GA 329

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER DAS SOZIALE LEBEN UND
DIE DREIGLIEDERUNG DES SOZIALEN ORGANISMUS

Die Befreiung des Menschenwesens
als Grundlage für
eine soziale Neugestaltung

Altes Denken und neues soziales Wollen

Neun öffentliche Vorträge,
gehalten zwischen dem 11. März und 10. November 1919
in Basel, Bern und Winterthur

GA 329

1985

Inhaltsverzeichnis


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DIE WIRKLICHEN GRUNDLAGEN EINES VÖLKERBUNDES IN DEN WIRTSCHAFTLICHEN, RECHTLICHEN UND GEISTIGEN KRÄFTEN DER VÖLKER Erster Vortrag, Bern, 11. März 1919

Im Laufe der letzten vier Jahre konnte man oftmals hören, daß Er­eignisse, die für die Menschen so schrecklich gewesen sind wie die gerade zurückliegenden, in der ganzen Zeit, über die sich das ge­schichtliche Denken der Menschen erstreckt, nicht vorgekommen seien. Weniger häufig kann man dieser Empfindung gegenüber hören, daß nun dem Furchtbaren, das die Menschheit getroffen hat, auch wenigstens die Versuche einer Neugestaltung des sozialen Zusammenlebens entgegengestellt werden müßten, die sich in ihren gedanklichen Grundlagen in ebenso gründlicher Weise unterscheiden von dem, was man gewohnt ist zu denken, wie sich die schreckhaf­ten Ereignisse der letzten Jahre unterscheiden von dem, was man erleben konnte im Lauf der Menschheitsentwickelung. Ja, wenn solch ein Versuch auftaucht, Gedanken zu entwickeln, die den eingewur­zelten Denkgewohnheiten zuwiderlaufen, dann hört man heute zu­meist einem solchen Versuch mit dem Vorwurf begegnen: Nun, auch wiederum eine Utopie! - Man hat aber mit der Gesinnung, welche auch heute wiederum einem solchen Vorwurf zugrunde liegt, im Laufe der neueren Zeit schon einige Erfahrungen machen können. Gerade diejenigen Menschen, die so denken wie jene, die in dem angedeuteten Falle von «Utopie» sprechen, die waren es ja, wel­che auch eine Schilderung - wenn sie hätte jemand machen können -von den katastrophalen Ereignissen, die uns betroffen haben, noch im Frühling 1914 für eine Träumerei, für eine Phantastik gehalten haben würden. Sie nennen sich ja Praktiker, diese Leute. Wie haben sie dazumal, bevor die welterschütternde Katastrophe hereingebrochen ist, gesprochen? Schauen wir uns einige an. Wir brauchen nur den Blick auf einige der damals, im Frühling 1914, leitenden Staats­männer Europas zu lenken. Man führt fast Wörtliches an, wenn man sagt: Solche Praktiker, solche Verächter dessen, was sie Utopien

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nennen, die sprachen dazumal ungefähr so: Die Beziehungen, in denen dank der Bemühungen der Kabinette die europäischen Großmächte zueinander stehen, geben eine gewisse Garantie dafür, daß für absehbare Zeiten der Weltfrieden nicht erschüttert werden kann. - Solche Rede ist keine Erfindung, man kann sie in den Par­lamentsberichten nachlesen; sie ist da in den verschiedensten Variationen enthalten.

Wer sich aber damals nicht nach der Denkgesinnung solcher Leu­te in der inneren Verfassung seiner Seele richten konnte, sondern wer versuchte, sich den unbefangenen Blick für die Ereignisse zu wahren, der sprach vielleicht doch so, wie im April 1914 der spre­chen mußte vor einer Versammlung in Wien, der auch heute zu Ih­nen spricht. Mir war es dazumal durch mein intellektuelles Gewis­sen und meine Beobachtungsgabe auferlegt zu sagen: Wir stehen in bezug auf die Entwickelung unserer sozialen und Völkerverhältnisse in etwas darinnen, das sich nur bezeichnen läßt als ein Karzinom, als eine Krebskrankheit im Leben der Völker, die in kürzester Zeit in einer furchtbaren Art zum Ausbruch kommen muß. - Vielleicht wird die Gewalt der Ereignisse dann doch die Menschen zwingen, weniger diejenigen als Utopisten anzusehen, die aus dieser Seelen-verfassung heraus sprechen, als die anderen, die mit dem, was sie sa­gen, so gut die Ereignisse treffen, wie ich es Ihnen eben angedeutet habe. Heute wiederum hört man die Praktiker, die sich über man­ches hermachen, was sie als Utopien bezeichnen, sagen: Wir können in der Gegenwart nicht gleich die höchsten Berggipfel einer Neuord­nung in der menschlichen gesellschaftlichen Ordnung besteigen, wir müssen Schritt für Schritt vorwärtsgehen. Gewiß seien manche Ge­danken - sagen solche Leute - ja schön, und man werde vielleicht auch zu solchen Dingen in Jahrhunderten einmal kommen; aber heute sei es uns auferlegt, eben die nächsten Schritte zu tun.

Nun ist es ganz gewiß einfach eine Selbstverständlichkeit, daß man zunächst die allernächsten Schritte tun muß, aber derjenige wird schlecht einen Berg heraufsteigen, der sich gar keine Vorstel­lung macht, wenn er schon den nächsten Schritt unternimmt, wel­ches seine Wegrichtung sein soll; der sich gar keine Vorstellung davon

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macht, in welcher Richtung der Gipfel eigentlich liegt. Und wer nicht im Sinne dieser Utopieverächter denkt, sondern vielleicht ge­rade in einem realistischen Sinne denkt, der wird heute vielleicht noch von einem anderen Vergleich ausgehen müssen gegenüber dem, was im Keime verborgen liegt und auch in furchtbarer Weise zum Ausbruche kommen könnte. Er wird vielleicht nicht ausgehen müssen von jenem Karzinom, das ja in der Kriegskatastrophe der letzten Jahre zum Ausbruch gekommen ist. Er wird aber darauf hin-weisen müssen, daß viele Menschen jetzt so denken, wie diejenigen, die ein Haus bewohnen, das Risse und Sprünge hat, die dem Haus mit Einsturz drohen, die aber sich nicht dazu entschließen können, etwas vorzunehmen zum Neubau des Hauses, sondern die in allerlei Beratungen darüber eintreten, wie man die einzelnen Zimmer, die man da bewohnt, miteinander durch Türen verbinden kann, damit man durch diese Türen leichter die Möglichkeit hat, sich gegenseitig zu helfen. - Es wird die Hilfe, die man durch diese Türen sich leisten kann, dann wenig helfen, wenn die Sprünge zu einer entsprechen­den Stärke gediehen sein werden!

Solche Dinge zu denken, liegt, wie es scheint, wohl in der Ent­wickelung der Tatsachen, die heute eine lautere und deutlichere Spra­che sprechen, als die Menschen oftmals geneigt sind heute zu hören.

Nun hat diese Weltkriegskatastrophe aus den Schrecknissen her­aus, die zu durchleben waren, eine Empfindung losgelöst, die sich in solchen Ansichten allmählich kristallisiert hat, wie sie auch jetzt wiederum zugrunde liegen der bedeutungsvollen Versammlung, die hier in Bern als eine Völkerbundskonferenz abgehalten wird. Der Ruf nach einem Völkerbund, er hat sich herausentwickelt aus den schreckhaften Ereignissen der letzten Jahre. Man wird aber sagen müssen, daß es vielleicht doch gerechtfertigt erscheinen könnte, mit anderen Empfindungen noch an das heranzugehen, was in diesem Ruf nach dem Völkerbund liegt, als dies manche heute tun. Denn vielleicht ist es doch wichtiger, nicht allein zu fragen: Was könnte man für diesen Völkerbund tun? Welche Maßregeln könnte man unternehmen, damit er in der besten Weise - wie man sich das vor­stellt - zustande kommt? Sondern es könnte vielleicht gerade die

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Frage aufgeworfen werden: Welche Grundlagen bestehen im Leben der Völker für die Errichtung eines solchen Völkerbundes? Denn al­lein wenn man hinsieht auf die Kräfte, die im Völkerleben sind, kann man vielleicht aus diesen Kräften erkennen, inwieweit man in der Lage ist, mit einem solchen Völkerbund etwas Fruchtbares zu erreichen. Und scheint es nicht notwendig, ich möchte sagen, nach dieser Richtung hin die Frage etwas zu verschieben, da ja die wichti­ge, der Welt besonders einleuchtende Konzeption dieses Völkerbun­des zusammen mit einem Gedanken entstanden ist, von dessen Ver­wirklichung heute gar nicht mehr die Rede sein kann? Im Jahre 1917 tauchte in einer Rede Wilsons vor dem amerikanischen Senat ein Gedanke auf, der in Verbindung mit einem anderen Gedanken etwa so lautete: Das, was man anstreben könne mit diesem Völker­bund, das habe eine gewisse Voraussetzung, die Voraussetzung nam­lich, daß in den Kriegsereignissen sich weder von der einen noch von der anderen Seite dasjenige ergebe, was man im entschiedenen Sinne nennen müsse Sieg oder Niederlage. - Auf einen Ausgang blickte Wilson hin, der nicht der von Sieg oder Niederlage der einen Partei sei. Und aus der Gedankenrichtung nach einem solchen Aus-gange leitete er die Empfindungen her, die ihn zu diesem Völker­bund drängten.

Gewiß, der Gedanke hatte in sich eine Realität; aber von derjeni­gen Realität, an die damals gedacht worden ist, von der kann heute nicht mehr die Rede sein; denn heute ist der entschiedene Sieg auf der einen Seite die entschiedene Niederlage auf der anderen Seite. Ja, vielleicht muß gerade aus diesem Grunde zum Beispiel die Frage nach dem Völkerbund in ganz anderer Weise gestellt werden.

Mir liegt es ganz besonders nahe, wenn ich schon selbst die Frage nach dem Völkerbund stelle und mich getraue, sie vor Menschen heute zu besprechen, diese Frage in einer ganz besonderen Art zu stellen. Als Angehöriger desjenigen Volkes, auf dessen Seite die ent­schiedene Niederlage ist, ist es heute nicht möglich, die Frage so zu stellen, als ob ihre Beantwortung nur hervorgehen könne aus einer freien Übereinkunft derjenigen Völker, die sich vielleicht verbinden wollten in einem solchen Völkerbunde, und zu denen ja ihren innersten

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Empfindungen nach ganz gewiß auch die mitteleuropäischen Völker gehören. Die Pariser Ereignisse schließen für den Deutschen eine solche Fragestellung im Grunde genommen heute aus, und man soll sich darüber keinen Illusionen hingeben. Aber so will ich auch diese Frage nicht stellen. Mir geht es darum, eine Fragestellung zu finden und eine entsprechende Antwort zu formulieren, bei der auch der mitsprechen kann, der vielleicht für die nächsten Zeiten von der Teilnahme an diesem Völkerbund ausgeschlossen ist. Das heißt, die Frage wird so gestellt werden müssen: Was kann, gleich­gültig welche augenblicklichen Vereinbarungen zustande kommen, jedes einzelne Volk aus seinen eigenen Kräften, ungeachtet dessen, ob es Sieg oder Niederlage erlitten hat, für einen wirklichen Völker­bund, der der Menschheit das bringen kann, was von ihr ersehnt wird, beitragen?

Da aber wird man, da ein Völkerbund es ganz zweifellos zu tun haben muß mit internationalen Angelegenheiten, sich vor allen Din­gen den allerwichtigsten internationalen Angelegenheiten zuzuwen­den haben, die unter allen Umständen in der nächsten Zeit alle Völ­ker angehen werden.

Wenn man heute solche Verhältnisse behandelt, dann richtet man, wie man es in der heutigen Zeit gewohnt ist, den Blick zu­nächst nach zwei Richtungen hin. Man richtet den Blick hin auf der einen Seite nach dem Staate, und auf der anderen Seite nach dem Wirtschaftsleben. Diejenigen Menschen, die heute irgend etwas in bezug auf das Zusammenleben der Menschen wollen, sie sehen mit Bezug auf die Richtlinien dieses Wollens zunächst auf den Staat hin, indem sie fragen: Was soll der Staat tun in dieser oder jener Angele­genheit, für die eine Änderung spruchreif geworden ist? - Oder aber, um zu einer Erklärung zu kommen, blicken die Leute heute, wie, ich möchte sagen, mit hypnotisierten Blicken hin nach dem Wirtschaftsleben; denn die wirtschaftlichen Verhältnisse scheinen die einzigen zu sein, welche die heutigen Konflikte, die größten Konflikte wenigstens der Gegenwart, hervorrufen.

Bei diesen Betrachtungen, die von diesen zwei Blickrichtungen ausgehen, bleibt zunächst eines gewöhnlich unberücksichtigt. Wenn

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man auch versichert, man wolle Rechnung tragen den Verhältnissen der heutigen Zeit, und vor allen Dingen den Blick auf den Menschen richten, so tut man dies in Wirklichkeit selten. Hier möchte ich ge­rade versuchen, mich nicht zu scheuen, nachzugehen dem, was man findet, wenn man den Blick einerseits auf den Staat, andererseits auf das Wirtschaftsleben richtet. Aber vor allen Dingen möchte ich nicht außer acht lassen, in ganz energischer Weise eine Frage zu stel­len, ausgehend vom Gesichtspunkt des Menschen als solchem: Was haben die Staaten zu tun, um sich zu einem Völkerbunde zu vereini­gen? Das ist ja dasjenige, was zunächst vor allen Dingen gefragt wird. Und mancherlei - glauben Sie nicht, daß ich kritisieren oder verurteilen will -, mancherlei recht Gutes wird für die nächste Zeit zustande kommen, wenn man diese Frage so aufwirft, indem man versucht, aus der Konstruktion der Staaten, aus den einzelnen Ge­pflogenheiten der Staaten nun auch gewissermaßen etwas die Staa­ten Übergreifendes wie einen Weltenbund oder ein Weltenparla­ment zu finden. - Allein, ich möchte heute gegenüberstellen der Frage: Was sollen die Staaten tun? - die andere Frage: Was sollen die Staaten zum Heile des Menschen unterlassen? - In vieler Beziehung haben wir ja durch die furchtbaren Ereignisse der letzten Jahre ken­nengelernt, was die Staaten zuwege gebracht haben mit ihrem Tun; sie haben eben die Menschheit in diese furchtbare Katastrophe hin-eingeführt. Wir können es nicht ableugnen, die Staaten sind es, wel­che die Menschheit in diese furchtbare Katastrophe hineingeführt haben!

Sollte es da nicht doch naheliegen, einmal zu überlegen, ob ein Mensch, wenn er gesehen hat, daß er mit seinen Taten allerlei Un­heil anrichtet, er sich denn da just immer fragen muß: Wie mache ich die Sache nun anders? - Könnte es nicht einmal nützlicher sein zu sagen: vielleicht überlasse ich dasjenige, was ich schlecht zustande gebracht habe, besser einem anderen zu tun? - Da, sehen Sie, wird vielleicht die Frage auf ein ganz anderes Geleise abgeleitet.

Man muß vielleicht doch zu den wichtigsten internationalen Fra­gen greifen, wenn man fruchtbare Unterlagen zu demjenigen gewin­nen will, wovon man sagen kann, daß es die Risse und Sprünge hineinbringt

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in das Haus, das, aus verschiedenen Staaten bestehend, die gegenwärtige Menschheit bewohnt. Man muß vielleicht fragen: Wo­her rühren diese Risse und Sprünge? Woher kommt es, daß die Staa­ten die Menschen in diese furchtbare Kriegskatastrophe hineinge-trieben haben?

Zwei Dinge sind im Laufe der neueren Zeit ganz gewiß interna­tional geworden; außer manchem anderen sind es: der Kapitalismus und die menschliche Arbeitskraft. Zweifellos, einen «Völkerbund» oder irgend etwas, was dem ähnlich sieht, hatten wir: den Bund, dem das internationale Kapital zugrunde lag. Und ein anderer «Völ­kerbund» war auch im Werden, und er macht sich heute sehr gel­tend: es ist derjenige, dem das Internationale der menschlichen Arbeitskraft zugrunde liegt. Und man wird auf diese beiden Dinge zurückgreifen müssen, wenn man zu den fruchtbaren Keimen eines solchen Völkerbundes kommen will, der nun wirklich auf die Ange­legenheiten des Menschen als solchem gebaut sein kann.

Bezüglich des Kapitals erleben wir es ja, daß von einer großen Menge von Menschen die Art und Weise, wie es im Laufe der Zeit verwaltet wurde und was zum sogenannten Kapitalismus geführt hat, als dasjenige angesehen wird, was am meisten gerade gegen die Interessen eines großen Teiles der Menschheit ist, und was außer­dem durch vieles, was in ihm liegt, dazu geführt hat, daß wir in so furchtbare Ereignisse hineingekommen sind. Und der Ruf wird von vielen Seiten erhoben - der sich ausdrückt in einer Gegnerschaft gegen diesen Kapitalismus -, der radikale Ruf, daß die gesamte auf den Kapitalismus aufgebaute gesellschaftliche Menschenordnung geändert werden müsse, daß die privatwirtschaftliche Verwaltung des Kapitalismus dem weichen müsse, was man heute gewohnt wor­den ist, die Sozialisierung zu nennen. Dieses, verbunden mit einer Empfindung über die menschliche Arbeitskraft, das gibt heute dem internationalen Leben seine Färbung. Man muß es immer wieder wiederholen: So wenig deutlich es auch zum Ausdruck kommt in den bewußt ausgesprochenen Gedanken der proletarischen Welt­bevölkerung, unbewußt lebt es in den Untergründen einer nach Millionen zählenden Menschenmenge, daß im Laufe der kapitalistischen

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Entwickelung gerade die menschliche Arbeitskraft einen Cha­rakter angenommen hat, den sie weiterhin nicht haben dürfe.

Lassen Sie uns den Blick zunächst nach diesen beiden Richtungen hin lenken. Das Kapital, die kapitalistische Verwaltung des Wirt­schaftslebens, muß man, will man sie ganz klar durchschauen, ganz entschieden trennen von dem, womit sie heute verbunden ist. Zwei Dinge sind heute mit dem verbunden, was man Kapitalismus nennt: das eine weist auf etwas hin, was von dem Kapitalismus gar nicht ab­lösbar ist; das andere ist etwas, das von ihm Abstand nehmen muß. Man mengt heute in eines zusammen wirtschaftliche Betriebe auf Grundlage des Kapitals, und privaten Besitz von Kapital. Die Frage muß aber gestellt werden: Sind diese beiden Dinge voneinander lös­bar? Denn die private Verwaltung der wirtschaftlichen Betriebe, die aufgebaut ist auf die größere oder geringere Intensität individueller menschlicher Fähigkeiten, diese private Verwaltung, die zu ihrer Be­tätigung eines Hilfsmittels, des Kapitals, bedarf, die kann nicht auf­gehoben werden. Wer irgendwie sich unbefangen bemüht zu fragen, unter welchen Verhältnissen der soziale Organismus lebensfähig ist, wird immer darauf kommen, sich sagen zu müssen: Dieser soziale Organismus ist nicht lebensfähig, wenn ihm seine wichtigste Quelle entzogen wird, nämlich dasjenige, was in ihn hineinfließt durch die individuellen Fähigkeiten, die sich in verschiedenen Maßstäben der eine oder der andere Mensch aneignen kann. Was in der Richtung des Kapitals arbeitet, das muß auch in der Richtung der individuel­len menschlichen Fähigkeiten arbeiten. Das weist darauf hin, daß in keinerlei Art im Zukunftsstaat trennbar sein kann die notwendige Beigabe zum sozialen Leben, die von Seiten der individuellen menschlichen Fähigkeiten kommt, von seinem Mittel, dem Kapital.

Etwas anderes aber ist der private Besitz an Kapital, ist das Eigen­tum an Privatkapital. Dieses Eigentum an Privatkapital, das hat eine andere gesellschaftliche Funktion als die Verwaltung der Betriebe, zu denen Kapital notwendig ist, durch die individuellen menschli­chen Fähigkeiten. Dadurch, daß jemand, wodurch auch immer, Pri­vatkapital erwirbt oder erworben hat, dadurch kommt er zu einer gewissen Macht über andere Menschen. Diese Macht, die zumeist eine

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wirtschaftliche Macht sein wird, kann auf keine andere Weise ge­regelt werden als dadurch, daß sie in Zusammenhang gebracht wird mit den Rechtsverhältnissen des sozialen Organismus. Dasjenige, was dem sozialen Organismus wirklich fruchtbare Kräfte zuführt, das ist die Arbeit, die die individuellen Fähigkeiten durch das Kapi­tal leisten. Dasjenige aber, was den sozialen Organismus schädigt, das ist, wenn Menschen, die selber durch ihre individuellen Fähig­keiten eine solche Arbeit nicht leisten können, dennoch durch ir­gendwelche Verhältnisse in dauerndem Besitze von Kapital sind. Denn solche haben wirtschaftliche Macht. Was heißt es denn: Kapi­tal haben? - Kapital haben heißt: eine Anzahl von Menschen nach seinen Intentionen arbeiten zu lassen, Macht haben über die Arbeit einer Anzahl von Menschen.

Die Gesundung kann nur dadurch herbeigeführt werden, daß al­les, was mit dem Mittel des Kapitals erarbeitet werden muß im sozia­len Organismus, nicht abgetrennt wird von der menschlichen Per­sönlichkeit mit ihren individuellen Fähigkeiten, die dahinter stehen. Gerade aber durch den Besitz des Kapitals auf seiten solcher Perso­nen, welche nicht ihre individuellen Fähigkeiten in die Verwendung des Kapitals hineinlegen, gerade dadurch wird immer wieder und wiederum im sozialen Organismus losgelöst das Fruchtbare der Ka­pitalwirkung von demjenigen, was Kapital im allgemeinen ist, und was auch sehr, sehr schädliche Folgen für das soziale Zusammenle­ben der Menschen haben kann. Das heißt, wir stehen im gegenwär­tigen, geschichtlichen Augenblicke der Menschheit vor der Notwen­digkeit, daß abgetrennt werden muß der Besitz des Kapitals von der Verwaltung des Kapitals. Das ist die eine Frage. Lassen wir sie zu­nächst so stehen. Wir werden gleich nachher sehen, welcher mögli­che Lösungsversuch sich für diese Frage ergeben kann.

Das zweite ist die Frage nach der sozialen Bedeutung der mensch­lichen Arbeitskraft. Diese soziale Bedeutung der menschlichen Ar­beitskraft sieht man ein, wenn man verfolgen kann, was im letzten Jahrzehnte durch die Seelen der proletarischen Bevölkerung gezo­gen ist, wenn man gesehen hat, wie einschlagend in diese Seelen das­jenige war, was ein Karl Marx und diejenigen, die in seiner Richtung

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gearbeitet haben, über diese menschliche Arbeitskraft gesagt haben. Was Karl Marx in seiner Theorie von dem Mehrwert gesagt hat, es schlug zündend ein in die Proletarierseelen! Warum? Weil Empfin­dungen in ihnen waren, die diese Frage nach der menschlichen Ar­beitskraft zusammen brachten mit den tiefsten Fragen nach der Men­schenwürde und nach einem menschenwerten Dasein überhaupt. In solche Worte mußte Marx kleiden, was er über die soziale Bedeu­tung der menschlichen Arbeitskraft zu sagen hatte, welche besagten, daß die menschliche Arbeitskraft durch die moderne kapitalistische Wirtschaftsordnung bisher noch nicht befreit wurde von dem Cha­rakter, eine Ware zu sein. Im Wirtschaftsprozeß zirkulieren Waren; aber im modernen Wirtschaftsprozeß zirkulieren nicht nur Waren; da folgen nicht nur Waren den Geboten des Angebotes und der Nachfrage, da kommen auf den Warenmarkt, der in diesem Falle Arbeitsmarkt heißen muß, auch die menschlichen Arbeitskräfte zum Angebot, und sie werden bezahlt, so wie sonst Waren bezahlt werden. Derjenige, der seine menschliche Arbeitskraft zum Markte zu tragen hat, der empfindet, trotz des Vorhandenseins des moder­nen Arbeitsvertrages, das Entwürdigende für seinen Menschenwert, wenn er also die Arbeitskraft zur Ware gemacht sieht. Denn dieser moderne Arbeitsvertrag, er wird unter der Voraussetzung geschlos­sen, daß der Arbeitsleiter - in diesem Falle der Unternehmer - dem Arbeiter seine Arbeitskraft abnimmt gegen eine Entschädigung, die sich eben auf dem Wirtschaftsmarkte als notwendig erweist. Kurz:

die Arbeitskraft wird zur Ware gemacht.

Erst dadurch wird aber diese Frage gelöst werden können, daß man nicht stehenbleibt bei demjenigen, was Karl Marx ausgespro­chen hat. Es wird heute eine Lebensfrage sein für das, was zu errei­chen ist - sei es auf seiten der proletarischen Bevölkerung, sei es auf seiten der bürgerlichen leitenden, führenden Kreise -, gerade in die­sem Punkte die Befreiung dadurch herbeizuführen, daß man in der richtigen Weise hinausgehen lernt über dasjenige, was Karl Marx der proletarischen Bevölkerung auf diesem Gebiete hat beibringen kön­nen. Wo auch heute Leute sind, die da glauben, mit ihrem sozialen Wollen ganz in der Richtung des Proletariats zu denken, immer und

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immer liegt ihnen doch die Empfindung zugrunde: derjenige, der sonst besitzlos ist, der nur seine Arbeitskraft hat, er muß eben auf Lohn ausgehen; das heißt, er muß seine Arbeitskraft zur Ware ma­chen. Wie kann man am besten die Arbeitskraft zur Ware machen? -so etwa wird die Frage formuliert, wie kann man sie am erträgnis-reichsten machen? - Man wird niemals diese Frage in einer solchen Weise lösen, daß aus ihr nicht neue soziale Erschütterungen hervor­gehen können, wenn man nicht die entgegengesetzte Forderung auf­stellt: Wie kann menschliche Arbeitskraft überhaupt des Charakters der Ware entkleidet werden? Wie ist eine soziale Organisation mög­lich, in welcher die menschliche Arbeitskraft fortan keine Ware mehr ist? - Der Tatbestand des Arbeitens ergibt ja im eigentlichen Sinne doch das folgende. Durch die gemeinsame - nennen wir es jetzt Arbeit -, durch die gemeinsame Arbeit des handwerklich Ar­beitenden und des geistig Leitenden entsteht ein Produkt. Die Frage ist diese: Wodurch kann diese gemeinsame Erzeugung eines Produk­tes für den Warenmarkt in ein befriedigendes Verhältnis gebracht werden zu dem, was man heute den Arbeitnehmer, und zu dem, was man heute den Arbeitgeber nennt?

Dies sind doch die zwei bedeutungsvollsten Fragen, die heute über das ganze internationale Völkerleben hin aufgeworfen werden können und müssen: Was steckt in der Verwendung des Kapitals im menschlichen sozialen Leben? Was steckt auf der anderen Seite in dem Hineinfließen der menschlichen Arbeitskraft in dieses soziale menschliche Leben?

Der Arbeiter heute - betrachten wir seine Lage -, er kann, wenn er das eben auch nicht ausspricht, wenn auch Marx nicht gelernt hat, in dieser Richtung zu Ende zu denken, der Arbeiter kann emp-finden: Mit dem Unternehmer gemeinsam verfertige ich mein Pro­dukt. Dasjenige, was an der Arbeitsstätte erzeugt wird, das geht von uns beiden aus. Darum kann es sich nur handeln: welche Teilung tritt ein zwischen dem, was man heute den Unternehmer nennt, und demjenigen, der heute der handwerklich Arbeitende ist? Und eine solche Teilung muß eintreten, welche nach beiden Seiten hin befriedigend sein kann im unmittelbaren konkreten Falle.

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Was ist denn eigentlich heute das Verhältnis, das sich abspielt zwi­schen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer? Ich will nicht in agitatorische Phrasen hinein verfallen. Nüchtern aber wollen wir dieses ganze Verhältnis betrachten, nüchtern, wie es - allerdings nicht einmal in klaren Begriffen - von dem heutigen Proletarier for­muliert wird, wie es aber in den unterbewußten Empfindungen die­ser Proletarier ganz tief und intensiv sitzt. Da der Arbeiter durch die wirtschaftliche Macht des Unternehmers nicht in der Lage ist, über dasjenige, was sie gemeinsam als Ware erzeugen, oder was das ge­meinsame Erträgnis dieser Ware ist, darüber, wieviel dem einen und dem anderen zufällt, einen Vertrag abzuschließen, da er nur in der Lage ist, einen Arbeitsvertrag abzuschließen, so gerät der Arbeiter in eine Seelenverfassung hinein, die ihm die Empfindung gibt, daß im Grunde genommen niemals irgendwelche Arbeitskraft verglichen werden kann mit irgendeiner Ware. Und doch spricht man heute davon, daß man im Wirtschaftsprozeß Ware gegen Ware bezie­hungsweise ihren Repräsentanten, das Geld, austauscht. Und man spricht auch davon, daß man Ware beziehungsweise ihren Repräsen­tanten, das Geld, gegen menschliche Arbeitskraft austauscht. So be­kommt der Arbeiter heute die Empfindung, er arbeite zwar gemein­sam mit dem Unternehmer an der Erzeugung der Waren, werde aber eigentlich übervorteilt, indem ihm der ihm zustehende Teil eben nicht zukommt.

Dadurch wird man schon hingewiesen darauf, daß die individuel­len menschlichen Fähigkeiten, die sich des Kapitals bedienen müs­sen, eigentlich auf einer schiefen Ebene laufen. Denn was diese indi­viduellen menschlichen Fähigkeiten zuwege bringen, indem sie aus der menschlichen Geistes- oder Körperkraft heraus das Kapital ver­walten, das empfindet ein großer Teil der Menschheit als Übervor-teilung, als eine Art Betrug. Ob das nun berechtigt ist oder nicht, darüber wollen wir augenblicklich nicht nachforschen; aber emp­funden wird es so. Und in der Empfindung bildet es die Grundlage für die lautsprechenden Tatsachen der Gegenwart.

Damit aber wird man darauf gewiesen, daß die individuellen Fähigkeiten der Menschen in etwas wurzeln müssen, das in einer

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schiefen Art sich heute in den sozialen Organismus hineinstellt, oder wenigstens hineinstellen kann. Diese Verwertung der indivi­duellen Fähigkeiten des Menschen, sie ist verbunden heute im mo­dernen kapitalistischen Wirtschaftsbetrieb mit dem Aneignen des Besitzes der Produktionsmittel; sie ist dadurch verbunden mit dem Aneignen einer bestimmten wirtschaftlichen Gewalt, einer wirt­schaftlichen Übermacht. Dasjenige aber, was sich in einer Gewalt ausdrücken kann, was sich in dieser Übermacht eines Menschen über den anderen ausdrücken kann, das ist nichts anderes, als was im menschlichen Leben ein Rechtsverhältnis ausmacht.

Wer nun einmal den Blick darauf lenkt, wie sich in merkwürdiger Weise ein Rechtsverhältnis verquickt mit der Anwendung indivi­dueller menschlicher Fähigkeiten, der wird vielleicht, wie es dem ge­gangen ist, der hier zu Ihnen spricht, seinen Blick richten müssen auf etwas, was tiefer in der ganzen Natur des sozialen Organismus begründet ist als die Dinge, die man heute sehr häufig sucht. Es liegt ja nahe, von solchen Voraussetzungen aus zu fragen: Wie ist Recht und wie ist Aufwendung individueller menschlicher Fähigkeiten, die immerzu aufs neue produktiv sein müssen, die aus ihrem Ur­quell im Menschen immer wieder aufs neue hervorkommen müssen, wie ist Verwertung individueller Fähigkeiten im sozialen Organis­mus begründet?

Wer sich einen unbefangenen Blick auf das menschliche Leben bewahrt hat, der wird allmählich dann zur Einsicht kommen, daß in einem sozialen Organismus drei ganz verschiedene, ursprüngliche Quellen des menschlichen Lebens zu unterscheiden sind. Diese drei ursprünglichen Quellen des menschlichen Lebens, sie fließen ganz natürlich im sozialen Organismus zusammen, sie wirken zusam­men. Aber die Art und Weise, wie sie zusammen wirken, wird man nur ergründen können, wenn man vermag, auf die Wirklichkeit des Menschen als solchen hinzuschauen, der eine Einheit, ein einheitli­ches Wesen innerhalb der sozialen Dreiheit sein muß.

Im sozialen Organismus sind zunächst einmal diese individuellen menschlichen Fähigkeiten vorhanden. Und wir können ihr Gebiet verfolgen von den höchsten geistigen Leistungen des Menschen in

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der Kunst, in der Wissenschaft, im religiösen Leben bis herab zu je­ner Form der Anwendung individueller menschlicher Fähigkeiten, wie sie mehr oder weniger im Seelischen oder im Körperlichen be­gründet sind, bis zu jener Anwendung individuell-menschlicher Fä­higkeiten, die im gewöhnlichsten, im materialistischen Prozesse ver­wendet werden müssen, der auf kapitalistischer Grundlage beruht, bis in den Wirtschaftsprozeß hinein, den man gewöhnlich mit ei­nem absprechenden Worte den materiellen Bereich nennt. Bis da hinein läßt sich eine einheitliche Strömung von den sonstigen Gei­stesleistungen herunter verfolgen. Innerhalb dieses Gebietes beruht dann alles auf der entsprechenden, auf der fruchtbaren Anwendung dessen, was immer von neuem aus den Urquellen der menschlichen Natur herausgehoben werden muß, wenn es in der richtigen Weise hineinfließen soll in den gesunden sozialen Organismus.

Ganz anders lebt im gesunden sozialen Organismus alles das, was sich auf das Recht begründet. Denn dieses Recht ist etwas, was sich abspielt zwischen Mensch und Mensch einfach dadurch, daß der Mensch eben im allgemeinen Mensch ist. Wir müssen die Möglich­keit haben, im sozialen Leben unsere individuellen Fähigkeiten aus­zugestalten. Je besser wir sie ausgestalten, desto besser für die Allge­meinheit des sozialen Organismus. Je mehr wir Freiheit haben im Herausholen und im Verwerten unserer individuellen Fähigkeiten, desto besser für den sozialen Organismus. Schroff steht dem gegen­über im wirklichen Leben für jeden, der nicht von Theorien, von Dogmen ausgeht, der das wahre Leben zu beobachten in der Lage ist, alles das, was als Recht spielen muß zwischen Menschen. Da kommt nichts anderes in Betracht als das, worin alle Menschen sich einander gleich gegenüberstehen.

Und ein Drittes, was im menschlichen sozialen Zusammenleben spielt, was wiederum total verschieden ist von den beiden anderen -den individuellen menschlichen Fähigkeiten, die aus den Ungleich­heiten der menschlichen Natur kommen, dem Recht, das aus dem Rechtsbewußtsein kommt -, das ist das menschliche Bedürfnis, das aus den Naturgrundlagen des körperlichen und seelischen Lebens kommt, und das im Kreislauf des Wirtschaftslebens durch Produk­tion,

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durch Zirkulation und Konsumtion seine Befriedigung finden muß.

Diese Dreigliederung des sozialen Organismus hat nicht irgendein abstraktes Denken zustande gebracht, diese Dreigliederung ist da. Und die Frage kann nur sein: Wie kann diese Dreigliederung in der entsprechenden Weise reguliert werden, so daß nicht ein kranker, sondern ein gesunder sozialer Organismus herauskommt? Da führt denn - und ich kann in diesen Andeutungen selbstverständlich nur Ergebnisse anführen -, da führt denn ein unbefangenes Betrachten des sozialen Organismus dazu, sich zu sagen: Gerade die Verken­nung dieser radikalen Verschiedenheit der drei Quellen des sozialen Lebens im Verlaufe der neueren geschichtlichen Entwickelung hat zu der Erörterung geführt, in der wir heute schon drinnenstehen, und in der wir immer mehr und mehr drinnenstehen werden. In ei­ner unrechtmäßigen Weise sind im Laufe der neueren Zeit diese drei Strömungen des menschlichen Zusammenwirkens vermengt worden.

Wodurch hat es begonnen? Als in der neueren Zeit das wirt­schaftliche Leben, ich möchte sagen, den Blick wie hypnotisiert in Anspruch nahm, da hat man es im Fortschritt der Menschheit be­gründet gefunden, mit dem rein politischen Staate - der es ja zu tun hat mit dem, worin alle Menschen gleich sind, mit dem eigentlichen Rechte - zu verschmelzen zunächst gewisse Wirtschaftszweige, be­sonders das Telegraphenwesen, Eisenbahnwesen und so weiter, also diejenigen Wirtschaftszweige, welche als die geeignetsten erschie­nen, mit dem Staate verquickt zu werden, auf den ja auch, wie auf das Wirtschaftsleben, der menschliche Blick wie hypnotisiert hinge­richtet war. Und was tut im Grunde genommen der sozialistisch Denkende von heute? Er tritt nur das Erbe des bürgerlichen Den­kens in dieser Beziehung an. Er will, daß nun nicht bloß gewisse ein­zelne geeignet erscheinende Wirtschaftszweige verstaatlicht oder vergesellschaftet werden. Er will entweder den gesamten Besitz oder den gesamten Betrieb sozialisieren, vergesellschaften. Er will nur die letzte Konsequenz desjenigen ziehen, was da getan worden ist.

Nun könnte man vieles anführen. Man braucht nur auf äußerem politischem Gebiet anzuführen, welche Rolle unter den verhängnisvollen

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Kriegsursachen, wie sie sich seit Jahren vorbereitet haben, dasjenige spielt, was ich zu bezeichnen brauche mit dem einzigen Wort «Bagdadbahn». Solche Dinge ließen sich zu Hunderten und Hunderten anführen. Was bedeuten solche Dinge? Solche Dinge be­deuten ein Zusammenwachsen wirtschaftlicher Interessen mit dem reinen Staatsinteresse. So daß zuletzt das herauskommt, daß die Ver­walter des Staatslebens sich dazu hergeben müssen, die Dienste, die ihnen vermöge ihrer Macht möglich sind, wirtschaftlichen Interes­sen folgend, zu leisten. Und in die Konflikte der wirtschaftlichen In­teressen werden die politischen Interessen der Staaten auf diese Wei­se hineingezogen. Die ganze Konfiguration der Staaten hat in der neueren Zeit diese Vermengung des Wirtschaftslebens mit dem poli­tischen Leben gezeigt.

Wer gerade das mitteleuropäische Leben von diesem Gesichts­punkte aus betrachten konnte - wie derjenige, der heute zu Ihnen spricht, es auf österreichischem Gebiete betrachten konnte -, der weiß, daß viel zu dem, was heute den österreichischen Staat ausge­löscht hat aus dem Kreise des Bestehenden, dasjenige beigetragen hat, woran die Leute am wenigsten denken. Als man in den sechzi­ger Jahren in Österreich daran dachte, ein Verfassungsleben einzu­richten, wurde dieses Verfassungsleben darauf begründet, daß man eigentlich für die Staatskonfiguration das bloße Wirtschaftsleben herangezogen hat. Für den österreichischen Reichsrat war das Wäh­len so eingerichtet, daß vier Wahlkurien wählten: die der Groß­grundbesitzer, die der Handelskammern, die der Städte, Märkte und Industrialorte sowie die der Landgemeinden, lauter wirtschaftliche Gemeinschaften. Was aus diesen wirtschaftlichen Gemeinschaften heraus gewählt wurde, das machte in Österreich das Recht. Was da als Recht aus den rein wirtschaftlichen Interessen heraus entstand, das konnte selbstverständlich nicht zurechtkommen mit etwas, was aus geistig-individuellen Unterlagen der Menschheit heraus kommt:

mit den Völkerinteressen des sogenannten österreichischen Staates. Und so verquickten sich die Dinge in der Weise, daß zum Recht ge­macht wurde, was die von den vier Wirtschaftskurien Gewählten in einem Scheinstaate aus ihren wirtschaftlichen Interessen heraus zum

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Recht machen wollten. Das wiederum konfundierte sich mit dem, was man aus den Empfindungen der neueren Zeit heraus besonders gern konfundiert, das konfundierte sich mit den geistigen Interessen und Aspirationen der Menschheit, mit all dem, was man nennen kann den ganzen Umfang des geistigen Lebens.

Wenn auf der einen Seite das Wirtschaftsleben einbezogen ist in das moderne Staatsleben, so ist auf der anderen Seite einbezogen worden in dieses Staatsleben das gesamte geistige Leben. Man hat ja auch darin dasjenige gesehen, was gerade im Sinne des modernen Menschheitsfortschrittes liegt. Alles geistige Leben nach und nach zu einem Gliede des politischen Staatslebens zu machen, das wurde das Ideal. Wieviel ist heute noch frei geblieben? Einzelne Zweige der Kunst und einzelne Zweige der Wissenschaft, die von denjenigen be­sorgt werden, die nicht von einem Staate angestellt werden mögen, und ähnliches. Man hat heute noch keinen Sinn dafür, daß geistiges Leben seine Wirklichkeit nur dann dem sozialen Organismus in der richtigen Weise eingliedern kann, wenn dieses geistige Leben völlig emanzipiert von allem übrigen Leben auf sich selbst gestellt ist, wenn es sich selbst seine Verwaltung, seine Struktur geben kann. Während man in der neueren Zeit immer mehr und mehr danach strebte, das ganze Schulwesen zu verstaatlichen, liegt es in den Ent­wickelungskräften gerade des modernen Menschen, auf diesem Ge­biete eine völlige Umkehr zu bewirken. Man stelle sich nur einmal vor: Wenn der unterste Lehrer nicht der Diener des Staates ist, son­dern wenn der unterste Lehrer sich hineinzustellen weiß in ein frei organisiertes Geistesleben, sich hineinzustellen weiß in einen geisti­gen Organismus, wie anders er dasjenige, was er zu leisten vermag, dann gerade der Einheit des menschlichen sozialen Organismus ein-gliedern kann, wie anders, als wenn der Staat von ihm fordert, was er zu tun oder zu lassen hat, was er dem werdenden Menschen bei­zubringen hat!

