die linke und rechte Seite der Bücher. Aber man sah, wie selbst Herr von Moellendorff zu­geben muß, man sah keine Gedanken in diesen Einrichtungen des Wirt­schaftslebens. Drittes Erlebnis der Seele: Es wurde einem gleichsam schwarz vor dem Gedanken, wenn man hineinblickte in jenes Durch-einanderwirbeln der modernen Märkte, in denen das Reale für die Menschen eigentlich nur das war, was auf kapitalistische Art erworben wurde. Das sind in der neueren Zeit die drei Erlebnisse gewesen: Hem­mung des freien Willens, weil nichts da war, worin man den freien Willen entfalten konnte; vollständige Beklemmung des Rechtsgefühls und Verdunklung der Gedanken gegenüber den äußeren Einrichtun­gen des Rechts- und Wirtschaftslebens.

Das war jene Empfindung, aus welcher hervorgegangen ist der An­trieb - er mag ja schwach und ungelenk gewesen sein, mag noch heute schwach und ungelenk sein, das gebe ich gerne zu -, aus der hervor­gegangen ist der Antrieb, das Wesen des freien Menschen zu suchen, des Menschen, der sich so in die Menschheitsordnung hineingestellt fühlt, daß er sich sagen kann: Ich führe ein menschenwürdiges Dasein -der Antrieb, das Wesen dieses freien Menschen, das Wesen des freien Geistesmenschen in dem Sinne, daß alle Menschen solche freien Geistes-menschen sein können, innerhalb der Einrichtungen des modernen Rechts- und Wirtschaftslebens, zu suchen. Da ergab sich vor allen Din­gen eines. Die Menschen fragen so leicht und haben seit Jahrhunderten immer wieder gefragt, und die Philosophen haben darüber spekuliert und unzählige Meinungen sind aufgestellt worden darüber: Ist der Mensch frei seinem Willen nach, oder ist er nicht frei? Ist er ein bloßes Naturwesen, das nur aus den mechanischen Antrieben seines Inneren heraus handeln kann? - Die Frage wurde immer falsch angepackt, weil immer mehr und mehr im Okzident das Gefühl für die eigentliche Wirklichkeit des Geisteslebens schwand. Für den Orient hat die Frage

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nach Freiheit oder Unfreiheit fast gar keine Bedeutung, sie spielt gar keine Rolle dort. Im Abendlande wurde sie zur Grundfrage des Welt­anschauungs- und schließlich sogar des politischen Lebens, ja des Straf­rechts und so weiter. Und man kam auf eines nicht - Sie können das­jenige, was zu diesem Gedankengang, was zu dieser Erkenntnis im einzelnen führt, in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit» um­fassend nachlesen -, man kam auf das eine nicht, daß die Frage: Ist der Mensch frei oder ist er nicht frei? eigentlich gar keinen Sinn hat, daß sie anders gestellt werden muß, daß sie so gestellt werden muß: Ist der Mensch von seiner Geburt an durch eine seinem Wesen angemessene Er­ziehung erziehungsgemäß und schulgemäß so zu entwickeln, daß in seinem Innern, trotz äußerlicher Rechts- und Wirtschaftseinrichtungen etwas als Erlebnis aufsteigen kann, das ihn zum freien Wesen macht? Ja, das ihn nicht nur innerlich zum freien Wesen macht, sondern das in ihm die Kraft der Freiheit zu einer solchen Stärke ausgestaltet, daß er dann auch das äußere Rechts- und das äußere Wirtschaftsleben in sei­nem Sinne einrichten kann? Das entstand ja als Grundantrieb in der modernen sich entwickelnden Menschheit, auf der einen Seite der demo­kratische Trieb nach gleichem Recht für alle, auf der andern Seite der soziale Trieb: Ich helfe dir, wie du mir helfen sollst. Man fühlte aber:

Solch eine soziale Ordnung mit «gleiches Recht für alle> und mit «hilf mir, wie ich dir helfen will und muß», solch eine soziale Ordnung läßt sich nur einrichten von Menschen, die als freie Menschen, als freie Geistesmenschen eine wahre Beziehung zur ganzen Wirklichkeit ent­wickeln.

Verständnis muß man erst dafür haben, daß der Mensch weder zur Freiheit noch zur Unfreiheit geboren ist, daß er aber erzogen und entwickelt werden kann zur Freiheit, zum Verständnis der Freiheit, zu dem Erleben der Freiheit, wenn man dasjenige Geistesleben an ihn heranbringt, das ihn durchdringt mit Kräften, die ihn erst freimachen in seiner Entwickelung als Mensch; daß man sich hinaufentwickeln kann bis zu dem Punkte, wo unsere Gedanken nicht mehr die abstrak­ten, unwirklichen, ideologischen sind, sondern diejenigen Gedanken, die vom Willen ergriffen werden. Das versuchte ich, in meiner «Philo­sophie der Freiheit» vor die Welt als eine Erkenntnis hinzustellen: Die

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Ehe des Willens mit den innerlich frei gewordenen Gedanken. Und aus dieser Ehe des Willens mit den innerlich frei gewordenen Gedanken ist zu erhoffen, daß der Mensch hervorgeht, der auch die Fähigkeiten entwickelt, im Zusammenleben mit den andern, das heißt in sozialer Gemeinschaft, ein jeder für sich und ein jeder sozial mit jedem andern, solche Rechts- und solche wirtschaftlichen Ordnungen hervorzubringen, die man hinnimmt in ihrer Notwendigkeit, wie man die Notwendig­keit hinnimmt, daß man den physischen Leib an sich tragen muß, seinen Gesetzen gehorchen muß und nicht frei ist, sich einmal die rechte Hand nach links und umgekehrt wachsen zu lassen, oder den Kopf in die Mitte der Brust. Gegen das, was von Natur aus schon vernünftig ist, kämpfen wir nicht aus der Freiheit an. Gegen dasjenige, was an den menschlichen Rechts- und Wirtschaftseinrichtungen widermenschlich und widernatürlich ist, kämpfen wir mit unserer Freiheit an, wenn wir zu entsprechendem Bewußtsein gekommen sind, weil wir wissen, es ist anders zu machen. Und wir wissen und wollen wissen als mo­derne Menschen, daß jeder Mensch demokratisch mitarbeiten soll an dieser Umgestaltung der äußeren Wirtschafts- und Rechtsordnung zu einer solchen Vernünftigkeit, die unsere Freiheit nicht beeinträchtigt, ebensowenig, wie die natürliche Gesetzmäßigkeit unseres physischen Leibes. Um das zu verstehen, muß man aber Herz und Sinn haben für die Wirklichkeit des Geisteslebens, denn dasjenige Geistesleben, das ein Anhängsel ist des Staats- und Wirtschaftslebens, dasjenige Geistesleben, das man nur erwirbt, wenn man der Sohn reicher Leute ist oder staat­liche Stipendien gekriegt hat, oder aus dem Grunde, damit man ein staatliches Unterkommen sich erwirbt -, dieses Geistesleben macht nicht frei. Das auf sich selbst gestellte Geistesleben, das Geistesleben, das aus seiner eigenen Kraft heraus arbeitet, das macht frei, und das erzeugt gegenüber jenen Stimmungen, jenen drei Stimmungen: Hemmung des Willens, Beklemmung des Rechtsgefühls, Verdunkelung der Gedanken, die bei unfreiem Willen vorhanden sind, die andere Stimmung: die freie Willensausbildung im Geistesleben.

Wird das eintreten, was ich hier in einer Reihe von Vorträgen ge­schildert habe als das freie Geistesleben, das Geistesleben mit Selbst­verwaltung des Pädagogisch-Didaktischen im dreigegliederten sozialen

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Organismus, dann wird der Mensch nicht mehr seinen Willen gehemmt fühlen, sondern er wird umgeben sein von einer Atmosphäre, die er­zeugt wird aus diesem freien Geistesleben, so daß er sich sagt, dieses freie Geistesleben nimmt auch meinen Willen als einen freien auf. Und aus dem Verständnis des selbstverwalteten Geisteslebens wird hervor­gehen, was die neuen sozialen Triebe sind, die bestehen in dem gegen­seitigen, wahren, sachlichen Tolerieren und Verstehen eines Menschen durch den andern auf dem Gebiete des zweiten Gliedes des sozialen Organismus, das Rechtsstaates, wo jeder Mensch jedem anderen Men­schen, sofern sie mündige Menschen sind, als gleicher gegenübersteht. Und als drittes wird hervorgehen, das werden wir übermorgen noch genauer sehen, eine solche Struktur des Wirtschaftslebens, daß die­jenigen, die in diesem Wirtschaftsleben arbeiten, vom höchsten Geistes­arbeiter bis zum letzten Handarbeiter, als selbständige, freie mensch­liche Individualitäten sozial mitwirken, so daß an die Stelle der Zeit, wo es den Menschen schwarz wurde vor den Augen bei den Gedanken an das Wirtschaftsleben, die Zeit treten wird, wo das vernünftige Han­deln der Betriebsräte, der Verkehrsräte, der Wirtschaftsräte die Wirt­schaft regeln wird, wo der Mensch nicht mehr dem Zufall von Angebot und Nachfrage und der Krisenhaftigkeit von Angebot und Nachfrage, der Kapitalwirtschaft, übergeben sein wird, sondern wo der einzelne Mensch wirtschaftend neben dem anderen Menschen im Leben drinnen stehen wird; wo gerechte Preis- und Arbeitsverteilung aus der Ver­nunft hervorgehen wird, so daß wir uns in das, was einmal notwendig ist im Wirtschaftsleben, als freie Menschen hineinstellen können. Und wie wir uns in den Leib hineinstellen in seiner naturgemäßen Not­wendigkeit, so wird der Mensch sich seine Freiheit erringen im moder­nen demokratischen Sozialismus, in der modernen sozialen Demo­kratie.

Um diese wahre Menschlichkeit zu erringen, dazu ist notwendig, daß überwunden werden die alten Parteischablonen, die alten Partei-meinungen, die gegenüber den heutigen Menschheitsforderungen doch nur Gedanken- und Urteilsmumien sind. Wahrhaftig, diejenigen kennen mich schlecht, die immerzu davon sprechen, daß ich mit dem, was der Dreigliederung des sozialen Organismus zugrunde liegt, irgendeine

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Reklame für mich treiben wollte. Oh, ich wäre viel lieber im stillen Dornach, wo ich gearbeitet habe, bevor ich hierher gekommen bin, an einem Werk, das mir sehr auf der Seele liegt, und ich stehe hier nur gegen meinen subjektiven Willen, aus der Erkenntnis heraus, daß heute eine Notwendigkeit vorliegt, gegenüber den alten Parteiprogrammen und Parteigedanken, die da Mumien sind und die sich in holdester Eintracht von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken zusam­menfinden, daß es eine Pflicht ist, gegen diese Mumien, soweit ich es kann, zu wirken. Ich gebe zu, es mag schwach sein, dann mag es sachlich bekämpft werden und etwas Besseres an die Stelle gesetzt werden, aber als eine Pflicht muß man es fühlen gegenüber den alten und gegen­über den neuen Tatsachen, ein Neues vor die Menschheit hinzustellen. Es kommt mir gar nicht vor, als ob die Menschheit nicht Sehnsucht hätte nach diesem Neuen, als ob die Menschheit nicht eigentlich wollte, daß dieses Neue auftrete. Denn was will denn eigentlich dieser Ge­danke, diese Praxis des dreigliedrigen sozialen Organismus? Sie wol­len, daß die Menschen endlich verstehen lernen, daß wir in der Zeit der großen Abrechnung leben, in der in Bewegung und Unruhe ge­kommen sind die drei Hauptlebensgebiete der Menschheit, das geistige Leben, das politische oder rechtliche Leben, das wirtschaftliche Leben, daß wir brauchen eine Neugestaltung, eine Umgestaltung dieser drei Gebiete unseres allgemeinen Menschenlebens.

Also was will der Gedanke der Dreigliederung des sozialen Orga­nismus? -Vielleicht mit schwachen, mit ungenügenden, mit fehlerhaften Kräften, dann mag man sie sachlich verbessern, mag sich sachlich mit ihnen auseinandersetzen. -Er will eine Formulierung dessen, was in der Praxis werden soll, um die notwendige Umgestaltung des politischen Lebens, des wirtschaftlichen Lebens, des geistigen Lebens hervorzu­rufen.

Nun, eben tagt in Weimar der sozialdemokratische Parteitag, der Parteitag derjenigen Partei, welche doch wohl bekennt, daß sie die Umgestaltung des modernen Lebens im sachgemäßen Sinne will. Und ein Minister, sogar der Reichssozialisierungsminister, er hat in Weimar vor den Sozialdemokraten folgendes gesprochen: Wir brauchen nicht nur eine politische, sondern eine wirtschaftliche und geistige Revo­lution.

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Wer die Formulierung findet, die auch die geistigen und sitt­lichen Kräfte im Volke wirksam macht, fesselt es an seine Fahnen. - Das mag der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus noch un­genügend machen, dann wird er gerne bereit sein, den anderen Platz zu machen, die es besser können, aber daß wenigstens in der Richtung gehandelt werden muß, wie der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus handelt, das gesteht vor seinen Parteigenossen selbst der gegenwartige Reichssozialisierungsminister Wissell. Und aus den Wor­ten heraus: Wir brauchen nicht nur eine politische, sondern eine wirt­schaftliche und eine geistige Revolution -, darf man wohl hören, daß wir wenigstens, wenn wir es vielleicht auch nicht im genügenden Sinne können, daß wir wenigstens dasjenige wollen, was auch diese Leute wollen müssen, wenn sie sich einmal klar sind darüber in einem geistig lichten Augenblick, was die Anforderungen der Gegenwart sind. Dann aber, wenn die Sache so liegt, dann darf sich nicht etwa ergeben, was ich sehr fürchte, daß die Leute vom Schlage des Herrn Wissell, wenn sie die Schriften des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organis­mus in die Hand bekommen, es so machen, wie andere Parteigenossen, daß sie sagen: Nun, wir sind ganz einverstanden, aber wir bekämpfen es bis aufs Messer. - Wir wären damit einverstanden, wenn einer käme, der es besser macht, daß wir abtreten können. Aber darum handelt es sich nicht, Dinge zu bekämpfen, die man selber als notwendig bezeich­nen muß, sondern darum, wenn man etwas gegen sie unternehmen will, daß man es besser mache. Und sicher können Sie sein - ich werde übermorgen noch über mancherlei sprechen, was vom Gesichtspunkte der Dreigliederung des sozialen Organismus zu sagen ist -, sicher kön­nen Sie sein, es liegt dem Auftreten dieses Gedankens von der Drei-gliederung des sozialen Organismus die Gesinnung zugrunde, die erstens hervorgeht aus der Notwendigkeit dieser Dreigliederung in der Gegenwart, und die hervorgeht aus der Einsicht, daß etwas ge­schehen muß, ehe es zu spät ist. Deshalb ruft sie allen denjenigen zu, die diese Dreigliederung des sozialen Organismus bekämpfen wollen: Gut, wir treten ab, aber macht ihr es besser, wenn ihr selber zugeben müßt, daß die Dreigliederung des sozialen Organismus eine Notwendig­keit ist!

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Schlußwort

Es meldet sich niemand zur Diskussion. Dr. Unger bittet daher Herrn Dr. Steiner, das Schlußwort zu nehmen.

DR. STEINER: Sehr verehrte Anwesende! Ith will vielleieht nur dar-auf hinweisen, daß ja trotz mancher Widerstände, die sich gerade aus Parteikreisen heraus ergeben haben, es immerhin - wenn diese Wider-stände nicht allzu geneigtes Ohr finden in den weiteren Kreisen der am wirtschaftlichen Leben Teilnehmenden -, daß es immerhin als ein Er­folg zu verzeichnen ist, daß schon einige Antriebe auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens durch den Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus gekommen sind, und nach der Richtung des In-die-Hand­Nehmens des Wirtschaftslebens, der Wirtschaftseinrichtungen von seiten der an diesem Wirtschaftsleben beteiligten Personen immerhin schon einiges geschehen ist. Welcher Art das sein soll und sein muß, davon soll übermorgen des weiteren gesprochen werden. Aber es darf die Sache nicht so genommen werden, als ob, wenn von den drei Gliedern des sozialen Organismus eines ein wenig zeigt, daß es in Wirklichkeit übergeht, als ob dann die anderen schlafen könnten. Wenn etwas im Ernste so real, so praktisch gedacht ist wie diese Dreigliederung, dann ist der einseitige Erfolg des einen Teiles der größte Mißerfolg des Gan­zen. Denn durch nichts läßt sich so sehr die Dreigliederung gefährden, als wenn besonders nur gelingt die Förderung des einen Gebietes, etwa des wirtschaftlichen. Deshalb ist es des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus gegenwärtige allerernsteste Sorge, daß sich hin­zugeselle zu der wirtschaftlichen Bewegung, innerhalb welcher wir als Bund für Dreigliederung stehen, eine Strömung des geistigen Lebens -ob man das nun «Kulturrat» oder «geistigen Rat» oder wie immer nenne, das ist gleichgültig -, daß sich hinzugeselle eine möglichst große Zahl von Menschen - wir haben einmal einen Aufruf hier verteilt «An alle Menschen», weil eigentlich die Kultur eine Angelegenheit aller Menschen ist -, eine Zusammenschließung von Menschen also, denen die Neubildung vor allem unseres Schul- und unseres Erziehungswesens auf der Seele liegt, so auf der Seele liegt, daß sie einsehen, wie die freie Entwickelung der menschlichen physischen und geistigen Fähigkeiten

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gehemmt wird in dem Schulwesen, das durch die Staatsklammern ein­geklemmt ist. Daher ficht der Bund für Dreigliederung für die Befrei­ung des Schulwesens, für die Selbstverwaltung des Schulwesens von unten bis oben. Daß dieses in der richtigen Weise geschehe, dazu ist notwendig, daß eine möglichst große Anzahl von Menschen vor der Öffentlichkeit diese Selbstverwaltung des gesamten Unterrichtswesens, ja, des gesamten Geisteswesens fordere. Damit die einseitige Verfol­gung der Wirtschafiskräfte nicht ein Mißerfolg werde, liegt es dem Bunde auf der Seele, nunmehr Menschen zusammenzubringen, welche mitarbeiten an dieser Befreiung des Schulwesens und Geisteswesens, des Erziehungswesens. Dabei soll nicht im geringsten dogmatisiert werden. Je mehr Meinungen dabei zum Ausdruck kommen, je mehr Gescheites zum Vorschein kommt, desto besser ist es. Auch da werden wir uns nicht in irgendeinem selbstgemachten Dogma versteifen, sondern zu­gänglich sein für alles, was aus sachverständigem Sinne herauskommen kann. Wer aber überhaupt glaubt, daß unter den Neubildungen heute auch die des geistigen Lebens ist, der müßte eigentlich die Neigung fühlen, die Notwendigkeit fühlen, sich mit anderen in einem solchen Zusammenschluß von Menschen zu einer Art geistigem oder Kulturrat, oder wie man es dann nennen will, zusammenzufinden.

Wir haben keineswegs versäumt, so viel es uns möglich ist, mit unse­ren Kräften da auch gleich an das Positive heranzugehen. Es besteht hier in Stuttgart das Projekt, das wahrscheinlich schon im Herbst zur Ausführung kommen wird: mit Hilfe einer Lehrerschaft, die Verständ­nis hat für einen wirklichen, im Sinne einer vergeistigten Anthropolo­gie gedachten Menschlieitsentwickelungsgedanken, mit Hilfe einer sol­chen Lehrerschaif eine wirkliche, aber nicht auf Staatsomnipotenz, sondern auf die Entwickelung des freien Menschen gestellte Einheits­schule herbeizuführen. Wir hoffen, daß wir eine solche Schule gerade hier in Stuttgart für einen engeren Kreis - es soll aber keine «Standes-schule» sein, es wird gerade eine Proletarierschule werden - ins Leben werden rufen können, eine Schule, die, soweit es unter den heutigen Verhältnissen schon möglich ist, streng die Anschauungen des Bundes für Dreigliederung auch pädagogisch-didaktisch zum Vorschein bringen wird. Da wird versucht werden, den Menschen so zu entwickeln, daß

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er zu einem wirklich freien Geisteswesen heranwächst. Da wird ver­sucht werden, diejenigen Kräfte, die man zwischen dem siebenten und dem fünfzehnten Jahre in einem Menschen zu entwickeln hat, so zu entwickeln, daß Denken, Fühlen und Wollen heranerzogen werden in der Stärke, in der sie nur herangezogen werden können in diesen Le­bensjahren, so daß das spätere Leben und sein Schicksal diese Kräfte nicht wieder knicken können. Denn das bemerkt, wer Psychologie ge­nug dazu hat, wie vieles in unserer Gegenwart, vieles von den Schäden unserer Gegenwart davon abhängt, daß nicht in genügender Stärke Denken, Fühlen und Wollen in den entsprechenden ganz jungen Le­bensjahren so entwickelt werden, daß sie nicht später von den Schick­salsschlägen des Lebens geknickt werden können. Mehr als man glaubt, werden durch unsere heutigen Kulturverhältnisse die nicht genügend entwickelten Seelenkräfte geknickt; und mehr als man glaubt, hängt in unseren Verhältnissen, hängt mit Bezug auf unseren Niedergang von diesen Dingen ab.

Ich will auf dieses eine Beispiel nur hinweisen, damit Sie sehen, daß wir nicht Schwärmer, nicht Ideologen sind, sondern daß wir, soweit es uns mit unseren schwachen Kräften möglich ist, überall auch praktisch wirken wollen. Aber damit solche Dinge nicht vereinzelt bleiben, da­mit nach und nach unser ganzes Geistesleben zu einem freien gemacht werde, dazu ist es notwendig, daß sich viele Menschen mit vielen Mei­nungen, vielen Erkenntnissen und Kenntnissen und Praktiken zu uns hinzugesellen in den Kulturrat oder dergleichen. Das ist es, was ich zwar im heutigen Vortrag nicht deutlich ausgesprochen habe, was aber zugrunde lag als die Sehnsucht, daß auch in diesem geistigen Glied des dreigliedrigen sozialen Organismus sich genügend Menschen finden mögen, die in Zusammenarbeit auf diesem Gebiete etwas von dem wirken mögen, was notwendig ist in unserer Zeit nicht der kleinen, sondern der großen Abrechnungen. Denn wir brauchen ja eben eine Umgestaltung der Verhältnisse in wirtschaftlicher, in politischer und in geistiger Beziehung. Können wir uns nicht aufraffen, bevor es zu spät ist, zu einem tätigen Mitarbeiten nach dieser Richtung, dann müßte es eben zu spät werden! Und das wäre das Schrecklichste, was aus dieser Weltkriegskatastrophe hervorgehen könnte. Geht aus ihr aber hervor

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für viele Menschen die Lehre: Wir müssen den starken Willen zur Neu­gestaltung in allen drei Lebensgebieten entwickeln, dann wird, wenn auch vielleicht nicht für die unmittelbare Gegenwart schon im vollen Sinne, so doch für die Menschheitszukunft, aus diesem Willen heraus ein Großes, und damit sogar aus dem Unglück der Weltkriegskata­strophe ein Großes hervorgehen. Und wir haben als Deutsche, ein­geklemmt zwischen dem Orient und dem Okzident, diese große Auf­gabe, zu begreifen, was dort und da am meisten droht einzuschlafen und es aus der Mitte heraus zu erwecken. Und ich glaube, daß dies heute der beste Patriotismus ist, der zuletzt auch standhalten wird gegenüber alle dem, was aus den trüben Sümpfen von Versailles uns droht, indem das, was standhalten kann in der Mitte zwischen dem Osten und dem Westen, das sein wird: daß wir aufgehen lassen aus Deutschlands großer Zeit - aus unsern Lessing, Herder, Schiller, Goethe, aus der großen Zeit unserer das deutsche Wesen in ihrer Art zusam­menfassenden deutschen Philosophie, der Philosophie Schellings, Fich-tes, Hegels, aus der Zeit der deutschen Romantiker -, daß wir hervor­gehen lassen, aufleuchten lassen, was unsere Aufgabe nach den furcht­baren Erfahrungen der letzten Jahre ist. Diese Aufgabe ist, zu erwecken gegenüber dem einschlafenden Geistesleben des Ostens, gegenüber dem einschläfernden materiellen Leben des Westens ein Geistesleben, das fähig ist, die materielle Welt vernünftig, menschenwürdig zu gestalten und ein Wirtschaftsleben, ein materielles Leben, das fähig ist, dem Menschen die Freiheit zu geben zu einem freien Geistesleben!

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FREIHEIT FÜR DEN GEIST, GLEICHHEIT FÜR DAS RECHT, BRÜDERLICHKEIT FÜR DAS WIRTSCHAFTSLEBEN Öffentlicher Vortrag, Stuttgart, 18. Juni 1919

Es ist wohl begreiflich, daß man in diesen Tagen der schwersten und folgereichsten Entscheidungen nur, ich darf wohl sagen, mit einer ge­wissen tiefen Beklemmung das Wort nehmen kann. Allein, es steigt doch zugleich in der menschlichen Seele die Idee auf, daß für Mittel­europa aus ganz anderen Untergründen heraus dasjenige erreicht wer­den muß, was seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden für die Entwicke­lung dieses Mitteleuropa vorgezeichnet ist, was in den Untergründen liegt und zuletzt einen Erfolg haben muß, auch wenn mit noch so bedeutungsvollen, schwerwiegenden äußeren materiellen Mitteln dieses Mitteleuropa wirtschaftlich seinem Ende entgegengeführt werden soll. Aus diesen Untergründen heraus ist ja durchaus gesprochen worden in dieser ganzen Reihe von Vorträgen, die ich hier zu halten die Ehre hatte, und von denen aus auch heute in diesen schweren Tagen ge­sprochen werden soll. Denn allein aus diesen Untergründen heraus kann ein Licht erglänzen auf die heute so schwer auf unseren Herzen liegende Frage: Können wir noch hoffen?

Es gibt scheinbar kleine, scheinbar bedeutungslose Ereignisse im menschlichen Leben, die sich aber demjenigen, der sich in dieses Leben mit allen seinen menschlichen Kräften hineingestellt fühlt, gar tief in die Seele prägen als äußere Symptome für dasjenige, was tief im Innern der Menschheitsentwickelung vorgeht. Ein solches Erlebnis hatte ich, als ich vor einigen Monaten über denselben Gegenstand, über den ich nun wiederholt zu Ihnen sprechen durfte, auch in Basel sprach. Damals, in Basel, sprach ich auf Einladung der Basler Studentenschaft über das, was eigentlich dem Ruf nach Sozialisierung der Menschheitseinrich­tungen in der Gegenwart wirklich zugrunde liegt. Und in der Diskus­sion tönte mir das merkwürdige Wort entgegen, es könne kein Heil

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erfolgen mit Bezug auf die brüchig gewordenen äußeren Einrichtungen, die einen Neubau erfordern, ehe Lenin Weltherrscher sein würde!

Nun, aus diesen Worten konnte einem allerdings entgegenklingen, wie auf der einen Seite durch die Menschheit der Ruf nach Soziali­sierung geht, wie auf der anderen Seite über weite Kreise hin die aller-unsozialsten Anschauungen über diese Sozialisierung herrschen. Der Be­treffende, der diesen Ausspruch getan hatte, war offenbar ein An­hänger der Dogmen des heutigen landläufigen Kommunismus, und ich konnte ihm nur erwidern, daß es höchst bezeichnend sei für unsere Gegenwart, daß in so unsozialer Weise über die Sozialisierung der Menschheit gesprochen werden könnte. Denn man müsse, wenn man aus dem Geiste dessen, was heute der Menschheit nottut, heraus spricht, doch wenigstens erkennen, daß das erste in der Sozialisierung die So­zialisierung der Herrschaftsverhältnisse sei, und daß eine wahre Soziali­sierung doch nicht damit beginnen könne, daß man aufrichtet die älteste Form des Monarchismus über die ganze Erde in Form eines wirtschaftlichen Papsttums.

Es gibt viel, viel zu denken, daß in unserer Zeit gerade diejenigen oftmals am unverständigsten über das reden, was geschehen soll, die da glauben, darüber am allerfortschrittlichsten zu reden. Ein solches Un­ding von einer Behauptung, wie sie mir damals entgegentönte, war für mich nur, ich möchte sagen, ein aus den weitesten Kreisen herausklin­gender Ruf, durch einen einzelnen ausgesprochen, gründlich zu er­kennen, was eigentlich dem in vernünftiger und praktischer Weise ent­gegenkommen muß, was heute als Ruf nach Sozialisierung durch die Welt tönt. Denn was geschehen muß, das muß wohl zum Heile der Rufenden sehr anders geschehen, als diese Rufenden sich vorstellen, oder eigentlich sich nicht vorstellen, sondern in dunklen Phrasen aus ihren Emotionen heraus sich äußerlich vor die Seele malen.

Zwei Dinge, die da aus der neueren Menschheitsentwickelung heraufleuchten, werden sachgemäß beobachtet werden müssen, wenn man überhaupt darauf kommen will, was sich gegenwärtig zu verwirklichen strebt. Aus dem Verschiedensten, was da oder dort in verständiger oder mißverständlicher Weise auftaucht, klingen immer doch zwei For­derungen der Gegenwart heraus, zwei Forderungen, die allerdings oftmals

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eben mißverständlich ausgesprochen werden, denen man aber in ihrer wahren Gestalt auf den Grund kommen muß, wenn man dem gewachsen sein will, was in unserer, die Menschheit so schwer prüfen­den Gegenwart nach Wirklichkeit drängt. Diese zwei Devisen der neuesten Zeit sind erstens Demokratie und zweitens Sozialismus. Die­jenigen, welche den Ruf nach einer Neugestaltung heute mehr erheben aus allgemein menschlichen Empfindungen heraus, sie kleiden diesen ihren Ruf in das Wort Demokratie, die, welche mehr aus dem wirk­lichen Leben und seinen Nöten heraus denken und empfinden, kleiden wiederum den Ruf nach einer Neugestaltung in das Wort Sozialismus.

Eines ist dabei in einer ganz merkwürdigen Art in der neueren Zeit vollständig wie aus dem Heroldsruf des öffentlichen Lebens heraus­geworfen. Eine Partei hat die beiden Impulse der neueren Zeit, Demo­kratie und Sozialismus, zusammengezogen in ihrem Namen «Sozial­demokratie», und sie hat schon in ihrem Namen dasjenige ausgelassen, wovon ich heute beweisen möchte, daß es vor allen Dingen einem wirklichen, ernstgemeinten und praktischen Neuaufbau unserer Ver­hältnisse zugrunde liegen muß.

Unberücksichtigt geblieben ist nämlich bei diesen beiden Rufen das eigentliche Geistesleben, das Geistesleben im umfassendsten Sinne, in jenem Sinne, in dem es nicht nur sich erstreckt über das, was man an höheren Begriffen und Vorstellungen über allerlei wissenschaftliche und Weltanschauungsfragen, über allerlei Künstlerisches und Religiöses auf­nimmt, sondern in dem Sinne, wie es sich auch erstreckt über die Er­kenntnisse und Einsichten sowohl in bezug auf das Staatsleben wie in bezug auf das Wirtschaftsleben, wie es sich erstreckt nicht nur über die theoretischen, sondern auch über die praktischen Menschheitskräfte.

Man kann sagen, die neuere Menschheit hat sich in den letzten Jahr­hunderten so entwickelt, daß sie mit Bezug auf das öffentliche Leben ein starkes Vertrauen hatte zu Einrichtungen, die sie immer demo­kratischer und demokratischer gestalten wollte. Und in diese Bestre­bungen haben sich dann aus dem Erleben der modernen Wirtschafts-verhältnisse diejenigen Forderungen hineingestellt, die nach einer sozia­len Gestaltung dieses Wirtschaftslebens gehen. Daher kann man heute das Gefühl haben, wenn auch die verwirrenden und chaotischen Ver­hältnisse

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der Gegenwart manches, was in den Untergründen strebt, zudecken, so ist doch das Bestreben vorhanden nach einer im demo­kratischen Sinne gehaltenen Sozialisierung der menschlichen Einrich­tungen, nach einer sozial gestalteten demokratischen Einrichtung unse­res öffentlichen Lebens. Aber merkwürdig, was verloren gegangen ist, das ist das Vertrauen zu den Kräften des menschlichen Geisteslebens. Man glaubt, daß Demokratie helfen kann, man glaubt weiter, daß Sozialismus helfen kann, aber man glaubt nicht, daß im Geistesleben selber Kräfte liegen, die vielleicht gerade, wenn sie in der rechten Weise erfaßt würden, das aus dem Menschenwesen entbinden könnten, was zum Heile der Gegenwart und der nächsten Zukunft in diesem Men­schenwesen entbunden werden muß.

Sieht man sich in der heutigen Zeit, wo so viele zum Sozialismus drängen, ein wenig um, so macht man eine merkwürdige Entdeckung. Man möchte fast sagen, der Ruf nach Sozialisierung wurde und wird in dem Maße stärker und kräftiger, je antisozialer die menschlichen Triebe sind, je antisozialer das menschliche Seelenleben wird. Und man möchte sogar so sagen: Der Mensch vernimmt aus seinem antisozia­len Seelenleben heraus, wie wenig er in der Lage war, die äußeren Ein-richtungen im sozialen Sinne zu gestalten, und weil er im Innern so antisozial ist, so ruft er nach einer sozialen Gestaltung der äußeren Ver­hältnisse. Allein, wer die Menschennatur kennt, der weiß, daß ohne eine gewisse Umgestaltung des menschlichen Innern die soziale Ge­staltung der äußeren Einrichtungen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der große Irrtum, von dem die Menschheit in ihren führenden Gei­stern schon lange ausgegangen ist, das ist - ich habe das auch schon vorgestern berührt -, daß der Mensch von Natur aus irgendwelche Eigenschaften fertig hat, mit denen man in der menschlichen Gesell­schaft unmittelbar rechnen kann. Zwar glaubt man immer an das Gegenteil, aber das, was ich eben gesagt habe, ergibt doch die Erfah­rung des Menschenlebens selbst.

Das, worauf ich im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahr­hunderts in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit» aufmerksam zu machen versuchte, war, daß der Mensch zu seinem Volldasein nur kommen kann, wenn er dieses Volldasein wirklich in seinem Werden

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zwischen Geburt und Tod entwickelt, wenn er namentlich dasjenige, was eine Seele doch haben muß, wenn sie ein menschenwürdiges Da­sein anstrebt -, wenn er das Bewußtsein seiner freien Menschennatur durch die Entwickelung der in seinem Innern angelegten Kräfte erst entbindet. Frei kann man nur werden und frei können die Menschen nur werden, wenn sie zur Freiheit erzogen werden oder sich selbst er­ziehen. Wer dies durchschaut, der wird das, was heute als Ruf nach Sozialismus auftritt, doch in einer tieferen Weise anschauen, als das gewöhnlich geschieht. Er wird fragen, ist es nicht vielleicht so, daß wir uns als Mensch zu Menschen nicht sozial und demokratisch hinfinden, weil unser Erziehungsleben dasjenige in uns, was für Demokratie und Sozialismus veranlagt ist, nicht in der richtigen Weise heranentwickelt? Man braucht ganz bestimmte innere Antriebe der Menschennatur, wenn man sich in eine demokratische Gemeinschaft hineinstellen soll, oder wenn man eine soziale Wirtschaftsgemeinschaft begründen will. Und man könnte fast sagen, wenn man damit nicht durch eine allerdings richtige Wahrheit zu viele Menschen der Gegenwart schockieren würde:

So wie der Mensch geboren wird - die Entwickelung des Kindes zeigt es deutlich -, so hat er zunächst nicht die Triebe nach Demokratie und auch nicht die nach Sozialismus, die müssen erst in seine Seele hinein-gesenkt werden. Sie liegen veranlagt darin, aber sie kommen nicht von selbst heraus. Und ehe nicht unser Erziehungssystem auf eine gründliche und eine wirklichkeitsgemäße Erkenntnis der Menschennatur gestellt wird, eher erleben wir es nicht, daß der Mensch in eine soziale oder demokratische Gemeinschaft selber mit demokratischer und sozialer Gesinnung sich hineinstellen kann. Er wird, wenn er sich auch dessen nicht bewußt ist, aus unterbewußten Triebkräften heraus stets Demo­kratie und Sozialismus zu sprengen versuchen. Und werden nicht An­sätze gemacht zur Erziehung in demokratischem Sinne wie auch in sozialem Sinne, dann leben die Menschen des weiteren wiederum so zusammen, daß aus dem Demokratischen irgendeine Tyrannis, aus dem Sozialen irgend etwas Antisoziales wird, wie ja ganz gewiß aus dem Sozialen, das man im europäischen Osten anstrebt, das Antisozialste in verhältnismäßig kurzer Zeit werden mußte und eben jetzt schon da ist!

Dadurch wird der Blick desjenigen, der es heute mit der Menschheitsentwickelung

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ehrlich meint, vor allen Dingen auf das Geistesleben, auf die Erziehung gelenkt. Und die Notwendigkeit stellt sich heraus, auf eine wirkliche sachgemäße Menschenerkenntnis vor allen Dingen das Geistesleben und seinen wichtigsten Bestandteil, die Erziehung und den Unterricht, zu stellen. Man beachtet das hier in Betracht Kommende manchmal zwar instinktiv, aber dieses instinktive Beachten genügt nicht, man muß das, was zugrunde liegt, mit einer gründlichen päd­agogischen Einsicht durchsetzen. Man beachtet viel zu wenig, daß der heranwachsende Mensch in drei aufeinanderfolgenden Lebensepochen drei ganz verschiedene Entwickelungszustände zeigt. Die erste Lebens-epoche ist diejenige, die mit dem Zahnwechsel abschließt, gegen das siebente Lebensjahr. Die zweite ist die, welche sich erstreckt vom Zahn-wechsel bis zur Geschlechtsreife, und die dritte ist jene, die dann von der Geschlechtsreife sich erstreckt bis zum Ende des zweiten mensch­lichen Lebensjahrzehntes. Daß diese drei Lebensepochen des Menschen ganz wesenhaft voneinander verschieden sind, daß Erziehung und Un­terricht auf diese Verschiedenheit gebaut sein müssen, das ist etwas, was der Menschheit so einleuchten muß wie die Naturgesetze, wenn in der Menschheit dasjenige an sozialen und demokratischen Trieben auf­leuchten soll, was zu einer Neubildung der menschlichen Entwicke­lungsverhältnisse notwendig ist.

Wer die Fähigkeit hat, innerlich das Kind in jener wichtigen Lebens-epoche, in der das Leben von der Geburt bis zum Zahnwechsel abläuft, zu beobachten, der weiß, daß alle Tätigkeit, alle irgendwie gerichtete Handlungsweise des Kindes in dieser ganz unbewußten, instinktiven Kinderzeit beherrscht ist von dem Prinzip der Nachahmung. Das Kind hat in dieser Zeit durchaus das Bestreben zu sprechen, Gesichter zu machen, die Hände zu bewegen, so zu tun, wie seine Umgebung tut, spricht, Gesichter macht, die Hände bewegt. In diesem nachahmenden Bestreben des Kindes, dem man durch eine wirklich praktische Er­ziehung entgegenkommen muß, liegt etwas für das menschliche Leben höchst Bedeutungsvolles. Es liegt darin, daß die menschliche Natur das, was sie im späteren Leben bewußt niemals vollbringen kann, un­bewußt, instinktiv versucht: sich zusammenzufinden als Einzelmensch mit anderen Menschen. Im nachahmenden Tun und Bestreben soll sich

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ausgestalten ein Hineinfinden in die menschliche Sozietät, soll sich aus­gestalten ein wirklich menschliches, durch Bande von Mensch zu Mensch gehendes Zusammenleben der Menschen.

Nehmen wir an, die Menschheit könnte sich in der Gegenwart ent­schließen, in radikaler Weise hinzuschauen auf dieses Prinzip der Nach­ahmung in den ersten Kinderjahren. Dann würde, wenn darauf Sorg­falt gelegt würde, für das spätere Leben etwas entwickelt werden, was nur bewußt, verständig entwickelt werden kann, wenn im unbewußten Kindesalter die Nachahmung richtig waltet. Diese Nachahmung sieht man nicht immer in der richtigen Form. Da kommen Eltern zu einem und sagen: Mein Kind, oh, ich habe große Sorge, mein Kind hat einen Diebstahl begangen, es hat Geld aus der Schublade herausgenommen! -Man fragt nach: Wie alt ist das Kind? - Fünf Jahre. - Man muß dann sagen: Wenn sonst alle Erziehungsverhältnisse in Ordnung sind, so braucht man sich aus dieser Sache keine besondere Sorge zu machen, denn das Kind ist ein Nachahmer, es tut das, was in seiner Umgebung getan wird. Es hat gesehen, wie jeden Tag die Mutter soundso oft Geld aus der Schublade nimmt, und es macht dies nach. In diesem kindlichen Alter haben Worte, welche Sittengebote ausdrücken, noch keinen Ein­fluß auf die kindliche Entwickelung, sondern allein das, was man selbst in der Umgebung des Kindes macht.

Beachten wir dies, dann legen wir bei einer entsprechend eingerich­teten Erziehung den Grund dazu, daß, wenn der Mensch in der rich­tigen Weise mit Hinorientierung auf die naturgemäße Nachahmungs­sucht erzogen worden ist, daß ihm dann im bewußten Lebensalter das aufblüht, was man nennen kann die richtige Achtung, die richtige Ein­schätzung des anderen Menschen, das Bestreben, den anderen Menschen so zu achten, wie er geachtet zu werden verdient, einfach deshalb, weil er Menschenantlitz trägt. Und dies ist die erste Bedingung für die rich­tige Ausgestaltung einer Demokratie! Demokratien können auf dem Rechtsboden nur dadurch in der richtigen Weise entstehen, daß die Menschen in den demokratischen Parlamenten in Gesetze dasjenige formen, was als Verhältnis von Mensch zu Mensch als gleichen lebt. Das wird geschehen, wenn diese Menschen in sich solche Lebensantriebe haben, die nach der Menschenachtung hingehen und die ihnen nur werden

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können, wenn sie in der Kindheit in der richtigen Weise gemäß dem Prinzip der Nachahmung erzogen worden sind.

Und wenn wir nun auf das Wirtschaftsleben blicken: Die neuere Zeit fordert eine Umgestaltung dieses Wirtschaftslebens in dem Sinne, daß nicht mehr der Profit, daß nicht mehr der Kapitalerwerb und der Lohnerwerb das Ausschlaggebende sind, sondern daß der Konsum, die Berücksichtigung der menschlichen Bedürfnisse eingerichtet wird auf der Grundlage freier Assoziationen, Genossenschaften, Körperschaf­ten, die von den Bedürfnissen des menschlichen Wirtschaftslebens wer­den ausgehen müssen, von den Bedürfnissen, die lebendig immer vor­handen sind und nach denen der Verkehr, die Produktion erst ein­gerichtet werden muß. Was heute auf blindes Angebot und blinde Nachfrage des Marktes gestellt ist, das wird auf Einsicht in die Men­schenzusammenhänge, auf Einsicht in die menschlichen Konsumbedürf­nisse gestellt werden müssen. Die praktische Erfahrung, die ja auf die menschlichen Bedürfnisse muß eingehen können, sie kann sich nur ent­wickeln, wenn die Menschen in ihrer Kindheit gemäß dem Prinzip der Nachahmung erzogen worden sind, wenn sie gelernt haben, unbewußt, sich den Menschen anzupassen. Wenn sie für das öffentliche Rechtsleben des Staates die Achtung des Menschenlebens entwickelt haben, dann können sie auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens Verständnis ent­wickeln für die menschlichen Bedürfnisse.

Es muß heute gefordert werden, daß auf dem Gebiete des Wirt­schaftslebens Koalitionen, sagen wir zum Beispiel Genossenschaften, von Betriebsräten eingerichtet werden. Diese Betriebsräte werden einen schwierigen Stand haben, wenn sie künftig nach der Einsicht in Produk­tion und Konsumtion dasjenige werden zu besorgen haben, was heute dem Zufall von Angebot und Nachfrage überantwortet ist. Aber keine Betriebsräte, keine irgendwie gearteten Räte auf dem Gebiete des Wirt­schaftslebens werden jemals segenbringend sein, wenn nicht die Er­ziehung des Menschen so eingerichtet wird, daß die Talente für diese Räte, das heißt für die Menschenanpassung, denn die drückt sich auch aus im Verständnis der menschlichen Bedürfnisse, daß die Entwicke­lung dieser Räte nicht vorbereitet wird durch die richtige Erziehung im zarten Kindesalter nach dem Prinzip der Nachahmung.

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Die zweite Lebensepoche des heranwachsenden Menschen geht vom Zahnwechsel, der einen viel größeren Eingriff in den Gesamtorganis­mus bedeutet als die heutige Anthropologie und Physiologie noch ahnen, weil sie von Äußerlichkeiten ausgehen, bis zur Geschlechtsreife. Das ist das Lebensalter, in welchem die menschliche Natur zu jenem Vertrauen neigt, vom heranwachsenden Menschen zu dem erwachsenen Menschen, das sich ausspricht in dem Autoritätsgefühl. Heute, wo man im Grunde genommen in abstrakter Art das, was für ein Lebensgebiet gilt, auch auf andere Lebensgebiete ausdehnen will, heute möchte man schon auch für dieses Kindesalter nicht gerne von der Notwendigkeit der Autorität sprechen. Aber würde man in diesem Lebensalter bei der Erziehung außer acht lassen die Hinordnung dieser Erziehung auf ein gesundes Autoritätsgefühl, in dem sich unbewußt innere Seelen-triebe entwickeln, die für später notwendig sind, dann würde anderes im bewußten und verständigen Leben nicht herauskommen können, was einzig und allein den Menschen zum sozialen Wesen wie auch zum demokratischen Wesen machen kann. Der Mensch richtet sich gewisser­maßen nach den anderen Menschen in den ersten Lebensjahren durch Nachahmung. Im zweiten Lebensalter, vom Zalinwechsel bis zur Ge-schlechtsreife, will er sich mehr noch an das Innerliche des anderen Menschen anpassen. Da will er lernen, den anderen Menschen zu ver­stehen, will lernen, an das zu glauben, was der andere ihm überliefert. Da will er in sich selbst erleben, als sein Erlebnis dasjenige, was der andere ihm als Erlebnis ausdrückt, da will er hinschauen zu einem Menschen, der das schon kann, was in ihm nach Dasein strebt. Da will der eine Mensch sich mit dem anderen Menschen sozial instinktiv zu­sammenpassen. Ist dann der Mensch erwachsen, tritt bei ihm das voll­ständige Bewußtsein ein, dann wird wiederum die Blüte desjenigen er­stehen, was auf Autorität hin im Kindesalter erlebt worden ist.

So kann man nicht in der richtigen sozialen Weise in die Menschen-gemeinschaft der Demokratie sich hineinleben, wenn man nicht erst jene Anpassung an das menschliche Innere gefunden hat, die sich in dem kindlichen Autoritätsgefühl auslebt. Niemand wird heute auf dem Boden der Rechtsdemokratie in richtiger Weise zu stehen fähig, der nicht zwischen seinem Zalinwechsel und der Geschlechtsreife gelernt

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hat, zu dem anderen Menschen, der ihm voraus ist, hinaufzuschauen. Denn nur dann, wenn er das gelernt hat, wird ihm das wahre, gesunde Gefühl erwachsen: Wir sind alle als Menschen einander gleich, wir müssen als Menschen so miteinander leben, daß die Gleichheit unter den Menschen rechtlich eine Wirklichkeit werde. - Niemals wird letzten Endes in einem Rechts-, in einem Staatsparlament auf dem Boden der Demokratie etwas von Gesetzen zustandekommen, die im wirklichen Sinne demokratisch sind, das heißt dasjenige festsetzen, was alle Men­schen zu gleichen macht, wenn jene Menschen, die solche Gesetze machen, nicht aus ihrem Innern das heraufkraftend haben, was in der Seele geworden ist, wenn sie das in der Jugend so wohltätige Gefühl des Hinaufschauens zu einem anderen Menschen als seiner Autorität gehabt hat. Man wird niemals lernen, den andern Menschen im spä­teren verständigen, bewußten Leben als einen wirklich gleichen anzu­erkennen, wenn man nicht den Menschenwert zuerst erfühlt hat in diesem Hinaufschauen zu dem andern Menschen. Daß Gleichheit herr­sche, daß Demokratie möglich werde, das hängt davon ab, daß wir die Menschennatur nach ihrer inneren Wesenheit erziehen lernen. Denn nur aus dem Autoritätsgefühl des Kindes, das sich während der Schulzeit in verschiedensten Formen auslebt, kann das rechte Rechts­gefühl von Menschengleichheit im späteren Leben erblühen.

Wenn im Wirtschaftsleben, auf dem Boden des Wirtschaftslebens wirklich, was ja auch der Aufruf nach Sozialisierung andeutete, an die Stelle jener Güterausteilung, die ganz beherrscht wird in der Gegen­wart vom Kapitalgewinn und Lohngewinn, wenn an diese Stelle jene Güterverteilung treten soll, die vernünftig, meinetwillen von einem «Rätesystern», geleitet wird, dann muß die Kraft, welche diese gerechte Güterverteilung bewirkt, erblühen - wie das Gefühl der Gleichheit in der Demokratie - aus jenem Hingezogensein zwischen Mensch und Mensch, das in der Kindheit nur aus dem Autoritätsgefühl erwachsen kann. Richten wir zu den Betriebsräten, Verkehrsräten, die es zu tun haben werden mit jener Güterverteilung, die heute durch die Bedürf­nisse von Kapital und Lohn beherrscht wird, richten wir dazu solche Räte ein, welche die Güterverteilung in gerechter Weise bewirken wol­len, dann müssen die, welche solche Güterverteilung vornehmen, innerlich

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durchdrungen sein von jenem Verständnis für die innerlichste menschliche Natur, das nur aus dem gesunden Autoritätsgefühl wäh­rend der Schulzeit des Kindes kommen kann. Nimmermehr darf für die Zukunft das vergessen werden, was die menschlich-seelische Grund­lage für alles demokratische und alles soziale Leben sein muß.

Das dritte Lebensalter, in welchem die meisten unserer jungen Men­schen schon Vollmenschen zu sein glauben - sie schreiben ja in diesem Lebensalter sogar schon Feuilletons -, das ist das von der Geschlechts-reife bis ungefähr zum Ende des zweiten Lebensjahrzehntes, bis in die zwanziger Jahre hineingehende. Da wird nicht nur die geschlechtliche Liebe geboren, da wird auch das, was früher als Autoritätsgefühl da war, umgewandelt in das, was nun wirklich sich betätigende, sich er-fühlende allgemeine Menschenliebe ist. Da senkt sich durch Umwand­lung aus Nachahmungsanpassung und Autoritätsanpassung in die menschliche Seele dasjenige, was uns eigentlich wirklich soziale Triebe gibt, was uns fähig macht, uns als Mensch neben den Menschen brü­derlich liebevoll hinzustellen. Das geschlechtliche Liebesverhältnis ist nur ein Spezialfall desjenigen, was in diesem Lebensalter als allge­meine Menschenliebe auftritt. Allen Menschen, gleichgültig, ob sie Handarbeiter oder ob sie Geistesarbeiter sind, muß auch durch dieses Lebensalter hindurch neben der Ausbildung für den praktischen Lebens-beruf die Möglichkeit gegeben sein, solche Vorstellungen, solche Be­griffe über Welt und Leben, mit anderen Worten, eine solche Welt­anschauung aufzunehmen, solche Erkenntnisse über Natur- und Gei­stesleben aufzunehmen, damit Verständnis eintritt für alles, was lebt, vor allen Dingen Liebe, Brüderlichkeit zu anderen Menschen. Daß wir es heute noch immer nicht dahin gebracht haben, dem Lehrling, der einem praktischen Leben zueilen soll, auch die Gelegenheit zu geben, eine allgemeine Weltanschauungsbildung zu erhalten, die ihn nicht in einer Klasse abschließt gegenüber den bevorzugten Klassen, sondern die ihn als Mensch gegenüber den Menschen gleichstellt, das ist das, was in unserer Zeit noch die antisozialen Triebe erzeugt.

Und das, was in dieser Zeit bei einem richtigen Heranerziehen und Heranschulen der allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit für den Boden des Rechtes, für den Boden der Demokratie erblüht, das ist

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das, was man nun die wirkliche, tätige Hingabe an Menschenwolil und Menschensein nennen kann. Denn die Demokratie wird sich auch nur da­durch entwickeln können, daß sie neben dem Gefühl für die Gleichheit aller Menschen auch das entwickelt, was man folgendermaßen charak­terisieren kann. Man sieht jeden Menschen an als etwas, dem man sich hingeben soll, dem man dienen will. Und auf dem Boden des Wirt­schaftslebens wird es notwendig sein, daß - ich sage das noch einmal -, wenn der Zufall von Angebot und Nachfrage, der auf Kapital- und Lohnerwerb und auf den Markt sich gründet, ersetzt werden soll durch vernünftige menschliche Genossenschafts- und Koalitionseinrichtungen, dann wird notwendig sein auf diesem Boden des Wirtschaftslebens, daß die Räteschaft, nennen wir es so, die da auftritt, darauf wird hin­schauen müssen, ob irgendein Artikel da oder dort nach den allgemeinen menschlichen Verhältnissen des Wirtschaftsgebietes zu teuer oder zu billig ist. Diese Räteschaft wird dann an die Menschen, die einen Ar­tikel zu billig erzeugen, herantreten müssen und ihnen sagen müssen durch ihren Rat - Räte sollen es ja sein, die nicht durch Tyrannis und Gewalt, sondern durch Rat wirken -, dieser Betrieb ist unnötig, er muß daher stillgelegt werden. Ihr müßt euch einem anderen Betriebe zuwenden, damit immer nur so viel in einem geschlossenen Wirtschafts­gebiete erzeugt wird, daß kein Artikel zu teuer oder zu billig ist! So werden die richtigen gegenseitigen Preisverhältnisse vorhanden sein können.

Das wird eine wichtige Einrichtung im Wirtschaftsleben der Zu­kunft sein, daß an die Menschen, an ihre Einsicht und an ihr Ver­ständnis wird so herangetreten werden können, daß man sie durch ihre eigenen inneren Impulse, die man erwecken kann, von dem bloß auf Erwerb gestellten Produzieren weglenkt und auf ein solches Produ­zieren hinlenkt, welches dem notwendigen Konsum, dem notwendigen Bedürfnis der Allgemeinheit dient. Das aber, was dazu notwendig ist, um in richtiger Weise hier zu raten, um die Menschen so in vernünftiger Weise in das Wirtschaftsleben hineinzustellen, daß die gegenseitigen Preisverhältnisse dadurch zustande kommen, daß kein Überschuß der Arbeit auf der einen Seite und keine Unterarbeit auf der andern Seite möglich ist, was dazu notwendig ist, das kann bei denjenigen, die im

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Wirtschaftsleben raten sollen, nur dadurch aufsprießen, daß die Men­schen in ihrer Jugend herangezogen haben das Gefühl für menschliche Brüderlichkeit, für Menschenliebe. Denn man wird, wenn nicht auf äußere Einrichtungen, die nutzlos sein würden, sondern auf die innere Menschengemeinschaft hin der Neubau unserer menschlichen Entwicke­lung gegründet werden soll, und wenn man sich fügen soll diesen Neu-einrichtungen, dann wird man in Zukunft aus denjenigen, die einem raten, raten aus demokratischer Menschenfreundlichkeit heraus, das herausfühlen müssen: Da ist Brüderlichkeit! Da wird das Leben so eingerichtet, daß nicht der einzelne nur kapitalmäßig oder lohnmäßig verdient, sondern daß die Menschen arbeiten, damit jeder die für sein Leben und seine Arbeit angemessene Bedürfnisbefriedigung erhalten kann.

Das zeigt, wie das, was im Grunde genommen, ich möchte sagen, «zwischendurchgefallen» ist, indem man die Rufe nach Demokratie und Sozialismus erhoben hat, wie das Geistesleben gerade in besonde­rem Maße in Angriff genommen werden muß. Nur dadurch, daß das jugendliche Gemüt durch Nachahmung, Autorität und Liebe hindurch­geht, wird der Mensch ein Vollmensch, so daß das, was in seiner Seele sitzt, sich demokratisch und sozial in der menschlichen Gemeinschaft ausleben kann. Dadurch aber allein gelangen die Menschen zu dem, was ich vorgestern genannt habe die wahre Menschenfreiheit, die heran-erzogen wird durch den Durchgang durch Nachahmung, Autoritäts­gefühl und Liebe. Deshalb kann man nicht sagen, man fordert einfach Freiheit, sondern man muß sich gestehen: Es muß unser Erziehungs­wesen durchdrungen werden von denjenigen Kräften, die den Men­schen als freien Menschen in die Demokratie und in das soziale Wirt­schaftsleben hineinstellen. Daß wir versäumt haben innerhalb der euro­paischen Kulturmenschheit und ihrem amerikanischen Anhang dieses Prinzip, den Menschen zum freien Menschen aus Sacherkenntnis heraus zu erziehen, das hat uns im Grunde genommen den heutigen Zustand gebracht. Der Mensch ist nicht erfüllt von Seeleninhalt, er sieht nur auf die äußere Wirklichkeit. Er will nicht im Leben bloß das bedeuten, was er durch seinen Seeleninhalt geworden ist, er will das bedeuten, als was ihn der Staat an einer bestimmten Stelle anstellt. Er will das

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bedeuten, was ihm möglich macht, kapitalistisch oder lohnmäßig zu gewinnen. Dadurch sind wir in etwas hineingeglitten, was allerdings zu wenig beachtet wird, was aber zu den schlimmsten Widerständen unserer so sehr fortschrittsbedürftigen Menschheitskultur geführt hat, wir sind hineingeglitten in ein Leben, das eigentlich wegen der un­lebendigen Entwickelung des Geisteslebens verloren hat die lebendige Idee, den lebendigen inneren Ideenimpuls. Wir sind hinabgeglitten in die Welt der Phrase. Unser Geistesleben ist phrasenhaft geworden, unter der Phrase entwickelt sich unser öffentliches Leben. Diese Phrase, die ideenleer ist, trennt uns von der Wirklichkeit.

Und wir sind auf dem Gebiete, auf dem sich die Demokratie ent­wickeln soll, in anderes hinabgeglitten. Statt daß wir uns immer mehr instand gesetzt hätten - das soll keine geschichtliche Kritik, sondern nur ein Aufweisen von Tatsachen sein -, uns für die Demokratie das zu erwerben, was allein zu demokratischen Gesetzen führen kann, Menschenachtung, Menschenglaube an die Menschen als gleiche und Menschenhingabe -, statt dessen haben wir Gesetzesgehorsam ent­wickelt und das Streben, uns für irgendwelche Staatsstellung geeignet zu machen. Wichtiger in dem Zeitalter, in dem sich die allgemeine Men­schenliebe entwickeln sollte, von der Geschlechtsreife bis in die zwan­ziger Jahre hinein, wichtiger als diese Entwickelung eines Seelenfonds, der da ganz in der Atmosphäre der allgemeinen Menschenliebe lebt, ist das geworden, was man das Berechtigungswesen nennen kann. Statt den Menschen zum Vollmenschen zu machen, soll er irgendein Beamter werden in irgendeinem Staate, soll er derjenige werden, der kapitali­stisch oder lohnmäßig in entsprechender Weise, wie in einer reinen Erwerbsgenossenschaft sich fortbringen kann. Gesetzesgehorsam und äußerliche Einordnung - das ist dem Menschen dadurch geworden, daß das Geistesleben aufgesogen worden ist vom Staate, daß der Staat der treibende Motor des Geisteslebens geworden ist.

Wenn man innerlich dasjenige ergreifen will, was zur wirklichen demokratischen Gleichheit aller Menschen in einem wirklichen Rechts-staate führen kann, dann ist notwendig, daß man auf die innere Natur und Wesenheit des Menschen eingeht. Dieses Bestreben, das geistige Leben, insbesondere das Erziehungs- und Schulwesen, wiederum bloß auf

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den Menschen zu stellen und es nicht so gestaltet sein zu lassen, daß der Staat ihm einen äußeren Stempel aufdrückt, das müßte in der Gegen­wart das Bestreben weitester Kreise sein, die an dem wirklichen Fort­schreiten unserer Kultur ein Interesse und dafür eine Begeisterung haben. Deshalb hat sich der «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» die Aufgabe gestellt, diejenigen Menschen, die ein solches Interesse haben, zusammenzurufen zu einem Kulturrat, oder wie man es nun nennen will, damit aus diesem heraus die Befreiung unseres Geisteslebens, namentlich unseres Erziehungs- und Schulwesens, er­wachsen könne, daß erwachsen könne die Entstaatlichung und die Ent-wirtschaftung des Schul- und Erziehungswesens. Man kann es ja be­greifen, daß die, welche als lehrende oder erziehende Persönlichkeiten in diesem Geistesleben drinnen stehen, eine gewisse Angst haben, wenn ihnen der Staat nicht mehr ihre Löhnung auszahlte. Was sollen sie dann machen? Ja, das gehört zu jenen Erfahrungen, die man leider in der Gegenwart so häufig macht, zu den Erfahrungen, daß ja die Men­schen ab und zu einsehen, es ist notwendig, daß eine Neugestaltung unserer sozialen Verhältnisse eintrete -, aber daß sie sich nicht dazu aufschwingen können, dasjenige wirklich zu wollen, was zu einer sol­chen Neugestaltung führen könnte. Wenn man in der letzten Zeit viel mit Menschen über die notwendige Neugestaltung gesprochen hat, auch mit denen, die im allgemeinen ganz überzeugt sind, daß eine solche Neugestaltung kommen muß, dann fragen sie einen: Ja, du mußt doch aber in bestimmter Weise sagen, was mit dem einzelnen Menschen, was mit dem einzelnen Beruf in der Zukunft geschieht! - Postbeamte fragen einen, wenn von Sozialisierung die Rede ist: Wie sozialisiert man den Postbeamten, wie wird seine Lage sein? - Diesen Redereien liegt etwas höchst Eigentümliches zugrunde. Die Menschen sehen nicht das gegen­wärtige Leben an, sie haben heute noch Illusionen über die Haltbarkeit der jetzigen Verhältnisse, sie wollen sich nicht aufschwingen zu Vor­stellungen von einer wirklichen Neugestaltung, und dann fragen sie einen: Ja, sage mir einmal, wie wird sich das, was ich als das Alte gewohnt bin, in der Neuordnung ausnehmen?

In einer solchen Frage liegt eigentlich nichts Geringeres, als die For­derung: Wie revolutionieren wir die Welt so, daß alles beim alten

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bleibt? Und wenn man keine Antwort gibt auf die Frage: Wie wird sich das Alte in der Neuordnung ausnehmen? dann sagen die Leute:

Was du da sagst, das ist mir ganz unverständlich! - So ungefähr ist es auch, wenn nun diejenigen, die im Erziehungs- und Unterrichtswesen beschäftigt sind, ihre große Sorge damit haben, wie sich ihre wirtschaft­liche Position gestalten soll. Insofern diejenigen Menschen im Geistes­leben als Unterrichtende oder Erziehende stehen, wird das Geistesleben von innen, unabhängig vom Staats- und Wirtschaftsleben, nach rein pädagogisch-didaktischen Gesichtspunkten und innerlichen geistigen Ideen einzurichten sein; sonst sind sie, da sie ja auch leben müssen, eine Wirtschaftsgenossenschaft im Wirtschaftsorganismus innerhalb des drei­gliedrigen sozialen Organismus. Und genau ebenso, wie ein Betrieb von Fabrikarbeitern selbstverständlich weiß, daß ihm aus dem Wirt­schaftsleben heraus dasjenige wird, was er braucht, um seine Bedürf­nisse zu befriedigen, so wird die Räteschaft des Wirtschaftslebens auch dafür zu sorgen haben, daß in der richtigen Weise ein wirtschaftliches Verhältnis besteht zwischen dem Wirtschaftskörper, der selbständig ist im dreigliedrigen sozialen Organismus, und dem andern Wirt­schaftskörper, der das geistige Leben zu besorgen hat. Und was zwi­schen drinnen als das dritte Glied des sozialen Organismus bleibt, der Rechtsstaat, der wird dafür zu sorgen haben, daß dasjenige, was im freien Wirtschaftsvertrag geschlossen wird zwischen dem Wirtschafts-körper und dem Geistkörper, daß das auch wirklich ausgeführt werde. Wer wirklich innerlich verstehen will und den Mut hat zum Verstehen, daß das Geistesleben frei werden muß, daß das, was in ihm geistig ist, auf die eigene Grundlage des Geistes gestellt werden muß, der wird sich auch zum Verständnis aufrufen können, wie das Wirtschaftliche dieses geistigen Teiles des dreigliederigen sozialen Organismus sich in Zukunft gestaltet.

So sieht man, daß unbedingt Freiheit im Geistesleben herrschen muß. Denn diese Freiheit im Geistesleben ist ja die Grundlage für die Gleich­heit des Rechtslebens, und sie ist auch die Grundlage für die Brüderlich­keit des Wirtschaftslebens. Diese Grundlage muß vor allen Dingen, wenn von Sozialisierung die Rede ist, berücksichtigt werden. Sonst -ja, sonst wird man vielleicht äußere Einrichtungen von allerlei Art

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treffen können, wird aber, wenn diese äußeren Einrichtungen ein wenig weiter fortgehen, dann so weit kommen, wie man zum Beispiel in Ruß­land unter dem Leninismus gekommen ist, wo man gleiches Recht für alle hat - in der Phrase! Wo man aber heute schon so weit ist, daß der eine Arbeiter eine sechsmal höhere Entlohnung hat als der andere, und wo gewisse Geistesarbeiter bereits bis zu 200000 Rubel beziehen, und wo man bereits sehr stark zum alten Kapitalismus hinneigt.

Wenn man sozialisieren will, dann hat man notwendig, auf die wirk­lichen Lebensbedingungen des gesunden sozialen Organismus einzu­gehen, nicht bloß Parteiplirasen und marxistische Papstdogmen als das allein Praktische in die Welt zu schreien. Brüderlichkeit und wahrer Sozialismus werden sich nur ausleben können, wenn auf der Grund­lage einer wirklichen sozialen Menschenerziehung solche Menschen da sein können, welche an die Stelle der antisozialen Triebe die sozialen Triebe setzen, denn die äußeren Einrichtungen werden keinen Sozialis­mus machen. Gerade auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens wird sich sehr bald zeigen, daß alle äußeren Einrichtungen keinen Sozialismus hervorbringen können, wenn nicht die Menschen, die in diesem Wirt­schaftsleben drinnen stehen, dasjenige nach Vernunft und Brüderlich­keit zu ordnen verstehen, was bisher nach den abstrakten Prinzipien der Kapital- und Lohngewinnung, des Angebotes und der Nachfrage auf diesem Boden besorgt worden ist. Denn aus den verworrenen Ideen, daß sich die Produktionsverhältnisse von selber so entwickeln, daß die Menschen in ihnen sozial leben können, aus diesen verworrenen Ideen hebt sich heute schon klar genug ab, daß das soziale Leben durch den Menschen selbst, den sozialen Menschen hervorgebracht werden müsse. Körperschaften von sozial zusammenwirkenden Menschen wer­den es sein, welche dasjenige hervorbringen, was ich in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» als Ablösung des Kapitals gezeichnet habe.

Wenn wir sehen, wie das Kapital gewirkt hat, dann müssen wir uns vor allen Dingen darüber klar sein, daß dieses Kapital den Menschen loslöste von dem wirklichen sachlichen Interesse an der Produktion. Statt daß man sich hingab an das, was man hervorbringt, es so hervor­bringt, daß man ihm die Gesinnung mitgibt: So, wie ich dich mache,

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dienst du den anderen Menschen, meinen Mitmenschen, die ich brüder­lich betrachte -, anstatt dies den menschlichen Erzeugnissen mitzugeben, sieht man heute auf das, was man als den Verkaufspreis des Erzeug­nisses ins Hauptbuch schreiben kann. In dieser Loslösung des Menschen vom Interesse am Menschenwert liegt der eigentliche Schaden des Kapi­tal- und Lohnverhältnisses. Dadurch ist es auch nur gekommen, daß das Kapital als etwas angesehen worden ist, was sich ganz loslösen kann von dem wirklichen Mitarbeiten, dem unmittelbar tätigen Mit­arbeiten innerhalb der Menschengemeinschaft, der Menschenwerke, und daß das Kapital etwas ist, was sich von selbst vermehrt, was sich auch bei demjenigen vermehrt, der es sich nicht selber durch seine Arbeit erwirbt.

Man kann in höchst einfacher Art den Schaden des radikalen Ka­pitalsystems ausdrücken. Gerechterweise wird im Grunde genommen jedes Kapital dadurch zustande gebracht, daß irgendeine geistige Arbeit etwas produziert, was den Mitmenschen dient, als Güterproduktion dient. Aber an die Stelle dieses Zusammenhanges der geistigen Kräfte des Menschen mit dem Kapital ist etwas anderes getreten, ist getreten der persönliche private Besitz an Grund und Boden, der persönliche private Besitz an den Produktionsmitteln. Niemals kann in einem wirklichen Rechtsstaat ein Recht bestehen auf Grund und Boden als Privatbesitz. Die Verteilung des Grundes und Bodens muß in der Demo­kratie erfolgen, und die Kapitalverwertung - so wie ich es in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» dargestellt habe - kann nur im richtigen Sinne geschehen, wenn das fertige Produktionsmittel nicht mehr verkäuflich ist, sondern freies Gut ist. Dann wird das, was heute dem Kapital gegeben ist, wieder zurückgegeben an die geistige Arbeit.

Das ist es, was wir anstreben müssen, was wir aber nur anstre­ben können, wenn wir verstehen werden, die Menschen auch so zu erziehen, daß sie mit freiem Geiste sich selber ihren Mitmenschen gegenüberzustellen wissen, daß sie sich, gleiches Recht, keine Vorrechte verlangend, in die Menschengemeinschaft hineinstellen, und daß sie für das Wirtschaftsleben, das sich nur richten soll nach Produktion und Konsumtion, Organisationen schaffen, die sich in freie Assoziationen,

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Körperschaften, Genossenschaften gliedern, die auf dem Prinzip wahr­hafter Brüderlichkeit mit dem Verständnis für die Bedürfnisse des Kon­sums der Menschen aufgebaut sind. Wer Kapital verzinst haben will, ohne daß er in Zusammenhang mit irgendeiner geistigen Arbeit ist, der kann dies zu verzinsende Kapital nur überkommen haben durch Erb­schaft oder auf eine andere Weise von einem Menschen, der durch seine geistige Arbeit mit dern Kapital in Beziehung gestanden hat. Aber nur so lange ist der Zusammenhang zwischen Kapital und Menschen ge­rechtfertigt, solange die Fähigkeiten, die geistige Arbeit des Menschen, den Zusammenhang mit den Produktionsmitteln, die eigentlich das Kapital sind, rechtfertigen. Sozial ist der Besitz von Kapital durch einen, der nicht selbst produziert, so, wie wenn man sich bezahlen lassen wollte für ein Schiff, das in den Ozean versunken ist. Ein Schiff, das in den Ozean versunken ist, kann den Menschen nicht mehr irgend etwas bringen. Das ist weg, und es muß ein anderes Schiff an seine Stelle treten. Wer Kapitalzinsbezug hat, ohne daß er arbeitet, der ist so, wie wenn er sich das vergelten lassen wollte, was von einem gesun­kenen Schiffe herrührt. Mit dem Nicht-mehr-Anwesendsein der mensch­lichen Fähigkeiten und mit dem Tode des Menschen muß der Zusam­menhang zwischen ihm und den Produktionsmitteln, das ist dem Kapi­tal, erlöschen können.

Das sind Dinge, die den Menschen heute nur deshalb noch so wenig einleuchten, weil sie den gegenwärtigen Gepflogenheiten und den gegen­wärtigen Einrichtungen zuwiderlaufen. Nur aus dem Eingewohntsein in die alten Verhältnisse rührt das Unverständnis her, nicht davon, daß die Sache selber nicht zu verstehen wäre.

Nun kann man sagen: Du behauptest, die Dinge, die du aussprichst, seien praktisch, während es doch idealistische sind! Ja, wer heute nicht einsieht, daß das Idealistische praktisch werden muß, und daß wir gerade deshalb zu den heutigen Zuständen gekommen sind, weil wir immer nur geglaubt haben, das Praktische bestehe in der Routine des Zusammenseins mit den äußeren Einrichtungen, wer nicht einsieht, daß dieser Glaube trügerisch war und die Ideen heute das Praktische sind, der kann nicht wirklich teilnehmen an dem, was für den Neuaufbau unserer Menschheitsentwickelung notwendig ist. Wir leben in einer Zeit,

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wo der Idealismus - wenn man das so nennen will, was hier aus der Lebenspraxis vorgebracht wird - das Allerpraktischste ist.

Vorgestern habe ich hingewiesen auf den großen Unterschied, welcher besteht in der menschlichen Seelenverfassung des Orients und des Ok­zidents. Wir hier in Mitteleuropa sind zwischen diese Seelenverfassung des Orients und die des Okzidents hineingestellt. Erkennen wir, daß wir als das Mittelvolk die Aufgabe haben, aus dem deutschen Volks­tum heraus durch eine gleichmäßige, durch eine selbständige Ausbildung des Geisteslebens, des Rechts-, Staats- oder politischen Lebens und des Wirtschaftslebens auch die Ausgleichung zwischen Orient und Okzident zu bringen, dann stellen wir uns auf den Boden, aus dem uns Zukunfts-sicheres hervorgehen muß, auch wenn von allen Seiten her die Men­schen uns heute den Boden unter den Füßen entziehen wollen. Das können sie bis zu einem gewissen Grade, weil wir als Volk Mittel­europas durch Jahrzehnte versäumt haben, uns auf den Boden zu stel­len, aus dem heraus unsere eigentliche Kraft als mitteleuropäisches Volk hervorquillt. Aber nicht vergessen werden dürfen die Zusam­menhänge mit denjenigen Kräften unseres Volkstums, aus denen her­vorgeblüht sind die großen idealistischen und zugleich größten Mensch­heitsleistungen der Lessing, Herder, Goethe, Schiller und so weiter. Nicht vergessen werden dürfen diejenigen mitteleuropäischen Impulse, aus denen in einer anderen harten Zeit Johann Gottlieb Fichte Feuer in die Herzen der mitteleuropäischen Völker gegossen hat. Was diesem Faktum eigentlich zugrunde liegt, das ahnen die anderen Völker. Aber wir sollten es nicht bloß ahnen, wir sollten es erkennen. Wir sollten uns sagen, hassen uns die anderen, und konkurrieren die anderen mit uns und wollen uns durch etwas vernichten, so ist es das, was wir ausgebildet haben in den letzten Jahrzehnten nicht als unser ureigenes Wesen, sondern als das, was zu stark den andern gleich ist, was wir ihnen nachgemacht haben als undeutschen Industrialismus. Erkennen wir dann, wo die wahren Wurzeln unserer Kraft sind, dann ist noch Hoffnung für uns! Wir Deutschen dürfen uns nicht auf den Boden stellen, auf den uns das bloß äußere kapitalistische Leben der letzten Jahrzehnte in den Konkurrenzkampf mit den andern gestellt hat. Wir müssen uns auf einen geistigen Boden stellen. Wir müssen es verstehen,

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daß jener Patriotismus, der darin bestanden hat, sich nur der Hoff­nung hinzugeben, daß Deutschland siegend dem Unternehmertum noch mehr Kapital bringen werde, daß jener Patriotismus, der sich nun er-setzt durch den andern: Gehen wir hinüber zu den andern, seien wir jetzt dort Patrioten, weil dorther das Kapital Zins bringen kann, - wir müssen verstehen, daß dieser Patriotismus kein deutscher Patriotis­mus ist!

Wir müssen uns auf diesen Boden stellen können. Wir müssen uns begreifen können als das Volk, das zwischen Orient und Okzident hineingestellt ist zu einem Neuaufbau aus der Freiheit für den Geist, aus der Gleichheit für das Recht, aus der Brüderlichkeit für die Wirt­schaft. Da drüben im Osten ist einstmals das stärkste Geisteslicht auf­gegangen, im Westen wird der Brennstoff für dieses Geistesleben er­zeugt. Das Geisteslicht des Ostens ist im Abglimmen, ist in Nirwana verfallen. Der Brennstoff des Westens wird nicht leuchten können, wenn er sich bloß in die Dunkelheit des Kapital- und Lohnverhält­nisses der Menschen hineinstellt. Wir in Mitteleuropa müssen unsere Hoffnung einzig und allein daraus schöpfen, daß wir den Brennstoff des Westens durch das Licht des Ostens zum Feuer, das die Menschheit befeuern kann, erwecken.

Das ist unsere idealistische, aber höchst praktische Aufgabe. Das ist das, woran man am liebsten denken möchte in diesen Tagen, welche die Herzen und Seelen so furchtbar beklemmen, wo der Brennstoff des We­stens uns das nehmen will, was wir noch weniges haben, wo wir hinein-gestoßen werden sollen in materielle Not und in materielles Elend. Viele begreifen es heute noch nicht, aber es ist so. Diese Tage kündigen es laut:

Es geht auf Sein und Nichtsein! Und dasjenige, was aus dieser Erkennt­nis, daß es auf Sein und Nichtsein geht, hervorquellen soll, das ist, daß wir berufen sind, den Brennstoff des Westens zu entzünden durch das Licht des Ostens. Wir dürfen uns heute, niedergedrückt in die bitterste Not, an ein Fichtewort erinnern, das auch in harter Zeit gesprochen worden ist, wo er, von Deutschen schlechtweg zu Deutschen schlechtweg sprechend, gesagt hat: Wenn ihr euch nicht selber erkennt, euch nicht in euch selber findet, so verliert die Welt das, was sie nur durch euch haben kann! - Wir dürfen, trotz allem Niederdrückenden,

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wenn wir Vertrauen in den Geist haben, trotz aller Not und allen Elends, die uns erwarten, doch das Haupt erheben zu denen, die uns vernichten wollen, und ihnen entgegenrufen: Vernichtet ihr uns, dann vernichtet ihr etwas, was ihr braucht, was ihr von sonst nirgends als von diesem Mitteleuropa her erhalten könnt, das ihr jetzt in den Staub treten wollt. Ihr habt rufen gelernt «Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit», wir aber wollen dem, was längst in diesen drei Worten zur Phrase geworden ist, Inhalt geben, Inhalt geben aus dem Kopfe, in­dem wir ganz, nicht halb sagen: Freiheit für den Geist! Wir wollen ihm Inhalt geben aus dem Herzen, indem wir ganz, nicht halb sagen:

Gleichheit für das Recht! Und wir wollen ihm Inhalt geben aus dem ganzen, aus dem vollen Menschen, diesen geistig und leiblich begrei-fend, indem wir sprechen nicht halb, sondern ganz: Brüderlichkeit für die Wirtschaft! Brüderlichkeit für alles menschliche Zusammenleben!

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DIE AUFGABEN DER SCHULEN UND DER DREIGLIEDRIGE SOZIALE ORGANISMUS Vortrag für den «Verein jüngerer Lehrer und Lehrerinnen» Stuttgart, 19. Juni 1919

Es gereicht mir zur großen Befriedigung, einmal auch unter Mitgliedern der Lehrerschaft sprechen zu können. Denn fühle ich mich auch durch mein Schicksal in die verschiedensten Berufe hineinversenkt, versuche ich auch zu begreifen, was gerade in der heutigen Zeit der Wirrnisse und des Chaos in den verschiedenen Berufen und Klassen lebt, so fühle ich mich auch wiederum von der anderen Seite ganz besonders heimisch, möchte ich sagen, gegenüber dem Lehrerberufe, dem ich ja, wenn auch in privater Weise, aber deshalb unter nicht gerade leichten Verhältnissen, durch viele Jahre meines Lebens auch selbst angehört habe. Da­durch aber fühle ich mich auch vielleicht gerade berufen, das, was jetzt zu sagen ist mit Bezug auf die Neugestaltung der Verhältnisse inner­halb der menschlichen Entwickelung, zu spezialisieren für diesen Beruf. Man kann sagen, gerade wenn man überblickt das, was in der heu­tigen Zeit lebt, lebt an Forderungen, lebt an Einsichten, mehr oder weniger hellen oder dunklen Einsichten in bezug auf das, was zu ge­schehen hat -, man kann sagen: Würde der Lehrer bei dem, was heute als die Zeitforderung die Welt, die ganze zivilisierte Welt durchtönt, nicht gehört, so wäre das wohl für die Neugestaltung unseres Lebens der größte Verlust, der nur zu denken wäre. Und könnte man sich den­ken, daß die Lehrerschaft ihr Interesse der Arbeit an dieser Neuge­staltung der menschlichen Verhältnisse nicht zuwenden würde, so würde ganz gewiß aus dieser Neugestaltung der menschlichen Einrichtungen etwas herauskommen, was sehr, sehr bald verbesserungsbedürftig sein würde, und was auf der anderen Seite der Menschheit wahrhaftig nicht irgendwie zum Heile gereichen könnte.

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Sie werden vermuten können aus meinen folgenden Ausführungen, daß ich gar manches werde einzuwenden haben gegen die heutigen Schuleinrichtungen; aber ich bitte Sie, das wahrhaftig nicht so zu neh­men, als ob es zu gleicher Zeit irgendwie gerichtet wäre gegen die heu­tige Lehrerschaft selbst. Denn ich erkenne es durchaus, wie heute die Lehrerschaft - wenn sie auch im Drange des Lebens nicht immer so weit geht, sich das voll zum Bewußtsein zu bringen - gerade unter den heutigen Schulverhältnissen tief leidet, manchmal sogar wohl ächzt. Aber gerade aus diesem Grund wird es vielleicht möglich sein, das, was man heute die soziale Frage nennt, im Kreise der Lehrerschaft auch am allertiefsten und am allerbedeutsamsten zu erörtern. Ist ja der Lehrer eigentlich auch - wenn es darauf auch weniger ankommt - persönlich im höchsten Grade interessiert an demjenigen, was aus dem Rufe nach Sozialisierung der Menschengesellschaft in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft geschehen soll! Denn man mag mancherlei gegen die Parteiprogramme haben, welche in der Welt heute mehr oder weniger radikal herumschwirren, darüber wollen wir heute nicht allzuviel spre­chen; aber aus diesen radikalen oder weniger radikalen sozialistischen Parteiprogrammen kommen auch allerlei Programme über die soge­nannte «Sozialisierung des Schulwesens» zum Vorschein. Würde im Sinne dieser sozialistischen Programme das Schulwesen mit sozialisiert werden, dann würde nicht nur das herauskommen, was heute sehr viele ängstliche Gemüter fürchten von einer Umgestaltung der menschlichen Verhältnisse im Sinne des parteimäßigen Sozialismus, sondern es würde höchstwahrscheinlich, wenn man auch das heute noch nicht genügend einsieht, bei der Verwirklichung des sozialistischen Parteiprogrammes für die Schule der reinste pädagogische Wahnsinn herauskommen. Wenn das auch wieder etwas radikal ausgesprochen ist, so entschul­digen Sie das damit, daß ich ja nach keiner Richtung hin geneigt bin, etwas anderes als eine sachliche Idee, eine praktische sachliche Idee zu entwickeln, durchaus nicht nach irgendeiner Richtung hin etwas Partei-mäßiges.

Nach dieser Einleitung werden Sie es verständlich finden, daß gerade gegenüber unserem gegenwärtigen Schulwesen die Frage angeregt wird:

Wie zeigen sich die Früchte dieses Schulwesens im praktischen Leben,

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in jenem praktischen Leben, aus dem überall heute der Ruf nach Um­gestaltung hervorgeht?

Wenn wir nicht bloß äußerlich theoretisch, sondern wenn wir mit Herz und Sinnen am Schulwesen, als dem wichtigsten Faktor in der Entwickelung der Menschheit, hängen, dann müssen wir uns folgendes sagen. Wir sehen, wie heute in zuweilen recht bedenklicher Weise von Menschen, die das Leben gar nicht in seinen wirklichen Forderungen und Möglichkeiten übersehen können, Parteiprogramme aufgestellt werden. Wir sehen, wie der Glaube gehegt wird, daß Leute das Leben reformieren oder revolutionieren wollen, welche nur das Schlimmste herausreformieren oder -revolutionieren könnten. Wir müssen dem­gegenüber doch die Frage aufwerfen, haben nicht im Grunde genom­men doch die Seelen aller derer, vor denen es jetzt so vielen angst wird, haben nicht diese Seelen unsere Schulen durchgemacht? Wir schauen heute ängstlich auf das Proletariat hin, und es muß sogar zugegeben werden, diese Ängstlichkeit ist nicht ganz unberechtigt, durchaus nicht unberechtigt. Aber dieses Proletariat ist durch unsere Schulen durch­gegangen, und wir müssen uns doch sagen, wenn wir nicht kurzsichtig denken, unsere Schulen haben auch dieses Proletariat erzogen. Und an demjenigen, was das Proletariat will, wie auch an dem, worin es im Irrtum ist, mussen wir doch auch etwas von dem erkennen, was sich ausdrückt durch den Spruch: «An ihren Früchten sollt ihr sie erken­nen.» Das soll nicht eine oberflächliche agitatorische Phrase sein, es soll nur die Aufmerksamkeit hinlenken auf das kulturhistorische Problem des heutigen Erziehungs- und Unterrichtswesens. Wir müssen uns über das Folgende dabei einmal klar sein.

Mit dem Proletarier ist in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, ins­besondere aber im neunzehnten Jahrhundert, ein neuer Mensch herauf-gezogen, ein Mensch, den es doch in den früheren Jahrhunderten mit dieser leiblichen und seelischen und geistigen Verfassung noch nicht ge­geben hat. Was den heutigen Proletarier ausmacht, das ist, daß er im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Menschengesellschaft in einem viel höheren Maße, als es früher der Fall war, gewissermaßen mit seinem ganzen Menschendasein in der Luft hängt. Und das muß uns insbeson­dere vom pädagogischen Standpunkte aus interessieren, daß der Proletarier

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in der Gegenwart derjenige Mensch ist, welcher sich in bezug auf sein Lebensdasein sagen muß: Wenn er selbst veranlaßt ist, oder wenn die anderen ihn dazu veranlassen, seine Stellung aufzugeben, dann steht er vor dem Nichts. Dann fühlt er sich gewissermaßen nicht mehr im Zusammenhange mit dem, was die menschliche Gesellschaft zusammenhält. Demgegenüber muß gesagt werden, das Erziehen durch die Schule ist im Grunde genommen doch gerade in derjenigen Zeit, in der das Proletariat auf diese Art sich heranentwickelt hat, so getrieben worden, daß diese Erziehung nicht den Menschen zum Vollmenschen hat machen können. Gewiß nicht durch die Schuld der Lehrerschaft, sondern durch die Schuld der Abhängigkeit der Schule vom Staate und von wirtschaftlichen Mächten! Man hätte sich in der unmittelbar abgelaufenen Zeit mit dem heranwachsenden Kinde in noch so sach­gemäßer Weise aus wirklicher Erkenntnis des Menschwerdens heraus beschäftigen können - man war doch als Lehrer eingeklemmt zwischen zwei Mächte, welche im Grunde genommen nicht immer im Sinne dessen gewirkt haben, was der Lehrer als seine Aufgabe betrachten mußte in bezug auf die Erziehung des Menschen durch die Schule.

Heute, wo wir eben die Schule haben, die ja fortgeschritten ist, aber die sich doch aus früheren Zuständen heraus entwickelt hat, heute ist der Lehrer eingeklemmt zwischen das Elternhaus und zwischen den Staat. Nun gibt es ja natürlich auf allen Gebieten Ausnahmen, und selbstverständlich kann ein Wort, das etwas charakterisieren will, nicht immer auf alle einzelnen Fälle durchaus anwendbar sein, aber im gan­zen gilt doch, wenn es auch radikal ausgesprochen ist: Heute muß der Lehrer die von den Eltern verzogenen Kinder in die Schule überneh­men, und wenn er sie entläßt aus der Schule und sie dem Staate zu übergeben hat, dann saugt der Staat möglichst bald wieder das heraus aus den Seelen, was der Lehrer in diese Seelen hineinzubringen sich bemüht hat. Zwischen diese zwei Extreme, die durchaus nicht im Sinne der Erziehung durch die Schule wirken, ist der Lehrer heute eigentlich eingeklemmt. Und wenn er sich seines Berufes voll bewußt wird, dann ächzt er eigentlich zwischen diesen beiden Verziehungen seines Zöglings, der Verziehung durch das Elternhaus und der Verziehung durch den Staat. Das ist, wie gesagt, radikal gesprochen. Aber bekom­men

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wir denn schließlich andere Kinder durch das Elternhaus als die­jenigen, welche an den Eltern selbst sich zunächst herangezogen haben, an den Eltern sich so herangezogen haben, daß sie mit allen Vor­urteilen des Elternpaares in die Schule hereinkommen, daß an ihnen alles abgefärbt hat, was die Eltern selber in ihren Gemütern und in ihrer Seelenverfassung an sich tragen - aus dem Stande und aus der Klasse heraus, worin sie sich befinden? Und auf der anderen Seite ent­lassen wir die Kinder aus der Schule, lassen sie los ins menschliche Leben, wir müssen sie hineinschicken in die Staatsgemeinschaft. Was das gerade für die gegenwartigen Zeiten bedeutet, das zeigt uns die ganze furchtbare Lage der Menschheit in dieser Zeit.

Gewiß, wir haben großes Unglück erlebt, wir werden noch manches Unglück erleben. Aber haben wir nicht gerade im Unglück gesehen, was wir, wenn wir nur ein genügendes Auge dafür gehabt hätten, auch schon im Glück hätten sehen können - haben wir nicht als eine Grund-eigenschaft des gegenwärtigen Menschen gesehen, daß er eigentlich nicht diejenige innere Seelenstärke während der Kindheit entwickelt hat, durch die er sich so ins Leben hineinstellen könnte, daß das Schicksal des Lebens sein Denken, sein Fühlen, sein Wollen nicht knicken kann? Mehr als man glaubt, sind heute die geknickten Charaktere, die ge­knickten Naturen in allen Ständen vertreten. Man sieht es an den dunkeln, nebulosen Gedanken und Vorstellungen, die sich die Men­schen heute machen über die ganze zivilisierte Welt hin über die furcht­baren Ereignisse, die hereingebrochen sind. Kann sich denn eigentlich heute einer vorstellen, wie das gekommen ist? Kann er überhaupt noch irgend etwas im Leben übersehen? Fühlt er sich noch stark genug, nun auch wirklich sich tatkräftig ins Leben einzufügen? Geknickte Menschen-naturen, mehr als man glaubt, sind eigentlich unsere heutigen Zeit­genossen! Und wir müssen auch nach dem Grunde fragen, warum die Schule nicht das wirken konnte, was im Menschen einen festen Halt für das Leben erzeugen würde, so daß er nicht durch das Leben und sein Schicksal geknickt werden könnte?

Wäre es der Schule schon seit längerer Zeit allein überlassen gewe­sen, den Menschen so zu bilden, daß er sich durch dasjenige, was ihm die Schule zu geben hat, ins Leben hineinstellen müßte, dann wären

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die heutigen Verhältnisse anders. Aber so war es ja nicht. Die Schule konnte den Menschen irgend etwas geben. Diejenigen Menschen aber, die den bevorzugten, den leitenden, führenden Menschenkreisen ange­hörten, die stellten ja doch den Menschen ins Leben nicht durch die Schule, sondern durch die Familie, durch Verwandtschaft, durch Pro­tektion und dergleichen. Man sorgte dafür, daß der junge Mensch in diese oder jene Lebensstellung hineinkam, eben durch die Zusammen­hänge, in denen man selbst im Leben stand. Der einzige Mensch, der davon eine Ausnahme macht, bei dem das nicht gilt, ist der Prole­tarier. Deshalb ist er auch für die Schule der eigentliche «neuzeitliche» Mensch. Das Proletarierkind kann nicht so stark verzogen werden

- selbstverständlich durch andere Dinge, aber nicht durch die Eltern -, weil die Eltern keine Zeit dazu haben. Und das Proletarierkind wird, wenn es aus der Schule entlassen wird, nicht durch Familienzusammen­hänge, durch Protektionen und ähnliches in die Menschengemeinschaft hineingestellt, sondern es muß sich durch das ins Leben hineinstellen, was es seiner eigenen inneren Seelenverfassung nach ist. Der Prole­tarier, der auf die Menschheit losgelassene Mensch, der nur auf sich selbst gestellt sein kann, ist daher in einer ganz anderen Lage in bezug auf diesen Punkt als die Menschen der leitenden, führenden Kreise. Das ist es, was unserer Schule geradezu die Signatur gegeben hat, den Charakter aufgedrückt hat; das ist das, was in der Gegenwart zu be­denken ist. Und das ist auch das, was die Fragen abgibt, von denen aus sich gerade die Lehrerschaft an den großen sozialen Problemen dieser Zeit beteiligen muß.

In einer ganz neuen Weise taucht die Frage auf: Wie sollen wir den Menschen für das Leben schmieden? Wie sollen wir durch die Schule so erziehen, daß der Mensch in der Zeit, in welcher er durch die Schule geht, diejenigen Kräfte, die in seinem Innern veranlagt sind - die Kräfte des Denkens, des Fühlens, des Wollens, des Tuns -, so aus­bildet, daß sie in derjenigen Stärke dann im späteren Leben vorhan­den sind und das Schicksal des Lebens sie nicht knicken kann? Diese Frage taucht mit den Grundfragen des Proletariats in einer noch nie dagewesenen Stärke auf. Wie man erziehen muß, erziehen muß durch die Schule, diese Frage bekommt dadurch heute ein neues Gesicht. Und

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gerade deshalb ist es notwendig, daß vor allen Dingen der Lehrer ein Urteil darüber hat, wie die Menschen schulmäßig heranentwickelt wer­den müssen, die in das Leben hineingestellt werden sollen.

Was man eigentlich jetzt fordert, von dessen Gestalt man sich aber wahrhaftig recht dunkle Begriffe in den verschiedenen Parteiprogram­men und Parteimeinungen macht, und wie man eigentlich heute solche Fragen betrachtet, das zeigt sich ja gerade an solchen sozialistischen Schulprogrammen und Schulideen, die ausgegeben werden. Man braucht nur ein paar Hauptpunkte dieser sozialistischen Schulideen und Schul-programme anzusehen. Da betonen zum Beispiel gewisse sozialistische Persönlichkeiten die Einheitsschule. Die soll nicht uniformiert werden; sie soll möglichst differenziert werden, so, daß man die einzelnen mensch­lichen Fähigkeiten und Anlagen berücksichtigt. Die Sozialisten drücken diese Forderung so aus, daß sie sagen: Wir fordern die Differenzierung des Lehrplanes für die Einheitsschule, aber wir fordern die Einheit der «Organisation». Das heißt, die Einheitsschule soll in einer uniformen Weise organisiert werden. Es soll nicht durch die organisatorische Einrichtung irgendwie darauf Rücksicht genommen werden, wie die menschlichen Individualitäten sind, sondern das soll erst hineingebracht werden dann, ja - auf welche Weise? Es ist sehr merkwürdig, daß überhaupt ein solches Schulprogramm aus sozialistischen Kreisen her­vorgehen kann, aus dem einfachen Grunde, weil ja die Sozialisten aus ihrer materialistischen Geschichtsauffassung heraus immer betonen, daß der Mensch ganz das Produkt der äußeren Verhältnisse ist, daß er gar nicht das Produkt ist von sittlichen, von rechtlichen, von ästhetischen, von religiösen Anschauungen. Das alles, Recht, Sitte, religiöse, ästhe­tische Anschauungen, auch die Wissenschaft, nennt der Sozialismus in seinem marxistischen Papsttum einen bloßen «ideologischen Überbau». Die Wirklichkeit ist ihm die Art, wie die Wirtschaftsverhältnisse orga­nisiert sind. Die macht eigentlich den Menschen, das andere dampft alles in der Menschenseele auf als ein ideologischer Überbau. Und jetzt stellt der Sozialismus ein Schulprogramm auf, worin er Uniformie­rung der Organisation und Spezialisierung des Lehrplanes fordert. Der Lehrplan brächte dann etwas, was mehr oder weniger der ideologische Überbau sein soll, und die Organisation bietet dasjenige, was an Verhältnissen

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da ist, in die das Kind hineingestellt werden soll, wodurch der Mensch geformt und gestaltet werden soll.

Wenn man eine Uniformierung der Organisation verlangt, so ver­langt man eigentlich nach den Grundideen des Sozialismus die Uni­formierung der ganzen Menschennatur, denn die Differenzierung im Lehrplan wird es nicht machen, daß der Gegenstand dieser Differen­zierung nicht bloß «ideologischer Überbau» ist. Gerade an diesem Pro­gramm können Sie studieren, welche Widersprüche aus den heutigen Zeitforderungen heraufwimmeln, und was werden soll, wenn man sich dann vorstellt, daß aus den heutigen Zeitforderungen diese Wider­sprüche irgendwie Wirklichkeit werden sollten!

Aber die Zeitforderungen selbst - können wir gegen sie etwas ma­chen? Gegen die Zeitforderungen können wir eigentlich nichts machen. Die sind da. Die Menschheit hat einmal auf der heutigen Stufe ihrer Entwickelung eine gewisse Stufe ihres Bewußtseins erreicht, hat einmal eine gewisse Seelenverfassung erreicht, die sich namentlich in prole­tarischen Forderungen ausdrückt, die ja nur das Signal sein können für eine Neubildung, die in ganz anderem Sinne erfolgt, als sie der Proletarier sich vorstellt. Aber es hat in der sich fortentwickelnden Menschheit ein gewisser innerer Kraftimpuls diese Menschheit ergriffen, und dieser Kraftimpuls drückt sich schon lange aus in zwei Worten -in unserer Zeit sind sie sehr stark zur Phrase und zum Schlagwort geworden - Demokratie und Sozialismus. Diese zwei Worte dringen mit immer stärkerer und stärkerer Kraft herauf aus den Untergründen der Menschheitsentwickelung. Und in unserer Zeit, wenn auch vieles Törichte gesagt wird über Demokratie und auch über Sozialismus, so muß man doch sagen, in unserer Zeit tönt beides mit einer verstärkten Kraft aus diesen Untergründen des Menschheitlichen herauf. Man ver­langt ein stärkeres Maß der Demokratisierung des Staatswesens, und man verlangt auch ein stärkeres Maß von Sozialisierung des Wirt­schaftslebens. Gegen diese Forderungen kann gar nichts gemacht wer­den, sie sind gewiß elementare Forderungen der Menschheitsentwicke­lung. Aber die Aufgabe ihnen gegenüber ist, daß man vernünftig Stel­lung dazu ergreift. Was bedeuten denn gerade diese zwei Forderungen «Demokratie» und «Sozialismus»?

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Sie bedeuten doch im Grunde genommen, daß viel mehr, als es bis­her der Fall war, dasjenige, was in der staatlichen und wirtschaftlichen Gemeinschaft geschieht, in den Willen des einzelnen Menschen gestellt wird. In der Demokratie will der einzelne Mensch ein höheres Maß von Teilnahme an den Staatseinrichtungen haben, bis in die sehr niedergehaltenen Proletarierkreise hinein, als er bisher hatte. In der Sozialisierung will der Mensch wieder einen individuellen, einen per­sönlichen Einfluß, einen weitgehenden Einfluß haben auf das Wirt­schaftsleben. Man braucht sich nur oberflächlich zu erinnern, wie die Zustände in früheren Zeiten waren, und man wird sich sagen müssen, die menschliche Gemeinschaft war eine viel gebundenere. Der einzelne war viel mehr geneigt, auf Traditionen, Gebrauch, Herkommen hin sich in das hineinzufügen, was von der Obrigkeit, was von sonstigen Autoritäten über ihn verhängt worden ist. Aus dieser Obrigkeitsgesin­nung, aus diesem Autoritätsgefühl will sich der Mensch durch Demo­kratie und Sozialisierung herauswinden. Und indem man diesen For­derungen, namentlich auf sozialistischer Seite, Rechnung tragen will, was fordert man da nun eigentlich für die Schule? Man fordert für die Schule auch Sozialisierung. Man stellt sich vor, daß dasjenige, was unter den Erwachsenen nun im staatlichen und wirtschaftlichen Leben auftreten soll, vielleicht ein bißchen abgeschwächt, aber doch einem gewissen Grade nach auch in der Schule Platz greife. In einem Pro­gramm, das ein sozialistischer Denker verfaßt hat, steht auch, daß in der Zukunft abgeschafft werden soll - man will ja heute alles «ab­schaffen», das ist die größte Sorge der Leute, wie man es neu einrichtet, darum kümmern sie sich weniger -, daß abgeschafft werden soll die Autorität des Rektors, des Direktors. Man will auch die Autorität des Lehrers selber einschränken bis zu einem gewissen Grade, und man spricht von Schulgemeinden mit einer gewissen Selbstverwaltung der Schüler, wo sich der Lehrer kameradschaftlich in die Schulgemeinde hineinstellen soll. Und mit Ausschaltung des Rektorats und des Direk­torats sollen dann diejenigen Menschen heranwachsen, die dann beson­ders geeignet sein sollen für Demokratie und Sozialismus. Das heißt also, man will das, was als eine Entwickelungsforderung der Mensch­heit auftritt für die Verhältnisse der Gemeinschaft der Erwachsenen,

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eigentlich auch schon für die Kinder einrichten. Aber dabei wird etwas vergessen. Und daß dies vergessen wird, das zeigt, wie schlechte Psycho­logen, wie schlechte Seelenforscher eigentlich unsere Zeit heute hat. Denn gute Seelenforscher könnten niemals denken: Werden die Bande der Menschen unter den Erwachsenen schlaffer, dann mache man auch die Bande unter den aufwachsenden Kindern schlaffer. - Denn gute Seelenforscher würden gerade das Gegenteil davon sagen. Sie würden sagen, nun ja, wenn schon einmal die Zeitforderung da ist, daß unter den Erwachsenen die Bande der Menschengemeinschaft schlaffer wer­den sollen, damit mehr Demokratie und Sozialismus sein soll, dann müssen um so mehr die Kinder so erzogen werden, daß sie fähig wer­den im späteren Leben zu Demokratie und Sozialismus. Denn wenn sie als Kinder schon so erzogen werden, daß unter ihnen in der Organi­sation der Schule möglichst Demokratie und Sozialismus herrscht, dann werden sie ganz gewiß im späteren Leben zur Demokratie und zum Sozialismus nichts mehr taugen.

Das ist das, was, wie ich überzeugt bin, die guten Psychologen sagen müßten, die es ehrlich meinen mit dem Sozialismus und der Demokratie für die heranwachsende Menschheit. Sie müßten sagen:

Also um so mehr müssen in die Gemüter der Kinder die Keime hin­eingelegt werden, die dann nicht wieder ausgetrieben werden können durch Demokratie und Sozialismus im erwachsenen Zustande! Dann aber führt das in die Grundfrage der Schulmethodik, in die Grund­fragen der Pädagogik hinein, denn diese Pädagogik wird in Zukunft doch ein anderes Gesicht bekommen müssen als sie in der Vergangen­heit hatte. Sie wird in der Zukunft vor allen Dingen ausgehen müssen von einer tiefen Betrachtung der Menschenwesenheit, der Menschen-natur selbst. Man wird viel tiefer, als man es gegenwärtig kann, die Natur des Menschen selbst studieren müssen, um als Unterrichter unter Kindern wirken zu können. Unsere Naturwissenschaft hat die größten Triumphe in den letzten vier Jahrhunderten gefeiert. Wer mit den Methoden, mit der gewissenhaften Art der naturwissenschaftlichen For­schung bekannt ist, der weiß auch, was dieser naturwissenschaftlichen Richtung und naturwissenschaftlichen Forschungsgesinnung für die letz­ten vier Jahrhunderte der Menschheit zu verdanken ist. Aber unmöglich

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ist es, gerade wenn die Naturwissenschaft ihr Ideal erfüllt, mit dieser Naturwissenschaft den Menschen zu erkennen. Nimmermehr kann man mit Naturwissenschaft den Menschen erkennen! Denn der Mensch kann mit all den Begriffen, die ihm aus der Betrachtung der Natur erstehen, niemals dasjenige in sich erkennen, was in ihm hinaus-ragt über alle Natur, was in ihm seelisch-geistig ist. Daher ist es sogar begreiflich, daß in dem Zeitalter, in welchem die Naturwissenschaft zu ihrer höchsten Höhe hinaufgestiegen ist, die Menschenkenntnis ge­rade für unsere abendländische Zivilisation - die Morgenländer werfen uns das in genügender Stärke vor - immer mehr und mehr zurück­gegangen ist. Wer selber Naturwissenschaft sich angeeignet hat im heu­tigen Zeitensinne, der weiß, wie einem die eigentliche Menschenwesen­heit unter den Händen zerfällt, gerade wenn man gut Naturwissen­schaft treibt. Es ist aber nicht etwa so, daß nur der Naturwissenschaft die Menschenwesenheit unter den Händen zerfällt, sondern dasjenige, was naturwissenschaftliche Denkungsart, was naturwissenschaftliche Vorstellungsweise geworden ist, das hat Besitz ergriffen vom ganzen Zeitbewußtsein. Das lebt ja in jedem Leitartikel einer Zeitung, und das beherrscht die weitesten Kreise, die heute an den Zeitforderungen im neuesten Sinne teilnehmen. Und das zeigt uns einen sehr bedeuten­den Zwiespalt. Ich könnte Ihnen viele Beispiele anführen, die dafür ein Beweis sein könnten. Ich will nur eines anführen.

Es gibt heute einen sehr bedeutenden Naturforscher, Oskar Hertwig, der auf seinem Gebiete, der Biologie, ein ausgezeichneter Mensch ist, vielleicht einer der größten, der bedeutendsten Biologen der Gegen­wart. Er hat vor mehreren Jahren ein Buch geschrieben: «Das Werden der Organismen, eine Widerlegung der Darwinschen Zufallsiheorie», ein sehr schönes, bedeutungsvolles Buch vom naturwissenschaftlichen Standpunkte. Nun kam der Unglücksmann darauf, er müsse ein so­ziales Buch schreiben, ein Buch über sozialrechtliche Fragen. Und dieses Buch ist der reine Unsinn, ist Blech. Das ist eine charakteristische Er­scheinung. Man kann heute naturwissenschaftlich durchdringend den­ken, naturwissenschaftlich die Methoden gewissenhaft beherrschen, und man kann mit Bezug auf alles Soziale und Rechtliche und das, wodurch der Mensch über die Natur hinausragt, gar nichts wissen. Gerade indem

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auch vielfach unser pädagogisches Denken ergriffen worden ist vom naturwissenschaftlichen Denken, ist ihm das wirkliche Hinschauen auf den werdenden, sich entwickelnden Menschen abhanden gekom­men. Dieser werdende, sich entwickelnde Mensch aber wird das größte Problem der zukünftigen Pädagogik sein. Ich weiß sehr wohl, daß über das, was ich in den folgenden Sätzen ausführen werde, mancher sagen wird, das ist doch etwas Selbstverständliches. Aber solche Selbstver­ständlichkeit beachtet man eben nur allzu wenig in der Gegenwart. Es gibt einen Ausspruch - wie es viele Aussprüche gibt, die richtig sind, wenn man sie richtig anwendet, und die total falsch sind, wenn sie falsch angewendet werden -, das ist: Die Natur macht keine Sprünge. Ja, die Natur macht nämlich überall Sprünge. Wenn sie übergeht vom grünen Laubblati zum farbigen Blumenblait, macht sie einen Sprung, und wenn sie übergeht vom farbigen Blumenblatt zum Pistill, macht sie wieder einen Sprung. Die Natur macht lauter Sprünge. So ist es auch im Menschenleben, wenn man dieses Menschenleben nur genügend tief betrachtet.