Diejenigen, welche über diese Dinge urteilen, die glauben viel­leicht aus mancherlei üblen Erfahrungen, die gemacht worden sind, daß die Leute, die zum Beispiel die Wissenschaft zu besorgen haben, von der wieder so viel abhängt, nach gewissen Rücksichten ange­stellt

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werden. Aber die Wissenschaft selbst und ihre Lehre sind frei. Solche Gesetze findet man ja in den verschiedensten Staaten. Und daß dies so sei, behaupten ja auch viele Leute. Wer die Dinge wirk­lich kennt, der weiß, daß nicht nur in bezug auf die Anstellung, nicht nur in bezug auf die Verwaltung der geistigen Amter diese Überschreitungen eintreten, sondern auch in der Arbeit selbst. Frei­es Geistesleben, das kraftvoll mit seiner eigenen Wirklichkeit sich hineinstellen kann in den gesunden sozialen Organismus, das muß sich auch frei und abgesondert vom staatlichen und Wirtschafts­leben als auf sich selbst gestellt entwickeln können.

Ich kenne die billigen Einwände, die gemacht werden können:

«Wenn wiederum die Schule befreit sein wird von dem Staatszwan­ge, wenn jeder seine Kinder in die Schule schicken kann aus dem Ei­fer, den er für die geistige Bildung hat, dann kehren wir wieder in den Analphabetismus zurück.» Menschen, die so sprechen, rechnen mit alten Empfindungen in modernen Verhältnissen. Wir werden gleich sehen, wie diese modernen Verhältnisse ganz anderes bewir­ken, als diese Menschen mit den alten Empfindungen vermuten. Dasjenige aber ergibt sich - es muß vorausgeschickt werden -, daß die wirkliche Wahrheit nur leben kann im sozialen Organismus, wenn die notwendige Gliederung auch vorhanden ist und das fol­gende umfaßt: den geistigen Organismus, der auf die individuellen körperlichen und seelischen Fähigkeiten der Menschen gebaut ist -was wir auch das geistige Leben in seinem vollen Umfange nennen könnten; den Rechtsorganismus, der das Gebiet des eigentlichen po­litischen Staates umfaßt; und den Kreislauf der Wirtschaftsprozesse, in dem bloß Warenproduktion, -zirkulation und -konsumtion be­sorgt werden.

Man glaube nicht, daß dadurch die Einheit des Lebens zerstört wird. Im Gegenteil, ein jedes dieser Glieder des gesunden sozialen Organismus wird gerade dadurch wieder gesund werden, daß es sei­ne Kräfte aus sich selbst bekommt und jedes Glied dem anderen die entsprechende Beisteuer geben kann. Und so muß von demjenigen, der auf die Gesundung unserer sozialen Verhältnisse hinsteuert, ge­fordert werden die Verselbständigung dieser drei Glieder, die ein

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wirres Denken und ein wirres Handeln in dem letzten Jahrhunderte zusammengeschmolzen hat, also die Verselbständigung dieser drei Glieder: des geistigen Lebens, des Rechtslebens und des Lebens, das den Kreislauf des Wirtschaftsprozesses umfaßt.

Der Staat kann nicht Wirtschafter sein. Das wirtschaftliche Leben muß notwendig nach seinen eigenen Verhältnissen auf seine eigene Grundlage gestellt werden. Im wirtschaftlichen Leben hat sich dies auch bis zu einem gewissen Grade herausgebildet im genossenschaft­lichen, im gewerkschaftlichen Leben. Aber dieses genossenschaftli­che, gewerkschaftliche Leben ist immer wieder in ungehöriger Wei­se verquickt worden mit Rechtsverhältnissen. Dasjenige, was not­wendig ist im wirtschaftlichen Leben, ist das Assoziationenwesen, also die Zusammenschließung gewisser Menschenkreise nach den Bedürfnissen des Konsums und der dazu notwendigen Produktion, die Zusammenschließung von Menschen nach Berufsinteressen und die Verwaltung desjenigen, was innerhalb dieser Kreise zirkuliert nach entsprechenden menschlichen Bedürfnissen, wie es sich nur aus einem sachverständigen Urteil des Wirtschaftslebens selbst erge­ben kann.

In dieses Leben spielen nun die Wirkungen der menschlichen Ar­beitskraft hinein, spielen hinein die Wirkungen des Kapitals. Ich kann nur in einigen Linien andeuten, wie diese Wirkungen sich bil­den. Die Verwendung der menschlichen Arbeitskraft im sozialen Organismus besteht in dem Verhältnisse desjenigen, der handwerk­lich arbeitet, zu irgendeinem geistigen Leiter, der sich des Kapitals bedienen muß, indem er irgendeinen wirtschaftlichen Betrieb oder überhaupt irgend etwas dem sozialen Organismus Nutzbringendes verwaltet. Dieses Verhältnis kann nur ein Rechtsverhältnis sein. Das Verhältnis, das der Arbeiter zu dem Unternehmer einnimmt, muß sich auf ein Recht begründen. Das muß auf einem anderen Boden begründet werden, als auf dem Boden des Wirtschaftslebens selbst. Dadurch wird ein radikal anderes herbeigeführt, als wir es heute ha­ben. Aber man muß heute gegenüber den radikalen Tatsachen auch zu radikalen Urteilen kommen. Das Wirtschaftsleben ist heute auf der einen Seite abhängig von der Naturgrundlage. Dieser muß der

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Mensch mit sachverständigem Urteil gegenüberstehen. Er kann in einer gewissen Weise das eine oder andere Bodenstück durch seinen Fleiß und die Technik fruchtbar machen, aber nur innerhalb gewis­ser Grenzen. Er ist in weitem Maße abhängig von seiner Natur-grundlage. Ebenso wie das Wirtschaftsleben auf der einen Seite von der Naturgrundlage abhängig ist, ebenso muß es abhängig werden von dem, was festgestellt werden muß auf der Grundlage des Rechts­staates, in dem Zusammenwirken aller Menschen, gleichgültig wel­che Art von Arbeit sie betreiben. Ob sie geistige oder Handarbeiter sind, sie gehen auf dem Boden des Rechtsstaates ein Verhältnis ein in dem die Gleichheit der Menschen untereinander in Betracht kommt. Und es wird festgestellt, jetzt nicht in assoziativer Weise, wie es im Wirtschaftsleben sein muß, sondern in rein demokrati­scher Weise, in einer Weise, die die Wirkungen auf dem politischen Gebiete des Staates für alle Menschen gleich macht vor dem Gesetze. Da wird das festgelegt, was sich auf die Verwertung der menschli­chen Arbeitskraft bezieht, festgelegt, was sich auf das Verhältnis vom Arbeiter zum Leiter bezieht. Da kann nur festgesetzt werden ein Maximal- oder Minimalarbeitstag und die Art der Arbeit, die ein Mensch leisten kann. Dasjenige, was festgesetzt wird - das muß be­achtet werden -, wird zurückwirken auf den Volkswohlstand. Wenn irgendein Produktionszweig nicht gedeihen sollte, aus dem Grunde, weil für ihn zu viel rechtlich unmögliche Arbeit gefordert wird, so soll sie nicht geleistet werden; dann soll auf andere Weise Abhilfe geschaffen werden. Das Wirtschaftsleben soll auf beiden Sei­ten an die Grenzen kommen: auf der einen Seite an die Grenze sei­ner naturwissenschaftlichen Grundlage, auf der anderen Seite an die Grenze des Rechtes. Kurz, wir kommen von dem einen Glied des sozialen Organismus zu dem anderen Glied, dem politischen Staate, in dem im weitesten Umfange alles Rechtliche und alles dem Rechte Verwandte reguliert wird.

Und wir kommen dann zum dritten Gliede, das sich wiederum aus seinen eigenen Verhältnissen und Bedürfnissen regulieren und Gesetze geben muß: das ist die Organisation des Geistigen. Das Gei­stige muß darauf beruhen, daß auf der einen Seite die freie Initiative

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des Menschen steht, so daß der Mensch in der Lage ist, im freien Geistesleben seine Kräfte individuell der Menschheit anzubieten. Auf der anderen Seite muß das freie Verständnis und das freie Entge­gennehmen dieser Geisteskräfte liegen. Wie kann das sein? Das kann nur dadurch sein, daß bis in jene Verwendung des Geistesle­bens, die sich ausdrückt in der Verwertung des Kapitals, das geistige Leben, das frei ist im Schulleben, in allen geistigen Zweigen, daß bis in die Verwendung des Kapitals hinein das geistige Leben einzig und allein verwaltet wird von der geistigen Organisation. Wie ist das möglich? Das ist nur dadurch möglich, daß nun wirklich jene Sozia­lisierung eintritt, die nicht dadurch eintreten kann, daß man die menschliche Gesellschaft zu einer einheitlichen Genossenschaft macht, bei der vielleicht nur wirtschaftliche Interessen sich geltend machen, und alles aus wirtschaftlichen Interessen organisiert werden soll. Gliedert sich ab in gesunder Weise der geistige Organismus, frei von den beiden anderen Zweigen, dem Staats- und dem Wirtschafts-Organismus, die angeführt worden sind, und ist man in der Lage, von jenem geistigen Organismus aus auch jene Verwaltung zu besorgen, die sich bezieht auf die Verwendung des Kapitals und das ganze Wirtschaftsleben, das heißt: werden ausgefüllt alle Stellen, die im Wirtschaftsleben notwendig sind, durch die Verwaltung der geistigen Organisation, wird der Mensch mit seinen individuel­len Fähigkeiten in das Wirtschaftsleben hineingestellt von der gei­stigen Organisation aus, dann kommt man allein zu einer gesun­den, fruchtbaren Sozialisierung. Denn nur damit ist man in der Lage, das, was der Besitz des privaten Kapitals ist, von der Verwal­tung dieses Kapitals zugunsten des gesunden sozialen Organismus abzutrennen.

Was wird da eintreten? Nun, es wird mancherlei eintreten. Ich will nur beispielhaft einiges anführen. Es ist ganz selbstverständlich, daß der Mensch im Wirtschaftsprozesse privates Kapital, Eigentum erwirbt. Aber so wenig man die Verwertung dieses privaten Kapitals von der Verwertung der individuellen Fähigkeiten wird trennen dürfen unmittelbar, solange diese individuellen Fähigkeiten des Menschen tatig sein können, so sehr wird notwendig sein dann,

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wenn deren Tätigkeit aufhört, die Trennung des privaten Eigentums von dem Individuum vorzunehmen. Denn alles private Eigentum wird doch erworben durch das, was in den sozialen Kräften spielt, und es muß wiederum zurückströmen in den sozialen Organismus, aus dem es entnommen ist. Das heißt, es wird etwa eintreten müs­sen, daß ein Gesetz besteht aus dem Rechtsorganismus heraus - denn Besitz ist ein Recht, das Recht, irgendeinen Gegenstand oder irgend etwas ausschließlich zu benützen -, es wird ein Gesetz existieren müssen, daß dasjenige, was man erworben hat als privaten Besitz aus dem Wirtschaftsleben heraus, daß das - durch freie Verfügung aller­dings desjenigen, der es erworben hat - nach einer gewissen Zeit wiederum zurückfallen muß an den geistigen Organismus, der dafür wiederum eine andere Individualität zu suchen hat, die es in entspre­chender Weise verwerten kann.

Etwas Ähnliches wird eintreten für allen Besitz, der heute vor­handen ist, wie für den Besitz gewisser geistiger Dinge, die man pro­duziert, die ja dreißig Jahre nach dem Tode der allgemeinen Mensch­heit gehören. Man kann gar nicht sagen, daß man mehr Anrecht hat auf irgendeinen anderen Besitz als auf diesen geistigen Besitz. Wie lange es auch dauern darf, daß man das Erworbene behalten darf, der Zeitpunkt wird eintreten müssen, sei es für Erbschaftsbesitz oder anders erworbenen Besitz, wo durch freie Verfügung des Pri­vatbesitzers dasjenige an den geistigen Organismus zurückkommt, was durch individuelle Arbeit in seinen Besitz übergegangen ist. Da­neben wird sich das andere entwickeln, daß diejenigen, die aus dem Wirtschaftsprozeß sich Privatbesitz erwerben, sich auf freie Art, aus freiem Verständnisse denjenigen aussuchen können, den sie für indi­viduell befähigt halten, irgend etwas zu betreiben. Das aber wird durch die Kraft des Rechtsstaates, des eigentlichen politischen Staa­tes unmöglich gemacht werden, daß ein beträchtlicher Teil des Pri­vateigentums auf den reinen Zins verfällt, durch den jemand in der Lage ist, ohne daß er individuelle Fähigkeiten aufwendet, die in den Wirtschaftsprozeß des Gesamtlebens hineingehen, private Arbeit und anderer Menschen Arbeit für sich zu verwenden. Möglich ist es, und möglich wird es durch diese drei Glieder gemacht, daß die

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menschliche Produktivität immer verbunden bleibt mit den indivi­duellen Fähigkeiten des Menschen, mit denen

sie sachgemäß ver­bunden sein muß.

Diese Dreigliederung des sozialen Organismus erscheint heute noch als ein radikaler Gedanke. Und doch, wer sich nicht bequemen wird zu diesem Gedanken, wer nicht den ersten Schritt zu dem Gip­fel, den wir erklimmen müssen in der Gesellschaftsordnung, in die­ser Richtung wird machen wollen, wer nicht einsieht, daß die un­mittelbarsten, alleralltäglichsten, allernächsten Handhabungen mit dem Wissen von dieser Richtung entwickelt werden müssen, der wird nicht im Sinn der Menschheitsentwickelung, sondern der wird gegen diesen Sinn der Menschheitsentwickelung handeln. Wir ste­hen heute vor Tatsachen, die Urempfindungen der Menschen auf den Plan gefordert haben. Denen müssen wir die Urgedanken der menschlichen sozialen Ordnung entgegensetzen. Und ein solcher Urgedanke ist diese Dreigliederung.

Dieser Gedanke wird nun zunächst selbst von denjenigen, die ihn nicht für eine reine Utopie halten, sondern die sich vielleicht durch­ringen können dazu, ihn für etwas ganz Praktisches zu halten, er wird selbst von denen nur für etwas gehalten werden können, was sich auf das Innere der Staaten bezieht.

Und jetzt wird man fragen: Was hat denn das mit dem Völker­bund zu tun? - Das ist dasjenige, was zugleich die allerrealste aus­wärtige Politik sein kann! Denn wenn hingearbeitet wird auf die Be­antwortung der Frage: Was soll der Staat unterlassen? - so bekommt man aus dieser Betrachtung heraus die Antwort: Er soll unterlassen, sich in die Funktionen des geistigen und in die Funktionen des wirt­schaftlichen Lebens einzumischen. Er soll sich auf das Gebiet, das das rein politische, das das rein rechtliche Gebiet ist, beschränken. Dadurch aber wird auch im außerpolitischen Leben die notwendige Konsequenz eintreten, daß über die ganze Erde hin die wirtschaftli­chen Interessen des einen Gebietes unmittelbar zur Verhandlung, zum Austausch, zum Verkehr kommen mit den wirtschaftlichen In­teressen des anderen Gebietes, und ebenso die Rechtsverhältnisse und die geistigen Verhältnisse. Sind die geistigen Verhältnisse auf einem

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Gebiete befreit, dann wird niemals aus diesem geistigen Gebiete heraus irgendein Anlaß entstehen können, der sich in irgendeinem kriegerischen Ereignisse entladen könnte. Man kann das im klein­sten beobachten. Die geistigen Interessen können mit den kriegeri­schen Konflikten nur in eine Beziehung kommen dadurch, daß das staatliche Leben dazwischen tritt.

Auch da kann man eigentlich nur aus der Erfahrung heraus urtei­len; aber schon kleine Erfahrungen können beredt sein. Man konnte beobachten, wenn man für solche Dinge einen Blick hat, wie in Un­garn zum Beispiel in den Zeiten, in denen das staatliche Leben in Ungarn sich noch nicht in den deutschsprachigen Teilen in alles hin-eingemischt hatte, in den zahlreichen deutschen Gegenden die Leu­te, die eben deutsche Kinder hatten, sie in deutschsprachige Schulen schickten, die in deutschen Gegenden wohnenden Magyaren sie in die magyarischen Schulen schickten, und umgekehrt: Die Deut­schen, die in Gegenden wohnten mit magyarischen Schulen, schick­ten ihre Kinder in solche Gegenden, wo deutsche Schulen waren. Dieser Kinderaustausch wurde gepflegt in freier Weise.

Es war ein freier Austausch des geistigen Gutes der Sprachen, so wie man andere geistige Güter in freiem Austausch pflegen kann, von Land zu Land, von Stadt zu Stadt. Dieser freie Austausch des geistigen Gutes der Sprachen bedeutete für das Land Ungarn einen tiefen Frieden in allen Gebieten, in denen er gepflegt worden ist. In diesen freien Austausch wurde der innerliche Volkstrieb hineinge­prägt. Als der Staat sich hineinmischte, da wurde die Sache anders. Dasjenige, was da im inneren politischen Leben geschah, das ge­schah im Verlauf der neueren Zeit immerzu im äußeren politischen Leben. Derjenige, der für solche Dinge einen Blick hat, der konnte sehen, wie eigentlich tief friedlich im Grunde genommen die deut­schen Intellektuellen waren. Aus der Stimmung dieser deutschen In­tellektuellen wäre nie die Kriegsstimmung erwacht! Aber aus dem Verhältnisse, in dem sie standen zu dem Staat, ist dasjenige gewor­den, was jenen Eindruck in bezug auf den Staat hat entstehen lassen. Das soll weder ein Einwand noch etwas anderes sein, sondern nur ein Begreifen der Tatsachen.

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Das Wirtschaftsleben eines dreigliedrigen sozialen Organismus wird gerade dadurch sich auch innerhalb des internationalen Wirt­schaftslebens ausleben können, daß die wirtschaftlichen Verhältnis­se nicht von Staatsverhältnissen gemacht werden, sondern von Men­schen, welche aus solchen Territorien herauswachsen, in denen nicht ein Parlament ist, sondern drei Parlamente, ein geistiges, ein wirtschaftliches und ein Staatsparlament sind, in welchen nicht eine Verwaltung ist, sondern drei Verwaltungen sind, die zusammenwir­ken. Erst aus solchen Territorien werden die Menschen herauswach­sen können, die dann in einer zwischenstaatlichen Organisation die rechte Rolle spielen können. Und nicht auf den Staat und die Wirt­schaft, sondern auf den Menschen, auf den ganzen, vollen Menschen kommt es an.

Die Rolle der geistigen Führer wird eine andere sein, wenn sie aus der emanzipierten geistigen Organisation heraus sich gestaltet, eine andere als jene Theaterspielerei, die sich zum Beispiel zwischen den Mittelstaaten und Amerika im Professorenaustausch abspielt, die ja eben nur aus demjenigen heraus, was sich mit dem Staate in geistig ungehöriger Weise verband, sich entwickeln konnte. Alle diese Ver­hältnisse werden auch auf internationalem Gebiete auf eine gesunde Grundlage gestellt, wenn die gesunde Grundlage erst im einzelnen sozialen Territorium eingetreten sein wird. Aus diesen einzelnen so­zialen Territorien wird dann der Mensch hervorgehen, der in der rechten Weise auch zum internationalen Leben das seinige beitragen kann.

Das scheint mir die Antwort zu sein, die so gegeben werden kann, daß sie nicht nur das Zusammenstimmen der verschiedenen Völker in Betracht zieht, sondern daß der Beitrag jedes Volkes für die wirklichen Zukunftsideale des menschlichen Völkerbundes in Betracht kommen kann. So kann auch ein Deutscher sprechen; denn seien auch die mitteleuropäischen Länder oder Deutschland ausgeschlossen von dem nächsten Völkerbund, sie können so arbei­ten, daß sie durch die Gesundung des eigenen Territoriums für den gesunden Völkerbund der Zukunft vorausarbeiten; sie können das ihrige dazu beitragen.

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Das ist eine Antwort, die jeder für sich selber geben kann. Das ist eine Antwort, die auch jeder Staat als eigene Politik nach auswärts hin entwickeln kann. Denn wie auch die Staaten, die in irgendeine Friedensverhandlung zum Beispiel mit dem deutschen Reiche ein­treten, selber ihre Friedensdelegierten wählen, dasjenige, was sich dann aus dem chaotischen ehemaligen deutschen Reiche heraus er­gibt, das wird nicht verhindert werden können: aus den drei Glie­dern - aus dem Wirtschafts-, aus dem Staats-, aus dem geistigen Or­ganismus - seine Delegierten besonders zu wählen, die in entspre­chender Weise dann den gesunden sozialen Organismus auch nach außen hin vertreten können. Das ist wirkliche, mögliche, das ist wahre reale Politik.

Ich habe in den letzten Jahren vielfach diese Ideen vor Menschen vorgetragen; ich habe sie auch, wie vielleicht manche von Ihnen ge­sehen haben, in einem Aufruf zusammengefaßt, der jetzt durch die Zeitungen erscheint, unterschrieben von einer mich sehr befriedi­genden Anzahl von Menschen, unter denen solche sind, bei denen ausgeschlossen ist, daran zu zweifeln, daß sie ein Recht haben, über diese Dinge mitzuurteilen, und ich habe oftmals hören müssen: durch eine solche Gliederung wird ja das Alte wieder hervorgerufen, was gerade widerstrebt dem, was in den Empfindungen eines großen Teils der modernen Menschheit liegt, die Menschheit werde wieder gegliedert in die alten drei Stände: Nährstand, Wehrstand und Lehrstand. Das Gegenteil ist der Fall! Nichts unterscheidet sich so sehr von diesen alten Ständen Nährstand, Wehrstand und Lehrstand wie dasjenige, was hier gewollt wird; denn nicht die Menschen werden gegliedert in Klassen, in Stände, wie frühere Zeiten gliederten, son­dern das, was vom Menschen abgesondert ist, worin der Mensch lebt: der soziale Organismus wird gegliedert. Undder Mensch ist ge­rade dasjenige, was als ganzes, volles, in sich abgeschlossenes Wesen innerhalb dieser von ihm abgeschlossenen Gliederung sich erst recht als Mensch wird entwickeln können. Dieser befreite Mensch, er al­lein wird es sein können, der auch zugrunde legen kann die Gedan­ken, die Empfindungen, die Willenshandlungen, die im modernen Völkerbund spielen müssen.

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Man möchte ja, indem man über diese Dinge nachdenkt, nicht einseitig werden. Und das wird man leicht, wenn man nur seine ei­genen Empfindungen zugrunde legt. Daher möchte ich mich auf ei­nen anderen jetzt zum Schluß berufen, nachdem ich dasjenige, was ich ausgeführt habe als notwendig zur Gesundung des sozialen Or­ganismus, so radikal hingestellt habe und es unterschieden wissen will von dem, was sich bisher entwickelt hat, und was zu dieser furchtbaren Katastrophe geführt hat. Ich möchte mich auf einen an­deren berufen, auf einen Mann, auf den ich mich oftmals berufe, wenn ich hinschaue nach einem hochstehenden geistigen Betrachter derjenigen Dinge, die sich innerhalb der menschheitlichen Ent­wickelung bis in die Gegenwart herauf ergeben haben: Herman Grimm. Er sagt einmal an einer Stelle, die aus seinen Gedanken über die neuzeitliche soziale Entwickelung der Menschheit hervorgegan­gen ist, er sagt einmal: Wenn man das heutige Europa ansieht, so sieht man auf der einen Seite, wie die Menschen miteinander in Ver­bindungen gekommen sind, von denen sich ehemalige Zeiten nichts träumen ließen; aber man sieht zu gleicher Zeit hereinragen in die­ses, was man moderne Zivilisation nennt, dasjenige, was sich aus­drückt in unserem kriegerischen Rüsten - so sagt er als Deutscher -, in unserem eigenen Militarismus und in dem Rüsten der anderen Staaten, das ja doch nur darauf hinauslaufen kann, sich eines schö­nen Tages zu überfallen. Und wenn man sieht, was daraus werden könnte - die Worte klingen wahrhaftig prophetisch, sie sind in den neunziger Jahren geschrieben, Herman Grimm ist bereits 1901 ge­storben -, wenn man darauf hinsieht, meint Herman Grimm, dann ist es einem, als ob sich eine Zukunft aus lauter menschlichen Kon­flikten bestehend entwickeln könnte, so daß man am liebsten einen Tag zum allgemeinen Selbstmord der Menschheit ansetzen möchte, damit sie nicht erleben muß das Schreckliche, das aus diesen Ver­hältnissen folgt.

Seither haben die Menschen manches gesehen, was aus diesen Verhältnissen folgt. Was sie gesehen haben, könnte wohl hinleiten zu Gedanken, die dann nicht mehr für eine Utopie angesehen wer­den, zumal wenn man gesehen hat, wie manches, was wirklich ent­standen

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ist, sich gerade für den Blick der Praktiker wie eine Utopie ausnehmen müßte gegenüber dem, woran sie vor kurzem noch als an etwas Unmögliches geglaubt haben.

Das ist es, was die Leute heute nicht nur zur Veränderung ihres Handelns, sondern zur Veränderung ihrer Gedanken, zum Umden­ken bringen sollte. Wir brauchen zukünftig nicht allein andere Ein­richtungen, wir brauchen letztlich neue Gedanken, neue Menschen, die nur aus einer neuen Gliederung des sozialen Organismus heraus-wachsen können. Internationale Bündnisse, wir haben sie ja auch im Grunde genommen doch erlebt! Ob das, was angestrebt wird, feste­ren Grund und Boden hat, festeren Halt bietet, als die alten Verhält­nisse, das ist nur dann zu entscheiden, wenn man wirklich zurück­geht auf die Grundbedingungen des menschlichen sozialen Zusam­menlebens. Haben wir nicht auch in der Art, wie man früher unter den Angehörigen der verschiedensten Fürstenhäuser zu heiraten pflegte, so etwas wie ein internationales Leben sich entwickeln gese­hen? Dagegen wäre ja nichts einzuwenden, wenn sich die Fürsten­häuser in einer verheißungsvollen Art entwickelt hätten! Es hätte sich dann auch im Sinne dieses «internationalen Bündnisses» etwas ergeben können, was selbst unter dem monarchischen Prinzip sehr nützlich gewesen wäre! - Wir haben andere internationale Bündnis­se, so zum Beispiel das sehr reale internationale Bündnis des Kapitals erlebt. Wir haben erlebt die internationale Sozialdemokratie. Wir haben verschiedenes Internationales erlebt. Dasjenige, was auf das Internationale der familiären Instinkte baute, es ist zerfallen. Was auf die wirtschaftliche Gewalt des ungeistigen Kapitalismus baut, dem unbefangenen Blick zeigt es sich: es wird zerfallen. Aber auch das, worauf der internationale Sozialismus hinzielt, ist im Grunde genommen die Sehnsucht nach Macht. Diese Macht wird in Zu­kunft dem Rechte weichen müssen, denn was der Mensch durch sein Machtstreben im sozialen Leben an sich reißen kann, kann nur zum Heil der Menschheit ausschlagen, wenn es dem Rechtsleben eingegliedert, vom Rechtsleben durchleuchtet wird.

Und so darf vielleicht doch in dem gegenwärtigen Menschen ge­genüber mancherlei Internationalem die Empfindung entstehen,

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daß ein wirklich fruchtbar wirkender Völkerbund der Menschheit gegründet sein muß auf etwas anderes, als auf diese alten Verhältnis­se. Er muß gegründet sein auf ganz neuen Menschengedanken, ganz neuen Menschenimpulsen und nicht auf fürstlichem Geblüt, nicht auf der Macht des Kapitals oder der Arbeit. Er muß gegründet sein auf das Recht, auf den wirklich befreiten ganzen Menschen. Denn nur dieser wirklich befreite, ganze, für internationale Empfindung wache Mensch wird auch in der rechten Weise Verständnis haben für das, was ihm dann leuchten kann als das Licht des internationa­len Rechts.

Diskussion

1. Redner: Erklärte, die von Herrn Dr. Steiner vorgeschlagene Lösung sei ihm nicht klar ge­worden. Auch sei es nicht möglich, den Sozialismus als große geistige Konzeption in der Wei­se, wie es Herr Dr. Steiner getan habe, abzufertigen, denn schließlich entstehe ein neues Recht nicht dadurch, daß man den gesunden Kern des Sozialismus wegwische. Die Idee der Dreigliederung scheine wohl eine Lösung zu sein, sie sei aber eine willkürliche Lösung. Die Bodenreform ist nach der Ansicht dieses Redners etwas, was im Wesen der Zeit liegt. Zum Schluß wurde auf die fortschreitende Ausbreitung des Sozialismus hingewiesen, als ein Zeug­nis dafür, daß dieser nicht ein ausgedachtes System ist, sondern einer Realität entspricht.

Rudolf Steiner: Es ist natürlich schwer zu diskutieren darüber, ob das, was in einem immerhin nicht ganz kurzen Vortrag angedeutet werden konnte, im absoluten Sinne jedem einzelnen einleuchten muß oder nicht; das ist schließlich eine individuelle Sache, und dar­über wird ja jeder Zuhörer selbstverständlich seine eigene Meinung haben. Ich will daher diese Frage nicht besonders berühren. Ich möchte nur über die anderen Gedanken, die der verehrte Herr Vor­redner geäußert hat, einige ganz kurze Bemerkungen machen, vor allen Dingen über das Prinzipielle. Wer heute meinen vielleicht radi­kalen und deshalb als unbeweisbar erscheinenden Gedankengängen doch einigermaßen gefolgt ist, hat vielleicht sehen können, aus der Art, wie die Sache gefaßt war, daß das, was ich aussprach, durchaus nicht aus einem Einfalle nur eines schönen Morgens gekommen ist, oder anderen Einfällen entsprungen ist, sondern daß sie gerade gebaut

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sind auf dem, was meinetwillen von anderer Seite bewiesen ist Es ist ja nicht notwendig, Ihnen wiederum alles das zu beweisen, was der Sozialismus zum Beispiel bewiesen hat! Ich habe einen Ge­danken geäußert, den Gedanken: daß besonders einleuchtend den Proletarierseelen die Gedankentheorie vom Mehrwert und seiner Beziehung zu der menschlichen Arbeitskraft ist. Ich habe dann den Gedanken geäußert, daß man aber diese Anschauung noch um einen Schritt weiter führen muß. Damit glaube ich aber auch gezeigt zu haben, daß ich durchaus nicht wegwischen will das, worauf gerade der verehrte Herr Vorredner gedeutet hat: den modernen Sozialis­mus. Wer mir genauer zugehört hat, wird sich vielleicht auch sagen können, daß ich gerade mit Bezug auf die Bedeutung des modernen Sozialismus in meinem Vortrag genügend Andeutungen gemacht habe.

Was ich ausgesprochen habe, konnte ich nicht anders verstehen, als im Sinne des erwähnten Beispieles. Ich meinte, wenn man sich nicht einlasse auf den modernen Sozialismus, dann lebe man so wie die Bewohner eines Hauses, dem der Einsturz droht, und die sich nicht entschließen, einen Neubau zu errichten, sondern beraten, wie man alle Zimmer gegenseitig verbinden müsse, damit man sich durch diese Türen gegenseitig helfen könne.

Dadurch konnte man bei einigem guten Willen sehen, welches Gewicht ich eigentlich dem modernen Sozialismus beilege. Und es war im Grunde dann nicht so schwer, daraus den Gedanken abzulei­ten, der ja natürlich in vierzig, fünfzig Vorträgen weiter ausgeführt werden könnte, daß man doch nicht auskommt mit dem, was im modernen Sozialismus schon liegt. Ich will dabei noch auf eines hin­weisen. Natürlich werde ich auch jetzt wiederum nur so kurz sein können, daß unter Umständen derjenige, der will, sagen kann, daß ich den verehrten Zuhörern nichts mit nach Hause gebe. Ich möchte nur sagen: Ich habe den allergrößten Respekt vor demjenigen, was namentlich im modernen proletarischen Denken der Marxismus und auch alles dasjenige, was sich auf dem Marxismus aufgebaut hat, hervorgebracht hat. Ich war selbst jahrelang Lehrer an einer von Wilhelm Liebknecht gegründeten Arbeiterbildungsschule, und ich

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habe sozusagen mitgearbeitet an dem Einleben gerade der sozialisti­schen Gedanken innerhalb der Arbeiterschaft. Und ich darf viel­leicht darauf hinweisen, daß es nicht gerade unrichtig sein würde, wenn ich sage: Ich glaube, daß immerhin eine Anzahl entsprechen­der älterer Redaktoren an deutschen sozialistischen Zeitungen, so­gar Redner, die heute in Deutschland immerhin ein nicht ungewich­tiges Wort reden, meine Schüler vielleicht sind. Also ich kenne nicht nur den modernen Sozialismus als solchen - aus der Art, wie ich meine Gesichtspunkte vorgebracht habe, hätte man das schon sehen können -, sondern ich kenne auch das Gewicht, das im Leben des modernen Proletariats dieser Sozialismus hat. Wenn man das so jah­relang, ich darf sagen, jahrzehntelang mitgemacht hat, dann hat man es nicht gerade nötig, auf einen schönen, besonderen Einfall zu war­ten, um auch ein System auszubilden, weil man eben auch eines ha­ben will, sondern dann baut man eben an demjenigen weiter, was da ist. Und wer eingeht auf die Dinge, sieht aus dem Weitergebauten, daß man das Vorhandene gerade achtet.

Aber nun darf man eines nicht aus dem Auge verlieren. Gewiß, Gedanken sind eigentlich als solche, wenn sie innerhalb des Theore­tischen gehalten werden, im Grunde nichts weiter als Symptome für das, was im wirklichen Leben sich bewegt. Daher glauben Sie nicht, daß ich Ihnen nun Vorschläge machen will, wie die moderne Arbei­terbewegung oder irgend etwas eigentlich nur von der Triebkraft der Gedanken getragen wird, sondern ich will im Gegenteil zum Ausdruck bringen, daß die zum Vorschein kommenden Gedanken -ich denke dabei allerdings nicht bloß an Wirtschaftskräfte - tiefer gelegene innere Kräfte eben symptomatisch zum Ausdruck bringen. Ich glaube überhaupt, daß wir in der Zukunft einer symptomatolo­gischen, nicht einer so kausalen Geschichtsbetrachtung, wie sie heu­te beliebt ist, entgegengehen.

Aber nun muß man doch sehen, wie gewisse Gedanken, die alle als Symptome für gewisse dahinterliegende Tatsachen anzusehen sind, wie diese Gedankensymptome sich darleben. Sie kennen heute sehr radikale Ausgestaltungen des Sozialismus. Glauben Sie nicht, wie das etwa im Unterbewußtsein bei manchem aufsteigen könnte,

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der dies - was vielleicht auch der Herr Vorredner gar nicht so ge­meint hat - mißdeutet, glauben Sie nicht, daß ich so schreckhaft empfinde dasjenige, was in der Gegenwart hervortritt - obwohl ich es gerade mit dem Gewicht belastet betrachten muß, wie ich es im Vortrag angegeben habe - wie manche Menschen der leitenden Krei­se. Ich kann schon mit einer gewissen Objektivität auf die Konse­quenzen der sozialen Denkweise und der sozialen Entwickelung hinsehen, die sich heute zum Beispiel ergeben. Ich will da auf etwas hinweisen, was Ihnen vielleicht bedeutsam erscheinen könnte. Se­hen Sie, Lenin und Trotzki sind doch auch Sozialisten. Und wer nicht, möchte ich sagen, sich einschüchtern läßt von dem, was jetzt vom Osten Europas erzählt wird, und das alles den «verruchten Bol­schewisten» zuschreibt, sondern wer da weiß, daß alles das, was man heute geneigt ist, den russischen Sozialisten zuzuschreiben, zum gro­ßen Teil noch auf das Konto des Zarismus und desjenigen zu schrei­ben ist, was vorangegangen ist, wird vielleicht doch einigermaßen objektiver hinschauen auf das, was geschieht! Und wer objektiv schaut, wird dann vor allen Dingen sich sagen müssen: Nach einer gewissen Richtung hin ist gerade Lenin eine Art letzter Konsequenz von Marx, auch wie er sich selber ansieht. Und Lenin macht gerade aufmerksam auf zwei Dinge bei Marx. Er macht zunächst darauf auf­merksam, daß die moderne soziale Bewegung dahin streben muß, durch die Diktatur des Proletariats den Staat selbst zu proletarisie­ren. Der Staat wird aber nur - ich muß das kurz andeuten - von der Diktatur des Proletariats in Anspruch genommen, weil er dadurch seine letzten Konsequenzen zieht. Was im Staate keimhaft veranlagt ist, davon werden die letzten Konsequenzen durch den Sozialdemo­kratismus gezogen: nämlich, der Staat ertötet sich selbst, er löst sich auf.

Nun, die verschiedenen Schattenseiten dieses sozialistischen Staa­tes, die müssen hervortreten. Darüber gibt sich zum Beispiel Lenin keiner Täuschung hin. Das ist auch besser, als wenn man sich, wie so viele Leute, eben Illusionen hingibt. Aber er arbeitet darauf hin, einen solchen Staat zu gestalten, der Todeskeime in sich trägt, der sich auflöst. Dann kommt erst das wirklich neue Stadium, wo nicht

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die Arbeit gleich bezahlt wird, sondern wo die Devise gilt: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. - Und in diesem Augenblicke, wo das auftritt: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen - was nicht nur ein sozialistisches, sondern ein ganz allgemeines Ideal sein muß -, in dem Augenblick, da macht Lenin, ähnlich wie schon Marx, eine sonderbare Bemer­kung, die viel tiefer blicken läßt, als man gewöhnlich blickt. Er macht die Bemerkung: Diese soziale Ordnung, welche nur eintreten kann so, daß jeder nach seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten in die gesellschaftliche Ordnung hineingestellt wird, die kann natür­lich nicht mit heutigen Menschen erreicht werden; dazu ist ein ganz neuer Menschenschlag notwendig, der erst entstehen muß.

Ja, sehen Sie, wer nicht warten will und warten kann auf einen «neuen Menschenschlag», weil unter Umständen sonst die Zeit ein­treten könnte, wo es besser wäre, den allgemeinen Selbstmord, von dem ich gesprochen habe, festzusetzen, der wird seine Gedanken dem gegenwärtigen Leben zuwenden, und wird versuchen, aus die­sem gegenwärtigen Leben eine Anschauung darüber zu gewinnen, was die Fehler waren. Und in dieser Beziehung glaube ich doch, daß schon aus meinen, allerdings kurzen und skizzenhaften Gedanken­gängen ersichtlich sein könnte, indem ich auf die Frage hingewiesen habe: Was soll der Staat machen, und was soll er nicht tun? Wie durch die Verquickung des Wirtschaftslebens mit dem Staate, durch die Verquickung des geistigen Lebens mit dem Staate gerade die Schäden der sozialen Ordnung entstanden sind - ich versuchte es an­zudeuten; es könnte hundertfach vermehrt werden, was ich an Bei­spielen angeführt habe.

Liegt es da nicht ganz nahe, daß man darüber nachdenken muß, wie diesen Schäden abgeholfen werden kann? Dadurch kann abge­holfen werden, daß man nicht weiter verschmilzt, sondern rückgän­gig macht das, was gerade eingetreten ist.

Sie könnten es natürlich naiv nennen, aber ich glaube doch, aus meinem heutigen Vortrag war zu entnehmen, wie tief eigentlich ge­rade in die Untergründe des modernen Lebens das, was ich ausge­führt habe, eingreifend ist. Wie weit dies der Fall ist, muß allerdings

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der Beurteilung jedes einzelnen überlassen werden. Die Gedanken, die gegenwartig verwirklicht und anerkannt

sind, sind in der Tat nicht neue Gedanken; und mit diesen Ideen wird sich nichts Neues aufbauen lassen.

Die Idee der Dreigliederung habe ich namentlich in der schweren Kriegszeit manchem Menschen vorgetragen, der in der Lage gewe­sen wäre, sie zu realisieren. Ich habe auch schon in einigen Kreisen Verständnis gefunden. Allein es führte heute noch keine Brücke von dem Verständnis durch den Kopf zu dem mutigen Willen, zu dem Willen, irgend etwas zu tun. Diese Brücke ist nicht geschlagen wor­den.

Ich habe gerade in diesen Tagen eine merkwürdige Erfahrung ge­macht, die Sie vielleicht darauf hinweisen könnte, wie das, was ich gesagt habe, doch ganz tief im wirklichen Leben drinnen steht, und nicht etwa ein Wegwischen ist, sondern gerade ein Aufnehmen oder vielmehr ein Weiterführen des sozialistischen Denkens ist: Ich habe gesprochen - was heute nicht gerade leicht ist - vor einer Arbeiter-versammlung, die einfach von der Straße eingeladen worden ist. Da wandten sich - wie ich das ja auch während meiner Tätigkeit in Ber­lin vielfach erfahren habe - gerade die sozialistischen Führer man­nigfaltig gegen meine Ausführungen. Und es trat, nachdem viel da-wider eingewendet worden war, eine Russin auf, die - ich erzähle nur! - unter mancherlei anderem sagte: Man habe heute vielleicht so manches gehört, wogegen man dieses oder jenes einwenden könne, aber es wäre heute unmöglich, bloß bei den alten Gedanken oder auch bei den alten sozialistischen Gedanken stehenzubleiben, son­dern es sei nötig, zu neuen Gedanken vorzuschreiten.

Wir werden zu keinem wirklichen, gründlichen Neuaufbau des Hauses, sondern nur zu neuen Türen und so weiter kommen, die doch nichts helfen können, wenn das Ganze einstürzt, wenn wir uns nicht wirklich auf neue Gedanken einlassen. Und deshalb habe ich zu manchem in der schweren Zeit gesagt, daß manches Unglück, das im Laufe der letzten Jahre geschehen ist, hätte vermieden wer­den können, wenn viele Menschen so gedacht hätten, wie die Rus­sin, von der ich gesprochen habe. Ich bin überzeugt davon, daß man

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es verstanden hätte, wenn seinerzeit die mitteleuropäischen Unter­händler die von mir hier vertretenen Gedanken - einem davon we­nigsten waren sie sehr gut bekannt - zum Inhalt der auswärtigen Po­litik, zum Inhalt des Friedens von Brest-Litowsk gemacht hätten. Wenn diese Gedanken nach außen hin entfaltet worden wären, hät­te man sie verstanden.

Solche Dinge kann man selbstverständlich nicht in einem Vortra­ge in allen Einzelheiten begreiflich machen; aber man hat so das Ge­fühl, daß in der Gegenwart leben müßte in der menschlichen Seele wirkliches Leben, wie es einfach in der Wirklichkeit wurzelte. Ich halte mich durchaus nicht für so gescheit, daß ich besser als andere weiß, was in den Einzelheiten zu geschehen hat!

Deshalb, weil ich kein Programm-Mensch bin, weil ich keine Programme und Utopien gebe, sondern weil ich einer bin, der ha­ben will, daß die Wirklichkeit als Wirklichkeit erfaßt wird, deshalb liegt mir gar nichts daran, daß alle meine Anregungen bis in die Ein­zelheiten ausgeführt werden. Wenn man an irgendeinem Punkte an­fangen wird, so zu arbeiten, wie es im Sinne dessen liegt, was ich heute gesagt habe, dann möge von dem Inhalt, den ich vermittelt ha­be, kein Stein auf dem anderen bleiben; etwas ganz anderes wird sich vielleicht ergeben, aber es wird dann doch etwas sein, was dem wirk­lichen Leben gegenüber gerechtfertigt ist.

Bei Programmen, ob sozialistischen oder anderen Programmen, will man immer darauf sehen, daß das einzelne, was ausgedacht wur­de, programmäßig verwirklicht wird; hier handelt es sich darum, die Wirklichkeit an einem Punkte anzufassen. Dann mag dasjenige, was daraus kommt, etwas ganz anderes werden! Und so steht das, was ich gesagt habe, nur scheinbar so unverständlich da, weil die Sache gar nicht so aufzufassen ist wie andere Programme. Man kann sagen:

es ist heute leicht, ein Programm mit ein paar Gedanken nicht nur einzuführen, sondern sogar zu beweisen. Schwer ist es aber, an die menschlichen Seelen zu appellieren, und so zu appellieren, wie ich es habe tun wollen, nämlich diese Seelen auf sich selbst zurückzu-weisen, ihnen Anregungen zu geben. Dann werden sie vielleicht et­was ganz anderes denken. Aber es ist im Grunde genommen heute

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das Allernotwendigste, daß der Mensch weiß: Man muß von einer Wirklichkeit ausgehen, dann wird sich das

andere schon ergeben.

Deshalb braucht durchaus nicht etwas verachtet zu werden, wie die Bodenreformer es anstreben. In einer Unterredung, die ich vor langen Jahren in Berlin einmal mit Damaschke hatte, machte ich ihn darauf aufmerksam, daß seine Gedanken ganz gewiß sehr viel Trag­kraft haben, daß sie aber deshalb nicht ins wirkliche Leben voll eingreifen können und es durchgreifend verstehen können, weil der Boden nicht elastisch ist. Das ist er ja nicht; und deshalb, sagte ich ihm, ist es nicht möglich, sie unmittelbar in Wirklichkeit umzu­setzen.

Nun, man kommt auf keine andere Weise zurecht, als wenn man gerade die Tendenz der Zeit ins Auge faßt, die sich dadurch ergibt, daß die Menschen in eine Sackgasse gekommen sind durch die Kon­fundierung von Rechtsleben, Wirtschaftsleben und geistigem Leben. Dann ergibt sich etwas, was durchaus nicht so schwer zu beweisen ist, nämlich, daß man sie nun nicht weiterhin konfundieren soll, sondern den Rückweg antreten soll!

Das, was ich sagte, will Gedanken darüber weiterführen, wie ei­gentlich sozialisiert werden soll, wie man in die Lage kommt, daß in berechtigter Weise nicht menschliche Arbeit verwendet werden darf im Sinne der Gewalt eines anderen. Und wie gesagt: So unvollkom­men das bleiben muß, weil man es in einem Vortrage nicht erschöp­fend behandeln kann, so meine ich doch, daß es heute nötig ist, mit ein wenig gutem Willen an die Dinge heranzugehen; denn die Tatsa­chen sprechen zu laut! Und selbst gegenüber dem, was auf sozialisti­schem Gebiet durchaus anders erscheinen könnte als vor vier Jah­ren, sprechen die Tatsachen heute zu stark. Ich werde dies alles dem­nächst in einer Broschüre umfassend und zugleich in allen Einzelhei­ten ausführen, weil ich das für die Gegenwart für außerordentlich notwendig halte, die dann das, was jetzt wahrhaftig nur andeutungs­weise erschienen ist, in den Einzelheiten beweisen wird.

Ich glaube, man muß heute eines nicht aus dem Auge verlieren. Ich hatte da gestern ein besonderes Erlebnis. Als ich ein kleiner Bub war, da lernte ich immer in meinen Religionsbüchern das Folgende:

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Da lernte ich, daß man doch einsehen müsse, daß Christus entweder ein Narr oder ein Heuchler sein müsse,

oder aber das sein müsse, als was er sich selber ausgegeben hat. Und da steht in diesen Religions-büchern drinnen: Und da man ihn weder für einen Narren noch für einen Heuchler halten kann, muß er der Sohn des lebendigen Gottes sein. - Das habe ich gestern auch als die Lösung der sozialen Fragen antworten gehört hier in Bern! Ich habe es vor mehr als fünfzig Jah­ren schon in meinen Schulbüchern gelesen, ich höre es heute wie­derum wiederholen - als die richtige Lösung der sozialen Frage. Zwischen dem Zeitpunkt, da ich es in meinen Religionsbüchern in der Schule gelesen habe, und dieser fast wortwörtlichen Wiederho­lung, die man in der schweren Zeit immer wieder und wiederum hö­ren konnte, ich möchte sagen: wortwörtlich genau, zwischen den zwei Zeitpunkten liegt aber die Erfahrung, die die Menschheit durch die große Katastrophe, die wir durchlebt haben, gemacht ha­ben sollte. Von dieser großen Katastrophe sollte man etwas lernen! Man sollte vor allen Dingen, glaube ich, williger geworden sein mit Bezug auf das Einsehen von Gedanken, die vielleicht etwas skizzen­haft sich ausnahmen heute, die aber doch vielleicht durch die Art und Weise, wie sie auf die Dinge hinweisen, zeigen, daß sie wenig­stens den Versuch machen, in die Untergründe der Dinge unterzu­tauchen.

2. Redner (Baron von Wrangell): Sieht in der von Herrn Dr. Steiner vorgeschlagenen Dreiglie­derung des sozialen Organismus die richtige Lösung. Wie der Gedanke verwirklicht werden kann, scheint ihm eine andere Frage zu sein. Der Grundfehler des Sozialismus liege darin, daß er zu einer Überbewertung des Staates führe.

3. und 4. Redner: Wandten im wesentlichen ein, daß eine Verwirklichung der Idee der Drei­gliederung die Verhältnisse unnötig verkomplizieren würde, was gegen diese Lösung spreche. Die Dreigliederung würde zu einer Zersplitterung führen, während das Leben des Menschen eine Einheit bilden solle.

Rudolf Steiner: Nun, ich glaube, vielleicht doch ganz kurz noch etwas sagen zu müssen. Ich kann ganz gut verstehen, was der verehr­te Herr Vorredner will; aber ich habe das Gefühl, daß er sich selber nicht ganz gut versteht! Ich meine, er sollte die ganze Lage, in der

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wir sind, beurteilen aus etwas größeren Gesichtspunkten heraus. Wir Menschen haben wirklich nicht bloß die Aufgabe, uns das Le­ben bequem einzurichten. Es gibt noch manches andere im Leben, als es sich bequem einzurichten! Und ich glaube, ein großer Teil der Schäden, unter denen wir heute leiden, kommt eben gerade davon her, daß ein großer Teil der Menschheit nur danach strebt, das Le­ben bequem einzurichten, eben in ihrer Art. Aber dasjenige, worauf es ankommt, scheint mir etwas anderes zu sein.

Sehen Sie, ich würde Sie nicht behelligen mit irgendeinem Einfall über eine Dreiteilung, wenn diese drei Teile nicht veranlagt wären in der Wirklichkeit des sozialen Organismus. Daß diese Dreigliede­rung geschehen will, das ist etwas, was nicht von uns abhängt, das können wir nicht ändern, das macht sich selber. Ich hatte wirklich, ich muß noch einmal darauf zurückkommen, in dieser schweren Zeit Gelegenheit, mit manchem Menschen zu sprechen, von dem ich glaubte, er solle irgend etwas von den Stellen aus tun, die heute so sehr die autoritativen sind - es war vor zweieinhalb Jahren schon, es wäre noch die Möglichkeit gewesen, etwas zu tun -, und sagte manchem: Sehen Sie, das, was hier ausgesprochen wird, ist nicht ei­ne einfache Sache. Es ist entstanden durch eine durch Jahrzehnte hindurch gehende Beobachtung dessen, was sich über Europa hin im Laufe der nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahre verwirklichen will. Wer nämlich den Gang der Ereignisse betrachtet - und anders kann man gar nicht zum Verständnis der sozialen Dreigliederung kom­men, als aus dem ganzen Gegenwärtigen auch die Entwickelungs-möglichkeiten für die Zukunft zu erkennen -, der sieht, daß, ob wir wollen oder nicht, diese Dreigliederung sich vollzieht. Sie hat sich in früheren Zeiten instinktiv ergeben; immer mehr und mehr hat sich in der neueren Zeit eine Konfundierung, eine Zusammenschmel­zung der drei Teile ergeben. Jetzt wollen diese drei Teile wieder in der ihnen entsprechenden Weise auseinandergehen, zu ihrer Selb­ständigkeit kommen. - Und ich sagte das manchem mit dem drasti­schen Wort: Sehen Sie, derjenige, der jetzt am Ruder ist, könnte manches nach dieser Richtung noch mit Vernunft tun; die Men­schen haben die Wahl - auch schon Goethe hat mit Bezug auf die

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Revolution gesagt: Entweder Evolution oder Revolution -, sie ha­ben die Wahl, entweder jetzt durch Vernunft das zu tun, oder sie werden Revolutionen und Kataklysmen erleben. Nicht nur diejeni­gen, die bisher am Ruder waren, werden die Kataklysmen erleben, sondern auch diejenigen, die an den Dogmen des Sozialismus bloß festhalten wollen, werden die Kataklysmen erleben. Es handelt sich darum, daß diese Dreigliederung des sozialen Organismus sich sel­ber vollzieht. Und Sie können ja auch sehen: Dasjenige, was natür­lich ist, das tritt immer unter gewissen außerordentlichen Verhält­nissen in gewissen Einseitigkeiten der Entwickelung auf; diese drei Glieder wollen sich immer mehr verselbständigen. Und sie verselb­ständigen sich in einer unnatürlichen Weise, wenn man ihnen nicht ihre natürliche Selbständigkeit gibt, wenn man sie konfundiert, wenn man sie zusammenwirft; sie entwickeln sich in einer die Menschheit aufhaltenden Weise. Die geistige Macht, die geistige Or­ganisation entwickelt sich, sei es als Kirchenstaat oder Staatskirche oder was immer, verselbständigt sich, und wenn sie auch nicht das Ganze des Geisteslebens umfassen kann, so sucht sie doch so viel zu erhaschen, als sie erhaschen kann. Das andere, das Rechtsleben nimmt der Staat in Anspruch, macht wiederum dem Staate dienst­bar das, was sich zu verselbständigen suchen wird. Was im politi­schen Leben in unnatürlicher Weise sich verwirklichen will, das ist alles das, was heute der viel verpönte Militarismus ist. Denn sehen Sie, über diesen Militarismus und sein einseitiges Verhältnis zum Staatsleben hat sich gerade während des Krieges manche Meinung in gesunder Weise geäußert. Aber wenn man diesen Meinungen mit ge­sundem Menschenverstand auf den Grund geht, dann merkt man auch, daß der Militarismus nichts anderes ist, als die einseitige Ver­wirklichung dessen, dem man seine natürliche Selbständigkeit nicht geben will, des politischen Lebens wiederum. Und Clausewitz sagte: Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln; bei Clausewitz steht es in einem gewissen Zusammenhang; da kann man noch auf diese Dinge eingehen, nicht wie in den letzten Jahren, in denen man viele solche Einseitigkeiten sagen hörte. Man kann auch sagen: Der Ehestreit und die Scheidung sind die Fortsetzung

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der Ehe mit anderen Mitteln! Solche Einseitigkeiten wurden einem in den letzten Jahren sehr viele gesagt; da wirft man eben alles durcheinander. Das aber, worauf alles beruht, wenn man fruchtbar im Leben Ansichten entwickeln will, die auch dann in wirkliche Einrichtungen übergehen, das ist, daß man diese Verhältnisse gesund ansieht. Und so wollen sich diese Dinge wirklich verselbständigen, selbständig entwickeln. Der Wirtschaftsorganismus hat in der neue­ren Zeit eine so große Überflutung des ganzen öffentlichen Lebens bewirkt, daß heute schon viele überhaupt gar nichts mehr sehen als einen Wirtschaftsorganismus. Und dann sehen sie in dem, was sonst da sein kann, nur eine Verwaltung des Wirtschaftsorganismus.

Das ist, was Sie zum Beweise führen kann. Aber vor allen Din­gen, wenn ich nichts anderes erreicht habe, als daß es manchen an­regt, so ist mir das schon vollständig genügend. Mehr will ich gar nicht! Denn ich glaube gar nicht, daß man ein Richtiges sagen kann über das, was sozial geschehen soll. Ich möchte folgendes doch noch beifügen: Sie wissen, in der Gegenwart gibt es zwei Bolschewisten:

der eine ist Lenin, der andere Trotzki. Ich kenne einen dritten, der allerdings nicht in der Gegenwart lebt, an den denken die wenigsten Menschen, wenn sie über die Bolschewisten sprechen, das ist Johann Gottlieb Fichte! Lesen Sie seinen «Geschlossenen Handelsstaat», und Sie haben, theoretisch betrachtet, ganz genau dasjenige, was Sie bei Lenin und Trotzki lesen können! Warum? Weil Fichte ein Staatssy­stem aus der eigenen Seele heraus spinnt! Aus den Kräften, mit de­nen Sie in der Philosophie zu den höchsten Höhen kommen kön­nen, entwickelt er ein Staatssystem, ein politisches, respektive ein soziales System. Warum geschah das so? Weil überhaupt aus dem einzelnen Menschen heraus gar nicht eine Ansicht zu gewinnen ist über dasjenige, was sozial fruchtbar ist! Das kann nur von Mensch zu Mensch gefunden werden. Wie die Sprache nicht entwickelt wer­den kann, wenn ein Mensch einsam auf einer Insel lebt, sondern wie die Sprache nur als soziale Erscheinung, nur im richtigen Zusam­menleben der Menschen sich entwickeln kann, so ist dasjenige, was überhaupt sozial ist, nicht durch Herausspinnen aus einem einzel-nen Menschen zu gewinnen! Man kann nicht aus sich heraus ein

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Programm aufstellen. Man kann aber darüber nachdenken, in wel­che soziale Ordnung die Menschen gestellt sein müssen, damit sie so natürlich zueinander stehen, daß sie von sich aus finden, was die richtige soziale Ordnung ist.

Die soziale Frage wird nicht von der Tagesordnung verschwin­den! Die ist da und muß weiterhin immer mehr gelöst werden. Aber das, was als Aufgabe vorliegt, ist, die Frage zu beantworten: Wie sol­len die Menschen zueinander stehen im dreigliedrigen sozialen Or­ganismus? Dann werden Sie immer mehr oder weniger die Lösung finden. Die Menschen müssen im sozialen Organismus so zueinan­der in Verbindung treten, daß aus ihrem Zusammenleben die Lösun­gen entstehen. Diese Vorarbeit zu leisten, das ist ja das, was die Auf­gabe eines wirklich sozialen Denkens ist, jene Vorarbeit, die zeigt, wodurch die Menschen im wirklichen sozialen Leben die sozialen Fragen lösen können.

Ich sagte schon, ich glaube nicht, daß ich so gescheit sein könnte, ein soziales Programm aufzustellen. Aber ich machte darauf auf­merksam, daß, wenn die Menschen in dieser naturgemäßen Dreitei­lung leben, und wenn sie das, was in dieser naturgemäßen Dreiglie­derung als Einrichtungen ihren Impulsen entspricht, wirklich in der Welt entstehen lassen, daß dann durch die Menschen, in diesem dem gesunden sozialen Organismus angemessenen Zusammenwirken der Menschen, die soziale Ordnung erst entsteht! Da kann man mitar­beiten! Man kann es nicht so machen, wie die modernen Marxisten sagen: Wir machen zuerst einen großen Kladderadatsch, dann kommt die Diktatur des Proletariats, dann wird sich das Richtige schon ergeben. - Nein, zum mindesten das ist notwendig, daß diese Vorarbeit geleistet wird, daß man sich frägt: Wie müssen die Men­schen dastehen im sozialen Organismus, so daß durch ihr Zusam­menwirken das geschieht, was eben heute die wahrhaftig laut spre­chenden Tatsachen von uns fordern?

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WELCHEN SINN HAT DIE ARBEIT DES MODERNEN PROLETARIERS? Zweiter Vortrag, Bern, 17 März 1919

Glauben Sie nicht, daß ich heute Abend zu dem Zwecke das Wort ergreifen will, um in dem Sinne von einer Verständigung der ver­schiedenen Klassen der heutigen Bevölkerung zu sprechen, wie na­mentlich von seiten der herrschenden, bisher herrschenden Klassen gegenwärtig so oft von Versöhnung und vonverständigung gespro­chen wird. Ich möchte heute Abend zu Ihnen von einer ganz ande­ren Verständigung sprechen, von der Verständigung, die herausge­fordert wird durch die heute laut sprechenden sozialen Tatsachen und den in den Lauf der Menschheitsentwickelung gegenwärtig ein­tretenden großen geschichtlichen Kräften. Von dem möchte ich sprechen, was mir insbesondere gegenüber der proletarischen Bewe­gung gefordert erscheint, von diesen heute, man kann sagen, welt-umwälzenden geschichtlichen Kräften.

Von einer anderen Verständigung zu sprechen, verbietet ja fast das ganze moderne Leben, dasjenige Leben, das von gewissen Seiten her genannt wird: die moderne Zivilisation. Was haben wir für Stimmen vernehmen können im Laufe der letzten Jahrzehnte inner­halb dieser modernen Zivilisation! Erinnern wir uns einmal, wie die bisher herrschenden Klassen diese moderne Zivilisation empfunden haben, man möchte sagen, bis weit hinein in die furchtbare Kriegskatastrophe, die als ein Schrecken der Menschheit in den letzten Jah­ren heraufgezogen ist. Wie oft wurde gesagt, wie wir Menschen es weit gebracht haben im Schaffen, im Produzieren! Wie wir es dazu gebracht haben, daß der Gedanke in kurzer Zeit weit über die Erde hin geschickt werden kann, wie Verbindungen geschaffen worden sind zwischen den fernsten Ländern, wie das Geistesleben in all sei­nen Formen eine ungeheure Ausbreitung gewonnen hat. Nun, ich könnte das Loblied, nicht wie ich es singen will, sondern wie es von dieser herrschenden Klasse über die moderne Zivilisation ange­stimmt worden ist, noch lange fortsetzen. Allein, sehen wir uns jetzt

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die Dinge von der anderen Seite an. Wodurch war denn diese mo­derne Zivilisation, auf die so viele Loblieder gesungen worden sind, eigentlich möglich? Dadurch allein war sie möglich, daß sie gewis­sermaßen unterhöhlt war von denen, die aus dem innersten Wesen ihrer Menschlichkeit heraus nicht einverstanden sein konnten mit dem, was die Träger dieser modernen Zivilisation taten. Und so konnte man neben all dem, was man auch eine Art Luxuskultur nen­nen könnte, die Stimmen vernehmen, die von der anderen Seite ka­men, und die im wesentlichen doch immer austönten in die Worte:

So kann es nicht weitergehen! So herrlich für euch auch eure Zivili­sation sein mag, sie ist gar nicht anders möglich, als daß der weitaus größte Teil der Erdbevölkerung an dieser Zivilisation keinen unmit­telbaren Anteil haben kann. Er muß sich ausgeschlossen fühlen von dieser Zivilisation, er muß gewissermaßen von außen zuschauen, aber auf der anderen Seite für diese Zivilisation alles erarbeiten!

Hat man irgendwie nun auf der anderen Seite in den letzten Jahr­zehnten Verständnis gezeigt für die Gründe und Untergründe, aus denen ein solcher Ruf hervorgekommen ist? Man kann das nicht sa­gen. Überhaupt reden heute gewisse Menschen eine ganz merkwür­dige Sprache. Ich habe in den letzten Tagen einiges mitgemacht von dem, was sich hier in Bern abgespielt hat als Völkerbundskonferenz. Man hat da allerlei schöne Reden hören können, das heißt Reden, welche die Herren für sehr schön hielten. Aber wer imstande ist, ein wenig tiefer in das hineinzuschauen, was sich ausspricht in den welt-umwälzenden Taten, die heute durch Europa hindurchgehen, der konnte bei dem, was da geredet wurde, vor allen Dingen das verneh­men, daß vorbeigeredet wurde und auch vorbeigedacht wurde an der allerwichtigsten Frage der Gegenwart, an dem, was als Frage ei­nen großen Teil der Menschheit in immer steigendem Maße bewegt. Es wurde vorbeigeredet und vorbeigedacht an dem eigentlichen Nerv der sozialen Frage! Für diese Frage zeigte diese Konferenz au­ßerordentlich wenig Verständnis, und man wurde dabei an etwas an­deres erinnert, nämlich an die Wochen des Frühlings und Frühsom­mers des Jahres 1914. Da konnte man von Seiten der bisher herr­schenden Kreise und deren Führern auch gar manche sonderbare

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Rede hören. Man könnte viele ähnliche Reden anführen wie diejeni­ge, die von einem führenden Staatsmanne in einem Staate Mitteleu­ropas 1914 vor einem Parlament gehalten wurde und in der er sagte:

Dank der energischen Bemühungen der europäischen Kabinette können wir hoffen, daß für absehbare Zeit der Friede unter den Großmächten Europas gesichert sein werde. - So ist in allen mögli­chen Abänderungen im Mai, im Juni 1914 noch gesprochen worden.

Und dann? Dann kam dasjenige, was Millionen von Menschen tötete, was Millionen von Menschen zu Krüppeln machte. So gut wurde vorausgesehen das, was sich auch geltend machte neben dem, dem man solche Loblieder als der modernen Zivilisation sang!

Ich selbst, wenn ich diese persönliche Bemerkung machen darf, mußte dazumal allerdings anders reden als diese Staatsmänner. Vor einer Versammlung in Wien im Frühling 1914 mußte ich sagen:

Wer das Leben der gegenwärtigen europäischen Menschheit an­schaut, der sieht in ihm etwas wie eine schleichende Krebskrankheit, die zum Ausbruch kommen muß. - Nun, man kann es heute dem Urteil der Menschheit anheimstellen, wer ein besserer Prophet war:

derjenige, der von einer Krebskrankheit sprach, die so furchtbar in dem sogenannten Weltkriege zum Ausbruch gekommen ist, oder diejenigen, die da meinten, daß dank der Bemühungen der Kabinette ein längerer Friede in Aussicht stehen werde. Gerade so wie die Her­ren dazumal vorbeigeredet haben an dem, was als schwarze Wolke am politischen Himmel Europas heraufzog, so reden heute gewisse Menschen vorbei an dem, was das allerwichtigste ist: an den in das Völkerleben der Erde einziehenden sozialen Mächten und Kräften. Da die Dinge so liegen, ist zunächst wahrhaftig recht wenig Aus­sicht vorhanden, sozusagen durch Vernunft eine Verständigung her­beizuführen. Aber eine Verständigung nach der anderen Seite, wie ich schon sagte, kann gesucht werden. Und diese Verständigung scheint sich mir dann zu ergeben, wenn man folgenden Ausgangs­punkt nimmt.

Bis in unsere Zeit hinein war die proletarische Bevölkerung im Grunde genommen in einer ganz anderen Lage, als sie von nun an sein wird. Wer nicht nur von einem gewissen theoretischen Gesichtspunkte

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über die proletarische Bewegung gedacht hat, sondern wer diese proletarische Bewegung so erlebt hat, daß er mit ihr gelebt hat, der weiß, daß dasjenige, was das moderne Proletariat erlebte, die große, eindringliche Kritik war dessen, was durch Jahrhunderte, durch drei bis vier Jahrhunderte die Einrichtungen, die Maximen der bisher führenden Kreise angerichtet haben. Für alles dasjenige, was sie geglaubt hatten der Menschheit einfügen zu müssen, war das­jenige, was der moderne Proletarier erlebte, die lebendige, die welt­geschichtliche Kritik. Und im Grunde genommen war dasjenige, was innerhalb des Proletariats vorging, eine große, gewaltige Kritik. Während die bisher führenden Kreise innerhalb ihrer bürgerlichen Kultur, auf die sie solche Loblieder sangen, verweilten, während sie in ihren Hörsälen dasjenige hören konnten, was ihrem Staate diente, während sie in ihren Theatern die Scheinwelt ihrer Angelegenheiten vernahmen, während sie noch manches andere von dem trieben, was sie als eine so heilsame moderne Zivilisation empfanden, fanden sich die proletarischen Massen in den Stunden, die sie sich erübrigen konnten von der schweren, mühevollen Arbeit des Tages, zusam­men, um über die ernsten Fragen der menschlichen Entwickelung, die ernsten Fragen der Weltgeschichte nachzudenken. Hatte doch die moderne technische und die mit ihr verbundene kapitalistische Entwickelung den modernen Proletarier hinweggeholt von allen übrigen menschlichen Zusammenhängen, die zum Beispiel das alte Handwerk gegeben hatte, hatte ihn hingestellt an die Maschine, eingespannt in die kapitalistische Weltordnung und damit ausge­schlossen im unmittelbaren Empfinden von dem, was die leitenden, führenden Kreise trieben. Da wandte sich dem allgemeinen, und von einem gewissen Gesichtspunkte aus dem höchsten Menschheits­interesse, der Seelenblick, der geistige Blick des Proletariers zu. Und getrieben wurde in den Proletarierversammlungen eben dasjenige, was dann immer wiederum austönen mußte in den Ruf: So kann es nicht weitergehen!

Aber auch in dem, was sich da entwickelte, lag eine gewaltige, großartige Kritik der bisherigen Politik, der bisherigen Wirtschafts­führung der leitenden Kreise vor. Das ist in der Gegenwart in ein

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neues Stadium getreten. Und diesen Eintritt in ein neues Stadium wirklich mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, das scheint mir heute eine der allernotwendigsten sozialen Aufgaben zu sein.

Wie hat der moderne Proletarier das empfunden, was als eine Ge­sellschaftsordnung sich herausgebildet hat seit drei bis vier Jahrhun­derten, seit jener Zeit, in der auch der moderne Kapitalismus und die moderne Technik in die Menschheitsentwickelung eingetreten sind? Wie hat der moderne Proletarier das alles empfunden, was er wie ein Außenstehender ansehen mußte, was er, soweit er es gebrauchen konnte, ja gerade mit seinem innigen Anteil aufnehmen wollte, da­mit er etwas auch für seine Seele habe? Die alten führenden Kreise sprachen zu ihm von mancherlei Mächten und Kräften, die im ge­schichtlichen Werden der Menschheit tätig sind; sie sprachen zu ihm von allerlei sittlichen Weltordnungen und ähnlichem. Er aber, der moderne Proletarier, der den Blick hinaufwendete zu dem, was diese herrschenden Klassen taten, der empfand wenig von der Kraft, von der inneren Ursprünglichkeit solcher sittlichen Weltordnungen; ei empfand, daß das Handeln, das Denken, das Empfinden der führen­den, leitenden Kreise im wesentlichen geprägt ist von dem, wie sie leben können vermöge ihrer Wirtschaftsformen, ihrer Wirtschafts­ordnung, durch die sie in der Lage sind, sich ihre Zivilisation zu be­gründen als eine Art Überbau auf dem Elend, auf der Bedrückung größerer Menschheitsmassen, die für sie arbeiten mußten.

Und so kam in dem modernen Proletariat das herauf, was gegen­über der Wirklichkeit, bezüglich dieser neueren Gedanken über die Menschheitsentwickelung, die Wahrheit war. Der moderne Proleta­rier empfand eine Wahrheit über das, worüber die anderen in einer gewissen Weise im Lügenhaften phantasierten; sie sprachen von sitt­licher, von göttlicher Welt enordnung, durch die die Menschen in ge­genseitige gesellschaftliche Verhältnisse auf der Erde gebracht wer­den. Der Proletarier empfand das als eine tiefe Lüge. Und er emp­fand, daß in alledem die Wahrheit ja ist, daß die Leute so leben, wie sie können dadurch, daß sie das wirtschaftliche Leben zu ihrer Be­quemlichkeit, zu ihren Gunsten ausnützten. Und so entstand - und man muß jetzt sagen, als richtiges Erbgut desjenigen, was bürgerli­che

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Wissenschaft war - die materialistische Geschichtsauffassung, diejenige Auffassung, die nicht zuließ, daß die eigentlich wirksamen Mächte im geschichtlichen Werden der Menschheit etwas anderes seien, als die wirtschaftlichen Kräfte sind. Und das wurde zu dem Glauben, daß sich wie eine Art «Überbau» über den wirtschaftli­chen Kräften alles dasjenige, was menschliche Religion, menschliche Wissenschaft, menschliche Geistigkeit ist, erhebt, und daß darunter als einzige Wirklichkeit, auf die höchstens der Überbau zurück­wirkt, die wirtschaftlichen Kräfte walten. Recht hatte gegenüber dem, was aus dem gesellschaftlichen Leben die bürgerliche Weltord­nung gemacht hat - ein bloßes Wirtschaften -, recht hatte gegenüber dem das moderne Proletariat.

Ein zweites, was ausging von der Denkergewalt des Karl Marx und sich verbreitete in die Proletarierversammlungen hinein, in die Proletarierseelen hinein, das ist jetzt nicht die Geistesfrage, wie ich sie eben charakterisieren konnte in der materialistischen Geschichts­auffassung, das ist die Rechtsfrage. Diese kulminiert in dem einen Wort, das Sie alle kennen, das aber wie elektrisierend wirkte inner­halb der modernen Proletarier-Bewegungen, das Verständnis her­vorrief in den innersten Empfindungen der modernen Proletarier-seelen, als es von Marx und seinen Nachfolgern diesen Proletarier-seelen vorgebracht wurde: es ist das Wort vom Mehrwert. Und hin­ter manchem, was um dieses Wort vom Mehrwert herum gespro­chen wurde, was der moderne Proletarier eigentlich als seine wich­tigste Menschheitsfrage empfindet, verbirgt sich die Frage, die mehr oder weniger bewußt oder unbewußt, mehr oder weniger bloß emp-funden oder mit dem Verstande gestellt ist, die aber tief empfunden wurde. Welchen Sinn hat denn eigentlich meine Arbeit innerhalb der modernen Gesellschaftsordnung? Und man muß sagen: Glän­zend ist, was Karl Marx in verschiedener Art als Antwort gegeben hat. - Aber heute leben wir in einer Zeit, in der noch weitergegan­gen werden muß, als selbst Marx gegangen ist, gerade dann, wenn man Marx in der richtigen Weise versteht, nicht nach der Richtung der Opportunitäts-Politiker hin, sondern nach einer ganz anderen Richtung, wie wir gleich sehen werden.

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Wenn der moderne Proletarier die Frage nach dem Sinn seiner Arbeit aufwarf und dieser ihm zur Frage wurde nach seiner Stellung innerhalb der modernen Gesellschaft, nach seiner Menschenwürde, so trat ihm immer wieder das Problem vor Augen, daß seine Arbeit gewissermaßen aufgesogen wird von dem kapitalistischen Wirt­schaftsprozeß. Er erlebte, daß seine Arbeit etwas geworden ist, was sie nur scheinbar sein kann, nämlich: Ware. Der moderne Proleta­rier, der als einzigen «Besitz» sich lediglich seine Arbeitskraft von neuem erwerben kann, erlebte, daß er seine Arbeitskraft ebenso zu Markte tragen muß, seine Arbeitskraft behandeln lassen muß nach den Regeln von Angebot und Nachfrage, wie sonst vom Men­schen abgesonderte, objektive Waren auf dem Warenmarkte behan­delt werden.

Nun ist das Eigentümliche innerhalb des Menschenlebens, daß Dinge in diesem Menschenleben auftreten können, die wirklich sind, die aber doch keine Wahrheiten sind, die Lebenslügen sind. Und eine solche Lebenslüge ist es, daß menschliche Arbeitskraft überhaupt jemals Ware werden kann. Denn menschliche Arbeits­kraft kann niemals irgendwelche Vergleiche, irgendwelche Preisver­gleiche mit Waren eingehen. Sie ist etwas prinzipiell Verschiedenes von den Waren. Es ist also eine Lebenslüge, wenn dasjenige, was nie Ware werden kann, dennoch zur Ware gemacht wird. Wenn das auch nicht in dieser deutlichen Weise ausgesprochen wird, so ist es aber doch etwas, was empfunden wird als, ich möchte sagen, der Mittelpunkt der proletarischen Frage der neueren Zeit. Dadurch, daß die menschliche Arbeitskraft zur Ware geworden ist, ist ein Rechtsverhältnis, wie es zwischen dem Unternehmer und dem Ar­beiter über das Arbeiten bestehen sollte, zu einem Kaufverhältnis geworden. Und moderne bürgerliche Nationalökonomen reden in der Tat so, als ob man innerhalb des Wirtschaftslebens auf der einen Seite Ware gegen Ware, auf der anderen Seite Ware gegen Arbeit austauschen könne.

Dadurch, daß ein sogenannter Arbeitsvertrag existiert im moder­nen Sinne des Wortes, dadurch wird die Sache nicht anders; denn über das Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter kann nur

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ein Rechtsvertrag geschlossen werden in dem Sinne, wie wir das spä­ter sehen werden. Befreit könnte die menschliche Arbeitskraft von dem Warencharakter nur werden - und sie muß befreit werden -, wenn der einzige Vertrag, der möglich wäre zwischen dem Arbeit­nehmer und dem Arbeitgeber nicht der über die geleistete Arbeit, sondern der über die dem gesunden Organismus in richtigem Sinne dienende Verteilung der gemeinsam produzierten Waren oder Lei­stungen wäre. Das ist die Forderung, die sich hinter der marxisti­schen Theorie des Mehrwertes verbirgt. Das ist zugleich der Weg, bezüglich dessen man hinausgehen muß über das bloß marxistisch Gedachte. Und die Frage muß man stellen: Wie hört das Lohnver­hältnis auf? Wie tritt an die Stelle des Arbeitsvertrages ein Waren­verteilungsvertrag?

Damit aber haben wir das zweite angedeutet, was immer wieder durch die Seele des modernen Proletariers zog und was als gewaltige Kritik den führenden Kreisen entgegengeschleudert wurde.

Und das dritte, das war die Überzeugung, daß alles, was sich im modernen Leben abspielt und was zu diesen Zuständen, in die wir nun einmal hineingeraten sind, geführt hat, nicht in einer Harmonie, nicht in einem aus gemeinsamem Sinn hervorgehenden Arbeiten der modernen Menschen besteht, sondern in einem Kampf zwischen Menschengruppen, in dem die eine zunächst im Vorteil ist; das ist der Klassenkampf des modernen Proletariats mit den führenden Klassen.

Wahrhaftig, diese drei Punkte: die materialistische Geschichtsauf­fassung, die Mehrwert- und Arbeitskraftlehre sowie die Klassen-kampf-Theorie wurden mit mehr zeitgemäßer Kraft studiert, als al­les das, was innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in der neueren Zeit geschrieben worden ist. Denn man sah ein, daß das, wozu die menschliche Entwickelung in den letzten Jahrhunderten gekommen ist, bloß ein Ergebnis von Wirtschaftsformen ist. Alles andere Aus-deuten ist im Grunde genommen eine große Menschheitslüge

Und so wurde denn das ganze Geistesleben, wie es für die herr­schende Klasse zu einer Art Kulturluxus geworden war, für das mo­derne Proletariat zu einer «Ideologie», ein Wort, das man ja immer wieder und wiederum vernahm. Es wurde zu einem bloßen Gewebe

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von Gedanken und Empfindungen und Gefühlen, die sich ausleben als Rauch, der herausströmt aus der wahren Wirklichkeit des Wirt­schaftslebens.

Aber man versteht die Sache nicht, wenn man sie nur so auffaßt. Man versteht die Sache nur richtig, wenn man weiß, daß gegenüber dieser verödenden Ideologie, dieser seelentötenden Ideologie, die im wesentlichen ein Erbgut des Denkens der bisher herrschenden Klas­se ist, in der modernen Proletarierseele, die Zeit hatte, über die Men­schenwürde und über das wahrhaftige Menschenwerden nachzuden­ken an der Maschine und in der Einklammerung durch den kapitali­stischen Wirtschaftsprozeß eine wirkliche Sehnsucht nach einem wahren Geistesleben, nicht nach einem Geistesluxus, nicht nach ei­nem Überfluß, erwachte. Man kann heute noch oft in bürgerlichen Kreisen hören, wie eigentlich die moderne Proletarierfrage, nach dieser oder jener Seite betrachtet, eine Brotfrage sei. Gewiß, sie ist ei­ne Brotfrage; aber darüber, daß sie eine Brotfrage ist, braucht man wahrhaftig nicht in einer Versammlung, in der Proletarierverstand herrscht, zu sprechen. Denn nicht darum handelt es sich, daß man in ähnlicher Weise denkt, wie etwa ein bürgerlicher Soziologe und Pädagoge, der jetzt viel in mancherlei Gegenden herumreist, und der unter anderem neulich die Worte geprägt hat: Man muß nur einmal wirklich die moderne Armut kennen, dann wird man schon zu der Sehnsucht nach einer Humanisierung der menschlichen Gesellschaft kommen. - Hinter solchen Worten steckt von solcher Seite ge­wöhnlich doch nichts anderes, als die Frage: Wie kann man in dem Wahn des alten Lebens der herrschenden Kreise fortfahren und wie kann man in der besten Art Brocken abfallen lassen für diejenigen, die nicht teilnehmen sollen an diesem Leben der herrschenden Klas­se? Wie kann man der Arbeit beikommen unter Aufrechterhaltung der bisherigen Gesellschaftsordnung? - Nicht eine Brotfrage ist es, um die es sich handelt. Wenn es eine Brotfrage ist, so handelt es sich vor allen Dingen darum, wie um das Brot gekämpft wird, aus wel­chen Seelenmotiven heraus.

Das hängt mit viel tieferen geschichtlichen Kräften zusammen als diejenigen, die oftmals von solcher Seite über Geschichte sprechen,

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auch nur ahnen. Und heute sind die drei Fragen, die ich vorhin cha­rakterisiert habe, dadurch in ein neues Stadium gekommen, daß vie­les in ihnen liegt, was man noch nicht deutlich auszusprechen in der Lage ist, was aber der vernimmt, der ein Gehör hat für das Walten geschichtlicher Mächte, für die Töne, welche die großen welthistori­schen Umwälzungen ankündigen. Heute ist die proletarische Bewe­gung nicht mehr eine bloße Kritik, heute ist sie dasjenige, was von den weltgeschichtlichen Mächten selbst aufgefordert wird, zum Handeln überzugehen, also die große Frage aufzuwerfen: Was hat zu geschehen? - Und da scheint mir dasjenige, was ich vorhin cha­rakterisiert habe, sich etwas zu verwandeln, so zu verwandeln, daß gegenüber dem rein materiellen Leben, wie es sich bisher gestaltet hat, ein anderes sich entwickeln soll, welches gestattet, auch dem un­terdrückten Teile der Menschheit ein wahrhaftig auch seelisch men­schenwürdiges Dasein zu geben. Das ist das erste, die Frage nach dem Geistesleben: Wie kann man die Luxus-Ideologie, das Überfluß-Geistesleben verwandeln in das, was aus der innersten Natur des Menschen heraus der Mensch wirklich für ein menschenwürdiges Dasein erleben muß?