Da haben wir für das Jugendalter der Menschen drei streng von­einander geschiedene Lebensepochen. Die erste umfaßt das kindliche Lebensalter bis zum Zahnwechsel. Dieser Zahnwechsel ist von einem viel, viel intensiveren Eingriff in den menschlichen Organismus be­gleitet, als die gegenwärtige Physiologie irgendwie ahnt. Die ganze Wesenheit des Menschen, wie sie sich entwickelt von der Geburt bis zum Zahnwechsel, wird, wenn sie durch den Zahnwechsel durchgegangen ist, seelisch-geistig und bis zu einem gewissen Grade auch leiblich etwas ganz anderes. Die zweite Lebensepoche ist die, welche vom Zahnwech­sel bis zur Geschlechisreife geht. Die dritte beginnt mit der Geschlechts-reife und geht bis zum Ende des zweiten und dem Anfange des dritten Lebensjahrzehntes, bis in die zwanziger Jahre hinein. Ein genaueres, auf die inneren Eigenschaften des Menschen, des werdenden Menschen begründetes Studium muß in der zukünftigen Anthropologie die Grundlage einer wirklichen Pädagogik werden.

In der ersten Lebensepoche gibt es für das heranwachsende Kind ein gewisses Wachsiumsmoment, das alles übrige beherrscht: das Kind ist Nachahmer. Das Kind ist so veranlagt, daß es bis auf die Gebärde,

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die es macht, bis auf die Handgriffe, die es ausführt, bis auf die Geschicklichkeit, die es sich aneignet, als nachahmendes Wesen die Natur derjenigen Menschen annimmt, die in seiner Umgebung wirken. Das geht aber viel weiter als man glaubt. Was von Mensch zu Mensch wirkt, ist tatsächlich viel tiefer als man gewöhnlich ahnt. Sind wir ein guter Mensch in der Umgebung eines Kindes, so geht mit unserer äußerlichen Gebärde auch unsere Güte, unsere Liebefähigkeit, unser Wohl­wollen in das Kind hinüber. Und besonders erst, wenn wir beginnen von unserer Umgebung die Sprache zu lernen, dann ist es ein Hinüberfluten desjenigen, was seelisch Eltern und Umgebung sonst in ihrer Seele bewahrten, in den kommenden aufwachsenden Menschen hinein. Das Kind paßt sich ganz der Umgebung an, es wird so wie ,die Um­gebung, weil in der Menschennatur bis zur Zeit des Zahnwechsels das Prinzip der Nachahmung herrscht. Das kann man an einzelnen Fällen beobachten.

Da kommen die Eltern zu einem und sagen: Ach, wir haben ein großes Unglück mit unserem Kinde erlebt, unser Junge hat uns be­stohlen! - Man muß dann sagen, seht einmal, vielleicht bedeutet bei dem Kinde das, was es getan hat, durchaus nicht einen Diebstahl, wie alt ist denn das Kind? - Fünf Jahre. - Man fragt weiter: Wie hat sich denn der Vorfall zugetragen? - Nun, es hat die Schublade aufgemacht, hat ein Geldstück herausgenommen - ich erzähle einen bestimmten, konkreten Fall -, es hat sogar das, was es sich als Naschwerk gekauft hat, mit andern Kindern geteilt. Man kann dann den Eltern sagen:

Gewiß, man braucht so etwas nicht hingehen zu lassen, aber geschehen ist es aus nichts anderem heraus als aus dem, was das Kind jeden Tag so und so oft gesehen hat: die Mutter geht zur Schublade, nimmt ein Geldstück heraus, um etwas zu kaufen. Das Kind ahmt nach, macht dasselbe, macht es nicht als ein Unrecht, sondern als etwas, was aus dem Prinzip der Nachahmung heraus selbstverständlich geschehen muß. - Daher müssen also die Eltern bis zum Zahnwechsel weniger darauf bedacht sein, durch allerlei Predigen und gute Lehren auf das Kind zu wirken, was gar keine Bedeutung hat, denn in dieser Zeit sind Lehren für das Kind eigentlich nur ein Schall, der an das kindliche Ohr herandringt, sondern die Eltern müssen darauf bedacht sein, so

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zu sein, daß das Kind alles nachmachen kann. Das würde in dieser Zeit das beste Erziehungsprinzip sein.

Denkt man über die gegenwärtigen Verhältnisse ein bißchen nach, dann wird man den Ausspruch, daß die Schule sehr häufig wenig gut erzogene Kinder bekommt, nicht gar so radikal finden. Denn dieser Grundsatz, nichts zu tun, nichts zu reden, ja, nichts zu denken, was das Kind durch die Nachahmung verderben könnte, dieser Grundsatz ist wahrhaftig noch wenig verbreitet. Aber was liegt denn in diesem Nach­ahmungspinzip? Ja, wenn diesem Nachahmungsprinzip in den ersten Kindesjahren Rechnung getragen wird, wenn sich in den Seelenkräften dasjenige besonders erhärtet, was durch ein richtig beobachtetes Nach­ahmungsprinzip erhärtet werden kann, dann entsteht etwas im Kinde, was es später - denn die Blüte dessen, was Saat gewesen ist, geht im Leben oft recht spät auf -, was es später befähigt, ein wahrhaft freier Mensch zu sein. Wer niemals in seiner Umgebung solche Menschen gehabt hat, denen er sich so weit hingeben kann, daß er sie nachahmen kann, daß er in sich selber aufnimmt, was sie tun, der wird nicht vor­bereitet für ein demokratisches Leben, der wird niemals fähig werden zum Genusse der Freiheit im Leben. Das ist das, was als Zusammen­hang des Lebens betrachtet werden muß. Man muß sich, wie ich schon sagte, nur darüber klar sein, daß Blüte und Frucht von dem, was ins Menschenleben hineingesät worden ist, eben manchmal viel später auf­gehen, als man meint. Was in den ersten sieben Lebensjahren durch ein richtiges Nachahmungsprinzip gesät wird, das prägt sich dann tief ein in die Seele des Kindes und geht erst in den zwanziger Jahren dann und während des ganzen folgenden Lebens auf. Wie es überhaupt im Leben so ist: Kein Mensch bekommt für sein späteres Leben die Fähig­keit, mit seiner Hand zu segnen, wer nicht in seiner Kindheit dazu er­zogen worden ist, mit seiner Hand zu bitten. Was in der Kindheit er­zogen wird, das verwandelt sich im Leben oftmals gerade in das Gegen­teil, das Bitten verwandelt sich in das Segnen und dergleichen.

Dann beginnt die Zeit, welche vorzugsweise für die Schule bedeut­sam ist, die Zeit vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife. Diese Zeit hat in dem sich entwickelnden Menschen wieder ein zugrundeliegendes charakteristisches Entwickelungsprinzip. Das ist - wenn man wirklich

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den Menschen studiert, kommt man darauf - das Autoritätsgefühl. Es gibt keine Möglichkeit, gewisse Kräfte des Denkens, Fühlens und Wol­lens in dem heranwachsenden Menschen zwischen dem sechsten, sieben­ten Jahre und dem vierzehnten oder fünfzehnten Jahre zu entwickeln, die dann entwickelt werden müssen, wenn man das Kind in diesen Jahren ohne das Autoritätsgefühl heranerziehen will. Man muß es in diesen Jahren durchmachen, zu einem anderen oder zu mehreren an­deren Menschen so hinzuschauen, daß man sich sagen kann - wenn man das auch nicht als Kind ausspricht -, aber daß man es sich inner­lich fühlend sagt: Was dieser Mensch sagt, ist die Wahrheit. Man lernt überhaupt niemals die Wahrheit im Leben suchen, wenn man sie nicht erst in einem Menschen gesucht hat, der für uns eine Autorität war. Es gibt keine Möglichkeit, gewisse Fähigkeiten in der Menschennatur auszubilden, wenn wir nicht das Kind in die Lage versetzen durch das, was wir als Lehrer und Erzieher sind, für das Kind die absolute Auto­rität zu sein. In dieser Beziehung muß eine Art heiliges Autoritäts­gefühl in der Schule walten. Und wenn man glauben wird, daß etwas anderes als dieses heilige Autoritätsgefühl zu Demokratie und Sozia­lismus erziehen wird, wenn man glauben wird, daß eine demokratisch-sozialistische Schulgemeinschaft dazu erziehen wird, dann ist man ganz mächtig auf dem Holzwege. Will man für die erwachsenen Menschen eine innere Gewachsenheit, wenn man so sagen darf, gegenüber dem demokratischen und sozialistischen Leben, dann müssen die Kinder gelernt haben, zu den Lehrern hinaufzuschauen als zu den Autoritäten. Das ist es, was wir als eine Atmosphäre vor allem in die Schule dann hineintragen müssen, wenn wir gerade in der richtigen Weise für unsere Zeitforderungen erziehen wollen. Nur dann, wenn ein Mensch zwi­schen seinem siebenten und vierzehnten Lebensjahre so heranwächst, daß er an dem andern Menschen, der ihm Autorität ist, sich gewisser­maßen hinaufrankt, dann entwickelt sich der Vollmensch, der sich ent­wickeln soll. Und dieser Vollmenseh kann sich nur entwickeln, wenn wir in dieser Zeit manches in einer sehr gründlichen Weise pädagogisch anfassen. Da muß gesagt werden, gerade für diese Zeit ist vor allen Dingen eines wiederum in Anknüpfung gerade an die Autorität be­sonders charakteristisch.

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Sie kennen alle den Ausspruch, den Jean Paul getan hat, daß wir in unsern drei ersten Kinderjahren von unserer Amme eigentlich für das Leben mehr lernen als später in drei akademischen Jahren. So war es dazumal noch, als Jean Paul gelebt hat. Dieser Ausspruch ist durchaus richtig, dagegen ist gar nichts einzuwenden. Aber Sie wissen, daß man­ches durch die Physiologie des Kindes bedingt ist. Das Kind braucht nicht in bezug auf sein Gedächtnis maiträtiert zu werden. Es merkt sich so viel, bewahrt so viel im Gedächtnis auf, als es aufzubewahren braucht in diesem Lebensalter bis zum Zahnwechsel. Mit dem Zahn-wechsel aber beginnt die Notwendigkeit, sorgfältig auf das Gedächtnis des Kindes Rücksicht zu nehmen. Da handelt es sich vor allen Dingen darum, daß wir das Gedächtnis in dieser Zeit nicht überladen, das heißt, daß wir in das Gedächtnis nicht etwas hineinpressen, was dann wieder von selbst herausfällt. Man glaubt gar nicht, und daß man das nicht weiß, ist wiederum eine Folge der heutigen schlechten Psychologie, wie schlimm es für einen Menschen ist, wenn seine Gedächtniskraft in dieser Zeit so malträtiert wird, daß er seinem Gedächtnisse Dinge ein­verleiben muß, die dann wieder von selbst herausfallen. Daher hat man dafür zu sorgen, daß man möglichst durch Wiederholungen und ähnliches wirke - Wiederholungen müssen die Grundlage bilden für die Zeit zwischen dem siebenten und vierzehnten, fünfzehnten Jahre -, daß man die Dinge, die man zuerst ausführlicher dargestellt hat, mög­lichst in kurz zusammengefaßten Sätzen so zurechtlegt für das Ge­dächtnis, daß man wirklich gewisse Dinge so in sich hat, wenigstens bis zu einem gewissen Grade gewisse Dinge aus diesen Lebensjahren so in sich bewahrt wie der Christ sein Vaterunser - wenn auch in einem geringeren Grade -, daß es immer wieder und wieder heraufkommt, einen Bestandteil des inneren Seelenlebens ausmacht. Man darf eben in dieser Zeit nicht vergessen, die Hauptrücksicht zu nehmen auf die Entwickelung der Seelenkräfte. In dieser Beziehung wird aber viel ge­sündigt. Denn es wird in dieser Zeit mehr Rücksicht genommen auf die Schulfächer, die vom Leben und vom Staat verlangt werden, als auf den heranwachsenden Menschen selbst. Die Sachen liegen ja so, alles, was für das Leben so konventionell ist wie Lesen, Schreiben, das ist nicht etwas, was so innerlich begründet ist wie zum Beispiel Geome­trie

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oder das Rechnen. Daß wir gerade diese Sprache haben, das ist eben doch etwas, was weniger elementar mit der Außenwelt, auch mit der Allgemeinheit der Welt zusammenhängt. Daß wir diese Schrift-buchstaben haben, hängt weniger mit den allgemeinen Weltverhält­nissen zusammen, als daß zum Beispiel ein Dreieck drei Seiten oder seine Winkelsumme 180 Grad hat oder dergleichen. Alles, was so kon­ventionell ist wie Lesen und Schreiben, können wir vorzugsweise ver­wenden zur Ausbildung der Intellektualität, das bildet ganz besonders den Verstand. Es würde zu weit führen, wollte ich diesen Satz einer wahren Psychologie jetzt in breiterer Weise ausführen, aber wer das Leben nach allen Seiten betrachtet, wird diesen Satz bewahrheitet finden.

Alles dagegen, was mehr mit den allgemeinen Weltverhältnissen zusammenhängt oder was das menschliche Gedächtnis anspricht wie der Geschichts- oder der Geographieunterricht, hängt wieder mehr zu­sammen, wenn das auch scheinbar paradox klingen mag, mit den Kräf­ten des Gefühls, formt das Gefühl. Und alles, was wir dem jungen Kinde an Künstlerischem beibringen, formt das Willensleben, und wir sollten eigentlich die einzelnen Schulfächer so einrichten, daß wir den sich entwickelnden Menschen im Auge haben und immer wissen: Mit diesem formen wir das Denken, mit diesem formen wir das Fühlen, und mit jenem formen wir das Wollen. Auf den sich entwickelnden Menschen kommt es an, nicht auf eine bestimmte Summe von Wissen.

Wenn wir diese Grundsätze haben, dann lernen die Kinder etwas, was heute sehr wenig gelernt wird. Heute wird sehr viel gelernt, Geo­graphie, Rechnen, Zeichnen und so weiter. Ich will darüber nicht spre­chen. Doch es sollte so gelernt werden, wie ich jetzt gesagt habe; aber zu lernen wird wenig gelehrt. Das Leben selber aber ist die große Schule des Lebens, und nur dann kommt man richtig aus der Schule heraus, wenn man sich aus ihr die Fähigkeit mitbringt, sein ganzes Leben vom Leben zu lernen. Das kann man aber nicht, wenn man in diesen Jahren mit Wissen angepfropft wird. Das kann man nur dann, wenn die Schule dazu verwendet wird, um diese Kräfte von Denken, Fühlen und Wollen im Menschen auszubilden in seiner Seele. Dann lernt man das Lernen vom Leben. Wollen wir Demokratie und Sozia­lismus,

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dann müssen wir nicht den Hochmut haben, überall bestimmen und schon alles wissen zu können. Wir müssen über den Größenwahn hinauskommen, man brauche nur ein einundzwanzigjähriger vernünf­tiger, mündiger Mensch zu sein, um in alle Staatsparlamente hinein-gewählt zu werden, um so zu sprechen, wie diejenigen Menschen spre-ehen, die Erfahrung im Leben haben. Sondern dann muß man zu der innersten menschlichen Bescheidenheit erzogen werden, daß wir nicht absolut vollendete Menschen für einen Augenblick sind, sondern uns entwickelnde Menschen von der Geburt bis zum Tode. Daß jeder Le­benstag einen bestimmten Wert hat, und daß wir uns nicht umsonst in die dreißiger Jahre hineinleben, nachdem wir die zwanziger durch­laufen haben, sondern daß uns jeder neue Tag und jedes neue Jahr immer neue Offenbarungen bringt.

Das aber muß als ein wirklicher Lebensimpuls durch solche Dinge in der Schule veranlagt werden, wie ich sie eben jetzt ausgesprochen habe. Im naturwissenschaftlichen Zeitalter konnten diese Dinge nicht immer zu ihrem Recht kommen. Im naturwissenschaftlichen Zeitalter ist zum Beispiel in die Schule ein Grundsatz hineingekrochen, der, von der einen Seite betrachtet, außerordentlich richtig, von der anderen Seite angesehen aber höchst bedenklich ist, das ist die Anschaulichkeit. Ich bekomme immer ein ganz kleines Grauen, wenn ich in ein Schulzimmer hineinkomme und dort die Rechenmaschine sehe, woran die Kinder Zählen und Addieren «anschaulich» lernen sollen. Im Rechnen geht es noch. Wenn man aber das Prinzip der Anschaulichkeit radikal aus­dehnt, so muß dagegen gesagt werden, daß ja das Prinzip der An­schaulichkeit in der Pädagogik nur dann Berechtigung hat, wenn alles in der Welt wirklich anschaulich ist. Aber glauben Sie, daß alles in der Welt wirklich anschaulich ist? Es gibt eben sehr vieles, was in der Welt nicht anschaulich sein kann, nämlich alle Gefühls-. und Willenswerte, Sympathie, Antipathie und so weiter. Die können gar nicht zur An­schaulichkeit gebracht werden, die müssen gerade durch unbestimmte Fluida, wenn ich mich dieses Ausdruckes bedienen darf, übergehen von dem Lehrer auf den Schüler gerade nach dem Autoritätsprinzip. Das hat eine kulturhistorisch sehr große Bedeutung.

Wir sehen, wie heute die Menschen intellektuell förmlich übermäßig

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ausgebildet sind, gerade in unserer abendländischen Zivilisation, und wie sie alles, was sie als Anforderungen an das Leben stellen, immer in Verstandesgrundsätze sich bringen. Dasjenige, was nun das Aller­verstandesmäßigste ist, was ganz nur Verstand ist, das ist das Marxi­stische Programm. Das ist nämlich gerade das Grundeharakteristikum des Marxistischen Programms, daß es nur vom Verstande seine Struk­tur bekommen hat. Man versteht eigentlich das, was im Marxistischen Programm liegt, erst recht, wenn man weiß, alles da drinnen ist nur vom Verstande diktiert, von einem sehr scharfen Verstande, von einem überscharfen, von einem genialen Verstande oft - aber nur vom Ver­stande. In der Menschennatur, in der Menschenseele stehen die ein­zelnen Seelenkräfte in Wechselbeziehung zueinander. Wenn die eine Kraft zu stark ausgebildet wird, bleiben die anderen zurück, einige Kräfte bilden sich mehr aus, andere bleiben zurück. Werden die Ver­standeskräfte zu stark ausgebildet, so bleiben die Emotionen auf einer niedrigeren Stufe zurück. Sie werden zwar stark, aber werden elemen­tar, sie werden wüst. Und so sehen wir, daß in unserer Zeit der Intelli­genz die wüstesten Emotionen, die furchtbarsten Instinkte als «histo­rische Forderungen» heraufkommen. Denn das ist es, was vom Osten Europas kommt, was Mitteleuropa zu überschwemmen beginnt: die elementarischen instinktmäßigen Forderungen, die der Gegenpol sind zur Intellektualität. Man möchte, daß in dieser Beziehung die Men­schen einmal anfangen würden, über die eigentlichen Zusammenhänge nachzudenken.

Da gibt es zum Beispiel zwei wirklich brav-bürgerliche Philosophen. Der eine ist mehr Naturforscher in der Welt des neunzehnten Jahr­hunderts, es ist Avenarjus, der andere ist Mach. Der eine ist in Zürich, wo er auch gelehrt hat, der andere in Wien. Diese beiden Menschen, Avenarius und Mach, hatten bis zur höchsten Potenz ausgebildet die naturwissenschaftliche Gesinnung. Sie hatten diese Gesinnung zum philosophischen Lehrgebäude gemacht. Warum? Darum, weil das Prin­zip, möglichst nur das Anschauliche der Naturwissenschaft für die menschliche Wissenschaft zur Geltung zu bringen, ihnen alles war.

Diese Menschen waren wirklich sehr brave, gute Bürger, höchst brave Menschen, das kann ich Ihnen versichern. Und nun sind die Avenariussche

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Philosophie und die Machsehe Philosophie die Staatsphilosophie der Bolschewisten in Rußland geworden! Dieser Zusammenhang könnte unerklärlich erscheinen. Äußerlich könnte man ihn vielleicht damit be­gründen wollen, daß viele Bolschewisten in Zürich studiert haben. Aber das macht es nicht aus, denn es gefällt einem kein Philosoph, mit dem man nicht innerlich verwandt ist. Sondern der innerliche Zusammen­hang ist der, daß tatsächlich dasjenige, was in solchem rein naturwis­senschaftlich-anschaulichen Denken zum Ausdruck gekommen ist, so einseitig ist, daß es auf der anderen Seite durch das Geheimnisvolle der Menschennatur jene Emotionen, jene elementarischen Instinkte wachruft, die sich dann im Bolschewismus ausleben. Das ist kein Zufall, da ist eine innere Gesetzmäßigkeit dahinter. Und niemand hat mehr über solche Dinge nachzudenken als die Lehrerschaft, denn diese Dinge gehören am allerintensivsten in die Kulturpädagogik hinein.

Wir müssen uns einfach fragen, wie müssen wir das Kind erziehen? Wir dürfen uns nicht bloß auf formalistische Methodik, Pädagogik und Didaktik verlegen in unserer Zeit, in der alles aufgewühlt ist, wir müssen die Kulturgeschichte heranziehen gerade zum Aufbau einer ge­sunden Pädagogik. Daher müssen wir dem Prinzip der Anschaulichkeit wieder etwas entgegenstellen, was willensbildend ist. Wir haben ver­sucht in unserem Kreise - man kann manches dagegen haben, aber es liegt in der Richtung, die ich jetzt angedeutet habe -, wir haben ver­sucht, an die Stelle des bloßen physiologischen Turnens, wo eigentlich nur Gliederbewegungen in bezug auf die Physiologie in Betracht kom­men, die Eurythmie zu setzen, die eigentlich die beseelte Bewegungs­kunst des Menschen ist, und von der sich schon herausstellen wird, daß sie ebenso, wie sie Kunst ist, auf der anderen Seite beseeltes Turnen ist, und daß sie gerade dadurch für die Erziehung zum Willen etwas Bedeutsames leisten kann. Und so muß man vieles umgestalten, an das man jetzt fest glaubt, wenn man wirklich mit einer Menschenerziehung rechnen will, durch die der Mensch in richtiger Weise hineinwachsen kann in Demokratie und Sozialismus. Sonst werden Demokratie und Sozialismus die furchtbarste Plage werden für die zivilisierte Mensch­heit der Zukunft. Was eben am meisten berücksichtigt werden muß, ist, daß in einer Zeit, wo die Menschen teilnehmen wollen erstens am

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Staatsleben, zweitens am Wirtschaftsleben durch allerlei «Räteschaf­ten», wo sogar das, was vom Kapital bewirkt worden ist, ersetzt wer­den soll durch die Vernunft der verschiedenen Betriebsräte, Verkehrs-räte, Wirtschaftsräte -, daß in dieser Zeit die Menschen gerade in bezug auf ihre Erziehung durchmachen müssen, was sie fähig macht, das aus­zuüben, was Demokratie und Sozialismus verlangen. Denn Demokratie und Sozialismus sollen keine bloße menschliche Forderung sein, sie sollen auch ein System von menschlichen Pflichten und Verpflichtungen darstellen.

So ernst muß man schon die Dinge heute nehmen, und man muß ins­besondere das, was in den Zeitforderungen von Demokratie und Sozia­lismus liegt, in die Pädagogik und in das Erziehungswesen hineinbrin­gen. Und wenn der Mensch entwickeln will wirkliche Einsicht in die Bedürfnisse und Fähigkeiten des anderen Menschen, wenn also sozia­lisiert werden soll, dann muß der Mensch durch das Prinzip der Nach­ahmung, durch das Prinzip der Autorität in sich erzogen haben jene Liebefähigkeit, die ihn zur wirklichen Brüderlichkeit im Leben bringt. Denn Sozialismus ohne zur Brüderlichkeit geneigte Menschen ist ein hölzernes Eisen! Deshalb darf man schon sagen: Es wäre schlimm, wollte man nicht die Lehrer vor allen Dingen fragen, wenn es sich darum handelt, an Neubildungen unserer Gesellschaftszukunft zu gehen, denn allein aus dieser Ecke heraus kann derjenige Wind wehen, der wirklich gesundend wirkt mit Bezug auf die charakterisierten Zeitforderungen.

Ich kann es leicht glauben, daß heute und auch für die Übergangszeit gerade die Lehrerschaft recht große Bedenken haben könnte gegen das, was nur zur Ermöglichung einer solchen Schule und einer solchen Er­ziehung geschehen soll, wie sie hier charakterisiert worden sind, durch die Bestrebungen des «Bundes für Dreigliederung des sozialen Orga­nismus». Dieser Bund für Dreigliederung sieht in der Abhängigkeit der Schule vom Staat, in der Durchdringung der Schule mit dem Staats-prinzip das, was für die Zukunft unmöglich machen wird, in der Schule zu pflegen, wovon heute hier gesprochen worden ist. Die Sozialisten könnten darüber ein bißchen nachdenken. Sie wollen alles in einer gewissen Weise verstaatlichen oder vergesellsehaften. Die Menschenklasse,

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die ihnen vorangegangen ist, hat die Schule verstaatlicht. Die Schule ist ganz und gar verstaatlicht, an ihr kann man lernen, was Verstaatlichung ist. Und heute, unter dem Ruf nach Sozialisierung, muß, wer die Dinge ernst nimmt, wer fähig ist, die Dinge kulturhisto­risch zu überschauen, er muß sagen: Entstaatlichung der Schule ist das, worauf es ankommt. Daher hat der «Bund für Dreigliederung des so­zialen Organismus» das Prinzip, das Schulwesen ganz auf sich selbst zu stellen, dem Schulwesen die Selbstverwaltung zu geben, so daß dem Staate nicht einmal die Beaufsichtigung bleibt, sondern was in der Schule durch Selbstverwaltung wirkt, das soll rein aus den Bedürf­nissen des Geisteslebens selbst herauswachsen. Da wird manches her-auswachsen. Ich will Ihnen nur eines als Beispiel sagen, weil wir uns vielleicht durch ein Beispiel über dieses umfassende Thema leichter verständigen können.

Wir unterscheiden heute Volksschulen, Mittelsehulen und Hochschu­len. An den Hochschulen wird auch Pädagogik gelehrt. Dieser Päd­agogik will man ja jetzt an den Hochschulen ein bißchen eine bessere Stellung geben, aber sie wird eigentlich immer als «Nebenfach> ge­lehrt. Bisher war es so: Irgendein Philosoph wurde berufen, Philo­sophie zu lesen, und dann wurde ihm im Nebenfach auch die Päd­agogik übergeben. Das war ihm meistens auch eine Last, er tat es gar nicht gern. In der Zukunft muß es anders werden. Denn in der Zu­kunft muß alles, was Geistesleben ist, mit dem allgemeinen Menschen­leben zusammenhängen. In der Zukunft wird, wenn ein solches Ideal wirklich erfüllt werden kann, wie ich es heute vor Ihnen gezeichnet habe, in der Zukunft wird der Lehrer durchaus Psychologe sein. Er wird den heranwachsenden Menschen aus seiner vertieften Menschen­kenntnis heraus zu erziehen haben, dann wird er am besten wissen, was pädagogische Wahrheit ist. Dann wird der Lehrer, der sonst die Kinder unterrichtet, berufen werden an die Universität, um dort Päd­agogik zu lehren. Und wenn er dies eine Zeit hindurch getan hat, wird er wieder zurückgehen zur Schule, wird wieder Kinder unterrichten, neue Erfahrungen sammeln und wird dann später wieder Pädagogik lehren. Das wird eine wirkliche «Gelehrtenrepublik» werden, wie sie schon Klopstock geträumt hat. Anders, als wenn wir die Dinge so

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gründlich und so tief nehmen, kommen wir gar nicht vorwärts. Die heutige Zeit ist dazu bestimmt, diese Dinge dem äußeren Leben mit­zuteilen.

Um aber alles das durchzuführen, muß alles, was Geistesgebiet ist, ein Reich für sich sein. Es könnte höchstens Bedenken erregen: Wenn nicht mehr der Staat durch seine Gewaltmaßregeln in die Börse des Lehrers hinein dasjenige befördert, was nun auch darinnen sein muß, dann wird es ja sehr schlimm mit dem Lehrerstande stehen. Nun, der Lehrer wird einer Wirtschaftskorporation angehören, wie es andere Wirtschaftskorporationen gibt. Neben dem, daß er Lehrer ist, wird er dem dritten Gliede des dreigliedrigen sozialen Organismus, dem wirtschaftlichen, gegenüberstehen und von diesem selbständigen Wirt­sehaftskörper seinen Unterhalt bekommen. Denn der dreigliedrige soziale Organismus wird einen selbständigen Wirtsehaftskörper haben, wie er einen selbständigen Staatskörper hat, wo das Recht auf demo­kratischer Grundlage zu pflegen ist, und wie er ein eigenes freies Gei­stesgebiet haben wird. Und es wird dasjenige, was heute indirekt auf dem Wege der Steuer in die Börse des Lehrers kommt, dann direkt aus dem Wirtschaftsleben kommen, und außerdem wird durch das auf sich selbst gestellte Geistesleben erst die richtige Atmosphäre für Schule und Unterricht erzeugt werden.

Es gehört zu einem gesunden sozialen Organismus auch: eine richtige, aus dem ganzen Vollmenschen herauskommende Wertung der verschie­denen Güter und Leistungen des Lebens. Diese Wertung der Güter und Leistungen muß da sein. Aber von dem, was eigentlich der Lehrer leistet für die heranwachsende Generation, darf in einem gesunden sozialen Organismus gar nicht die Ansicht herrschen, daß es «bezahlt» werden könne. Das ist ein Geschenk, das der Lehrer aus der geistigen Welt an die Menschen vermitteln wird! Diese Gesinnung muß den gesunden sozialen Organismus ergreifen, daß der Lehrer das Medium ist, durch das die Fähigkeiten des Menschen, die individuellen Eigen­schaften des Menschen heraufgeholt werden aus ihren dunklen Unter­gründen, wie sie veranlagt sind in der Menschennatur. Es ist bloß der Größenwahn des Banausentums, wenn man glaubt, daß das, was eigentlich auf dem Gebiet der Schule geleistet werden kann, bezahlt

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werden muß. Was der Wirtsehaftskörper des gesunden dreigliedrigen sozialen Organismus wird zu leisten haben, das wird nur das sein, daß er dem Lehrer die Möglichkeit bietet, so zu leben, wie alle anderen Menschen leben. Man wird ganz trennen müssen im Bewußtsein dieses Bieten der Lebensmögliehkeit und das Bewerten des Unterrichtens, das wird der gesunde Impuls sein, ohne den es wiederum keine Demokra­tie geben kann. Denn jene Demokratie, die alles nivelliert, die gar nicht mehr die Dinge bewerten kann, die wird die Dinge nur zerstö­ren, und jener Sozialismus, der glaubt, alles bezahlen zu können, wird ebenfalls das Leben zerstören. Nicht nur, daß der Lehrer selber derjenige Faktor sein muß, der gehört wird, wenn man dem Ruf nach Demokratie und Sozialisierung folgen kann, sondern die Bewertung der Lehrertätigkeit muß selbst wieder aufsprießen aus der Verfassung des gesunden sozialen Organismus. Daß ein jedes der drei Lebens-gebiete zu seiner Selbständigkeit komme, das strebt eben der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus an. Deshalb will er das, was bisher in eine unorganische, chaotische Einheit vermischt worden ist -Wirtschaftsleben, Geistesleben und Staatsleben -, auf seine gesunden drei Grundlagen stellen, ein selbständiges Geistesleben, ein selbstän­diges demokratisches Staats- oder Reehtsleben und ein selbständiges soziales Wirtschaftsleben. Und der Mensch bildet die höhere Einheit in den dreien. Er wird teilnehmen an allen drei Gebieten. Man braucht keine Furcht zu haben, daß die Einheit verloren gehen werde. Wer etwa glaubt, daß durch die Idee der Dreigliederung von uns ange­strebt werden soll, daß man den Gaul in drei Teile teilt, der hat eine schlechte Vorstellung von dem, worum es sich handelt. Wir wollen den Gaul nicht in drei Teile teilen, wir wollen nur nicht, daß man behauptet, der Gaul sei nur dann ein richtiger Gaul, wenn er auf einem Beine steht. Der gesunde soziale Organismus steht auf seinen gesunden drei Beinen. Das ist erstens ein selbständiges Geistesleben, dem Erziehung und Schulwesen angehören, zweitens ein selbständiges Rechtsleben, dem der demokratische Staat angehört, und drittens ein selbständiges Wirtschaftsleben, das allein sozialisiert werden kann. Will man mitsozialisieren das Rechtsleben und gar das Geistesleben, dann kommt weder ein Sozialismus des Geisteslebens, noch des Rechtslebens,

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noch des Wirtschaftslebens heraus, sondern es kommt nichts anderes heraus als das, was alles in die Uniformität des Wirtschaftslebens hin­eindrängt, um den Menschen zu kleiden und zu füttern, und was nach und nach alles das ausdörrt, was sich nur selbständig entwickeln kann:

das Staats- oder Rechtsleben und das Geistesleben.

Das ist eine ernste Frage, auch gerade als volkspädagogisehe, als kulturpädagogische Frage, die im umfassendsten Sinne die Grundfrage unserer Zeit ist. Soviel ich in diesen ohnedies schon langen Betrach­tungen ermöglichen konnte, habe ich zu zeigen versucht, um ein Ver­ständnis herbeizuführen für das, was der Impuls des dreigliedrigen sozialen Organismus in Wahrheit will, und was er im besonderen will für die Befreiung und Erlösung des Geisteslebens und des Schul- und Erziehungswesens von manchen Banden, in die sie geschlagen sind. Es würde mir eine ganz besondere Befriedigung gewähren, wenn das, was aus solchen Untergründen heraus gewollt wird, einigermaßen das Interesse und die Berücksichtigung gerade der Lehrenden und Unter­richtenden und Erziehenden fände.

Schlußwort nach der Diskussion

In der anschließenden, lebhaften Diskussion wurde eingewendet, die Proletarier-kinder seien durch schlechtes Vorbild verzogen und nicht geeignet, «neue Menschen> zu bilden. - Autorität werde besser durch Führung und Gefolgschaft ersetzt, wie sie die Schulgemeinden anstreben. - Die Erziehung werde doch bestimmt durch die Per­sönlichkeit des Lehrers, es sei gleich, in welchem politischen Zusammenhang das geschehe. - Erst eine neue Lehrerbildung müsse den Lehrer zur Selbständigkeit er­ziehen, heute brauche dieser die Autorität des Staates. - Der Staat habe dem Lehrer Autorität verschafft und ihn weiter nicht gestört, er sei nicht zu entbehren.

DR. STEINER: Zunächst bitte ich, mich eingehen zu lassen auf die ein­zelnen Fragen, die gestellt sind. Zunächst die Frage des Vorsitzenden bezüglich der Proletarierkinder.

Wenn ich gesagt habe, oder wenn das aus meinen Worten heraus­gehört worden ist, daß ich den Proletarier als den «Typus des neuen Menschen» bezeichnet habe, so bitte ich Sie, das nicht so aufzufassen, als wenn mit dem «neuen Menschen» eine Art Engel gemeint sein sollte. Es ist ein Irrtum, dem man sich sehr häufig hingibt, daß man,

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wenn von Neuem, besonders in der Fortentwickelung der Menschheit, gesprochen wird, dann die Ansicht hat, das Neue sei immer auch das Bessere. Das ist die Einwirkung eines kapitalen Irrtums der schablonen­haften Parteien. Bei denen war das Neue immer das Bessere. In diesem Sinne habe ich nicht den Proletarier als den «Typus des besseren Men­schen> bezeichnen, sondern nur sagen wollen, daß er der Typus des­jenigen Menschen ist, der sich in den letzten Zeiten herausgebildet hat, in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, besonders im neunzehnten Jahrhundert. Wenn ich dann gesagt habe, daß das bürgerliche Kind verzogen wird von seinen Eltern, so habe ich auch gesagt, das proleta­rische Kind wird auch verzogen - ich bitte sich gut zu erinnern, daß ich diesen Nebensatz hinzugefügt habe -, aber es wird nicht von den Eltern, die keine Zeit dazu haben, verzogen. Die Sache ist so: Das pro­letarische Kind ist heute zumeist ein größerer Racker als das bürger­liche Kind. Damit kann man ganz einverstanden sein. Und was der verehrte Vorsitzende, der Lehrer von Proletarierkindern ist, da erleben kann, stelle ich mir vielleicht ganz so schauderhaft vor, wie er es erlebt. Ich könnte meinen, daß also schon gerade dadurch, daß der Proletarier der Typus des neuen Menschen ist, durchaus das Proletarierkind der größere Racker ist. Aber es ist es auf andere Weise. Es ist es nicht da­durch, daß es die Eltern, die in einem gewissen Stande darinnen sind, nachahmt und damit also die Klasseneigenschaften naehahmt, sondern weil es - das ist ein radikaler Ausdruck - auf der Straße erzogen ist und allein gelassen, alles mögliche nachahmt. Es ist im allgemeinen schlechter daran. Es ist aus dem Menschentum herausgewachsen, dem man heute eben nichts besonders Gutes nachahmen kann. Es ist mehr aus einer Allgemeinheit des Mensehentums herausgewachsen, so daß es also in dieser Beziehung auch da so darinnen steht im Leben, wie der Proletarier später im Leben steht. Es ist mehr dem Leben entwachsen. Das bürgerliche Kind ist dagegen mehr in ein bestimmtes Treibhaus hineingestellt. Das ist der Unterschied. Es ist keine Frage, daß das Pro­letarierkind allerlei nachahmt und mit dem Erfolg dieser Nachahmung in die Schule kommt, mit Dingen, die recht wenig wünschenswert sind. Aber es kam mir darauf an, zu zeigen, wie dem Proletarierkinde gegen­über neue Aufgaben erwachsen, erstens dadurch, daß es nicht von den

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Eltern kommt mit ganz bestimmten spezifischen Klasseneigentümlich­keiten und dann nicht so entlassen wird ins Leben, daß mithelfen Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel, Tanten und andere, die es protegieren, sondern daß es notwendig hat, sich nur auf das zu stellen, was in seiner Seele, im ganzen Menschen heranerzogen worden ist. Man hat vielfach ein Wort nachgesprochen einem Mann, der sich nicht gerade vorteilhaft auf seinem Posten ausgezeichnet hat, das Wort «Freie Bahn dem Tüchtigsten». Aber es sind eben die Dinge jetzt zur Phrase ge­worden. Denn man kann leicht sagen «Freie Bahn dem Tüchtigsten», wenn man damit nur den eigenen Neffen oder das Geschwisterkind meint. Das sind also Dinge, die der Sache nach, nicht den Worten nach genommen werden dürfen. Wir leben eben, weil wir so wenig die Dinge der Sache nach nehmen können, so sehr stark in der Phrase. Das bitte ich zu berücksichtigen. Also das bezüglich der Nachahmung.

Was bezüglich der Autorität zu gelten hat, da ist es ja natürlich, daß die Proletarierkinder für das Autoritätsgefühl unter Umständen wenig mitbringen. Aber da muß vor allem angestrebt werden durch die Ausbildung der pädagogischen Kräfte, gerade bei den Proletarierkin­dern dieses Autoritätsgefühl wirklich auszubilden.

Dann ist davon gesprochen worden, daß es nicht darauf ankäme, ob die Persönlichkeit innerhalb oder außerhalb des Staates für die Aus­bildung des Denkens, Fühlens und Wollens sorgt. Ich konnte die Frage, trotzdem sie zweimal vorgekommen ist, nicht in Wirklichkeit ver­stehen. Es kommt darauf an, daß der Persönlichkeit die Kräfte nicht genommen werden durch das Hineingepferchtsein in die staatlichen Verordnungen. Man muß eben nur berücksichtigen, was es bedeutet, wenn durch den Kopf nicht das geht, was aus der freien Persönlichkeit des Lehrers selbst herkommt, sondern was erst hineinkommt in das, was er unterrichten soll, durch die Verordnungen, durch die Lehrpläne und durch die Zielsetzung des Staates; wenn nicht ausgebildet werden sollen Menschen zu Vollmenschen, sondern Menschen, die dann an dieser oder jener Stelle des Staates den Anordnungen dieses Staates in der richtigen Weise dienen müssen.

Dann ist - das wird ja immer gefragt, wenn diese Frage besprochen wird - eingewendet worden, daß die Bildungsinteressen und das Bil­dungsbedürfnis

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in der heutigen Zeit nicht allzu groß seien, daß die meisten Eltern froh wären, wenn sie die Kinder nicht in die Schule zu schicken brauchten. - Es ist sogar gesagt worden: kein Mensch würde mehr die Kinder in die Schule schicken. - Aber das, was ich gesagt habe, berührte ja gar nicht diese äußerliche Frage des In-die-Schule-Sehickens der Kinder oder nicht. In meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» spreche ich von einem Recht auf Erziehung, das das Kind hat, und für das sogar im künftigen Staatswesen wird ein entsprechender Erziehungsbeitrag zu geben sein vom zukünftigen Wirtschaftsleben. Also, ich spreche nicht davon, daß der «Schulzwang» als lästig emp­funden wird von solchen Eltern, welche die Kinder nicht in die Schule schicken wollen, sondern lieber aufs Feld, sondern ich spreche davon, daß das Kind im gesunden sozialen Organismus ein Recht hat auf Er­ziehung. Nun könnte man sagen: Wenn es dieses Recht hat, wird der Staat - warum heute auf den Staat gedroschen worden sein sollte, wie ein Redner sagte, das weiß ich nicht - noch immer da sein als die Rechtsinstitution -, aber ich hatte heute nur über die Geistesinstitution zu sprechen. Und da könnte eingewendet werden: Wenn dieses Recht auf Erziehung des Kindes geltend gemacht wird, dann werden die Eltern die Kinder in die Schule schicken müssen, dann kann man mei­netwillen auch den Schulzwang lassen. Aber das hat nichts zu tun mit dem Auf-sich-selbst-Stellen des Geisteslebens, hat nichts zu tun mit dem, was in den Schulen getan wird, mit der Verwaltung des Schul­wesens. Neulich habe ich einmal die Frage folgendermaßen beantwor­tet: Wenn man keinen Schulzwang hat, wenn das Recht auf Erziehung besteht, kann man sogar androhen, daß man bei denjenigen Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken wollen, einen Erziehungsvor-mund für das Kind einsetzt, der das Recht des Kindes auf Erziehung bei den Eltern vertritt; dann werden sie die Kinder hübsch in die Schule schicken. Diese Nebenfragen lassen sich nämlich alle beantworten, wenn man nur den guten Willen hat, wirklich die Hauptfrage zu verstehen:

was alles davon abhängt, daß das Geistesleben in freier Weise auf sieh selbst gestellt wird.

Dann ist der Zwiespalt angedeutet worden, der besteht, wenn später der Staat oder irgendwie das Leben nicht dulden wird, was der Lehrer

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als Autorität in die Kinder hineingepflanzt hat. Aber aus der Erkennt­nis dieses Zwiespaltes geht ja gerade die Forderung nach der Abgliede­rung des Schulwesens vom Staatswesen hervor. Gerade um es als Un­möglichkeit herbeizuführen, daß irgendein Staat später das nicht dul­det, was in der Schule durch Autorität in die Seele des Kindes gelegt worden ist, deshalb soll gerade das Schul- und Erziehungswesen auf seinen eigenen Boden gestellt werden. Wird dann, wenn der Staat nicht zugleich die Autorität für den Lehrer ist, der Mensch später gezwungen im Leben, etwas anderes zu tun, dann wird er an seinen Lehrer nicht so zurückdenken, daß der jetzt für ihn wertlos ist,wenn der Staat etwas anderes sagt, sondern er wird so zurückdenken, daß er es als ein schweres Schicksal empfinden wird, daß er das nicht ausführen kann, was als Autorität der Lehrer in seine Seele hineingepflanzt hat. Wenn Sie darüber im einzelnen nachdenken, werden Sie sehen, daß die Lösung dieses Zwiespaltes schon sehr geglückt ist. Aber gerade weil dieser Zwiespalt einem lange auf der Seele lag, deshalb ist aus einer Beobach­tung des Lebens die Forderung nach der Verselbständigung des Geistes­lebens und besonders des Schul- und Erziehungswesens aufgestellt worden. Alle ähnlichen Dinge - und es sind viele ähnliche Dinge wie hier der Zwiespalt, der in sehr glücklicher Weise angeführt worden ist -, sie sind gerade nur dann möglich, wenn das Schulwesen hinein­gestellt wird in dasjenige, was auf demokratischer Grundlage liegt, hineingestellt wird in das Reehtsleben des Staates.

Was Frau B. über Autorität gesprochen hat, klang für meine Emp­findung so abstrakt und theoretisierend, daß ich nicht glaube, solche Dinge können für das Leben, das praktische Leben wirkliche Bedeu­tung haben. Niemand konnte aus dem, was ich sagte, heraushören, ich setzte voraus, daß das Kind sich ein «Urteil» darüber bilden könnte, daß der Lehrer Autorität ist. Das sind Dinge, die sich in der Atmo­sphäre des Lebens ganz von selbst ergeben.

Bezüglich der Lehrerfrage wird sich aus allerlei Voraussetzungen ergeben, daß es sich in der Zukunft darum handeln wird, daß eine Selektion, eine Auswahl für den Lehrstand stattfindet und man nicht bloß durch Examina, durch eine gewisse Summe von Wissen zum Lehrstand zugelassen wird. Das Wissen kann man sich unter Umständen

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später in wenigen Stunden aneignen, das kann man nachholen aus den verschiedenen Handbüchern. Auf die ganze Persönlichkeit, auf die innerste Begabung des Lehrers kommt es an. Ich meine natürlich nicht, daß man, wenn man früher nicht in diesem Wissen drinnen gestanden hat, es sich später leicht in ein paar Stunden aneignen kann. Sondern wenn man es gerade braucht - man muß natürlich früher drinnen gestanden haben -, dann kann man es sich später, wo es nötig ist, auch leicht wieder aneignen. Darauf kommt es an, daß eine gewisse Garan­tie geschaffen wird für das, was den Lehrer zum Lehrer bestimmen soll, eine Garantie dafür, daß er durch seine ganze Persönlichkeit so in der Menschheitskultur drinnen steht, daß von ihm etwas übergehen kann auf den Schüler, was dann in autoritativer Weise wirken kann. -Das sind Dinge, die viel tiefer und gründlicher betrachtet werden müssen, als es heute oftmals versucht wird, als daß man solche abstrak­ten Dinge vorbringt wie «Führerschaft» und «Gefolgschaft» oder wie die «Schulgemeinschaft». - Ich bitte noch zu berücksichtigen, daß ich von «Schulgemeinden» gesprochen habe. - Es kommt darauf an, daß man die Dinge so nimmt, wie sie gesagt sind, und nicht, daß man sie erst übersetzt in ein abstraktes Programm, das man sich erst selbst gemacht hat.

Dann wäre viel zu reden über die Frage der Trennung von Kirche und Staat. Historisch ist es ja so, daß es lange Zeiten hindurch einfach nicht anders sein konnte, als daß die Schule in einer gewissen Weise ein Anhängsel der Kirche war. Der Staat hatte seine gute Aufgabe in der neueren Zeit darin, daß er das Erziehungswesen loslöste von der Kirche und auf eigenen Boden stellte. Jetzt aber sind wir wieder in die Notwendigkeit versetzt, dasjenige, was der Schule anhängt, indem sie abhängig geworden ist vom Staat, dadurch zu verbessern, daß wir die Schule auf ihren eigenen Boden stellen. Daß diese Dinge sehr leicht einseitig agitatorisch betrachtet werden können, sollte man eigentlich heute nicht verkennen. Ich höre doch in sehr vielem, was über diese Dinge gesprochen wird, heute etwas heraus, was nicht ganz sachlich ist. Man muß sieh doch auch darüber klar sein: Zu einer Uniformierung des menschlichen Seelenlebens dürfen wir durch keine Art von Zu­kunftspädagogik oder Zukunftsschulverfassung irgendwie kommen. Wir

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dürfen nicht etwas als allein gültige Anschauung in bezug auf das Seelisch-Geistige betrachten und verlangen, daß es den Kindern bei­gebracht werden soll. Wir müssen uns auch in die Seelen anders den­kender und fühlender Menschen hineinversetzen können. Da handelt es sich durchaus darum, daß man sich nicht davor fürchtet, wenn zum Beispiel katholische Eltern verlangen, daß ihre Kinder auch katholi­schen Religionsunterricht bekommen. Man braucht sich nicht davor zu fürchten, wenn man selber nur stark auf eigenem Boden steht. Gerade so, wie man sieh nicht zu fürchten braucht vor irgendeiner anderen Weltanschauung, wenn man den eigenen Enthusiasmus und die Kraft für eine eigene Weltanschauung hat. Diese Dinge sollen im freien Geistes-Wettstreit sich ausbilden können, aber jedenfalls nicht durch staatliche Gesetzmäßigkeit. So schädlich es ist, wenn durch eine staatliche Gesetzmäßigkeit eine Kirche zur Staatskirche gemacht wird und ihr dadurch der Vorzug des Staates zuteil wird, ebenso schädlich ist es auch, wenn eine Kirche verfolgt wird. Keinerlei Art von Seelen-verfassung sollte durch Staatsgesetzlichkeit irgendwie verfolgt oder protegiert werden. Und wer bei diesem Gedanken anfängt und ihn in ausreichendem Maße durehdenkt, der wird schon finden, daß es in der Tat notwendig ist, das Geistesleben und insbesondere das Schul- und Unterrichtswesen auf seinen eigenen Boden zu stellen.

Was darüber gesagt worden ist, daß die Autorität, die der Lehrer ausübt, nicht für das ganze Leben erhalten bleiben soll, sondern daß der junge Mensch davon frei werden soll, das ist entweder eine Selbst-verständlichkeit, oder aber etwas ist mißverstanden. Denn es ist natür­lich ganz selbstverständlich, daß man nicht sein ganzes Leben unter die Autorität eines Lehrers gestellt sein kann. Sie hat dahin zu arbeiten, daß man sich sagen kann: Wie wäre es, wenn man Lehrer würde? -Dann würde man durch das, was die Autorität des Lehrers einem in die Seele gelegt hat, selber Autorität werden können. Aber man muß die Dinge viel gründlicher und tiefer fassen, denn die Autorität eines Lehrers kann in der Tat durch das ganze Leben hindurch erhalten blei­ben. Ich habe schon gesagt, was der Lehrer in der Erziehung gibt, das kann in Wirklichkeit nicht «bezahlt» werden. Die Bezahlung bedeutet dabei etwas ganz anderes. Was aber durch die Erziehung getan werden

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kann, das ist, daß sieh das gegenseitige Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler so gestaltet, daß der Lehrer das ganze Leben hindurch für einen Menschen Autorität bleiben kann. Und ich möchte einmal fragen, was es wohl Schöneres gibt, wenn man sich später, wenn man sechzig Jahre alt geworden ist und zui ückblicken kann in seine Jugend, an einen Lehrer erinnert und sich dann sagt: Dieser Lehrer war für mich Autorität, ich stehe ihm heute noch mit vollster Dankbarkeit gegenüber, ich bin das, was ich geworden bin, mit durch ihn geworden! -Diese Autorität kann schon erhalten bleiben und kann fortleben durch den lebenslänglichen Dank gegenüber dem Lehrer. Das sind die Dinge, mit denen eine Psychologie, die den heutigen Aufgaben gewachsen ist, rechnen muß.

Wenn dann gesagt worden ist, daß der Staat doch notwendig ist, oder daß er ersetzt werden kann durch einen Geistessenat oder der­gleichen, so ist darüber schon gesagt worden: Wer den staatlichen Zwang nicht gefühlt hat, der hat ihn eben nicht gesehen. Und sehen Sie, die Sache ist ja doch so, es ist wirklich, Staatslehrer zu sein, den Menschen vielfach zur zweiten Natur geworden. Und wenn ihnen das zur zweiten Natur geworden ist, dann wissen sie gar nicht mehr, daß nicht eigentlich ihre freie Persönlichkeit lehrt aus den Quellen des Geisteslebens heraus, sondern sie haben sich ja gewöhnt an den Staat, haben sich gewöhnt, das fortzusetzen im Unterricht, was der Staat ihnen bietet. Sie fühlen sich «frei». Aber das Sich-frei-Fühlen ist ins besondere in der Geistesverfassung der gegenwärtigen Menschheit kein Beweis dafür, daß man auch wirklich frei ist.

Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ein Mensch, der für eine große Anzahl von Menschen der «große Weltenlehrer» ist, Woodrow Wilson, in seiner Schrift «Über die Freiheit» eine so merk­würdige Definition dessen gibt, was er unter Freiheit versteht, daß man auf die Wände hinaufkriechen könnte. Er sagt ungefähr: Frei kann man nennen einen Mechanismus, der keine Hemmung hat und so läuft, wie es die verschiedenen Veranstaltungen bewirken; oder frei kann man nennen ein Schiff, das sich nach demselben Prinzip in gleicher, in einer gewissen Weise weiterbewegt. - Aber diese mechanische Frei­heit ist nicht die wirkliche, die wir meinen: Die muß man fühlen.

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Dann ist ja auch über manches gesprochen worden, was ich nun wahrhaftig ganz und gar nicht gesagt habe. Insbesondere von dem Herrn, der den Staat verteidigt hat, ist von allerlei solchen Dingen gesprochen worden. Es ist von mir gar nicht auf den heutigen Staat geschlagen worden, sondern wer mich richtig verstanden hat, der wird wissen, daß ich gesagt habe: Aus dem, was von heutigen Sozialisten angestrebt wird, droht dieses und jenes zu werden, damit würde das­jenige kommen, was eben nicht kommen darf, deshalb müssen die Dinge so und so eingerichtet werden. - Nun, meine sehr verehrten Anwesen­den, ich kann dann wirklich nicht eingehen auf Dinge, die erst aus meinen Worten herauskonstruiert werden, und gegen die dann polemi­siert wird. Auf eines aber möchte ich doch noch eingehen: Auch für den Lehrer werde wieder eine Autorität notwendig sein. Ich habe ja nichts gesagt über die Autorität, die für den Lehrer notwendig sein wird, sondern ich habe davon gesprochen, daß der Lehrer eine Autori­tät für das Kind sein soll! Ob für den Lehrer eine Autorität notwendig wäre, ist eine weitaus andere Frage, die sich dadurch beantwortet, daß schließlich das Leben selbst dafür sorgen wird. Beachten Sie nur das Leben, wie es ist, das beachtet man heute viel zu wenig. Beachten Sie es nur lebensgemäß und wirklichkeitsgemäß, so werden Sie sich sagen:

Ja, die Menschen sind voneinander so verschieden, daß schließlich je­mand, der in der allermannigfaltigsten Art eine Autorität sein kann, doch noch immer eine Autorität über sich finden wird. Dafür wird schon gesorgt sein, daß immer einer noch eine Autorität für sich finden kann. Nun, nicht wahr, dieses braucht nicht zu führen bis zu einer höchsten Spitze. Es kann einer einfach dadurch eine Autorität sein, daß er einem in anderen Dingen überlegen ist.

Wenn ich von KlopstockS «Gelehrtenrepublik» gesprochen habe, so bedeutet das nicht, daß jeder nun tun wird, was er will: Er wird viel­mehr gerade nicht einfach tun, was er will, sondern aus den Bedürf­nissen des Geisteslebens heraus, um dieses möglichst fruchtbar zu ge­stalten, wird wieder das Hinneigen zu denjenigen, die einmal eine Autorität sein sollen, ein freiwilliges sein. Eine «Verfassung», die aber nicht beruht auf starren Gesetzen, auf knöchernen, staatlichen Verord­nungen, eine Verfassung kann schon gedacht werden im freien Geistesleben;

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nur wird sie sich auf die realen, die lebendigen Verhältnisse der Menschen beziehen, die an diesem Geistesleben teilnehmen. Das «Ge­setz» muß allerdings auf diesem Boden erst ersetzt werden durch die freien menschlichen Verhältnisse, die ja individuell sind und sieh immer von Woche zu Woche ändern können, und die durchaus nicht durch starre Gesetze gebunden und in irgendeiner starren Form verewigt werden können. Worauf es also ankommt, das ist, daß dem Geistes­leben die Möglichkeit gegeben werde, in derjenigen Form zu leben, die ihm aus seinen Kräften heraus möglich ist, so daß der Lehrer der Schule nicht in irgendeiner Weise abhängig ist von einem Staatsbeam­ten, sondern daß er abhängig ist in menschlicher Weise, in sachlicher, sachgemäßer Weise - wie es aus dem Geistesleben heraus folgt - von einem andern, der nun auch im Geistesleben unmittelbar drinnen steht, und der mit ihm in dem gleichen Geistesleben drinnen wirkt. Darauf kommt es an. Man merkt es ja, wie heute noch eine gewisse Furcht vorhanden ist vor der Selbständigkeit des Geisteslebens, wie sich viele wohl fühlen in dem staatlichen Schutz. Aber das ist es ja eben, daß sich so viele wohl fühlen in diesem staatlichen Schutz. Dieser staatliche Schutz wird aber noch mehr angestrebt gerade von dem, was nun nach­kommen will.

Die Entwickelung der letzten Jahrhunderte war doch so, daß der Staat Macht hatte aus früheren Eroberungs- und ähnlichen Verhält­nissen heraus, und dann wollten die einzelnen Menschen nach und nach an diese Macht heran, um sich von dieser Macht beschützen zu lassen. Da war es eine Zeitlang die Kirche. Der war es lieber, wenn nicht allein das lebendige Wort, das aus dem Geiste fließt, auf die Menschen wirkt und sie überzeugt, sondern wenn ein bißchen die Poli­zei nachhilft. Dann kamen andere, kam das ganze «Schulwesen». Dem war es lieber, wenn nicht das, was aus dem Geiste hervorquillt, auf das Kind wirkt, sondern wenn der staatliche Zwang dahinter steht. Dann kamen zuletzt auch die verschiedenen Wirtsehaftsklassen und Wirtschaftskorporationen, bis wir zuletzt jene Wirtschaftskorporation bekommen haben - in Deutschland haben es uns ja am meisten die Industriellen und Schwerindustriellen angetan in dieser Richtung - die auch etwas abhaben wollte von der Macht des Staates. Und dann standen

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dahinter noch die Sozialdemokraten, die wiederum den Staat für sich nehmen wollten. So war die Staatsmacht das Sammelbecken für alle. Was die Zukunft anstreben muß, ist, daß die Staatsmacht kein Sammelbecken ist für alles, was unterkriechen will unter diese Macht, sondern daß sie gestellt werde auf demokratischen Boden. Aber darauf kommt es an, daß auf diesem Staatsboden dasjenige zur Verwirk­lichung kommt, was der mündig gewordene Mensch mit jedem andern mündig gewordenen Menschen abzumachen hat; da haben wir es mit dem zu tun, was der bloße Rechtsstaat ist. Es ist merkwürdig, daß man das heute noch nicht so begreifen will, obwohl es ganz nahe daran war, diesen Rechtsstaat zu begreifen, als einer, der einmal preußischer Kulturminister war, zum richtigen Erfassen dieser Verhältnisse kam. In Humboldts Schrift <Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates» finden Sie schöne Ansätze zu dem, was der Staat eigentlich sein soll. Soll er aber «demokratisch» sein, dann darf in ihm nur dasjenige walten, was jeder mü ndig gewordene Mensch mit jedem anderen mün­dig gewordenen Menschen zu tun hat. Dann muß dasjenige, was im Geistesleben auszumachen ist, aus dem eigentlichen Staatsleben heraus­genommen werden, und dann darf im Staate auch nicht das Wirt­schaftsleben stehen, wo es ankommt auf wirtschaftliche Erfahrung, auf Kredit, den man hat, und so weiter. Das heißt, will jemand ernstlich Demokratie, dann kann er nicht im Staate Sozialismus und Geistes­leben wollen, sondern er muß sich sagen: Wenn die Demokratie durch­geführt werden soll, ist das einzig Gesunde, das Geistesleben auf der einen Seite und den Wirtschaftskreislauf auf der anderen Seite auf freien Boden zu stellen. Daß man dies nicht durchschaut - in Rußland hat man es nicht durchschaut! - das hat zur Wirkung, daß angestrebt wird heute aus dem Wirtschaftsleben heraus etwas höchst Undemokra­tisches, ja Antidemokratisches: die sogenannte Diktatur des Proleta­riats. Das trat mir in krassester Form vor einigen Monaten in Basel entgegen, als nach einem Vortrage jemand aufstand, offenbar ein Kommunist, und sagte: Wenn das Heil der Zukunft eintreten soll, so muß Lenin Weltherrscher werden! - Man ruft bei diesen Leuten nach «Sozialisierung» und man versteht nicht einmal den allerersten Anfang von Sozialisierung, nämlich, daß man zuerst die Herrschaftsverhältnisse

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sozialisieren muß; daß Sozialisierung nicht darin besteht, das Herrschaftsverhältnis zu monarchisieren und den Sozialismus zu impe­rialisieren. Man denkt, sozialisieren zu wollen, aber man will nicht einmal anfangen bei der Sozialisierung der Herrschaftsverhältnisse, sondern da setzt man einen Das sind die Widersprüche, die heute auftauchen. Deshalb möchte man schon, daß ein Gefühl davon entstünde, daß die Dinge, die im dreigliederigen sozialen Organismus zum Vorschein kommen, doch auf etwas tieferer Grundlage beruhen. Wir kamen zu der Idee der Drei-gliederung nicht dadurch, daß man aus beliebigen, abstrakten Prinzi­pien heraus und aus Lebensgewohnheiten heraus sagen konnte: Ich glaube, oder ich glaube nicht an diese Dinge. - Gewiß, es sind viele Dinge ernsthaftig auf ihren richtigen Boden zu stellen. Aber der Impuls zur Dreigliederung des sozialen Organismus geht hervor aus einer wirklich harten Lebensbeobachtung und aus einem gefühlten Ernst gegenüber den großen Kulturaufgaben der gegenwärtigen Zeit. Will man ehrlich Sozialismus und Demokratie, dann darf man nicht das­jenige einfach wollen, was viele zusammenfügend sagen mit «Sozial­demokratie»; denn damit wird das Geistesleben nicht richtig berück­sichtigt. Sondern wer ehrlich Demokratie und ehrlich Sozialismus will, der braucht vor allem ein wirklich freies Geistesleben, das nicht ein willkürliehes Geistesleben sein kann. Aus der Erkenntnis der Wirklich­keit heraus und aus dem erfühlten Ernst der gegenwärtigen Verhält­nisse ist der Impuls zur Dreigliederung hervorgegangen. In diesen Tagen sollten wir in Mitteleuropa hier es ganz besonders fühlen, wie die Zeit ernst ist. Wir sollten in dieser Zeit, wo wir uns sagen müssen:

Es geht die Frage um Sein oder Nichtsein! - wir sollten es fühlen, daß über manches Alte umgedacht und umgelernt werden muß, und daß es sich für die Zukunft nicht handeln kann um kleine Umänderungen irgendwelcher Einrichtungen, sondern um ein wirkliches Umdenken, Umfühlen und Umlernen des ganzen Menschen. Dadurch allein werden wir unsere Zeit verstehen und dadurch allein werden wir wirklich vor­wärts kommen können!

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DER WEG ZU UBERSINNLICHEN ERFAHRUNGEN UND ERKENNTNISSEN ALS GRUNDLAGE WIRKLICHEN MENSCHENVERSTANDNISSES Öffentlicher Vortrag, Stuttgart, 9. Juli 1919

Es würde mir nicht als etwas Ganzes erscheinen, was ich in bezug auf gewisse Dinge sagen möchte, wenn ich zu den Vorträgen, die ich hier über die soziale Frage gehalten habe, nicht den von heute hinzufügen würde und den vom nächsten Freitag, weil dasjenige, was allerdings mit scheinbar ganz anderen Zielen, aus einer scheinbar ganz anderen Welt heraus hier über die soziale Frage entwickelt worden ist, doch zuletzt aus den Untergründen menschlichen Geistesstrebens stammt, von denen ich Ihnen in diesen zwei Vorträgen werde zu sprechen haben.

Diejenigen der verehrten Anwesenden, welche verfolgt haben mein Buch über die soziale Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegen­wart und der Zukunft, sie werden sogleich in den ersten Seiten gesehen haben, wie die soziale Frage da in Angriff genommen wird von einem Gesichtspunkte, der ganz entschieden geistige Kulturangelegenheiten der Menschheit ins Auge faßt.

Als eine der Erscheinungen, welche die Menschheit in die gegenwär­tige Lage hineingebracht haben, und ohne deren sachgemäße Durch­schauung diese Menschheit aus dem Chaos und der Wirrnis nicht her­auskommen kann, ist durch dieses Buch gerade die Beziehung der Menschheit, der Kulturmenschheit in den letzten drei bis vier Jahr­hunderten zur geistigen Welt ins Auge gefaßt. Es ist hervorgehoben, wie sich eine, ich möchte sagen, negative Beziehung der Menschheit zu der geistigen Welt ausdrückt in dem, was in weitesten Kreisen heute für diese geistige Welt als Bezeichnung aufgetreten ist, in dem Aus­druck: Diese geistige Welt ist eine bloße Ideologie. Das heißt, die gei­stige Welt sei etwas, was nur wie ein Überbau sich ergebe auf einem Unterbau, wie eine Art Rauch, der aufsteigt aus einer materiellen oder ökonomischen Wirklichkeit. Es ist allerdings durchaus richtig, daß in

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den letzten drei bis vier Jahrhunderten immer wieder und wiederum die Menschheit hineingerissen worden ist in diese Anschauung, als ob alles Geistesleben nur ein Rauch, aufsteigend aus dem materiellen Leben, nur ein Überbau auf einem Unterbau sei. Es ist aber auch für den, welcher die Kulturentwickelung der letzten drei bis vier Jahr­hunderte und bis in unsere Gegenwart herein zu verfolgen in der Lage ist, klar, daß die ganze Seelenverfassung des modernen Menschen, die unter dem Eindruck dieses Verhältnisses zur Geisteswelt steht, hinein­geführt hat in Wirrnis und Chaos, in denen wir gegenwärtig stehen. Auf der einen Seite haben wir hinter uns die furchtbaren Ereignisse der Weltkriegskatastrophe, auf der anderen Seite die heraufdringende revolutionäre Bewegung. Wir sehen, wenn wir zurückblicken, wie sich ergab, daß die Menschen nicht mehr imstande waren, das äußere so­ziale Leben durch ihre praktischen Ideen zu bewältigen. Die Tatsachen sind diesen Ideen entschlüpft, sie haben sich losgerissen, und sie gingen ihren eigenen Weg. Sie liefen ab, ohne gehalten zu werden von starken menschlichen Ideen. Und sie liefen hinein in dasjenige, wodurch sie sich selbst ad absurdum führten, und wodurch sich ad absurdum führte das soziale Leben der letzten drei bis vier Jahrhunderte. Sie führten hinein in die Katastrophe. Man hat nach verschiedenen Ursachen dieser Katastrophe geforscht. Man wird nicht früher zur Klarheit in diesem Punkte kommen, bis man einsieht, daß man durch jene An­schauung über den Geist, zu der man es mit Recht gebracht zu haben glaubte, eben diese Herrschaft über die Tatsachen der äußeren Welt verloren hat, und daß man zu dieser Herrschaft nur wieder kommen kann, wenn man ein anderes Verhältnis zur geistigen Welt gewinnt. Deshalb wird es auch sein, daß alle diejenigen, die auf dem Stand­punkte der heutigen revolutionären Bewegung stehen und glauben, die geistige Welt sei nichts anderes als eine Ideologie, und in ihren Reformen oder Revolutionen auf diese Anschauung bauen, daß diese nicht die Menschheit zu einem Heile bringen, sondern im Gegenteil noch immer tiefer und tiefer in den Abgrund hineinstoßen werden.

Darum ist es nicht irgendeine subjektive Neigung von mir, im Zu­sammenhang mit der sozialen Frage von dem zu sprechen, von dem ich auch hier in Stuttgart immer wieder jedes Jahr als von der anthroposophisch

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orientierten Geisteswissenschaft gesprochen habe. Diese gei­steswissenschaftliche Bewegung soll gerade Zeugnis davon ablegen, daß das Geistige im Menschen und außer dem Menschen keine Ideologie ist. Sie soll Zeugnis davon ablegen, daß der Mensch auch für sein Han­deln, auch für seine Lebenspraxis die nötige Kraft nur gewinnen kann, wenn er sie holt aus denjenigen Erkenntnissen, die zunächst scheinbar weitab liegen von den praktischen Wegen, die aber die menschliche Seele so schulen, die diese Seele in eine solche Verfassung bringen, daß sie dann auch ertüchtigt wird für die Führung des praktischen Lebens. Und wenn heute viele glauben, daß nur in ökonomischen Kämpfen sich dasjenige abspielen werde, was uns bevorsteht, so sind sie im Irr­tum. Wir merken es nur noch nicht, aber wir stehen in intensiven Gei­steskämpfen drinnen und dasjenige, was die Menschheit wie elementar aufrüttelt und aufrührt, was sich äußerlich ausdrückt durch materielle und Waffenkämpfe - nichts anderes ist es, als jene Welle, welche an die Oberfläche geworfen wird aus den aufgerührten menschlichen See­len, die nach neuen Wahrheiten, nach neuen Erkenntnissen ringen.

Derjenige, der heute sein eigenes Innere auch nur bis zu einem ge­wissen Grade zu prüfen vermag, der wird sich klar darüber sein, daß die Erziehung, welche die ganze Kulturmenschheit im Laufe der letzten vier oder drei Jahrhunderte durchgemacht hat, es nicht mehr gestattet, daß der Mensch sich über seine höchsten, seine seelischen und geistigen Angelegenheiten so unterrichtet, wie das in der verflossenen Zeit der Menschheitsentwickelung notwendigerweise möglich gewesen ist. Der Mensch hat im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte und bis heute durchgemacht eine naturwissenschaftliche, eine wissenschaftliche Schu-lung überhaupt. Das hat ihn dazu gebracht, daß er einen Weg zu den übersinnlichen Welten verlangt, von denen ihm bisher nur die reli­giösen Bekenntnisse gesprochen haben, einen Weg, der dem wissen­schaftlichen Wege gewachsen ist, der sich nicht bloß als der religiöse Gefühlsweg hinstellen will, sondern als der Weg der Erkenntnis der übersinnlichen Welt, der geistigen Welt neben denjenigen zur Erfor­schung der physischen Welt durch die Naturwissenschaft. Wenn viel­leicht heute auch noch wenige Menschen sich diese Tatsache gestehen, sie lebt unbewußt in dem größten Teil der gegenwärtigen Kulturmenschheit,

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und was die Menschen sich heute oftmals zum Bewußt­sein bringen, ist nur eine Verhüllung der Tatsachen, die ausgedrückt werden kann mit den Worten: Wir streben doch in unserem Innersten nach einer Erkenntnis der geistigen Welt, und wir tragen in uns zahl-reiche Unzufriedenheiten und Unbefriedigtheiten des Lebens, weil diese Sehnsucht nach Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Seele waltet, instinktiv waltet und noch nicht von etwas befriedigt wird, was in den Kulturbestrebungen unserer unmittelbaren Umgebung, unseres ganzen Geisteslebens ist.

Und so will ich denn heute von solchen Gesichtspunkten ausgehend über die Wege zur übersinnlichen Erkenntnis und Beobachtung spre­chen und übermorgen über die eigentlich übersinnliche Wesenheit des Menschen, das heißt die wahre Wesenheit des Menschen, die sein Leben, das er verbringt zwischen Geburt und Tod, überdauert. Und zeigen möchte ich, wie diese Erkenntnis ein realer sozialer Faktor werden muß, mitsprechend bei dem Neubau unserer menschlichen Gesellschaft. Es ist ja gewiß heute schon für viele nicht zu leugnen, daß eine gewisse Einsicht in menschliches Streben überhaupt, daß dasjenige, was man im umfassenden Sinne Selbsterkenntnis nennen könnte, daß das heute dem Menschen schwieriger ist, als es dem Menschen früherer Jahrhunderte war. Wer sachgemäß zurückblickt in frühere Jahrhunderte, der wird nicht umhin können sich zu gestehen, wie da aus den elementaren An­forderungen der Menschennatur heraus der Mensch leichter zu einer gewissen Erfassung seiner eigenen Wesenheit gekommen ist als heute. Aber eine andere Tatsache liegt vor, die sich zu der eben gekennzeich­neten bedeutungsvoll hinstellt, das ist diese: Gerade heute ist dem Menschen mehr als in früheren Zeiten diese Selbsterkenntnis, die ihm also schwieriger ist als dem früheren Menschen, notwendig. Das drückt sich in dem Streben nach solcher Selbsterkenntnis aus, das doch da ist, wenn es sich auch durch unsere schwierigen Lebensverhältnisse hinter dieser oder jener Maske verbirgt. Aber der Mensch möchte heute seiner ganzen Erziehung, seinem Fühlen, seinen Lebensverhältnissen nach anfragen bei denjenigen Instanzen, die er als die wissenschaftlichen kennt, wie es sich verhält mit dem Seelen- und Geistesleben. Denn er ist gewöhnt worden, das Wissenschaftliche zum Richtziel seines

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Lebens zu machen. Und so möchte er sich auch auf dem Gebiete der Selbsterkenntnis, der Menschenerkenntnis an das wissenschaftliche Fo­rum wenden. Allein man muß sagen, gerade indem er sich an dieses Forum wendet, kann er zunächst nur unbefriedigende Auskunft er­halten. Und so hat sich allmählich in das öffentliche Bewußtsein etwas hineingeschlichen über die Fragen der Seele und des Geistes, was im Grunde genommen nur in Zweifel und Ungewißheiten führen kann.

Aus dem, was sich gewöhnlich sozusagen wie ein Niederschlag ergibt aus den verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen, aus dem sonstigen Leben, tritt uns entgegen, daß der Mensch von heute eigent­lich gar nicht ahnt, wieviel in seinem Innerlich-Menschlichen vor sich geht, ohne daß er davon in seinem gewöhnlichen Bewußtsein eine Ahnung hat. Was glaubt im Grund genommen der heutige Mensch über sich? Er glaubt, da ist er auf der einen Seite ein Leib; und viele, wenn es hoch kommt bei ihnen, sagen sich dann, da ist dieser Mensch andererseits eine Seele. Aber wenn nun die große Frage beginnen soll nach dem Verhältnis des Leibes zur Seele, der Seele zum Leibe, dann beginnen die Zweifel, dann beginnen die Ungewißheiten. Denn man glaubt auf der einen Seite, der Leib erschöpfe sich in dem, was man überblickt durch die sinnliche Beobachtung des Menschen, was man zergliedert und erkennt durch Anatomie, Physiologie, kurz durch alles dasjenige, was die naturwissenschaftliche Erkenntnis des Menschen liefert. Dadurch verschafft man sich heute eine gewisse Anschauung über das, was der menschliche Leib ist. Dann weiß der Mensch, daß er Vorstellungen entwickelt, daß er Gemütsbewegungen hat, daß er einen Willen hat, der ihn zur Handlung treibt - kurz, der Mensch weiß, daß irgend etwas in seinem Bewußtsein lebt zugrunde liegend dem Willen, zugrunde liegend den Gemütsbewegungen oder Gefühlen, zu­grunde liegend den Vorstellungen. Aber wenn er dann nachdenkt: Ja, wie verhält sich dasjenige, was mein Denken, mein Fühlen, mein Wol­len ist, was der Inhalt meines inneren Seelenlebens ist, zu meinem äußeren Leben? - da erhält er keine Antwort. Denn dasjenige, was ihm die Naturwissenschaft, der Sinnesanblick über den menschlichen Leib zeigt, das ist so grundverschieden von dem, was im Wollen, Füh­len und Denken lebt, daß sich dadurch eine Brücke nicht schlagen läßt

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vom Leib zur Seele. Und nicht nur für das gewöhnliche Bewußtsein ist es so, daß man sich vor die Unmöglichkeit, eine solche Brücke zu schlagen, gestellt findet, sondern wenn man die verschiedenen natur-wissenschaftlichen, gelehrten Anschauungen von heute durchgeht, sie schließen in der Regel damit: Etwas Sicheres über dieses Verhältnis von Leib und Seele läßt sich nicht sagen.

Derjenige nun, welcher vom Standpunkte der hier gemeinten anthro­posophisch orientierten Geisteswissenschaft über diese Frage spricht, sieht sich genötigt, bis zu einem hohen Grade sehr ernst anzuschauen die Zweifel und Ungewißheiten, die auf diese Art Menschheit und Wissenschaft befallen. Und er muß aus seinen Erkenntnisuntergründen heraus sagen: Ja, für das wissenschaftliche Erkennen, für dasjenige Erkennen, das uns gerade in der Naturwissenschaft zu den großen Triumphen gebracht hat, für dieses Erkennen muß es im Grunde genommen so sein, daß man über die entsprechenden Fragen nur in Zweifel, in Widersprüche hineingetrieben wird. Das naturwissenschaft­liche Erkennen ist ungeeignet, in diejenigen Untergründe der mensch­lichen Natur hineinzuleuchten, aus denen allein Antworten auf die angeregten brennenden Fragen kommen können. Nun ist aber dieser selbe Geisteswissenschafter gegenüber den Denkgewohnheiten der Ge­genwart in einer ganz besonderen Lage. Indem er von einem ganz anderen Gesichtspunkte als dem dieser Denkgewohnheiten aus seine Erkenntnisse vorzubringen hat, ist es nur natürlich, daß er feindlich angegriffen wird, daß er gegnerisch beurteilt wird von allen Seiten. Denn er muß nicht nur ein anderes Gebiet der Erkenntnis erschließen, als das alltägliche und das gewöhnlich-wissenschaftliche ist; sondern er muß aufmerksam machen auf eine ganz andere Erkenntnisart. Er muß darauf hinweisen, daß man mit der Erkenntnisart des gewöhn­lichen Lebens und der gewöhnlichen Wissenschaft die angeregten Fra­gen überhaupt nicht beantworten kann und daß, wenn der Mensch stehen bleiben müßte bei dieser gewöhnlichen wissenschaftlichen Er­kenntnis, er niemals zu einer Erkenntnisantwort auf diese Fragen kommen würde. Der Geisteswissenschafter muß geltend machen, daß der Mensch durch eine Entwickelung, die er selbst an sich besorgt, hin-auskommt über diese gewöhnliche Erkenntnisart zu einer ganz anderen

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Erkenntnis, zu einer Erkenntnis, die zunächst der gewöhnlichen wie eine Art Phantasterei erscheint. Dennoch, derjenige, der von den Vor­aussetzungen aus, von denen heute zu Ihnen gesprochen wird, über anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft spricht, der weiß, daß er auf dem Boden derselben wissenschaftlichen Strenge steht, derselben wissenschaftlichen Disziplin, auf der die strengste naturwissenschaftliche Methode der Gegenwart steht. Nur bildet das, wonach zum Beispiel der Naturwissenschafter strebt - gewisse Beweise für diese Tatsachen und für diese Gesetze -, das bildet für den Geistesforscher, wie er hier gemeint ist, die Voraussetzung, das bildet dasjenige, an dem er sich heranerzogen hat. Das hat er durchgemacht, bevor er zu seiner Geistes­wissenschaft kommt. Und in der heutigen Zeit sollte sich keine Geistes­wissenschaft vor die Öffentlichkeit hinstellen, die nicht auf diesem Boden steht, die nicht geltend macht und vor der Forschung in der geistigen Welt wirklich kennen gelernt hat dasjenige, wodurch die Naturwissenschaft zu ihren Triumphen gekommen ist. Der geistige Forscher muß sich in die Lage versetzt haben, auch naturwissenschaft­lich im strengsten Sinne des Wortes Forscher zu sein. Nur fängt der Geistesforscher dort an, wo der Naturforscher aufhört. Während der Naturforscher nach gewissen Resultaten für sein Vorstellungsleben, für sein Denken sucht, strebt der Geistesforscher dahin, dasjenige, was man mit der Naturforschung als einer streng methodischen, als einer ge­wissenhaften wissenschaftlichen Erfahrung durchinacht, seine Erziehung sein zu lassen, und von da aus erst auszugehen und aufzusteigen zu jenen höheren Erkenntnissen, von denen ich Ihnen heute und über­morgen werde zu sprechen haben. Daher ist es für den Geistesforscher so, daß er nicht in gewöhnlichem Sinne mitteilen kann: Da habe ich diese oder jene äußere Tatsache beobachtet; aus dieser oder jener äuße­ren Tatsache hat sich mir dieses oder jenes Gesetz ergeben, sondern der Geistesforscher muß das alles, was so aus dem Naturforscher her-ausspricht, als Vorbereitung durchgemacht haben; und er muß dahin gekommen sein, durch diese Vorbereitung seine Seele in eine solche Verfassung gebracht zu haben, daß er zu neuen Tatsachen, zu neuen Beobachtungen aufsteigt, von denen er dann nur erzählen kann, und die einzig und allein den Inhalt der wirklich geistigen Welt bilden

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können. Daher wird der Geistesforscher, wie er hier gemeint ist, in ganz anderer Weise von seinen Erkenntniswegen zu sprechen haben als derjenige, der zum Beispiel einen naturwissenschaftlichen Erkennt­nisweg allein durchgemacht hat, der überhaupt nur das durchgemacht hat, was man innerhalb des heutigen Kulturlebens, des heutigen Gei­steslebens oftmals eben einen Erkenntnisweg, einen Weg zur Wissen­schaft nennt.

Man frage einmal diejenigen, die heute einen Weg zur Wissenschaft durchgemacht haben, wie sie diesen Weg zur Wissenschaft, ich möchte sagen, in einer gewissen inneren Ruhe durchgemacht haben. Wie sie erzählen können davon, daß sie da oder dort im Laboratorium ge­arbeitet haben, daß sie das oder jenes über die Vorgänge der mensch­lichen, geschichtlichen Entwickelung gehört haben, in ihre Begriffe auf­genommen haben, daß sie diese oder jene statistischen Tatsachen zu­sammengestellt haben, um diese oder jene sozialen Erkenntnisse zu gewinnen. Aber man wird von ihnen allen hören, wie sie in einem gewissen inneren Ruheverhältnis der Seele das alles durchgemacht haben und dann gewissermaßen im Besitz der wissenschaftlichen Be­griffe sind, nach denen sie gestrebt haben. In einer solchen Lage ist der Geistesforscher, besonders der anthroposophisch orientierte Geistes­forscher nicht. Der wird, wenn er dies im Ernst ist, nicht von einer solchen inneren Ruhe und Gleichgültigkeit sprechen können, in der sein Erkenntnisweg durchgemacht wurde, wie von den Erkenntniswegen der äußeren Wissenschaft heute gesprochen werden kann. Der Geistes­forscher wird, wenn er die Wahrheit spricht über seinen Erkenntnis­weg, Ihnen erzählen von inneren Kämpfen und Überwindungen. Er wird Ihnen davon sprechen, welche Abgründe der Seele er hat durch­machen müssen, bevor sich ihm diejenigen Erkenntnisse ergeben haben, die wahrhaft übersinnliche Erkenntnisse sind. Er wird davon sprechen müssen, wie sehr seine eigene menschliche Natur, dasjenige, was den Menschen im äußeren Leben lieb und wert ist, oftmals ein innerer Gegner von dem geworden ist, was sein Erkenntnisstreben ist. Er wird Ihnen zu erzählen haben von dem Mut, den er oftmals aufzubringen hatte gegen die inneren gegnerischen und feindlichen Kräfte, die in der Menschennatur liegen und die dem wahren Erkenntniswege abgeneigt

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sind. Und so wird sich lagern über dasjenige, was der Geistesforscher über Seele und Geist zu sagen hat, das Ergebnis jener Stimmungen der Seele, die nicht in innerer Ruhe abgelaufen sind, die abgelaufen sind in inneren Bewegungen, abgelaufen sind unter den ernstesten inneren Kämpfen. Und dieser Geistesforscher wird zu sagen haben, daß durch nichts anderes als durch inneres Leiden, durch innere Schmerzen und deren Überwindung dasjenige geworden ist, was er, wie er glaubt berechtigterweise nennen darf: Einsicht in die übersinnlichen Welten.

Nach zwei Richtungen hin wird der Geistesforscher von solchen Kämpfen, die er durchzumachen hatte, sprechen müssen. Von Kämp­fen, die für viele Menschen heute wie in einer abstrakten Welt liegen -aber nur für den Glauben dieser vielen Menschen. Indem der Geistes­forscher diese Kämpfe bewußt durchmacht, lernt er erkennen, daß er mit dem Durchmachen dieser Kämpfe wahrhaftig nicht allein in der Welt dasteht. Er ist in der Regel nicht so unbescheiden, der Geistes-forscher, sich zu sagen, daß sich in seiner Seele etwas abspiele, woran die anderen Menschen keinen Teil haben. Er kommt dazu, sich zu sagen, daß er sich nur ins Bewußtsein hinaufhebt, was unbewußt als innerer Kampf auf dem Grunde einer jeden menschlichen Seele vor sich geht. Und der Geistesforscher weiß, wie sich diese Kämpfe, ich möchte sagen, zwischen dem Bewußtsein, das in Denken, Fühlen und Wollen lebt, und dem Leibe, den die äußere Sinnesanschauung und Physiologie und anatomische Wissenschaft zeigen -, wie sich dazwischen diese Kämpfe abspielen, und daß sie hinaufwellen in das menschliche Bewußtsein wie etwas, mit dem viele Menschen der Gegenwart nicht fertig werden. Was sich in ihren Instinkten und oftmals in Krankheits­erscheinungen des Leibes und der Seele ausspricht, in ihren Unzufrie­denheiten und Unbefriedigtheiten, was sich in ihrer Nervosität aus­spricht, ohne daß sie wissen, worin die Ursachen dieser Seelenverfas­sung in den Untergründen der menschlichen Wesenheit eigentlich ruhen.

Nach zwei Seiten hin hat der Geistesforscher seine Kämpfe durchzu­machen, erstens die Kämpfe mit der Außenwelt, zweitens die Kämpfe mit dem eigenen Innern. Naturwissenschaft und dasjenige, was heute als Popularisation der Naturwissenschaft in die Denkgewohnheiten der Menschen hineindringt, ist für die Menschen der heutigen Zeit oftmals

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bloß eine Veranlassung, sich über die großen Fortschritte der Mensch­heit zu freuen, mit Recht sich zu freuen. Für den Geistesforscher ist das Erleben mit dieser Naturwissenschaft gerade ein intensiver Lebens­kampf. Indem er in das, was die heutige Naturwissenschaft ist, sich vertieft, indem er nicht nur bis zu den gewöhnlichen naturwissenschaft­lichen Erkenntnissen verstandesmäßig durchdringt, sondern indem er, was in der Naturwissenschaft enthalten ist, erleben will, kann der Geistesforscher das Leben mit der Naturwissenschaft nur als Kampf erfahren. Ja, durch Sinnesanschauung, durch die Kombinationen der Sinnesanschauungen, wie der menschliche Verstand sie in den natur-wissenschaftlichen Gesetzen produziert, da lernt man manches über die Natur kennen. Aber Sie wissen ja, und in früheren Jahren habe ich in meinen Vorträgen diese Tatsache in anderen Zusammenhängen öfter auseinandergesetzt, Sie wissen ja, daß gerade die gewissenhaftesten Naturgelehrten und Naturforscher dahin kommen zu sagen, daß es Grenzen dieser Naturerkenntnis gäbe. Die gewissenhaftesten Natur-forscher, sie sprechen gerade aus einer gewissen Vertiefung heraus ihr «Ignorabimus», das heißt, wir werden durch die Natur in das Wesen der Dinge nicht eindringen. Und nun ist es einmal so in der mensch­lichen Natur, daß, wenn sich eine solche Grenze auftürmt, wie sie sich mit Recht vor der Naturerkenntnis auftürmt, sich der Mensch dann sagt: Nun ja, das ist eben eine Grenze des Erkennens, da muß man stehen bleiben. Er spricht dann von unübersteiglichen Grenzen des menschlichen Erkennens.

Derjenige, der ganz wirken läßt, indem er den geistesforscherischen Beruf schon in seinem Innern fühlt, dasjenige, was als Vollkraft in der Seele ist, kann nicht einfach still halten, wenn die Naturwissen­schaft solche Grenzen konstatiert. Solche Grenzen werden für ihn zum Anlaß, nun gerade einen Erkenntnis-Lebenskampf auszukämpfen mit dem, was sich in die Naturwissenschaft hineinstellt als Kraft und Stoff zum Beispiel, oder als etwas anderes. Was die Naturwissenschaft selbst nicht durchdringen will, mit dem muß der Geistesforscher seinen Kampf ausfechten. Da beginnt erst dasjenige, was für ihn der Anfang ist seines Erkenntnisweges und seiner Beobachtungen; der Beobach­tungen, die er nicht in solcher Ruhe durchmachen kann, wie man

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eine Laboratoriumbeobachtung durchmacht, der Beobachtungen, die er durchmachen muß unter fortwährendem inneren Aufrufen neuer gei­stig-seelischer Erkenntniskräfte. Und dann, wenn der Mensch an diese Grenzen kommt und seinen Kampf ausficht, dann lernt er an der Stelle, wo der andere wie an einer Grenze haltmacht, da lernt er eine Wechselwirkung kennen zwischen seinem eigenen Erkenntnisinneren und der Außenwelt. Da erlebt er eine geistige Beobachtungstat-sache, die sich für ihn hinstellt als ein Grundcharakteristikum alles Menschenlebens. Indem der Geistesforscher so kämpft mit den äußeren Grenzen der Naturerkenntnis, wird er gewahr, daß er aus seinem inne­ren Seelischen etwas heraufholen muß in diesem Kampfe, was sonst gerade in der Naturerkenntnis eine sehr geringe Rolle spielt -, er muß diejenigen Kräfte seiner Seele heraufholen, die sich sonst nur im Um­gang zwischen Mensch und Mensch oder wohl auch im abgeschwächten Sinne im Umgang mit Naturwesen, mit lebendigen Wesen abspielen. Er muß heraufholen aus seinem Inneren die Kraft des Lebens, jene Kraft, die wir entfalten, wenn wir Mensch dem Menschen gegenüber­stehen und innere Sympathie von unserer Seele zu der Seele des an­deren Menschen hinüberspielt. Und es drängt sich zusammen, nicht als etwas Subjektives, sondern als eine objektive Tatsache, die ganz nüchterne Naturerkenntnis, und der Kampf mit den Grenzen der Naturerkenntnis und dasjenige, was im Menschenwesen und Menschen­leben seine große Rolle spielt: die Sympathie, die Liebe, der Grund­ton alles menschlichen sozialen Verkehrs. Und der Mensch lernt nun durch Erfahrung die Beziehung erkennen zwischen den Naturgrenzen, die seiner Erkenntnis entgegenstehen, und der Kraft der Liebe. Er lernt durch unmittelbare Beobachtung, die er herbeigeführt hat durch starkes Aufrufen seiner inneren Seelenkräfte, erkennen, daß er in dem Augenblick, wo er sich tiefer einläßt in den Kampf mit den Natur-grenzen, seine Kraft der Liebe verbrauchen muß. Da ist es gleichsam, als wenn seine Kraft der Liebe sich aus seiner Seele herauslöste und hinüberflösse in diejenigen Gebiete der Natur, die jenseits der Grenze liegen. Und nun kommt der Geistesforscher zu jener bedeutungsvollen, ihn so erschütternden Tatsache, daß die menschliche Natur angepaßt ist an ihre Weltenumgebung in der Weise, daß es ihr versagt ist, mit

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dem gewöhnlichen Erkennen einzudringen in das Innere. Das Innere liegt jenseits der Grenzen der Natur. Würden wir nicht solche Grenzen haben, so würden wir im gewöhnlichen Leben nicht ausgestattet sein können mit der Kraft der hingebenden Liebe.

Ein tiefer Sinn kommt in dieses Menschenleben hinein durch die Er­kenntnis des Zusammenhanges zwischen Erkennen und Liebe. Man lernt wissen, daß man nur lieben kann im gewöhnlichen Leben da­durch, daß diese Liebeskraft sich absondert von unserer durch den Ver­stand ausgeübten Erkenntnistätigkeit. Diese Tatsache, diese Beobach­tung muß nicht nur eine verstandesmäßige Berücksichtigung finden, sie muß den tiefsten Eindruck auf den Menschen machen, wenn er sie ein­mal durchschaut, denn er lernt dadurch eben kennen die ganz beson­dere Art seines Hineingestelltseins in die Welt. Und er weiß, was er zu tun hat, wenn er ein wirklicher Geistesforscher ist. Er weiß, daß er nicht weitergehen kann mit dem Durchdringen desjenigen, was jen­seits der Grenze ist, wenn er sich nicht vorher in der Kraft der Men­schenliebe und der Liebe zu den anderen Dingen stärker macht, als er in dieser Liebeskraft im gewöhnlichen Leben ist. Mit solcher starken Liebe zu allen Dingen muß man ausgerüstet sein. Diese Ausrüstung muß Vorbereitung des innersten Seelenwesens sein, wenn man weiter-schreiten will in dem Kampfe mit der Außenwelt, wie ich Ihnen an­gedeutet habe. Diesen Weg, den die Seele durchzumachen hat, damit ihr nicht die Liebeskraft abhanden komme, damit sie gewissermaßen nicht von dieser Kraft ausgesogen werde, sondern rückhaltlos den Weg in die übersinnlichen Welten hineingehen könne, diesen Weg habe ich zu schildern versucht in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Und ich bemerke hier ausdrücklich, daß solche Schilderungen des richtigen Erkenntnisweges im wesentlichen bezwek­ken, die menschliche Seele vorzubereiten, so daß sie ungefährdet den höheren Erkenntnisweg gehen kann. Diesen höheren Erkenntnisweg wird die Menschheit von der Gegenwart ab und in die nächste Zukunft hinein gerade durch die naturwissenschaftliche Erziehung fordern. Die Menschheit wird - sie ist in einer Entwickelung, ich werde über­morgen noch weiter darüber sprechen - an einem Punkte ankommen, an dem sie nicht mehr ohne einen solchen Einblick in die geistigen Wel­ten,

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wie ich ihn angedeutet habe, wird sein können. Die Menschheit wird ankommen an einem Punkte, an dem sie sich seelisch unglücklich fühlen und verloren geben würde, wenn ihr der Weg in die geistigen, die übersinnlichen Welten hinein nicht eröffnet würde. Dieser Weg wird begangen werden durch einen innerlich unwiderstehlichen Im­puls.

Aber es wird immer genauer und genauer gezeigt werden müssen, wie die Menschennatur sich vorzubereiten hat, damit sie diesen Weg ungefährdet gehen kann, damit ihr da nicht gerade für das prak­tische und soziale Menschenleben wichtige Menschenkräfte, wie zum Beispiel die Liebe genommen werden. Dann, wenn der Mensch solche inneren Gedankenübungen macht, wodurch er sein Denken, das sonst halt macht an den Grenzen der Naturerscheinungen, immer stärker und stärker macht - Sie finden in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» solche Gedankenübungen, solche Meditationen und Gedankenkonzentrationen angedeutet, durch die das Denken immer stärker und stärker wird -, wenn der Mensch solche Übungen macht, dann kommt er an einen Punkt seiner Entwickelung, in dem er innere Erfahrungen und Beobachtungen vor seine Seele ge­stellt sieht, die im gewöhnlichen Leben nicht vor seiner Seele stehen. Dann klärt er sich vor allen Dingen über die eine Frage, über die Grundfrage des seelischen Lebens auf: Was ist denn das eigentlich, was ich durch meine Sinne wahrnehme von der Welt, was ich als Vorstel­lungswelt in mir ausbilde? Was ist denn das eigentlich? Und er kommt hinter eine höchst merkwürdige Tatsache. Abstrakt ausgesprochen scheint sie nicht so merkwürdig, in ihrer Wirksamkeit auf den ganzen vollen Menschen aber ist sie höchst bedeutungsvoll und von erschüt­terndem Einfluß auf die Menschenseele. Der Mensch kommt, gerade indem er sein Denken so verstärkt, daß er das Gefühl hat, ich denke nicht nur passiv hingegeben an die Welt, sondern ich denke so, daß ein allerdings nicht von mir, sondern von den Weltenwesen selbst diri­gierter Wille in meinem Denken lebt, darauf - der Mensch kommt dahinter, gerade wenn er dieses Denken verstärkt, wenn er dieses Den­ken kräftiger macht, als es im gewöhnlichen Leben ist -, daß alles Denken und alles sinnliche Vorstellen des gewöhnlichen Lebens den-noch

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nichts anderes als ein Bild ist, daß es einen bildhaften Charakter hat.

Es ist ein großer Eindruck, den man bekommt, wenn man gerade durch die Verstärkung des Denkens darauf kommt: Dieses gewöhn­liche Denken, das man entwickelt, indem man die äußere Welt an­schaut, das man entwickelt, wenn man wieder nachdenkt über das, was man in der äußeren Welt erfahren hat, dieses gewöhnliche Denken ist im Grunde genommen nur etwas, was ganz und gar in Bildern ver­läuft. Es ist etwas, was unmittelbar, so wie es auftritt, keine Wirklich­keit hat. Da kommt ein Augenblick, wo sich, wenn man die Geistes-entwickelung der neueren zivilisierten Menschheit verfolgt hat, etwas in die Seele hineinstellt, was wiederum erschütternd wirkt. Es ist merk­würdig für den, der wirklich solche Erfahrungen gemacht hat, wie ich sie eben geschildert habe, zu vernehmen, daß einer der größten Geister der Menschheit, einer der größten Denker dieser Menschheit, der erste Träger der neueren geschichtlichen Weltanschauungsentwickelung, Cartesius, Descartes, den merkwürdigen Satz ausgesprochen hat: «Ich denke, also bin ich. Cogito ergo sum.» Daß Descartes diesen Satz aus­gesprochen hat, für den wirklichen Geistesforscher ist es ein Beweis, daß er nicht wirklich in die geistige Welt hineingeschaut hat, daß Des­cartes nicht bis zu jenem verstärkten Denken gekommen ist, von dem ich eben als auf solche Übungen gebaut, wie ich sie anführe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», gespro­chen habe. Denn kommt man dazu, dann spricht man das Wort, das Descartes aussprechen wollte, anders, dann sagt man: Ich denke, also bin ich nicht. Denn solange man mit seiner Seele im gewöhnlichen Denken verharrt, ist man nicht. Das Denken ist Bild, und was sich in ihm abbildet, das wird man erst gewahr, wenn man dieses Denken verstärkt, so daß man es nicht so schattenhaft erlebt, wie man das gewöhnliche Denken erlebt, sondern daß man es erlebt wie durch­drungen vom Willen; daß man es so erlebt, wie ich es dargestellt habe als reines Denken schon im Jahre 1892 in meiner «Philosophie der Freiheit».

Wenn man dieses Denken erlebt als Aktives, in sich Tätiges, dann weiß man, daß das gewöhnliche Denken ein Schattenbild ist einer

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Wirklichkeit, daß man nicht ist in der Bewegung des Denkens, die man vollbringt. Daher ergibt sich auch dem wirklichen Geistverkehr, dem wirklichen Geistesforscher, daß er, indem er dieses Denken immer wieder verstärkt durch ruhiges Erleben von Gedanken, mit denen er selbst sein Bewußtsein meditativ ausfüllt, es so ist, als ob er mit diesem Denken hineinwüchse in eine Wirklichkeit. Während er früher sich frei fühlte im schattenhaften Denken, fühlt er jetzt etwas wie ein geistiges Ertrinken. Und gerade deshalb muß er seinen ganzen Menschen seelisch-geistig stark und kräftig machen, damit er gewapp­net ist gegen das, was sich entgegenstellt dem verstärkten Denken, das innerlich seelisch wie ein Ertrinken ist, wie ein Auslöschen des Bewußtseins. Man muß mit einem starken Bewußtsein sich hinein-leben in dieses verstärkte Denken. So erlebt man tatsächlich durch unmittelbar geistige Wahrnehmung, indem man das Denken verstärkt, die Schattenhaftigkeit des gewöhnlichen Denkens. Und dann kommt derjenige Punkt im Leben, der wiederum, und zwar noch mehr als alles, was ich früher erwähnen konnte, blitzartig erschütternd in dieses menschliche Leben hineinschlägt. Das ist der Punkt, in dem man er­kennen lernt, was das gewöhnliche Denken und Vorstellen eigentlich ist in seiner Schattenhaftigkeit, in seiner Bildhaftigkeit. Man lernt er­kennen, daß es der Schatten ist desjenigen, was man durchlebt hat in einer rein geistigen Welt vor der Geburt oder sagen wir vor der Emp­fängnis, der Schatten der Wirklichkeit, die man vorgeburtliche Wirk­lichkeit nennt. Das Leben des Menschen im Geiste, vor der Geburt, vor der Empfängnis, das erlebt man, das verspürt man in dem ver­stärkten Denken. Und dann lernt man erkennen, wodurch man eigent­lich die Kraft des Denkens, des gewöhnlichen Denkens hat. Dadurch hat man die Kraft des gewöhnlichen Denkens, daß man vor der Geburt oder vor der Empfängnis ein Leben anderer Art in der geistigen Welt geführt hat. Und dieses Leben anderer Art lähmt sich dieser Wirklich­keit nach ab, das wird zum bloßen Schatten, und den Schatten erleben wir in unserem Vorstellen, in unserem Denken. Die Zeit wird wie zum Raum. Man schaut zurück in die vorgeburtliche Zeit, in die Zeit vor der Empfängnis. Man schaut zurück in die geistige Welt, und man schaut jene Wirklichkeit, die man da erlebt hat. Und wie eine Raumerscheinung

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wirkt auf eine andere Raumerscheinung, die von ihr ent­fernt ist, so wirkt die Zeit wie der Raum. In dieser Anschauung, die ich angedeutet habe, da ist das vorgeburtliche Leben noch da. Und es zeigt sich, indem ich denke, wirkt herein dieses vorgeburtliche Leben in mein jetziges Leben. Ich bin, indem ich denke, abhängig von diesem vorgeburtlichen Leben. Das scheint in meine Seelenwesenheit herein und dadurch kann ich denken.

Kurz, das, was man den Menschengeist nennt, unabhängig vom Leibesleben, das wird zu einer Anschauung, aber zu einer Anschauung, zu der man sich erst durch innere Seelenkämpfe hindurchringen muß. Und jetzt, jetzt kommt Licht in die gewöhnliche Seelenanschauung. Jetzt weiß man, wenn man im gewöhnlichen Leben glaubt: Da hat man das Denken, das Fühlen, das Wollen, das steht mit dem Leibe in keinem Zusammenhang - so muß das so sein, weil man ja in diesem gewöhnlichen Seelenleben, in diesem Vorstellen nur einen Abglanz hat einer Wirklichkeit, die sich abgelähmt hat mit unserer Geburt. Jetzt weiß man, daß die Seele eigentlich etwas anderes noch ist als dasjenige, was seit unserer Geburt mit uns lebt. Und jetzt, jetzt schaut man, wenn man mit diesem verstärkten Denken nun wiederum in die Welt hinaus-tritt, jetzt schaut man noch etwas anderes als die gewöhnliche Sinnes-welt. Man kann sich schon auch in der Sinneswelt unterstützen, doch wird das gewöhnlich nicht angeraten, und ich rate es auch hier nicht, ich möchte es nur zur Erklärung besonders anführen: In dem Augen­blick, wenn Sie sich bemühen, eine innere Vorstellungsstärke der Seele zu entwickeln, durch die Sie in die Lage kommen, zum Beispiel eine grüne Wiese rein durch Ihre innere Seelenkraft ganz anders vorzustel­len als grün, nämlich etwa in der Pfirsichblüten-Farbe - es gehört eine starke innere Anstrengung dazu -, dann wirkt diese innere Anstrengung, die Sie aufbringen, um das Grün nicht zu sehen, um die seelische Gegen-farbe, nicht die physikalische Gegenfarbe, zu sehen, dann wirkt diese Anstrengung so, daß sie Sie unterstützt zur Erzeugung jenes kräftigen, jenes erstarkten Denkens, von dem ich eben gesprochen habe. Dann aber können Sie auch andere äußere Erfahrungen anders beurteilen als durch das gewöhnliche Denken.

Dann treten Sie dem anderen Menschen gegenüber, Sie kommen mit

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ihm in irgendein Verhältnis, und Sie sagen sich - nicht bei allen, aber bei gewissen Zusammenhängen mit dem anderen Menschen, auch bei gewissen Zusammenhängen mit anderen Wesen der Natur, mit der Welt überhaupt -, Sie sagen sich: Oh, ich bin nicht umsonst dazu vor­gedrungen, mein Denken zu verstärken, ich bin in diesem erstarkten Denken fähig geworden, die Naturgrenzen zu überspringen, hinter die Naturgrenzen zu schauen. Dann aber schaue ich dasjenige, was mich im Leben trifft nun auch anders, als da ich an diesen Grenzen wie an Erkenntnisgrenzen gestanden habe. Dann schaue ich dasjenige, was als Schicksal, als Schicksalsereignisse in mein Leben hereindringt, als eine Wirkung von früheren Erdenleben, die ich durchgemacht habe, bevor ich zu jenem Leben in der geistigen Welt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt vorgedrungen bin, von dem ich eben gesagt habe, daß es sich in dem gewöhnlichen Vorstellen und Denken spiegelt. Kurz, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft zu sagen hat von dem Leben der menschlichen Seele in der geistigen Welt, zu sagen hat von den wiederholten Erdenleben, ist nicht eine graue Theorie, ist nicht eine Hypothese, das wird auch nicht als etwas ausgesprochen, was erdacht ist, sondern das wird ausgesprochen als das Ergebnis jener Erkenntnisse und Beobachtungen, zu denen man erst vordringt, wenn man sich so vorbereitet für sie, wie ich es eben angedeutet habe und wie Sie es weiter ausgeführt finden in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?».

Ich habe nun heute zunächst nach dieser einen Seite hin den Weg in die übersinnlichen Welten angedeutet. Auf den ganzen Zusammenhang des übersinnlichen Menschen werde ich übermorgen zu sprechen kommen. Denn ich habe heute noch zu erörtern die andere Grenze, an die der geistig erkennende Mensch kommt, jene andere Grenze, an der er ebenso einen harten inneren Kampf auszuführen hat wie an der Grenze der Natur­erscheinungen. Jene andere Grenze ist diejenige, welche ich nennen möchte die Grenze gegenüber dem eigenen menschlichen Innern. Es ist die Grenze, über die sich der Mensch oftmals hinwegtäuschen will da­durch, daß er in gewöhnlichem Sinne zum Mystiker wird. So wie der Geistesforscher viel intensiver mit der Naturwissenschaft leben muß als der Naturforscher selber, weil der Naturforscher eben nur zu

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seinen gewöhnlichen Ergebnissen und Erkenntnissen kommt, der Gei­stesforscher aber Erlebnisse, Kampfeserlebnisse mit der Naturwissen­schaft haben muß, so muß der Geistesforscher auch wirklich alles das­jenige durchmachen, an dem sich der Mystiker erbaut, an dem sich der Mystiker oftmals innerlich erfreut. Aber er muß zu gleicher Zeit einen inneren Kampf gerade mit dieser Freude, mit dieser Erbauung durch­machen. Während der gewöhnliche Mystiker gerade glaubt, an Ewig­keitsfragen zunächst durch ein gewisses Vertiefen in das eigene Innere zu kommen, bleibt dem wirklichen Geistesforscher, indem er zu diesem Inneren des Menschen nach dem Vorbilde des gewöhnlichen Mystikers vordringt, gerade da der herbste Zweifel, die furchtbarste Ungewiß­heit bestehen. Ebenso wie mit der Naturwissenschaft, hat der Geistes-forscher mit der Mystik, jetzt aber nach innen, zu kämpfen. Ebenso­wenig wie der Geistesforscher bei der gewöhnlichen Naturwissenschaft und ihren Grenzen stehenbleiben darf, ebensowenig darf er stehen­bleiben bei der gewöhnlichen Mystik. Denn gerade, indem er gewis­senhaft und ohne Illusionen sich in das menschliche Innere versenkt, entstehen ihm gegenüber der gewöhnlichen Mystik die Zweifel und Ungewißheiten. Gerade weil er das entwickelt, was ich eben charakte­risiert habe: das verstärkte Denken; weil er klar hineinsieht in das, was durch Mystik auftritt, bei der sich viele Menschen so wohl fühlen, daß sie sich in der göttlichen Substanz selber ruhend glauben, wenn sie sich innerlich mystisch vertiefen, deshalb kann der Geistesforscher bei dieser Mystik nicht stehen bleiben, denn er hat gelernt, sich bei dieser Beobachtung keinen Illusionen hinzugeben. Er hat gelernt, alle Phantastik wirklich zu bekämpfen. Er hat sich herangeschult an streng diszipliniertem, wissenschaftlichem Denken. Und so durchschaut er bald, daß dasjenige, was der Mystiker ein Leben mit seinem göttlichen Inneren, mit seinem höheren Menschen nennt, nichts anderes ist als das Erleben von allerlei unbewußten Reminiszenzen, die man nur, weil sie sich der Seele schlecht einverleibt haben oder weil sie dem Gedächt­nis gegenüber überschüttet sind, nicht richtig deutet.