Das andere, das sich entwickelt hat, ist, neben diesem Geistigen, auf dem Gebiete des Rechtslebens eben dasjenige, was die menschli­che Arbeitskraft des Proletariers zur Ware gemacht hat. Das konnte sich nur entwickeln dadurch, daß in der unter dem Kapitalismus und der modernen Technik heraufkommenden Gesellschaftsord­nung in vieler Beziehung das Recht zum Vorrecht wurde. Wie kann an die Stelle des Vorrechtes wiederum das Recht treten, innerhalb dessen Ordnung die menschliche Arbeitskraft des Proletariers ent­kleidet wird des Charakters einer bloßen Ware?

Und das dritte ist: Wie kann sich das, was sich als Klassenkampf entwickelt hat, in anderen Formen weiterentwickeln? Der Proleta­rier hat sehr wohl gefühlt, daß das, was im Leben geschehen muß, sich nur in diesem gegenseitigen Kampf ausbilden kann. Aber die Kämpfe, die im Laufe der neueren Geschichte stattgefunden haben, die empfindet er als solche, die überwunden werden müssen. Und so wird die Frage nach der Notwendigkeit von Klassenkämpfen nunmehr

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sich im heutigen Stadium der Entwickelung verwandeln in die Frage: Wie überwinden wir die Klassenkämpfe? - Die Frage nach dem Mehrwert, die innerhalb der Gesellschaftsordnung, wie sie sich herausgebildet hat in den letzten Jahrhunderten, in das Reich der Vorrechte gerückt ist, diese Frage nach dem Mehrwert begründet die andere: Wie findet man in der menschlichen Gesellschaft im wahren Sinne des Wortes einen alle Menschen befriedigenden Rechtszustand?

In bezug auf die erste Frage, die geistige Seite der sozialen Frage, muß man nur einmal sehen, wie tief der Abgrund zwischen den bis­her herrschenden Klassen und denjenigen ist, die auf der anderen Seite eine neue Welt- und Gesellschaftsordnung anstreben. Und da muß man sagen, daß das, was als Geistesleben den modernen Prole­tarier erfüllt, im Grunde genommen als ein Erbgut von der bürgerli­chen Klasse, die die Wissenschaft, die Kunst und so weiter, pflegen konnte, übernommen worden ist. - Aber dieses Geistesleben hat innerhalb des Proletariats anders gewirkt, denn der Proletarier war gegenüber dem, was er als Erbgut an Wissenschaft und so derglei­chen übernommen hat, in einer anderen Lage als gegenüber dem, was da als modernes Geistesleben heraufgezogen ist bei denen, die bürgerliche, die leitende Kreise waren. Man konnte selbst ein sehr überzeugter Anhänger des modernen Geisteslebens sein, man konn­te sich sehr aufgeklärt vorkommen, man stand doch als Mitglied der herrschenden Klasse innerhalb einer solchen gesellschaftlichen Ord­nung, die durchaus nicht nach diesem modernen Geistesleben geord­net war. Man konnte ein Naturforscher Vogt, ein naturwissenschaft­licher Popularisator wie Büchner sein, man konnte glauben, ein ganz und gar Aufgeklärter zu sein - das war vielleicht gut für den Kopf, für die Verstandes-Überzeugung; das war aber nicht geeignet für ein Begreifen der Stellung des Menschen im wirklichen Leben. Denn die Art, wie diese Leute im Leben standen, ließ sich nur dadurch recht­fertigen, daß die gesellschaftliche Ordnung von ganz anderen Mäch­ten, von religiösen, von veralteten sittlichen Weltanschauungen, jedenfalls von anderen Mächten herrührte, als diejenigen waren, die sich als wissenschaftlich beglaubigte Mächte diesen herrschenden,

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führenden Klassen dargestellt hatten. Daher wirkte auch das, was moderner wissenschaftlicher Geist ist und zu dem einfach aus der Kultur der neueren Zeit der Proletarier sich selbst heranführte, in der Proletarierseele ganz anders.

Ich darf an eine kleine Szene erinnern, woran das ganz besonders anschaulich werden konnte, dieses andere Wirken des modernen Geisteslebens auf den Proletarier, der genötigt war, dieses moderne Geistesleben nicht bloß für den Kopf zu fassen, sondern für den gan­zen Menschen, für seine ganze Stellung innerhalb der Menschheit.

Ich stand vor vielen Jahren einmal in Spandau auf dem gleichen Podium mit der jetzt so tragisch geendeten Rosa Luxemburg. Sie sprach dazumal über die Wissenschaft und die Arbeiter, und ich hat­te als Lehrer der Arbeiterbildungsschule ihren Worten über dasselbe Thema einiges anzufügen. Dieses Thema: «Die Wissenschaft und die Arbeiter» gab ihr Veranlassung, ertönen zu lassen gerade dasjenige, was mit Bezug auf das Geistesleben des modernen Proletariates so charakteristisch ist. Sie sagte da: Die Empfindungen - trotz der Kopf-überzeugung -, die Empfindungen der modernen führenden Klasse der Menschheit, die wurzeln doch noch in Anschauungen, als ob der Mensch herkäme von engelartigen Wesen, die ursprünglich gut wa­ren; und aus diesem Ursprung rechtfertigt sich gefühls- und empfin­dungsgemäß bei diesen herrschenden Klassen das, was sich an Rang-, an Klassenunterschieden im Laufe der Entwickelung herausgebildet hat. Aber der moderne Proletarier wird in einer ganz anderen Weise dazu getrieben, die bürgerliche Wissenschaft ernst zu nehmen. Er muß ernst nehmen, wenn ihm gelehrt wird, wie der Mensch ur­sprünglich nicht ein engelartiges Wesen war, sondern wie ein Tier auf Bäumen herumkletterte und sich höchst unanständig benom­men hat. Auf diesen Ursprung der Menschen zurückzusehen im Sin­ne der modernen Weltanschauung, das rechtfertigt nicht in demsel­ben Sinne wie die anderen es gerechtfertigt glauben, Lebens- und Standes- und Klassenunterschiede, das begründet eine ganz andere Idee von der Gleichheit aller Menschen.

Sehen Sie, das ist der Unterschied! Der Proletarier war genötigt, dasjenige, was die anderen wie eine Kopfüberzeugung nahmen, die

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nicht sehr tief ging, wenn sie auch noch so sehr aufgeklärt waren, er war genötigt, es mit seinem ganzen Menschen aufzunehmen, mit bitterstem Lebensernst die Sache zu nehmen. Dadurch aber wob es sich ganz anders in die Seele hinein. Man muß einfach auf solche Dinge aufmerksam werden, dann wird man schon erkennen, in wel­chem Sinne die moderne soziale Frage vor allen Dingen eine Frage des Geisteslebens ist und hintendiert nach einer Entwickelung eines alle Menschen befriedigenden Geisteslebens.

Dann, wenn man sich auf die Ursachen all dessen einläßt, was ich heute nur, ich möchte sagen, stammelnd habe schildern können, weil es, wollte man es wirklich ausführlich schildern, eine zu große Ausführlichkeit erfordert, wenn man also nach den Ursachen forscht und sich dann fragt: welche Entwickelung muß angestrebt werden? - so kann man folgendes sagen: Heute geht es wahrhaftig nicht um die Frage, ob die materialistische Kultur der wirkliche Un­terbau des Geisteslebens ist, sondern darum, wie wir zu einem Gei­stesleben kommen, das die menschliche Seele, die Seele aller Men­schen wirklich befriedigen kann. Heute kann es nicht mehr um eine kritische Auslegung dessen gehen, was Mehrwert ist, als was sich die menschliche Arbeitskraft innerhalb der kapitalistischen Weltord­nung darstellt, sondern heute stellt sich die Frage: Wie befreit man die menschliche Arbeitskraft von dem Charakter der Ware und wie kommt man dahin, daß «Mehrwert» nicht Vorrecht bleibt, sondern zum Recht wird? Und wenn Kämpfe innerhalb der menschlichen Gesellschaftsordnung sein mussen, dürfen es Klassenkämpfe sein, dürfen es diejenigen Kämpfe sein, die sich allmählich im Laufe der neueren Jahrhunderte herausgebildet haben?

Heute sind wir in einem Stadium der Entwickelung, wo nicht mehr die Kritik allein maßgebend ist, sondern wo die Frage maßge­bend ist: Was ist zu tun? - Da ergibt sich nun allerdings für den, der auf die Untergründe des Lebens eingeht, eine, ich möchte sagen, sehr radikale Antwort. Sie sieht vielleicht für manche weniger radi­kal aus, als sie ist, aber es ergibt sich eine radikale Antwort. Weil ja das proletarische Denken in vieler Beziehung nur das Erbe ist des bürgerlichen Denkens, weil die proletarischen Denkgewohnheiten

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die Erbschaft sind der bürgerlichen Denkgewohnheiten, so wird zu­nächst über die Fragen nachgedacht: Wie können die Schäden des Kapitalismus beseitigt werden? Wie kann das Bedrückende, welches die Prägung der menschlichen Arbeitskraft zur Ware hat, beseitigt werden? Wie kann der Klassenkampf in einer menschenwürdigen Weise überwunden werden?

Die Fragen müssen von einem viel tieferen Gesichtspunkt aus heute gestellt werden. Und große Anforderungen werden heute von den geschichtlichen Tatsachen selbst gestellt an die Denkgewohn­heiten, an die Gedanken des Proletariers. Denn an ihm liegt es, der Zeit gewachsen zu sein, sich zu fragen: Wie kommen wir über die ungesunden Untergründe des heutigen materiellen Geschichtslebens hinaus? Wie kommen wir über die Verheerungen, welche der Kreis­lauf der Mehrwerterzeugung im Leben angerichtet hat, im Rechtsle­ben angerichtet hat, hinaus? Wie kommen wir hinaus über die Ver­wüstungen der modernen Klassenkämpfe? Aus dem Negativen ins Positive hinüber wandeln sich die wichtigsten drei modernen sozia­len Fragen.

Schaut man hin auf die Ursachen der gegenwärtigen Lebensver­hältnisse, so findet man, daß ja wiederum eigentlich die Tendenz be­steht, das fortzusetzen, was die bürgerliche Weltordnung heraufge­bracht hat. Es fragen sich heute viele: Wie können wir den Kapitalis­mus überwinden? Wie können wir das Privateigentum an Produk­tionsmitteln überwinden? - Und sie kommen dann auf die uralte Ordnung der menschlichen Gesellschaftseinrichtungen, die der Genossenschaft und dergleichen, das heißt, sie kommen darauf, ein Gemeineigentum der Produktionsmittel als ein Ideal anzusehen.

Das ist verständlich, und wahrhaftig, nicht aus irgendeinem bür­gerlichen Vorurteile soll hier über diese Dinge gesprochen werden, sondern einzig und allein von dem Gesichtspunkte: Ist es möglich, dasjenige, was der moderne Proletarier will, auf dem Wege zu errei­chen, auf dem es heute mancher sozialistisch Denkende zu erreichen glaubt? Kann man, indem man zu dem Rahmen des alten Staates greift und in diesen alten Staat das einfügt, was Wirtschaftsordnung ist, nur in einer anderen Form, kann man dadurch eine Erlösung

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von dem Bedrückenden, das die Vergangenheit heraufgebracht hat, herbeiführen?

Blicken wir hin auf den modernen Staat. Er ist ja dadurch entstan­den, daß in einer Zeit - im 16., 17. Jahrhundert -, in der sich auch die moderne Technik, der moderne Kapitalismus entwickelten, die leitenden Kreise, die das Proletariat dann immer mehr und mehr an die Maschine rufen mußten, fanden, in dem Rahmen des Staates seien ihre Interessen am besten befriedigt. Und so fingen sie an, in den Zweigen, wo es ihnen bequem war, das Wirtschaftsleben in den Staat einlaufen zu lassen. Und insbesondere als die modernen Errun­genschaften heraufkamen, wurden ja weite Teile des Wirtschafts­lebens, wie das Post-, Telegraphen- und Eisenbahnwesen, in die Wirtschaft des Staates übernommen, die ja von altersher überkom­men war. Dazumal ließ man auch das Geistesleben in das moderne Staatsgefüge einlaufen!

Und immer mehr und mehr kam es zu dieser Verschmelzung von Wirtschaftsleben, Rechtsleben des Staates und geistigem Leben. Diese Verschmelzung führte nicht nur zu all den unnatürlichen Zu-ständen, welche mit dem Bedrückenden der neueren Zeit zusam­menhingen, sondern es führte diese Verschmelzung zuletzt auch zu den verheerenden Wirkungen der Weltkriegskatastrophe.

Wer heute aus den geschichtlichen Tatsachen heraus denkt, der wird nicht fragen: Was sollen die Staaten tun? - sondern im Gegen­teil, er wird vielleicht zu der Frage gedrängt: Was sollen die Staaten unterlassen? - Denn was sie tun und dadurch bewirken, das haben wir in der Tat erlebt in der Tötung von zehn Millionen Menschen und in dem, was achtzehn Millionen Menschen zu Krüppeln machte.

Und so drängt sich die Frage vielleicht doch in die Seele herein: Was sollen die Staaten unterlassen? - Das ist es, was ich hier nur an­deuten kann, was aber wahrhaftig aus tiefen Grundlagen einer wah­ren sozialen Wissenschaft gegenwartig schon gefragt werden kann. Wenn man sieht auf gewisse politisch-gesellschaftliche Zustände, wie sie sich, ich möchte sagen, typisch entwickelt haben, wie sie aber auch typisch zu ihrem wohlverdienten Ende geführt haben, dann braucht man nur zum Beispiel auf Österreich zu sehen, das

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sich in den sechziger Jahren hinwandte zu einem gemeinsamen Ver­fassungswesen im österreichischen Reichsrate.

Was sich dazumal herausgebildet hatte - ich habe drei Jahrzehnte meines Lebens in Österreich zugebracht, habe die Verhältnisse gründlich kennengelernt, habe kennengelernt, was sich dazumal im österreichischen Staate als Verfassungsleben entwickelte -, das paßte zu dem Zusammengewürfeltsein der verschiedenen Nationen wahr­haftig wie die Faust aufs Auge. Und für den, der geschichtliche Tat­sachen wirklich verfolgen kann, ist es klar, daß gerade in dem, was dazumal im österreichischen Verfassungsleben gegründet worden ist, was Österreichs Politik geworden ist schon in den sechziger, siebziger Jahren, die Ursache mit veranlagt ist zu dem Ende, in das die jetzigen Jahre führten.

Warum? Nun, dazumal wurde ein österreichischer Reichsrat be­gründet. In diesen österreichischen Reichsrat wurde zunächst hin­eingewählt die reine Wirtschaftskurie, die Kurie der Großgrundbe­sitzer, die Kurie der Märkte, der Städte und Industrialorte, die Kurie der Landgemeinden. Die hatten ihre Wirtschaftsinteressen zu vertre­ten in dem Staatsparlament. Und sie machten Rechte, sie machten Gesetze aus ihrem Wirtschaftsleben heraus. Es entstanden nur Rech­te, welche eine Umwandlung der Wirtschaftsinteressen waren. Mit Bezug auf das Recht aber hat man es nicht mit demselben zu tun, womit man es zu tun hat auf dem Boden des Wirtschaftslebens. Auf dem Boden des Wirtschaftslebens hat man es zu tun mit den mensch­lichen Bedürfnissen, mit Warenerzeugung, Warenzirkulation, Wa­renkonsum. Auf dem Gebiete des Rechtslebens hat man es aber mit dem zu tun, was, abgesehen von allen übrigen Interessen, den Men­schen, insofern er rein nur Mensch ist, insofern er als Mensch allen anderen Menschen gleich ist, angeht. Aus ganz anderen Untergrün­den heraus muß geurteilt werden, wenn die Frage gestellt ist: Was ist rechtens? - als: Was hat zu geschehen, um irgendein Produkt in den Kreislauf des Wirtschaftslebens einzuführen? - Die unnatürliche Zu­sammenkoppelung der Wirtschaftskurie mit dem Rechtsleben, das ist es, was als eine Krebskrankheit am sogenannten österreichischen Staate fraß.

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Diese Dinge könnte man durch die modernen Staaten hindurch an vielen Beispielen verdeutlichen. Es handelt sich nicht darum, daß man diese Dinge bloß studiert, sondern darum, daß man den richti­gen Gesichtspunkt findet, unter dem man einen Einblick in die wah­re Wirklichkeit gewinnen kann, in dasjenige, was lebt und webt, nicht in dasjenige, wovon sich die Leute einbilden, daß es politisch oder wirtschaftlich das Richtige ist.

Und wiederum, man sehe auf den Deutschen Reichstag, seligen Angedenkens, hin, auf dieses demokratische Parlament mit glei­chem Wahlrecht, in welchem zugleich eine Interessenvertretung sein konnte wie der Bund der Landwirte, in welchem aber auch sein konnte eine Vertretung einer bloßen geistigen Gemeinschaft, wie das Zentrum! Da sehen wir hineingeschweißt, hineingeschmolzen in das rein politische Leben etwas, was nur dem Geistesleben ange­hört. Und zu welchen unnatürlichen Verhältnissen hat dieses ge­führt! Wiederum könnte man zu dem einen Beispiel hinzu viele an­führen. Will man das Leben der modernen Menschheit kennenler­nen, dann muß man in der Lage sein, es einmal radikal von diesem Gesichtspunkte aus anzufassen. Man muß wirklich den Mut haben, solchen Dingen ins Angesicht zu schauen, dann wird man auf etwas kommen, was die modernen Menschen nocht nicht zugeben wollen, ich möchte sagen, sogar daß es nicht zugeben wollen die Menschen aller Parteien. Was aber einzig und allein der Impuls sein kann für ei­ne Gesundung unseres sozialen Organismus, das ist die Anerken­nung, daß fortan nicht mehr eine Zusammenschweißung, eine Zu­sammenkoppelung der drei Lebensgebiete sein darf - Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben -, sondern daß jedes dieser Gebie­te seine eigenen Lebensgesetze hat, daß jedes dieser Gebiete daher auch aus seinen eigenen Quellen heraus sich seine gesellschaftliche Formation geben muß.

Im Wirtschaftsleben können bloß die Interessen der Warenerzeu­gung, des Warenkonsums und der Warenzirkulation walten. Die Grundgesetze dieses Wirtschaftslebens müssen maßgebend sein für die Verwaltung und Gesetzgebung. Auf dem Gebiete des Rechtsle­bens muß herrschen dasjenige, was unmittelbar aus dem menschlichen

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Rechtsbewußtsein hervorquillt, dasjenige, worinnen alle Men­schen wirklich gleich sind als Menschen. Auf dem Gebiete des geisti­gen Lebens muß herrschen dasjenige, was aus der natürlichen menschlichen Begabung in voller freier Initiative erfließen kann.

Die moderne Sozialdemokratie hat Breschen hineingeschlagen -ich möchte sagen, von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus, doch das kann uns heute hier nicht berühren - auf einem einzigen Gebiete, indem sie den Satz in ihren Anschauungen hat: Religion muß Privatsache sein. - Der Satz muß ausgedehnt werden auf alle Zweige des geistigen Lebens. Alles geistige Leben muß eine Privat­angelegenheit sein gegenüber dem Rechtsstaate und gegenüber dem Kreislaufe des Wirtschaftslebens. Dasjenige Geistesleben allein, wel­ches auf seine eigenen Kräfte gewiesen ist, dasjenige Geistesleben al­lein, welches aus seinem eigenen Impuls heraus immerzu seine Wirklichkeit erweist, das wird kein Geistesluxus, das wird kein Gei­stesüberfluß sein, das wird ein Geistesleben sein, das von allen Men­schen in gleicher Weise ersehnt werden muß. Man hat, indem man das mittelalterliche Geistesleben angesehen hat, zum Beispiel die Wissenschaft im Verhältnis zur Religion und Theologie, oftmals den Satz ausgesprochen: Die Philosophie, die Weltenweisheit, trägt der Theologie die Schleppe nach. - Nun ja, man hat auch geglaubt, das sei in der neueren Zeit anders geworden. Es ist auch anders gewor­den, aber wie ist es anders geworden? Die weltlichen Wissenschaf­ten sind zu Dienern der weltlichen Mächte, der Staaten, der Wirt­schaftskreisläufe geworden. Und sie sind wahrhaftig dadurch nicht besser geworden. Und warum sind sie nicht besser geworden? Wenn man sieht, daß im Grunde genommen eine einheitliche Strö­mung geht, eine einheitliche Kraft, von den höchsten Zweigen des Geisteslebens bis herunter in die Verwertung der individuellen Fä­higkeiten des Menschen, wie sie getragen werden durch das Kapital und den Kapitalismus, dann sieht man der Frage, die sich hier auftut, auf den Grund. Wer die Funktionen, die Betätigungen des Kapitals in der modernen Gesellschaftsordnung nicht lostrennt von dem übrigen Geistesleben, der sieht nicht auf den Grund. Arbeiten auf Grundlage eines Kapitals ist nur möglich in einer Gesellschaft, in

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welcher ein gesundes, emanzipiertes Geistesleben ist, aus dem her-auswachsen kann auch die Entwickelung solcher Fähigkeiten, die auf das Kapital gegründet sind.

Was in der neueren Zeit geschehen ist, braucht ja nicht immer so grotesk zutage zu treten, wie es einmal zutage trat, als ein moderner, sehr bedeutender Forscher, ein Physiologe, charakterisieren wollte, was die Berliner Akademie der Wissenschaften, das heißt, die gelehr­ten Herren dieser Berliner Akademie der Wissenschaften eigentlich seien: Er nannte sie, diese gelehrten Herren, «die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern». Sehen Sie, die Sache war etwas an­deres geworden. Die Wissenschaft war nicht mehr der Diener der Theologie; aber ob sie gerade nun zu einer höheren Würde dadurch aufgestiegen ist, daß sie der Schuldiener des Staates geworden ist, das ist eine andere Sache.

Ich müßte viel reden, wenn ich Ihnen die gut fundierte, gut be­gründete Wahrheit in allen ihren Teilen darbieten wollte dafür, daß einzig und allein die Umkehr von jener Bewegung, die in der neue­ren Zeit eintrat, nämlich die Befreiung des geistigen Lebens in allen Zweigen von dem Staatsleben, zur Gesundung unseres sozialen Or­ganismus führen kann. Wie anders wird sich der unterste Lehrer fühlen, wenn er in all dem, was er zu vertreten hat, sich nur abhän­gig weiß von Verwaltung und Gesetzgebung, die auf der Grundlage des Geisteslebens selber aufgebaut ist, als wenn er die Maximen, die Impulse des politischen Lebens auszuführen hat! Lehrstand sollte sich ehemals entwickeln. Dienerstand hat sich gerade auf diesem Ge­biete entwickelt. Und dieser Dienerstand auf diesem Gebiete, er ent­spricht auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens wahrhaftig auch wie­der dem, was sich da entwickelt hat. Nährstand nannte man es im Altertum. Ausbeuterstand und ausgebeuteter Stand hat sich in der rieueren Zeit entwickelt. Die Dinge gingen aber durchaus parallel. Das eine ist nicht ohne das andere möglich.

Alles dasjenige, was sich auf das persönliche Verhältnis zwischen Mensch und Mensch bezieht - und dieses persönliche Verhältnis von Mensch zu Mensch bezieht sich auch auf dasjenige, was Arbeit­nehmer und Arbeitgeber miteinander abmachen -, alles das kann

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nur von demjenigen Gliede des sozialen Organismus verwaltet wer­den, welches selbständig auf Grundlage des geistigen Lebens organi­siert ist. Alles, was mit dem Rechte zusammenhängt, und mit dem Rechte hängt vor allen Dingen das Arbeitsverhältnis zusammen, das muß Domäne bleiben des politischen, des Rechtsstaates. Das aber, was mit Warenproduktion, Warenzirkulation und Konsum zusam­menhängt, das muß ein eigenes Glied der gesellschaftlichen Ord­nung werden, in welchem nur die Lebensgesetze dieses Organismus tätig sind.

So kommt man, indem man sich auf die Grundlagen dieser Dinge einläßt, allerdings zu der radikalen, für manchen sich als unbequem erweisenden Ansicht, daß sich für die Gesundung unserer sozialen Verhältnisse drei selbständige soziale Organisationen nebeneinander entwickeln müssen, die gerade dadurch in der richtigen Weise zu­sammenwirken werden, daß sie nicht eine einheitliche Zentralisa­tion haben, sondern zentralisiert in sich selber sind: ein Parlament, welches die geistigen Angelegenheiten verwaltet, eine Verwaltung, die nur diesen geistigen Angelegenheiten dient; ein Parlament und eine Verwaltung des Rechtsstaates, des im engeren Sinne politischen Staates; ein Parlament und eine selbständige Verwaltung des wirt­schaftlichen Kreislaufes für sich; gewissermaßen wie souveräne Staa­ten nebeneinander. Die werden durch ihr Nebeneinanderstehen das verwirklichen können, was die moderne Proletarierseele will, was aber durch eine bloße zentralistische Verstaatlichung der gesell­schaftlichen Ordnung nicht erreicht werden kann.

Nehmen Sie nur einmal das Wirtschaftsleben. Heute steht es so, daß es auf der einen Seite angehängt ist an die Naturgrundlagen. Man kann diese Naturgrundlagen durch Bodenverbesserung und dergleichen auch verbessern, dann können die Arbeitsbedingungen durch die Verbesserung der Arbeitsgrundlagen günstiger werden; aber man steht da an einer Grenze, über die man nicht hinausgehen kann. An einer solchen Grenze muß man auch nach der anderen Seite stehen. Wie das Wirtschaftsleben an die Natur, die außerhalb ist, angehängt ist, so muß auf der anderen Seite der Rechtsstaat ste­hen. Aus diesem Rechtsstaat heraus werden die Rechte und Gesetze

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so bestimmt, daß sie abgesondert vom Wirtschaftsleben bestimmt werden. Wie der Richter abgesondert von seinen Familien- oder menschlichen Beziehungen zu urteilen hat, wenn er nach dem Ge­setze urteilt, wie er da ja aus einer anderen Quelle heraus seinen Menschenwillen funktionieren läßt als im alltäglichen Leben, so werden, wenn es auch dieselben Menschen sind - denn durch alle drei Gebiete der sozialen Organisation werden es ja dieselben Men­schen sein, die da walten -, so werden sie, wenn sie aus dem moder­nen Rechtsstaate heraus urteilen, doch aus ganz anderen Prinzipien urteilen. Es wird sich zum Beispiel, um nur das eine anzuführen, ge­rade dadurch aus dem, was menschliche Anforderung an das Leben ist, das ergeben, was das Maß der Arbeit ist, das einer leisten kann, die Zeit, in welcher einer arbeiten kann. Das alles muß unabhängig sein von der Preisbildung, die im Wirtschaftsleben herrscht. Und wie die Natur auf der einen Seite dem Wirtschaftsleben die Preisbil­dung aufdrängt, so muß auf der anderen Seite die freie unabhängige Menschlichkeit aus dem Rechtsbewußtsein heraus zuerst immer die Arbeit entscheiden. Und vom außerhalb des Wirtschaftslebens ste­henden politischen Staate muß die Arbeit hineingestellt werden in das Wirtschaftsleben. Dann ist die Arbeit preisbildend; dann wird nicht Warencharakter der Arbeit aufgedrückt werden, dann wirkt die Arbeit mit an der Bildung des Preises, ist nicht abhängig von der Preisbildung der Ware. Geradeso wie die Natur von außen wirkt auf das Wirtschaftsleben, so muß das Recht, welches verkörpert ist in der menschlichen Arbeitskraft, von außen wirken.

Es mag sein - denn das kann man einwenden -, daß davon in ei­ner gewissen Weise der Wohlstand eines sozialen Organismus ab­hängig wird, wenn die Arbeit zuerst ihr Recht geltend macht; aber diese Abhängigkeit ist eine gesunde Abhängigkeit, und sie wird in derselben Weise zu einer gesunden Verbesserung führen, wie zum Beispiel die Bodenverbesserung durch technische Mittel, wenn es notwendig oder zweckmäßig ist oder sich als möglich herausstellt. Aber niemals wird in einer solchen Weise die Arbeitskraft preisbil­dend sein können, wie sie der Menschenwürde entsprechend preis-bildend sein muß, wenn man das Wirtschaftsleben wie in eine große

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Genossenschaft in den Rahmen des modernen Staates hineinstellt. Das Wirtschaftsleben muß herausgenommen werden, auf sich selbst gestellt werden. Herausgenommen werden muß das Rechtsleben, das politische Leben, das Sicherheitsleben und auf sich gestellt wer­den. Da haben zu sprechen Leute aus der demokratischsten Grund­lage heraus über dasjenige, was alle Menschen berührt. Dann wird das in der richtigen Weise zurückwirken auf das Wirtschaftsleben und dasjenige, was dadurch kommen muß. Niemals wird aus einer wie immer gearteten Genossenschaft oder staatlichen Einrichtung der Genossenschaft selbst, das geschehen können. Man wird es erle­ben, daß, wenn es so bleibt, wie die jetzigen Unterdrücker sich aus anderen, historischen Grundlagen herauf entwickelt haben, sich auch so die neuen Unterdrücker entwickeln werden, wenn nicht wirkliche demokratische Grundlagen außerhalb des Wirtschafts­lebens geschaffen werden.

Ebenso wie außerhalb des Wirtschaftslebens das staatliche Rechts-leben stehen muß, so das gesamte Geistesleben von der niedersten Schule bis hinauf zur Hochschule. Dann wird dasjenige, was aus die­sem Geistesleben heraus sich entwickelt, eine wirkliche geistgemäße Verwaltung sein können der beiden übrigen Zweige des Lebens. Dann wird es möglich sein, daß dasjenige, was sich im Wirtschafts­leben als Profit herausbildet, wirklich der Allgemeinheit zugeführt wird, aus der es genommen ist. Dann wird es möglich sein, daß für die materiellen Güter etwas ähnliches Platz greift, wie heute bloß für die schoflen Geistesgüter. Denn eigentlich sind die Geistesgüter der modernen Gesellschaft doch das Allerschofelste. Es ist so: in be­zug auf dieses Geistesgut, da gilt es, daß dasjenige, was produziert wird, wenigstens dreißig Jahre nach dem Tode der Allgemeinheit zugeführt wird, Freigut wird, von jedem verwaltet werden kann. Das lassen sich die Leute heute mit Bezug auf die materiellen Güter wahrhaftig nicht gefallen

Der Besitz ist im gesellschaftlichen Leben nicht das, wovon so sehr häufig diese oder jene Sozialökonomen in einer sonderbaren Weise träumen; man kann ihn nur so auffassen für das gesellschaftli­che Leben: Der Besitz ist das ausschließliche Verfügungsrecht über

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eine Sache; Besitz in produktivem Sinne, im Sinne von Grund und Boden, ist ein Recht. Und dieses Recht kann nur dann statt zu ei­nem Vorrecht zu einem Recht gemacht werden, das dem Rechtsbe­wußtsein aller Menschen entspricht, wenn auf einem Boden, wo nur das Recht bestimmt wird, die Urteilsbildung stattfindet, wenn es möglich wird, daß dasjenige, was als Profit sich ergeben hat, durch den Rechtsstaat in die Verfügung der geistigen Organisation überge­führt werden kann, so daß die geistige Organisation die richtigen in­dividuellen Fähigkeiten zu finden hat für dasjenige, was nicht mehr zur Produktion, das heißt, zum Menschendienste verwendet wird, sondern zum bloßen Profit wird. So wird es möglich werden, im­mer neue individuelle Fähigkeiten der Menschheit zuzuführen.

Aber damit wirklich eine Gewalt da ist, die in der richtigen Wei­se, nicht in Bürokratismus hinein, sondern in die freie Verwaltung der individuellen geistigen Fähigkeiten der Menschen dasjenige führt, was als Besitz von der einen Seite genommen werden muß, dazu ist notwendig, daß der Rechtsstaat den Besitz überwacht, das heißt das Besitzrecht, und daß er nicht seinerseits selber zum Eigentümer wird, sondern daß er das freie Eigentum an denjenigen geistigen Kreis ab­geben kann, von dem aus es am besten verwaltet werden kann.

Daraus ersehen Sie, daß man allerdings aus solchen Untergründen heraus heute zu radikalen Anschauungen kommt, die selbst Sie ver­wundern werden; aber ich meinerseits bin überzeugt davon, daß die weltgeschichtlichen Tatsachen heute solche Dinge von den Men­schen fordern. Ich bin überzeugt davon, daß dasjenige, was der m derne Proletarier will, nicht auf eine andere Weise erreicht werden kann als dadurch, daß er seine Hand reicht der Trennung der Ge­walten. Das ist die allein einzig mögliche «auswartige Politik» heute. Und merkwürdigerweise kann das ein jedes einzelne Territorium für sich durchführen. Würde Deutschland heute für sich darauf ein­gehen, wie es neulich von mir in einem «Aufruf an die Deutschen und an die Kulturwelt», der viele Unterschriften gefunden hat, aus­gesprochen worden ist, würden die Deutschen heute auf diese Drei­teilung eingehen, dann könnten sie doch vielleicht in anderer Weise mit den anderen verhandeln, als sie es heute können, wo sie als ein

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vollständig überwundener, gerade durch seine frühere Zentralisa­tion vollständig überwundener Einheitsstaat dastehen und im Grun­de genommen gar nichts vermögen.

Ich will damit gar nicht Partei ergreifen, sondern nur sagen, daß dasjenige, was ich ausführe, gerade die Grundlage nicht nur aller in­neren, sondern auch einer wahren auswärtigen Politik werden kann aus dem Grunde, weil es jedes einzelne Land, jedes einzelne Volk für sich allein durchführen kann. Man wird ja heute, wenn man die ge­waltig sprechenden Tatsachen ins Auge faßt, zu der Überzeugung geführt, daß es nicht mehr bloß darum zu tun ist, einiges in den Zu­ständen nach den alten Gedanken zu ändern, sondern daß es not­wendig ist, neue Gedanken, neue Tatsachen zugrunde zu legen. Man hat in den letzten Jahren wahrhaftig recht oft hören können: So ge­waltige Schreckensereignisse, wie die der letzten viereinhalb Jahre, hat es, solange die Menschen eine Geschichte haben, noch nicht ge­geben. Das kann man heute öfter hören. Was aber das Echo auf die­se Behauptung sein müßte, das hört man nicht so oft heute, nämlich:

Noch niemals haben es die Menschen so nötig gehabt umzudenken, umzulernen wie heute, wo die soziale Frage auf das hindeutet, wo am meisten umzulernen ist, hindeutet auf das, an dem am meisten vorbeigeredet und vorbeigedacht wird.

Heute zeigt es sich, daß die Menschen es sind, die zu handeln ha­ben. Da hat man nicht mit fertigen Programmen zu kommen! Was ich hier entwickelt habe, ist kein Programm, ist keine soziale Theo­rie. Dasjenige, was ich hier entwickelt habe, ist eine wirklichkeitsge­mäße Menschheitstheorie. Ich bilde mir nicht ein, über alle Zustän­de, die entstehen sollen, ein Programm aufstellen zu können; das kann der einzelne von sich aus nicht. Denn so wenig der einzelne von sich aus die Sprache, die eine soziale Erscheinung ist, bilden kann, sondern so wie die Sprache sich im Zusammenleben der Men­schen bildet, so muß alles soziale Leben sich im Zusammenleben der Menschen entwickeln.

Dazu müssen die Menschen aber erst im richtigen Verhältnisse zueinander stehen. [. . .] Derselbe Mensch kann im Wirtschaftsparla­ment, im demokratischen Parlament, im geistigen Parlament zugleich

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sein; er wird nur darauf sehen müssen, wie er aus der Objekti­vität der Verhältnisse immer aus den verschiedenen Quellen heraus das Urteil zu finden hat.

Wie die Menschen Rechts- und Wirtschafts- und Geistesleben ver­walten werden, wenn sie richtig zueinander stehen, was die Men­schen sagen werden über das Soziale, das möge man ergründen; nicht ein abstraktes, theoretisches Programm über dasjenige, was in allen Fällen richtig ist, hinstellen! Die Menschen in ein solches Ver­hältnis zu bringen, daß sie in der richtigen Weise miteinander wir­ken, dafür - könnte man glauben - hätte insbesondere das moderne Proletariat Verständnis, und dies aus dem einfachen Grunde, weil das moderne Proletariat gesehen hat, wie die verschiedenen Interes­sen, die Rechts-, die Wirtschafts- und die geistigen Interessen gegen­einander wirken. So bringt man sie in ein solches gegenseitiges Wir­ken, daß sie aus ihren eigenen Kräften heraus für jeden ein men­schenwürdiges Dasein, für das Ganze einen lebensfähigen Organis­mus ergeben. Wenn es auch radikal ist, nichts anderes glaube ich, als daß der gute Wille und die Einsicht dazu gehören, um dieses soziale Programm, das kein Programm im landläufigen Sinne ist - man muß es so nennen, weil man einmal nicht andere Worte hat -, um dieses soziale Programm ins Leben überzuführen. Die soziale Frage wird dadurch allerdings als das erscheinen, was sie in Wirklichkeit ist. Es gibt gewisse Menschen, die glauben, die soziale Frage, die her­aufgekommen ist, werden wir lösen, wenn wir dies oder jenes tun, [. . .] nein, die soziale Frage ist heraufgekommen, weil die Menschen eine bestimmte Entwickelungsstufe erlangt haben. Und jetzt ist sie da und wird immer da sein und wird immer von neuem gelöst werden müssen. Und wenn die Menschen sich nicht einlassen werden auf immer neue Lösungen, so werden die Kräfte zuletzt in solche Dis­harmonien kommen, die immer mehr zu revolutionären Erschütte­rungen der gesellschaftlichen Ordnungen führen müssen. Revolutio­nen muß man Stufe um Stufe im kleinen besiegen; dann werden sie nicht im großen auftreten. Besiegt man aber nicht dasjenige, was als berechtigte revolutionäre Kräfte Tag für Tag ins Leben hereintritt, dann, ja dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn dasjenige,

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auf das man nicht aufmerksam sein will, in großen Erschütte­rungen sich entlädt. Dann muß man dies vielmehr in gewissem Sin­ne als etwas Begreifliches ansehen.

So glaube ich, daß sich gerade im Proletariat für eine wirklich weitgehende Überschau über die soziale Frage, wie sie sich in dieser Dreigliederung des sozialen Organismus ergibt, ein Verständnis ent­wickeln könnte. Und ich bin überzeugt davon, daß, wenn sich eini­ges Verständnis entwickelt, dann der Proletarier erst begreifen wird, wie er im wahren Sinne des Wortes der echte moderne Mensch ist. Er, den man aus den alten Gesetzlichkeiten herausgerissen hat, an die öde Maschine hingestellt hat, in den seelenlosen Wirtschaftspro­zeß eingespannt hat, er hat die Möglichkeit, neben diesem Men­schentötenden, Menschenzerstörenden über das Menschenwürdige nachzudenken, über dasjenige, was das Menschenleben wahrhaftig menschenwürdig macht; er hat die Möglichkeit, von den fundamen­talen Grundlagen aus darüber nachzudenken und den Menschen als reinen Menschen ins Auge zu fassen. Daher darf man auch glauben, daß, wenn sich aus dem modernen proletarischen Klassenbewußt-sein dasjenige herausentwickelt, was in ihm verborgen ist, was da­hinter steht: das Bewußtsein der Menschenwürde - «ein menschen­würdiges Dasein muß allen Menschen zukommen» -, dann wird mit der Lösung der proletarischen Frage, mit der Befreiung des Proleta­riats, die Lösung einer großen weltgeschichtlichen Menschheitsfrage geschehen. Dann wird der Proletarier nicht nur sich erlösen, dann wird der Proletarier der Erlöser der gesamten Menschlichkeit in der Menschheit werden. Dann wird mit der proletarischen Befreiung zugleich die ganze Menschheit, dasjenige, was in dieser Menschheit wert ist, befreit zu werden, befreit werden können.

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PROLETARISCHE FORDERUNGEN UND DEREN KÜNFTIGE PRAKTISCHE VERWIRKLICHUNG Dritter Vortrag, Winterthur, 19. März 1919

Glauben Sie nicht, daß ich heute das Wort ergreifen möchte, um zu Ihnen in dem Sinne von Verständigung zwischen den verschiedenen Menschenklassen der Gegenwart zu sprechen, wie es so sehr häufig jetzt von gewissen Seiten her gepflogen wird, wo gesagt wird, es sei notwendig, daß man über Verständigung spreche. Ich möchte von einer ganz anderen Verständigung sprechen, wie wir gleich nachher sehen werden. Von jener Verständigung zu sprechen, verbietet sich, wenn man darauf hin blickt, wie sich dieses Leben im Laufe der letz­ten Jahrzehnte, vielleicht schon länger und bis in unsere Tage herein entwickelt hat, wie es nunmehr ausgelaufen ist in laut sprechende Tatsachen, die allerdings für manche Menschen, die sich von diesen Tatsachen vor kürzerer Zeit noch nichts haben träumen lassen, recht schreckhaft sind. Was würde es auch viel nützen, von Verstän­digung in dieser Art zu sprechen gegenüber dem, was man auf der Seite hören kann, wo heute so häufig diese Verständigung ersehnt wird?