Sehen Sie, davon möchte ich eine Vorstellung hervorrufen, daß der Geistesforscher sich nicht blenden läßt von irgendwelchen Illusionen; daß gerade das wahre Wesen der Geistesforschung über alle Phantastik

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durch eine innere Disziplinierung, durch eine strenge innere Schu­lung hinwegführt. Daher ist der Geistesforscher auch nicht imstande, sich zu beruhigen bei dem, wobei sich der gewöhnliche Mystiker be­ruhigt. Das sieht er an als subjektive Reminiszenzen; das sieht er an als etwas, worüber sich der gewöhnliche Mensch, indem er sich mystisch vertieft, allerlei Illusionen hingibt. Dem Geistesforscher aber wird eines klar: daß man gar nicht auf dem Wege dieser gewöhnlichen inne­ren Vertiefung zu irgend etwas, was wirklich die menschliche Seele ist, vordringen kann. Man gelangt da ebensowenig zu einer wahren Wirklichkeit, wie man durch das gewöhnliche, unverstärkte Denken zu einer wahren Wirklichkeit gelangt. Man gelangt nur zu der Er­höhung eines gewissen raffinierten Seelenegoismus. Man fühlt sich innerlich so wohl und behaglich, wenn man sich sagen kann, die Seele vertieft sich in den göttlichen Menschen, und dergleichen. In dieser Behaglichkeit, in diesem raffinierten Egoismus leben viele von den­jenigen, die gerade als Mystiker verehrt werden. Der Geistesforscher muß hier den wahren Tatbestand durchschauen, denn ihm wird, gerade dadurch, daß er sein erstarktes Denken hat, klar, was für eine Tat­sache eigentlich gegenüber dieser inneren Mystik vorliegt. Ihm wird klar, daß, wenn man auf die gewöhnliche Art da hinunterdringen könnte in das menschliche Innere bis zum göttlich-seelischen Kern des Menschen, man dann eine Kraft der Seele wiederum nicht haben würde, die man für das gewöhnliche praktische und soziale Leben so äußerst notwendig braucht: man würde nicht haben die Kraft der Erinnerung, die Kraft des Gedächtnisses. Man verdankt die Kraft der Erinnerung, die Kraft des Gedächtnisses nur dem Umstand, daß man nicht durch innerliches Erleben in gewöhnlichem Sinne hinuntertauchen kann in die volle menschliche Wesenheit. Der Geistesforscher gelangt dann dazu, eine innere Einsicht zu erwerben, wie man in dieses Innere des Men­schen wirklich untertaucht wiederum durch eine Art Erstarkung des gewöhnlichen Seelenlebens.

Sehen Sie, dieses gewöhnliche Seelenleben verläuft ja in sehr weitem Umfange recht, recht unbewußt. Denn sind wir nicht eigentlich im Leben jeden Tag ein anderer? Der Mensch, der auch nur zu einer ober­flächlichen Selbstbeobachtung aufsteigt, der merkt schon etwas davon,

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daß er in sich innerlich kräftig berührt wird von den Erlebnissen eines jeden Tages. Man denke nur, wie die Seele anders wird, indem sie von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr dieses oder jenes erlebt. Man denke, wie wir andere von Zeit zu Zeit sind, indem wir so unser Leben zwischen der Geburt und dem Tode absolvieren, wie wir immer andere werden. Allein der Mensch macht dieses Werden sehr unbewußt durch, er beobachtet sich dabei nicht, und er entwickelt vor allen Dingen nicht den Willen, sich selber immer zum andern zu machen. Er entwickelt im gewöhnlichen Leben nur einen geringen Grad von Selbstzucht, von Selbsterziehung. Durch Erhöhung dieser Selbst­zucht, dieser Selbsterziehung, durch das bewußte Sich-selbst-in-die-Hand-Nehmen, gelangt der Mensch dazu, sich wirklich als Werdender im Leben zu erkennen. Wenn wir uns dem Leben nicht nur so, wie es uns in sich hineinstellt, überlassen, uns gleichsam passiv durch das Leben schulen lassen, sondern wenn wir aktiv darauf losgehen, uns selber zu formen, uns zu erziehen, so daß wir uns oftmals sagen: Heute kannst du das nicht, du wirst das und das tun, damit du in das oder jenes hineinkommst -, kurz, wenn man in seinen eigenen Willen das, was Selbsterziehung ist, hereinnimmt, und immer bewußter darin wird und dies zur Übung macht; wenn man das systematisch durchführt, dann kommt zu dem erstarkten Denken eine andere Kraft hinzu. Ein­zelheiten darüber, deren es viele gibt, finden Sie wiederum in dem angeführten Buche. Wenn man das durchführt, dann wird der Wille zu etwas anderem, als er ist. Dann wird der Wille so, daß er gedanken-durchzogen ist, daß er sich enthüllt wie lichtdurchwoben. Während uns der Wille sonst etwas sehr Dunkles bleibt, das nur angeregt wird durch die Gedanken des Kopfes, leuchtet uns aus jenen Anstrengungen des Willens dann, wenn wir uns so geschult haben, wie ich es ange­deutet habe, ein Gedanke entgegen. Es wird uns die Welt, in der wir uns willentlich bewegen, ganz von Gedanken durchzogen. Die Welt wird nicht nur ein Sinnenbild, die Welt wird ein großes Gewebe von Weltengedanken dadurch, daß unser Wille in dieser Weise aktiv ge­worden ist. Und dann werden uns aus diesen Weltengedanken Erkennt­nisse, die sich zu den anderen, die ich angeführt habe, hinzugesellen können.

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Hat man diesen anderen Kampf mit der Mystik bestanden, hat man den Willen als weltgedankenerfüllt erkannt, dann erweitert sich das Leben nach einer anderen Seite hin, allerdings so, daß jetzt etwas auftritt, wozu man wiederum entsprechend vorbereitet sein muß, damit nicht Schaden in das Leben der Seele kommt. Auch darüber finden Sie Näheres in dem genannten Buche. Es würde Schaden in der Seele ent­stehen können, weil man in den Momenten, wo man nun durch diese andere, diese weltgedankendurchleuchtete Willenskraft in die geistige Welt hineinschaut, auf das Gedächtnis, auf das Erinnerungsvermögen verzichten muß. An dasjenige, was man so geistig schaut, kann man sich nicht wieder erinnern. Wenn ich heute auf den Wegen der Schulung, die ich Ihnen eben angeführt habe als die Schulung des Willens, etwas geistig erforscht habe und morgen es Ihnen erzählen will, dann kann ich das nicht aus meiner Erinnerung herausholen, sondern ich kann es Ihnen nur erzählen, wenn ich all die Veranstaltungen wieder mache, die zu dem Erlebnis geführt haben, so daß es neuerdings vor meiner Seele steht. Auf die eigentliche Erinnerung muß man verzichten. Dafür aber stellt sich jetzt das menschliche Innere vor die Seele hin, jenes menschliche Innere, das man durch gewöhnliche Mystik nicht erleben kann. Man erlebt es, nachdem man den Kampf mit der gewöhnlichen Mystik bestanden hat, nachdem man dasjenige überwunden hat, was einen an das Erinnerungsvermögen im Leben anpaßt. Da erlebt man, so wie die gewöhnliche Gedanken- oder Vorstellungswelt Schatten ist des vorgeburtlichen Lebens, so schaut man dasjenige, was im Willen lebt, der sonst so dunkel bleibt - was unterhalb des Gedächtnisses lebt, was im menschlichen Leibe geistig verborgen ist, aber nicht geschaut werden kann, weil wir sonst keine Erinnerung im gewöhnlichen Leben hätten -, man schaut es dann als das, was als Keim bleibt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes durchgeschritten ist. Dann lernt man erkennen durch Anschauung, durch Wahrnehmung dasjenige, was dem Menschen ahnungsvoll vorschwebt als die Unsterblichkeit der Seele. Dann lernt man erkennend zusammenschließen das nach dem Tode vom Menschen geistig Lebende mit dem vor der Geburt vom Menschen geistig Lebenden, dann lernt man erkennen das Ewige in der Menschennatur.

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Ich habe Ihnen heute geschildert die Wege, die zu den übersinnlichen Erkenntnissen und Beobachtungen, die zu dem führen, was dem Men­schen eingibt ein Bewußtsein von der Unsterblichkeit seiner Seele. Ich habe Ihnen gezeigt, daß es ein moderner Weg für die Entwickelung der Menschheit werden muß, auf Grund alles dessen, was die Mensch­heit sich erworben hat an religiöser und an wissenschaftlicher Entwicke­lung, aufzusteigen zu wirklichen Erkenntnissen der übersinnlichen Welt. Übermorgen will ich reden davon, wie dieser Mensch als über­sinnliche Wesenheit sich hinstellt vor unsere Seele.

Heute will ich nun zum Schlusse nur noch in ein paar Sätzen zu­sammenfassen, was mir als die Brücke zwischen den Vorträgen, die ich in diesem Jahre hier über ein scheinbar ganz anderes Gebiet gehalten habe, und den Vorträgen, die ich jetzt halte, erscheint.

Sehen Sie, ich habe mich oftmals fragen müssen in den Zeiten, die sich herausgebildet haben aus den furchtbaren sozialen Erlebnissen schon vor der Weltkriegskatastrophe, dann aus den Schreckenserleb­nissen während der Weltkriegskatastrophe und jetzt nachher: Wie steht es denn eigentlich mit den Vorstellungen und Ideen, mit den Impulsen, die der Mensch braucht, um das soziale Leben wirklich von sich aus zu gestalten? Denn der Mensch ist genötigt, gegen die Zukunft hin dieses soziale Leben zu gestalten. Und ich habe gewissenhaft, wahr­haftig gewissenhaft angefragt in der Literatur und überall, wo man anfragen kann, was für Vorstellungen über das soziale Wollen sich die landläufigen Volkswirtschafter machen, die Menschen, die über Volks­wirtschaft nachdenken und mit der Volkswirtschaft zu tun haben, und aus welchen Untergründen heraus sie sich solche Vorstellungen machen.

Mir ist gerade bei diesem Suchen ein eigentümliches Erlebnis ge-worden. Ich habe es mir wahrhaftig nicht leicht werden lassen, dieses Suchen, ich bin auch nicht ausgegangen von der Unbescheidenheit, über­all eine leichtfertige Kritik üben zu wollen. Derjenige, der Geistes­forscher wird, ist ja ferne dieser Leichtfertigkeit. Er ist sehr geneigt, gerade aus Gründen, die Sie aus dem heutigen Vortrag entnehmen können, liebevoll auf das einzugehen, was die Menschen hervorbringen an Ideen, an Willensimpulsen. Aber dennoch, ich konnte mich nicht der Tatsache verschließen, daß gerade die sozialen, ja auch die ethischen

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Wissenschaften heute überall an einer gewissen Unvollkommenheit leiden, an einer gewissen Unklarheit der Begriffe. Praktisch können Sie das einsehen, wenn Sie sich die Volkswirtschafter der verschiedenen Seiten ansehen, was der eine über die Wahl, über die Arbeit, über das Kapital sagt, was der andere darüber sagt und so weiter. Aber das­jenige, was die Leute sagen, lebt in den furchtbaren Kämpfen der Gegenwart, es lebt sich aus, es will sich gestalten. Die Menschen kämp­fen, kämpfen aus Instinkten heraus. Sie erheben Forderungen und wissen nicht, wovon sie reden. Das ist etwas, was sich einem auf die Seele lagert. Und da zeigte sich mir, ich spreche das ganz unverhohlen aus, worin der eigentliche Schaden liegt. Da zeigte sich mir, daß in den­jenigen Vorstellungen, die man gewinnen will über das, was im mensch­lichen Tun, in der menschlichen Hervorbringung lebt, was in dem lebt, was ein Mensch für den anderen in der sozialen Ordnung tut, nicht dasjenige leben kann, was die bloßen naturwissenschaftlichen Denk­gewohnheiten geben.

Das ist zum Beispiel das Furchtbare der Karl Marxschen National­ökonomie, daß diese ausgeht von dem Vorbild der naturwissenschaft­lichen Denkgewohnheiten, und daß sie dadurch nicht zu wirklichkeits­gemäßem Erfassen der äußeren sozialen Lage der Menschheit kommt, sondern nur zu einer tötenden Kritik und zu der Anregung unfrucht­barer revolutionärer Bewegungen. Das ist die Tragik des gegenwär­tigen Denkens. Und da kommt man dann, wenn man die Möglichkeit hat, Geisteswissenschaft, deren Wege ich Ihnen heute charakterisiert habe, auf der einen Seite zu haben, und die großen sozialen Fragen auf der anderen Seite zu haben, darauf, daß man sich sagt: Zum Erfassen des sozialen Lebens ist diese Denkweise nicht hinreichend, die sich die Menschen in den letzten drei bis vier Jahrhunderten unter dem Einfluß des ideologischen Denkens, der Unwirklichkeit des Geistes­lebens heranerzogen haben. Es gehört dazu, um dieses soziale Leben zu erfassen, eine Geistesschulung, die man nur an der geistigen Welt selber heranerziehen kann. Wie in den Waren, in dem, was als Waren-zirkulation auf dem Warenmarkte lebt, hineingeheimnist ist dasjenige, was ihnen der Mensch mitgibt durch seine Arbeit, das begreift man nicht, wenn man es nicht in Beziehung bringt zu den geistigen Welten,

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denen die Menschenseele angehört. Und was in der Arbeit des einen Menschen für den andern Menschen im sozialen Leben liegt, das be­greift man nicht, wenn man sein Denken nicht schulen kann durch Gedanken, die in die geistige Welt hineinreichen. Und dasjenige, was Kapital ist, man wird es nicht im richtigen Sinne überblicken, wenn man seine Wirkungsweise in seiner rein materiellen Eigenart nicht ab­messen kann an dem, was der Mensch als geistiges Wesen ist.

Kurz, man bekommt keine Sozialerkenntnis, ohne vorher Geistes­wissenschaft zu haben. Das ist eine Tatsache, die sich mir ergeben hat, und aus dieser Tatsache heraus versuchte ich, die Brücke zu schlagen zwischen Geisteswissenschaft und den Impulsen für den dreigliedrigen sozialen Organismus. Wie diese Brücke sich für die Entwickelung der Menschheit in die Zukunft hinein ausnimmt, auch darüber werde ich übermorgen zu sprechen haben. Ich werde zu sprechen haben darüber, was sich gerade auf Grundlage eines solchen Seelenlebens, das im­stande ist, aus dem gesunden Menschenverstand heraus einzusehen, daß das, was ich heute gesagt habe, auf Wahrheit beruht, ergibt an Notwendigkeiten für die soziale Entwickelung der Gegenwart und der nächsten Zukunft.

Wir hören seit Jahrzehnten immer wieder von dem Gegenwarts­bewußtsein aus mit einem gewissen Rechte den Ruf: Der geknechtete Teil der Menschheit muß sich erlösen, muß sich befreien. Denn, was auch geschehen mag in dem Kampfe um diese Erlösung, diese Befrei­ung, dieser geknechtete Teil der Menschheit habe ja dabei nichts zu verlieren als seine Ketten. - Nun, so wahr das auf der einen Seite ist, es ist trotzdem einseitig für denjenigen, der die ganze Welt zu schauen vermag, die Welt, die dem Menschen vorliegt, zu schauen vermag im Lichte des Geistes. Denn so hart es ist, in der materiellen Welt Ketten zu tragen, wie diejenigen, die in dem angeführten Ausspruch gemeint sind, so berechtigt es ist, zu streben, diese Ketten, die man ja allein durch einen Kampf verlieren könne, abzuschütteln - es gibt noch etwas, von dem gesagt werden muß, daß es zu verlieren furchtbarer wäre, als alle materiellen Ketten der Menschheit: das ist die Erfüllung der Seele mit der Erkenntnis vom wahren geistigen Menschen. Wir könnten, wenn wir uns fortentwickeln würden unter dem Verhältnis zum Geiste,

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das sich in den letzten drei bis vier Jahrhunderten herausgebildet hat, und das man als Ideologie anzusehen berechtigt ist, wir könnten etwas verlieren, was nicht verloren werden darf: das Bewußtsein von der geistigen Natur des Menschen, von der ewigen Bedeutung dieses Men­schen. Und daß dieses Bewußtsein nicht verloren gehe, daß der Mensch sich wieder erkämpfe ein Geistesleben, in dem er sich selber in seiner wahren Gestalt erscheint, das wird die Aufgabe der modernen Geistes­wissenschaft sein. Dann wird sie, wenn sie diese Aufgabe übernimmt, ein wichtigster Beitrag zu der sozialen Neugliederung des menschlichen Lebens sein. Dann aber, wenn man dieses einsieht, dann wird man sich sagen: Nicht bloß ökonomische Kämpfe sind es, in die wir mutig hineinsegeln müssen, sondern es werden in der Zukunft auch Geistes-kämpfe sein. Möge die Menschheit sich stark und mutig erweisen, diese Geisteskämpfe zu bestehen, dann wird ihr nicht verloren gehen, was ihr, wenn sie nicht dauernd in den Abgrund versinken soll, nicht ver­loren gehen darf: das Bewußtsein von der Geistigkeit, von der Ewig­keit des Menschen.

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DIE ÜBERSINNLICHE WESENHEIT DES MENSCHEN UND DIE ENTWICKELUNG DER MENSCHHEIT GEISTESWISSENSCHAFTLICHE BEOBACHTUNGEN UND ERKENNTNISSE Öffentlicher Vortrag, Stuttgart, 11. Juli 1919

Daß es innerhalb der menschlichen Wesenheit so etwas gibt wie einen übersinnlichen Menschen, das ist die Ahnung jedes einzelnen, mag er nun in dieser oder jener Art sein Seelenleben durchmessen. Wie vor dem Bewußtsein der gegenwärtigen Menschheit diese Ahnung heraufgeholt werden soll zu einer inneren wissenschaftlichen Gewißheit, dar­über will zu den heutigen Zeitgenossen sprechen, was ich nun schon seit vielen Jahren auch hier in dieser Stadt vertrete unter dem Namen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft. Gegenüber der Art, wie diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft die Er­kenntnis des übersinnlichen Menschen und der übersinnlichen Welt überhaupt sucht, erheben sich allerdings heute noch die allermannig­faltigsten Vorurteile. Und in der Art, wie man heute in vielen Kreisen noch wünscht, von der übersinnlichen Menschenwesenheit reden zu hören, so kann Anthroposophie über sie nicht sprechen. Denn sie würde glauben, ja, sie weiß es, daß sie damit gerade den vielleicht heute noch unbewußten, aber deshalb nicht minder intensiven Erkenntnis­sehnsuchten der Menschen nicht entgegen käme. Man hört ja gerade, wenn heute von dieser oder jener Seite über Anthroposophie geurteilt wird, immer wieder und wiederum, diese Anthroposophie sei etwas schwer Verständliches, sie hole ihre Erkenntnisse aus Regionen her, in die man sich gar nicht zu begeben brauche, wenn man in das Wesen des Übersinnlichen eindringen wolle. Der Unterschied wird hervor­gehoben zwischen dem Erkenntnisstreben der Anthroposophie und dem «schlichten Glauben», der sich nur begründen will auf Bekenntnis und Bibel. Und daß derjenige, welcher diesen schlichten Glauben als eine innere Kraft gefunden hat, keiner anthroposophisch orientierten Gei­steswissenschaft bedürfe, das wird von vielen Seiten immer wiederum betont. Gerade aber wenn sie im Sinne dieses bloßen heute sogenannten

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schlichten Glaubens sprechen würde, müßte anthroposophisch orien­tierte Geisteswissenschaft annehmen, daß sie dem eigentlich tieferen Zeitbedürfnis nicht Rechnung trüge. Sie müßte sich sagen, daß sie zwar einen Standpunkt vertreten würde, der heute noch vielen Menschen gefällt und dem gegenüber sie Anthroposophie schwer verständlich finden, der aber doch den eigentlichen tieferen Forderungen des Seelen­lebens der gegenwärtigen Menschheit nicht mehr entspricht. Das möchte ich vorausgeschickt haben aus dem Grunde, weil gerade von dieser Seite her immer wiederum Einwendungen gemacht werden gegen die Gesichtspunkte, die aus einer vollgültigen Erwägung der Menschheits­forderungen der Gegenwart eingenommen werden von derjenigen gei­stigen Wissenschaft, von der hier gesprochen werden soll. Diese geistige Wissenschaft glaubt nämlich klar zu erkennen, wie gewisse Zusammen­hänge wirksam sind, über die sich sehr viele Menschen in der Gegen­wart den schädlichsten Illusionen hingeben.

Wir leben heute in einer Zeit, die mit Bezug auf ihren Charakter der Wirrnis und des Chaos noch lange nicht irgendwie abgeschlossen ist. Wir gehen schweren Zeiten der Menschheitsentwickelung entgegen. Und derjenige, der tiefer in die Entwickelung der Menschheit hinein-schaut, weiß, dasjenige, was sich heute wie eine elementare Unruhe über die ganze zivilisierte Welt ausbreitet, und wovon die inneren Kämpfe nur die an die Oberfläche geschlagenen Wellen sind, hat einen geheimnisvollen Zusammenhang gerade mit dem halsstarrigen Sich-stellen auf den Standpunkt, den man bezeichnet als den des «schlichten Glaubens», der sich nur auf Bekenntnis und Bibel stützen will. Das, was in der Menschenwesenheit durch diesen sogenannten «Glauben» herangezogen wird, das verschließt sich gegenüber denjenigen Kräften, welche heute in diesem Entwickelungspunkte der Menschheitsentwicke­lung gerade Ordnung hineinbringen könnten in Wirrnis und Chaos. Wenn heute diejenigen, die so sprechen, wie ich es angedeutet habe, nur ihre Erkenntnis ein wenig vertiefen würden, dann würden sie hin­schauen müssen auf der einen Seite auf alles dasjenige, was die Mensch­heit in furchtbare Kämpfe, in furchtbare Unordnung hineinbringt, und sie würden sich dann andererseits sagen müssen: Was wir nicht herangezogen haben, weil wir immer halsstarrig betont haben, stehen

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zu bleiben bei dem sogenannten schlichten Glauben, der uns bequem ist und der den anderen bequem ist, das fehlt heute, und es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen den Unruhen von heute und dem Pochen auf den schlichten Glauben. Da ist ein Ursachenzusammenhang, und in den elementaren Bewegungen der heutigen Welt geht die Saat dieses halsstarrigen Pochens auf.

Das hat, nicht aus subjektiven Empfindungen heraus, sondern gerade aus dem, wovon ich Ihnen auch heute wiederum einzelne Andeutungen geben möchte, aus einer innerlichen wissenschaftlichen Erkenntnis her­aus, die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft bewogen, her­unterzuholen aus den geistigen Höhen diese Erkenntnis des Übersinn­lichen, die auch, insofern die sogenannten Schlichtgläubigen auf das Übersinnliche hindeuten, aus diesen Höhen zu ihnen gekommen ist. Nur wollen sie nicht in diese Höhen irgendwie hinaufsteigen.

Dies durfte ich vorausschicken, weil ich gerade heute dasjenige, was ich zu sagen haben werde über die übersinnliche Wesenheit des Men­schen, in Zusammenhang werde zu bringen haben mit einigen geistes-wissenschaftlichen Erkenntnissen, die man auf der einen Seite noch recht unverständlich findet, obwohl, wenn man näher eingehen würde auf sie, man sie gerade dem gesunden Menschenverstand entsprechend finden würde; die man immer auf der anderen Seite für unnötig hält, weil man sie nicht dem entsprechend findet, was man vermeint als bloßen schlichten Glauben vertreten zu müssen. Die Wege, auf denen Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, zu ihren Erkenntnissen gelangt, habe ich versucht, vorgestern hier an dieser Stelle zu charakte­risieren. Ich bin damals davon ausgegangen, daß der heutige Mensch im Grunde genommen recht wenig von dem wissen möchte, was nun doch im Innersten der Menschennatur unbewußt vor sich geht.

Auf der einen Seite glaubt der Mensch, daß er äußerlich seinen Leib an sich trägt, und er glaubt diesen Leib zu erkennen, indem er ihn sinnlich betrachtet, oder auch indem er ihn betrachtet nach den Anlei­tungen der naturwissenschaftlichen Weltansicht. Auf der anderen Seite glaubt der Mensch, dasjenige, was er sein Inneres nennen darf, in vollem Umfang zu haben, wenn er ins Auge faßt, was in seinem Den­ken, in seinem sinnlichen Wahrnehmen, in seinem Fühlen und in seinem

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Wollen als seine Seele auftritt. Daß durch dieses Leben einerseits gegen­über dem äußeren Leib und auf der anderen Seite gegenüber dem, was man im gewöhnlichen Bewußtsein im Denken, Fühlen und Wollen als Seelisches erlebt, daß in diesem sich die volle menschliche Wesenheit nicht erschöpft, das zeigt der Erkenntnisweg, den ich schon vorgestern hier angedeutet habe, und der im wesentlichen darin besteht, daß der Mensch als Geistesforscher nicht stehen bleibt bei dem, was sein gewöhn­liches Bewußtsein ihm sagt, sondern daß er seine seelische Entwicke­lung gewissermaßen selber in die Hand nimmt. Daß er namentlich auf der einen Seite die Gedankenwelt, das Denken bewußt auf eine höhere Stufe erhebt, als es im gewöhnlichen Leben steht, und daß er auf der anderen Seite auch dasjenige, was wir die Willensnatur nennen, selbst­bewußt zum Gegenstand seiner Selbsterziehung macht. Also Fortent­wickelung der Kräfte des seelischen Lebens, die wir im gewöhnlichen Leben haben, ist dasjenige, was im geisteswissenschaftlichen Sinn allein zu Erkenntnissen der übersinnlichen Welt führen kann.

Und worin, auf der einen Seite, besteht dasjenige, was man als Ent­wickelung dem Denken angedeihen lassen soll? Es besteht darin, daß man in ganz systematischer Weise, in einer solchen Weise, die auf den Erfahrungen der inneren Seelennatur des Menschen beruht, dieses menschliche Denken oder Vorstellen stärker macht, als es im gewöhn­lichen Leben ist. Im gewöhnlichen Leben ist gewissermaßen das Den­ken, das Vorstellen ein bloßer Zuschauer, und der Mensch ist sich dessen bewußt, daß er für dieses gewöhnliche Leben eigentlich am besten denkt, wenn er die Erfahrungen dieses Lebens oder die äußere Natur auf sich wirken läßt, und sich im Vorstellen als passiver Zuschauer ver­hält. Durch die Methoden, die Sie geschildert finden in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» bringt manAktivi­tat in die Gedankenwelt. Man bringt solche Aktivität in die Gedanken­welt hinein, daß man sich bewußt wird: Während man denkt, ist man nicht nur passiv, sondern man ist in einer solchen, wenn auch inner­lichen Tätigkeit, wie man ist, wenn man äußerlich mit seinen Gliedern sich bewegend in der Welt wirksam ist. Wille muß hereingebracht werden in das Denken, aber solcher Wille, welcher dieses Denken nicht zu einem willkürlichen macht, sondern welcher es anpaßt an die Welterscheinungen.

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Daher ist es eine gute Vorbereitung gerade für den Geistesforscher, wenn er seinem geisteswissenschaftlichen Streben vor­angehen läßt eine gut disziplinierte Arbeit in der naturwissenschaft­lichen Forschungsweise selbst; wenn er sich bei dieser naturwissen­schaftlichen Forschungsweise gewöhnt, nicht willkürlich zu denken, sondern sein Denken nach den Erscheinungen zu richten, die die Natur selbst darbietet. Aber er muß sich dann losmachen von dieser bloßen Anschauung der Natur. Er muß dasjenige, was er sich an der Beobach­tung der Naturerscheinungen anerzogen hat an innerer Gedanken­strenge, selbständig und losgelöst von diesen Naturerscheinungen im bloßen Denken entfalten. Aktivierung des Denkens, das ist es, worauf es mit Bezug auf die Denkkultur innerhalb der geisteswissenschaft­lichen Forschung ankommt. Es ist das, was heute viele Menschen noch nicht glauben - wir stehen erst am Anfang der geisteswissenschaft­lichen Erkenntnis -, daß dadurch in der Tat das Denken des Menschen, die ganze Vorstellungstätigkeit einen anderen Charakter annimmt, als sie im gewöhnlichen Leben hat. Wenn wir zurückblicken auf die dumpfe Vorstellungswelt, auf das mehr oder weniger träumerische Wesen der ersten Kindheit, und vergleichen dann dieses träumerische Wesen mit dem in sich klaren und hellen Denken des erwachsenen Zustandes, so haben wir einen Unterschied in der Entwickelung des inneren mensch­lichen Seelenlebens. Ein ebensolcher Unterschied tritt für denjenigen ein, der in der geschilderten Weise sein Denken entwickelt, indem er vom gewöhnlichen Denken zum aktivierten Denken aufsteigt. Er fühlt sich wie erwacht aus dem gewöhnlichen Lebenszustand, und man kann, wenn man das Wort nicht im schlecht mystischen Sinne nimmt, aller­dings von einer Erweckung des Menschen durch dieses aktivierte Den­ken sprechen. Dadurch aber, daß man lernt, dieses aktivierte Denken zu handhaben, dadurch gewinnt man eine ganz neue «Schauung», so möchte ich sie nennen, eine ganz neue Schauung über das Wesen zu-nächst des menschlichen Leibes.

Dieser menschliche Leib stellt sich vor diese Schauung, zu der das aktivierte Denken aufsteigt, in einer ganz neuen Weise hin. Vor allen Dingen zeigt sich ein großer, gewaltiger Unterschied mit Bezug auf die Form des menschlichen Leibes zwischen der Organisation unseres

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Hauptes und der Organisation, welche sidl ausdrückt in unseren sich bewegenden Gliedmaßen und allem, was mit diesen sich bewegenden Gliedmaßen zusammenhängt. Und man lernt erkennen durch die An­schauung, die sich diesem aktivierten Denken eröffnet, daß im Grunde genommen der menschliche Kopf, das menschliche Haupt eine auch leiblich ganz andere Wesenheit hat als die übrige, namentlich die Glied­maßen tragende Körperlichkeit. Man lernt auf innerliche Art erken­nen die Verwandtschaft alles Denkens, namentlich dieses aktivierten Denkens mit der ganzen Wesenheit des menschlichen Hauptes. Man lernt in einer neuen Weise erkennen, was eigentlich dieser menschliche Leib ist. Denn, dringt man in seelischer Entwickelung immer weiter und weiter durch dieses aktivierte Denken, so tritt in dieses aktivierte Denken nicht bloß eine solche Lebenserfahrung bewußt herein, wie sie in das gewöhnliche Denken oder Vorstellen hereintritt. Die Lebens-erfahrungen, die in das gewöhnliche Denken oder Vorstellen herein-treten, haben eine gewisse Eigentümlichkeit. Wir erfahren die Welt innerhalb dieses gewöhnlichen Vorstellens, wir erfahren sie durch un­sere Sinnesbeobachtungen und durch das sich daranschließende Denken. Aber es bleibt uns auch etwas von dieser Erfahrung zurück. Wir wür­den nicht die vollständige Menschenwesenheit in uns tragen, wenn uns nicht von jeder äußeren Erfahrung die Möglichkeit zurückbliebe, uns an diese äußere Erfahrung wiederum zu erinnern. Gerade diese Erinne­rung hält unsere ganze menschliche Persönlichkeit zusammen, und man braucht nur daran zu denken, was irgendeine Erkrankung des Erinne­rungsvermögens für eine Zerstörung der menschlichen Persönlichkeit anrichtet, dann wird man sich darüber klar werden, was die Erinne­rungskraft für den ganzen Zusammenhalt der menschlichen Persönlich­keit im gewöhnlichen Leben bedeutet. Aber dasjenige, was in uns be­wirkt, daß wir, wenn wir uns der äußeren Welt hingeben, und uns von ihr durch unsere Sinneswahrnehmung Vorstellungen bilden, später diese Vorstellungen wiederum als Erinnerungen in unserer Seele leben­dig erhalten können, das bleibt im Unbewußten. Das ist etwas, was der Mensch im Unbewußten verrichtet.

Mit Bezug auf dasjenige, was das aktivierte, das übersinnliche Den­ken erfährt, liegt die Sache anders. Niemals würde es möglich sein -

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das wird Ihnen auch aus dem vorgestern hier Gesagten ersichtlich sein -, mit der menschlichen Persönlichkeit in irgendeinen Zusammenhang zu bringen das, was man im aktivierten Denken wirklich übersinnlich erfährt, wenn man angewiesen wäre auf die Tätigkeit, die unbewußt das Innere bewirkt. Das ist etwas, was man lernen muß in der über­sinnlichen Erkenntnis, daß man nicht etwas unbewußt an unseren Leib heranbringt, aus dem man dann wiederum die Erinnerung wachrufen kann, sondern das Einprägen in den menschlichen Leib, das Herein­bringen, das sonst durch unbewußte Tätigkeit verläuft und als Erinne­rung weiter wirkt, das muß man als Geistesforscher bewußt ausüben. Niemals würde aus einem ganz dumpfen Erleben die höhere übersinn­liche Erfahrung durch das aktivierte Denken herauskommen, wenn man sich nicht aneignen wurde die Fähigkeit, diese übersinnliche Er­fahrung an den Leib bewußt heranzubringen. Man kann sie aber nur an die menschliche Kopforganisation heranbringen. Und man lernt nun an dieser menschlichen Kopforganisation etwas kennen, was sich der gewöhnlichen Wissenschaft entzieht, was aber tief hineinleuchtet in das Geheimnis der Menschenwesenheit. Man lernt erkennen, indem man bewußt einprägt dasjenige, was man geistig im aktivierten Den­ken erlebt, daß man da im menschlichen Haupte immerfort einen Vor­gang hervorruft, der nicht eine Erhöhung des Lebens ist, der ein Abbau des Lebens ist, der ein teilweises Sterben ist. Das ist wiederum eine bedeutsame, erschütternde Erfahrung, die auf dem Wege der Geistes­wissenschaft gemacht wird. Damit wir persönlich Anteil gewinnen kön­nen an unseren übersinnlichen Erkenntnissen, müssen wir sie einpragen unserer Hauptesnatur, und gleich zeigt sich, daß durch diese Einprägung nicht hervorgerufen wird ein Prozeß der Belebung, ein Prozeß der Lebenserhöhung, sondern ein Prozeß des teilweisen Absterbens, des Abbaues der Lebensprozesse der Hauptesorganisation. Und da lernt man erkennen, wie diese leibliche Hauptesorganisation im Menschen eigentlich wirkt. Man lernt erkennen, was man nur nicht weiß, was im Unbewußten bleibt: daß unsere gesamte Denktätigkeit oder Vorstel­lungstätigkeit nicht etwas ist, was, wie der Materialist glaubt, aus dem Leben hervorquillt, sondern gerade aus der Abdämpfung des Lebens in der Hauptesnatur kommt, davon kommt, daß unser Haupt fortwährend,

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wenn wir seelisch aktiv sind, in einem partiellen, in einem teilweise Sterben drinnen ist. Und man lernt die für den heutigen Menschen noch groteske Tatsache erkennen, daß in dem Augenblick, wo sich dasjenige, was sich im Haupte, in der Denktätigkeit abspielt, über den ganzen Menschen ausbreiten würde, der ganze Mensch in die­sem Augenblick sterben würde. So erlebt man durch die Geisteswissen­schaft in bezug auf einen Teil der menschlichen Leibesnatur fortwäh­rend die wirkliche Wirksamkeit des todbringenden Prinzipes. Man lernt erkennen, wie der Tod fortwährend dadurch, daß wir das Haupt in einer gewissen Art organisiert haben, in uns seine Tätigkeit durch das ganze Leben ausübt.

Sehen Sie, zu solchen, den gewöhnlichen Meinungen so hart wider­sprechenden Anschauungen führt dasjenige, wovon man heute noch in vielen Kreisen glaubt, daß es den Menschen zu nichts, was ihm nötig ist, führen könne. Und dann lernt man erkennen, wie eigentlich dieses Einprägen, das ich jetzt als ein Bewußtes geschildert habe, und das durch das aktivierte Denken geschehen muß, nicht unmittelbar ein­prägen kann die übersinnliche Welt, in der man Erfahrungen gemacht hat, in die menschliche physische Organisation. Da lernt man als eine reale Tatsache erkennen, was sich der äußeren Sinnesbeobachtung ent­zieht. Da lernt man erkennen, daß dem gewöhnlichen sinnlichen Leibe dasjenige eingegliedert ist, was ich mir in meinen Schriften über die Geisteswissenschaft den Atherleib oder Bildekräfteleib zu nennen er­laubte. Einen feinen Lichtleib entdeckt man, der zwischen der Tätig­keit des aktivierten Denkens und dem menschlichen physischen Leibe namentlich in der Hauptesorganisation liegt. Es wird auf diesem Wege durch das übersinnliche Schauen, das man auf dieser Stufe eine Imagi­nation nennen kann, das erkannt, was ein feinerer Leib ist, was als die bildende Kraft, gegenüber welcher die Naturwissenschaft heute einen negativen Aberglauben hat, dem physischen Leibe zugrunde liegt. Man lernt ein höheres, ein übersinnliches Glied der menschlichen Wesenheit kennen. Und es tritt auf als eine, ich möchte sagen, zunächst außer­ordentlich niederschlagende Erscheinung, die dadurch behoben werden muß, daß man der Aktivierung des Denkens andere innere Seelen-übungen parallel gehen läßt -, es tritt die merkwürdige Erscheinung

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auf, daß man, indem man nun einprägt dem Atherleib und dadurch auch dem physischen Leibe dasjenige, was man übersinnlich erfahren hat, sich fühlt, wie wenn man nicht mehr Herr seines Ich wäre, wie wenn das Ich, von dem man doch so sehr geglaubt hat, daß es alle Seelenerscheinungen, alle Seelenerfahrungen durchziehe, wie wenn die­ses Ich versinken würde in den Leib. So kommt man sich vor, indem man übersinnliche Erfahrungen dem Leibe einprägt, wie wenn das Ich versinken würde.

Da kommen einem zu Hilfe jene Übungen, die man auf der anderen Seite in der Selbstzucht des Willens macht. Ich habe sie vorgestern schon charakterisiert, will aber noch kurz darauf hinweisen. Ich habe gesagt, wie der Mensch von Woche zu Woche, von Stunde zu Stunde, von Jahr zu Jahr immer ein anderer wird, und man wissen kann, daß man ein anderer wird. Unsere Erfahrungen wirken nicht nur so, daß wir sie haben, sondern sie wirken so, daß sie fortwährend einen an­deren Menschen aus uns machen. Aber auch da wirkt im heutigen Men­schen eine unbewußte Tätigkeit. Er gibt sich den äußeren Erfahrungen hin. Er merkt vielleicht, wenn er schon soviel Aufmerksamkeit auf sein Inneres wendet, daß er von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt im Grunde genommen ein anderer Mensch ist, daß er eine andere Seelenverfassung hat. Aber er nimmt die Entwicke­lung dieser Seelenverfassung nicht in seine eigene Hand. Das muß der Geistesforscher tun. Er mußte so an sich arbeiten, daß er sein Vorwärts-kommen von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt durch seinen eigenen Willen beherrscht, wiederum systematisch, nicht nur willkür­lich oder nachgebildet dem gewöhnlichen, mehr oder weniger unbewuß­ten Leben, sondern systematisch, voll bewußt muß man Selbstzucht und Selbsterziehung üben. So daß dasjenige, was sonst willenlos in unserem Menschen sich entwickelt, unter die Herrschaft des eigenen Willens gestellt wird. Dadurch macht man eine andere Erfahrung. Man macht eine Erfahrung, die wiederum dem heutigen Bewußtsein sehr ferne liegt. Man muß aufräumen mit einem wissenschaftlichen Vorurteil, das heute ein gewisses wissenschaftliches Gebiet ganz be­herrscht, und von da aus auch in das populäre Bewußtsein hinübergezogen ist. Diese wissenschaftliche Anschauung - ich möchte das aus

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dem Grunde erwähnen, weil uns das, um was es sich jetzt handelt, von hier ausgehend vielleicht am ersten verständlich werden kann -, das­jenige, was man heute aus der materialistischen wissenschaftlichen An­schaung heraus glaubt, das ist, daß der Mensch zweierlei Nerven habe, die sogenannten sensitiven und die motorischen Nerven. Die sensitiven Nerven gehen von unseren Sinnesorganen, so glaubt man, oder von der Hautoberfläche nach dem Nervenzentrum, und wie Telegraphendrähte bringen sie dorthin dasjenige, was sinnlich wahrgenommen wird. Und dann wiederum gehen von dem Nervenzentrum aus die sogenannten motorischen Nerven, die Willensnerven. Es wird gewissermaßen durch eine dämonische Wesenheit, die aber natürlich die heutige Wissenschaft nicht wahrhaben will, und die im Zentralnervensystem sitzt, dasjenige, was durch die Telegraphendraht-Nerven von den Sinnen nach dem Zentralsystem hingedrahtet wird, umgesetzt im Willen durch die moto­rischen, durch die Willensnerven. Man hat sehr schöne Theorien er­sonnen, die sogar außerordentlich geistreich sind, namentlich diejenige, die hergenommen ist von der furchtbaren Erkrankung der Tabes, um diese Theorie von den zweierlei Nerven zu erklären. Aber dennoch ist diese Theorie von den zweierlei Nerven nichts anderes als ein Ausfluß der Unkenntnis über den übersinnlichen Menschen. Es gibt - das kann ich hier, weil es zu weit führen würde, nicht ausführen, aber gerade die Tabeserkrankung beweist es, wenn man es richtig betrachtet -, es gibt keinen Unterschied zwischen sensitiven und motorischen Nerven. Die sogenannten motorischen Nerven sind nur dazu da, um so, wie die sogenannten sensitiven Nerven die äußeren Wahrnehmungen vermit­teln, ebenso die inneren Wahrnehmungen zu vermitteln, wenn wir gehen oder wenn wir den Arm bewegen. Die motorischen Nerven sind auch sensitive Nerven; sie sind dazu da, unsere Bewegungen selber zu empfinden. Und daß man glaubt, die motorischen Nerven seien die Willensträger, das kommt nur davon her, daß man in Unkenntnis ist über den eigentlichen Willensträger. Ihn lernt man erst erkennen, wenn man diese Selbstzucht des Willens wirklich übt, von der ich gesprochen habe. Wenn einem das auch zur Aktivität wird, sich selbst zu erziehen. Wenn man in dieser Erziehung unabhängig wird von dem, was ge­wissermaßen der Leib selber mit einem macht. Dann lernt man erkennen,

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daß es nicht die motorischen Nerven sind, die den Willen erzeugen, sie nehmen nur die Bewegungen durch den Willen wahr, sondern daß es ein drittes Glied der menschlichen Wesenheit ist, ein übersinnliches Glied, dasjenige, was man die eigentliche Seelenwesen­heit nennen könnte. Ich habe es in meinen Schriften, wenn auch der Ausdruck der Gegenwart noch nicht gefällt, den Astralleib genannt. Man lernt dieses übersinnliche Glied der menschlichen Wesenheit kennen wiederum durch eine unmittelbare Schauung, die man sich anerzieht durch diese Selbstzucht des Willens, man lernt diesen Seelenleib, wenn ich es so nennen darf, kennen als dasjenige, was geistig-seelisch allen Willensbewegungen, allen Bewegungen des Leibes zugrunde liegt. Ner­ven sind nur dazu da, die Wahrnehmung der Bewegung zu vermitteln.

Man muß allerdings dann, wenn man immer weiter und weiter fort­setzt diese Willenszucht, von der ich gesprochen habe, aufsteigen von dem bloß imaginativen Erkennen, das ich eben angedeutet habe, zu dem inspirierten und intuitiven Erkennen, wie ich es in meinem eben genannten Buche bezeichnet habe. Dann gelangt man dazu, ein noch höheres Glied, als es der Ätherleib oder Bildekräfteleib des Menschen ist, in diesem Seelenglied der menschlichen Natur zu erkennen. Und man lernt dieses Seelenglied erkennen als dasjenige, was man nicht erleben kann in sich, was man nur erleben kann dadurch, daß man in äußerer Aktivitat ist, was man erleben kann dadurch, daß einem die Antriebe des Willens etwas Bewußtes werden. Hat man es dahin ge­bracht, dieses eigentliche Seelenglied in sich zu entdecken, diesen zwei­ten Teil des übersinnlichen Menschen, dann erkraftet sich der Wille immer mehr und mehr, und es erweist sich dasjenige, was unser Emp­findungsleib ist. Dasjenige, was unser Leib in Kraft setzt, indem er seine Bewegungsglieder und was damit zusammenhängt gebraucht, er­weist sich als von ganz anderer Organisation als die Hauptesorgani­sation. Es erweist sich die Gliedmaßennatur des Menschen als diejenige Organisation, welche - im Gegensatz zum Haupte, das, wie ich es charakterisiert habe, in fortwährendem teilweisen Sterben ist -, fort­während in geistigem Geborenwerden, in fortwährender Erhöhung und Fortentwickelung des Lebens ist. So erlebt man auf der einen Seite durch die Hauptesorganisation ein fortwährendes Absterben, auf der

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anderen Seite in der Willensnatur, in dem zweiten übersinnlichen Glied der Menschenwesenheit, ein fortwährendes Fortsetzen des Geboren­werdens. Und aus diesem Fortsetzen des Geborenwerdens, aus dieser Erhöhung des Lebens, die aus unserem ganzen Menschen kommen muß, da strahlt uns wieder zurück die wahre, jetzt höhere übersinnliche Natur des Ich und durchsetzt uns dasjenige, was wir hineingepragt haben in den Leib. Unser Ich steht wie aus einem Grabe des teilweise absterbenden Hauptes immer von neuem auf. Das ist dasjenige, was man in sich erleben kann durch eine entsprechende Ausbildung des Seelenlebens, dieses fortwährende Wirken von Sterben und Geboren-werden. Und man lernt erkennen, daß wir nicht nur im Anfange unse­res Lebens geboren werden und am Ende unseres Lebens sterben, son­dern daß in Sterben und Geborenwerden sich Kräfte ausdrücken, die durch unser ganzes Leben mit unserer Organisation gehen.

Dann, wenn man so durch Intuition und Inspiration zur Erfassung des übersinnlichen Menschen aufgestiegen ist, dann erst ist man in der Lage, nun wirklich die Entwickelung der Menschheit selber kennen­zulernen. Denn indem man sich so entwickelt zu solcher Schauung, gehen einem die Kräfte auf, die sich aus der Kopfnatur und aus der übrigen Leibesnatur zusammenschließen, um das geschichtliche Leben der Menschheit, um die geschichtliche Entwickelung der Menschheit jetzt nach ihren innerlichen Kräften zu verfolgen. Wie wird von dem gewöhnlichen Bewußtsein der Gegenwart diese geschichtliche Entwicke­lung der Menschheit eigentlich immer beobachtet? Wenn man absieht von demjenigen, was auf elementarer Stufe der Menschheitsentwicke­lung aus ursprünglicher Menschheitsanschauung heraus geglaubt wor­den ist, was heute für kindlich gehalten wird, daß ein Geist in der Geschichte waltet -, wenn man davon absieht, kann man sagen, daß heute der Mensch die Geschichte, das heißt die Entwickelung der Menschheit, doch nur betrachtet wie eine Summe von Tatsachen, die er sich zusammensucht aus den Dokumenten in den Archiven, aus der Überlieferung, die er dann höchstens durchsetzt mit dem gewöhnlichen kombinierenden Denken. Zu diesen geschichtlichen Tatsachen, die man ja auch als Geistesforscher selbstverständlich aus der äußeren Geschichte entnehmen muß, zu diesen geschichtlichen Tatsachen gesellt sich hinzu,

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indem man erst die übersinnliche Menschenwesenheit so erkannt hat, wie ich es eben auseinandergesetzt habe, die Fähigkeit, hineinzuschauen in den Geistesgang von höheren übersinnlichen Wesen, die durch die geschichtliche Entwickelung gehen.

Man lernt das, was man sonst in dieser Menschheitsentwickelung nur äußerlich anschaut, innerlich kennen. Und ich will, um nicht abstrakt im allgemeinen herumzureden, von einer besonderen Tatsache sprechen, um Ihnen gewissermaßen symptomatologisch diese Entwickelung der Menschheitsgeschichte darzustellen. Dasjenige, was äußerlich als Ge­schichte dargestellt wird, ist ja heute, gerade weil der Mensch in seiner Anschauung nur auf Materielles angewiesen ist, im Grunde genommen eine fable convenue, eben nur eine Schilderung des Äußerlichen. Der­jenige, der innerlich anzuschauen vermag, was die Tatsachen zusam­menhält, der kommt, zunächst rückschreitend betrachtend unsere geschichtliche Entwickelung, merkwürdigerweise im fünfzehnten Jahr­hundert, ungefähr um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, zu einem Knotenpunkte in der Entwickelung der neueren Menschheit. Diese Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts zeigt uns auf mannigfal­tigen Gebieten, daß da etwas wie ein Sprung wirkt in der menschheit­lichen Entwickelung. Wir wissen ja, daß auch in der Natur selber solche sprunghafte Entwickelung stattfindet. Wenn wir die sich entwickelnde Pflanze anschauen, wie sich das grüne Laubblatt entwickelt, wie sich der Kelch entwickelt, wie er übergeht in das farbige Blumenblatt, es ist eine sprunghafte, wenn auch stetige Entwickelung vom grünen Laub-blatt zum farbigen Blumenblatt. Ein solcher Sprung in der Entwicke­lung, den man nur nicht bemerkt, wenn man die geschichtlichen Tat­sachen nur äußerlich anschaut, ein solcher Sprung in der Entwickelung der Menschheit liegt in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Da beginnt nämlich in dieser menschlichen Entwickelung etwas sich geltend zu machen, was die Seelen der Menschen zu einer ganz anderen Stufe der Entwickelung hebt, als sie iin früheren Zeitalter vorhanden war. Gewiß, auch frühere Zeitalter, frühere Epochen der Menschheitsent­wickelung hatten wiederum in ihrer Art dasjenige, was sie zu gewissen Zeiten auf eine Höhe brachte, aber sie unterscheiden sich in bezug auf die innere Verfassung der menschlichen Seele von dem, was diese

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menschliche Seele durchrnacht seit der Mitte des fünfzehnten Jahr­hunderts.

Und mit dieser Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts schließt inner­lich geschichtlich eine Menschheits-Entwickelungsepoche ab, welche für den geisteswissenschaftlichen Betrachter der Geschichte eigentlich be­ginnt im achten vorchristlichen Jahrhundert, ungefähr mit der Grün­dung des römischen Reiches. Derjenige, der geisteswissenschaftlich die Geschichte betrachtet, der findet, daß eine fortlaufende Seelenentwicke­lung durch die Jahrhunderte hindurchgeht vom achten Jahrhundert vor der Entstehung des Christentums bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts nach dessen Begründung. Und derjenige, der innerlich betrachtet so etwas wie das Griechentum, wie das alte Römertum, der wird das, was hier geisteswissenschaftlich gesagt wird, gerade voll be­gründet finden. Was sich in dieser Epoche entwickelt, das ist die mensch­liche Seelenverfassung, welche im Menschen vorzugsweise Gemüt und Verstand zur Entwickelung bringt. Das ist ja das Überraschende bei der inneren Geschichtsentwickelung: Wenn man hinter das achte vor-christliche Jahrhundert zurückgeht, dann wirkt in der menschlichen Seele noch nicht dasjenige, was wir heute die Gemütskräfte, die ver­ständige Menschennatur nennen, da ist der Mensch noch mehr mit seiner ganzen Seele hingegeben an die Außenwelt, da löst er sich noch nicht los und denkt verständig über die Dinge nach, da ist er auch mit sei­nen Gemütskräften noch ein Stück Natur. Der Mensch löst sich erst im achten Jahrhundert los und wirkt selbständig innerlich die Verstandes-und Gemütskräfte aus. Und im Grunde genommen ist diese ganze Ge­schichtsentwickelung vom achten vorchristlichen Jahrhundert bis zum vierzehnten nachchristlichen Jahrhundert eine Entfaltung derjenigen Kräfte, die in der Menschheit mit Bezug auf die Seelenentwickelung nach und nach herausbringen aus dem innersten Wesen des Menschen, wie es veranlagt ist, Verstandes- und Gemütsbildung. Aber diese Ver­standes- und Gemütsbildung hat für diese ganze Epoche etwas In-stinktives. Verstand und Gemüt wirken da noch instinktiv. Und es ist über die Menschheit gekommen, daß in der Mitte des fünfzehnten Jahr­hunderts das, was früher im Verstand und im Gemüte mehr instinktiv gewirkt hat, einen bewußten, einen vollbewußten Charakter annimmt,

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daß der Mensch seither noch stärker sich vereinsamt fühlt als früher gegenüber der äußeren Natur, daß er sich gewissermaßen zurückziehen muß von der äußeren Natur, wenn er bewußt verständig nachdenken will; wenn er seine Gemütskräfte, dasjenige, was er als Sympathie und Antipathie instinktiv erlebt, bewußt erleben will. Alles geht ins Be­wußte über.

Daher kann man auf dem Boden der Geisteswissenschaft sagen:

Während sich in früheren Epochen das instinktiv-verständige Leben, das instinktive Gemütsleben ausbildete, hat sich seit der Mitte des fünf­zehnten Jahrhunderts das ausgebildet im Menschen, was man die Be­wußtseinsseele nennen kann. Diese Entwickelung der Bewußtseinsseele ist etwas, was noch lange, lange Zeit in der Menschheitsentwickelung walten wird. Wir stehen im Grunde genommen als Menschheit erst im Anfange dieser Bewußtseinsseelenentwickelung. Und daß der Mensch seit jener Zeit seine Bewußtseinsseele entwickelt, das brachte uns ge­rade die großen Fortschritte des naturwissenschaftlichen Denkens her­auf.

So groß Plato war, so groß Aristoteles war, das naturwissenschaft­liche Denken hatten sie nicht. Zu diesem naturwissenschaftlichen Denken ist jene bewußte Loslösung des menschlichen Innern von der Natur notwendig, die erst mit dem Auftreten der Bewußtseinsseele in der Menschheitsentwickelung heraufkam. Daher hängt unsere naturwissen­schaftliche Entwickelung mit einer Epoche der Menschheitsentwickelung überhaupt zusammen. Die ganze Menschheitsentwickelung ist, wie das auch einstens Lessing so schön ausdrückte - man fasse nun das Wort auf, wie man will -, eine Art «Erziehung der Menschheit». Die Erziehung der Menschheit seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts umfaßt die Erziehung der Bewußtseinsseele, und diese Bewußtseinsseele hat die eigentliche naturwissenschaftliche Weltanschauung heraufgebracht. Das ist innerlich verstanden ein Stück Menschheitsentwickelung. Und man versteht das, was in die Epoche vom achten vorchristlichen Jahrhun­dert bis zur Mitte des fünfzehnten nachchristlichen Jahrhunderts hin­einfällt, nur vollständig, wenn man es so innerlich vom Gesichtspunkte der menschlichen Seelenentwickelung betrachtet. Denn in das erste Drittel dieser Epoche fällt die Begründung des Christentums. Und

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diese Begründung des Christentums erkennt auch der Geisteswissen­schafter als das größte Ereignis, das in der menschlichen Erdenent­wickelung überhaupt vor sich gegangen ist. Gerade der Geisteswissen­schafter, der so hineinschaut in das Innere der menschlichen Seelenent­wickelung durch die Jahrhunderte, erkennt, wie in dem ersten Drittel jener Epoche, die ich als die der Entwickelung der Verstandes- und Gemütskräfte geschildert habe, noch etwas aus uralten Menschheits­zeiten, in denen es in höchstem Maße, aber aus unterbewußten Seelen-kräften da war, nachwirkt, wodurch sich der Mensch fühlt wie ein Stück der ganzen Natur, wie ein Stück der äußeren natürlichen Wirk­lichkeit. Da fiel hinein in die menschliche Entwickelung dasjenige Er­eignis, das man nie versteht, wenn man es bloß aus der materiellen Entwickelung der geschichtlichen Tatsachen heraus verstehen will -, da fiel hinein in die menschheitliche Entwickelung das Ereignis von Gol­gatha. Da fiel hinein in die Menschheitsentwickelung die Befruchtung dieser Menschheitsentwickelung mit einem übersinnlichen Elemente, das aus Weltenhöhen sich verband mit der Menschheitsentwickelung, und das diese Menschennatur vorbereitete, nun immer bewußter und be­wußter, immer innerlicher und innerlicher zu werden. Zunächst fiel in eine Art noch instinktiver Verstandes- und Gemütstätigkeit hinein das, was auf Golgatha geschah, fiel hinein die Menschwerdung des Christus. Und es dauerte durch die letzten zwei Drittel dieser Epoche, daß sich noch in diese mehr unbewußten, in diese mehr instinktiven Verstandes-und Gemütskräfte diejenige Kraft hineinergoß, die für die Menschheit von dem Ereignis von Golgatha ausgegangen ist. Dann kam seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die bewußte Seelenentwickelung des Menschen und damit die naturwissenschaftliche Epoche, die Hin-lenkung des Menschen auf die äußeren Ereignisse der Naturerschei­nungen.

Es war das zunächst diejenige Epoche, in welcher gegenüber dem bewußten Leben mehr zurücktrat die frühere Verbundenheit mit dem Geiste, mit dem Übersinnlichen der Welt. Dieses Geistige, das der Mensch früher, in uralten Zeiten, in den Weltenerscheinungen selber wie instinktiv wahrgenommen hat, es quoll auf in seinem Inneren da­durch, daß das Christus-Wesen sich verbunden hatte mit der Menschheitsentwickelung.

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Aber es fiel dieses Aufquellen auch hinein in die­jenige Zeit der Menschheitsentwickelung, in der, wie ich dargestellt habe, der Mensch immer bewußter und bewußter und eben dadurch immer äußerlicher und äußerlicher wurde. Und so kam es, daß gerade in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele, in diesem Zeitalter der be­wußten Verstandes- und ßemütsentwickelung zwar der Christus-Keim in den menschlichen Seelen wirkte, daß die Menschheit aber zunächst, nur zunächst, gerade in dem Sinn immer bewußter und bewußter wurde, daß sie dasjenige, was geistig in ihr lebte, den übersinnlichen Menschen in ihrem Bewußtsein zurücktreten ließ. Dadurch kam es auch, daß man immer weniger und weniger verstand dasjenige, was sich doch auf übersinnliche Art mit dieser Menschheitsentwickelung verbunden hatte, das Ereignis von Golgatha. Und das neunzehnte Jahrhundert hat es in dieser Beziehung auf einen Höhepunkt gebracht. Das neunzehnte Jahrhundert hat es dazu gebracht, bei einem großen Teil auch der gläubigen Menschheit, dieses Ereignis von Golgatha des übersinnlichen Charakters zu entkleiden. Es hat gewissermaßen dieses neunzehnte Jahrhundert bei einem großen Teil auch der gläubigen Menschheit das Ereignis von Golgatha in die Welt der äußerlichen Tatsachen gerückt. Aus dem Träger des Christus, dem Jesus, wurde der «schlichte Mann aus Nazareth», wurde diejenige Wesenheit, die nichts anderes ist als eine etwas höher entwickelte Menschenwesenheit. Das kam nur davon her, weil in der Entwickelung der Bewußtseinsseele den Menschen verloren ging das Verständnis für Übersinnliches auch in der geschichtlichen Welt. Das Christentum wurde mit der Jesus-auffassung als des schlichten Mannes von Nazareth vermaterialisiert; und wir haben heute nicht bloß einen Materialismus der Naturwissen­schaft, wir haben heute in weiten Kreisen einen Materialismus des Glaubens.

Wir sind aber in diesem Zeitalter der Menschheitsentwickelung, das angebrochen ist mit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, auch angekommen vor der Notwendigkeit, zum Geiste wieder aufzusteigen. Und dasjenige, was ich Ihnen heute und vorgestern hier entwickelt habe, das soll der Weg der neueren Menschheit werden, um zum Geiste wieder aufzusteigen, um wiederum hinter der sinnlichen Welt und

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hinter den äußerlich historischen Tatsachen zu finden die übersinnlichen Erkenntnisse und Erscheinungen. Dadurch wird auch wiederum ge­funden werden die übersinnliche Natur des Ereignisses von Golgatha. Dadurch wird das Ereignis von Golgatha als ein solcher Einschnitt in der Gesamtentwickelung der Menschheit auftreten, daß es in dieser Gestalt nun wirklich übergehen kann in die Erkenntnis der ganzen Menschheit der Erde, daß es universelle Überzeugung werden kann. Aus den Grenzen des Konfessionellen, selbst aus den Grenzen der Reli­gionsunterschiede über die Erde hin kann, bei neuerlichem Auftreten übersinnlichen Erkennens, das Ereignis von Golgatha, das dann jeder Sonderheit entkleidet ist, zum Gemeingut in bezug auf die Erkenntnis der ganzen Menschheit werden. Dann wird in diesem Mysterium von Golgatha innerhalb der Menschheitsentwickelung etwas gesehen wer­den, was eine Grundtatsache von übersinnlicher Natur in dieser ganzen Menschheitsentwickelung ist. Dann wird man nicht von dem eng­herzigen Standpunkte, von dem aus heute noch manche Konfessionen den Christus anschauen und aus dem sie nicht in das wahre Geheimnis hinausschauen können, weil auch der heutige Glaube vermaterialisiert ist -, dann wird man über diesen Standpunkt hinaus ein neues Ver­ständnis finden dieses größten, dieses intensivsten Impulses in der Ent­wickelung der Menschheitsgeschichte.

Das soll Ihnen zeigen, wie Geisteswissenschaft nicht dazu führt, den Menschen das zu nehmen, was man auch hinstellen will als das Ergeb­nis des bloßen «schlichten Glaubens». Nein, Geisteswissenschaft will, so wie es der Sehnsucht des heutigen Menschen entspricht, der sich immer weniger und weniger, wenn er ehrlich mit seinem Innern sein will, wird mit dem schlichten Glauben begnügen können, Geisteswis­senschaft will gerade aus den höchsten Erkenntnissen das intensivste Ereignis der Menschheitsentwickelung vor diese Menschheit hinstellen. Dies mußte einmal als etwas, was zur Geisteswissenschaft gehört, auch hier ausgesprochen werden. Und hingedeutet mußte werden auf das­jenige, was die Menschheit braucht über die ganze Erde, indem sie sich ganz in das Bewußtseinszeitalter hineinlebt, wo der Mensch auf seine eigene Persönlichkeit, seine persönliche Einsamkeit gestellt ist. Da sich die Menschheit immer mehr und mehr spaltet, immer mehr und mehr

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disharmonisiert, mußte hingedeutet werden auf dasjenige, was diese Menschheit braucht, um sich wiederum zu einigen: Das wird eine neue Erkenntnis des Mittelpunktereignisses der Menschheitsentwickelung sein.

Nichts nimmt Geisteswissenschaft dem Menschen, wohl aber gibt sie ihm, was er gerade für sein heutiges Bewußtsein braucht. Und wenn sich etwa der sogenannte gesunde Menschenverstand solchen Lehren, solchen Anschauungen der anthroposophisch orientierten Geisteswissen­schaft gegenüber beklagen wollte, so muß diesem gesunden Menschen­verstand gesagt werden, er solle nur ganz gesund werden und die Illu­sionen ablegen, mit denen ihn die bloß äußerlichen, materiellen Er­kenntnisse der Naturwissenschaft umnebelt haben. Er solle sich auf sich selbst besinnen, dann wird er zu einer merkwürdigen Entdeckung ge­rade des heutigen menschlichen Seelenlebens kommen. Er wird hören, was ihm die Naturwissenschaft aus guten, aus streng methodischen Quellen heraus sagt über die Entwickelung des äußerlich Leiblichen. Aber er wird gerade als gesunder Menschenverstand nicht begreifen, wie das menschliche Leben, so wie es ihm entgegentritt, eigentlich er-schöpft sein soll mit dem, was ihm die Naturwissenschaft sagen kann. Und dann wird er gerade finden, daß, wenn er, dieser Menschenver­stand, recht gesund das verfolgt, was Geisteswissenschaft zu sagen hat, wenn er, was sie zu sagen hat, mit dem Leben vergleicht, dann wird er gerade finden, daß er krank werden muß über den Widersprüchen, die sich immer aus den Illusionen des Lebens heraus durch den Materialis­mus ergeben, daß das wahre Verhältnis zur Wirklichkeit nur wieder­gefunden werden wird, wenn er hinweisen wird durch geistige For­schung auf den übersinnlichen Menschen und auf die übersinnliche Welt, in der sich der Mensch und die Menschheit entwickelt. Und hat man auf diese Art die Möglichkeit gewonnen, mit einer solchen über­sinnlichen Erkenntnis einzudringen in das geschichtliche Leben, stellt sich einem die jetzige Epoche der Welt- beziehungsweise Menschheitsentwickelung so vor Augen - es ist heute nicht die Zeit, über die ganze Erdenentwickelung weiter ausgedehnt zu sprechen, darüber können Sie nachlesen in meiner «Geheimwissenschaft» -, dann ist man reif gewor­den dazu, auch diejenige Erkenntnis sich zu erringen, von der gerade

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aus einem viel bewunderten gesunden Menschenverstand innerhalb der deutschen Geistesentwickelung Lessing gesprochen hat in seiner «Erzie­hung des Menschengeschlechts». Dann ist man fähig, zu erkennen, wie das menschliche Leben innerhalb dieser Geistesentwickelung abläuft in wiederholten Erdenleben. Dann ist man fähig, zu erkennen, wie der Mensch in bezug auf sein ganzes Leben abwechselt zwischen solchen Leben, die er hier im physischen Erdenleibe durchlebt, und anderen Leben, die er durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in den übersinnlichen Welten, die mit unserer Welt verbunden sind durch das, was auch die geschichtliche Entwickelung als Geist durchwallt und durchlebt. Dann findet man ganz im Sinne Lessings, daß der Mensch, der in immer erneuten Erdenleben auftritt, selber trägt, was sich hin­überentwickelt aus einer Epoche in die andere. Diese Erkenntnis von den wiederholten Erdenleben, sie kann nicht auf die gewöhnliche Weise eine Theorie werden. Sie wird nur errungen, dann aber als eine Tat­sache des höheren, des übersinnlichen Menschenwesens errungen, wenn man sich fähig gemacht hat, einzudringen auch in den Geist der Mensch­heitsentwickelung, wie ich das angedeutet habe.

So will sich heute in unsere geistige Gegenwartskultur eine neue Er­kenntnis des Geisteslebens hineinstellen, eine Erkenntnis, die den Geist wieder finden lassen will für die Menschheit innerhalb unserer mate­rialistischen Welt. Diese materialistische Gesinnung, die heute die Menschheit durchzieht, sie ist es ja im wesentlichen auch, welche den Menschen der wirklichen Geistesschau innerlich so fremd gemacht hat, daß er nicht mehr den Mut hat, sich hineinzustürzen in diese Geistes-schau, und daß er sich dabei beruhigt, der einzige Weg ins Geistige könnte der des schlichten Bekenntnisses sein, das sich nur auf den äußeren Bibelbuchstaben stützt. Beides, dieses schlichte Bekenntnis und der Materialismus unserer Zeit, sie hängen innig zusammen. Denn in jenen Zeiten, als es noch keinen Materialismus gegeben hat, gab es auch nicht das halsstarrige Pochen auf das schlichte Bekenntnis. Und in den Zeiten, in denen das Christentum entstanden ist, ist doch die Lehre von dem Christus Jesus hervorgegangen aus hoch entwickelter, aber im alten Stile gehaltener Geistesschau. Diese alte Geistesschau kann nicht die des modernen Menschen sein. Der moderne Mensch muß die Gei­stesschau

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erringen auf die Weise, wie ich es versuchte, hier zu schildern. Und wer kennenlernt, was heute auf dem Grunde der Seele lebt, wovon die Menschen durchdrungen sind, was sie aber im Grunde ge­nommen noch nicht voll wissen, was unbewußt, manchmal krankhaft hinaufspielt in ihr bewußtes Seelenleben, so daß sie es als innere Un­ruhe empfinden, als seelische Krankhaftigkeit, aber sich nicht darüber aufklären können, der findet: Das ist das Streben nach dieser neuen Geistigkeit. Wahrhaftig nicht soll hier in unbescheidener Weise etwa darauf aufmerksam gemacht oder behauptet werden, daß dasjenige, was ich hier vortrage als Geisteswissenschaft, als Anthroposophie, das einzige wäre, was gegenwärtig zu geschehen habe auf dem Geisteswege. Das hier Gemeinte ist eben ein schwacher Versuch. Und gerade der­jenige, der in bescheidener Weise einen solchen schwachen Versuch ver­tritt, aber ihn so vertritt, daß er weiß, er kommt aus den innersten Sehnsuchten der Zeit heraus, der weiß auch, daß an immer mehr und mehr Orten diejenigen aufstehen werden, welche diesen Versuch, auf die Wege der Geistesschau sich zu begeben, machen werden, und ver­künden werden die Möglichkeit, wiederum aufzusteigen zum Leben mit dem übersinnlichen Menschen in der übersinnlichen Welt.

Aber Sie sehen auch, ich kann ja, wenn ich über Anthroposophie vortrage, niemand ersparen, daß er zunächst das Gefühl einer ge­wissen Unverständlichkeit, Schwerverständlichkeit hat. Sie sehen auch, daß es nicht ein Herunterdämpfen ist des klaren Denkens oder ein Herunterdämpfen des im Leben praktisch wirkenden Willens, sondern daß es im Gegenteil eine Steigerung des Denkens, eine Steigerung des Willens ist, was in diese geistigen Welten hineinführt. Dazu bringen viele in der Gegenwart noch nicht den inneren Mut auf. Daher betrach­ten sie diese Anthroposophie und sagen: Das Streben ist ja schön, aber da erzählen uns die Leute aus der Anthroposophie heraus allerlei über geistige Menschheitsentwickelungen, sogar über kosmische Tatsachen geistiger Natur. Und dann nennen solche Leute, indem sie die An­throposophie so äußerlich betrachten, diese ein «krauses Zeug» und so weiter, wie das vor einiger Zeit hier in Stuttgart bezeichnet worden ist, was Anthroposophie als wirklich übersinnliche Tatsachenwelt zu der sinnlichen Tatsachenwelt hinzufügt. Aber es wird stets ein sinnloses,

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dumpfes Ahnen der geistigen Welt bleiben, wenn nicht gerade durch ein, ich möchte sagen, mathematisch klares Denken und durch einen lichtvollen, von der Selbsterziehung durchsetzten Willen, von der übersinnlichen Welt nicht Phrasen gemacht, sondern wirkliche Tat­sachen aus dieser übersinnlichen Welt herausgeholt werden. Diese Tat­sachen braucht die gegenwärtige Menschheit.

Ich habe Ihnen von dieser Sehnsucht gesprochen. Aus dieser Sehn­sucht heraus hat sich ja gerade im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts ein wahres Zerrbild übersinnlichen Strebens entwickelt. Man kannte nur das materialistische Streben, aber man bekam gerade innerhalb dieses materialistischen Strebens die Sehnsucht nach dem Geiste. Daher ergab man sich einem solchen Geistessuchen, das nachgebildet war der materiellen Forschung im Leben, man ergab sich der Karikatur der Geistesforschung, dem Spiritismus, der nichts anderes ist als ein mate­rielles Suchen nach dem, was nimmermehr materiell sein kann, nach dem Geiste. Was im Spiritismus krankhaft auftritt als Karikatur des Geistessuchens, das ist, wie Sie sehen, dasjenige, was in gesunder Weise, aber nur durch eine klare Fortentwickelung dessen, was im Menschen schon veranlagt ist, durch die anthroposophisch orientierte Geistes­wissenschaft gesucht werden soll.

So erscheint im besten Sinne des Wortes anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft als ein Versuch - wie gesagt, in aller Bescheidenheit soll das ausgesprochen werden -, die Erkenntnisse von der geistigen Welt, von dem übersinnlichen Menschen und seiner Entwickelung hin-einzustellen in die Zeit der so hervorragenden, großen, äußerlichen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Und erst dann, wenn diese natur-wissenschaftlichen Erkenntnisse ergänzt sein werden durch die Erkennt­nisse der Geistesschau, wird der moderne Mensch über sein Wesen sich so aufklären, wie es eigentlich seiner innersten Sehnsucht entspricht. Daher muß Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, schon auch von sich abschütteln alle diejenigen Vorwürfe, die von mancher auch gut meinenden Seite herkommen.

Da möchte ich zum Schlusse auf eines aufmerksam machen. Selbst diejenigen, die diese Geisteswissenschaft nicht ablehnen wollen, sie neh­men es einem übel, daß man vor großen Menschenmassen heute von

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diesem spricht, was sie «die geistigen Geheimriisse» nennen, und was sie nur für enge, sektiererische Zirkel bewahren wollen. Oh, man weiß ganz gut, daß dieses Hintreten vor große Menschenmassen heute eine heilige Zeitenpflicht ist. Daher darf man nicht hören auf Vorwürfe wie diesen, der neulich gemacht worden ist: Es ist eine Unmöglichkeit, vor einem großstädtischen Publikum - so lautet dieser Vorwurf - von kos­mischen Dingen zu reden, wie es Dr. Steiner tut; was da fehlt, das ist der Meister des geistigen Handwerks, der jeden unerbittlich aus seiner Nähe verbannt, der nicht rechtzeitig zu schweigen versteht; was fehlt, ist eine Lehre, die zwischen Profanen und Geweihten wirklich, nicht nur in Redensarten, zu unterscheiden weiß. - Diesem Vorwurf gegen­über muß geltend gemacht werden, daß wir heute auch geistig in das demokratische Zeitalter eingetreten sind, und daß es heute eine Ver­sündigung an der Menschheit ist, diesen Unterschied machen zu wollen zwischen Profanen und Geweihten. Es hat derjenige, der eindringen kann durch sein Schicksal in die geistigen Welten, die Verpflichtung, zum gesunden Menschenverstand im weitesten Umfange zu sprechen, so daß dieser gesunde Menschenverstand den Weg in die geistigen Wel­ten wieder findet.

Wenn das auch eine Zeitenpflicht ist ganz im allgemeinen, eine Ver­pflichtung gegenüber der ganzen Erdenmenschheit, so ist es noch eine besondere Verpflichtung innerhalb desjenigen Gebietes, in dem wir jetzt leben, innerhalb des mitteleuropäischen Gebietes. Wer wie derjenige, der heute zu Ihnen spricht, seit vielen Jahrzehnten sich hineinvertieft hat in das, was deutsches Geistesleben - ich habe heute schon etwas bei Lessing angedeutet - auch schon an Anfängen für eine neue Geistes-erkenntnis getan hat in Lessing, Herder, Goethe, Schiller, in den deut­schen Philosophen, der weiß, daß die Vertiefung in dieses Geistesleben, wenn man sie so treibt, daß man die Kräfte, mit denen Goethe, Schil­ler und die anderen suchten, zu seinen eigenen Suchenskräften macht, daß dieses Geistesleben in gerader Linie in dasjenige hineinführt, wo­von ich Ihnen heute und vorgestern gesprochen habe. Und wir brauchen in Mitteleuropa nichts anderes, um die furchtbare materialistische Ent­wickelung der letzten Zeit zu überwinden, als uns wiederum zu be­sinnen auf das, was seinem Anfange nach schon liegt in unserem großen

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deutschen Zeitalter. Dann werden wir in naturgemäßer Art zu dem kommen, was hier anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft genannt wird. Deshalb durfte auch der Bau, der als eine Hochschule für diese Geisteswissenschaft gedacht ist, der Bau in Dornach, er durfte gerade in dieser Zeit, in der man von überallher deutsches Wesen so wenig schätzt, sich «Goetheanum> nennen. «Goetheanum» als ein Wahrzeichen dafür, daß vom Gesichtspunkte des Geistes deutsches Wesen als Goetheanismus vor die ganze Welt kühnlich sich hinstellen will.

Und ich weiß, daß nichts gegen Goethe getan wird, wenn gerade die denkerische und schauende Gesinnung, von der heute und vorgestern zu Ihnen gesprochen wurde, um an ein Historisches anzuknüpfen, Goetheanismus genannt wird. Mag uns äußerlich noch soviel genom­men werden, mag die Welt heute auch die Macht haben, uns in die bitterste Not und ins bitterste Elend äußerlich zu bringen, das kann sie uns nicht nehmen, was verbunden ist mit den besten deutschen Kräften, wenn wir uns nur selber mit diesen besten deutschen Kräften verbinden wollen. Dann aber, wenn man das will, dann erhält man selbst in die­ser finsteren und traurigen Zeit eine Hoffnung, gerade die Hoffnung auf die Wiedererweckung eines Geisteslebens der Menschheit in neuer Form, zu der wir vielleicht gerade in der tiefsten Not und im tiefsten Elend berufen sind.

Man wird fortsetzen können, was die materialistische Zeit in die neuere Menschheitsentwickelung hineingebracht hat, dann wird man sich vom Geiste immer weiter entfernen, dann wird man sich immer mehr und mehr mit der Materie verbinden, oder man wird sich heute besinnen können auf den übersinnlichen Menschen und diesen in sich entwickeln. Dann wird man das, was in der materialistischen natur-wissenschaftlichen Anschauung zu einer schwindelnden Höhe gediehen ist, ergänzen durch eine echte Geistesschau. Und diese Geistesschau wird dann wie die Seele der äußeren natürlichen Weltanschauung sein. Diese beiden Wege: in materiellem Erkennen zu verweilen und die Menschheit weiter in Chaos und Elend hineinzubringen, oder die wahrste, innerste Menschennatur herauszuholen aus dem übersinnlichen Menschen und der übersinnlichen Welt - diese beiden Wege eröffnen

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sich heute der Menschheitsentwickelung. Der eine, der materialistische Weg, oh, er zeigt sich in dem, was er als Welle an die Oberfläche wirft. Da sieht die äußere Wissenschaft wahrhaftig recht ungenau, indem sie nur die äußere Verstandeslogik verfolgt, nicht sich finden kann zu der inneren Logik der Tatsachen. Ich will nur eine solche Tatsache vor Sie hinstellen.

Da haben wir in der Gegenwart, so recht aus der materialistischen Gesinnung heraus geboren, eine philosophische Ansicht. Avenarjus und Mach haben sie vertreten. Es ist die Anschauung, daß der Mensch eigentlich nichts anderes in seine Erfahrungswelt hereinbringen kann als das, was er in der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung, in dem ge­wöhnlichen Bewußtsein aufnimmt. Gerade diese beiden genannten Männer haben in einer philosophisch geistreichen Weise ausgedrückt, was materialistische Gesinnung ist. Man kann dem, was sie in einer hingebungsvollen Weise ausgedrückt haben, nachgehen, dann wird man gegenüber dem, was der Verstand dieser Leute geleistet hat, großen Respekt bekommen. Und bleibt man innerhalb der gewöhn­lichen Anschauung stehen, dann wird man eben solche Philosophen wie Avenarius und Mach als einzelne philosophische Erscheinungen hinnehmen. Bleibt man bei dieser gewöhnlichen Anschauung nicht stehen, lernt man erkennen die inneren Impulse solcher Weltanschau­ungen, oh, dann sieht man, dann muß man den Blick wenden von die­sen Weltanschauungen zu dem, was sie auf geheimnisvolle Weise im Leben wirken. Und dann kommt man zu jenem merkwürdigen Zu­sammenhang, der da besteht zwischen diesen Weltanschauungen und dem, was als Niedergangserscheinung der heutigen europäischen Kul­tur vom Osten, von Rußland, vom Bolschewismus droht. Dann lernt man erkennen, daß der Bolschewismus im praktischen Leben die letzte Konsequenz solcher Weltanschauungen ist. Das wird noch bestätigt durch die Tatsache, die ja besteht, daß die Avenarius'sche und Machsche Philosophie die Staatsphilosophie der Bolschewisten ist.

Sehen Sie, diese Zusammenhänge erkennt heute nur derjenige, der in den Geist der Dinge hineindringt, der sich hinwegsetzen kann über das Geplärre der heutigen Parteimeinungen. Die heutigen Parteimeinungen ziehen ja doch alles in den Staub hinab, was gerade heute zum Heil der

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Menschheit ausgesprochen werden muß. Diese Tatsachenlogik, die ich Ihnen jetzt vorgeführt habe, die ist für den heutigen Menschen wich­tiger als alle spintisierende, sophistische Logik, die allerdings niemals aus dem Avenarius und Mach einen Bolschewismus ableiten wird. Die Tatsachen tun es. Und wollen Sie die Ursprünge der heute die Zivili­sation verwüstenden Taten innerhalb der zivilisierten Welt verstehen, dann schauen Sie in die Philosophien der letzten Jahrzehnte, in die Philosophien der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hinein, dann werden Sie noch mehr bekräftigt finden, daß wir heute zwei Wege vor uns haben, den einen Weg, der fortsetzt die materialistische Betrachtungsweise, wenn sie auch noch so logisch verfeinert wird wie von Avenarius und Mach, und denjenigen Weg, der hier gekennzeichnet worden ist, der wieder in den Geist hinein will. Würde der erste Weg von jetzt ab immer weiter beschritten werden, dann würden wir über das euro­päische Geistesleben ausgießen eine Mechanisierung des Geistes, eine Vegetarisierung der Seelen und eine Animalisierung der Leiber. Das ist es aber auch, was den Menschen heute droht. Durchdringen sich die Menschen ganz mit der westlichen Mechanisierung des Geistes, dann wird sich verbinden mit dieser westlichen Mechanisierung des Geistes die östliche Animalisierung, das heißt die Entstehung von sozialen Forderungen bloß in Form animalischer Instinkte und wüster Triebe. Beides hängt zusammen. In der Mitte steckt die Vegetarisierung, das heißt die Schläfrigkeit des Seelenlebens, das nicht erweckt werden will durch das Betreten des Geistweges. Das ist die eine Perspektive, die da ist. Die Menschheit wird sich zu entscheiden haben, ob sie ein­treten will in diese Perspektive zur Mechanisierung des Geistes, zur Vegetarisierung der Seele und zur Animalisierung des Leibes, oder ob sie den anderen Weg betreten will. In Not und Elend werden wir uns wohl zu dem anderen Wege bequemen können. Und dieser andere Weg wird uns, trotzdem die anderen die Macht haben, nicht verlegt werden können, der Weg des Geistes.

Wir müssen ihn nur betreten wollen. Wir müssen unseren Geist nur freihalten wollen selbst gegenüber der Knechtschaft unserer Leiber. Wir werden uns nur entschließen müssen, aus den Gefühlen und Emp­findungen,

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die uns durch das Bewußtsein vom übersinnlichen Menschen und der übersinnlichen Welt werden können, uns auf uns selbst zu stellen in geistig-seelischer Beziehung. Dann werden die anderen uns nichts anhaben können. Dann wird sich vielleicht doch das zeigen, was ich mit den Worten aussprechen möchte: Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts haben wir es in Mitteleuropa leider dahin gebracht, die westlichen Völker nachzumachen, auch da, wo in der Zivilisation des Westens kein Grund dazu vorlag. Vielleicht werden wir durch Not und Elend, gerade durch die Macht, die sie über uns haben, den Weg finden, um das nicht aufzunehmen, was wir leider freiwillig aufgenommen haben, da wir es ihnen nachmachten. Jetzt, wo sie uns die Mechanisierung des Geistes durch ihre Macht werden vormachen wollen, da finden wir die Stärke in diesem alten Mitteleuropa, das an große Zeiten anknüpfen kann, da finden wir, mögen wir finden die Stärke, im innersten Men­schen den Weg des Geistes zu gehen. Dann werden wir vermeiden die materialistische Mechanisierung des Geistes und werden zu dem kom­men, was ich versuchte zu charakterisieren schon im Anfang der neun­ziger Jahre in meiner «Philosophie der Freiheit». Dann werden wir durch den befreiten Geist zu einem wirklichen Schauen der geistigen Welt kommen. Dann werden wir den Weg finden, gerade durch den Geist, zur Gleichheit der Menschen. Denn nimmermehr kann nur in der äußeren ökonomischen Ordnung Menschengleichheit sein.

Wenn aber der Mensch sich zu erfassen vermag in seiner übersinnlichen Natur als beseeltes Geistwesen, dann wird er dazu kommen, auch das Recht zu finden, das ihn zum Gleichen unter Gleichen macht. Dann wird er seine Wissenschaft vertiefen; denn aus demjenigen, was ich Ihnen heute angedeutet habe, kann Medizin, kann Rechtswissenschaft, kann Erziehungskunst erst ihre richtigen Quellen schöpfen. Dann wird von derWissenschaft nicht dasjenige ausströmen, was zur Mechanisierung des Geistes führt wie bisher, was zur Ungleichheit der Menschen führt wie bisher, sondern dann wird von dem, was der Geist auf Geisteswegen sucht, volle Geistesfreiheit des Menschen kommen. Dann wird von dem, was der Geist auf Seelenwegen sucht, die menschliche Gleichheit der beseelten Menschen kommen, und dann, wenn der sich selbst als übersinnlichen, als Geistesmensch erfassende Mensch liebend den anderen

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Menschen gegenübersteht, dann wird einziehen in das soziale Leben, weil die Menschen bewußt als geistige Wesen in Liebe mitein­ander verkehren werden, dann wird herrschen in der Menschennatur neben dem befreiten Geiste, neben der andern gleichen Seele die wahre geistdurchdrungene, beseelte, allmenschliche Brüderlichkeit!

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GESCHICHTE DER SOZIALEN BEWEGUNG Studienabend über «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» Stuttgart, 30. Juli 1919

Ich werde heute abend nicht demjenigen vorgreifen, was hier eigentlich eingerichtet werden soll als Studienabende, die auf Grundlage des Buches «Die Kernpunkte der sozialen Frage» abgehalten werden, son­dern ich werde versuchen, Ihnen eine Art von Einleitung zu diesem Abend zu geben. Ich möchte durch diese Einleitung in Ihnen eine Emp­findung davon hervorrufen, aus welchen Gesichtspunkten heraus die­ses Buch geschrieben worden ist. Es ist vor allen Dingen geschrieben worden aus der unmittelbaren Gegenwart heraus, aus der Überzeu­gung, daß auch die soziale Frage durch die Ereignisse der Gegenwart eine neue Gestalt angenommen hat, und daß es notwendig ist, heute über die soziale Frage ganz anders zu reden, als von irgendeiner Seite her vor der Weltkriegskatastrophe über die soziale Frage geredet wor­den ist. Mit diesem Buch ist etwas versucht worden, jetzt in diesem Zeitpunkte der Menschheitsentwickelung, in welchem die soziale Frage ganz besonders dringend wird und in welchem eigentlich jeder Mensch, der heute bewußt mitlebt, der nicht schläfrig und schlafend das Leben der Menschheit mitlebt, etwas wissen sollte über das, was zu geschehen hat im Sinne dessen, was man gewöhnlich die soziale Frage nennt. Da wird es vielleicht zunächst ganz gut sein, wenn wir heute ein bißchen zurückblicken. Ich werde ja dabei vielleicht Dinge zu erwähnen haben - aber wir werden sie dann in ein etwas anderes Licht rücken, als sie gerückt worden sind -, Dinge, welche Ihnen zum Teil bekannt sind.

Sie wissen ja wahrscheinlich, daß man das, was heute zur sozialen Frage vorgebracht wird, seit verhältnismäßig langer Zeit vorbringt. Und es werden ja heute die Namen Proudhon, Fourier, Louis Blanc ge­nannt als die ersten, die bis in die Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein die soziale Frage behandelt haben. Sie wissen ja auch, daß die

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Art, wie diese soziale Frage bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhun­derts hinein behandelt wurde, von den heutigen Vertretern, wenigstens von vielen heutigen Vertretern der sozialen Frage genannt wird «das Zeitalter der sozialen Utopien». Es ist gut, sich klarzumachen, was man eigentlich damit meint, wenn man sagt: In ihrem ersten Stadium trat die soziale Frage so auf, daß sie in diesem Zeitalter der Utopien lebte. Aber man kann über diese Sache nicht im absoluten Sinne reden, son­dern man kann eigentlich nur aus den Empfindungen der Vertreter der sozialen Frage in der Gegenwart reden. Die empfinden so, wie ich es jetzt schildern will. Sie empfinden, daß alle sozialen Fragen, die in dem Zeitalter auftraten, wovon ich zuerst sprechen will, im Stadium der Utopie waren. Und was verstehen die Leute darunter, wenn sie sagen: Die soziale Frage war damals im Stadium der Utopie? Dar­unter verstehen sie folgendes: Saint-Simon, Fourier haben gut bemerkt, daß auch nach der Französischen Revolution Menschen einer gewissen sozialen Minderheit da sind, welche im Besitz der Produktionsmittel und auch anderer menschlicher Güter sind, und daß da eine große An­zahl ist, sogar die Mehrzahl der anderen Menschen, die nicht in solchem Besitze sind, und die an den Produktionsmitteln nur dadurch arbeiten können, daß sie in die Dienste derjenigen treten, die die Produktions­mittel und auch den Boden besitzen, Menschen, welche im Grunde genommen nichts anderes haben als sich selbst und ihre Arbeitskraft. Man hat bemerkt, daß das Leben dieser großen Masse der Menschheit eine Bedrängnis ist, zum großen Teil in Armut verläuft gegenüber den­jenigen, die in der Minderheit sind. Und man hat hingewiesen auf die Lage der Minderheit und auf die Lage der Mehrheit.

Diejenigen, die nun so wie Saint-Simon und Fourier, wie auch noch Proudhon über diese soziale Lage der Menschheit geschrieben haben, die sind von einer gewissen Voraussetzung ausgegangen. Sie sind aus­gegangen von der Voraussetzung, daß man notwendig habe, die Men­schen darauf hinzuweisen: Seht, die große Masse lebt in Elend, in Unfreiheit, in wirtschaftlicher Abhängigkeit, das ist für die große Masse kein menschenwürdiges Dasein. Das muß geändert werden. -Und man hat dann allerlei Mittel ausersonnen, durch welche diese Ungleichheit unter den Menschen geändert werden kann. Aber es war

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immer eine bestimmte Voraussetzung, und diese Voraussetzung war, daß man sich sagte: Wenn man weiß, worinnen die Ungleichheit be­gründet ist, wenn man eindringliche Worte genug hat, wenn man sitt­liches Bewußtsein selbst genug hat, um stark darauf hinzuweisen, daß die große Mehrzahl der Menschen in wirtschaftlicher und rechtlicher Abhängigkeit lebt und arm ist, so wird diese Rede die Herzen, die Seelen der Minderheit, der Begüterten, der begünstigteren Minderheit ergreifen. Und es wird dadurch, daß diese Minderheit einsieht: So kann es nicht bleiben, man muß Änderungen herbeiführen, es muß eine an­dere Gesellschaftsordnung kommen, eine andere Gesellschaftsordnung herbeigeführt werden. - Also die Voraussetzung war die, daß die Menschen sich herbeilassen werden, aus ihrem innersten Seelenantrieb heraus etwas zur Befreiung der großen Masse der Menschheit zu tun. Und dann schlug man vor, was man tun sollte. Und man glaubte, wenn die Minderheit, wenn die Menschen, die die leitenden, führenden Menschen sind, einsehen, daß gut ist, was man tun will, dann wird eine allgemeine Besserung der Lage der Menschheit eintreten.

Es ist sehr viel außerordentlich Gescheites gesagt worden von dieser Seite her, allein alles dasjenige, was in dieser Richtung unternommen worden ist, das empfindet man heute bei den meisten Vertretern der sozialen Frage als utopisch. Das heißt, man rechnet heute nicht mehr darauf, daß man nur zu sagen braucht: So könnte man die Welt ein­richten -, dann hört die wirtschaftliche und politische und rechtliche Ungleichheit der Menschen auf. Es nützt heute nichts, an das Verständ­nis zu appellieren, an die Einsicht der Menschen, die begünstigt sind, die im Vorrecht sind, die im Besitz sind der Produktionsmittel und dergleichen. Wenn ich ausdrücken soll, was da im Laufe der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verloren worden ist, so muß ich sagen, verloren worden ist der Glaube an die Einsicht und an den guten Willen der Menschen. Daher sagen sich die Vertreter der sozialen Frage, wie ich sie jetzt meine: Schöne Pläne ausdenken, wie man die Men­schenwelt einrichten soll, das kann man, aber dabei kommt nichts heraus; denn wenn man noch so schöne Pläne predigt, wenn man mit noch so rührenden Worten appelliert an die Herzen, an die Seelen der regierenden Minderheiten, so wird doch nichts geschehen. Das alles

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sind wertlose Ideen, und wertlose Ideen, welche die Zukunft ausmalen, das sind eben in Wirklichkeit, populär gesprochen, Utopien. Es hat also gar keinen Zweck, so sagt man, irgend etwas auszumalen, was in der Zukunft geschehen soll, denn es wird niemand da sein, der von seinen Interessen losläßt, der ergriffen werden kann in bezug auf sein Gewissen, in bezug auf seine sittliche Einsicht und so weiter. Den Glau­ben an Gewissen und sittliche Einsicht hat man eben in weitesten Krei­sen, namentlich bei den Vertretern der sozialen Frage verloren. Man sagt sich, die Menschen handeln ja gar nicht nach ihrer Einsicht, wenn sie soziale Einrichtungen treffen, oder wenn sie ihr soziales Leben füh­ren, sie handeln nach ihrem Interesse. Und die Besitzenden haben selbstverständlich ein Interesse daran, in ihrem Besitz zu bleiben. Die sozial Bevorrechteten haben ein Interesse an der Erhaltung der sozia­len Vorrechte. Daher ist es eine Illusion, darauf zu rechnen, daß man nur zu sagen braucht, die Leute sollen das oder jenes machen. Sie tun es eben nicht, weil sie nicht aus ihrer Einsicht, sondern aus ihrem Inter­esse heraus handeln.

Im umfassendsten Sinne, so kann man sagen, hat sich nach und nach, aber wirklich erst nach und nach, zu dieser Ansicht Karl Marx bekannt. Man kann in dem Leben von Karl Marx eine ganze Anzahl von Epochen schildern. Marx war in seiner Jugend auch ein idealistischer Denker und hat auch noch in dem Sinn, wie ich es eben charakterisiert habe, an die Realisierbarkeit von Utopien gedacht. Aber er war es gerade, und nach ihm dann auch sein Freund Engels, der in der aller­radikalsten Weise von dieser Rechnung auf die Einsicht der Menschen abgekommen ist. Und wenn ich im allgemeinen etwas charakterisiere, was eigentlich eine große Geschichte ist, so kann ich das Folgende sagen: Karl Marx ist zuletzt zu der Überzeugung gekommen, daß es in der Welt nicht auf eine andere Art besser werden könne als dadurch, daß man jene Menschen aufruft, die nicht ein Interesse daran haben, daß ihre Güter ihnen erhalten bleiben, ihre Vorrechte ihnen erhalten bleiben. Auf diese könne man überhaupt nicht sehen, diese müsse man ganz aus der Rechnung lassen, denn sie werden sich niemals herbei-lassen, irgendwie darauf einzugehen, wenn man ihnen noch so schön predigt. - Dagegen gibt es gerade die große Masse der proletarischen

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Arbeiter, und Karl Marx selbst lebte sich ja in diese Überzeugung hin­ein in der Zeit, als in Mitteleuropa das im Grunde erst entstand, was man heute das Proletariat nennt. Er sah das Proletariat erst aus den anderen Wirtschaftsverhältnissen in Mitteleuropa entstehen. Als er dann in England lebte, war das ja etwas anderes. Aber in der Zeit, als Karl Marx sich vom Idealisten zum ökonomischen Materialisten ent­wickelte, da war es so, daß eigentlich in Mitteleuropa das moderne Proletariat erst heraufkam.

Und nun sagte er sich: Dieses moderne Proletariat, das hat ganz an­dere Interessen als die leitende Minderheit, denn es besteht aus Men­schen, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft, aus Menschen, die auf keine andere Weise leben können als dadurch, daß sie ihre Arbeitskraft in den Dienst der Besitzenden, namentlich in den Dienst der Besitzen­den der Produktionsmittel, stellen. Wenn diese Arbeiter ihre Arbeit verlassen, dann sind sie, das galt besonders für die damalige Zeit in radikalster Weise, auf die Straße geworfen. Sie haben nichts anderes vor sich als die Möglichkeit einer Fron für diejenigen, die die Besitzer der Produktionsmittel sind. Diese Menschen haben ein ganz anderes Interesse als die anderen. Sie haben ein Interesse daran, daß die ganze frühere Gesellschaftsordnung aufhört, daß diese Gesellschaftsordnung umgewandelt wird. Denen braucht man nicht zu predigen, damit ihre Einsicht ergriffen wird, sondern nur, daß ihr Egoismus, ihre Interessen ergriffen werden. Darauf kann man sich verlassen. Zu predigen den­jenigen, auf deren Einsicht man zählen soll, dabei kommt nichts her­aus, denn die Menschen handeln nicht nach Einsicht, sie handeln nur aus Interesse. Man kann sich also nicht an die wenden, bei denen man an die Einsicht appellieren müßte, sondern an diejenigen, an deren Interesse man appellieren muß. Die können nicht anders als aus inne­rem Zwang heraus für die neuere Zeit eintreten. Das ist der Egoismus, zu dem Karl Marx sich hinentwickelt hat. Daher hat er nicht mehr geglaubt, daß der Fortschritt der Menschheit zu neueren sozialen Zu­ständen von anderem Menschenwerke herkommen könne, als von dem Werke des Proletariats selbst. Das Proletariat könne nur, so meint Karl Marx, aus Interesse, aus seinen einzel-egoistischen Interessen her eine Erneuerung der menschlichen sozialen Zustände erstreben. Und

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damit wird das Proletariat, aber jetzt nicht aus Menschenfreundlich­keit, sondern aus Interesse auch die ganze übrige Menschheit befreien, weil es nichts anderes mehr geben kann als dasjenige, was die Men­schen bewirken, die nicht an alten Gütern hängen, sondern die bei einer Umwandelung nichts von alten Gütern zu verlieren haben.

Man sagt sich also: Da sind auf der einen Seite die leitenden, füh­renden Kreise, die haben gewisse Rechte, die ihnen in früheren Zeiten verliehen worden sind oder die in früheren Zeiten von ihnen er­zwungen worden sind, die sie vererbt haben in ihren Familien, an denen halten sie fest. Es sind diese leitenden, führenden Kreise im Besitz von dem oder jenem, was sie wiederum innerhalb ihrer Kreise, ihrer Familie vererben und so weiter. Diese Kreise haben als die leiten­den, führenden Kreise bei einer Umwandelung immer etwas zu ver­lieren. Denn selbstverständlich, wenn sie nichts verlören, würde ja keine Umwandelung geschehen. Es handelt sich darum, daß diejenigen, die nichts haben, etwas bekommen sollten, diejenigen, die etwas haben, könnten daher nur verlieren. Also man könnte nur an die Einsicht appellieren, wenn diese Einsicht der besitzenden, führenden Klasse den Impuls eingeben würde, etwas verlieren zu wollen. Darauf lassen sie sich nicht ein. - Das war die Anschauung von Karl Marx. Man muß also an diejenigen appellieren, die nichts zu verlieren haben. Deshalb schließt auch im Jahre 1848 das Kommunistische Manifest mit den

Worten: Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, sie haben aber alles zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Nun sehen Sie, das ist seit der Veröffentlichung des Kommunisti­schen Manifests gewissermaßen eine Überzeugung geworden, und heute, wo gewisse Empfindungen, die schon unter dem Einfluß dieser Anschauung stehen, eben in der Majorität des Proletariats leben, heute kann man sich gar nicht mehr richtig vorstellen, was für ein ungeheu­rer Umschwung in der sozialistischen Anschauung sich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vollzogen hat. Aber es wäre gut, wenn Sie sich herbeiließen, so etwas zu nehmen wie das «Evangelium eines armen Sünders» von Weitling, einem Schneidergesellen, das gar nicht so lange Zeit vor dem Kommunistischen Manifest geschrieben ist, und wenn Sie das vergleichen würden mit alledem, was nach dem Erschei­nen

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des Kommunistischen Manifestes geschrieben ist! In diesem wirk­lich von echter proletarischer Empfindung eingegebenen «Evangelium eines armen Sünders» herrscht eine, man kann sagen, in gewissem Sinne sogar poetische, glühende Sprache, aber durchaus eine Sprache, die appellieren will an den guten Willen, an die Einsicht der Menschen. Das ist Weitlings Überzeugung, daß man etwas anfangen könne mit dem guten Willen der Menschen. Und diese Überzeugung, die ist erst um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschwunden. Und die Tat, durch die sie geschwunden ist, ist eben die Publikation des Kom­munistischen Manifests. Und seit der Zeit, seit dem Jahre 1848, können wir eigentlich verfolgen das, was wir heute die soziale Frage nennen. Denn wenn wir heute so reden wollten wie Saint-Simon, wie Fourier, wie Weitling, - ja, wir würden heute wirklich ganz tauben Ohren predigen. Denn bis zu einem gewissen Grade ist es durchaus richtig, daß man in der sozialen Frage nichts anfangen kann, wenn man an die Einsicht der leitenden, führenden Kreise, die etwas haben, appel­liert. Das ist schon richtig. Die leitenden, führenden Kreise haben das zwar niemals zugegeben, sie werden es auch heute kaum zugeben, sie wissen es gar nicht einmal, daß sie es doch tun, denn da spielen un­bewußte Kräfte in der menschlichen Seele eine außerordentlich große Rolle.

Sehen Sie, es ist ja nun einmal unsere geistige Kultur im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts fast ganz zur Phrase geworden. Es ist eben doch eine viel wichtigere soziale Tatsache, daß wir mit Bezug auf die geistige Kultur in der Phrase leben, eine viel wichtigere soziale Tat­sache ist es, als man gewöhnlich meint. Und so reden natürlich die An­gehörigen der leitenden, führenden Kreise auch über die soziale Frage allerlei schöne Dinge, und sie sind selbst oftmals überzeugt, daß sie schon den guten Willen hätten. Aber in Wirklichkeit glauben sie das nur, es ist nur ihre Illusion. In dem Augenblick, wo irgend etwas Reales in dieser Beziehung angegriffen wird, kommt es auch gleich heraus, daß das eine Illusion ist. Davon wollen wir nachher noch sprechen. Aber wie gesagt, so können wir heute nicht mehr reden, wie im Zeitalter der Utopien geredet worden ist. Das ist die wirkliche Errungenschaft, die durch Karl Marx gekommen ist, daß er gezeigt hat, wie heute die

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Mensdiheit so in den Illusionismus hineinverstrickt ist, daß es ein Un­sinn ist, auf etwas anderes zu redinen als auf den Egoismus. Es muß damit einmal geredinet werden. Es kann daher gar nidits erreidit werden, wenn man auf die Selbstlosigkeit, auf den guten Willen, auf die sittlichen Grundsätze der Menschen - ich sage immer: in bezug auf die soziale Frage - irgendwie rechnen will. Und dieser Umschwung, der dazu geführt hat, daß wir eben heute ganz anders reden müssen, als zum Beispiel noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhun­derts geredet werden konnte mit Bezug auf die soziale Frage, dieser Umschwung ist eben mit dem Kommunistischen Manifest gekommen. Aber es ist nicht alles auf einmal gekommen, sondern es war ja immer­hin möglich, daß auch nach dem Kommunistischen Manifest noch bis in die sechziger Jahre hinein, wie Sie alle wissen werden - manche jün­gere Sozialisten haben die Zeit schon vergessen -, eine ganz andere Art des sozialen Denkens, die Art des Ferdinand Lassalle, die Herzen, die Seelen ergriffen hat. Und auch nach dem Tode von Lassalle, der 1864 erfolgt ist, hat sich noch fortgesetzt dasjenige, was Lassallescher Sozia-lismus war. Lassalle gehört durchaus zu den Menschen, die, trotzdem die andere Denkweise schon heraufgekommen war, noch rechneten auf die Schlagkraft der Ideen. Lassalle wollte durchaus noch die Men­schen als solche ergreifen in ihrer Einsicht, in ihrem sozialen Wollen vor allen Dingen. Aber immer mehr und mehr nahm diese Lassallesche Schattierung ab und nahm überhand die andere, die marxistische Schat­tierung, die nur rechnen wollte auf die Interessen desjenigen Teiles der menschlichen Bevölkerung, der nur sich selbst besaß ünd seine Arbeits­kraft. Aber es ging immerhin nicht so schnell. Solch eine Denkweise entwickelt sich erst nach und nach in der Menschheit.

In den sechziger, siebziger Jahren, auch noch in den achtziger Jahren war es durchaus so, daß die Leute, wenn sie dem Proletariat angehör­ten oder auch wenn sie zu den Leuten gehörten, die politisch oder sozial abhängig, wenn auch nicht gerade Proletarier waren, ihre Ab­hängigkeit gewissermaßen moralisch beurteilten, und daß sie die nicht abhängigen Kreise der menschlichen Bevölkerung moralisch verurteil­ten. Ihrem Bewußtsein nach war es böser Wille der leitenden, führen­den Kreise der menschlichen Bevölkerung, daß sie die große Masse des

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Proletariats in Abhängigkeit ließen, daß sie sie schlecht bezahlten und so weiter. Wenn ich es trivial ausdrücken darf, so kann ich sagen, in den sechziger, siebziger Jahren, bis in die achtziger Jahre hinein wurde viel soziale Entrüstung fabriziert und vom Standpunkt der sozialen Entrüstung aus gesprochen. Dann trat in der Mitte der achtziger Jahre der merkwürdige Umschwung eigentlich erst so recht ein. Die mehr führenden Persönlichkeiten der sozialen Bewegung hörten in den acht­ziger Jahren dann ganz auf, aus moralischer Entrüstung heraus über die soziale Frage zu sprechen. Das war ja die Zeit, in der groß waren und mehr oder weniger noch von jugendlichem Feuereifer durchglüht waren diejenigen Führer, die Sie, die Sie jünger sind, nur noch haben sterben sehen: Adler, Pernerstorfer, Wilhelm Liebknecht, Auer, Bebel, Singer und so weiter. Diese älteren Führer hörten gerade damals in den achtziger Jahren immer mehr auf, diesen Entrüstungssozialismus zu predigen. Und nun möchte ich es Ihnen so ausdrücken, wie wenn diese Führer des Sozialismus ihre innerste Überzeugung aussprächen, als sie damals den alten Entrüstungssozialismus überleiteten in ihre neuere sozialistische Weltanschauung. Sie werden finden, was ich Ihnen jetzt sage, das stehe ja in keinem Buche über die Geschichte des Sozialismus. Aber wer dazumal gelebt hat und das mitgemacht hat, der weiß, daß die Leute, wenn man sie sich selbst überlassen hat, so geredet haben.