Vor wenigen Tagen konnte man wiederum von einer solchen Sei­te allerlei hören, in Bern, bei der sogenannten Völkerbundskonfe­renz. Was da vorgebracht worden ist über das wünschenswerte und, wie die Leute glauben, mögliche internationale Leben der nächsten Zukunft, das erinnerte einen wahrhaftig an die Reden gewisser Staatsmänner, an Reden, die stets von demselben Grundton aus im Frühling und Frühsommer des Jahres 1914 gehalten worden sind. Ein paar Worte aus einer solchen Rede eines früheren Staatsmannes der später kriegführenden Mächte lassen Sie uns anführen. Sie laute­ten etwa so - er sagte das zu seinem Reichstag -: Dank der Bemu­hungen der Kabinette der Regierungen der europäischen Groß­mächte dürfen wir annehmen, daß der europäische Friede auf lange Zeiten hinaus gesichert sein werde. - Im Mai 1914! Das war der Frie­de, von dem gesprochen worden ist, der dann gekommen ist, und

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der mindestens zehn Millionen Tote gebracht hat und achtzehn Mil­lionen Menschen zu Krüppeln gemacht hat! So kannten die Men­schen dasjenige, was in der Zeit schlummerte.

Ich selbst, wenn ich diese persönliche Bemerkung machen darf, mußte im Frühling 1914 angesichts dessen, was man herankommen sehen konnte, wenn man nicht blind und taub war für die Wirklich­keiten, in einer Versammlung, die ich in Wien halten konnte, die Worte sprechen: Wir leiden im sozialen Organismus der Gegenwart an einer schleichenden Krebskrankheit, die in kürzester Zeit als ein mächtiges Geschwür aufbrechen müsse. - So konnte man auch re­den dazumal.

Nun, ich denke, die Tatsachen haben gezeigt, daß man mehr recht hatte, wenn man sprach von der schleichenden Krebskrank­heit in der gesellschaftlichen Ordnung der damaligen Gegenwart, als wenn man so sprach, wie die damaligen Staatsmänner zur Betäu­bung, zur Illusionserweckung für die Menschen gesprochen haben. Und so reden jetzt wiederum sehr, sehr viele Leute von dem, was zwischen den Völkern kommen soll an internationalem Leben. Und sie reden vorbei und denken vorbei an dem, was das Allerwichtigste und Wesentlichste ist und sein wird und was heute schon durch laut sprechende Tatsachen sich ankündigt; sie reden vorbei an den ei­gentlichen wahren sozialen Forderungen der Gegenwart.

Wie hat man von gewisser Seite bis zu den Schreckensjahren, die 1914 begonnen haben, das Leben der sogenannten modernen Zivili­sation geschildert? Man konnte es immer wieder hören, wie gewal­tig die Menschheit fortgeschritten sei, wie gegenüber früheren Zei­ten es möglich sei, rasch über weite Strecken der Erde hin zu reisen, um Geschäfte zu machen, wie der Gedanke blitzschnell über die Er­de hinfliege, wie Wissenschaft und Kunst - was man eben in gewis­sen Kreisen Wissenschaft und Kunst nennt - sich ausbreiten und so weiter. Loblied über Loblied wurde angestimmt auf diese moderne Zivilisation. Und die letzten viereinhalb Jahre? Was ist in ihrem Laufe aus dieser modernen Zivilisation in Europa geworden? Wie konnte das werden? Allein dadurch konnte es werden, daß diese moderne Zivilisation, der man solche Loblieder gesungen hat, auf einem

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Untergrunde ruhte, der unterhöhlt war, unterhöhlt allerdings nicht von irgend etwas der Menschheit als solcher Feindlichem, son­dern unterhöhlt war von den nach den verschiedensten Richtungen hin berechtigtsten Forderungen eines großen Teiles der gegenwärti­gen Erdbevölkerung. Die empfand dasjenige, was uns diese Zivilisa­tion gebracht hat, nicht als ein menschenwürdiges Dasein.

Allein dadurch aber war diese Zivilisation möglich, daß sie sich erhob wie ein Überbau auf dem Unterbau, der darin besteht, daß unzählige Menschen kein menschenwürdiges Dasein hatten. Und dasjenige, was man als das Schlimmste ansehen muß, das ist, daß sich eine tiefe Kluft mit Bezug auf das Verständnis aufgetan hatte, eine Kluft zwischen denen, die auf der einen Seite die Loblieder ange­stimmt haben und denen, die auf der anderen Seite immer wieder und wieder aus den Versammlungen heraus, die sie sich abrangen von der schweren Arbeit, den Ruf ertönen lassen mußten: So kann es nicht weitergehen!

Wenig Neigung war in den führenden, leitenden Kreisen zu einer wirklichen Verständigung, wie sie hätte gesucht werden müssen seit Jahrzehnten, ja seit vielleicht mehr als einem halben Jahrhundert. Seit diesem halben Jahrhundert ist die proletarische Bewegung im­mer mehr und mehr im Wachsen. Und sie ist so im Wachsen, daß man sagen kann: Bisher stand das Leben der proletarischen Bevölke­rung da wie eine mächtige weltgeschichtliche Kritik dessen, was die bisher herrschenden und führenden Klassen in der Weltgeschichte, in der Entwickelung der Menschheit angerichtet hatten. Heute spre­chen die Tatsachen diese Sprache der Kritik, die so und so oft diesen herrschenden Klassen entgegengehalten worden ist. Wie haben die bisher herrschenden Klassen sehr häufig dasjenige, was ihnen da ent­gegentönte als der Ruf: So kann es nicht weitergehen - wie haben sie das aufgenommen? Man brauchte ja nur - ich möchte Beispiele an­führen - nicht gleich so weit zu gehen, wie zum Beispiel eine charak­teristische Persönlichkeit, die sich aus den herrschenden Klassen der unmittelbaren Vergangenheit herausgehoben hat, wie etwa der deut­sche Kaiser, der mit Bezug auf die proletarische Masse, insofern sie sich als Sozialisten auslebten, sagte: Diese Tiere, die den Boden des

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Deutschen Reiches unterhöhlen, müssen ausgerottet werden. -Oder ein andermal sagte er - das sind seine eigenen Worte: Diese Menschen sind die Feinde der göttlichen Weltordnung. - Nicht bloß seien sie die Feinde anderer Menschen, sondern die Feinde der göttlichen Weltordnung. - Man brauchte, wie gesagt, nicht gleich so weit zu gehen; aber sonderbare Vorstellungen hatte man doch. Da hatten zum Beispiel im Deutschen Reiche aus gewissen Gründen heraus, die ich hier keiner Kritik unterwerfen will, die Sozialdemo­kraten gestimmt für die Kriegskredite, wenigstens ein überwiegen­der Teil der Sozialdemokraten hatte für Kriegskredite gestimmt, und hatte auch - wiederum aus Gründen, die ich nicht erörtern will -ihre Soldatenpflicht getan, hatten sich überhaupt in einer gewissen Weise gegenüber dem sogenannten Weltkrieg verhalten. Glauben Sie nicht, daß die Meinung von Leuten aus den bürgerlichen intel­lektuellen Kreisen eine so seltene war, die, als sie gesehen haben, wie patriotisch sich die Sozialdemokratie verhielt, ernsthaftig geglaubt haben - das ist eine Tatsache -, daß eigentlich die Soldaten in der Zukunft lauter Männer würden, die brav sich brauchen lassen wür­den zu dem, wozu man sie ja, namentlich im vorigen Reiche, recht gern gebraucht haben würde, wenn die Dinge anders, aber recht sehr anders ausgegangen wären, als sie ausgegangen sind. Man hätte sie nämlich sehr gern gebraucht zur Steuerbewilligung im Reichstage seligen Andenkens.

Nun, selbst auf mancher sozialistischen Seite hat man sich nichts träumen lassen von den laut sprechenden Tatsachen, die nunmehr aber eingetreten sind. Selbst auf sozialistischer Seite ist oft und oft wieder betont worden: Die Regierung wird nach diesem Weltkriege nicht so verfahren können mit der proletarischen Bevölkerung wie vorher; sie wird auf deren Willen Rücksicht nehmen müssen. -Nun, die Tatsachen sind ziemlich anders geworden, nicht wahr? Diese Regierung, wenigstens ein großer Teil von ihr, kann heute nicht viel Rücksicht nehmen auf den Willen der proletarischen Bevölkerung.

Wenn man nach beiden Seiten hin sieht, so zeigt sich auf der ei­nen Seite, was der österreichische Sozialist Pernerstorfer aus der Ge­sinnung

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gewisser bürgerlicher Kreise während des Weltkrieges so charakterisierte, indem er sagte: Diese Millionen schlössen, insofern sie den kriegführenden Staaten angehörten, ihren Frieden gern mit der Sozialdemokratie; aber sie möchten einen Frieden etwa unter der Bedingung, der dem entsprechen würde, daß der andere, dem man lebenslängliche Freundschaft anbietet, sie annehme, aber daß sich der Betreffende hinterher aufhänge. - Sehen wir aber nach der anderen Seite, da war auch keine Möglichkeit, viel Verständnis her­vorzurufen. Ich darf hier sehr wohl aus persönlicher Erfahrung re­den, denn ich arbeitete als Lehrer jahrelang an der von Wilhelm Liebknecht begründeten Arbeiter-Bildungsschule an dem Werden desjenigen, was sich in Proletarierseelen als Weltanschauung ausge­bildet hatte, mit. Wer weiß, was sich in der proletarischen Seele aus-bildete, der weiß auch, welche proletarischen Forderungen in dem steckten, was immer wieder und wiederum eben in jenen Versamm­lungen, die sich der Proletarier abrang von seiner Arbeitszeit, ab-rang auch von seiner körperlichen Gesundheit oftmals, was in jenen Versammlungen die Seelen durchtönte. Das kleidete sich immer wieder und wieder in dreierlei. Mancher sprach allerdings nicht mit einem vollen breiten Verständnis über dasjenige, was sich in diesen drei Dingen offenbarte, aber eine tiefe Empfindung war in den Pro­letarierseelen, was in diese drei Forderungen, wenn sie sich auch scheinbar nicht als Forderungen aussprechen, was in diese drei For­derungen verwoben ist. Das erste kleidete sich in die Worte: Mate­rialistische Geschichtsauffassung; das zweite kleidete sich in das Wort, in das für den Proletarier vielbedeutende Wort von dem Mehrwert; und das dritte war dasjenige, was der Proletarier seit Jahrzehnten, wenn er auch von seinem Verständnis, von seiner Auf­fassung aus sprach, mit dem Klassenkampf meinte, der andeutete, wie innerhalb der neueren Zeit der Proletarier innerhalb des Klassen-kampfes das geworden ist, was man nennen kann eben den klassen-bewußten Proletarier.

Was kleidete sich eigentlich in diese drei Worte? Es sieht zunächst recht theoretisch, recht schulmäßig aus, wenn man sagt: man beken­ne sich zur materialistischen Geschichtswissenschaft; allein wir wol­len

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heute lebenspraktisch und nicht theoretisch sprechen. Was war eigentlich gemeint mit dem, was der Proletarier gegenüber seiner Weltanschauung zum Ausdruck bringen wollte und will, wenn er von materialistischer Geschichtsauffassung spricht? Er hatte seit je. ner Zeit, seitdem sich im Laufe der neueren Geschichte gleichzeitig mit der modernen Technik der moderne Kapitalismus entwickelt hat, er hatte seit dieser Zeit von den führenden, leitenden Kreisen ein altes Lied hören können. Aber von dem, wovon man heute be­hauptet, daß es angeregt würde in der Menschenseele bei diesem al­ten Liede, bemerkte der Proletarier, wenn er hinsah auf die leiten­den Kreise, blutwenig. Da sprachen die Menschen der leitenden und führenden Kreise: Der Mensch lebt in einer gewissen sozialen Ord­nung von Generation zu Generation. Wie sich eben das geschichtli­che Leben entwickelt, so lebt die Menschheit; und sie lebt nach Ge­setzen, welche entsprechen einer göttlichen Weltordnung. Man nannte es eine sittliche Weltordnung, man nannte es die Ideen viel­leicht auch, wenn man aufgeklärt sein wollte, welche das geschichtli­che Leben der Menschheit beherrschen.

Der Proletarier schaute sich diejenigen Kreise an, die da so spra­chen, als wenn ihr Leben bedingt wäre von geistig-sittlichen Mäch­ten, die durch die Welt gehen und weben. Aber er hatte seinerseits nichts von diesen sittlichen Mächten; er sah wohl noch weniger et­was von einer in den Tatsachen sich auswirkenden göttlichen Welt­ordnung. Man sprach von einer göttlichen Weltordnung, aber man sah sie nicht, diese göttliche Weltenordnung. Er sah sie vor allen Dingen nicht in den Handlungen der Menschen, in dem Verhalten der Menschen zueinander. Er war ja - seit Jahrhunderten hatte sich das entwickelt - eingespannt worden in die kapitalistische Wirt­schaftsordnung, in die seelenlose, verödende kapitalistische Wirt­schaftsordnung. Sie war heraufgekommen gleichzeitig mit der mo­dernen Technik, die zahlreiche Menschen weggerufen hat von jenem alten Handwerk, von dem man sagte, daß es einen goldenen Boden hatte - es hatte in einer gewissen Weise einen goldenen Boden -, aber das hatte keinen goldenen Boden, was der moderne Proletarier erlebte an der Maschine in der Fabrik. Für ihn war diese gesellschaftliche

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Ordnung ausgedrückt in seinem Stehen an der Maschine, in seinem Eingespanntsein in die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Und er sah, indem dieses neuere technische und kapitalistische Leben heraufkam, wie die leitenden, führenden Kreise sich dasjenige, was sie von einem gewissen sozialen Organismus von alten Zeiten her übernommen haben, als modernen Staat nach ihrem Interesse einge­richtet hatten. Er sah vor allen Dingen, wie die leitenden, führenden Kreise aus dem, was sie als Erträgnis hatten durch die moderne Wirt­schaftsordnung, durch den modernen Staat, wie sie sich anstellten ihre sogenannten geistigen Leiter, wie sie sich anstellten ihre Lehrer-schaft, ihre Juristen, ihre Mediziner und so weiter. Und er bemerk­te, wie gesagt, wenig davon, daß in dieser geistigen Leitung eine gött­liche, sittliche Weltordnung waltete. Er bemerkte vielmehr, weil er es ja gewohnt war, hinzuschauen auf die Abhängigkeit des Men­schen von der wirtschaftlichen Ordnung, er bemerkte, wie auch die­se leitenden Kreise durchaus von der wirtschaftlichen Ordnung ab­hängig waren. Der Kapitalismus, die moderne Technik, das Ausbeu­tersystem, von denen sah er, daß sie die geistigen Leiter hinstellten an die Plätze, wo sie standen. Man hatte, als so dieses moderne geistige Leben im modernen Staate heraufkam, aus gewissen Kreisen dieses geistigen Lebens heraus oftmals gesagt: Ach, dieses ferne Mittelalter, da war die Philosophie, die Weltweisheit - und man meinte damit die Wissenschaft überhaupt - in gewisser Weise die Magd der Theo­logie. Weniger wurde aber von dieser Seite her betont, daß in der neueren Zeit die Wissenschaft wahrhaftig nicht irgend etwas gewor­den war, das eine auf sich selbst gestellte freie Wissenschaft war, son­dern daß sie war eine treue Dienerin des modernen Staatssystems. Man brauchte auch wiederum nicht gleich so weit zu gehen, wie ein moderner, berühmter Physiologe, der einmal von einer gelehrten Körperschaft, von der Berliner Akademie der Wissenschaften gesagt hat: diejenigen Gelehrten, die dieser Berliner Akademie der Wissen­schaften angehören, seien die geistigen Schutztruppen der Hohen­zollern. Man brauchte, wie gesagt, nicht gleich so weit zu gehen; aber man hatte doch zum Beispiel sehen können - und es kam ja al­les während des Weltkrieges zu einer bestimmten Höhe -, man hatte

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doch Merkwürdiges sehen können während dieses Weltkrieges. Ge­wiß, die Mathematiker, die Chemiker, denen kann man nicht so­gleich nachweisen, wie sie den Befehlen von oben gehorchen; dafür glänzt ja auch ihre Wissenschaft weniger stark, hängt weniger stark auffällig zusammen mit dem, was das Leben durchpulst. Geschichte hängt schon mehr zusammen mit demjenigen, was das Leben durch­pulst. Wer das verfolgt, was als Geschichte produziert worden ist ge­rade von denen, die als Staatsdiener dieses Gebietes gewirkt und ge­waltet haben, der konnte sich wohl ein unbefangeneres Urteil als mancher andere bilden, wenn er zum Beispiel alles dasjenige ansah, was während dieses Weltkrieges und schon vorher, wahrhaftig lange vorher, über die geschichtliche Bedeutung der Hohenzollern gespro­chen wurde. Wahrhaftig, die Geschichte der Hohenzollern wird an­ders ausschauen, wenn sie nunmehr in der Zukunft geschrieben wer­den wird! Man kann schon sagen, dasjenige, was diese Herren pro­duzierten auf diesem Gebiete, das war ein getreuliches Spiegelbild dessen, was eigentlich die Machthaber haben wollten; das war wirk­lich nicht freies Geistesleben, das war nichts anderes als ein geistiger Überbau über die Wirtschaftsordnung der letzten Jahrhunderte und namentlich der neueren Zeit. Was Wunder aber, wenn der Proleta­rier, anschauend alle diese Verhältnisse, sich sagte: Ach was, alle sitt­liche Weltordnung, alle Ideen in der Geschichte! Was hat göttliche Weltordnung zu sagen! Abhängig ist jeder Mensch von den wirt­schaftlichen Grundlagen. Wie diese wirtschaftlichen Grundlagen sind, so breitet er seine Gedanken aus, so lebt er seine Empfindun­gen dar, so denkt er zuletzt auch selbst in bezug auf seine religiösen

Vorstellungen: alles ein ideologischer Überbau! Das wahrhaft Wirkliche ist die Wirtschaftsordnung!

Begreifen kann man, wie gesagt, dasjenige, was als Eindruck ent­stand aus dem unmittelbaren Leben in der Seele des Proletariers. War doch dieser Proletarier genötigt - die herrschende Klasse mußte selbst ihn zu einer gewissen Bildung aufrufen, sie konnte die alten Ungebildeten, den alten Analphabetismus nicht mehr gebrauchen in ihrer Wirtschaftsordnung -, war doch dieser Proletarier genötigt in­nerhalb der Bildung, die er aufnehmen wollte, nach der er sich sehnte,

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das entgegenzunehmen, was heraufgekommen war als Wissen­schaft, als das ganze wissenschaftliche Denken über die Welt in der neueren Zeit.

Aber dieser Proletarier war auch zu etwas anderem noch genötigt als zum Aufnehmen der Wissenschaft in einer solchen Art, wie etwa die herrschenden Kreise diese neuere Wissenschaft, die gleichzeitig heraufkam mit der modernen Technik und dem Kapitalismus, auf­nahmen. Ich möchte immer wieder und wiederum ein Beispiel an­führen, das ich schon neulich hier in dieser Frage zur Illustration brachte. Ich habe gerade über dieses Gebiet gesprochen. Man konn­te selbst ein so draufgängerischer Naturforscher sein wie Karl Vogt, der dicke Vogt, man konnte ein naturwissenschaftlicher Popularisa-tor sein, wie Büchner, man konnte sich in der Art von beiden recht freidenkerisch, recht aufgeklärt vorkommen; man konnte sich sa­gen: hinweg von mir alle die alten Vorurteile. Aber dabei wirkte doch dasjenige, was diese moderne wissenschaftliche Gesinnung bei diesen Klassen hervorgebracht hatte, ganz anders, als es wirkte in der Seele des modernen Proletariers. Die leitenden, führenden Krei­se, sie sprachen davon, daß die Menschen abstammen von tierischen Lebewesen. Ich will jetzt nicht davon sprechen, ob diese Lehre un­sinnig oder irgendwie berechtigt ist, aber man sprach so, ich will nur die Tatsachen anführen. Aber diese Lehre ist von den herrschenden Klassen so gedacht, daß sie nur in die Köpfe hineinging. Man konnte eine Kopfübernatur gewinnen. Aber in dem gesellschaftlichen Le­ben, in der gesellschaftlichen Lebensordnung, in der man drinnen stand, da walteten Gesetze, die wahrhaftig nicht hergenommen wa­ren von der Grundanschauung, daß alle Menschen in gleicher Weise von irgendwelchem Tiere abstammten. Und man fand es bequem, die gesellschaftliche Ordnung nicht sich einzurichten, nicht einmal recht sie zu denken im Sinne dieser modernen naturwissenschaftli­chen Anschauung.

Ich stand einmal, wie gesagt, ich erwähne diese Tatsache noch ein­mal hier in dieser Stadt, auf einem gemeinsamen Podium mit der kürzlich tragisch geendeten Rosa Luxemburg. Sie und ich sprachen dazumal vor einer größeren Arbeiterschaft in der Nähe von Berlin

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über die Wissenschaft und die Arbeiter. In ihrer ganz besonders ein­dringlichen Weise, in ihrer ruhigen und gelassenen Art sprach sie da­zumal vor allem aus dem Geiste der modernen Wissenschaft heraus; aber sie sprach eben zu modernen Proletariern. Sie sprach zu diesen modernen Proletariern etwa so: Man sehe nur einmal die Wissen­schaft heute an. Es heißt, daß der Mensch seinen Ursprung nicht aus irgendeinem geistigen Urzustande hat, denn, so sagte sie - ich zitiere ihre Worte fast wörtlich -, der Mensch wäre ursprünglich ein recht unanständiges Wesen gewesen, das auf Bäumen kletterte, und von solchen Wesen stammen wir alle ab. Da ist natürlich - sagte sie dann

- kein Grund dazu, Rangunterschiede unter den Menschen zu ma­chen, wie sie die heutige gesellschaftliche Ordnung macht. - Ja, se­hen Sie, man konnte ein aufgeklärter Mensch sein und in dem Kreise der führenden, leitenden Klasse drinnen stehen, man konnte eine Kopfüberzeugung haben, aber dasjenige, was so gesprochen wurde, das wirkte doch anders auf den modernen Proletarier. Der moderne Proletarier kam mit einem großen, mit einem riesengroßen Vertrau­en dieser - man muß es sagen - bürgerlichen Wissenschaft entgegen, denn er glaubte, daß sie die absolute Wahrheit enthalte. Und weil er hinweggerufen worden war an die Maschine, in die Fabrik, in die kapitalistische Wirtschaftsordnung hinein, weil er aus allem Frühe­ren herausgerissen war, weil er auch nicht mehr Überlieferungen er­halten hatte, keine Traditionen, weil er nicht in einem ganz neuen Lebensverhältnis bleiben konnte, war er genötigt, das, was ihm diese bürgerliche Wissenschaft gab, als an den ganzen Menschen gerichtet zu nehmen und sich zu fragen: Ist sie so, die Welt, wie sie sich dar­stellt in den Augen dieser modernen Wissenschaft?

Das ist die Hauptrichtung des geistigen Lebens des modernen Proletariers. Das ist dasjenige, was ihn immer wieder und wieder in der Seele zu der Empfindung nötigt, daß es so nicht weitergehen kann. Und dahinter verbirgt sich die eine der Forderungen.

Die zweite der Forderungen, man konnte sie immer wieder und wieder hören, wenn man nicht bloß den leitenden Kreisen angehör­te und dadurch in bestimmter Weise über das Proletariat dachte, sondern wenn man, unter dem Proletariat lebend, mit dem Proleta­riat

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denken und sprechen konnte - man konnte es immer wieder und wiederum fühlen und empfinden. Jeder, der innerhalb dieser Kreise lebte, weiß, daß mit dem Begriff «Mehrwert» und allem, was damit zusammenhängt, durch Karl Marx und seine Nachfolger in theoretischer Art etwas in die Arbeiterschaft hineingeworfen wur­de, das zündend wirkte. Denn in dieser modernen Arbeiterschaft war etwas, das aus den Lebensverhältnissen der neueren Zeit heraus verstand, tief schmerzlich verstand, was Mehrwert ist.

Hier ist der Punkt, wo man sagen muß: Wir stehen heute an ei­nem Wendepunkte der geschichtlichen Entwickelung. Eine Kritik war dasjenige, was im modernen Proletariat lebte, an dem, was die leitenden Kreise bisher in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit besorgt haben. Zum Handeln ist heute das moderne Proletariat aufgerufen. Dieses Handeln wird nur möglich sein, wenn gerade in diesem Punkte, der sich an das Wort Mehrwert anschließt, man den Mut haben wird, allüberall, wo man weiterkommen will im menschlichen Leben selbst, über das hinauszugehen, was Karl Marx gemeint hat, als er von Mehrwert und dem damit Zusammen­hängenden sprach.

Was war es denn, was in Anknüpfung an diesen Mehrwert ein so tiefes, empfindungsgemäßes Verständnis hervorrief in der Seele des modernen Proletariers? Es war dasjenige, was den Grundnerv des ganzen modernen Wirtschaftssystems berührte. Was ist Wirtschaft? Wirtschaft, auf deren Grundlage wir alle materiell leben? Was ist Ware, Produktion, Zirkulation, Konsumtion? In diesen Kreislauf des Wirtschaftslebens, in welchem nur Ware zirkulieren sollte, ist in einer gewissen Form seit alten Zeiten, sich abschälend von anderen Formen, dasjenige eingetreten, was man nur dadurch charakterisie­ren kann, daß man sagt: Innerhalb der modernen kapitalistischen Wirtschaftsordnung lebt weiter die Arbeitskraft des modernen Pro­letariers in derselben Weise wie eine Ware. Sie wird gekauft, sie wird wie eine Ware getauscht gegen andere Waren. - Das empfindet der moderne Proletarier. Was auch immer in kleinen Brocken gesche­hen ist, um gewissermaßen seine Aufmerksamkeit abzulenken von dieser Fundamentaltatsache, wir stecken tief drinnen in einem Zusammenhang,

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in dem die proletarische Arbeit nichts weiter ist als ei­ne Ware. Hier empfindet der moderne Proletarier noch viel mehr, als man eigentlich bisher genötigt war, in theoretischen Worten, selbst in der sozialistischen Wissenschaft, zum Ausdruck zu brin­gen, hier empfindet der moderne Proletarier das ganze Menschenun-würdige seines Daseins. Er sieht in seinem Dasein nur die Fortset­zung des alten Sklavendaseins, des mittelalterlichen Systems der Leib-eigenschaft. Der Sklave wird als ganzer Mensch verkauft; der moder­ne Proletarier muß, weil er selbst nichts besitzt, auf den Arbeits­markt seine Arbeitskraft tragen, die ihm abgekauft wird. Aber kann man denn die Arbeitskraft auf den Arbeitsmarkt tragen, ohne sich selbst hinzutragen? Ist man nicht mit ihr als Mensch so verknüpft, daß man als Mensch das Schicksal erleidet, das die eigene Arbeits­kraft erleidet? Das ist es, worauf es ankommt: Nicht nur eine andere Form der Entlohnung, die nichts weiter ist als ein Kauf von Arbeits­kraft als Ware, sondern die Entkleidung der Arbeitskraft von dem Warencharakter im modernen Wirtschaftsleben muß angestrebt werden. Das ist gerade die mehr oder weniger deutlich ausgespro­chene Frage des modernen Proletariats: Wie kann es geschehen, daß der Mensch, auch wenn er nichts anderes in den gesellschaftlichen Organismus hineinzutragen hat als seine Arbeitskraft, ein men­schenwürdiges Dasein erhält? Was bedeutet es eigentlich, daß seine Arbeitskraft, die in keiner Weise sich vergleichen läßt mit irgendei­ner Ware, nicht mehr als Ware ist? Was ist das eigentlich? Das ist die große Lebenslüge: Dasjenige, was nie in Wirklichkeit Ware werden kann, Arbeitskraft, wird im modernen Leben zur Ware gemacht. Dadurch ist das eine experimentierende, eine in die Wirklichkeit hineingeworfene Tatsachenlüge; die muß in Wahrheit umgewandelt werden -, so könnte man radikal die Forderung in diesem Punkte stellen, formulieren.

Und das dritte ist dasjenige, was der moderne Proletarier sieht: Es ist Kampf. Er blickt hin auf das moderne Wirtschaftsleben; er hat in den Tiefen seiner Seele ein Gefühl davon, daß im Wirtschaftsleben Heilsames nur erblühen kann aus Gemeinsinn heraus. Wie würde er sich im speziellen Falle zum Beispiel ausdrücken, der Gemeinsinn?

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Nun, man kann ja in einem Spezialfall sagen: Der Unternehmer, der Arbeitgeber und der Arbeiter, sie produzieren miteinander. Es müß­te also die Gemeinsamkeit, der Gemeinsinn darin bestehen, daß sie gegenüber dem sozialen Organismus dasselbe Interesse haben. Statt­dessen kauft der Unternehmer wie eine Ware dem Arbeiter die Ar­beitskraft ab, während sie das Erzeugnis, das Produkt gemeinsam produzieren. Er gibt ihm von dem Produkte eben nichts weiter als den Kaufpreis für diese Ware ab. Darüber hilft nicht hinweg, wie es auch immer mehr oder weniger verbrämt auftritt, der Arbeitsver­trag. Solange dieser Arbeitsvertrag geschlossen wird über die Ver­wendung der Arbeit des Proletariers, so lange muß dieser Vertrag immer die Arbeitskraft zur Ware machen. Einzig und allein möglich muß es werden, daß der Vertrag zwischen dem, was man heute den Arbeiter, und dem, was man heute den Unternehmer nennt, nicht geschlossen zu werden braucht, nicht geschlossen werden darf über die Arbeit, sondern daß er geschlossen werden muß über die Tei­lung des Produkts zwischen dem Arbeiter und dem Leiter der Ar­beit. Es gibt keine andere Gerechtigkeit auf diesem Gebiete. Es gibt keinen anderen wirklichen Ausdruck dessen, was man als Gemein-sinn bezeichnete auf diesem Gebiete. Was aber sieht der moderne Proletarier statt eines solchen Gemeinsinnes? Nun, er sieht den Klassenkamp£ Er sieht seine aus der physischen Arbeitskraft heraus produzierende Klasse im Kampfe mit der Unternehmerklasse, und er sieht in die Unternehmerklasse hineinfließen den Mehrwert, ohne daß er einen Anteil hat an denjenigen «Schicksalen», welche dieser Mehrwert hat innerhalb des sozialen Organismus.

Der Proletarier ist wahrhaftig nicht so dumm, daß er glaubt, Mehrwert brauche man nicht zu erzeugen. Wenn man alles aufessen würde, was man durch Handarbeit erzeugt, dann gäbe es keine Schulen, überhaupt keine geistige Kultur, dann könnte auch kein Staatswesen existieren; Steuern würde es nicht geben und so weiter; denn alles dasjenige, was in diesen Dingen ist, von denen doch wohl auch der Proletarier weiß, daß sie der Entwickelung der Menschheit notwendig sind, das fließt aus dem Mehrwert. Aber der Proletarier will etwas anderes. Und diejenigen verhüllen die Tatsachen, die die

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moderne proletarische Frage nur wie eine Brotfrage auffassen. Ge­wiß, sie ist eine Brotfrage; aber darauf kommt es an, wie diese Brot­frage gefühlt wird. Aus ganz anderen Untergründen heraus, aus dem Gefühle eines menschenunwürdigen Daseins empfindet heute der moderne Proletarier. Das ist es, worauf es ankommt. Und statt des Gemeinsinnes fühlt er den Klassenkampf zwischen sich und dem­jenigen, mit dem er gemeinsam für den sozialen Organismus produziert.

Was also ist dann denn die Erfahrung dieses modernen Proleta­riers im modernen Leben eigentlich? Indem man diese Frage auf­wirft, sachgemäß, kommt man schon darauf, durch welche prakti­schen Maßnahmen die proletarischen Forderungen der neueren Zeit in der Zukunft befriedigt werden können. Man kann sagen: Jawohl, bisher hat es sich in einer gewissen Weise als eine Wahrheit erwie­sen, als eine Wahrheit der letzten Jahrhunderte, daß das geistige Le­ben nur etwas wie ein Überbau, wie eine Ideologie ist, wie ein Rauch, der herauskommt aus dem, was das bloße Wirtschaftssystem ist. Allein, tief im Innern empfindet der Proletarier die Sehnsucht nach einem wirklichen Geistesleben, nach einem Geistesleben, das da ist zur Befriedigung jedes menschlichen Daseins. Wenn er auch sagt, alles Geistesleben komme aus der Wirtschaftsordnung heraus, im Unbewußten will er gerade ein Geistesleben, das nicht aus der Wirtschaftsordnung herauskommt, will er ein freies, auf sich selbst gestelltes geistiges Leben, will er ein wahres geistiges Leben. Das ist das eine.

Das zweite ist: Er sieht hin auf den modernen Staat. Was sieht er in diesem modernen Staat? Er sieht in diesem modernen Staate den Klassenkampf, und er hat das Gefühl, da, wo der Klassenkampf herrscht, da herrscht etwas nicht, was aus jedem menschlichen Be­wußtsein heraus als eine notwendige Forderung des Lebens sich er­gibt. In einer gesellschaftlichen Ordnung, in welcher der Klassen­kampf herrschen kann, herrscht das Vorrecht; denn woher würde der Kampf der leitenden Kreise gegen die besitzlosen Kreise kom­men, wenn nicht von einem Vorrechte? Aber es darf nicht das Vor­recht herrschen - so sagt die Seele -, es muß das Recht herrschen.

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Das ist die zweite Forderung. Das ist diejenige, die sich etwa so aus­sprechen läßt: Der moderne Proletarier sieht in dem modernen Staat die Verkörperung des Klassenkampfes. Er aber fordert auf dem Bo­den, auf dem der Klassenkampf herrscht, das Recht. Und er sieht auf dem Boden der modernen Wirtschaftsordnung sich dasjenige ent­wickeln, was seine Arbeitskraft zu einer Ware macht. Er sieht sich hineingespannt in diesen Wirtschaftsprozeß. Gewiß, theoretisch hat das Proletariat bisher als Wissenschaft aufgestellt, daß alles vom volkswirtschaftlichen Leben abhängig ist. Allein in den Tiefen der Seele, da wühlt es: ich will unabhängig werden von jenem Wirt­schaftsleben, das jetzt herrscht; ich will ein ganz anderes Leben, als dasjenige, was von diesem Wirtschaftsleben abhängig ist.

Sehen wir von diesem Gesichtspunkte aus die großen, weithin sprechenden Tatsachen der Gegenwart, die Europa beunruhigen, und immer mehr beunruhigen werden, sehen wir sie uns an, dann sprechen sie so: Aus rein materiellen Interessen der leitenden, füh­renden Kreise hat sich ein Geistesleben ergeben. Das ist nicht dasje­nige, was allen Menschen ein menschenwürdiges Dasein gibt. Aus dem, was die leitenden Kreise unter der Entwickelung von Technik und Kapitalismus aus dem modernen Staate gemacht haben, hat sich ein Gemeinwesen des Vorrechtes, nicht des Rechtes ergeben. Und Klassenkampf muß aufhören, Rechtsleben muß an dessen Stelle tre­ten. Im Wirtschaftsleben hat sich ergeben, daß die Arbeitskraft ein­gespannt wurde in die Warenzirkulation; auf den Warenmarkt bringt man die menschliche Arbeitskraft. Herausgenommen werden muß aus dem reinen Wirtschaftskreislauf die menschliche Arbeits­kraft. Das ist es, was sich in den jetzigen welthistorischen Tatsachen ausspricht. Wodurch ist das alles gekommen?

Nun, man braucht nur einige Tatsachen, die sich aber verhun­dertfachen ließen, einmal unter den Gesichtspunkt einer bestimm­ten Frage zu stellen. Es wird Sie vielleicht überraschen, daß hier ge­rade von dem Gesichtspunkte gesprochen wird, den ich jetzt andeu-te. Allein, wir stehen heute in einem entscheidenden Wendepunkte der sozialen Bewegung. Man hat in der letzten Zeit oftmals, mehr oder weniger geistreich ausgedrückt, die Phrase hören können, die

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aber gewiß nicht, durchaus nicht bloß Phrase ist: Dasjenige, was die­se Weltkriegskatastrophe heraufgebracht hat, das war noch nicht da, seit die Menschheit eine geschichtliche Erinnerung hat. Das ist oft und oft wiederholt worden. Weniger hört man aber die Empfindung betonen: Nun, wenn das so ist, wenn die Menschen in verhältnismä­ßig kurzer Zeit dazu gekommen sind, zehn Millionen Menschen zu erschlagen, und achtzehn Millionen zu Krüppeln zu machen, wenn dieses unvergleichlicherweise eingetreten ist, warum bequemen sich denn die Menschen nicht vielleicht zu fragen: Müssen wir nicht, um solche Dinge unmöglich zu machen, zu neuen Gedanken greifen, zu Gedanken, die ebenso unmöglich sind gegenüber den bisherigen Denkgewohnheiten, wie dieser Weltkrieg gegenüber den bisherigen Erlebnissen der menschheitlichen Geschichte? Sie müssen entschul­digen, wenn nach der einen oder anderen Seite hin ich die Gedan­ken, die hier gemeint sind, etwas radikal ausdrücke. Sehen wir uns einzelne Tatsachen, die, wie gesagt, sich verhundertfachen ließen, an. Ein recht charakteristisches Beispiel, wie ein Staat aus den Bedin­gungen der abgelaufenen Epoche heraus lebte, das ist Österreich. Ich kann gerade darüber reden, denn ich habe drei Jahrzehnte, die Hälf­te meines bisherigen Lebens, in Österreich verbracht. Man kann ge­rade an diesem österreichischen Staate studieren, worinnen eigent­lich dasjenige liegt, was einen sozialen Organismus in unserer Zeit zugrunde richten kann, ja zugrunde richten muß. Als man in den sechziger Jahren anfing, aus dem alten österreichischen Patriarcha­lismus, Despotismus heraus ein sogenanntes bürgerliches Verfas­sungsleben zu entwickeln, da wurden in den Österreichischen Reichsrat hinein die Abgeordneten gewählt nach vier Kurien: er­stens die Kurie der Großgrundbesitzer; zweitens die Kurie der Han­delskammer; drittens die Kurie der Städte, Märkte und Industrial­Orte; viertens die Kurie der Landgemeinden. Die letzteren sogar wurden nicht unmittelbar gewählt, sondern mittelbar, weil man die Landgemeinden nicht für so ganz sicher hielt. Die Vertreter dieser vier Kurien waren nun im Österreichischen Reichsrat und machten Gesetze, machten Rechte. Was heißt das aber? Das heißt, es waren reine Wirtschaftsvertreter, Vertreter des reinen Wirtschaftslebens in

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dem Parlamente, und die machten Gesetze. Was muß da herauskom­men? Die Interessen des Wirtschaftslebens müssen sich einfach um­wandeln in Gesetze, in Rechte, in Rechte über die Arbeitskraft, in Rechte über den Besitz. So sonderbar es scheint, es wurde über den Besitz auch manche bürgerliche nationalökonomische Rede gehalten: Besitz nämlich ist ein Recht, Besitz an Produktionsmitteln, Besitz an Grund und Boden ist ein Rechtsverhältnis. Denn alles andere, was Sie über den Besitz definieren werden, hat im volkswirtschaftlichen Pro­zeß keine Bedeutung. Bedeutung hat allein das, was Besitz begründet, das Recht, sich einer Sache ausschließlich, mit Ausschluß der anderen, zu bedienen. Das Verfügungsrecht darüber zu haben, das ist dasjenige, was die volkswirtschaftliche Grundlage ausmacht. Wir haben es im bisherigen Staat statt mit einem Recht mit einem Vorrecht zu tun.

Da haben wir das eine Beispiel, das man unendlich vermehren könnte. Wo das nicht durch ein Wahlgesetz bestimmt war in der al­ten Ordnung, konnte es sich von selbst machen. Jener Bund, der sich der Bund der Landwirte nannte, war ja zum Beispiel im Deut­schen Reichstage eine rein wirtschaftliche Interessenvertretung. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Im Deutschen Reichstag gab es ja auch das sogenannte Zentrum, eine rein religiöse Gemeinschaft. Da wurde das Geistesleben hineingetragen in das Rechtsleben. Also gei­stige Interessen sprachen sich im Rechtsleben aus. Das alles hängt zusammen mit dem, was aus den Interessen der bisher führenden Kreise allmählich aus dem modernen Staat geworden ist. Als die neuere Zeit heraufkam mit ihrer Technik, mit dem Kapitalismus, da fand man diesen Staat, wie er sich aus dem Mittelalter herausgebildet hatte, als einen Rahmen vor. Man bezog in diesen Staat zunächst das Geistesleben ein, bildete das Theologische aus, Theologen, wie man sie im Staate haben wollte, Juristen, Mediziner, insbesondere die Schulmänner; alles das bildete man aus. Das ganze geistige Leben spannte man in den Staat ein. Wie hypnotisiert war man von dem Gedanken: der Staat kommt ja unseren Interessen entgegen, also las­sen wir in ihm auch so lehren, lassen wir das geistige Leben so ver­walten, wie es unseren Interessen angemessen ist, wie es aus diesem Staate selbst hervorgehen kann.

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Und auf der anderen Seite glaubte man dem Fortschritte zu die­nen, im Sinne der neueren Zeit zu wirken, wenn man zunächst gewisse Wirtschaftszweige, das Postwesen, Telegraphenwesen, Ei­senbahnwesen in diesen modernen Staat einspannte. Das ist die Tendenz: alles zusammenzuschmelzen in dem modernen Staat. Das ist eine bürgerliche Tendenz. Auch der Sozialismus ist im Grunde genommen nichts anderes als die Erbschaft des Bürgertums, die er angetreten hat, indem er seinerseits die Ideen des alten Genossen­schaftswesens wieder aufnahm, dadurch aufnahm die kapitalistische Wirtschaftsordnung, die aus seinen Forderungen heraus mit Recht überwunden werden muß. Daß er aber nun wiederum, den Rahmen des Staates benutzend, den sozialen Organismus zu einer großen Genossenschaft machen will, das ist das bürgerliche Erbe. Eine Hei­lung, eine wirkliche Gesundung des sozialen Organismus kann sich nur ergeben, wenn man einen Blick dafür hat, wie die Schäden, unter denen wir leben, gerade dadurch entstanden sind, daß man drei Gebiete, die nichts miteinander zu tun haben, miteinander verschmolzen hat, und daß der moderne Staat alles aufnehmen muß­te, weil immer mehr und mehr gefragt wurde: Was soll der Staat tun? - Was er tun kann, man hat es gesehen in den Verheerungen, Verwüstungen Europas, die in den letzten viereinhalb Jahren einge­treten sind! Heute gebührt es vielmehr zu fragen: Was soll der Staat eigentlich unterlassen? Was ist besser, wenn er es nicht tut? - Zu dieser Frage müßte man sich heute aufschwingen. Wenn Sie den ganzen Kreis der Auseinandersetzungen betrachten, wie wir sie bis-her gepflogen haben, dann werden Sie nicht erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß man auf der Grundlage gewissenhaftester Betrach­tung des sozialen Lebens, wirklich mit ebenso guter Wissenschaft, die nur nicht in allen Einzelheiten im Laufe eines einzigen Vortrages vorgeführt werden kann, dazu kommt, die Forderung aufzustellen, die heute notwendigste praktische Forderung geradezu zur Befriedi­gung der proletarischen Bedürfnisse, nämlich: den Rückweg anzu­treten in bezug auf das Verstaatlichen, in bezug auf das Zusammen-schweißen von drei Dingen, die im Leben ganz verschieden von­einander sind.

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Damit wir uns besser verstehen, lassen Sie mich Sie erinnern an jene drei Grundideen der neueren Zeit, die am Ende des 18. Jahr­hunderts aus innerstem Bedürfnisse der Menschheit heraus, aus der Französischen Revolution heraus wie eine Devise der neueren Zeit erklungen sind: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. - Nun, es waren keineswegs dumme Leute des 19. Jahrhunderts und bis in un­sere Zeit, die immer wieder und wiederum gezeigt haben, daß diese drei Ideen miteinander nicht vereinbar sind, daß Freiheit nicht ver­einbar ist mit Gleichheit und so weiter. Dennoch, wer das empfin­den kann, empfindet diese Ideen selber als gesunde Stufen des menschlichen Lebens, selbst wenn sie sich widersprechen. Und wa­rum widersprechen sie sich? Sie widersprechen sich nur, weil man sie als Forderung erhoben hat immer mehr innerhalb dessen, was nimmermehr eine einzige Zentralisation in sich selber sein kann, sondern was sich in drei voneinander unabhängige, nebeneinander sich entwickelnde Glieder spalten muß. Teilen muß sich in der Zu­kunft der soziale Organismus, wenn er gesund wirken will, zu­nächst in einen geistigen Organismus, wo alles geistige Leben seine eigene Gesetzgebung und seine eigene Verwaltung hat, wo vom un­tersten Lehrer an der Mensch nicht hört auf die Verfügung eines Staates, nicht eingezwängt wird in die Gewalt des Wirtschaftslebens, sondern einzig und allein lebt in einer Organisation, die auf geistige Gesetze selbst begründet ist, wo er sich ganz drinnen weiß in einer geistigen Welt, in einer rein geistigen Welt. Nicht darum handelte es sich, daß wir immer mehr und mehr in einen Beamtenorganismus, in einen Bürokratismus hineingeschnürt werden; denn Geistesleben kann sich nur entwickeln, wenn Herz und Sinn sich entwickeln für individuelle Initiative, für dasjenige, was in den persönlichen, in den individuellen Fähigkeiten des Menschen liegt. Werden sie im freien Geistesleben gepflegt, dann wird sich ein solches Geistesleben ent­wickeln, welches jedem Menschen ein menschenwürdiges Dasein bieten kann. Denn dann wird dasjenige, was als geistiges Leben sich entwickelt, nicht auf einem wirtschaftlichen Zwang, nicht auf ei­nem staatlichen Zwang beruhen, sondern es wird allein aus den Im­pulsen entspringen, die der freien Menschlichkeit zugrunde liegen.

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Wer geistig produziert, wird zu allen Menschen sprechen und die geistige Organisation wird einzig und allein das Interesse haben, gei­stige Individualitäten zu pflegen. Die individuellen menschlichen Fä­higkeiten sind eine Einheit, eine Einheit in Schulen, Mittelschulen, Universität, eine Einheit in Kunst und Wissenschaft. Einheitlich wirken aber diese mehr rein geistigen Zweige wiederum zusammen mit jenen individuellen Fähigkeiten, die in das Kapital hinein sich ergießen im sozialen Organismus.

Der Kapitalismus kann allein dadurch auf eine gesunde Grundlage gestellt werden, daß er der Träger wird eines freien Geisteslebens. Das allein würde die Möglichkeit gewähren, die Forderung zu erfül­len, die heute gewöhnlich ausgesprochen wird mit der Vergesell­schaftung der Produktionsmittel. Denn nur ein freies Geistesleben kann soziales Verständnis hervorrufen, und nur im freien Geistesle­ben ist es möglich, immerzu in die Allgemeinheit dasjenige überzu-leiten, was mit Hilfe von Produktionsmitteln und von Grund und Boden zustande kommt. Das zunächst in bezug auf das freie Geistes­leben.

Als eine selbständige Organisation muß sich im gesunden sozia­len Organismus auch dasjenige entwickeln, was Rechtsstaat ist, der eigentliche politische Staat. Er hat es zu tun zum Beispiel mit der Re­gelung der Verwaltung der Leitungsverhältnisse. Er hat es aber vor allem zu tun mit der Regelung der menschlichen Arbeitskraft, die herausgehoben werden muß nicht durch abstrakte Gesetze, sondern durch Menschen selber herausgehoben werden muß aus dem bloßen Wirtschaftsprozeß.

Wie muß der Wirtschaftsprozeß verlaufen? Der Wirtschaftspro­zeß ist auf der einen Seite abhängig von dem, was an seiner Grenze steht, von der Naturgrundlage, von den vorhandenen Rohstoffen ei­nes Gebietes, von den Erträgnissen des Bodens und so weiter. Man kann bis zu einem gewissen Grade das Erträgnis des Bodens verbes­sern durch die Technik; aber eine Grenze ist da geboten, eine Gren­ze, welche errichtet wird für den Wohlstand, eine Grenze, von wel­cher die Preise abhängig sind. Das ist die eine Grenze. Im gesunden sozialen Organismus muß es eine zweite Grenze geben. Diese zweite

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Grenze ist der selbständig neben dem Wirtschaftsorganismus sich entwickelnde Rechts-, der politische Organismus. Im politischen Organismus wirkt das, wovor alle Menschen gleich sind, was demo­kratisch jeden Menschen angeht, wo jeder Mensch mit jedem Men­schen sich verständigen muß. Das ist der Boden, auf dem entschie­den werden muß aus den Interessen dieser Menschlichkeit heraus Maß und Art der menschlichen Arbeit. Dann erst, wenn auf dem vom Wirtschaftsboden unabhängigen Rechtsboden entschieden ist über Maß und Art der menschlichen Arbeit, dann fließt diese Arbeit in den Wirtschaftsprozeß hinein, dann ist die Arbeitskraft des Men­schen preisbildend. Dann diktiert niemand der Arbeitskraft den Preis, dann ist sie so preisbildend, wie der Boden mit seinen Erträg­nissen und so weiter selbst preisbildend ist. Das wird das große wirt-schaftliche Gesetz der Zukunft sein, daß das Wirtschaftsleben einge­spannt ist zwischen zwei Grenzen, so daß nicht aus den wirtschaftli­chen Kräften selbst heraus Maß und Preis der menschlichen Arbeit bestimmt werden.

Und das dritte unabhängige Gebiet wird das Wirtschaftsleben selbst sein. Ich kann der Kürze der Zeit willen nur andeuten, wie be­deutsam diese Umgestaltung des Wirtschaftslebens ist. Ich will ein konkretes Beispiel anführen, damit Sie sehen, daß ich Ihnen hier nicht vertrackte Theorien vortrage, sondern dasjenige, was aus dem praktischen Leben heraus ablesbar ist und in das praktische Leben hinein kann. Man braucht nur ein Wort zu nennen, dann steht in diesem Worte mit seinen Gedanken jeder Mensch sogleich im Wirt­schaftsleben drinnen - nun, der eine in anderer Art als der andere -, man braucht nur das Wort «Geld» zu nennen. Aber sehen Sie, das Geld kennen ja die meisten Menschen; manche kennen es von den reichlichen Mengen, in denen sie es haben, manchen von den gerin­gen Mengen, in denen sie es haben; aber sie glauben es zu kennen. Was aber Geld im sozialen Organismus eigentlich ist, davon haben, ich will nicht nur sagen, die Alltagsmenschen keine rechte Ahnung, sondern es haben unsere heutigen gelehrten Volkswirtschaftslehrer recht wenig Ahnung von dem, was eigentlich Geld ist. Die einen sind der Ansicht, das Geld beruhe auf dem Metallwert des Goldes

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oder des Silbers, der zugrunde liegt; die anderen sind der Ansicht, es sei eine bloße Marke, je nachdem der Staat mehr oder weniger dün­ne Anweisungen auf Waren und so weiter abstempelt. Man spricht von einem metaphysischen Prozeß des Geldes und so weiter, wie al­le die Dinge sind; man hat ja in der Wissenschaft immer das Bedürf­nis, recht gelehrte Worte zu wählen. Aber auf das alles kommt es nicht an; sondern die gelehrtesten Herren sind heute darinnen ein­verstanden, daß für das Austauschmittel Geld etwas da sein müsse. Dasjenige, was da sein müsse, sei der Goldschatz, auf den man immer wieder zurückkommen müsse, damit das Geld einen Wert habe.

Nun läßt sich ja heute, nicht wahr, da England die Weltmacht besitzt und auf Gold besteht, im internationalen Verkehr selbstver­ständlich die Goldwährung nicht von heute auf morgen überwin­den. Aber die Frage muß man doch gerade gegenüber der Gesun­dung des Wirtschaftslebens aufwerfen: Wie verhält es sich eigentlich damit, daß die Leute sagen, das zirkulierende Geld, gleichgültig in welcher Form, muß immer wieder zurückbezogen werden auf die Menge von Gold, die vorhanden ist in irgendeinem Staat, denn, so sagt man, Gold ist eine beliebte Ware, eine Ware, die längere Zeit ihren Wert nicht verändert. - Alle diese Theorien können Sie ja nachlesen. Man bezieht sich eben darauf, welche vorzüglichen Eigenschaften das Gold hat, um sich repräsentieren zu lassen durch das Geld.

Nun, was ist es denn aber eigentlich, worauf in Wirklichkeit Geld sich bezieht, so bezieht, wie die Nationalökonomen glauben, daß sich das Geld auf das Gold bezieht? Hier ist ein größerer Fortschritt der Wissenschaft notwendig. Eine Antwort ist notwendig, an die die Leute heute noch nicht glauben werden. Ich werde ausführlicher in meinem demnächst erscheinenden Büchelchen über die soziale Fra­ge auch von diesem sprechen. Die Leute behaupten heute noch, nicht an diese Antwort zu glauben. Allein, wer unbefangen hin-blickt auf da's Wirtschaftsleben, der bekommt zur Antwort, wenn er fragt: Was ist eigentlich der wirkliche, der reale Gegenwert für das zirkulierende Geld? - er bekommt die Antwort, so sonderbar es dem heutigen Menschen noch klingt: Gold ist nur ein Scheinwert,

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wo er auch sein mag. - Dasjenige, was in Wahrheit dem Gelde ent­spricht, das ist die Summe aller in einem sozialen Territorium vor­handenen Produktionsmittel, einschließlich Grund und Boden. Darauf bezieht sich alles das, was durch Geld nur ausgedrückt wird. Alle die schönen Eigenschaften, die die Nationalökonomen dem Golde zuschreiben, damit es die Währung abgeben kann, alle diese Eigenschaften, sie sind in Wahrheit zuzuschreiben den Produktions­mitteln. Daher muß gerade aus der Warenzirkulation mit Hilfe des Geldes die Frage resultieren: Wie kann werden dasjenige, was aller­dings in immer fortgehender Verwandlung, in immer fortgehender Neugestaltung, aber als ein bester Wert, aller Volkswirtschaft zu­grundeliegt, wie kann werden solch eine einheitliche Grundlage des Wirtschaftslebens, wie das Geld selbst, das nur der Repräsentant ist? Alles, was in den Produktionsmitteln lebt, so gemeinsam, wie seiner Art nach das Geld ist, so gemeinsam müssen die Produktionsmittel sein. Das heißt, ihre Zirkulation muß eine solche sein, welche dem entspricht, daß niemand an Produktionsmitteln arbeiten kann als dadurch, daß der gesamte soziale Organismus mitarbeitet.

Zweierlei ist zu berücksichtigen dabei. Erstens, daß dem gesell­schaftlichen Organismus Unendliches verloren gehen würde, wenn man die individuellen Fähigkeiten ausschließen würde. Der Mensch soll durch seine individuellen Fähigkeiten, solange er sie hat und so­lange er sie gebrauchen will, für den sozialen Organismus arbeiten. Aber in dem Augenblicke, wo er nicht mehr für den sozialen Orga­nismus arbeitet, müssen die Produktionsmittel, die er verwaltet, übergeführt werden durch den Rechtsstaat in die Allgemeinheit des sozialen Organismus.

Ich brauche nur auf einen Zweig unseres modernen Lebens hin­zuweisen, d« ist die Sache durchgeführt. Es ist derjenige Zweig, der dem modernen Menschen so ziemlich als der schofelste, als der aller­unbedeutendste, unbeträchtlichste gelten muß, weil man ihn so be­handelt im modernen Kapitalismus: das ist das geistige Leben. Was man geistig produziert, das hängt ganz gewiß mit der individuellen Fähigkeit zusammen; aber dreißig Jahre nach dem Tode geht es in die Allgemeinheit über, gehört einem nicht mehr. - Dieses schofelste,

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dieses unbedeutendste Gut, das wird heute so behandelt. Man sucht einen Weg, wodurch das, was der einzelne hervorbringt, über-geleitet wird in die Gesellschaft. Um diese Überleitung geht es. Es ist auch auf geistigem Gebiete durchaus gerecht. Denn das, was man auf Grundlage seiner individuellen Fähigkeiten hat, verdankt man trotz­dem dem sozialen Organismus, und man muß dem sozialen Orga­nismus das wieder zurückgeben, was man auf Grund seiner indivi­duellen Fähigkeiten erlangt hat.

So muß in der Zukunft durch den Rechtsstaat auch das, was mit Hilfe von materiellen Produktionsmitteln hervorgebracht wird, in die Allgemeinheit übergeleitet werden. Nicht darüber hat man nach­zudenken, wie man bürokratisch vergesellschaften kann die Produk­tionsmittel, wie in der bisherigen Gesellschaftsordnung. Herausge­wachsen sind diejenigen, die unterdrücken, aus dem Kapitalismus heraus. So wird sich in der zukünftigen Gesellschaftsordnung aus dem Bürokratismus heraus, aus den eigenen Reihen derer, die sich heute Sozialisten nennen, der Unterdrücker rekrutieren, wenn man nur hinarbeiten würde auf eine genossenschaftliche Vergesellschaf­tung der Produktionsmittel. Aber eine gerechte Entfaltung dessen, was der einzelne aus seinen individuellen Fähigkeiten heraus produ­ziert, eine gerechte Überleitung ist diejenige in die Vergesellschaftli­chung. Dahin hat man zu streben. Dann wird man, wenn man dies durchdenkt, einsehen: Viele haben aus einer alten Wirtschaftsgestal­tung und Staatsordnung, Geistesordnung heraus gesagt: wollen wir die Menschheit zusammenhalten, dann brauchen wir, was sich ge­genseitig stützt, Thron und Altar. Nun ja, in der neueren Zeit ist der Thron oftmals ein Präsidentensessel, und der Altar eine Wertheim­sche Kasse. Die Gesinnung ist aber bei beiden oftmals ganz ähnlich.

Es fragt sich nur, ob es besonders viel besser werden würde, wenn sich Thron und Altar bloß verwandeln würden in Kontor und Ma­schine und Fabrik, und wenn alles statt der bisherigen Verwaltung eine bloße Buchführung würde. Dasjenige, was man als soziale For­derung stellt, das ist tief berechtigt; allein, wir leben in einem ge­schichtlichen Wendepunkte. Wir brauchen Gedanken, welche das Alte gründlich umformen. Und wie zueinander gestrebt haben Gei­stesleben,

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wirtschaftliches Leben, politisches Staatsieben unter dem Einfluß der bürgerlichen Kreise der neueren Zeit, so sollte verstehen der moderne Proletarier, daß der Rückweg angetreten werden muß. Hat doch dieser moderne Proletarier sich ein Verständnis für die Gliederung angeeignet dadurch, daß er studiert hat, wie die ein­zelnen Wirtschafts- und Lebenskreise zueinander wirken müssen, hat er doch den Klassenkampf studiert, hat er doch die Wirtschafts­kreise in ihrem Verhältnis zueinander wirklich kennengelernt! Ein Verständnis müßte er haben, daß die Einheit des sozialen Organis­mus nicht gestört, sondern im Gegenteil gefördert wird, wenn nicht eine bloße einheitliche Zentralisierung, in der alles vermuddelt wird, gesucht wird, sondern wenn voneinander getrennt werden mit eige­nen Verwaltungen, mit eigenen Gesetzmäßigkeiten die drei Zweige, geistige Organisation, Rechts- oder Staatsorganisation, Wirtschafts­Organisation.

Sagen Sie nicht, das sei kompliziert, wie souveräne Staaten aufein­ander wirken sollten! Das wird sich alles in viel intensiverer Weise, in einer viel harmonischeren Weise ergeben als jetzt, wo alles durch­einanderflutet und chaotisch ist. Wird der moderne Proletarier, hin-schauend und hinfühlend auf seine Forderungen, nach wirklich praktischen Lösungen seiner Lebensfragen, nach Erfüllung seiner Hoffnungen streben, dann wird er dieser Gliederung, die vielleicht heute noch fremd klingt, sich zuwenden. Und ich glaube nicht, daß in anderen Kreisen soviel Verständnis jemals sein könnte für die neueren geschichtlichen Dinge, wie gerade in proletarischen Krei­sen. Oh, ich habe es gesehen, indem ich in den letzten viereinhalb Jahren oft und immer wiederum den Leuten Vorschläge nach dieser Richtung gemacht habe, ich habe ihnen gesagt: Dasjenige, was mit dieser Dreigliederung gefordert wird, das ist nicht ein abstraktes Programm, nicht ein Hirngespinst, das in einer Nacht entstanden ist, das ist aus dem Leben heraus, das ist dasjenige, was in den näch­sten zehn, zwanzig, dreißig Jahren sich namentlich in Europa ver­wirklichen will. Und es wird sich verwirklichen, ob ihr nun wollt oder nicht; ihr habt nur die Wahl, entweder jetzt Vernunft anzuneh­men, und aus der freien Wahl heraus manches zu verwirklichen,

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oder ihr steht vor Revolutionen ungeheuerster Art. - Nun, die Revolutionen sind bald gekommen!

Deshalb glaube ich, daß derjenige, der durch die äußeren Lebens­verhältnisse hingestellt worden ist an dasjenige, was menschlich zu­nächst nichts sagt, an die leblose Maschine, eingespannt worden ist in den verödenden Kapitalismus, ich glaube, der müsse ein Verständ­nis haben für solche Ideen, die vom Alten sich unterscheiden, die aber mit dem Neuen, Entstehenden, Werdenden innig verwandt sind. Und ich habe die Überzeugung und glaube, daß sie sich all­mählich in die Herzen und Seelen des neueren Menschen, des mo­dernen Proletariers insbesondere, einsenken werden, ich habe die Überzeugung: Versteht der Proletarier im richtigen Sinne diese For­derungen und die Möglichkeit ihrer Lösung, dann wird er, indem er ein klassenbewußter Proletarier geworden ist, der nach seiner Be­freiung hinarbeitet, seine Klasse, damit zugleich aber den Menschen befreien, dann wird er etwas anderes an die Stelle der Klasse setzen:

den dreigliedrigen gesunden sozialen Organismus. Er wird dann da­mit nicht bloß der Befreier seiner Klasse werden, sondern der Befrei­er der ganzen Menschheit, das heißt alles desjenigen, was als wahr­haft Menschliches in der Menschheit befreit zu werden verdient und befreit werden soll.

Diskussion

Der Veranstalter spricht in tief empfundenen Worten sein Erstaunen daruber aus, daß der Ar-beiterbewegung von ihr bisher ganz unbekannter Seite Verständnis entgegengebracht wird. Er spricht seinen Dank nicht nur fur den Vortrag, sondern auch für die diesem vorausgegan­gene Geistesarbeit aus.

1. Redner (Dr. Schmidt): Ist mit der Zielsetzung Steiners einverstanden, fragt nach dem Weg zur Verwirklichung. Dieser sei vorgezeichnet durch die bisherige sozialistische Bewegung:

Partei, Gewerkschaft, genossenschaftliche Bewegung. Die drei Lebensgebiete werden wie heute so auch in Zukunft unter sich verbunden bleiben, aber von den Trägern der sozialisti­schen Bewegung gestaltet werden. Erstes Ziel muß Änderung der wirtschaftlichen Ordnung im Sinne der Gleichheit sein.

2. Redner: Uber den Inhalt der Zielsetzung wird man leicht einig werden. Dreigliederung sei eine Utopie (Hinweis auf Fourier). Der Weg dahin ist durch die Entwicklungstendenz der Zeit vorbestimmt: den Klassenkampf.

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3. Redner: Auch die geistige Bewegung ist zu berücksichtigen. Jede Revolution ist durch Ideen vorbereitet worden.

4. Redner: Die Kriegserfahrungen haben die materialistische Geschichtsauffassung bestä-tigt. Widerspricht der Feststellung, daß der Sozialismus die bürgerliche Staatsgläubigkeit übernehme. Die Diktatur des Proletariats hat keinen anderen Zweck, als die Abschaffung des Staates vorzubereiten. Geistige Freiheit wird erst in einer Gemeinschaft frei produzierender Menschen möglich sein. Nur die proletarische Massenbewegung hat Aussicht auf Erfolg.

Rudolf Steiner: Was die verehrten Herren Redner gesagt haben, wird eigentlich gar nicht viel Möglichkeit bieten, auf das eine oder andere einzugehen, aus dem Grunde, weil es ja ganz natürlich ist, daß aus den geläufigen Anschauungen heraus die gemachten Einwendungen eben getan werden. Ich möchte sagen, ich habe bis ins einzelste her­ein die Dinge, die gesagt worden sind, erwarten können. Ich möchte nur mit Bezug auf einige mir wichtig erscheinende Punkte Ihre Zeit noch ein wenig in Anspruch nehmen.

Vorerst möchte ich auf folgendes aufmerksam machen. Man kann, wenn so etwas gesagt wird, wie ich heute abend es gesagt ha­be, immer wiederum eine Art Einwand hören, der darinnen besteht, daß gesagt wird: Ich kann mir nicht gut vorstellen, wie die Dinge sich in Wirklichkeit umsetzen. Und auf der anderen Seite wird ver­langt geradezu, daß man nur ja keine Utopie geben soll. Ich glaube schon, daß es eine Zeitlang dauern wird, bis man erkennen wird, daß dasjenige, was ich heute abend vorgebracht habe, sich zu einer Utopie wirklich verhält, wie sich das Schwarze zum Weißen verhält:

es ist nämlich das Gegenteil einer Utopie. Die Dinge hängen ein biß­chen zusammen. Dasjenige, was ich sagen wollte, ist eben wirklich nicht anders zu charakterisieren als so, wie ich schon manchem Menschen gesagt habe: Das liegt in der Entwickelungstendenz der nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahre. Und ob wir wollen oder nicht, wir werden es durchführen müssen, entweder durch Vernunft oder durch Revolutionen. Es gibt eben keine Wahl, es nicht durch­zuführen, weil die Zeit selbst es will. Und die Entwickelung der Menschheit hat schon zuweilen wirklich Richtlinien, die sie einge­schlagen hat, auch wiederum zurückgemacht scheinbar, und es han­delt sich ja natürlich nicht um einen wirklichen Rückweg in frühere

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Zustände, sondern natürlich ist dann der Rückweg ein Weg zu völ­lig neuer Gestaltung. Nicht wahr, das weiß man natürlich, daß das Gewerkschaftsleben, das Genossenschaftsleben, das politische Par­teileben in der neueren Zeit Ungeheures geleistet haben und daß dem sehr viel zu verdanken ist. Aber auf der anderen Seite muß man sagen, daß in all den Dingen, die da geleistet worden sind, eben doch irgend etwas Unbefriedigendes, etwas noch nicht Fertiges drinnen stecken muß. Wir stehen heute nicht vor der Überzeugung, daß neue Tatsachen da sind. Aber es ist etwas da in der Tat, was nun end­lich in anderer Weise eine Orientierung fordert, als man es bisher ge­habt hat! Wenn gesagt wird, ich hätte die Macht der Idee über­schätzt - ich habe ja gar nicht von Ideen gesprochen! Ich habe gera­de das Gegenteil von dem gesprochen, was man als Macht der Idee bezeichnen könnte. Was habe ich denn eigentlich hingestellt als For­derung? Ich habe hingestellt eine mögliche gesellschaftliche Organi­sation. Ich habe hingewiesen darauf, wie die Menschen stehen sollen zueinander, damit sie das Richtige finden. Ein Utopist geht eigent­lich immer von der Idee aus, so und so solle die gesellschaftliche Ordnung gestaltet sein. Er hält sich im Grunde genommen für ge­scheiter als alle anderen Leute; auf ihn hat man zu warten, und nach­dem er geredet hat, hat man nichts mehr weiter zu reden. Er setzt sich dann, wenn er den Kontakt nicht findet, in seine Dachkammer und wartet. Es fällt mir gar nicht ein, nicht im allergeringsten, weder auf einen Millionär zu warten, noch irgendwie zu glauben, daß ich über diese oder jene Dinge Besseres weiß als ein anderer Mensch.

Sehen Sie, es gibt eine sehr allgemeine soziale Erscheinung, die der Mensch als einzelner Mensch nicht erreichen kann, das ist die menschliche Sprache selber. Unzählige Male wird gesagt: Wenn der Mensch auf einer einsamen Insel lebt, allein aufwächst, ohne andere Menschen reden zu hören, so kommt er selbst auch nicht zur Spra­che. Die Sprache entwickelt sich aus einer sozialen Erscheinung am Menschen, durch die anderen Menschen. So ist es mit allen sozialen Impulsen. Wir können zu gar nichts Sozialem kommen, als indem die Menschen in der richtigen Weise aufeinander wirken; deshalb mußte ich entwickeln eine Idee. Es fällt mir gar nicht ein, zu glau­ben,

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daß man mit einer Idee irgend etwas reformieren kann. Ich suchte die Frage zu beantworten: Wie werden die Menschen, wenn sie in der richtigen Weise zueinander stehen, wenn sie verwalten auf der einen Seite das Wirtschaftsleben, auf der anderen Seite das Rechtsleben, auf der dritten Seite das Geistesleben, wie werden dann die Menschen sich entwickeln? Man wird vorzugsweise Assoziatio­nen einrichten im Wirtschaftsstaat, aus Produzenten und Konsu­menten, aus Berufsständen zusammengesetzt und so weiter; wenn sie im demokratischen Rechtsstaate leben, werden aus ganz anderen Voraussetzungen heraus erwachsen die Ideen, der Impuls der Gleichheit aller Menschen vor der Wirklichkeit. Wenn sie in der gei­stigen Organisation drinnen stehen: Wie werden sie da aufeinander wirken? Sehen Sie, man braucht ja nur auf die Wirklichkeit hinzu-schauen. Ein Richter kann Tanten, Onkels, Großväter, Enkel haben und so weiter, die kann er recht lieb haben, zärtlich lieben, und das ist gut. Wenn aber einer stiehlt, und er gerade als Richter urteilen soll, so wird er es genau ebenso verurteilen müssen, aus der anderen Quelle heraus, wie er einen ganz Fremden verurteilen müßte.

Es ist mir öfter gerade von Professoren erwidert worden, ich wol­le die Menschheit in drei Klassen teilen. Das Gegenteil will ich! Frü­her wurde geteilt in Nährstand, Lehrstand und Wehrstand. Aber der heutige Lehrstand lehrt nichts. Der Nährstand ist nichts weiteres als ein Gewaltstand, und der Wehrstand, dem wird ja die Aufgabe ge­stellt, dasjenige den Besitzlosen zu sagen, was die Besitzenden wol­len! Ja, sehen Sie, das ist dasjenige, was gerade überwunden werden soll: die Stände, die Klassen sollen überwunden werden gerade da­durch, daß man den Organismus als solchen, abgesondert vom Men­schen gliedert. Der Mensch ist ja das Vereinigende. Er wird auf der einen Seite im Wirtschaftsorganismus drinnen stehen, und kann ebenso, indem er im Wirtschaftsorganismus drinnen steht, Mitglied der Vertretung des politischen Staates sein; er kann auch dem Gei­stesleben angehören. Dadurch ist die Einheit geschaffen. Ich will ge­rade den Menschen dadurch befreien, daß ich den sozialen Organis­mus in drei Teile gliedere. Man verstehe das nur, um was es sich han­delt: Um das Gegenteil einer Utopie, um eine wirkliche Realität

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handelt es sich. Es handelt sich darum, die Menschen aufzurufen, nicht zu glauben, daß man irgendeine vertrackte Utopie ausdenkt, sondern zu fragen: Wie soll man die Menschen sich gliedern lassen, damit sie im Zusammenwirken von sich aus das Richtige finden? Das ist der radikale Gegensatz zu allem anderen. Alle anderen gehen von der Idee aus; hier wird ausgegangen von der wirklichen sozialen Gliederung der Menschen, hier wird wirklich darauf aufmerksam gemacht, daß alle Unterschiede weggewischt werden dadurch, daß der Mensch selber, als bloßer Mensch das Einheitliche bildet. Und daher würde es mir leid tun, wenn gerade diejenige Ansicht Ein-druck niachte, die das Gegenteil von allem Utopismus für eine Uto­pie erklärt! Das ist dasjenige, was eigentlich die einzige mir leid tuende Einwendung ist, weil sie gerade den Nerv meiner Auseinan­dersetzungen nicht getroffen hat. Das ist das Wichtige, und darauf möchte ich ganz besonders aufmerksam machen.

Also es handelt sich auch nicht um die Überschätzung irgendei­ner Macht der Idee. Hier wird gar nichts auf die Macht der Utopie gegeben, sondern auf dasjenige, was Menschen sagen und denken und empfinden und wollen werden, wenn sie in einer menschen­würdigen Weise in den sozialen Organismus hineingestellt sind. Ge­rade deshalb, weil hier real gedacht wird, deshalb ist es natürlich schwierig, auf Einzelheiten hinzuweisen. Man kann das schon; aber jeder, der selber sich angewöhnt, real zu denken, der weiß, daß, wenn man die Menschen wirklich urteilen läßt, aus sich heraus ur­teilen läßt, sie über einen konkreten Fall vielleicht sogar verschieden urteilen können, und beide Arten können richtig sein. Ich will fol­gendes Beispiel anführen:

Sehen Sie, man wird sich natürlich auch künftig durch seine indi­viduellen Fähigkeiten der Produktionsmittel bedienen müssen; denn wer irgendeinen Betrieb leiten kann, der wird nicht um seinet­willen die Produktion zu leiten haben, sondern weil diejenigen, die bei ihm arbeiten, einen freien Vertrag mit ihm schließen, weil sie einsehen, daß ihre Arbeit besser gedeiht, wenn sie gut geleitet wird. -Das ist eine Sache, die unbedingt zugrunde gelegt werden muß in der Zukunft, die ganz von selbst entstehen wird. Dann muß man sa­gen:

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Es entsteht eigentlich unter den Voraussetzungen, die hier ge­macht werden, etwas Neues; es entsteht gar kein Besitz mehr, son­dern nur eine Verwaltung. Man kennt dann nur eine Verwaltung. Denn ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß das materielle Gut ähnlich behandelt werden kann, wie das, was heute als das Schofelste angesehen wird, das Geistesgut. Das heißt, nach einer bestimmten Zeit, wobei wir nicht «nach dem Tode» denken, sondern dann, wenn der Betrieb nicht mehr mit den Produktionsmitteln produktiv arbei­tet, gehen die Produktionsmittel an eine andere Leitung über. Das ist im einzelnen sehr kompliziert, aber eben, gerade weil wirklich­keitsgemäß gedacht wird, und nicht utopistisch gedacht wird, des­halb kann nur darauf hingewiesen werden: Die Menschen werden, wenn sie in der richtigen Weise zueinander stehen werden, das ricb­tige Verhältnis finden. Das ist es, worauf es ankommt.

Sehen Sie, man kann, nachdem so entscheidende Tatsachen einge­treten sind, nachdem gerade der Weltkrieg eingetreten ist, die Mei­nung haben, es müssen wirklich neue Ideen kommen, aber man kann nicht immer wiederum betonen: Wir müssen stehenbleiben bei unseren Forderungen! Das ist dasjenige, was seit Jahrzehnten proklamiert worden ist. Damit kommen wir nicht weiter, daß wir sagen: Wir wünschen eine Gesellschaft, die frei sich entfaltet, wir wünschen eine freie soziale Gesellschaft für den Menschen - aber wie? - Ich habe gesagt, bisher war es eine Art Politik, jetzt geht die Sache zu den Tatsachen über. Der verehrte Vorredner hat ganz rich­tig auf Rußland hingewiesen. Das ist ganz richtig. In dem Augen­blicke, wo wirklich solche entscheidenden Tatsachen auftreten, da kann man nicht mehr bloß im Ungewissen tappen. Ja, darum han­delt es sich, daß man irgend etwas ganz Bestimmtes sich vorstellen kann. Und das, glaube ich, könnte man an demjenigen, was ich vor­getragen habe, bemerken: Es ist nicht ein Programm, sondern es ist eine Wegrichtung. Sie können überall, wo Sie wollen, die gegenwär­tigen Zustände von ihrem jetzigen Ausgangspunkte fortsetzen, wenn Sie nur wollen. Nehmen Sie nur einen solchen Umbau der früheren Verhältnisse, wie er in Rußland ist. Sie können jederzeit auf irgendeinem Gebiete, wenn damit begonnen wird, staatlich zu

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verwalten, dieses Geistesleben abstoßen, indem Sie zunächst freie Schulen begründen lassen, indem Sie im Wirtschaftsleben gerade freie Genossenschaften und so weiter begründen lassen. Sie können an jedem Punkte weiterarbeiten, wie auch der Ausgangspunkt sein mag. Man darf sich das nicht alles nach schweizerischen Verhältnis­sen vorstellen. Das Leben wird immer mehr international. In Deutschland ist heute schon etwas ganz anderes notwendig, als zum Beispiel vor einigen Jahren. Man kann von jedem Ausgangspunkt aus weiterarbeiten; es wird sich nur darum handeln, daß man weiter aufbaut. Und ich rechne eben darauf, sei es nun in einer Genossen­schaft, in einer Gewerkschaft, in irgendeiner Partei, es ist ja schon da oder dort die Möglichkeit, daß etwas entsteht; wo man auch sitzt, man kann die Dinge so gliedern, daß diese drei Teile auf allen Gebie­ten herauskommen. Dann kommen wir zu einer wirklich sachgemä­ßen, vom gesunden sozialen Organismus geforderten Organisation, gerade nicht zu einer utopistischen oder utopischen Sozialisierung.

Jede Utopie zu vermeiden, das ist dasjenige, was vor allen Dingen anzustreben ist, jeden Glauben auszurotten, daß man mit abstrakten Ideen irgend etwas machen kann. Man kann im sozialen Leben nur etwas mit Menschen machen, die wissen, was sie in der ganz be­stimmten Lage, in die sie hineingestellt sind, wollen. Da handelt es sich gar nicht darum, daß heute ein Kampf vorliegt zwischen denje­nigen, die noch Besitzlose und Besitzende zu nennen sind. Wenn sie arbeiten, wie das in der Bewegungsrichtung liegt, die ich heute vor­getragen habe, wenn die Besitzenden und die Besitzlosen in der rich­tigen Weise arbeiten, so wird es zu ihren Gunsten ausschlagen. Weh­ren sich die Besitzenden, so werden sie ihren Besitz bald verloren ha­ben. Aber darum handelt es sich, daß in den Massen ein Wissen von dem lebt, was geschehen soll. Und sehen Sie, in dieser Beziehung ist es, möchte man sagen, mit sozialen Impulsen noch schlimmer, als mit medizinischen, mit technischen Stoffen. Wenn einer nichts ver­steht vom Brückenbau, und doch eine Brücke bauen wollte, so wür­de sie einbrechen. Wenn einer jemanden kuriert, na ja, da kann man meistens nicht nachweisen, ob der Patient gestorben ist trotz der Kur oder vielleicht sogar durch die Kur; da wird die Sache schon

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sengerig. Und beim sozialen Organismus, da wird die Sache am al­lermeisten sengerig, da kann man meistens nicht nachweisen, was Heilmittel und was Kurpfuscherei ist, weshalb man meistens im Un­bestimmten herumredet. Sehen Sie, ich habe einen Redner gehört, der sprach auch über soziale Dinge; er wollte hauptsächlich bewei­sen, daß man eigentlich alles andere nicht brauchte, nur den Christus, dann wird alles im sozialen Leben gut. Nun, man soll durchaus nicht meinen, daß eine Debatte darüber nun angefangen werde. Aber ich habe dabei folgendes erlebt. Ich habe mich erinnern müs­sen an etwas, was ich in meiner Schulbubenzeit, ich glaube fast vor fünfundvierzig Jahren gelesen habe. Da stand: Christus war entwe­der ein Heuchler oder ein Narr, oder er war dasjenige, als was er sich selber bezeichnet hat: der Sohn des lebendigen Gottes. - Wie gesagt, ich kritisiere nicht, weder nach der einen noch nach der anderen Richtung; ich bemerke nur: Neulich war ich in Bern, und ein Herr hielt dort im Anschluß an die Völkerbundskonferenz eine Rede, in der er sagte, der ganze Völkerbund wird falsch organisiert - daß er falsch organisiert wird, glaube ich ja selber -, aber der sagte, er wird falsch organisiert, wenn man nicht eingeht darauf: Christus war ent­weder ein Narr, oder ein Heuchler, oder er war der Sohn des leben­digen Gottes, als den er sich selbst bezeichnete. - Kurz, alles das, was vor fünfundvierzig Jahren in meinem Schulbuch stand, das hat der Herr seiner gläubigen Versammlung vorgebracht. Und das ist vor al­len Dingen ja zu bemerken: Dazwischen liegt doch eben gerade der Weltkrieg! Die Leute haben, nachdem sie zwei Jahrtausende Zeit ge­habt haben, um ihre Dinge der Welt zu bringen, es so weit gebracht, daß trotzdem der Weltkrieg gekommen ist. Weist das nicht alles dar­auf hin, daß gerade durch den Weltkrieg etwas gelernt werden müs­se? Ist es nicht sozial besser und den sozialen Organismus heilend, wenn auch auf sozialistischem Gebiete, auf dem Gebiete des soziali­stischen Wissens, durch den Weltkrieg wirklich etwas Neues gelernt wird? Muß man sagen, wir bleiben konservativ bei den alten Ideen stehen, die ja auch in vieler Beziehung durch den Weltkrieg Schiff­bruch gelitten haben? Das ist dasjenige, was ich besonders betonen will: Es ist wirklich vorauszusehen gewesen und es ist mir durchaus -

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ich sage das ohne alle Ablehnung - sehr wichtig, ich bin sehr froh, daß Dinge gesagt worden sind, wie sie gesagt worden sind. Aber ich möchte doch betonen, daß ja durch das konservative Stehenbleiben, durch das starre Betonen dessen, was man ja gesagt hat durch die Jahrhunderte und was nun gesagt wird seit Jahrzehnten, durch die­ses starre Betonen, durch dieses Stehenbleiben in diesem Konservati­ven, viel Schaden in der Welt angerichtet worden ist! Möge der So­zialismus nur ja nicht durch dieses konservative Stehenbleiben auch bei sich Schaden anrichten! Denn dieser Schaden wäre ein sehr, sehr großer, vielleicht ein viel größerer als der, der sonst schon angerich­tet worden ist.