Nehmen wir also an, es seien in den achtziger Jahren solche führen­den Leute des Sozialismus zur Diskussion zusammengekommen mit anderen, die noch Bourgeois waren in ihren Gesinnungen, und nehmen wir an, es wäre noch eine dritte Sorte dagewesen, Bourgeois, die Idea­listen waren, die allen Menschen Gutes w ü nschten und die damit ein­verstanden gewesen wären, wenn alle Menschenn glücklich gemacht worden wären. Da konnte es geschehen, daß die Bourgeois erklärten, es müßte immer Leute geben, die arm sind und solche, die reich sind und so weiter, denn nur das könne die menschliche Gesellschaft auf­rechterhalten. Dann erhob sich vielleicht die Stimme eines von den­jenigen, welche Idealisten waren, die da entrüstet waren darüber, daß so viele Leute in Armut und Abhängigkeit leben mußten. So einer sagte dann vielleicht: Ja, das muß erreicht werden, daß klar gemacht wird diesen besitzenden Leuten, den Unternehmern, den Kapitalisten,

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daß sie loslassen müssen von ihrem Besitz, daß sie Einrichtungen tref­fen müssen, durch welche die große Masse in eine andere Lage kommt, und dergleichen. - Da wurden sehr schöne Reden gehalten aus diesen Tönen heraus. Dann aber erhob solch einer seine Stimme, der damals sich gerade hineinfand in den Sozialismus und seinen Werdegang, und sagte: Was reden Sie da, Sie sind ein Kind! Das ist alles Kinderei, alles Unsinn. Die Leute, die da Kapitalisten sind, die Unternehmer sind, das sind alles arme Hascherl, die wissen nichts anderes, als was ihnen eingebleut ist von Generationen her. Wenn die auch hörten, sie sollten es anders machen, dann könnten sie es nicht einmal, denn sie kämen nicht darauf, wie sie es machen sollten. So etwas geht gar nicht in ihre Schädel hinein, daß man etwas anders machen kann. Man darf nicht die Leute anklagen, man darf nicht die Leute moralisch verurteilen, die sind gar nicht moralisch zu verurteilen; die Kerle sind da hinein-gewachsen, diese armen Hascherl, in das ganze Milieu, und das inspi­riert sie mit den Ideen, die sie haben. Sie moralisch anklagen, heißt nichts verstehen von den Gesetzen der Menschheitsentwickelung, heißt sich Illusionen hingeben. Diese Menschen können niemals wollen, daß die Welt eine andere Form annimmt. Mit Entrüstung von ihnen zu sprechen, ist die pure Kinderei. Das ist alles notwendig so geworden, und anders kann das auch wiederum nur durch Notwendigkeit wer­den. Seht ihr, mit solchen kindischen Kerlen, die da glauben, sie könn­ten den Besitzenden, den Kapitalisten predigen, es solle eine neue Weltordnung heraufgeführt werden, mit solchen kindischen Kerlen kann man nichts anfangen. Mit ihnen ist keine neue Weltordnung herbeizuführen. Die geben sich nur dem Glauben hin, daß man an­klagen kann diese armen Hascherl von Kapitalisten, daß sie eine an­dere Welt machen sollten.

Ich muß die Sache etwas deutlich aussprechen, daher ist manches in scharfen Konturen gesagt, aber doch so, daß Sie die Reden, von denen ich spreche, durchaus überall hören konnten. Wenn sie geschrieben wurden, dann wurden sie ja ein bißchen retuschiert, ein bißchen anders geschrieben, aber das lag zugrunde.

Dann redeten sie weiter: Mit den Kerlen - das sind Idealisten, die stellen sich die Welt im Sinne einer Ideologie vor -, mit denen ist

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nichts anzufangen. Wir müssen uns auf diejenigen verlassen, die nichts haben, die daher aus ihren Interessen etwas anderes wollen als die, die mit kapitalistischen Interessen verbunden sind. Und auch nicht aus irgendeinem moralischen Grundsatz werden die eine Anderung der Lebenslage anstreben, sondern nur aus Begehrlichkeit, mehr zu haben als sie haben, ein unabhängiges Dasein zu haben. - Diese Denkweise kam in den achtziger Jahren immer mehr und mehr herauf, die Menschheits­entwickelung nicht mehr im Sinne aufzufassen, daß einem der einzelne Mensch besonders verantwortlich ist für das, was er tut, sondern daß er aus der wirtschaftlichen Lage heraus tut, was er tun muß. Der Kapi­talist, der Unternehmer schindet die anderen in höchster Unschuld. Derjenige, der Proletarier ist, der wird nicht aus einem sittlichen Grundsatz, sondern in aller Unschuld aus einer menschlichen Not­wendigkeit heraus revolutionieren, und denjenigen die Produktions­mittel, das Kapital aus den Händen nehmen, die es eben haben. Das muß sich abspielen als eine geschichtliche Notwendigkeit. - Diese Denkweise kam herauf.

Nun sehen Sie, es war eigentlich erst im Jahre 1891 auf dem Er­furter Parteitag, als dann aller Lassallianismus, der eben doch noch auf die Einsicht der Menschen basiert war, überging in den Glauben an das sogenannte «Erfurter Programm», welches bestimmt war, den Mar­xismus zur offiziellen Anschauung des Proletariats zu machen. Lesen Sie die Programme des Gothaer, des Eisenacher Parteitages durch, da werden Sie zwei Forderungen finden als echt proletarische Forderungen der damaligen Zeit, die noch zusammenhängen mit Lassallianismus. Die erste Forderung war die Abschaffung des Lohnverhältnisses, die zweite Forderung war die politische Gleichstellung aller Menschen, die Abschaffung aller politischen Vorrechte. Auf diese beiden Forderungen gingen alle proletarischen Forderungen aus bis zu den neunziger Jah­ren, bis zu dem Erfurter Parteitag, der den großen Umschwung brachte. Schauen Sie einmal diese beiden Forderungen genau an und vergleichen Sie sie mit den Hauptforderungen des Erfurter Partei­tages.

Welches sind nun die Hauptforderungen des Erfurter Parteitages? Es sind: Überführung des Privateigentums an Produktionsmitteln in

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das gemeinschaftliche Eigentum, Verwaltung aller Gütererzeugung, aller Produktion durch eine Art große Genossenschaft, in welche sich umzuwandeln hat der bisherige Staat. Vergleichen Sie das ehemalige Programm, welches das proletarische Programm der achtziger Jahre war, mit demjenigen, was aus dem Erfurter Parteiprogramm hervor­gegangen ist und seit den neunziger Jahren existiert, so werden Sie sagen, im alten Gothaer und Eisenacher Programm sind noch rein menschliche Forderungen, die Forderungen des Sozialismus: politische Gleichheit aller Menschen, Abschaffung des entwürdigenden Lohnver­hältnisses. Im Anfang der neunziger Jahre hat schon gewirkt das­jenige, was ich Ihnen charakterisiert habe als die Gesinnung, die im Laufe der achtziger Jahre heraufgekommen ist. Da ist verwandelt worden das, was noch mehr Menschheitsforderung ist, in eine rein wirtschaftliche Forderung. Da lesen Sie nichts mehr von dem Ideal, das Lohnverhältnis abzuschaffen, da lesen Sie nur von Wirtschafisforde­rungen.

Nun sehen Sie, diese Sachen hängen dann zusammen mit dem all­mählichen Ausbilden der Idee, die man hatte über die äußerliche Her­beiführung eines besseren sozialen Zustandes der Menschheit. Es ist auch oftmals von solchen Leuten, die noch Ideale hatten, gesagt wor­den: Was schadet es denn, wenn man alles kurz und klein schlägt, es muß ja eine andere Ordnung herbeigeführt werden, also muß eine Revolution kommen. Es muß alles kurz und klein geschlagen werden, es muß der große Kladderadatsch kommen, denn daraus kann nur eine bessere Gesellschaftsordnung entstehen, das sagten noch manche Leute in den achtziger Jahren, die gute idealistische Sozialisten waren. Denen wurde geantwortet von den anderen, die auf der Höhe der Zeit standen, die die Führer geworden waren, diejenigen, die jetzt, wie ich sagte, begraben sind, sie sagten: Das hat alles keinen Sinn, solche plötz­lichen Revolutionen sind sinnlos. Das einzige, was Sinn hat, das ist, daß wir den Kapitalismus sich selber überlassen. Wir sehen ja, früher gab es nur kleine Kapitalisten, dann sind es große geworden, sie haben sich zusammengetan mit anderen, sind zu Kapitalistengruppen geworden. Die Kapitalien haben sich immer mehr konzentriert. In diesem Pro­zeß sind wir drinnen, daß die Kapitalien immer mehr und mehr

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konzentriert werden. Dann wfrd die Zeit kommen, wo eigentlich nur noch einige wenige große kapitalistische Trusts, Konsortien vorhanden sind. Dann wird es nur noch notwendig sein, daß das Proletariat, als die nichtbesitzende Klasse, eines schönen Tages auf ganz friedliche Weise, auf parlamentarischem Wege den Kapitalistenbesitz, die Pro­duktionsmittel überführt in den Gemeinschaftsbesitz. Das kann ganz gut gemacht werden, aber man muß abwarten. Bis dahin müssen sich die Dinge entwickeln. Der Kapitalismus, der ohnedies ein unschul­diges Kind ist, er kann nichts dafür, daß er menschenschinderisch ist, das bringt die geschichtliche Notwendigkeit herauf. Er arbeitet aber auch vor, er konzentriert die Kapitalien. Sie sind dann schön beiein­ander, dann brauchen sie nur übernommen zu werden in die All­gemeinheit. Nichts von rascher Revolution, sondern langsame Ent­wickelung!

Sehen Sie, das Geheimnis der Anschauung, das öffentliche Geheimnis der Anschauung, das da zugrunde liegt, hat ja in den neunziger Jahren Engels schön auseinandergesetzt. Er hat gesagt: Wozu schnelle Revo­lutionen? Dasjenige, was langsam geschieht unter der Entwickelung des neueren Kapitalismus, dieses Zusammenrotten der Kapitalien, die­ses Konzentrieren der Kapitalien, das arbeitet ja alles für uns. Wir brauchen nicht erst eine Gemeinsamkeit herzustellen, die Kapitalisten machen das schon. Wir brauchen es nur überzuführen in den prole­tarischen Besitz. Daher haben sich eigentlich die Rollen, sagt Engels, vertauscht. Wir, die wir das Proletariat vertreten, haben uns ja gar nicht zu beklagen über die Entwickelung, die anderen haben sich zu beklagen. Denn die Kerle, die heute in den Kreisen der besitzenden Leute sind, die müssen sich sagen: Wir sammeln die Kapitalien an, aber für die anderen sammeln wir sie an. Seht, die Kerle müssen sich eigentlich sorgen, daß sie ihre Kapitalien verlieren. Die kriegen ein­gefallene Backen, die werden dürr von diesen Sorgen, was da werden soll. Wir gedeihen gerade als Sozialisten sehr gut in dieser Entwicke­lung. Wir kriegen, sagt Engels, pralle Muskeln und volle Backen und sehen aus wie das ewige Leben. Das sagt Engels in einer Einleitung, die er in den neunziger Jahren schrieb, indem er charakterisierte, wie es ganz recht ist, was sich da herausentwickelt, und wie man nur abzuwarten

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brauchte die Entwickelung, die eigentlich durch den Kapitalismus von selber besorgt wird, der dann einmündet in das, was ich Ihnen dar­gestellt habe: in die Überführung desjenigen, was der Kapitalismus erst konzentriert hat, in den Gemeinbesitz derjenigen, die bisher nichts gehabt haben. Das war auch eigentlich die Stimmung, in der das zwan­zigste Jahrhundert von den führenden Kreisen des Proletariats be­treten worden ist. Und so hat man denn gedacht, besonders seit der Zeit, seit der Marxismus nicht mehr so genommen worden ist wie in den neunziger Jahren, sondern als er, wie man sagte, einer Revision unterzogen worden ist, als die Revisionisten auftraten, als diejenigen, die noch leben, aber alte Leute sind wie zum Beispiel Bernstein. Da kamen die Revisionisten. Die sagten, man kann die ganze Entwicke­lung etwas fördern, denn wenn die Arbeiter bloß arbeiten, bis die Kapitalisten alles zusammengescharrt haben, werden sie vorher doch Not leiden, sie haben namentlich im Alter nichts. Da wurden dann Versicherungen gemacht und so weiter. Nun schön, aber vor allen Dingen sah man darauf, daß man dasjenige, was die führenden Klas­sen hatten als Einrichtungen im politischen Leben, daß man sich das auch aneignete. Sie wissen, dadurch entstand namentlich das gewerk­schaftliche Leben. Und innerhalb der sozialistischen Partei waren das die zwei stark divergierenden Richtungen: die ausgesprochene Ge­werkschaftspartei und die eigentliche, wie man damals sagte, politische Partei. Die politische Partei stand mehr auf dem Boden, eine plötz­liche Revolution nütze nichts, die Entwickelung müsse so vor sich gehen, wie ich es eben beschrieben habe. Daher handelt es sich darum, daß alles vorbereitet wird auf den einen Zeitpunkt, wo der Kapitalis­mus genügend konzentriert ist und das Proletariat in den Parla­menten die Majorität hat. Es muß alles auf dem Wege des Parlamen­tarismus, der Aneignung der Majorität fortgetrieben werden, damit an dem Zeitpunkte, wo die Produktionsmittel in den Gemeinbesitz übernommen werden, auch die Majorität für diese Überführung da ist. In dieser Gruppe von Leuten, die namentlich alles von der politi­schen Partei hielten, da hielt man am Ende des neunzehnten Jahr­hunderts nicht sehr viel von der gewerkschaftlichen Bewegung. Diese setzte sich in jener Zeit eben dafür ein, so eine Art Wettkampf untergeordneter

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Art zwischen sich und den Unternehmern einzurichten, um von Zeit zu Zeit immer wieder von den Unternehmungen Lohn­erhöhungen und ähnliche Dinge herauszubekommen. Kurz, man stellte sich so ein, daß man nachmachte jenes System gegenseitiger Ver­handlungen, wie es unter den leitenden, führenden Kreisen unter­einander selbst vorhanden ist, daß man dieses auch ausdehnte auf das Verhältnis zwischen den leitenden Kreisen und dem Proletariat. Sie wissen ja, daß ganz besonders angeklagt wurden von den Vertretern des eigentlichen politischen sozialistischen Systems diejenigen, die dann am meisten bürgerlich wurden unter der Gewerkschaftsbewegung. Und am Ende der neunziger Jahre und am Anfang des zwanzigsten Jahr­hunderts konnte man überall sehen bei denjenigen, die mehr auf das politische System eingerichtet waren, die große Verachtung für jene Leute, die sich ganz eingefuchst hatten auf das gewerkschaftliche Leben, wie zum Beispiel namentlich die Buchdrucker, die ein ganz anderes System nach dem gewerkschaftlichen Leben wiederum bis zum Extrem ausgebildet hatten.

Das waren zwei ganz streng voneinander geschiedene Richtungen im sozialen Leben: die Gewerkschafter und diejenigen, die mehr der politischen Partei, wie man sagte, zuneigten. Und innerhalb der Ge­werkschaften waren ja die Buchdrucker im Buchdruckerverband ge­radezu die Musterknaben; diejenigen Musterknaben, die sich ja auch die volle Anerkennung der bürgerlichen Kreise erworben haben. Und ich glaube, daß ebenso, wie man eine gewisse Angst gehabt hat, eine gewisse Sorge gehabt hat über die politische sozialistische Partei, so hat man nach und nach mit großer Befriedigung heraufkommen sehen solche braven Leute wie die Leute im Buchdruckerverband. Von denen sagte man sich: Die verbürgerlichen sich, mit denen kann man immer verhandeln, das geht ganz gut. Wenn die aufschlagen mit ihren Löh­nen, dann schlagen wir auf mit unseren Preisen, die wir fordern. Das geht. Und, nicht wahr, für die nächsten Jahre ging es auch, und für wei­teres denken die Leute ja auch nicht. Also da war man mit dieser musterhaften Ausbildung der gewerkschaftlichen Entwickelung sehr zufrieden. Nun ja, wenn ich einiges auslasse, was mehr Nuancen sind, kann man sagen, daß sich dann diese beiden Richtungen mehr oder

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weniger herausgebildet haben bis in die Zeiten, die dann überrascht worden sind von der Weltkriegskatastrophe. Aber da haben ja die Leute leider von dieser Weltkriegskatastrophe nicht alles gelernt, was eigentlich hätte auch mit Bezug auf die soziale Frage gelernt werden sollen.

Sobald man nun betrachtet die Verhältnisse im Osten von Europa, in Mitteleuropa, wenn man absieht von der eigentlich anglo-ameri­kanischen Welt und auch zum Teil von der romanischen Welt, wenn man sich also auf Mittel- und Osteuropa beschränkt, so kann man sagen, mit der Geschichte ist eigentlich nichts Rechtes geworden, die man immer so definiert hat: die Kapitalien konzentrieren sich, dann wird man in Parlamenten die Majorität haben, dann werden die Kapi­talien in den Besitz der Gemeinschaft übergeführt werden und so wei­ter. - Daß das nicht so glatt erwartet werden kann heute, dafür hat die Weltkriegskatastrophe gesorgt. Diejenigen sind ja oftmals als kindisch hingestellt worden, die irgendeine Revolution erwartet haben. Aber im Grunde genommen, was ist denn geschehen in den letzten vier bis fünf Jahren? Halten wir uns das ganz klar und deutlich vor Augen, was geschehen ist. Nicht wahr, Sie haben es ja auch öfter gehört, was in den letzten vier bis fünf Jahren geschehen ist: Im Juli 1914 sind die Regierungen ein bißchen verdreht geworden oder stark verdreht geworden und haben die Leute in den Weltkrieg gehetzt. Da haben die Leute geglaubt, es sei ein Weltkrieg da, es haben Schlachten statt­gefunden, obwohl mit den modernen Kriegsmitteln, mit den Maschi­nenmitteln etwas ganz anderes da war als in früheren Kriegen. Es ist doch keine Möglichkeit dagewesen, daß irgendeiner ein besonders be­rühmter Feldherr wurde, denn schließlich kam es nur darauf an, ob eine Partei die größere Menge an Munition hatte und sonstige Mittel der Kriegsführung, ob eine Partei die mechanischen Kriegsmittel besser herstellte als die andere oder ein Gas entdeckte und dergleichen, das die anderen nicht hatten. Erst siegte der eine, dann entdeckte der andere wieder etwas, dann wieder der erste; das Ganze war eine furchtbar mechanische Kriegsführung. Und alles das, was geredet worden ist über dasjenige, was da und dort geschehen ist von seiten der Menschen, das war unter dem Einfluß der Phrase geschehen, es war durchaus

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Phrase. Und nach und nach wird die moderne Menschheit einsehen auch in Mitteleuropa, was alles als Phrase drinnengesteckt hat, wenn der eine oder andere, der eigentlich nichts anderes war als ein etwas verdrehter Durchschnittssoldat, zu einem großen Feldherrn gemacht worden ist in Mitteleuropa. Diese Dinge sind nur unter dem Einfluß der Phrase möglich geworden.

Was ist denn aber in Wirklichkeit geschehen? Das haben die Leute vor den äußeren Ereignissen nicht gemerkt: In Wirklichkeit hat sich, während die Leute glaubten, daß ein Weltkrieg geführt worden ist -der eigentlich nur eine Maske war -, in Wirklichkeit hat sich eine Revo­lution vollzogen. In Wirklichkeit ist die Revolution geschehen in diesen vier bis fünf Jahren. Das wissen die Leute heute noch nicht, das be­achten sie heute noch nicht, daß sich in Wirklichkeit die Revolution vollzogen hat. Der Krieg ist die Außenseite, die Maske; die Wahrheit ist die, daß sich die Revolution vollzogen hat. Und weil sich die Revo­lution vollzogen hat, ist heute die Gesellschaft Mittel- und Osteuropas in einer ganz anderen Verfassung, und man kann nichts anfangen mit dem, was die Leute bedacht hatten für frühere Lagen. Heute ist es notwendig, daß all die Gedanken, die man sich früher gemacht hat, ganz neu geordnet werden, daß man ganz neu über die Dinge denkt. Und das ist versucht worden mit dem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage», ganz richtig zu rechnen mit der Lage, in die wir ge­kommen sind durch die allerjüngsten Ereignisse. Daher ist es kein Wunder, daß die Menschen, die in den sozialistischen Parteien nicht schnell genug mitkommen können, diesem Buch Mißverständnis über Mißverständnis entgegenbringen. Wenn die Menschen nur einmal sich darauf einließen, ihre eigenen Gedanken ein bißchen zu prüfen, das­jenige zu prüfen, wovon sie sagen, daß sie es wollen, dann würden sie sehen, wie sie leben unter dem Einfluß der Ideen, die sie sich bis zum Jahre 1914 gemacht haben. Das ist die alte Gewohnheit.

Diese Ideen, die man bis 1914 gehabt hat, die haben sich so ein-gefressen in die Umgebung der Menschen, daß sie jetzt nicht wieder herauskommen. Und was ist die Folge? Die Folge ist, daß, trotzdem heute ein neues Handeln notwendig ist, trotzdem sich die Revolution vollzogen hat in Ost- und Mitteleuropa, trotzdem wir heute notwendig

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haben, einen Aufbau zu vollziehen nicht nach alten Ideen, sondern nach neuen Ideen - die Leute gleichwohl die alten Ideen predigen. Und was sind heute die Parteien, auch die sozialistischen Parteien? Die sozialistischen Parteien sind auch diejenigen, die in der alten Weise, wie sie bis zum Juli 1914 gepredigt haben dieses oder jenes sozia­listische Evangelium, auch heute weiter predigen; denn ein Unter­schied ist bei diesen Parteiprogrammen nicht gegenüber den früheren, höchstens der Unterschied, der von außen kommt. Für den, der die Dinge kennt, für den wird in der einzelnen Parteigruppierung furcht­bar wenig Neues, ja, gar nichts Neues gesagt. Die alten Ladenhüter von Gedanken werden heute verzapft. Nun ja, es ist ja ein bißchen ein Unterschied: Wenn man einen kupfernen Kessel hat und klopft daran, dann klingt es; klopft man genauso auf ein hölzernes Faß, dann klingt es anders. Aber das Klopfen kann ganz dasselbe sein. Es hängt dann von dem ab, daß es anders klingt, worauf man klopft. So ist es, wenn heute die Leute ihre Parteiprogramme verzapfen; das, was in diesen alten Parteiprogrammen enthalten ist, das ist eigentlich der alte Partei-ladenhüter, nur weil jetzt andere soziale Verhältnisse da sind, klingt es heute etwas anders, so wie bei einem kupfernen Kessel und bei einem hölzernen Faß. Wenn die Unabhängige Sozialistische Partei oder die Mehrheitssozialisten oder die Kommunisten reden, sie reden eben alte Parteiphrasen, und es klingt anders, weil ein kupferner Kessel und ein hölzernes Faß da ist. In Wahrheit hat man auf vielen Seiten eben gar, gar nichts gelernt. Aber darauf kommt es an, daß man etwas lernt, daß einem dieser furchtbare Weltkrieg, wie man ihn nennt, der aber eigentlich eine Weltrevolution ist, irgend etwas sagt.

Und da kann man wirklich schon sagen: In den breitesten Massen ist man vorbereitet darauf, etwas Neues zu hören. Aber bei den breiten Massen ist das so: Da wird zugehört dem, was die Führer sagen. Es ist ein gutes Verständnis da, ein guter gesunder Menschenverstand in den breiten, unverbildeten Massen, und man konnte eigentlich immer auf Verständnis rechnen, wenn man etwas Zeitgemäßes, etwas richtig, im besten Sinne des Wortes zeitgemäß zu Nennendes vorbringt. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß die Massen unverbildet sind. Aber sobald sich die Menschen in die Art der Schulung hineinbegeben,

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die man haben kann seit den letzten drei bis vier Jahrhunderten, da hört diese gottvolle Eigenschaft des Unverbildetseins auf. Wenn man dasjenige, was die heutige bürgerliche Schulbildung ist, von der Volks­schule bis hinauf zur Universität, betrachtet - und am ärgsten wird es sein, wenn jetzt die sozialistische Einheitsschule gegründet wird, da wird alles im größten Maße vorhanden sein, was von der bürgerlichen Volksschule verbrochen worden ist -: Was da verzapft wird in den Schulen, das verbildet die Köpfe, das macht sie dem Leben fremd. Und man muß aus dem ganzen Zeug herauskommen, muß sich wirklich im geistigen Leben auf eigene Beine stellen, wenn man aus dieser Verbil-dung herauskommen will. Aber sehen Sie, durch diese Verbildung sind die großen und kleinen proletarischen Führer geworden. Sie mußten es sich durch diese Bildung aneignen; diese Bildung steckt in unseren Schulen und in den populären Schriften, überall steckt sie drinnen. Und da fängt man dann an, so ein vertrocknetes Gehirn zu kriegen, nicht mehr für die Tatsachen zugänglich zu sein. Sondern bei Parteipro­grammen und Meinungen, die man sich eingepfropft und eingehäm­mert hat, bei denen bleibt man stehen. Da kann dann selbst die Welt­revolution kommen, man pfeift immer die alten Prograrnme dar­auf los.

Sehen Sie, dieses Schicksal hat im wesentlichen dasjenige erfahren, was mit diesem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» und den Vorträgen gewollt worden ist in vieler Richtung. Da wurde einmal wirklich mit dem gerechnet, was heute das Proletariat unbedingt braucht, was notwendig ist aus der Zeitlage heraus. Das verstand man auch anfangs, aber dann verstanden es diejenigen nicht, die die Führer des Proletariats in den verschiedenen Parteigruppierungen sind. Das heißt, ich will ja nicht allzu ungerecht sein, und ich will nicht die Wahrheit pressen; ich will nicht behaupten, daß zum Beispiel diese Führer dieses Buch nicht verstehen; denn ich kann nicht annehmen, daß sie es gelesen haben, daß sie es kennen. Ich würde nicht etwas Richtiges behaupten, wenn ich sagte: sie können das Buch nicht verstehen. Aber sie können sich überhaupt nicht entschließen, das zu verstehen, daß etwas anderes notwendig sein soll, als was sie seit Jahrzehnten denken. Dazu ist ihr Gehirn zu trocken, zu steif geworden. Und daher bleiben

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sie stehen bei dem, was sie seit langer Zeit gedacht hatten und finden, daß dasjenige, was das Gegenteil von aller Utopie ist, daß das eine Utopie sei. Denn sehen Sie, das Buch rechnet voll mit dem, daß man heute nicht mehr im Sinne der Saint-Simon, Fourier, Proudhon und so weiter in Utopien sich bewegen kann; aber auch damit, daß man nim­mermehr sich auf den Standpunkt stellen kann: Die Entwickelung wird es schon von selber geben. Denn das, was Marx und Engels ge­sehen haben, was sich entwickelte, woraus sie ihre Schlüsse gezogen haben, aus dem kann man heute nicht mehr Schlüsse ziehen, denn das hat der Weltkrieg in seiner wahren Gestalt weggefegt, das ist nicht mehr da. Wer heute dasselbe sagt wie Marx und Engels, der sagt etwas, was Marx niemals gesagt hätte, denn dem ist angst und bange geworden gerade vor seinen Anhängern: Was mich anbetrifft, ich bin kein Marxist. Und heute würde er sagen: Damals waren die Tatsachen noch andere; da habe ich meine Schlüsse gezogen aus Tat­sachen, die noch nicht so modifiziert, so verändert worden sind, wie der Weltkrieg alles verändert hat.

Aber sehen Sie, diejenigen Menschen, die nichts lernen können von den Ereignissen, die heute von einer Gesinnung sind, wie die alten Katholiken ihren Bischöfen und Päpsten gegenüber waren, die können sich gar nicht denken, daß so etwas auch fortentwickelt werden muß im Sinne der Tatsachen, wie es der Marxismus ist. Deshalb gehen die Tatsachen vor sich, und die Leute pfeifen und fauchen noch immer das­selbe, was sie gepfiffen und gefaucht haben vor dem Weltkrieg. So machen es die Bürgerlichen, aber auch die Sozialisten. Es machen es die weitesten Kreise so. Die Bürgerlichen machen es natürlich ganz schläfrig, mit völlig verschlafener Seele, die anderen machen es so, daß sie allerdings mitten drinnen stehen und den Zusammenbruch sehen, daß sie aber nicht mit den Tatsachen, die sich dadurch offenbaren, rechnen wollen. Wir haben eben heute notwendig, daß etwas Neues unter die Menschen kommt. Und deshalb ist es nötig, so etwas zu ver­stehen, was keine Utopie ist, sondern was gerade mit den Tatsachen rechnet. Wenn von jener Seite dasjenige, was so mit den Tatsachen rechnet, Quertreiberei genannt wird, so könnte man eigentlich ganz zufrieden sein. Denn wenn die Leute das, was sie vorwärts treiben in

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gerader Linie, wenn sie das die gerade Linie nennen, dann muß man, um etwas Vernünftiges zu betreiben, die Quere hineinschießen, um das Vernünftige in andere Richtung zu bringen.

Aber sehen Sie, diejenigen, die doch das Vernünftige noch einsehen, die sollten sich vertiefen in das, was hier vorgebracht wird. Und dazu können ja diese Abende da sein.

Nicht wahr, es ist ja längst dasjenige, was da aus den Tatsachen herausgeholt wird, versucht worden, in die Praxis hineinzutragen, und so haben wir uns seit Wochen versammelt - ich brauche alle diese Dinge nicht zu wiederholen, Sie können ja auch im Anschluß an die-sen Vortrag noch Fragen stellen oder pro und contra diskutieren -, um das, was wir Betriebsräteschaft nennen, auf die Beine zu bringen. Wir haben versucht, diese Betriebsräteschaft aus den gegenwärtig not­wendigen Tatsachen heraus zu schaffen, wirklich so sie zu schaffen, daß sie aus dem bloßen Wirtschaftsleben kommen, daß sie nicht kom­men aus dem, was nicht die Grundlage des Wirtschaftslebens abgeben kann, aus dem politischen Leben. Denn man muß, wenn man heute den Tatsachen ins Auge schaut, streng stehen auf dem Boden der hier ver­treten wird als der des dreigliedrigen sozialen Organismus. Und der­jenige, der heute diese Dreigliederung nicht will, der handelt der geschichtlichen Notwendigkeit der Menschheitsentwickelung entgegen. Heute muß das so sein, wie ich es oftmals ausgeführt habe: daß das geistige Leben auf sich gestellt wird, daß das wirtschaftliche Leben auf sich gestellt wird, daß das Rechts- oder politische Leben demokratisch verwaltet wird. Und im wirtschaftlichen Leben soll der erste Anfang zu einer wirklich sozialen Gestaltung mit den Betriebsräten gemacht werden. Wodurch kann aber das nur geschehen? Nur dadurch, daß man entweder zuerst die Frage aufstellt: Nun ja, da ist der Impuls des dreigliedrigen sozialen Organismus, der ist neu gegenüber allen früheren Parteimumien; ist noch etwas anderes da? Blödlinge behaup­ten heute, daß die Ideen nur so durch die Luft schwirren. Hört man die Diskussionen an, sie bringen allerlei Negatives, aber sie bringen nichts, was der Dreigliederung des sozialen Organismus an die Seite zu stellen wäre. Das ist alles Wischiwaschi, was da von sozialistischer Seite her­kommt, daß die Ideen nur so in der Luft hängen, wie es gesagt worden

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ist in einer neu begründeten Zeitschrift in einer Besprechung der Drei­gliederung. Es handelt sich darum, daß man erstens diese Frage auf­wirft und sich darüber klar wird: Ist nichts anderes da? Dann hält man sich zunächst an die Dreigliederung des sozialen Organismus, bis man sie in sachlicher Weise widerlegen kann, daß man sachlich Gleich­wertiges daneben stellen kann.

Über die alten Parteiprogramme kann man nicht mehr diskutieren, darüber hat der Weltkrieg diskutiert. Wer wirklich Verständnis hat, der weiß, daß diese alten Parteimumien durch die Weltkriegskata­strophe widerlegt sind. Dann aber, wenn man diese Frage nicht dadurch beantworten kann, daß man etwas anderes daneben stellt, dann kann man ehrlich, wenn man weiter gehen will, sich sagen: Also arbeiten wir im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus. Sagen wir uns ehrlich: Die alten Parteizusammenhänge haben ihre Bedeutung ver­loren. Es muß im Sinne der Dreigliederung gearbeitet werden. Als ich vorgestern in Mannheim gesprochen habe, trat zuletzt ein Herr auf, der sagte: Was da der Steiner gesagt hat, ist schön, aber nicht, was wir wollen. Wir wollen nicht zu allen alten Parteien noch eine neue Partei. Die Leute, die so etwas wollen, die sollen in die alten Parteien ein­treten und darin wirken. - Ich konnte darauf nur sagen: Ich habe das politische Leben längst sehr genau verfolgt, als der Herr, der da sprach, noch lange nicht geboren war. Und ich habe, trotzdem ich mit allem, was sozial irgendwie als Kraft funktionierte, bekanntgeworden bin durch mein Leben, ich habe doch niemals innerhalb irgend einer Partei gewirkt oder darinnen stehen können, und es fällt mir nicht ein, jetzt, am Ende meines sechsten Lebensjahrzehnts, irgendwie ein Parteimensch zu werden. Weder mit einer anderen Partei noch mit einer selbst-gegründeten möchte ich irgend etwas zu tun haben. Also auch nicht mit einer selbstgegründeten. Das braucht niemand zu fürchten, daß durch mich eine neue Partei gegründet wird, denn das, daß jede Partei durch Naturnotwendigkeit nach einiger Zeit töricht wird, das habe ich ge­lernt, gerade indem ich mich niemals mit irgend einer Partei eingelassen habe. Und bedauern habe ich die Leute gelernt, die das nicht durch­schauen. Daher braucht niemand zu fürchten, daß zu den alten eine neue Partei kommt. Deshalb ist auch nicht eine neue Partei gegründet

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worden, sondern der Bund für Dreigliederung des sozialen Organis­mus hat sich zusammengeschlossen, um die Ideen des dreigliedrigen Organismus - deren nicht utopistischer Charakter, sondern deren Wirk­lichkeitscharakter eben doch von einer Anzahl von Menschen durch­schaut wird -, um diese Ideen zu vertreten. Die Menschen, die das ein­sehen, die sollten aber auch ehrlich und aufrichtig sich dazu bekennen.

Denn auch das darf nicht geschehen: Es gibt ein Theaterstück, da kräht ein Hahn in der Früh, und immer wenn der Hahn gekräht hat, geht die Sonne auf. Nun ja, der Hahn kann nicht gleich den Zu­sammenhang durchschauen, daher glaubt er, wenn er kräht, dann folge die Sonne seinem Ruf, sie komme, weil er gekräht hat, er habe bewirkt, daß die Sonne aufgehe. Wenn schließlich jemand im nichtsozialen Leben, so wie dieser Hahn, der auf dem Mist kräht und die Sonne aufgehen machen will, sich einer solchen Täuschung hingibt, macht es nichts. Wenn aber unter Umständen es hier geschehen würde, daß die Idee der auf dem Boden der Dreigliederung wirklich wirtschaftlichen Betriebsräte gedeiht und diejenigen Menschen, die das pflegen, weil der Impuls des dreigliedrigen Organismus diese Idee in Fluß gebracht hat, dann aber verleugnen wollten etwa den Ursprung und glauben, weil man gekräht habe, kämen die Betriebsräte, dann wäre das derselbe Irr­tum, und zwar ein sehr verhängnisvoller Irrtum. Das darf aber nicht kommen. Das, was in dieser Richtung geschieht, was in Angriff ge­nommen worden ist hier, es darf nicht losgelöst werden, es muß im Zusammenhang bleiben mit dem richtig verstandenen Impuls der Drei-gliederung des sozialen Organismus.

Diejenigen, die im Sinne dieses Impulses die Betriebsräteschaft ver­wirklichen wollen, die können sich niemals darauf einlassen, daß etwa in einseitiger Weise bloß die Betriebsräteschaft gegründet würde und immer gekräht würde «Betriebsräte, Betriebsräte». Damit ist es nicht genug. Das hat nur einen Sinn, wenn man zugleich anstrebt alles, was durch den Impuls des dreigliedrigen sozialen Organismus angestrebt werden soll. Das ist es, worauf es ankommt. Denn wollen Sie wirklich verstehen dasjenige, was in diesem Buche steht, dann müssen Sie sich auf den Standpunkt stellen, den man lernen kann aus den Tatsachen, die die letzten vier bis fünf Jahre geboten haben. Wer diese Tatsachen

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durchschaut, auf den wirken sie so, als wenn er Jahrhunderte durchlebt hätte, und auf den wirken die Parteiprogramme so, als wenn ihre Trä­ger Jahrhunderte geschlafen hätten. Heute muß dieses klar und rück­haltlos ins Auge gefaßt werden.

Das, was ich Ihnen jetzt erzählt habe, das hätte ich natürlich eben­sogut als Vorrede in dieses Buch schreiben können. Allein man hat ja erst in den letzten Monaten gesehen, wie steif und unfruchtbar die Parteiprogramme gegenwärtig sind. Aber es wäre schon nützlich, wenn gerade das als Vorrede in diesem Buche stehen würde.Vieles, was nicht darin steht, habe ich Ihnen heute erzählt, da Sie, wie mir scheint, be­schlossen haben, hier zusammenzukommen, um in Anknüpfung an dieses Buch die ernsten sozialen Fragen der Gegenwart sachgemäß zu studieren. Aber bevor man sich an das macht, muß man sich schon klar machen, daß man nicht forttrotteln kann in dem alten Stil der Parteiprogramme und Parteischablonen, sondern daß man sich dazu entschließen muß, heute die Tatsachen wirklichkeitsgemäß anzufassen und einen Strich zu machen unter alles das, was nicht rechnet mit die­sen neuen Tatsachen. Nur dadurch werden Sie das, was erreicht werden soll gerade mit diesem Impuls vom dreigliedrigen sozialen Organis­mus, in der richtigen Weise auffassen. Und Sie werden es in der rich­tigen Weise auffassen, wenn Sie finden, daß jeder Satz dazu angetan ist, Tat werden zu können, umgesetzt werden zu können in unmittel­bare Wirklichkeit. Und die meisten, die sagen, sie verstehen das nicht oder es seien Utopien und dergleichen, denen fehlt einfach der Mut, die Courage, heute so stark zu denken, daß die Gedanken in die Wirk­lichkeit eingreifen können. Diejenigen, die immer krähen: «Diktatur des Proletariats, Eroberung der Macht, Sozialismus», die denken zu­meist sehr wenig dabei. Es kann daher mit diesen Wortschablonen nicht in die Wirklichkeit eingegriffen werden. Dann aber kommen sie und sagen, da wäre nur etwas geboten, was eine Utopie ist. Eine Uto­pie wird es erst in den Köpfen von den Leuten, die nichts davon ver­stehen. Deshalb sollte man diesen Leuten in einer etwas veränderten Form klarmachen, was, mit Bezug auf etwas anderes, Goethe einmal gesagt hat, indem er gelacht hat über den Physiologen Haller, der ein verknöcherter Naturforscher war.

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Haller hatte das Wort geprägt:

Ins Innere der Natur

Dringt kein erschaffner Geist.

Glückselig, wem sie nur

Die äußere Schale weist!

Das widerstrebte Goethe, und er sagte:

Ins Innere der Natur -

O, du Philister! -

Dringt kein erschaffner Geist.

Glückselig, wem sie nur

Die äußere Schale weist! -

Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen;

Ich fluche drauf, aber verstohlen,

Natur hat weder Kern

Noch Schale,

Alles ist sie mit einem Male.

Dich prüfe du nur allermeist

Ob du Kern oder Schale seist!

Diejenigen, die von der Dreigliederung des sozialen Organismus als von einer Utopie sprechen, zu denen möchte man auch so sagen: Dich prüfe nur zu allermeist, ob das in deinem Gehirn drinnen Spukende selber Utopie oder Wirklichkeit ist. Da wird man finden, daß all die Kräher zumeist Utopien drinnen haben und deshalb die Wirklichkeit in ihrem eigenen Kopfe auch eine Utopie wird oder eine Ideologie, oder wie sie es dann nennen. Deshalb ist es heute so schwer, mit der Wirklichkeit durchzudringen, weil die Leute sich so verbaut haben den Zugang zu der Wirklichkeit.

Das aber müssen wir uns sagen, daß wir ernstlich arbeiten müssen, sonst werden wir nicht überführen unser Wollen in die Tat. Und dar­auf kommt es an, daß wir unser Wollen in die Tat überführen. Und wenn wir von allem Abschied nehmen müßten, weil wir es als einen Irrtum erkennen, so müßten wir uns, um vom Wollen zur Tat kommen

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zu können, doch zur Wahrheit wenden, die wir als solche durch­schauen wollen. Denn nichts anderes kann vom Wollen zur Tat führen, als das rücksichtslose, Couragierte Verfolgen der Wahrheit. Das sollte eigentlich als eine Devise, als ein Motto, vor die Studien dieses Abends geschrieben werden.

Ich wollte Ihnen heute abend eine Vorrede sprechen zu diesen Stu­dienabenden. Ich hoffe, daß diese Vorrede Sie nicht abhält, diese Studien so zu pflegen, daß endlich wirklich, ehe es zu spät wird, Ge­danken, die Tatenkeime in sich tragen, sich fruchtbar in die Welt hin­einstellen können. Das Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage» ist ja nach zweifacher Richtung in einer besonderen Art geschrieben. Erstens ist es so geschrieben, daß es tatsächlich ganz aus der Wirklich­keit heraus stammt. Das bedenken manche Leute nicht, die das Buch lesen. Ich kann auch begreifen, daß das heute nicht voll bedacht wird. Ich habe schon einmal hier in diesem Kreise, aber es waren nicht alle die da, die heute da sind, davon gesprochen, wie nun wirklich die Leute heute denken. Ich habe namentlich hingewiesen auf das Beispiel des Professors der Nationalökonomie, Lujo Brentano, der das so nett geliefert hat in der vorigen Nummer des «Gelben Blattes». - Ich will es kurz wiederholen, weil ich daran etwas anknüpfen will. Da hat diese Leuchte der heutigen Volkswirtschaftslehre der Universität - er ist ja der Erste sozusagen - den Begriff des Unternehmers entwickelt und hat versucht, aus seinem erleuchteten Denken heraus die Merk­male des Unternehmers zu charakterisieren. Nun, das erste und zweite Merkmal brauche ich nicht aufzuzählen; als drittes gibt er an, daß der Unternehmer derjenige ist, der seine Produktionsmittel auf eigene Rechnung und Gefahr in den Dienst der sozialen Ordnung stellt. Nun hat er diesen Begriff des Unternehmers, den wendet er nun an. Da kommt er zu dem merkwürdigen Resultat, daß der proletarische Ar­beiter von heute eigentlich auch ein Unternehmer ist, denn er ent­spricht diesem seinem Begriff des Unternehmers in bezug auf die erste, zweite und dritte Eigenschaft. Denn der Arbeiter hat seine eigene Ar­beitskraft als Produktionsmittel, darüber verfügt er. In bezug auf diese wendet er sich an den sozialen Prozeß auf eigene Rechnung und Ge­fahr. So bringt diese Leuchte der Volkswirtschaft den Begriff des proletarischen

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Arbeitnehmers in seinen Begriff des Unternehmers sehr gut hinein. - Sehen Sie, so denken eben die Menschen, die sich Begriffe machen, die gar keinen Sinn haben, wenn von Begriffen verlangt wer­den soll, daß sie auf die Wirklichkeit wirklich anwendbar sein sollen. Aber so wenig Sie das vielleicht auch heute annehmen werden, man kann ruhig sagen: Weit über neunzig Prozent alles desjenigen, was heute gelehrt oder gedruckt wird, das operiert mit solchen Begriffen; wenn man sie anwenden will auf die Wirklichkeit, so geht es ebenso­wenig wie bei Lujo Brentanos Begriff vom Unternehmer. So ist es in der Wissenschaft, so ist es in der Sozialwissenschaft, so ist es überall, daher haben die Leute verlernt, überhaupt das zu verstehen, was mit wirklichkeitsgemäßen Begriffen arbeitet.

Nehmen Sie einmal die Grundlage der Dreigliederung des sozialen Organismus. Nicht wahr, man kann sie in der verschiedensten Weise legen, diese Grundlagen, weil das Leben viele Grundlagen braucht. Aber eine ist diese, daß man weiß: in der neueren Zeit ist das herauf-gezogen, was man nennen könnte den Impuls der Demokratie. Die Demokratie muß darin bestehen, daß jeder mündig gewordene Mensch sein Rechtsverhältnis mittelbar oder unmittelbar gegenüber jedem an­deren mündig gewordenen Menschen in demokratischen Parlamenten festsetzen kann. Aber gerade wenn man ehrlich und aufrichtig diese Demokratie in die Welt setzen will, dann kann man die geistigen An­gelegenheiten nicht im Sinne dieser Demokratie verwalten, denn da würde entscheiden müssen jeder mündig gewordene Mensch über das, was er nicht versteht. Die geistigen Angelegenheiten müssen aus dem Verständnis heraus geregelt werden, das heißt auf sich selbst gestellt werden, sie können also überhaupt nicht in einem demokratischen Par­lament verwaltet werden, sondern sie müssen ihre eigene Verwaltung haben, die nicht demokratisch sein kann, sondern die aus der Sache heraus sein muß. Ebenso ist es im Wirtschaftsleben. Da muß aus der wirtschaftlichen Erfahrung und dem Drinnenleben im Wirtschaftsleben die Sache verwaltet werden. Daher muß ausgeschieden werden aus dem demokratischen Parlament das Wirtschaftsleben auf der einen Seite, das Geistesleben auf der anderen Seite. Daraus kommt der dreigeglie­derte soziale Organismus.

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Da gibt es nun in Tübingen, ich habe schon davon gesprochen, den Pro­fessor Heck, das ist der, der gesagt hat, man brauche sich durchaus nicht herbeizulassen, zu sagen, daß das gewöhnliche Lohnverhältnis, wo man entlohnt wird für seine Arbeit, etwas Erniedrigendes hätte für den Proletarier, denn Garuso, der stehe ja auch im Lohnverhältnis, und der Unterschied wäre kein prinzipieller. Caruso singt und be­kommt seinen Lohn, und der gewöhnliche Proletarier arbeitet und bekommt auch seinen Lohn; und er, als Professor, er bekomme auch, wenn er vortrage, seinen Lohn. Der Unterschied zwischen Caruso und dem Proletarier wäre nur der, daß Caruso für einen Abend dreißig-bis vierzigtausend Mark bekommt und der Proletarier etwas weniger. Aber das sei kein prinzipieller Unterschied, sondern nur ein Unter­schied in bezug auf die Summe der Entlohnung. Und so braucht man, so meint dieser geistreiche Professor, in der Entlohnung durchaus nicht etwas Entwürdigendes zu fühlen. Er fühle das auch nicht so. - Das nur nebenbei. Aber nun hat dieser gescheite Professor auch einen langen Artikel geschrieben gegen die Dreigliederung. Da geht er aus davon: Gliedern wir dreifach, dann kommen wir ja zu drei Parlamenten. Und jetzt zeigt er, daß das nicht geht mit drei Parlamenten. Denn da sagt er: Im Wirtschaftsparlament wird der kleine Handwerker nicht verstehen die Standpunkte des Großindustriellen und so weiter. - Da hat sich der gute Professor seine Ideen über die Dreigliederung gemacht, und gegen diese Ideen, die ich noch viel dümmer finde als Professor Heck sie findet - die würde ich auch in Grund und Boden hinein kritisieren -, gegen die geht er an, aber die hat er selbst ge­macht. Es handelt sich nämlich darum, daß nicht drei Parlamente nebeneinander gehen, sondern daß herausgenommen wird, was in kein Parlament gehört. Er macht drei Parlamente und sagt: Das geht nicht. -So lebt man in wirklichkeitsfremden Begriffen und beurteilt das an­dere auch danach.

Nun ist gerade in die Nationalökonomie, in die Volkswirtschafts­lehre, fast nur das eingezogen, was unwirkliche Begriffe sind. Aber sehen Sie, ich könnte doch nicht jetzt, wo die Zeit drängt, eine ganze Bibliothek schreiben, worin alle volkswirtschaftlichen Begriffe auf­geführt werden. Daher finden sich natürlich in diesem Buche eine

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Menge von Begriffen, die sachgemäß besprochen werden müssen. Ich brauche zum Beispiel nur auf folgendes aufmerksam zu machen:

In einer Zeit, über die wir hinaus sind, da entstanden soziale Ver­hältnisse im Grunde genommen einzig und allein durch Eroberung. Irgend ein Territorium wurde von einem Volke oder von einer Rasse besetzt; ein anderes Volk brach herein und eroberte das Gebiet. Die­jenigen Rassen oder Völker, die früher drinnen waren, wurden her­untergedrängt zur Arbeit. Das erobernde Volk nahm den Boden in Besitz, und dadurch entstand ein gewisses Verhältnis zwischen Er­oberern und Eroberten. Die Eroberer hatten dadurch, daß sie Eroberer waren, den Boden in Besitz. Dadurch waren sie die wirtschaftlich Star­ken, die Eroberten waren die wirtschaftlich Schwachen. Dadurch bil­dete sich das heraus, was ein Rechtsverhältnis wurde. Daher hat man in fast allen älteren Epochen im geschichtlichen Werden durch Er­oberungen begründete Rechtsverhältnisse, das heißt: Vorrechte und Benachteiligungsrechte. Nun kamen die Zeiten herbei, in denen nicht frei erobert werden konnte. Sie können den Unterschied studieren im freien und gebundenen Erobern. Wenn Sie zum Beispiel sich das frühe Mittelalter ansehen, wie gewisse Völkerschaften, die Goten, hinüber-gedrungen waren nach dem Süden, aber in vollbesetzte Gebiete, da wurden sie zu anderem veranlaßt in bezug auf die soziale Ordnung, als wenn die Franken nach dem Westen zogen und dort nicht voll­besetzte Gebiete fanden. Dadurch entstanden andere Erobererrechte. In der neueren Zeit wirkten dann nicht allein die von Grund und Boden abhängigen Rechte, welche aus Eroberungen hervorgegangen sind; es kamen dazu die Rechte der Menschen, die Besitz hatten, die jetzt durch wirtschaftliche Macht sich aneignen konnten die Produk­tionsmittel. Da kam zu dem, was Bodenrecht ist im heutigen Sinne, der Besitz der Produktionsmittel, das heißt der Privatbesitz von Kapi­talien dazu. Das gab dann aus wirtschaftlichen Verhältnissen heraus Rechtsverhältnisse. Sie sehen, es sind die Rechtsverhältnisse ganz allein aus den wirtschaftlichen Verhältnissen heraus entstanden.

Nun kommen die Menschen, sie wollen die Begriffe von wirtschaft­licher Macht, von der wirtschaftlichen Bedeutung des Grund und Bodens, sie wollen die Begriffe der Betriebsmittel, der Produktionsmittel,

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der Kapitalien haben und so weiter. Ja, aber sie haben keine wirklich tiefere Einsicht in den Gang der Dinge. Da nehmen sie dann die oberflächlichen Tatsachen und kommen nicht darauf, was eigentlich hinter den Bodenrechten, hinter den Machtverhältnissen in bezug auf die Produktionsmittel steckt. - Alle diese Dinge sind natürlich in mei­nem Buche berücksichtigt. Das ist richtig gedacht. Da ist, wenn von Rechten gesprochen wird, aus dem Bewußtsein heraus gesprochen, wie das Recht durch Jahrhunderte hindurch entstanden ist; wenn von Kapital gesprochen wird, herausgesprochen aus dem Bewußtsein, wie das Kapital geworden ist. Da ist sorgfältig vermieden, einen Begriff anzuwenden, der nicht vollständig aus der Entstehung heraus gefaßt ist. Daher nehmen sich diese Begriffe anders aus als in den gewöhn­lichen heutigen Lehrbüchern. Aber auch noch etwas anderes ist be­rücksichtigt.

Nehmen wir eine bestimmte Tatsache. Nicht wahr, der Protestantis­mus ist einmal entstanden. In den Geschichtsbüchern wird es ja sehr häufig so erzählt, daß der Tetzel herumgezogen ist innerhalb Mittel­europas, und daß die Leute entrüstet waren über den Ablaßverkauf und dergleichen. Aber das war es nicht allein, das ist nur die Ober-flächenansicht. Die Hauptsache, die dahinter stak, war die Tatsache, daß es in Genua ein Bankhaus gab, in dessen Auftrag, nicht im Auf­trag des Papstes, dieser Ablaßkrämer in Deutschland herumzog, denn dieses Bankhaus hatte dem Papst für seine anderen Bedürfnisse den Kredit gewährt. Die ganze Geschichte war eine kapitalistische Unter­nehmung. An diesem Beispiel einer kapitalistischen Unternehmung des Ablaßhandels, wo eben auch mit Geistigem sogar gehandelt worden ist, an diesem Beispiel können Sie studieren, oder besser gesagt, wenn man da anfängt zu studieren, kommt man allmählich darauf, daß schließlich alle Kapitaimacht zurückgeht auf die Übermacht des Gei­stigen. Und so ist es. Studieren Sie, wie das Kapital eigentlich zu seiner Macht gekommen ist, so finden Sie überall die Übermacht des Gei­stigen. Nicht wahr, wer schlau ist, wer findig ist, der hat eine größere Macht als derjenige, der nicht schlau, der nicht findig ist. Und auf diese Art entsteht gerechtfertigter-, aber auch ungerechtfertigterweise vieles, was Zusammenscharrung des Kapitals ist. Das muß berücksichtigt werden,

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wenn man ins Auge faßt den Kapitalbegriff. Bei solchen realen Studien kommt man dahinter, daß Kapital auf Entfaltung der gei­stigen Macht beruht, und daß zu den Grund- und Bodenrechten, zu den Erobererrechten, von anderer Seite hinzugekommen ist die Macht des alten theokratischen Geistes. Von der alten Kirche ist viel von dem ausgegangen, was dann übergegangen ist eigentlich in den modernen Kapitalismus. Es gibt einen geheimen Zusammenhang zwischen der modernen kapitalistischen Macht und der Macht der alten Kirche. Und das alles hat sich in einem Kuddelmuddel zusammengezogen in den modernen Machtstaat. Da drinnen finden Sie die Überreste der alten Theokratie, die Überreste der alten Eroberungen. Und schließlich kamen die modernen Eroberungen dazu, und die allermodernste Er­oberung soll jetzt die Eroberung des Staates durch den Sozialismus sein. Aber so darf man es in Wirklichkeit nicht machen. Es muß etwas Neues werden, was mit diesen alten Begriffen und Impulsen vollstän­dig aufräumt. Daher wird es darauf ankommen, daß wir uns bei diesen Studien auch befassen mit den Begriffen, die hier zugrunde liegen. Wir müssen heute jedem, der über soziale Sachen reden will, genau Aufschluß geben darüber, was Recht ist, was Macht ist und was in Wirklichkeit ein Gut ist, ein Gut in Form von Waren und dergleichen. Auf diesem Gebiet werden die größten Fehler gemacht. Ich will zum Beispiel auf einen aufmerksam machen, wenn Sie darauf nicht aufmerksam sind, werden Sie vieles in meinem Buche mißver­stehen.