Sie haben vielleicht gehört aus dem, was ich am Schlusse meines Vortrages gesagt habe, daß darauf gerechnet werden kann, daß gera­de aus dem Sozialismus heraus, mehr noch aus dem Proletariat her­aus, gerade die Befreiung dessen erfolgen kann, was im Menschen befreit werden soll. Es handelt sich also nicht um eine Idee, es han­delt sich nicht um eine Überschätzung einer Idee, und ich habe auch nichts davon gesagt, daß der Sozialismus sich einigen müsse mit dem Staatsbetrieb und dergleichen; sondern es handelt sich darum, ein Menschheitsproblem zu lösen!

Und weil ich glaube, daß beim einzelnen es ziemlich gleichgültig ist, was er von sich aus fordert, so solle er Gemeinsames mit anderen Menschen fordern. Man kann gar nicht anders, als mit sozialisti­schen Forderungen scheitern, wenn man sie als einzelner Mensch aufstellen will. Man muß sie aufstellen in der menschlichen Gemein­schaft.

Also was ich fordere, ist nicht irgendeine Idee, nicht irgendeine Utopie, sondern dasjenige, was die Menschen von sich aus werden sagen können, wenn sie im sozialen Organismus drinnen stehen.

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PROLETARISCHE FORDERUNGEN UND DEREN KÜNFTIGE PRAKTISCHE VERWIRKLICHUNG Vierter Vortrag, Basel, 2. April 1919

Glauben Sie nicht, daß ich heute hier das Wort nehmen möchte, um mit Bezug auf die soziale Frage von jener billigen Verständigung zu sprechen, von der heute so viele Leute gerne sprechen möchten und die namentlich gerne gehört sein möchten. Ich möchte von einer ganz anderen Verständigung sprechen, von jener Verständigung, die mir scheint durch laut, laut sprechende Tatsachen, die über einen großen Teil Europas hin sich heute ausbreiten, gefordert zu sein: von der Verständigung mit den in der Gegenwart und in die Zu­kunft hinein wirkenden geschichtlichen Kräften, welche ein ganz bestimmtes klares und energisches Verhalten zu dem, was seit mehr als einem halben Jahrhundert die soziale Frage genannt wird, her­ausfordert. Wie sollte man auch heute von jener anderen, eingangs erwähnten Verständigung sprechen wollen? Ist nicht für diese Ver­ständigung allzuviel verloren worden? Hat sich nicht ein gewisser Teil der neueren Menschheit recht viel Zeit gelassen, eine solche Verständigung zu suchen? Heute tut sich ein tiefer Abgrund auf zwischen denjenigen, die die bisher führenden Klassen der Mensch­heit waren, und denjenigen, die herandrängen mit neueren, aus der Zeit heraus mit Notwendigkeit folgenden Forderungen, also zwi­schen den bisher führenden Klassen der Menschheit und dem Prole­tariat mit seinen berechtigten Forderungen.

Schauen wir uns einmal das neuere Leben an, um zunächst ein Urteil zu gewinnen uber die Unmöglichkeit eines leichten Verständ­nisses heute. Vieles ist gesprochen worden jahrzehntelang von dieser modernen Zivilisation, von dieser Zivilisation, die so Großes, so Ge­waltiges für die Menschheit heraufgebracht haben soll. Wie hat man sie immer wieder und wiederum hören können, die Lobhudeleien auf die moderne Technik, auf das moderne Verkehrswesen! Kennt man sie nicht, all die Phrasen davon, wie heute es den Menschen möglich ist - ja, welchen Menschen möglich ist!? -, in verhältnismäßig

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kurzer Zeit weite Landstrecken zu durchmessen, wie es den Gedanken möglich geworden ist, fast jede Raumesweite zu über-brücken, wie es möglich geworden ist, das sogenannte Geistesleben auszubreiten? Nun, ich brauche das ganze Loblied, das so und so oft gehört worden ist, nicht ausführlicher darzustellen. Aber worüber hat sich all das, dem ein solches Loblied gesungen wird, erhoben? Ohne was wäre es nicht möglich gewesen? Es wäre nicht möglich gewesen ohne die Arbeit des größten Teiles der Menschheit, jenes Teiles, der nicht teilnehmen durfte an all dem, was so gelobt worden ist, jenes Teiles, der unter körperlichen und seelischen Entbehrun­gen für diese Lebensbequemlichkeiten zu sorgen hatte, ohne daß er irgendwie Anteil nehmen konnte an all dem, was die moderne Zivi­lisation an Errungenschaften hervorgebracht hatte.

Sehen wir uns einmal genauer an, wie es seit mehr als einem hal­ben Jahrhundert dazu gekommen ist, daß wir noch heute sagen müssen, der Abgrund besteht. Und wenn heute vielfach von einer Verständigung gesprochen wird, so ist es eben deshalb, weil man Furcht, weil man Angst hat vor den Tatsachen, die so drohend für manche Menschen heraufziehen. Womit hat sich zum Beispiel - um von einem beliebten Gegenstande der seither führenden Klassen aus­zugehen -, womit hat sich die moralische Weltanschauung dieser führenden Klassen besonders gern beschäftigt? Besonders gern be­schäftigt hat sich die Weltanschauung, die moralische Weltanschau­ung dieser führenden Klassen in unendlichen Reden, in salbungs­vollen Darstellungen, in Worten, die nur so von Gefühl überzutrie­fen schienen, damit, wie die Menschen füreinander Liebe entfalten müssen, wie die Menschen dafür sorgen müssen, daß Brüderlichkeit sich ausbreite, wie die Menschen nur dadurch sich die geistige Welt erobern können, daß sie auf solche Brüderlichkeit eingehen. Derlei von scheinbar tiefem Gefühle triefende Reden wurden von den lei­tenden Geisteskreisen der bisher führenden Klasse der Menschheit wahrhaftig recht viele geführt. Versetzen wir uns einmal an die Stel­le solcher Reden in Spiegelsälen oder dergleichen und denken wir, wie da über Menschenliebe, über Nächstenliebe, über Religiosität gepredigt wurde, gepredigt wurde bei einer Ofenheizung, die gelei­stet

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wurde von Kohlen - ich möchte, um ein wenig den Hergang der heutigen Tatsachen zu charakterisieren, doch auf dieses aufmerksam machen -, die gefördert wurden aus jenen Kohlengruben, über die eine englische Enquete im Beginn der neueren Arbeiterbewegung ganz merkwürdige Dinge zutage gefördert hat. Da unten in den Schächten der Erde, da arbeiten neun-, elf-, dreizehnjährige Kinder, die den ganzen Tag unten in den Schächten waren, Kinder, die außer am Sonntag niemals das Sonnenlicht sahen, aus dem einfachen Grunde, weil sie, als es noch finster war, hinunterstiegen in die Gru­ben, und erst als es nicht mehr hell war, wiederum heraufgebracht wurden. Männer standen da unten, vollständig nackt, neben Frauen, die schwanger waren und die auch halb nackt unten standen und ar­beiten mußten.

Das war das erste Mal, als man aufmerksam machen wollte durch eine Regierungsenquete darauf, was eigentlich vorgeht unter den Menschen, daß man solche Erfahrungen machte, über die sich die Gedankenlosigkeit niemals hat aufklären wollen, trotz aller Predig­ten von Humanität, Nächstenliebe und Religiosität. Allerdings, das war im Anfange der modernen proletarischen Bewegung. Aber man kann nicht sagen, daß dasjenige, was wenigstens einigermaßen die Lage weiter Menschenkreise besser gemacht hat, herrührt von dem Verständnisse, das in den bisher führenden Klassen der Menschen gewonnen worden wäre. Ein großer Teil dieser führenden Klassen der Menschheit steht heute ebenso verständnislos den wahren For­derungen der Zeit gegenüber, die aus solchen Tatsachen folgen, wie er ihnen vor fünfzig und mehr Jahren gegenübergestanden hat.

Man braucht ja nicht gleich so weit zu gehen, wie eine bisher füh­rende, wenigstens scheinbar führende Persönlichkeit der Mensch­heit gegangen ist: der gewesene deutsche Kaiser, der die sozialistisch denkenden Menschen genannt hat: Tiere, welche den Unterbau des deutschen Reiches benagen und die Wert sind, ausgerottet zu wer­den. Das sind seine eigenen Worte. Wie gesagt, man braucht nicht gleich so weit zu gehen, aber immerhin gar so sehr verschieden sind die Urteile, die heute noch in gewissen Kreisen gefällt werden, nicht von diesem eben angeführten, besonders charakteristischen Urteile.

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Wenn wir nun hinblicken auf dasjenige, was sich abgespielt hat im Laufe der letzten fünf bis sechs Jahrzehnte, seitdem es das gibt, was heute die soziale Frage genannt wird, so erblicken wir auf der ei­nen Seite eben den gedankenlosen Unverstand mit Bezug auf alles dasjenige, was heraufgekommen ist in der Entwickelung der Mensch­heit, und auf der anderen Seite erblicken wir den Ansturm, den berechtigten Ansturm der weiten proletarischen Massen, der sich immerzu zusammendrängte in die Worte: So kann es nicht weiter-gehen. Aber heute sprechen Tatsachen noch eine ganz andere Spra­che, als sie in den letzten Jahrzehnten gesprochen haben. Und die Urteile, die manche Leute sprechen, wie nehmen sie sich gegenüber den Tatsachen aus? Darüber ist uns die Schreckenskatastrophe, die wir in den letzten vier bis fünf Jahren durchlebt haben, eine gute Lehre.

Gestatten Sie die folgende persönliche Bemerkung. Dasjenige, was ich mir seit Jahrzehnten als Urteil über die europäischen politi­schen Verhältnisse bilden mußte, ich mußte es zusammenfassen in einem Vortrage, den ich im Frühling des Jahres 1914 in Wien vor ei­nem kleineren Kreise gehalten habe - ein größerer hätte mich dazu­mal wahrscheinlich verlacht -, ich mußte zusammenfassen dasjeni­ge, was dazumal unter den Menschen Europas wob, unter denjeni­gen Menschen, von denen man sagen konnte, daß sie etwas zu tun haben mit der politischen Schicksalsbildung in Europa. Damals mußte man sagen, wenn man unbefangenen Blickes in die Zeit hin-einsah: Wir leiden mit Bezug auf die politischen und Staatenverhält­nisse Europas an einem schleichenden Geschwür, an einer Krebs-krankheit, die in der allernächsten Zeit in einer furchtbaren Weise wird zum Ausbruche kommen müssen. Die Zeit, in der diese Krebs-krankheit ausgebrochen ist, sie kam sehr bald. Aber was sprachen die «Praktiker»? Was sprachen die «Staatsmänner»? Man ist heute versucht, wenn man von Staatsmännern spricht, immer Gänsefüß­chen zu machen bei dem Worte. Was sprachen die «Staatsmänner»? Was dazumal der leitende auswärtige Staatssekretär im deutschen Reichstag gesagt hat, das ist das Folgende. Er sagte: Dank den Bemü­hungen der Kabinette können wir sagen, daß für absehbare Zeiten

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der europäische Frieden gesichert sein werde. - Das wurde im Mai 1914 von einem leitenden Staatsmann gesagt. Dieser Friede war so gesichert, daß seither zwölf bis fünfzehn Millionen Menschen totge­schossen worden sind, dreimal so viel zu Krüppeln geschlagen wor­den sind. So wie dazumal diese Staatsmänner sprachen über dasjeni­ge, was auf dem politischen Himmel ist, so sprechen heute viele Leu­te über dasjenige, was heute durch Tatsachen bedeutsamster, energi­schester Art durch die ganze gebildete Welt spricht. So sprechen die Leute vielfach gegenüber der sozialen Frage. Keine Ahnung ist in vielen Kreise von dem vorhanden, was da kommen muß und was sicher kommen wird, und dem gegenüber unbedingt von jedem vernünftigen Menschen ein Urteil zu gewinnen ist.

Was ich in dieser Angelegenheit zu sagen habe, ist wahrhaftig nicht aus irgendeiner theoretischen Anschauung heraus gesprochen. Ich war jahrelang Lehrer an der in Berlin von Wilhelm Liebknecht, dem alten Liebknecht gegründeten Arbeiter-Bildungsschule, habe in den verschiedensten Zweigen gelehrt, von da aus auch innerhalb des Bildungswesens des modernen Proletariats in Gewerkschaften, in Genossenschaften und auch innerhalb der politischen Partei ge­wirkt. Gerade wenn man in dieser Weise bei denen, die bestrebt wa­ren, aus wirklichen Gedanken, aus wirklichen Geistesgrundlagen heraus die moderne Arbeiterbewegung zu tragen, wenn man unter ihnen gelebt hat, wenn man mit ihnen gearbeitet hat, dann kann man vielleicht sagen, man könne sich ein Urteil bilden, nicht so, wie einer, der über das Proletariat denkt. Solches Urteilen hat heute kei­nen Wert. Heute kann nur einen Wert haben das Urteilen, das mit dem Proletariat gebildet ist, aus der Mitte des Proletariats heraus selbst gebildet ist.

In den Stunden, die sich die Arbeiter abrangen nach der harten Arbeit des Tages, in denen sie, während andere Klassen ins Theater gingen oder Skat spielten - ich will die schönen Dinge nicht alle auf­zählen -, in den Stunden, in denen der Proletarier versuchte sich auf­zuklären über seine Lage, in denen konnte man lernen, wie aus der modernen proletarischen Frage etwas ganz anderes geworden ist und werden wird als eine bloße Lohn- oder Brotfrage, wie heute

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noch viele glauben, nämlich eine Frage der Menschenwürde. Eine Frage des menschenwürdigen Daseins, das ist dasjenige, was doch hinter allen proletarischen Forderungen steckt, und seit langem steckte.

Auf drei Grundlagen, kann man sagen, ruhen die heutigen prole­tarischen Forderungen. Die eine Grundlage, sie wird von den Prole­tariern selbst sehr häufig bezeichnet dadurch, daß sie sprechen in Anknüpfung an den großen Lehrer des Proletariats, an Karl Marx, von dem Vorhandensein des sogenannten Mehrwertes. Mehrwert, es war stets ein Wort, welches tief hineindrang in die Seele des mo­dernen Proletariers; es war ein Wort, welches zündend auf die Emp­findungen dieses modernen Proletariers wirkte. Welches Wort stell­ten die bisher führenden Klassen diesem Mehrwert entgegen? Man wird vielleicht überrascht sein, wenn ich gerade die folgenden zwei Dinge gegenüberstelle.

Die führenden Klassen stellten diesem Mehrwert entgegen das Wort von dem großen, bedeutenden Geistesleben, das die Zivilisa­tion der Menschheit heraufgebracht hat. Der Proletarier, was wußte er von diesem Geistesleben? Was war für ihn die große, die Mensch­heitsfrage? Er wußte, daß der Mehrwert, den er produziert, verwen­det wird, um dieses Geistesleben möglich zu machen, und ihn auszu­schließen von diesem Geistesleben. Mehrwert war für ihn die ganz abstrakte Grundlage des Geisteslebens. Was war das für ein Geistes­leben? Es war das Geistesleben, das entstanden ist in der Morgenröte der modernen bürgerlichen Wirtschaftsordnung. Man spricht oft da­von, gewiß nicht mit Unrecht, daß das moderne Proletariat geschaf­fen worden sei durch die moderne Technik, durch den modernen Industrialismus, durch den modernen Kapitalismus, und wir wollen von diesen Dingen gleich auch nachher sprechen. Aber gleichzeitig mit dieser modernen Technik, mit diesem Kapitalismus ist etwas an­deres heraufgezogen, was man nennen kann die moderne wissen­schaftliche Orientierung. Da war es - es ist schon ziemlich lange her -, daß gegenüber dem, was das moderne Bürgertum als die moderne wissenschaftliche Orientierung heraufgebracht hat, das Proletariat das letzte große Vertrauen dem Bürgertum entgegengebracht hat.

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Und dieses letzte große Vertrauen, weltgeschichtliche Vertrauen ist enttäuscht worden.

Wie war die Sache eigentlich? Nun, aus alten Weltanschauungen heraus, deren Berechtigung wir heute wahrhaftig nicht prüfen wol­len, hat sich das gebildet, was heute aufgeklärte, wissenschaftliche Weltanschauung ist. Der Proletarier, der hinweg von dem mittelalter­lichen Handwerk an die seelentötende Maschine gerufen worden ist, in den modernen Kapitalismus eingespannt worden ist, konnte nicht entgegennehmen dasjenige, was die alten Klassen in ihrem Geistesle­ben aufgenommen hatten. Er konnte nur entgegennehmen gewisser­maßen das modernste Produkt, den modernsten Ausfluß dieses Gei­steslebens. Aber für ihn wurde dieses Geistesleben etwas ganz, ganz anderes als für die führenden Klassen. Das muß man nur mit Bezug auf alle Tiefen der proletarischen Seele einmal sich vor Augen füh­ren. Man muß sich vorstellen, wie Leute aus den bisher führenden Klassen, selbst wenn sie so aufgeklärte Leute waren wie der Natur-forscher Vogt oder der naturwissenschaftliche Popularisator Büch­ner, wie sie mit dem Kopfe, mit dem Verstande aufgeklärte Leute im Sinne der heutigen Wissenschaft sein konnten; aber sie waren so auf­geklärte Leute nur deshalb, weil sie mit ihrem ganzen Menschen in einer gesellschaftlichen Ordnung drinnen lebten, die noch herrührte von den alten religiösen und sonstigen Weltanschauungen, in denen das Alte noch fortlebte. Ihr Leben war ein anderes als dasjenige, wozu sie sich bekannten, wenn sie theoretisch noch so ehrlich waren. Der moderne Proletarier war genötigt, dasjenige, was ihm da blieb als die Erbschaft des Bürgertums, im vollsten menschlichen Ernst zu neh­men. Man muß nur einmal gesehen haben, was es für eine Bedeu­tung hatte für den modernen Proletarier, wenn ihm, wie einst von Lassalle, gesprochen wurde von der Wissenschaft und den Arbeitern.

Ich stand - wenn ich diese persönliche Bemerkung auch noch ma­chen darf - vor jetzt mehr als achtzehn Jahren in Spandau, in der Nähe von Berlin, auf der gleichen Rednerbühne mit der kürzlich so tragisch geendeten Rosa Luxemburg. Wir sprachen beide vor einer Proletarierversammlung über die Wissenschaft und die Arbeiter. Rosa Luxemburg sagte dazumal Worte, von denen man sehen konnte,

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wie zündend sie hineinwirkten in die Seelen dieser proletarischen Menschen, die am Sonntagnachmittag gekommen waren und Frau und Kind mitgebracht hatten; es war eine herzerquickende Ver­sammlung. Sie sagte, die Menschen können sich unter dem Einflusse der modernen Wissenschaft nicht mehr einbilden, daß sie aus Zu­ständen heraufgekommen sind, die engelgleich waren, aus denen sich rechtfertigen würden die modernen Rang- und Klassenunter­schiede. Nein, sagte sie ungefähr wörtlich: der Mensch, der physi­sche Mensch von heute war einmal höchst unanständig, kletterte auf Bäumen herum, und wenn man sich dieses Ursprunges erinnert, dann findet man wahrhaftig keinen Anlaß, von den heutigen Klas­senunterschieden zu sprechen.

Das wurde verstanden, aber anders als von den leitenden Kreisen. Es wurde so verstanden, daß der ganze Mensch hineingestellt sein wollte in diese Weltanschauung, die dem an der öden Maschine verschmachtenden Proletarier die Frage beantworten sollte: Was bin ich als Mensch? Was ist der Mensch überhaupt in der Welt?

Nun konnte aber der moderne Proletarier aus dieser ganzen Wis­senschaft heraus nichts anderes gewinnen als dasjenige, was er ein Spiegelbild nennen konnte dessen, was als moderne kapitalistische Wirtschaftsordnung heraufgezogen ist. Er empfand: die Leute spre­chen so, wie sie sprechen müssen nach ihren wirtschaftlichen Verhält­nissen, nach ihrer wirtschaftlichen Lage. In diese wirtschaftliche Lage hatten sie ihn hineingestellt; aus der heraus konnte er auch nur urtei­len. Die leitenden Kreise sagten: Wie die Menschen jetzt leben, ist das ein Ergebnis der göttlichen Weltordnung, oder aber ein Ergebnis der moralischen Weltordnung, oder aber ein Ergebnis der geschicht­lichen Ideen und so weiter. Der moderne Proletarier, der konnte das alles nur so empfinden, daß er sich sagte: Ihr habt mich aber hinein­gestellt in dieses Wirtschaftsleben, und was habt ihr aus mir ge­macht? Zeigt das, was ihr aus mir gemacht habt, diese göttliche Welt­ordnung, diese moralische Weltordnung, diese historischen Ideen?

Und so zündete der Begriff vom Mehrwert - jenem Mehrwert, den er produzierte, der ihm abgezogen wurde, der dieses Leben der führenden Klassen möglich machte - in seiner Empfindungswelt

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und in ihm entstand die Meinung, daß alles, was an Geistesleben von den leitenden Kreisen hervorgebracht wird, doch nur das Spiegelbild ihrer wirtschaftlichen Ordnung ist.

Schließlich, für die letzten Jahrhunderte hatte der proletarische Theoretiker mit dieser Anschauung zweifellos Recht. Die letzten Jahre, sie haben ja auf den verschiedensten Gebieten das hinlänglich gezeigt. Oder kann man glauben, daß die Menschen, die an den ver­schiedenen Schulen - ich will nicht sagen Mathematik und Physik, da kann man nicht viel in Weltanschauungen machen - zum Beispiel Geschichte gelehrt oder über die Geschichte geschrieben haben, kann man sagen, daß die schließlich etwas anderes zum Ausdruck gebracht haben als ein Spiegelbild desjenigen, was staatlich-wirtschaftliche Ordnung war? Man sehe sich die Geschichte derjenigen Staaten an, die in den Weltkrieg eingetreten sind. Ganz sicher wird die Ge­schichte der Hohenzollern in der Zukunft anders ausschauen, als die deutschen Professoren sie in den letzten Jahren und in den letzten Jahrzehnten geschrieben haben. Sie wird allerdings gemacht wer­den, diese Geschichte, von Leuten, denen gegenüber man gesagt hat -es ist ja auch ein Wort des deutschen Kaisers -, daß sie nicht nur Feinde der herrschenden Klasse, sondern Feinde der göttlichen Welt­ordnung seien.

So wurde das, was das Geistesleben der herrschenden Klassen war, für den Proletarier zu einer öden Ideologie, zu einem Luxus der Menschheit, zu etwas, wofür er kein Verständnis aufbringen konn­te. Dennoch, seine tiefste Sehnsucht ging dahin, gerade etwas zu fin­den, was ihm sagte, was Menschenwürde, was Menschenwert ist. Daher ist die erste proletarische Forderung eine Geistesforderung. Und man mag da oder dort sagen, was man will, die erste proletari­sche Forderung ist eine Geistesforderung, die Forderung nach einem solchen Geistesleben, in dem man empfinden kann, was man als Mensch ist, in dem jeder Mensch empfinden kann, was das Men­schenleben auf der Erde wert ist. Das ist auf geistigem Gebiete die erste proletarische Forderung.

Die zweite proletarische Forderung, sie entspringt dem Gebiet des Rechtslebens, des eigentlich politischen Staates. Es ist schwierig,

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theoretisch über das zu reden, was eigentlich das Recht ist. Jedenfalls ist das Recht etwas, das alle Menschen angeht, und man braucht ei­gentlich über das Recht nur das Folgende zu sagen: Geradeso, wie man mit dem, der blind ist, nicht sprechen kann über das, was eine blaue Farbe ist, aber man nicht viel zu theoretisieren nötig hat über die blaue Farbe mit dem, der sieht, so läßt sich auch über das Recht mit denjenigen nicht reden, welche für das Recht blind sind. Denn auf einem ursprünglichen menschlichen Rechtsbewußtsein ruht das Recht. Auf den Geboten des politischen Staates, den sich in den letz­ten Jahrhunderten die herrschenden Klassen so fein zurechtgezim­mert häben, suchte der Proletarier sein Recht, sein Recht vor allen Dingen mit Bezug auf sein Arbeitsgebiet. Was fand er? Er fand sich zunächst eingespannt nicht in den Rechtsstaat, er fand sich einge­spannt in den Wirtschaftsstaat. Und da sah er, daß gegenüber allen Humanitätsideen, gegenüber allen Ideen von reiner Menschlichkeit für ihn ein Rest alter Unmenschlichkeit, ein furchtbarer Rest alter Unmenschlichkeit geblieben ist. Das ist wiederum etwas, was so zündend durch Karl Marx eingeschlagen hat in die Proletarierseelen. Sklaven hat es in alten Zeiten gegeben. Der ganze Mensch wurde wie eine Ware gekauft und verkauft. Später hat es Leibeigene gege­ben. Da wurde dann weniger vom Menschen gekauft und verkauft als in der alten Sklavenzeit. Auch jetzt noch wird vom Menschen etwas gekauft und verkauft wie eine Ware. Was Karl Marx und seine Nachfolger immer wieder und wiederum so verständlich für die pro­letarische Seele ausgesprochen haben, das ist, daß die menschliche Arbeitskraft verkauft wird. Die Arbeitskraft wird auf dem moder­nen Warenmarkt, wo nur Waren sein sollten, selber wie eine Ware behandelt. Das ruht in den Tiefen, wenn auch oft unbewußt, der proletarischen Seele, so daß sich diese sagt: Die Zeit ist gekommen, wo meine Arbeitskraft nicht mehr Ware sein darf.

Das ist die zweite proletarische Forderung. Sie entspringt dem Rechtsboden. Indem Karl Marx auf dieses Verhältnis aufmerksam machte, da sprach er wiederum eines seiner zündenden Worte. Aber noch radikaler, als Karl Marx selber dabei zu Werke gegangen ist, muß gerade auf diesem Gebiete zu Werke gegangen werden. Klar

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muß es werden: eine Weltordnung, eine Gesellschaftsordnung muß heraufziehen, in der die Arbeitskraft des Menschen keine Ware mehr ist, in der sie vollständig entkleidet wird des Charakters der Ware. Denn muß ich meine Arbeitskraft verkaufen, so kann ich auch gleich meinen ganzen Menschen verkaufen. Wie kann ich mei­nen Menschen noch zurückbehalten, wenn ich an irgend jemanden meine Arbeitskraft verkaufen muß? Er wird Herr meines ganzen Menschen. Damit ist der letzte Rest des alten Sklaventums, aber wahrhaftig nicht in geringerer Gestalt, heute noch da in dieser «humanen» Zeit.

So fand sich der Proletarier mit seiner Arbeitskraft und deren Verkauf vom Rechtsleben in das Wirtschaftsleben hinausgestoßen. Und wenn gesagt wird, nun, es besteht ja der Arbeitsvertrag, so muß dem entgegengehalten werden, daß so lange, wie überhaupt über das Arbeitsverhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter ein Vertrag geschlossen werden darf, so lange ist das Sklavenverhältnis in bezug auf die Arbeitskraft da. Erst dann, wenn hinübergenommen werden wird auf den bloßen Rechtsboden das Verhältnis mit Bezug auf die Arbeit zwischen Arbeitsleiter und physischen Arbeitern, erst dann ist dasjenige da, was die moderne Proletarierseele fordern muß.

Das kann aber nur dann sein, wenn ein Verhältnis nurmehr abge­schlossen wird nicht über den Lohn, sondern lediglich abgeschlos­sen wird über dasjenige, was von dem physischen und dem geistigen Arbeiter gemeinschaftlich produziert wird. Verträge kann es nur ge­ben über Waren, nicht über Stücke Menschen. Statt sein Arbeitsver­hältnis geschützt zu wissen auf dem Boden des Rechtes, was fand der moderne Proletarier auf diesem Rechtsboden? Fand er Rechte? Wenn er auf sich sah, fand er wahrhaftig keine Rechte. Gewisse Leu­te hatten sich ja allmählich angewöhnt, diesen modernen Staat wie eine Art Gottheit, wie einen Götzen zu empfinden. Fast wie der Faust zum Gretchen im ersten Teile über Gott sprach, so sprachen gewisse Leute über den modernen Staat. Man könnte sich ganz gut denken, daß ein moderner Arbeitsunternehmer seine Arbeiter un­terrichtete über die Göttlichkeit des modernen Staates und sagte von diesem Staat: «Der Allerhalter, der Allumfasser, faßt und erhält er

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nicht dich, mich und sich selbst?» Denken wird er dabei wahr­scheinlich immer: besonders mich. - Rechte erwartete das Mensch­heitsbewußtsein auf dem Boden des Staates. Vorrechte derjenigen, welche sich diese Vorrechte aus dem Wirtschaftsleben, namentlich in der neueren Zeit, errungen haben, fand der moderne Proletarier. Statt desjenigen, was in bezug auf alles Recht gefordert werden muß -Gleichheit aller Menschen -, was fand der moderne Proletarier? Wenn man hinblickt auf das, was er da fand auf dem Boden des Rechtsstaates, dann kommt man zu seiner dritten Forderung; denn er fand auf dem Boden, auf dem er das Recht finden sollte, nament­lich das Recht seiner Arbeit und das entgegengesetzte Recht, das Recht des sogenannten Besitzers, er fand den Klassenkampf. Der moderne Staat ist für den modernen Proletarier nichts weiter als der klassenkämpferische Staat.

Damit bezeichnen wir die dritte proletarische Forderung als dieje­nige, welche darauf hinzielt, den Klassenstaat zu überwinden und den Rechtsstaat an seine Stelle treten zu lassen. Arbeit und Arbeits­leitung sind Gegenstände des Rechtes. Was ist denn schließlich der Besitz? Der wird im Laufe der neueren Zeit etwas werden müssen, das zu den alten verrosteten Dingen gehört; denn was ist er in Wirk­lichkeit? Im sozialen Organismus ist nur der Begriff zu brauchen, der da sagt: der Besitz ist das Recht irgendeines Menschen, sich ir­gendeiner Sache zu bedienen. Besitz beruht immer auf einem Rech­te. Nur dann, wenn auf dem Boden, aber jetzt wahrer demokrati­scher Gesellschaftsordnung, die Rechte geregelt sind, dann werden den sogenannten Besitzrechten die Arbeiterrechte gegenüberstehen. Nur dann aber kann dasjenige erfüllt werden, was des modernen Proletariers berechtigte Forderungen sind.

Wenn man so die heutigen Tatsachen, die so laut sprechen, sich ansieht, dann kommt man dahin, sich zu sagen: Genauer muß dasje­nige, was sich allmählich als sozialer Organismus unter dem Einfluß der modernen Technik, unter dem Einfluß des modernen Kapitalis­mus herausgebildet hat, angesehen werden. - Und man braucht nur hinzuschauen auf die eben charakterisierten drei Forderungen des modernen Proletariats, dann wird man auch sehen, was not tut zur

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Gesundung des sozialen Organismus. Ein Geistiges, ein Rechtliches, ein Wirtschaftliches, das sind die drei Momente, auf die man hin­schauen muß. Wie aber sind diese drei Momente in der modernen geschichtlichen, eben unter dem Einfluß von Technik und Kapitalis­mus stehenden Ordnung behandelt worden?

Hier kommen wir aus der Kritik dessen, was sich herausgebildet hat durch die herrschenden Klassen der Gegenwart, zu dem, was heute als geschichtliche Forderung auftritt. Ich kann mir vorstellen, daß mancher in dem, was ich nunmehr sprechen werde, nicht mit mir vollständig übereinstimmen werde. Aber zeigen nicht die Tatsa­chen, die sich entwickelt haben, daß die Gedanken der Menschen vielfach hinter diesen Tatsachen zurückgeblieben sind? Deshalb ist es vielleicht doch berechtigt, darauf zu hören, wenn jemand sagt:

Wir haben nicht nur allerlei Redensarten über Umwandlung der Zu­stände nötig, nein, wir haben es heute nötig, zu ganz neuen Gedan­ken vorzuschreiten. Neue Gedanken müssen in die menschlichen Hirne hinein, denn die alten Gedanken haben gezeigt, wozu sie die menschliche Gesellschaftsordnung gemacht haben. Umdenken und umlernen, nicht bloß umprobieren ist heute notwendig. Und wenn das, was ich zu sagen habe, in manchem abweichen wird von ge­wohnten Gedanken, so bitte ich Sie, die Sache so aufzunehmen, daß es aus der Lebensbeobachtung der Tatsachen heraus genommen ist und ebenso ehrlich gemeint ist wie manches andere, was ehrlich für die Gesundung der neueren sozialen Verhältnisse vorgebracht wird.

Jch sehe, wie zum Beispiel in der neueren Zeit gerade unter dem Einfluß der bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung das Wirtschaftsleben immer mehr und mehr mit dem Rechtsleben zu­sammengewachsen ist, wie der politische Staat und der Wirtschafts­staat eins geworden sind. Nehmen wir ein recht charakteristisches Beispiel der Gegenwart. Nehmen wir das Beispiel des eben seinem Schicksal erlegenen Österreich. Als in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts dieses Österreich sich endlich einmal entschloß, ein so­genanntes Verfassungsleben einzurichten, wie wurde denn da der Reichsrat, dieser alte selige Reichsrat - man nannte, weil man einen so recht deutlichen kurzen Namen haben wollte, diesen österreichischen

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Staat außer Ungarn, den Ländern der sogenannten heiligen Stefanskrone, «die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Län­der», - kurzer Name für Österreich! - gewählt? Da wurde gewählt für diesen Reichsrat nach vier Kurien, erstens der Großgrundbesit­zer, zweitens der Handelskammern, drittens der Städte, Märkte und Industrialorte, viertens der Landgemeinden. Die letzteren durften nur indirekt wählen. Aber was sind alle diese Kurien? Wirtschafts­kurien waren sie. Bloße wirtschaftliche Interessen hatten sie zu ver­treten, und sie wählten ihre Abgeordneten in den österreichischen Reichsrat. Was war dort zu tun? Rechte waren festzusetzen, politi­sche Rechte. Was hatte man für Vorstellungen über politische Rech­te, indem man den österreichischen Reichsrat auf diesen vier Kurien aufbaute? Nun, man hatte die Vorstellung: im Reichsrate, wo das Recht beschlossen werden soll, wandelt man die wirtschaftlichen In­teressen bloß um in Rechte. Und so kam es, und so ist es noch, daß im Grunde genommen die staatlichen Vertretungen in sich ein­schließen, zumeist offen oder versteckt, die bloßen wirtschaftlichen Interessen. Man sehe auf den Bund der Landwirte im deutschen Reichstag hin; näherliegende Beispiele erlassen Sie mir aufzuzählen. Überall sehen wir, wie die Tendenz der neueren Zeit dahin ging, das Wirtschaftsleben zusammenzuschmelzen mit dem politischen Le­ben des eigentlichen Staates. Das nannte man den Fortschritt. Man begann mit denjenigen Zweigen, die den herrschenden Klassen be­sonders genehm waren, dem Post-, Telegraphen-, Eisenbahnwesen und dergleichen, und dehnte das immer mehr und mehr aus. Das ist das eine, was man zusammengeschweißt hat. Das andere, was man verschmolzen, was man zusammengeschweißt hat, das war das Geistesleben und der politische Staat.

Ich weiß, daß ich gewissermaßen auf Eis trete, wenn ich gerade über dieses Zusammenschmelzen des Geisteslebens mit dem politi­schen Staate spreche, wenn ich heute davon spreche, daß diese Zu­sammenschmelzung zum Nachteil, zum Schaden, zur Erkrankung des sozialen Organismus geführt hat. Gewiß, für die herrschenden Klassen war das in den letzten Jahrhunderten, und namentlich im 19. Jahrhundert, notwendig. Aber man darf nicht bloß glauben, daß

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die Verwaltung, der Betrieb von Wissenschaft und anderen Zweigen des Geisteslebens korrumpiert, beeinträchtigt worden ist durch die Staatsverwaltung, sondern der Inhalt der Wissenschaft selber. Auch da braucht man ja nicht gleich wiederum so weit zu gehen, wie der berühmte Physiologe Du Bois-Reymond, der einmal in einer schönen Rede - die Herren sprechen ja immer sehr, sehr schön, wenn sie von solchen Dingen reden -, in einer schönen Rede die Mitglieder der Berliner Akademie der Wissenschaften «die wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern» genannt hat.

Man hat ja in einer aufgeklärten Zeit viel darüber gespottet, wie im Mittelalter die äußere Wissenschaft und Weltanschauung, die Magd, die Dienerin der Theologie war. Gewiß, man wird diese Zei­ten wohl niemals wieder zurückwünschen wollen. Wer die heutigen Dinge mit unbefangenem Urteil überblickt, der weiß, daß eine späte­re Zeit über die unsrige in einer ähnlichen Weise urteilen wird. Die Schleppe der Theologie tragen vielfach die Gelehrten nicht mehr, na, ich will nicht sagen, daß sie die Stiefel putzen der betreffenden Staaten, aber Schleppenträger der betreffenden Staaten sind die Gei­stesträger in vieler Beziehung schon geworden. Das ist dasjenige, was man sich immer wieder und wiederum vor Augen halten muß, wenn man davon sprechen will, was es eigentlich bewirkt hat, daß in der neueren Zeit auf der einen Seite das Wirtschaftsleben zusam­mengeschmolzen wurde mit dem politischen Staatsleben, auf der an­deren Seite das Geistesleben zusammengeschmolzen wurde mit eben diesem politischen Staatsleben. Wer in diese Dinge hineinschaut, der fragt jetzt nicht, wie so viele Leute fragen: Was soll der Völkerbund tun, der jetzt von dem einen oder von dem anderen Standpunkt aus gegründet werden soll? Ich habe neulich in Bern gehört, wie ein Herr, der sich besonders gescheit dünkt, sagte: Der Völkerbund muß einen Überstaat begründen, er muß ein Überparlament ins Le­ben rufen. Ja, sehen Sie, wer mit unbefangenem Blick auf das schaut, was die bisherigen Staaten in diesen vier Schreckensjahren bewirkt haben, der möchte mit Bezug auf den Völkerbund wahrhaftig nicht fragen: Wie soll man die verschiedenen Maßnahmen und Einrich­tungen der bisherigen Staaten auf diesen Völkerbund übertragen?

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Was soll man tun, damit dieser Völkerbund möglichst ähnlich wer­de dem Staate? - Er wird wohl anders fragen. Er wird vielleicht fra­gen: Was sollte denn dieser Staat unterlassen? - Denn das, was er ge­tan hat, hat wahrhaftig in den letzten vier Jahren nicht sonderlich gute Früchte getragen. Da kommt man allmählich dazu, wenn man wirklich mit gesundem Sinn hineinschaut in das Getriebe des mo­dernen sozialen Lebens, dasjenige zu sagen, was die geschichtlichen Mächte und Kräfte wirklich fordern in der neueren Zeit.

Während der Weltkrieg gewütet hat, habe ich so manchem dasje­nige vorgetragen, was ich auch hier vortrage. Tauben Ohren hat man gepredigt. Gar manchem habe ich gesagt: Jetzt haben Sie noch Zeit; solange die Kanonen donnern, schickt es sich, daß in den Kanonen-donner hinein von denjenigen Staaten, die vernünftig diesen Krieg beenden wollen, Worte gesprochen werden, wie sie von der Zeit gefordert werden, wie sie sich unbedingt realisieren werden in den nächsten zehn, zwanzig Jahren. Sie haben heute die Wahl, entweder Vernunft anzunehmen und durch Vernunft sie zu realisieren, oder, wenn Sie das nicht wollen, gehen Sie eben Kataklysmen und Revolu­tionen entgegen. Wie Schall und Rauch ging das an den Ohren vorbei.