Es herrscht heute vielfach die Ansicht, daß Ware aufgespeicherte Arbeit ist, daß auch Kapital aufgespeicherte Arbeit ist. - Sie können sagen, es sei harmlos, solche Begriffe zu haben. Es ist nicht harmlos, denn solche Begriffe vergiften das ganze soziale Denken. - Wie ist es eigentlich mit der Arbeit, Arbeit als Aufwendung von Arbeitskraft? Ja, das verhält sich so, daß ein großer Unterschied ist, ob ich zum Beispiel meine physische Muskelkraft abnütze, indem ich Sport treibe, oder ob ich Holz hacke. Wenn ich Sport treibe, da nütze ich meine physische Muskelkraft ab, und ich kann geradeso müde werden und meine Muskelkraft wieder ersetzen müssen wie einer, der Holz hackt. Dieselbe Menge von Arbeit kann ich anwenden auf den Sport wie

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auf das Holzhacken. Der Unterschied ist nicht da in bezug darauf, daß sie wieder ersetzt werden muß; die Arbeitskraft muß natürlich ersetzt werden, sondern der Unterschied besteht darin, daß die eine Arbeitskraft angewendet wird nur für mich, im egoistischen Sinn, die andere im sozialen Sinn für die Gesellschaft. Durch die soziale Funktion unterscheiden sich diese Dinge. Sage ich jetzt, irgend etwas ist aufgespeicherte Arbeit, so berücksichtige ich nicht, daß die Arbeit eigentlich aufhört, in irgendeiner Sache drinnen zu sein in dem Augen­blick, wo nicht mehr gearbeitet wird. Nicht kann ich sagen: Das Kapi­tal ist aufgespeicherte Arbeit -, sondern ich muß sagen: Die Arbeit ist nur so lange da, als sie verrichtet wird.

Aber in unserer heutigen sozialen Ordnung behält das Kapital die Macht, die Arbeit jederzeit wiederum aufzurufen. Nicht in dem, was Marx meint, daß Kapital aufgespeicherte Arbeit ist, liegt das Ver­hängnisvolle, sondern in der Einrichtung, daß Kapital die Macht gibt, neue Arbeit, nicht aufgespeicherte Arbeit, sondern neue Arbeit immer wiederum in seinen Dienst zu stellen. Davon hängt viel ab. Davon wird weiter viel abhängen, daß man zu klaren, in der Wirklichkeit fußenden Begriffen über diese Dinge kommt. Und von solchen Be­griffen, die nun ganz drinnen stecken in der Wirklichkeit, geht dieses mein Buch aus. Das rechnet nicht mit solchen Begriffen, die ganz nütz­lich waren für die Erziehung des Proletariats. Heute, wo man etwas bauen soll, haben diese Begriffe keinen Sinn mehr.

Sehen Sie, wenn ich sage: Kapital ist aufgespeicherte Arbeit -, so ist das gut für die Erziehung des Proletariats. Es bekam die Gefühle, die es bekommen sollte. Da kam es nicht darauf an, daß der Begriff grund­falsch ist. Erziehen kann man auch mit grundfalschen Begriffen. Aber etwas aufbauen, das kann man nur mit richtigen Begriffen. Daher brauchen wir heute auf allen Gebieten der Volkswirtschaft richtige Begriffe und können nicht weiter mit falschen Begriffen arbeiten. Das sage ich nicht aus Frivolität, daß man auch mit falschen Begriffen er­ziehen kann, sondern aus allgemeinen Erziehungsgrundsätzen heraus. Wenn Sie Kindern Märchen erzählen, wollen Sie auch nicht mit diesen Dingen, die Sie da entwickeln, etwas aufbauen. Bei der Erziehung kommt etwas anderes in Betracht, als in Betracht kommt beim Aufbauen

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in der physischen Wirklichkeit. Da muß mit wirklichen Be­griffen gearbeitet werden. So etwas wie: «Kapital ist aufgespeicherte Arbeit», das ist kein Begriff. Kapital ist Macht und verleiht Macht, jederzeit neu entstehende Arbeit in seinen Dienst zu stellen. Das ist ein wirklicher Begriff mit Tatsachenlogik. Mit wahren Begriffen muß man arbeiten auf diesen Gebieten. Das ist versucht mit diesen Dingen. Daher glaube ich, daß viel von dem, was da nicht drinnensteht an Definition der Begriffe, an Charakteristik der Begriffe, erarbeitet wer­den muß. Und wer dann dazu beitragen kann, daß dies erarbeitet wird, was man braucht, um das zu verstehen, was die Denkweise, die Grundlage dieses Buches ist, der wird sehr Gutes beitragen zu diesen Studienabenden.

Also darauf kommt es ganz besonders an, daß dasjenige, was - ja, nicht wahr, man müßte ein Lexikon schreiben, wenn man alle Begriffe klarmachen wollte -, aber was jetzt «Kapital» ist, das kann an einem solchen Studienabend erledigt werden. Denn ohne daß man heute klar begriffen hat: Was ist eigentlich Kapital? Was ist Ware? Was ist Arbeit? Was ist Recht? - ohne diese Begriffe kommt man nicht weiter. Und diese Begriffe sind ganz konfus in den weitesten Kreisen, sie müssen vor allen Dingen richtiggestellt werden.

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AN DAS DEUTSCHE VOLK UND AN DIE KULTURWELT!

März 1919

Sicher gefügt für unbegrenzte Zeiten glaubte das deutsche Volk seinen vor einem halben Jahrhundert aufgeführten Reichsbau. Im August 1914 meinte es, die kriegerische Katastrophe, an deren Beginn es sich gestellt sah, werde diesen Bau als unbesieglich erweisen. Heute kann es nur auf dessen Trümmer blicken. Selbstbesinnung muß nach solchem Erlebnis eintreten. Denn dieses Erlebnis hat die Meinung eines halben Jahrhunderts, hat insbesondere die herrschenden Gedanken der Kriegsjahre als einen tragisch wirkenden Irrtum erwiesen. Wo liegen die Gründe dieses verhängnisvollen Irrtums? Diese Frage muß Selbstbesinnung in die Seelen der Glieder des deutschen Volkes treiben. Ob jetzt die Kraft zu solcher Selbstbesinnung vorhanden ist, davon hängt die Lebensmöglichkeit des deutschen Volkes ab. Dessen Zukunft hängt davon ab, ob es sich die Frage in ernster Weise zu stellen vermag: wie bin ich in meinen Irrtum verfallen? Stellt es sich diese Frage heute, dann wird ihm die Erkenntnis aufleuchten, daß es vor einem halben Jahrhundert ein Reich gegründet, jedoch unterlassen hat, diesem Reich eine aus dem Wesensinhalt der deutschen Volkheit entspringende Aufgabe zu stellen. — Das Reich war gegründet. In den ersten Zeiten seines Bestandes war man bemüht, seine inneren Lebensmöglichkeiten nach den Anforderungen, die sich durch alte Traditionen und neue Bedürfnisse von Jahr zu Jahr zeigten, in Ordnung zu bringen. Später ging man dazu über, die in materiellen Kräften begründete äußere Machtstellung zu festigen und zu vergrößern. Damit verband man Maßnahmen in bezug auf die von der neuen Zeit geborenen sozialen Anforderungen, die zwar manchem Rechnung trugen, was der Tag als Notwendigkeit erwies, denen aber doch ein großes Ziel fehlte, wie es sich hätte ergeben sollen aus einer Erkenntnis der Entwickelungskräfte, denen die neuere Menschheit sich zuwenden muß. So war das Reich in den Weltzusammenhang hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfertigende Zielsetzung. Der Verlauf der Kriegskatastrophe hat dieses in trauriger

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Weise geoffenbart. Bis zum Ausbruche derselben hatte die außerdeutsche Welt in dem Verhalten des Reiches nichts sehen können, was ihr die Meinung hätte erwecken können: die Verwalter dieses Reiches erfüllen eine weltgeschichtliche Sendung, die nicht hinweggefegt werden darf. Das Nichtfinden einer solchen Sendung durch diese Verwalter hat notwendig die Meinung in der außerdeutschen Welt erzeugt, die für den wirklich Einsichtigen der tiefere Grund des deutschen Niederbruches ist.

Unermeßlich vieles hängt nun für das deutsche Volk an seiner unbefangenen Beurteilung dieser Sachlage. Im Unglück müßte die Einsicht auftauchen, welche sich in den letzten fünfzig Jahren nicht hat zeigen wollen. An die Stelle des kleinen Denkens über die allernächsten Forderungen der Gegenwart müßte jetzt ein großer Zug der Lebensanschauung treten, welcher die Entwickelungskräfte der neueren Menschheit mit starken Gedanken zu erkennen strebt, und der mit mutigem Wollen sich ihnen widmet. Aufhören müßte der kleinliche Drang, der alle diejenigen als unpraktische Idealisten unschädlich macht, die ihren Blick auf diese Entwickelungskräfte richten. Aufhören müßte die Anmaßung und der Hochmut derer, die sich als Praktiker dünken, und die doch durch ihren als Praxis maskierten engen Sinn das Unglück herbeigeführt haben. Berücksichtigt müßte werden, was die als Idealisten verschrieenen, aber in Wahrheit wirklichen Praktiker über die Entwikkelungsbedürfnisse der neuen Zeit zu sagen haben.

Die «Praktiker» aller Richtungen sahen zwar das Heraufkommen ganz neuer Menschheitsforderungen seit langer Zeit. Aber sie wollten diesen Forderungen innerhalb des Rahmens altüberlieferter Denkgewohnheiten und Einrichtungen gerecht werden. Das Wirtschaftsleben der neueren Zeit hat die Forderungen hervorgebracht. Ihre Befriedigung auf dem Wege privater Initiative schien unmöglich. Überleitung des privaten Arbeitens in gesellschaftliches drängte sich der einen Menschenklasse auf einzelnen Gebieten als notwendig auf; und sie wurde verwirklicht da, wo es dieser Menschenklasse./iach ihrer Lebensanschauung als ersprießlich erschien. Radikale Überführung aller Einzelarbeit in gesellschaftliche wurde das Ziel einer anderen Klasse, die durch die Entwickelung des neuen Wirtschaftslebens an der Erhaltung der überkommenen Privatziele kein Interesse hat.

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Allen Bestrebungen, die bisher in Anbetracht der neueren Menschheitsforderungen hervorgetreten sind, liegt ein Gemeinsames zugrunde. Sie drängen nach Vergesellschaftung des Privaten und rechnen dabei auf die Übernahme des letzteren durch die Gemeinschaften (Staat, Kommune), die aus Voraussetzungen stammen, welche nichts mit den neuen Forderungen zu tun haben. Oder auch, man rechnet mit neueren Gemeinschaften (zum Beispiel Genossenschaften), die nicht voll im Sinne dieser neuen Forderungen entstanden sind, sondern die aus überlieferten Denkgewohnheiten heraus den alten Formen nachgebildet sind.

Die Wahrheit ist, daß keine im Sinne dieser alten Denkgewohnheiten gebildete Gemeinschaft aufnehmen kann, was man von ihr aufgenommen wissen will. Die Kräfte der Zeit drängen nach der Erkenntnis einer sozialen Struktur der Menschheit, die ganz anderes ins Auge faßt, als was heute gemeiniglich ins Auge gefaßt wird. Die sozialen Gemeinschaften haben sich bisher zum größten Teil aus den sozialen Instinkten der Menschheit gebildet. Ihre Kräfte mit vollem Bewußtsein zu durchdringen, wird Aufgabe der Zeit.

Der soziale Organismus ist gegliedert wie der natürliche. Und wie der natürliche Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die Lunge besorgen muß, so ist dem sozialen Organismus die Gliederung in Systeme notwendig, von denen keines die Aufgabe des anderen übernehmen kann, jedes aber unter Wahrung seiner Selbständigkeit mit den anderen Zusammenwirken muß.

Das wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn es als selbständiges Glied des sozialen Organismus nach seinen eigenen Kräften und Gesetzen sich ausbildet, und wenn es nicht dadurch Verwirrung in sein Gefüge bringt, daß es sich von einem anderen Gliede des sozialen Organismus, dem politisch wirksamen, aufsaugen läßt. Dieses politisch wirksame Glied muß vielmehr in voller Selbständigkeit neben dem wirtschaftlichen bestehen, wie im natürlichen Organismus das Atmungssystem neben dem Kopfsystem. Ihr heilsames Zusammenwirken kann nicht dadurch erreicht werden, daß beide Glieder von einem einzigen Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgan aus versorgt werden, sondern daß jedes seine eigene Gesetzgebung und Verwaltung hat, die lebendig

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Zusammenwirken. Denn das politische System muß die Wirtschaft vernichten, wenn es sie übernehmen will; und das wirtschaftliche System verliert seine Lebenskräfte, wenn es politisch werden will.

Zu diesen beiden Gliedern des sozialen Organismus muß in voller Selbständigkeit und aus seinen eigenen Lebensmöglichkeiten heraus gebildet ein drittes treten: das der geistigen Produktion, zu dem auch der geistige Anteil der beiden anderen Gebiete gehört, der ihnen von dem mit eigener gesetzmäßiger Regelung und Verwaltung ausgestatteten dritten Gliede überliefert werden muß, der aber nicht von ihnen verwaltet und anders beeinflußt werden kann, als die nebeneinander bestehenden Gliedorganismen eines natürlichen Gesamtorganismus sich gegenseitig beeinflussen.

Man kann schon heute das hier über die Notwendigkeiten des sozialen Organismus Gesagte in allen Einzelheiten vollwissenschaftlich begründen und ausbauen. In diesen Ausführungen können nur die Richtlinien hingestellt werden, für alle diejenigen, welche diesen Notwendigkeiten nachgehen wollen.

Die deutsche Reichsgründung fiel in eine Zeit, in der diese Notwendigkeiten an die neuere Menschheit herantraten. Seine Verwaltung hat nicht verstanden, dem Reich eine Aufgabe zu stellen durch den Blick auf diese Notwendigkeiten. Dieser Blick hätte ihm nicht nur das rechte innere Gefüge gegeben; er hätte seiner äußeren Politik auch eine berechtigte Richtung verliehen. Mit einer solchen Politik hätte das deutsche Volk mit den außerdeutschen Völkern Zusammenleben können.

Nun müßte aus dem Unglück die Einsicht reifen. Man müßte den Willen zum möglichen sozialen Organismus entwickeln. Nicht ein Deutschland, das nicht mehr da ist, müßte der Außenwelt gegenübertreten, sondern ein geistiges, politisches und wirtschaftliches System mit ihren eigenen Verwaltungen müßten daran arbeiten, wieder ein mögliches Verhältnis zu denjenigen zu gewinnen, von denen das Deutschland niedergeworfen worden ist, das nicht erkannt hat, daß es im Gegensatz zu anderen Volksorganisationen als erste darauf angewiesen ist, seine Kraft durch die Dreigliederung des sozialen Organismus zu gewinnen.

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Man hört im Geiste die Praktiker, welche über die Kompliziertheit des hier Gesagten sich ergehen, die unbequem finden, über das Zusammenwirken dreier Körperschaften auch nur zu denken, weil sie nichts von den wirklichen Forderungen des Lebens wissen mögen, sondern alles nach den bequemen Forderungen ihres Denkens gestalten wollen. Ihnen muß klar werden: entweder man wird sich bequemen, mit seinem Denken den Anforderungen der Wirklichkeit sich zu fügen, oder man wird vom Unglücke nichts gelernt haben, sondern das herbeigeführte durch weiter entstehendes ins Unbegrenzte vermehren.

Der Verfasser des Aufrufs: DR. RUDOLF STEINER

Das Komitee:

PROF. DR. W. v. BLUME, KOMMERZIENRAT E. MOLT, DR. ING. C. UNGER

BUND FÜR DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

Geschäftsstelle Stuttgart, Champignystraße 17

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HINWEISE

Die in diesem Band zusammengefaßten Vorträge hielt Rudolf Steiner im Rahmen des «Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus». Er sprach in der Zeit vom April bis Ende Juli1919 in Stuttgart und anderen württem­bergischen Städten, zum Teil in Industriewerken, häufiger noch öffentlich vor manchmal weit über tausend Zuhörern. Nachzuweisen sind etwa vierzig Vor­träge, von denen jedodi nur die vorliegenden - zumeist abgedruckt in den Schriften des «Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus» Stuttgart 1919 - erhalten sind. In diesen Monaten hielt er fast ebensoviel Sitzungen ab mit Ausschüssen, Betriebsräten und mit einem Kreis von Rednern, die vor anderen Zuhörern in anderen Gebieten Deutschlands über die gleichen The­men zu sprechen beabsichtigten.

Vorangegangen waren im Jahre 1917, also nodi während des Weltkrieges, Vorschläge für eine vollständige Neuordnung der mitteleuropäischen Verhält­nisse zur Vermeidung der Katastrophe, die viele kommen sahen. Rudolf Stei­ners Anregungen wurden in Form von zwei Memoranden an Persönlichkeiten in den Kreisen der deutschen und der österreidiisdien Regierung gegeben. Es fehlte aber, obgleich ihnen Verständnis entgegengebracht wurde, der Mut, die notwendigen Schritte zu tun, so daß es zum Zusammenbruch kam und der verhängnisvolle Wilsonsche «Vierzehn-Punkte»-Entwurf als Grundlage für den Friedensvertrag diente.

In dieser Situation wurde der Versuch unternommen, sich direkt an die wei­ten Kreise der Menschen zu wenden, die entweder aus der Arbeiterschaft oder aus dem kulturellen Leben heraus um eine Neuregelung der Verhältnisse be­müht waren, um bei ihnen ein Verständnis wachzurufen für die wahren Ge­setzmäßigkeiten des sozialen Organismus, wie Rudolf Steiner sie aus der anthroposophischen Menschenkunde heraus entwickelt hat. Der diesem Band vorangestellte «Aufruf» wurde von einer Reihe bekannter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnet und weit verbreitet. Im April 1919 er­schien das Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendig­keiten der Gegenwart und Zukunft» (Gesamtausgabe 1961). In Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen behandelte Rudolf Steiner einzelne Fragen eingehender. Diese Aufsätze sind in der Gesamtausgabe in dem Band «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921 » (1961) zusammengefaßt.

Dieser Anstrengung standen die Mächte entgegen, die am Bestehenden fest­halten wollten. Als unmittelbares Ergebnis kam es zur Begründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart durch Rudolf Steiner im August-September 1919 als einer Institution des freien Geisteslebens, aus der die nun über die ganze Welt ausgebreitete Waldorfschulbewegung hervorgegangen ist.

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Bei der ersten Drucklegung als «Schriften des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus» im Jahr 1919 wurden die Vorträge dieses Bandes zum Teil überarbeitet, für den Vortrag vom 16. Juni liegen die Korrekturen von Rudolf Steiner selbst vor. Für die vorliegende Herausgabe wurden die Ubertragungen der stenographischen Nadischriften herangezogen, und es wurden möglichst nur solche Anderungen aus den «Schriften» übernommen, die wirklich der Berichtigung von Hörfehlern oder stilisti­scher Deutlichkeit dienten.

Da Vorträge mit gleichen Themen vor verschiedenen Zuhörern gehalten wurden, er­geben sich in diesem Band gelegentlich fast wörtliche Wiederholungen. Eine ausführ­liche Darstellung der Bewegung für Dreigliederung des sozialen Organismus mit Schilderung der Zuhörer und der Schauplätze gibt Emil Leinhas in «Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner», Basel 1950.

Seite

7 Der Aufruf wurde im März 1919 als Flugblatt gedruckt und verbreitet; er wurde auch von vielen mitteleuropäischen Zeitungen gebracht und erschien als Anhang zu dem Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnot­wendigkeiten der Gegenwart und der Zukunft», gleichzeitige Ausgaben in Basel, Stuttgart und Wien 1919, Gesamtausgabe 1961. Er ist auch enthalten im Band «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeit-lage 1915-1921», Gesamtausgabe 1961, wo dazugehörige Ergänzungen, Hin­wesse u. a. aufgenommen wurden.

15 der damalige Außenminister: Gottlieb von Jagow, 1863-1935, «Ursachen und Ausbruch des Weltkrieges», Berlin 1919.

16 in einer kleinen Versammlung in Wien: Vortrag vom 14. April 1914 vor Mit­gliedern der Anthroposophischen Gesellschaft, Abschluß des Zyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», Gesamt-ausgabe 1959, Seite 164-165. Die Stelle ist in der Nachschrift stark zusammen­gefaßt und etwas mißverständlich enthalten. Deshalb sei hier der vollständige Wortlaut aus dem Wiener Vortrag wiedergegeben: «Es wird also heute für den Markt ohne Rücksicht auf den Konsum produziert, nicht im Sinne dessen, was in meinem Aufsatz (Geisteswissenschaft und soziale Frage> ausgeführt worden ist, sondern man stapelt in den Lagerhäusern und durch die Geldmärkte alles zusammen, was produziert wird, und dann wartet man, wieviel gekauft wird. Diese Tendenz wird immer größer werden, bis sie sich - wenn ich jetzt das Folgende sagen werde, werden Sie finden, warum - in sich selber vernichten wird. Es entsteht dadurch, daß diese Art von Produktion im sozialen Leben ein­tritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzinom entsteht. Ganz genau das­selbe, eine Krebsbildung, eine Karzinombildung, Kulturkrebs, Kulturkarzinom! So eine Krebsbildung schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durch-blickt, wie überall furchtbare Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen auf­sprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für den, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt, und was selbst

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dann, wenn man sonst allen Enthusiasmus für Geisteswissenschaft unterdrücken könnte, wenn man unterdrücken könnte das, was den Mund öffnen kann für die Geisteswissenschaft, einen dahin bringt, das Heilmittel der Welt gleichsam ent­gegenzuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker werden wird. Was auf seinem Felde in dem Verbreiten geistiger Wahrheiten in einer Sphäre sein muß, die wie die Natur schafft, das wird zur Krebsbildung, wenn es in der geschilderten Weise in die Kultur eintritt.» -«Geisteswissenschaft und soziale Frage», 1905, in «Luzifer-Gnosis 1903-1908», Gesamtausgabe 1960 und Einzelausgabe 1957.

18 Heiliger Synod: Der «Heilige regierende Synod» wurde 1721 von Peter dem Großen an Stelle des Patriarchats als oberste Behörde der russischen Kirche ein­gesetzt. Unter Leitung eines weltlichen Oberhauptes, des Oberprokurators, um­faßte er Vertreter der Geistlichkeit und des Mönchtums. 1917 wurde wieder das Patriarchat installiert.

Konstantin Petrowitsch Pobjedonoszew, Moskau 1827-1907 Petersburg, übte als Oberprokurator 1880-1895 einen starken reaktionären Einfluß auf die Zaren Alexander III. und Nikolaus II. aus.

21 Karl Marx, Trier 1818-1883 London, Begründer des wissenschaftlichen Sozialis­mus, leitete von London aus den «Kommunistenbund» und von 1864-1876 die «Internationale Arbeiterassoziation». Der Begriff des Mehrwertes ist entwickelt in seinem Hauptwerk «Das Kapital - Kritik der politischen Ukonomie», Band I Hamburg 1867, Band II und III hrsg. von Friedrich Engels 1885 und 1895.

25 von Wilhelm Liebknecht gegründete Arbeiterschule: Siebe «Mein Lebensgang» Kapitel XXVIII, Gesamtausgabe 1962, Seite 375-380; «Briefe II 1892-1902», Dornach 1953, Seite 26, 30, 310, sowie Johanna Mücke und Alwin Rudolph:

«Erinnerungen an Rudolf Steiner und seine Wirksamkeit an der Arbeiter­bildungsschule in Berlin 1899-1904», Basel 1955.

Wilhelm Liebknecht, 1826-1900, wurde 1867 neben August Bebel erster sozia­listischer Abgeordneter im deutschen Reichstag.

31 ein sehr bedeutender Natur forscher: Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896, Phy­siologe, Generalsekretär der 1700 durch Leibniz begründeten und 1774 durch Friedrich II. erneuerten Akademie der Wissenschaften. Das Zitat ist frei wie­dergegeben. Wörtlich: «Die Berliner Universität, dem Palaste des Königs ge­genüber einquartiert, ist das geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern» (Rede vom 3. August 1870).

32 Zentrum: römisch-katholische politische Partei.

35 Walter Rathenau, Berlin 1867-1922, ermordet von Rechtsradikalen, 1921 Wiederaufbauminister, 1922 Außenminister, «Die neue Wirtschaft», Berlin 1918, «Die neue Gesellschaft», Berlin 1919, «Nach der Flut-Sozialisierung und kein Ende, ein Wort vom Mehrwert», Berlin 1919.

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40 Woodrow Wilson, 1856-1924, Professor der Rechts- und Staatswissenschaften in Prineeton, 1913-1921 Präsident der USA, proklamierte in einer Ansprache vor dem Amerikanischen Kongreß am 8. Januar 1918 ein in vierzehn Punkte zusammengefaßtes «Programm des Weltfriedens». Übersetzung in «Die Reden Woodrow Wilsons», englisch und deutsch, Bern 1919. Wieder abgedruckt in Rudolf Steiner «Die Forderungen der Gegenwart an Mitteleuropa», Dornach 1951, Seite 158-163.

so sprach ich im Jahre 1917: Siehe dazu die «Memoranden», die Rudolf Steiner im Juli 1917 auf Bitte von Graf Otto Lerchenfeld und Graf Ludwig Polzer­Hoditz für deutsche und österreichische Staatsmänner geschrieben hatte. Ab­gedruckt in «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921», Gesamtausgabe 1961, Seite 329 ff. und Hinweise Seite 471 ff.

41 Thron und Altar: 1775 in Frankreich aufgekommene Bezeichnung der Einheit von Monarchie und Kirche.

43 «Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode.» Berlin 1894, Gesamtausgabe 1962. Auf dieses grundlegende Werk bezieht Rudolf Stei­ner sich ebenso wie auf «Die Kernpunkte der sozialen Frage» in den folgenden Vorträgen immer wieder, es wird daher darauf verzichtet, einzelne Belegstellen nachzuweisen.

44 Viktor Adler, Prag 1852-1918 Wien, Gründer der Österreichischen Sozialdemo­kratischen Partei, Gründer und Hauptschriftleiter der Wiener «Arbeiterzei­tung».

Engelbert Pernerstorfer, Wien 1850-1918, Gymnasiallehrer, Mitglied des Reichsrates.

die Expropriation der Expropriateure: Siehe dazu Karl Marx, «Das Kapital, Bd. I: Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation»: «Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateure werden ex­propriiert.»

45 Wladimir Iljitsch Lenin, eigentlich Uljanow, Simbirsk 1870-1924 Gorki, Grün­der der UdSSR, bedeutendster Theoretiker des dialektischen Materialismus. Aus russischem Bauernadel stammend, Führer der Bolschewisten, wurde im November 1917 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare.

47 Leo Trotzkij (Leib Bronstein), 1879-1940, engster Mitarbeiter von Lenin.

Johann Gottlieb Fichte, Rammenau/Lausitz 1762-1814 Berlin, «Der geschlos­sene Handelsstaat, ein philosophischer Entwurf einer künftig zu liefernden Politik», erschien 1800 als Nachtrag zu Fichtes «Grundlegung des Naturrechts»,

1796-97.

49 Homunkulus: Goethe «Faust» II. Teil, Laboratorium.

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56 die Oktober-Katastrophe, die November-Katastrophe: Die Revolution hatte in Deutschland mit der Meuterei der Marine in Kiel, 28.-31. Oktober 1918 be­gonnen. Am 9. November wurde in Berlin, nach Absetzung Wilhelms II. durch Prinz Max von Baden, die Republik ausgerufen, aber bis Januar 1919 fanden noch Kämpfe in Berlin statt. Die Unruhen endeten mit der Deutschen National-versammlung in Weimar am 11. Februar 1919.

78 den damals mitverantwortlichen Außenminister: Siehe Hinweis zu Seite 11.

87 Ehrenwerte Leute sind sie alle: Shakespeare «Julius Cäsar», III. Akt, 2. Szene, Antonius: .... denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann / Das sind sie alle, alle ehrenwert.»

88 die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern: Du Bois-Reymond, s. Hinweis zu Seite 31.

91 Mehrwert: Karl Marx «Theorien über den Mehrwert», aus dem nachgelassenen Manuskript «Zur Kritik der politischen Ökonomie», herausgegeben von Karl Kautsky, 4 Bände 1904, und «Das Kapital» siehe Hinweis zu Seite 21.

94 Walter Rathenau: «Nach der Flut», 1919, Sammelband kleinerer Publikationen.

95 Künftig freie Bahn dem Tüchtigen: Reichskanzler Th. von Bethmann-Hollweg,

1856-1921, am 28. September 1916 im deutschen Reichstag: «Freie Bahn für alle Tüchtigen!»

97 dreißig Jahre nach dem Tode gehört das geistige Eigentum der gesamten Menschheit: Die gesetzliche Schutzfrist für geistiges Eigentum ist seitdem in fast allen Kulturstaaten, so auch in Deutschland und der Schweiz, auf fünfzig Jahre verlängert worden.

104 Diskussion: Ein Diskussionsredner äußerte sich gegen die, wie er fand, dema­gogische Agitation des Vortrages. - Sodann sprach der tedinische Leiter der Daimler-Werke: Da er selbst selten Gelegenheit habe, mit seinen Arbeitern zu sprechen, sondern nur mit den Ausschüssen zu verkehren habe, so benütze er gern die Gelegenheit, ihnen zu sagen, wie man auch von seiten der Leitung ernste Lösungsversuche der sozialen Frage begrüßen könne, nur müsse darauf hingewiesen werden, daß die Umwälzungen für den Fortgang der Industrie kontinuierlich geschehen sollen. Er fürchte aber sehr, daß die aufgeregten Mas­sen anders verfahren werden und mahne zur Besonnenheit. Vielleicht würden sich seine Arbeiter später einmal an seine Worte erinnern.

105 Paul Singer, 1864-1911, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Sozialdemo­kratischen Partei.

109 Völkerbundskonferenz: 7.-13. März 1919 in Bern. Am 11. März 1919 hielt Rudolf Steiner im Berner Großratssaal einen öffentlichen Vortrag «Die wirk­lichen Grundlagen eines Völkerbundes in den wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Kräften der Völker», gedruckt Bern 1944.

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110 Eisenacher und Gothaer Programm: Ferdinand Lasalle hatte im Mai 1863 in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegründet, der sein soziales Programm auf friedlichem Wege mit Staatshilfe verwirklichen wollte. Dagegen traten am Parteitag in Eisenach, August 1869, Wilhelm Liebknecht und August Bebel mit der klassenkämpferischen Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei auf. Im Mai 1875 vereinigten sich die beiden Gruppen am Parteitag zu Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Für den Erfurter Parteitag 1891 hat dann Karl Kautsky ein rein marxistisches Programm entworfen, siehe E. v. d. Hellen, Das rote Programm. Weimar 1892.

114 Carl Vogt, 1817-1895, «Zoologische Briefe», 1851-52, «Köhlerglaube und Wissenschaft», 1854, «Vorlesungen über den Menschen», 1863, u. a.

Ludwig Büchner, 1824-1899, «Kraft und Stoff», 1855, «Die Stellung des Men­schen in der Natur«, 1869, «Gott und die Wissenschaft», 1897.

Rosa Luxemburg, Zamosz, Polen, 1870-1919 Berlin. Teilnehmerin der russischen Revolution 1905, später Dozentin der marxistischen Nationalökonomie an der sozialdemokratischen Parteischule in Berlin, gründete mit Karl Liebknecht den Spartakus-Bund. 1919 verhaftet und ermordet.

121 «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft», 1907, enthalten in «Luzifer-Gnosis 1903-1908. Grundlegende Aufsätze zur Anthro­posophie und Berichte aus der Zeitschrift und , Ge­samtausgabe 1960. Einzelausgaben Stuttgart 1948 und Taschenbuch Stuttgart 1961.

130 Viel Mühe haben sich meine Freunde gegeben: bezieht sich auf die «Memoran­den», siehe Hinweis zu Seite 40.

132 Plato, 427-347 v. Chr., «Politaia».

133 Karl Christian Planck, Stuttgart 1819-1880 Maulbronn, «Testament eines Deutschen. Philosophie der Natur und der Menschheit», hinterlassenes Werk, herausgegeben von K. Köstlin 1881. Siehe «Von Menschenrätseln», Gesamt­ausgabe 1957, Seite 70 ff.

William E. Gladstone, 1809-1890, englischer liberaler Staatsmann.

149 Eduard Graf von Taaffe, 1833-1895, aus irischem Adelsgeschlecht, 1879-1893 österreichischer Ministerpräsident.

150 ein gewisses Wort Gretchens zu Faust: Faust 1, Martens Garten: «Das ist alles recht schön und gut; / Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein biß­chen anderen Worten.»

158 daß man sich vergleichen möchte mit jenem Knaben: Humphry Potter hatte als Knabe, etwa im Jahre 1711, die beiden Hähne einer Newcomen-Cawley-Sa­vary-Dampfmaschine zu bedienen. Man kannte damals noch keine separaten Kondensatoren, die Dampf-Kondensation erfolgte im Zylinder selbst durch Wassereinspritzung. Es mußte daher abwechselnd Dampf und Spritzwasser eingelassen und Kondenswasser abgelassen werden.

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169 das sogenannte Kommunistische Manifest: , verfaßt von Karl Marx und Friedrich Engels, erschien 1848 in London. Bruno Hildebrand, 1812-1878, Professor der Nationalökonomie, , 1848.

172 Wilhelm Roscher, 1817-1894, , 5 Bde., 1854-1894, , 1874.

Johann Heinrich von Thünen, 1783-1850, lehrte, der Lohnsatz sei gleich dem geometrischen Mittel aus Existenzminimum und Arbeitsprodukt. «Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie>, 3 Teile, 1826-75.

181 Sidney Webb, 1859-1947, englischer Sozialpolitiker, führendes Mitglied der «Fabian Society>, einer Genossenschaftsbewegung, benannt nach dem römischen Feldherrn Fabius Cunctator (der Zögerer), weil sie den Sozialismus in gedul­diger, verfassungsmäßiger Entwidtlung verwirklichen wollte.

188 Rätesystem: revolutionäres Regierungssystem zur Ermöglichung der Diktatur des Proletariats durch Volksbeauftragte oder Kommissare, November 1917 in Rußland eingeführt, vorübergehend in Bayern 1918/19.

189 Entente: Bündnis zwischen England und Frankreich 1904, durch Einbeziehung Rußlands 1907 erweitert zur «Tripelentente».

198 die Novemberereignisse sind eingetreten: siehe Hinweis zu Seite 56.

199 Dr. Hermann Beot: Vortrag bei der ersten Sozialistischen Wirtschaftskonferenz des Bundes Neues Vaterland, Dezember 1918, , abgedrutkt im Sammelband «Wege und Ziele der Sozialisie­rung>, Berlin 1919.

208 Gustav Noske, 1868-1946, gelernter Holzarbeiter, seit 1906 Reichstagsabgeord­neter. 1919-1920 Reichswehrminister, bis 1933 Oberpräsident der Provinz Hannover. Unter seinem Befehl warfen im Januar 1919 Regierungstruppen und Freikorps den Spartakistenaufstand nieder.

214 «Die Hilfe>, Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst, herausgegeben von Friedrich Naumann, Berlin 1907-1936.-Der zitierte Aufsatz steht in Nr.1/1919:

von Dr. Gerhard von Frankenberg (Professor der Biologie).

217 Was mich anbetrifft, ich bin kein Marxist: Siehe z.B. Brief von Fr. Engels an Conrad Schmidt, S. August 1890 London, in Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Zürich 1934, Seite 371 ff. «Auch die materialistische Geschichtsauffassung hat deren heute eine Menge (fataler Freunde), denen sie als Vorwand dient, Ge­schichte nicht zu studieren. Ganz wie Marx von den französischen der letzten siebziger Jahre sagte: Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin.> Ferner Rowohlt-Monographie «Karl Marx, dargestellt durch Werner Blumenberg>, 1962, Seite 150.

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219 Brest-Litowsk: Am 15. Dezember 1917 wurde in Brest-Litowsk, Polen, der Waffenstillstand zwischen den Mittelmächten und Rußland abgeschlossen und am 3. März 1918 der Friedensvertrag, der dann durch den Versailler Vertrag für ungültig erklärt worden ist.

Schweinekrieg: Zwischen Ungarn und Serbien herrschte ein Wirtschaftskonflikt, weil Ungarn den Import serbischer Schweine nach Österreich-Ungarn ver­hinderte.

ich müßte ausführliche Vorträge halten: Eine entsprechende Vortragsreihe hatte Rudolf Steiner im Herbst 1918 in Dornach gehalten: , Gesamtausgabe 1962, und , Gesamtausgabe 1963.

221 wieviel eigentlich verbrochen worden ist: Die deutsche Generalität, vertreten durch. General Max Hoffmann, diktierte sehr schwere Bedingungen, welche be­reits am 11. November 1918 anläßlich des Waffenstillstandes von Compiegne aufgehoben werden mußten.

in den schauderhaflen Friedensbedingungen: Über die Höhe der Kriegsentschä­digung durch Deutschland wurde in verschiedenen Konferenzen verhandelt, die Pariser Konferenz forderte schließlich 226 Milliarden Goldmark.

223 Dr. Carl Unger, Cannstatt bei Stuttgart 1878-1929 Nürnberg, bedeutender Schüler Rudolf Steiners, Gründungsmitglied der Anthroposophischen Gesell­schaft. - Die Eröffnungsworte wurden vorangestellt, um einen Eindruck der historischen Situation zu geben. Siehe dazu auch Leinhas, Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner, Basel 1950, Seite 58.

223 dieses Flugblatt: «Aufruf zur Begründung eines Kulturrates>, Pfingsten 1919, abgedruckt bei Leinhas, Seite 211 ff.

227 der Mann, auf den wie auf eine letzte Hoffnung das deutsche Volk hin geblickt hat: Prinz Max von Baden, 1866-1929, wurde im Herbst 1918 deutscher Reichs­kanzler und richtete am S. Oktober 1918 ein Friedensangebot an Präsident Wilson auf Grundlage von dessen . - Nach der Abdankung Wilhelms II. im November 1918 übertrug Max von Baden das Reichskanzler-amt an den Sozialistenführer Friedrich Ebert, den späteren Reichspräsidenten.

233 Gesetz über die Betriebsräte: Siehe dazu Leinhas, Seite 52 ff. und Seite 218 ff.

238 Otto Fürst von Bismarck, 1815-1898, ab 1862 preußischer Ministerpräsident,

1871-1890 deutscher Reichskanzler. Siehe «Gefühle beim Lesen des dritten

Bismarckbandes» in: «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der

Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1921-1925>, Gesamtausgabe 1961, Seite 34.

239 das sogenannte Bagdadbahnproblem: Der Bau der Bagdadbahn von Kosia über Mosul nach Bagdad wurde einer 1903 gegründeten Gesellschaft übertragen, in der die Deutsche Bank bzw. das Deutsche Reich entscheidenden Einfluß besaß, was zu außenpolitischen Mißstimmigkeiten, speziell mit England, führte.

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239 Jungtürken: 1876 entstandene nationale Reformpartei, übernahm in den Jah­ren 1908-1918 die Führung des Osmanischen Reiches, wurde dann von Kemal Atatürk, 1880-1938, verboten.

Dardanellen: Konflikte wegen des Durchfahrtsrechtes durch die Dardanellen­straße brachen wiederholt zwischen Rußland und der Türkei aus.

Sandschak-Bahn: Der Sandschak Novi Pazar, das Gebiet um die Stadt Novi-basar, hatte als Verbindung Bosniens zum türkischen Reich und als Keil zwi­schen Montenegro und Serbien strategische Bedeutung und war von Österreich-Ungarn 1879-1909 militärisch besetzt.

240 Die erste deutsche Eisenbahn: 1835, von Nürnberg nach Fürth.

246 Wichard von Moellendorff, 1881-1937, Ingenieur, 1919 Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsamt, entwickelte den Plan einer nationalen Gemeinwirtschaft. «Konservativer Sozialismus», gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1913-1922, Hamburg 1932, Seite 71 f.

257 Ferdinand 1. von Österreich, 1503-1564, Sohn Philipps des Sch5nen und Jo­hanna der Wahnsinnigen, Bruder Karls V.

267 Rudolf Wissell, 1919 Reichswirtschaftsminister, vertrat den Gedanken der natio­nalen Gemeinwirtschaft, «Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums» vom 7. Mai 1919.

269 eine solche Schule, gerade hier in Stuttgart: Nach vorbereitenden Lehreraus­bildungskursen wurde am 7. September 1919 in Stuttgart die «Freie Waldorf­Schule» eröffnet. Sie entstand auf Initiative von Dr. h. c. Emil Molt, dem Eigentümer der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, und stand unter der Leitung von Rudolf Steiner. Siehe auch die Bemerkungen auf Seite 416.

272 in diesen Tagen der schwersten und folgereichsten Entscheidungen: Im Juni 1919 fanden die demütigenden Schlußverhandlungen in Versailles statt. Die Unter­zeichnung des Friedensvertrages erfolgte am 28. Juni 1919.

292 ein Fichtewort: Joh. Gottlieb Fichte: «Reden_an die deutsche Nation», Vor­lesungen, gehalten im Winter 1807/08 im französisch besetzten Berlin, vor allem die erste und die vierzehnte Rede.

294 Lehrerberuf, dem ich selbst angehört habe: Rudolf Steiner war als Student jahrelang Erzieher in einer Wiener Familie, siehe «Mein Lebensgang», Kapi­tel VI, Gesamtausgabe 1962, und von 1899-1904 Dozent an der Arbeiter­bildungsschule in Berlin, siehe Hinweis zu Seite 25.

296 «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen>: Matth. 7, V. 15.16 «Nehmt euch in acht vor den Lügenpropheten, die da kommen zu euch in Schafskleidern, in­wendig aber sind sie räuberische Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln?»

304 Oskar Hertwig, 1849-1922, Schüler von Ernst Haeckel, «Das Werden der Organismen, eine Widerlegung der Darwinschen Zufallslehre» 1916, «Zur

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Abwehr des ethischen, des sozialen und des politischen Darwinismus», 1918, «Der Staat als Organismus», 1922.

305 Die Natur macht keine Sprünge: Gottfried Wilhelm von Leibniz, 1646-1716, in «Neue Aufsätze» IV, 16: «Natura non facit saltus.» - Pistill: Blütenstempel.

309 Jean Paul Friedrich Richter, genannt Jean Paul, 1763-1825, «Levana oder Er­ziehungslehre», 1806.

312 Richard Avenarius, Paris 1843-1896 Zürich, suchte einen metaphysik-freien «natürlichen Weltbegriff» der «reinen Erfahrung» zu begründen (Empiriokriti­zismus). «Kritik der reinen Erfahrung», 1888-90, «Der menschliche Welt-begriff», 1891.

Ernst Mach, Turas/Mähren 1838-1916 Haar/München, «Die Analyse der Emp­findungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen», 1886, «Er­kenntnis und Irrtum», 1905, «Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre», 1919.

313 Eurythmie: «Eurythmie als sichtbare Sprache», Sechzehn Vorträge 1924, Ge­samtausgabe 1955, «Eurythmie als sichtbarer Gesang«, Acht Vorträge 1924,

Gesamtausgabe 1956, «Eurythmie als Impuls für künstlerisches Betätigen und

Betrachten», Ansprachen 1913-1924, Einzelausgabe 1953.

315 Friedrich Gottlieb Klopstock, 1724-1803, «Die deutsche Gelehrtenrepublik»,

1774.

325 Woodrow Wilson «Die neue Freiheit. Ein Aufruf zur Befreiung der edlen Kräfte eines Volkes», deutsche Ausgabe mit Einleitung von Hans Winand, München 1914.

328 Wilhelm von Humboldt, 1767-1835, «Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen», 1794, Neudruck Stuttgart 1962.

330 den Vortrag vom nächsten Freitag: 11. Juli 1919, siehe Seite 355 ff.

339 «Ignorabimus>: «wir werden nicht erkennen», Schlußwort der Rede Du Bois­Reymonds (siehe Hinweis zu Seite 31) über «Die Grenzen des Naturerkennens», abgedruckt in E. Du Bois-Reymond: Reden, Leipzig 1886. Der Schluß der Rede lautet: «Gegenüber den Ratseln ... ist der Naturforscher ... gewohnt, sein auszusprechen, ...» .... muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: Ignorabimus!»

341 «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», 1904, Gesamtausgabe

1961, Taschenbuchausgabe Stuttgart 1961.

343 Cartesius: René Descartes, La Haye 1596-1650 Stockholm, «Discours de la méthode, pour bien conduire la raison et chercher la vérité dans les sciences», 1637, «Meditationes de prima philosopbia», 1641.

353 Der geknechtete Teil der Menschheit: bezieht sich auf das Kommunistische Manifest, siehe Hinweis zu Seite 169, dessen Schlußworte lauten: «. . Mögen die

433

herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Prole­tarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder vereinigt euch!»

362 in meinen Schriften über die Geisteswissenschaft: Siehe die Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe am Schluß dieses Bandes.

364 zweierlei Nerven: Siehe «Von Seelenrätseln», Gesamtausgabe 1960, IV. Skiz­zenhafte Erweiterungen des Inhaltes dieser Schrift, 6. Die physischen und die geistigen Abhängigkeiten der Menschen-Wesenheit, Seite 159, ferner medizini­sche Vorträge.

Tabeserkrankungen: tabes dorsalis, Rückenmarkschwindsucht.

369 Plato, 427-347 v. Chr., Aristoteles 384-322 v. Chr.

Gotthold Ephraim Lessing, Kamenz 1729-1781 Braunschweig, «Die Erziehung des Menschengeschlechts», 1780, Neudruck Stuttgart 1958.

379 Avenarius und Mach: Siehe Hinweis zu Seite 312.

383 Pierre Joseph Proudlson, 1809-1865, «Qu'est-ce que la propriété?» 1840. François Marie Charles Fourier, 1772-1837, «Théorie des quatre mouvements et des destinées génerales» 1808, «Le nouyeau monde industriel et sociétaire», 1829.

Jean Joseph Louis Blanc, 1813-1882, «Organisation du travail» 1839.

384 Claude Henri de Rouvroy de Saint-Simon, 1760-1825, Sozialreformer mit utopischen Ideen, betrachtet das Eigentum als Grundfehler der bestehenden Ge­sellschaft, «Réorganisation de la société européenne» 1814, «L'Organisateur», 1819-1820, «Du systéme industriel», 1823, «Le nouveau christianisme, 1825.

Friedrich Engels, 1820-1895, «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates», 1884, «Die Entwicklung des Sozialismus», 1883. Siehe Hin­weise zu Seite 21 und Seite 169.

388 Wilhelm Weitling, Magdeburg 1808-1W74 New York, wanderte ab 1828 als Schneidergeselle durch Europa, 1836 in Paris, ging später nach Amerika. Leben und Schriften wirkten impulsierend auf die sozialistische Bewegung. «Das Evangelium eines armen Sünders», Bern 1845.

390 Ferdinand Lasalle, Breslau 1825-1864 Genf, begründete 1863 in Leipzig den Allgemeinen Arbeiterverein. «Gesammelte Reden und Schriften», herausgege­ben von Eduard Bernstein, 1919-20.

391 Adler usw.: Siehe Hinweise zu Seite 44, Adler, Pernerstorfer; Seite 25, Wilhelm Liebknecht; Seite 105, Singer.

Ignaz Auer, 1846-1907, von Beruf Sattler, ab 1877 Mitglied des Partei-vorstandes und Reichstagsabgeordneter.

August Bebel, Köln 1840-1913 Passugg, von Beruf Drechslermeister, bedeuten­der sozialistischer Parteiführer, ab 1867 Reichstagsmitglied, «Unsere Ziele», 1870, «Die Frau und der Sozialismus», 1883.

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393 Erfurter Parteitag: Siehe Hinweis zu Seite 110.

395 Engels in einer Einleitung: Siehe K. Marx: «Die Klassenkämpfe in Frankreich

1848-1850. Mit Einleitung von Friedrich Engels», Berlin 1911, Seite 21.

396 Eduard Bernstein, 1850-1932, sozialistischer Politiker, 1881-1890 Redakteur in Zürich, ab 1888 Mitarbeiter an der von Karl Kautsky herausgegebenen «Neuen Zeit», London.

400 Parteiprogramme: Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die die soziale und politische Revolution verfocht, wurde im März 1917 in Gotha durch Hugo Haase und Karl Kautsky gegründet. Auf dem linken Flügel bildete sich unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg der Spartakusbund, aus dem 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands hervorging. Die Mehr­heit der Sozialdemokratischen Partei, die Mehrheitssozialisten unter Friedrich Ebert, setzten dagegen die Zusammenarbeit mit der Regierung fort. Siehe Hin­weise zu Seite 114 und 227.

402 «lch bin kein Marxist>: Siehe Hinweis zu Seite 217.

406 Albrecht von Haller, 1708-1777, Berner Arzt und Naturwissenschaftler. Auf die Verse: «Ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist, / Zu glücklich, wann sie noch die äußere Schale weist» seines Lehrgedichts «Die Falschheit menschlicher Tugenden», 1730, antwortete Goethe im Beitrag «Freundlicher Zuruf» in der Zeitschrift «Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie», Band I, Heft 3, 1820; (1827 unter die Gedichte aufgenommen mit dem Titel «Allerdings. - Dem Physiker»):

«Ins Innere der Natur »

0, du Philister! -

«Dringt kein erschaffner Geist.»

Mich und Geschwister

Mögt ihr an solches Wort

Nur nicht erinnern;

Wir denken: Ort für Ort

Sind wir im Innern.

«Glückselig, wem sie nur

Die äußere Schale weist!»

Das hör ich sechzig Jahre wiederholen.

Und fluche drauf, aber verstohlen;

Sage mir tausend tausend Male,

Alles gibt sie reichlich und gern;

Natur hat weder Kern

Noch Schale,

Alles ist sie mit einem Male,

Dich prüfe du nur allermeist,

Ob du Kern oder Schale seist!


408 Lujo Brentano, 1844-1931, Professor der Nationalökonomie, setzte sich be­sonders für das Gewerkschaftswesen und für den freien Handel ein, , 1931.

410 Philipp von Heck, 1858-1943, Jurist, , 1900-1905.

Enrim Caruso, 1873-1921, weltberühmter Tenor. 412 Johannes Tetzel, um 1465-1519, Dominikanermönch; seine sehr auf die finan­zielle Wirkung eingestellten Ablaßpredigten waren einer der Anlässe für Luthers reformatorische Wirksamkeit. Vgl. dazu N. Paulus , 1923.

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PERSONENREGISTER

H = Hinweis

Adler, Viktor 44 H, 391
Aristoteles 369 H
Auer, Ignaz 391 H
Avenarius, Richard 312 f. H, 379 f.
Bebel, August 391 H
Beck, Dr. Hermann 199 H
Bernstein, Eduard 396 H
Bethmann-Hollweg, Theobald von
95 H, 320
Bismarck, Otto Fürst von 238 H
Blanc, Jean Joseph Louis 383 H
Blume, Prof. Dr. W. von 11
Brentano, Lujo 408 f. H
Büchner, Ludwig 114 H
Caruso, Enrico 410 H
Descartes, Rene (Cartesius) 343 H
Du Bois-Reymond, Emil 31 H, 88, 118
Engels, Friedrich 386 H, 395 H, 402
Perdirrand I. von Österreich 257 H
Fichte, Johann Gottlieb 47 H, 48, 271,
291, 292 H
Fourier, François Marie Charles
383 f. H, 389, 402
Frankenberg, Dr. Gerhard von
214 ff. H
Gladstone, William E. 133 f. H., 184
Goethe, Johann Wolfgang von 49, 271,
291, 377, 378, 406 f.
Haller, Albrecht von 406 f. H
Heck, Philipp von 410 H
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 271
Herder, Johann Gottfried von 271, 291,
377
Hertwig, Oscar 304 H
Hildebrand, Bruno 169 f. H
Homer 63
Humboldt, Wilhelm von 328 H
Jagow, Gottlieb von 15 H, 64, 78, 109
Klopstock, Friedrich Gottlieb 315 H,
326

Lassalle, Ferdinand 110, 390 H, 393
Lenin, Wladimir Iljitsch 45 H, 46 ff., 51,
273, 288, 328
Lessing, Gotthold Ephraim 271, 291,
369 H, 374, 377
Liebknecht, Wilhelm 25 H, 92, 161, 391
Luxemburg, Rosa 114 H
Mach, Ernst 312 H, 379 f.
Marx, Karl 21 H, 28, 45, 62, 67, 79, 91,
98, 124 f., 141, 169,217, 230, 259, 312,
352, 386 ff., 389, 396, 402, 414
Max von Baden, Prinz 227 H
Moellendorff, Wichard von 246 H
Molt, Emil 11
Noske, Gustav 208 H
Paul, Jean (Ludwig Richter) 309 H
Pernerstorfer, Engelben 44 H, 391
Planck, Karl Christian 133 H
Plato 132 f. H, 369 H
Pobjedonoszew, Konstantin Petrowitsch
18 H
Proudhon, Pierre Joseph 383 f. H, 402
Rathenau, Walther 35 H, 63, 94 H, 126,
146 f., 150
Roscher, Wilhelm 172 H
Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy de
384 H, 389, 402
Shakespeare, William 87 H
Singer, Paul 105 H, 391
Schelling, Friedrich Wilhelm von 271
Schiller, Friedrich von 271, 291, 377
Taaffee, Eduard von 149 H
T etzel, J ohannes 412 H
Thünen, Johann Heinrich von 172 H
Trotzki, Leo 47 H, 48, 51
Unger, Dr. Carl 11, 223 H, 268
Vogt, Carl 114 H
Webb, Sidney 181 H
Weitling, Wilhelm 388 f. H
Wilson, Woodrow 40 H, 73, 218, 227,
241, 325 H
Wissell, Rudolf 266, 267 H

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.