Das, was die Zeit von uns fordert ist, daß wir uns wirklich dazu aufraffen, selbständige soziale Gebilde zu schaffen: ein freies, auf sich selbst gestelltes Geistesleben, einen politischen Staat, dem wir nur das Rechtsleben überlassen, und ein Wirtschaftsleben, das wir auf seine eigene Grundlage stellen. - Wie schauderhaft ist das für manchen, der sich im Sinne der alten Denkgewohnheiten für einen Praktiker hält, daß man nun dem Komplizierten entgegengehen soll, drei nebeneinanderstehende soziale Organismen, eine besonde­re Geistesorganisation, eine besondere Rechtsorganisation und eine besondere Wirtschaftsorganisation! Allein, machen wir uns das nur klar, was das zum Beispiel für das wirtschaftliche Leben für eine Wirkung haben wird. Da haben wir das wirtschaftliche Leben auf der einen Seite begrenzt durch die Naturgrundlage, Klima, Bodenbe­schaffenheit. Man kann auf der einen Seite dadurch, daß man allerlei technische Verbesserungen macht, der Natur beikommen, aber eine Grenze ist gesetzt, über die man nicht hinausgehen kann. Die Naturgrundlage

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bildet die eine Grenze des Wirtschaftslebens. Man braucht sich nur an extreme Beispiele zu erinnern. Denken wir an ein Land, wo viele Leute sich von Bananen ernähren können. Um die Banane von ihrem Ausgangsorte zum Konsum zu bringen, ist hundertmal weniger Arbeit nötig, als um unseren Weizen in unse­ren Gegenden von der Aussaat bis zur Konsumfähigkeit zu bringen. Nun, so extreme Beispiele klären die Sache auf. Aber wenn auch die Dinge sonst in einem geschlossenen sozialen Territorium nicht so extrem nebeneinanderstehen, die Naturgrundlage ist da. Sie ist die eine Grenze des Wirtschaftslebens. Eine andere Grenze muß noch da sein. Das ist diejenige, die von dem selbständig neben dem Wirt­schaftsleben stehenden Staate gebildet wird. Innerhalb dieses Staates, der auf rein demokratischer Grundlage stehen muß, weil er das be­handelt, was für alle Menschen gleich gilt, worüber alle Menschen sich verständigen müssen, weil er aus dem Rechtsbewußtsein, das in der Seele jedes Menschen wurzelt, hervorgehen muß, in diesem Rechtsstaat wird auch bestimmt werden ganz unabhängig von dem Wirtschaftsleben Maß, Zeit und manches andere mit Bezug auf die menschliche Arbeit. Geradesowenig wie das Samenkorn in bezug auf die Kräfte, die es erfassen unter der Erde, schon im Wirtschaftsle­ben drinnensteht, sondern wie diese Naturkräfte das Wirtschaftsle­ben selbst bestimmen, so muß von seiten des selbständigen Staates dem Wirtschaftsleben auch das Arbeitsrecht zugrunde gelegt wer­den. Der Preis der Ware muß bestimmt werden, wie durch die Na­turgrundlage auf der einen Seite, so auf der anderen Seite durch das vom Wirtschaftsleben unabhängige Arbeitsrecht. Warenpreise müs­sen abhängig sein vom Arbeitsrecht, nicht, wie es heute der Fall ist, Arbeitspreise von Warenpreisen.

Das ist dasjenige, was im geheimen, im Innersten seiner Seele im Grunde jeder wirkliche Arbeiter erwartet, daß die Regelung der Ar­beitskraft und auch die Regelung des sogenannten Besitzes, der da­durch gar kein Besitz mehr sein wird, abgesondert wird vom Wirt­schaftsleben, damit auf wirtschaftlichem Gebiete nicht mehr ein Zwangsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, son­dern lediglich ein Rechtsverhältnis sein könne. Dann wird es im

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Wirtschaftsleben nur dasjenige geben, was einzig und allein in das Wirtschaftsleben gehört: Warenerzeugung, Warenverkehr, Waren-konsum. Und verwirklicht werden kann dasjenige, was gerade das sozialistische Denken zu verwirklichen anstrebt, daß fortan nicht mehr produziert werde, um zu profitieren, sondern daß produziert werde, um zu konsumieren. Das kann nur geschehen, wenn ebenso unabhängig über Arbeit und Arbeitsleistung die Regeln getroffen werden, wie von der Natur für die wirtschaftliche Ordnung unab­hängig von dieser wirtschaftlichen Ordnung, die Regeln selber ge­troffen werden. Dann wird auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens erst das zu seinem Rechte kommen, was sich heute alles herausbildet als das Genossenschaftswesen, das Assoziationswesen; das muß eine sachgemäße Verwaltung auf dem Boden des Wirtschaftslebens fin­den. Da muß nach dem Konsumbedürfnisse das Produktionsieben in Assoziationen, in Genossenschaften geregelt werden. Da muß vor allen Dingen genommen werden dem politischen Staate die ganze Regelung der Währung. Währung, Geld kann nicht mehr etwas sein, was dem politischen Staat untersteht, sondern etwas, was in den Wirtschaftskörper hineingehört. Was wird dann dasjenige sein, was der Repräsentant des Geldes ist? Nicht mehr irgendeine andere Ware, die eigentlich nur eine Luxusware ist und deren Wert auf menschlicher Einbildung beruht, das Gold, sondern dem Gelde wird entsprechen - ich kann das nur andeuten, Sie werden es näch­stens in meinem Buche über die soziale Frage, das in ein paar Tagen erscheinen wird, ausgeführt finden -, dem Gelde wird entsprechen alles dasjenige, was vorhanden ist an brauchbaren Produktionsmit­teln. Und diese brauchbaren Produktionsmittel, sie werden so be­handelt werden können, wie sie eigentlich behandelt werden sollen im Sinne des modernen sozialen Denkens, sie werden so behandelt werden können, wie man heute nur dasjenige, was man in unserer Zeit als das schofelste Eigentum ansieht, behandelt.

Was gilt in unserer Zeit als das schofelste Eigentum? Na, selbst­verständlich das Geistige, das geistige Eigentum. Von dem weiß man in unserer Zeit, daß man es hat von der sozialen Ordnung. Ja, wenn man ein noch so gescheiter Mensch ist, wenn man noch so viel lei­sten

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kann, noch so schöne Sachen hervorbringt, gewiß, den Anlagen entspricht es, manchem anderen auch noch, aber insofern man es verwertet im sozialen Organismus, insofern hat man es vom sozia­len Organismus. Deshalb ist es gerecht, daß dieses Geistesgut nicht bei den Erben verbleibt, sondern wenigstens nach einer Anzahl von Jahren in den sozialen Organismus übergeht, Gemeineigentum wird, verwendet werden kann von dem, der dazu durch seine indivi­duellen Fähigkeiten geeignet ist. Dieses schofelste Eigentum, das gei­stige Eigentum, wird heute so behandelt. So wird in der Zukunft be­handelt werden jedes sogenannte Eigentum. Nur wird es viel früher übergehen müssen in das Gemeineigentum, so daß derjenige, der da­zu die Fähigkeiten hat, diese Fähigkeiten an diesem Eigentum wie­derum im Sinne des Nutzens und Zweckes des sozialen Organismus einbringen kann. Deshalb habe ich in dem Buch, das in ein paar Ta­gen erscheinen wird, gezeigt, wie es notwendig ist, daß die Produk­tionsmittel nur so lange bei der Leitung eines Menschen bleiben, als die individuellen Fähigkeiten dieses Menschen die Leitung dieser Produktionsmittel rechtfertigen, daß alles dasjenige, was profitiert wird auf Grundlage der Produktionsmittel, wenn es nicht wiederum hineingesteckt wird in die Produktion selbst, übergeleitet werden muß an die Allgemeinheit. Durch den geistigen Organismus kann derjenige aufgesucht werden, der im Sinne seiner individuellen Fähigkeiten das für die soziale Gemeinschaft weiterleiten kann.

Es ist, wenn man wirklich aus dem Leben heraus diesen sozialen Organismus kennengelernt hat, nicht so einfach, diese moderne For­derung zu erfüllen, die Produktionsmittel nicht mehr in das Privat­eigentum zu übergeben, damit sie in diesem Privateigentum bleiben. Es müssen aber die Mittel gefunden werden, wodurch dieses Privat­eigentum allen Sinn verliert, so daß dann der sogenannte Privatei­gentümer nur der zeitweilige Leiter ist, weil er die Fähigkeiten hat, die Produktionsmittel durch seine Fähigkeiten zum Wohle der Gemeinschaft am besten zu verwalten.

Wenn auf der einen Seite das Arbeiterrecht in dem politischen Staate geregelt wird, wenn auf der anderen Seite der Besitz so in wah­rem Sinne des Wortes ein Besitz-Kreislauf wird, dann wird ein freies

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Vertragsverhältnis über die gemeinschaftliche Produktion zwischen Arbeiter und Arbeitsleiter erst möglich sein. Arbeiter und Arbeits­leiter wird es geben, Unternehmer und Arbeitnehmer nicht mehr.

Ich kann alle diese Dinge eben nur kurz skizzieren. Deshalb ge­statten Sie mir, daß ich auch noch darauf hinweise, daß als besonde­res Gebiet neben dem selbständigen Wirtschaftsgebiet, das auf der anderen Seite das selbständige politische Staatsgebiet, den Rechts­staat hat, der unabhängig, souverän neben dem Wirtschaftsgebiet steht, wie die Natur selbst, stehen wird das Geistesleben. Dieses Gei­stesleben, das kann sich nur seinen eigenen, wahren, wirklichen Kräften gemäß entwickeln, wenn es in der Zukunft auf seinen eige­nen Boden gestellt ist, wenn der unterste Lehrer bis hinauf zu dem höchsten Leiter irgendwelchen Unterrichts- oder Bildungszweiges nicht mehr abhängig ist von irgendeiner Kapitalgruppe oder von dem politischen Staat, sondern wenn der unterste Lehrer und alle diejenigen, die am geistigen Leben beteiligt sind, wissen: dasjenige, was ich tue, ist nur abhängig von der geistigen Organisation selber. Aus einem guten Instinkt heraus, wenn auch nicht gerade aus einer besonderen Schätzung der Religion, aus einem guten Instinkt heraus hat mit Bezug auf Religion die moderne Sozialdemokratie das Wort geprägt: Religion muß Privatsache sein. In demselben Sinne, so son­derbar das auch heute noch den Menschen klingt, muß alles geistige Leben Privatsache sein und auf dem Vertrauen beruhen, das diejeni­gen, die es entgegennehmen wollen, zu denjenigen haben, die es lei­sten sollen. Gewiß, ich weiß, viele Menschen fürchten heute, daß wir alle wiederum, respektive unsere Nachkommen, Analphabeten wer-den, wenn wir uns unsere Schule selber wählen können. Das werden wir schon nicht werden. Es haben ja heute vielleicht gerade Angehö­rige leitender Kreise, bisher leitender Kreise, recht viel Veranlassung, so über die Bildung zu denken; sie erinnern sich, was es ihnen für Mühe gemacht hat, das bißchen Bildung sich anzueignen, welches ihnen ihre gesellschaftliche Stellung sichert. Dasjenige aber, was der dreigeteilte soziale Organismus von den Menschen fordert, das wird gerade unter dem Einfluß des modernen Proletariats bei einem freien Geistesleben wahrhaftig nicht zum Analphabetismus führen.

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Ich bin völlig überzeugt davon, wenn man auf diese Weise zu ver­wirklichen in der Lage ist den völlig demokratischen Rechtsstaat, der das Arbeiterrecht sichert, in dem jeder Mensch über dasjenige, was gleich ist für alle Menschen, mitzuberaten hat, dann wird sich insbesondere das moderne Proletariat nicht dazu hergeben, den An­alphabetismus besonders zu predigen, dann wird es schon von sich aus auch in einem freien Geistesleben fordern, daß die Menschen nicht so zur Wahlurne geführt werden, wie es jetzt erzählt werden kann zuweilen aus einzelnen Gegenden eines Nachbarstaates, wo die Mönche und die Landpfarrer die Idioten- und Irrenanstalten aus­geräumt haben, um diejenigen Leute, die nicht einmal wußten, wie sie hießen, zur Wahlurne zu führen.

Wer an diese Dinge glauben und auf diese Dinge hoffen will, der muß allerdings den Glauben haben an wirkliche Menschenkraft und an wirkliche Menschenwürde. Wer wie ich sein ganzes Leben unab­hängig war von einer jeglichen staatlichen Ordnung, wer sich nie gefügt hat in eine Abhängigkeit von irgendeiner staatlichen Ord­nung, der hat sich auch die Unbefangenheit bewahren können für dasjenige, was als ein auf sich selbst gestelltes, vom Staate unabhängi­ges Geistesleben sich aufbauen läßt. Dieses Geistesleben, das wird nicht die individuellen menschlichen Fähigkeiten so pflegen, wie es das Luxusgeistesleben, die Ideologie des bisherigen Geisteslebens ge­tan hat. Das Geistesleben, das auf sich selbst gebaut ist, wird auch kein philiströses, kein bürgerliches Geistesleben sein, das wird ein Menschheits-Geistesleben sein, ein Geistesleben, das von den höch­sten, allerhöchsten Gliedern des geistigen Schaffens hinunterreichen wird bis in die einzelnen Details der menschlichen Arbeit und ihrer Leitung hinein; die Leiter der einzelnen Wirtschaftsgebiete, sie wer­den Zöglinge des freien Geisteslebens sein und aus diesem freien Geistesleben heraus nicht das entwickeln, was heute zum Unterneh­mergeist, zum Kapitalismusgeist geworden ist.

Arbeitsverträge gibt es, aber über die Arbeit kann man eigentlich keinen wirklichen Vertrag schließen. Dasjenige, was heute Arbeits­vertrag ist, ist eine Lebenslüge, denn in Wirklichkeit ist Arbeit nicht vergleichbar mit irgendeiner Ware. Daher muß man sagen: Wenn in

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der Zukunft irgendein Vertrag geschlossen werden soll, so wird er über das gemeinsam geleistete Produkt geschlossen werden, und man wird dann erst recht empfinden: Was war denn eigentlich die­ser bisherige Arbeitsvertrag? Auf was beruhte er? - Er beruhte auf keinem Recht, sondern auf einem Mißbrauch persönlicher, indivi­dueller Fähigkeiten. Im Grunde genommen war er eine Übervortei­lung. Aber Übervorteilung, woraus geht sie denn hervor? Aus der Klugheit, die das heutige Geistesleben vielfach gezeitigt hat. Dasjeni­ge Geistesleben, das ich mir denke, das auf sich selbst gestellt ist, das wird nicht diese Klugheit, das wird nicht die Lebenslüge, das wird Lebenswahrheiten zeitigen. Da werden keine Schutztruppen mehr für irgendwelche Throne und Altare herrschen, sondern da wird der Geist selber bis hinein in die einzelnen Menschenzweige die indivi­duellen Fähigkeiten des Menschen verwalten. Kapitalismus ist nur möglich, wenn das Geistesleben auf der andern Seite geknechtet sein kann. Wird das Geistesleben befreit, dann verschwindet in seiner heutigen Form der Kapitalismus. Ich wollte nachdenken, wie der Kapitalismus verschwinden kann. Sie können es in meinem Buch über die soziale Frage in einigen Tagen lesen, daß dieser Kapitalis­mus verschwinden wird, wenn das Geistesleben wirklich emanzi­piert ist und die Lebenswahrheiten an die Stelle der Lebenslüge gesetzt werden.

Im Grunde genommen klingt das, was ich Ihnen heute in einer kurzen Skizze auseinandergesetzt habe, seit langer Zeit durch die Menschheit hindurch. Ende des 18. Jahrhunderts erklangen wie eine gewaltige Devise in Frankreich die Worte: Freiheit, Gleichheit, Brü­derlichkeit. - Im Lauf des 19. Jahrhunderts haben ganz gescheite Leute immer wieder den Beweis geliefert, daß diese drei Ideen im so­zialen Organismus einander widersprechen. Freiheit auf der einen Seite fordert, daß die Individualität sich frei bewegen kann. Gleich­heit schließt diese Freiheit aus. Brüderlichkeit wiederum wider­spricht den beiden anderen.

Solange man unter der Hypnose des Dogmas stand: Der All­erhalter, Allumfasser, umfaßt er nicht dich und mich, sich selbst? Solange man unter der Hypnose dieses Einheitsstaatsgötzen stand,

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so lange waren diese drei Ideen Widersprüche. In dem Augenblicke, wo die Menschheit sich verständnisvoll finden wird für den dreige-teilten gesunden sozialen Organismus, werden sich diese drei Ideen nicht mehr widersprechen, denn dann wird herrschen auf dem Ge­biete des selbständigen, souveränen Geistesorganismus die Freiheit, auf dem Gebiete des Staatsorganismus, des Rechtsorganismus die Gleichheit aller Menschen, und auf dem Gebiete des Wirtschaftsor­ganismus die Brüderlichkeit, jene Brüderlichkeit im großen Stile, die auf den Produktions- und Konsumgenossenschaften beruhen wird, die beruhen wird auf den Assoziationen der einzelnen Berufe, die sachgemäß brüderlich das Wirtschaftsleben verwalten werden. Die drei großen Ideen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sie wer­den einander nicht mehr widersprechen, wenn die drei Gebiete, Gei­stiges, Rechtliches, Wirtschaftliches, selbständig zu ihrem Rechte ge­kommen in der Welt dastehen werden. Nehmen Sie das heute noch so auf als etwas, an das wenig gedacht wird, aber es ist keine Utopie, es ist nicht dasjenige, was irgendwie ausgedacht nur ist, sondern es ist dasjenige, was aus einer jahrzehntelangen Beobachtung der mo­dernen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Verhältnisse hat gewonnen werden können, von dem geglaubt werden kann, daß es im Schoße der Menschheitsentwickelung selber wie ein Keim ruht, der sich in der nächsten Zeit verwirklichen will. Und man kann wahrnehmen in den laut sprechenden Tatsachen der heutigen Tage, man kann wahrnehmen in den Forderungen des Proletariats, wenn auch vieles noch anders ausgesprochen wird, daß die Sehnsucht nach solcher Verwirklichung durchaus heute schon vorhanden ist.

Viele nennen das, was ich ausspreche, eine Utopie. Sie ist einem wirklichkeitsfreundlichen, einem wirklichkeitsgemäßen Denken ent­nommen. Diese Idee der Dreiteilung, sie ist keine Utopie. Sie kann überall von jedem sozialen Zustand aus sofort in Angriff genommen werden, wenn man dazu nur den guten Willen hat, an dem es heute leider so sehr häufig fehlt. Glaubt man, dasjenige, was ich aus-spreche, sei eine Utopie, dann möchte ich doch dem gegenüber dar­an erinnern, daß das, wie ich hier von dem gesunden sozialen Orga­nismus spreche, doch anders gesprochen ist, als gewöhnlich gespro­chen

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wird. Leute, die von sozialen Ideen sonst sprechen, stellen Pro­gramme auf. Ich denke nicht an ein Programm, ich denke nicht dar­an, gescheiter sein zu wollen als andere Leute und über alles das Be­ste zu wissen, wie man's machen muß und so weiter, sondern ich denke nur daran, die Menschheit, die sich selber zum Wahren, zum Guten, zum Zweckmäßigen entschließen soll, in der richtigen Wei­se zu gliedern. Und mir scheint, wenn sie so gegliedert ist, daß die Menschen drinnenstehen erstens in einem freien Geistesleben, zwei­tens in einem freien politischen Rechtsleben, drittens in einem sach­gemäß aus den wirtschaftlichen Kräften heraus verwalteten Wirt­schaftsleben, daß dann die Menschen aus sich selber heraus das Beste finden werden; nicht an eine Gesetzgebung über das Beste denke ich, sondern an die Art und Weise, wie die Menschen aufgerufen werden müssen, um durch sich selber dasjenige zu finden, was ihnen frommt. Ich denke auch nicht, wie manche geglaubt haben, an eine Wiedergeburt der alten Stände und Klassen: Lehrstand, Wehrstand, Nährstand - nein, das Gegenteil ist es, von dem ich hier rede. Nicht die Menschen sollen geteilt werden in Klassen. Klassen, Stände, sie sollen verschwinden dadurch, daß das Leben außerhalb des Men­schen, das objektive Leben gegliedert wird. Der Mensch aber ist die Einheit, der in alle drei Organismen hineingehört. In dem geistigen Organismus werden seine Anlagen, seine Fähigkeiten gepflegt. Im staatlichen Organismus findet er sein Recht. Im wirtschaftlichen Organismus findet er die Befriedigung seiner Bedürfnisse.

Ich glaube allerdings, daß der moderne Proletarier aus seinem Klassenbewußtsein heraus das wahre Menschheitsbewußtsein ent­wickeln wird, daß er Verständnis finden wird immer mehr und mehr für das, worauf hier hingewiesen worden ist: für die wahre Be­freiung der Menschheit. Und ich hoffe, daß wenn einmal ganz klar vor des modernen Proletariers Seele stehen wird, wie er gerade nach dem wahren Menschheitsziel hinzustreben berufen ist, daß er dann werden wird, dieser moderne Proletarier, nicht nur der Befreier des modernen Proletariats - das muß er ganz gewiß werden -, daß er werden wird der Befreier alles Menschlichen, alles desjenigen, was im Menschenleben wahrhaft wert ist, befreit zu werden. Das wollen

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wir hoffen, dahin wollen wir wirken. Wenn gesagt wird: Der Worte sind nun genug gesprochen, Taten wollen wir sehen - ich wollte heute in solchen Worten sprechen, die unmittelbar in Taten wirk­lich übergehen können.

Diskussion

1. Redner (Herr Handschin): Spricht sehr temperamentvoll von der Unterdrückung des Arbei­ters durch das Bürgertum. Das Bürgertum zwinge dem Proletariat die Gewalt auf. Das Privat­eigentum der Besitzenden ist durch die Arbeiter erarbeitet worden. Erst der Kommunismus werde Ruhe bringen.

2. Redner (Herr Studer): Weist auf die Ideen von Freigeld und Freiland hin, welche die Befrei­ung des Wirtschaftslebens ermöglichen sollen.

3. Redner (Herr Mühlestein): Zeigt, wie in Deutschland die alten Mächte wieder aufkommen und sich nichts geändert hat. Kritik an Sozialdemokratie und Zentrum. Kritik an der Drei-gliederung: Durch sie werde das Recht aus dem Wirtschafts- und Geistesleben herausgenom. men; Gerechtigkeit müsse aber in allen drei Gebieten, nicht nur im Rechtsstaat walten.

4. Redner: Will über einen «Schweizerischen Bund für Reformen der Übergangszeit» berich. ten; wird aber unterbrochen und damit die Diskussion geschlossen.

Rudolf Steiner: Sie werden bemerkt haben, daß die beiden ersten Diskussionsredner im Grunde genommen nicht etwas vorgebracht haben, wogegen ich nötig hätte, zu diskutieren, da ja, mindestens nach meinem Gefühl, dasjenige, was von den beiden Herren vorge­bracht worden ist, im wesentlichen zeigt - mir wenigstens -, wie sehr notwendig das ernst zu nehmen ist, was von mir versucht wor­den ist in einer vielleicht schwachen, aber ehrlichen Weise, in der ge­genwärtigen ernsten Zeit, soweit es menschenmöglich ist, zur Lö­sung der sozialen Frage beizutragen. Und daß dies notwendig ist, daß heute die Zeit dazu da ist, das werden Sie jedenfalls aus dem ha­ben entnehmen können, was gerade der erste Diskussionsredner aus einer gewiß warm empfundenen Seele heraus Ihnen vorgebracht hat.

Ich möchte deshalb, weil die Zeit schon weit vorgeschritten ist, nur noch auf einige wenige Punkte hier eingehen. Da ist von seiten des verehrten zweiten Diskussionsredners das Wort «Freiland, Frei-geld» gefallen. Sehen Sie, damit ist etwas angedeutet worden, mit dem es einem so geht wie mit sehr vielem in der Gegenwart, wenn

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man gerade auf solchen Wegen, wie ich sagte, auf Wirklichkeitswe­gen, der sozialen Frage sich nähern möchte, wie es in meinen Darle­gungen versucht worden ist. Ich bin bei solchen Gelegenheiten sehr häufig in der Situation gewesen, sagen zu müssen: Ich bin ja mit Ih­nen vollständig einverstanden; der andere sagt es nur gewöhnlich, oder wenigstens sehr häufig nicht zu mir! Die Sache ist nämlich so:

Wenn ich glauben würde, daß meine Ideen so einfach aus der Luft ir­gendwoher geholt seien, dann würde ich Sie nicht langweilen damit, dann würde ich glauben, daß sie längst nicht reif geworden sind. Das gerade ist es, was ich glaube, daß Wesentliches den Ihnen heute vor­getragenen Ideen anhaftet. Die Materie, die Bausteine dazu finden Sie überall. Ich habe den Vortrag ähnlich neulich in Bern drüben ge­halten. Ein Herr kam dazumal, nicht nur in der Diskussion, son­dern am nächsten Tag zu einer Unterredung zu mir, sprach auch über «Freiland, Freigeld». Wir konnten uns allerdings nach einer Stunde darüber verständigen, daß ja dasjenige, was eigentlich ge­wollt wird in der Regulierung der Währungsfrage, in der Herstel­lung einer absoluten Währung, einfach dann erreicht wird, wenn sachgemäß - allerdings sachgemäß - diese Dreiteilung durchgeführt wird, von der ich Ihnen heute gesprochen habe, wenn einfach die Verwaltung der Werte, die Verwaltung des Geldes weggenommen wird vom politischen Staate und in das Wirtschaftsleben hineinver­setzt wird. Wie gesagt, ich werde in meinem Buche «Die Kernpunk­te der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» zeigen, daß dann die Grundlage der Währung eine ganz andere sein wird als dasjenige, was sie heute ist, außerdem in­ternational wird. So lange natürlich der führende Staat, England, an der Goldwährung festhält, wird außenpolitisch die Goldwährung gelten müssen; aber im Innern werden diejenigen das Gold im sozia­len Organismus nicht mehr brauchen, die nun wirklich die eine wahre Währung haben; die einzig wirkliche wahre besteht nämlich in den Produktionsmitteln, die dann da sein werden, um Währung zu sein für das Geld. Das Geld verkennt man eben heute vollständig. Geld begreift man nur dann, wenn man es fassen kann als den vollen Gegensatz zu der alten Naturalwirtschaft.

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Was ist eigentlich für den heutigen sozialen Organismus das Geld? Es ist das Mittel, um gemeinsame Wirtschaft zu führen. Stel­len Sie sich nur einmal die ganze Funktion des Geldes vor. Sie be­steht darinnen, daß ich einfach für dasjenige, was ich selber arbeite, Anweisung habe auf irgend etwas anderes, was ein anderer arbeitet. Und sobald Geld etwas anderes ist als diese Anweisung, ist es unbe­rechtigt im sozialen Organismus.

Ich könnte, um das zu bestätigen, lange Ausführungen machen; ich will das aber nur kurz anführen: das muß das Geld werden! Es wird es werden, wenn alle übrigen Machinationen aufhören werden, die in die Zirkulation des Geldes hineinspielen. Denn lediglich das Geld ist der gemeinsame Index, der zu dem gemeinsamen Vergleich für die gegenseitigen Werte der Waren da ist. Das ist dasjenige, was auch durch die Art dieser Dreiteilung erreicht werden kann, und was partiell, einzeln angestrebt wird von der Freiland-Freigeld-Bewegung; deshalb habe ich in einem solchen Falle gesagt: Ich bin ganz mit dieser Bewegung einverstanden - weil ich immer versuche, die einzelnen Bewegungen in ihrer Berechtigung einzusehen, und ich möchte sie in einen gemeinsamen großen Strom leiten, weil ich eben nicht glaube, daß ein Mensch, oder selbst eine Gruppe von Menschen das Richtige finden kann, sondern weil ich demokratisch glaube, daß die Menschen zusammen in der Wirklichkeit, im Zusam­menwirken, allein richtig organisiert, erst das Rechte finden werden.

Das ist dasjenige, was ich als Wirklichkeitsansicht bezeichnet habe, nicht als irgendeine objektive Entwickelung ansehe. Aber ich glaube, daß der wirkliche Mensch aus seinem gesunden Menschener. leben heraus im Verein mit den anderen Menschen das finden wird, was dem sozialen Organismus frommt.

Wir haben eines, wovon jeder Mensch weiß, daß es nur im sozia­len Leben möglich ist - die heutigen Egoisten möchten wahrschein­lich auch das für sich haben -, das ist für einen geschlossenen Orga­nismus die Sprache. Immer wiederum wird in den Schulen gepredigt:

Wäre der Mensch auf einer einsamen Insel, einsam aufgewachsen, so würde er nicht sprechen können; denn Sprechen kann sich nur im sozialen Leben ausbilden. Man muß erkennen [... .], daß alle die

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Dinge, die sich verbergen hinter Privatkapital, Besitz, die sich ver­bergen hinter der Herrschaft über irgendeine Arbeit und derglei­chen, daß alle diese Dinge, auch die menschlichen Talente, die indi­viduellen Begabungen, genau so wie die Sprache, soziale Funktionen haben, daß sie ins soziale Leben hineingehören und nur innerhalb desselben möglich sind. Es muß eine Zeit kommen, wo das in den Schulen den Menschen schon klar wird, was sie durch den sozialen Organismus sind, und was sie daher verpflichtet sind, dem sozialen Organismus wiederum zurückzugeben. Worauf ich also zähle, das ist: soziales Verständnis, welches kommen muß, wie heute von den Schulen das Einmaleins kommt. Darinnen wird man auch noch um-lernen müssen. Es gab Zeiten, in denen man in den Schulen etwas ganz anderes gelernt hat als heute; man denke nur an die römischen Schulen. Es werden Zeiten kommen, wo man gerade das in den Schulen den Kindern schon beibringen wird, was soziales Verständ­nis ist. Weil dieses versäumt worden ist unter dem Einfluß der neue­ren Technik und des Kapitalismus, deshalb sind wir in die heutigen Zustände, in die krankhaften Zustände des sozialen Organismus hineingekommen.

Auch was Herrn Mühlestein betrifft, muß ich sagen, gleichfalls bin ich in der Lage, eigentlich gar nichts zu haben gegen das, was er vorgebracht hat; ich glaube nur, daß, wenn sich seine Ideen noch weiter ausbilden werden, sie dann einmünden werden in dasjenige, was ich gesagt habe.

Er hat zum Beispiel ganz und gar nicht ins Auge gefaßt, daß ich ja nicht - natürlich nicht! - aus dem Wirtschaftsleben und Geistesle­ben das Recht herausnehmen will. Nein, im Gegenteil, ich will es gerade drinnen haben. Und weil ich es drinnen haben will, deshalb will ich eine selbständige Sozialwissenschaft ausgebildet haben, wo es erst wirklich ausgebildet, erzeugt werden kann. Wenn es erzeugt worden ist, dann kann es in bezug auf die übrigen Gebiete wirken. Ein umfassendes Denken zeigt Ihnen das. Wenn Sie zum Beispiel folgendes ins Auge fassen: Heute denkt auch das naturwissenschaft­liche Denken noch nicht wirklich folgerichtig und sachgemäß mit Bezug auf den natürlichen menschlichen Organismus. Da denken

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die Menschen heute: die Lunge - ein Stück Fleisch; Hirn - auch ein Stück Fleisch, und so weiter. Die Wissenschaft sagt es zwar anders, aber sie sagt nicht viel anderes; denn für sie sind diese einzelnen Glieder des menschlichen Organismus Teile einer großen Zentrali­sation. Anderes sehen sie in Wahrheit nicht. Der Mensch als natür­licher Organismus ist ein dreigliedriges System: Wir haben einen Nerven-Sinnesorganismus. Das eine steht für sich zentralisiert da, hat seine eigenen Ausgänge bei den Sinnesorganen. - Wir haben ei­nen rhythmischen Organismus, den Lungen-Herzorganismus; er hat seine eigenen Ausgänge in den Atmungswegen. - Wir haben den Stoffwechsel-Organismus, der wiederum seinen eigenen Ausgang nach der Außenwelt hat. Und wir sind gerade dadurch dieser natür­liche Mensch, daß wir diese drei Glieder, diese drei in sich zentrali­sierten Glieder des Organismus haben.

Kann nun jemand kommen und sagen - wenn ich, wie ich es jetzt getan habe in meinem letzten Buche «Von Seelenrätseln», sage, daß einfach die sachgemäße naturwissenschaftliche Betrachtung diese drei Glieder des menschlichen natürlichen Organismus ergibt -, kann jemand kommen und sagen, die Natur hätte nicht diese drei Glieder entwickeln sollen, denn es komme darauf an, daß alle drei Glieder Luft haben? - Selbstverständlich haben alle drei Glieder Luft! - Wenn die Luft erst eingeat met wird durch die Lunge, und entsprechend verarbeitet wird; dadurch haben gerade die Stoffwech­selglieder und das Gehirn ihre Luft, daß diese Luft eingesogen und verarbeitet wird, und daher auch mit aller natürlichen Sorgfalt be­handelt werden kann in einem besonders abgetrennten Gliede des menschlichen natürlichen Organismus. Ich will nicht, wie Schaffe, oder wie jetzt wiederum Meray oder andere, dieses Analogiespiel treiben zwischen physiologischen und sozialen Begriffen, das fällt mir gar nicht ein; ich will nur darauf aufmerksam machen, daß ein durchgebildetes Denken auch den Menschen als natürlichen Orga­nismus nicht begreift, wenn man nur denkt: alles ist auf eines hin zentralisiert -, sondern man begreift den Menschen, wenn man seine drei in sich zentralisierten Organsysteme begreift.

Gerade dadurch ist der Mensch vollkommen, daß er diese drei in

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sich zentralisierten Organsysteme hat. Das wird ein großer Fort-schritt in der Naturwissenschaft sein, wenn man das einsehen wird! Und das Denken, das so gesund über den Menschen denkt, das denkt auch gesund über den sozialen Organismus, und empfindet gesund über den sozialen Organismus. Das Geistesleben wird am freiesten sein, und am besten organisiert, wenn es emanzipiert ist. Denn auf dem Gebiete des emanzipierten Geisteslebens finden sich schon die Menschen, die für dieses freie Geistesleben sorgen werden. Da werden diejenigen erstehen, welche tatsächlich diesem Geistesle­ben die nötige Herrschaft bringen werden. Diejenigen, die sie ihm nicht brihgen, sind eben die knechtisch vom Kapitalismus oder anderem Abhängigen. Diejenigen, die als Geistesverwalter frei sein werden, die werden den anderen beiden Gliedern auch die Segnungen des Geisteslebens bringen können.

Und so wird man, wenn Recht wirklich in einem für sich beste­henden, wirklich in sich zentralisierten Rechtsstaate erzeugt wird, nicht zu sorgen haben, daß die beiden anderen Glieder kein Recht haben, gewiß in günstiger Verteilung; in all den Dingen, die berührt worden sind von Herrn Mühlestein, muß Gerechtigkeit sein; die wird hineinkommen, wenn sie erst erzeugt ist.

Also nicht, um in einem abgesonderten Organ Recht zu haben, und in dem anderen nicht, nehme ich diese drei Teile, sondern gerade, um in allen dreien das Recht richtig zu haben, sehe ich die Notwendigkeit, daß es erst erzeugt wird.

Ich möchte wissen, ob irgend jemand sagen kann: In einem Hau­se, da sind Vater, Mutter, da sind Kinder, die Mägde; aber du teilst nun dieses Haus in Vater, Mutter, Mägde und zwei Kühe, die Milch geben, aber alle brauchen die Milch, also müssen alle Milch erzeugen, nicht bloß die zwei Kühe? - Nein, ich sage: Die Kühe müssen die Milch erzeugen, damit alle im Hause richtig mit Milch versorgt wer­den können. Und so muß der Rechtsstaat das Recht planmäßig ha­ben, das Recht erzeugen, dann werden dort die Rechte sein, wo sie gebraucht werden. Gerade dann werden sie es sein, wenn sie - ver­zeihen Sie den etwas trivialen Vergleich - an dem Rechtsstaat gemol­ken werden können!

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Das ist dasjenige, was ich betonen möchte; daß es heute darauf ankommt, nicht irgendwie Lieblingsideen nachzugehen, sondern gerade darauf ankommt, dasjenige, was in vielen Herzen pulst als Forderung, dasjenige, was in vielen Köpfen, wenn auch mehr oder weniger unbewußt, aus den Zeitkräften heraus schon vorhanden ist, zusammenzufassen, und das wirklich zu erfassen in den Impulsen, die als die großen Kräfte der Zeit da sind, die sich verwirklichen wol­len, die wir nun durch Vernunft verwirklichen sollten. Aber wollen wir sie nicht durch Vernunft verwirklichen, so wird das sie nicht hindern, in die Wirklichkeit überzutreten.

Sehr verehrte Anwesende, wir haben entweder die Wahl, eben vernünftig zu sein, oder auf eine andere Weise die Verwirklichung dessen abzuwarten, was sich verwirklichen muß, weil es sich aus den Kräften der Geschichte selbst heraus verwirklichen will.

In diesem Sinne glaube ich, daß allerdings das proletarische Be­wußtsein dazu geeignet ist, diese Forderungen, die in der Geschichte selbst liegen, zu erfassen und damit das, was ich zum Schlusse be­merkte, wirklich anzustreben und zu erreichen, soweit es Menschen möglich ist: die Befreiung alles desjenigen, was in der Menschheit wert ist, befreit zu werden.

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SOZIALES WOLLEN UND PROLETARISCHE FORDERUNGEN Fünfter Vortrag, Basel, 9. April 1919

Aus der Weltkriegskatastrophe heraus entwickelt sich eine mächtige Bewegung, welche getragen ist von den proletarischen Forderungen, und welche durch bedeutsame Tatsachen zu den Menschen heute spricht, durch Tatsachen, die bereits einen großen Teil Europas er­griffen haben, durch Tatsachen, die zweifellos durch gewisse soziale Neueinrichtungen der Menschheit bewältigt werden müssen. Die Frage känn entstehen, gerade dann, wenn man den anfänglichen Verlauf dieser laut sprechenden Tatsachen ins Auge faßt: Zeigt sich auch irgendwo schon ein einigermaßen ausreichendes soziales Wol­len, ein solches soziales Wollen, welches hervorgeht aus einem tiefe­ren Verständnisse unserer gegenwärtigen geschichtlichen Weltlage? Denn auf ein solches soziales Wollen scheint es doch anzukommen.

Deshalb erfüllte es mich mit einer großen Befriedigung, daß ich heute über die Beziehungen der proletarischen Forderungen zu dem notwendigen sozialen Wollen auf Einladung hiesiger Studierender dasjenige von einem gewissen Gesichtspunkte aus aussprechen darf, was ich, der Gegenwart damit dienen wollend, in meiner demnächst erscheinenden Schrift: «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Le­bensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» ausgeführt habe.

Daß wir es bei der erwähnten Bewegung mit einer tief eingreifen­den, weltgeschichtlichen Erscheinung zu tun haben, das scheint ja daraus hervorzugehen, daß sich in dem, was heute geschieht, so etwas wie eine Verwirklichung jenes Programmes, das vor siebzig Jahren durch die Welt gegangen ist, und das ja bekannt ist als das marxisti­sche Kommunistische Manifest, zeigt. Ob man das, was durch diese beiden Grenzpunkte unserer neueren Zeitentwickelung ausgedrückt ist, durch die Ausführungen des Kommunistischen Manifestes von 1848 und durch dasjenige, was heute sich über Europa wälzt, ob man das in der einen oder in der anderen Weise, nach seiner Lebens-lage, nach seinen Lebensanschauungen so oder so auffaßt, darauf kommt es heute wohl weniger an. Worauf es ankommt, das ist, daß

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wir vor laut sprechenden Tatsachen stehen, vor Tatsachen, denen gegenüber unbedingt Stellung genommen werden muß. Und Stel­lung wird nehmen müssen dasjenige, was sich ergeben kann für die nächsten Jahre, für die nächsten Jahrzehnte gerade aus jener Umfor­mung des wissenschaftlichen und Weltanschauungsdenkens, welche notwendig werden wird wie manches andere unter dem Einfluß dieser laut sprechenden Tatsache der Gegenwart.

Das ist es, warum ich ganz besonders gern über diese Frage zu Studierenden spreche, die da sein wollen Mitträger desjenigen, was sich herausentwickeln kann aus unserem gegenwärtigen wissen­schaftlichen und Weltanschauungsdenken in das Denken, in das Erkennen der Zukunft hinein.

So wie heute dasjenige, was man gewöhnlich als soziale Frage bezeichnet, sich ausnimmt, so kann man sagen, daß es zunächst in zwei bedeutsamen Forderungen auftritt. Beide Forderungen sind ei­gentlich, so wie sie auftreten, hinweisend auf Erscheinungen unseres Wirtschaftslebens. Man kann sagen: Die eine Forderung gipfelt dar­innen, daß jene Leitung des Wirtschaftslebens der zivilisierten Welt, welche sich herausgebildet hat im Laufe der neueren Zeiten durch das Privatkapital, abgelehnt wird. Und als zweites kann man feststel­len, daß eine neue Einstellung zur menschlichen Arbeitskraft im sozialen Leben von dem Proletariate gefordert wird.

Nun, wenn es auch zunächst diese zwei bedeutsamen wirtschaftli­chen Erscheinungen sind, in denen sich die soziale Bewegung heute auslebt, so ist damit noch nicht gesagt, daß nur innerhalb wirtschaft­licher Impulse dasjenige liegen kann, was notwendig ist, um die so­ziale Frage heute und in der nächsten Zukunft zu bewältigen. Aller­dings, so wie sich das Leben der zivilisierten Menschheit im Laufe der neueren Zeit entwickelt hat, zeigt es sich, wie vorzugsweise die menschlichen Kräfte, alles menschliche Streben in Anspruch ge­nommen wurden durch dasjenige, was sich durch die wirtschaftliche Entwickelung ergab. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß der bedeutsamste Denker der proletarischen Welt - denn das ist er auch heute noch -, Karl Marx, vor allen Dingen den Blick auf das wirtschaftliche Leben gerichtet hat.

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Ihm, Karl Marx, dürfen wir einige Minuten der Aufmerksamkeit zuwenden, nicht aus dem Grunde, weil ich etwa glauben würde, daß die modernen proletarischen Forderungen durch das entstanden sind, was das Proletariat etwa gelernt habe von Karl Marx, sondern aus dem Grunde, weil dasjenige, was in den innersten Empfindun­gen, in den Grundimpulsen des Seelenlebens des modernen Proleta­riats erst langsam im Laufe der neueren Jahrhunderte, dann schnell im Laufe des 19. Jahrhunderts heraufgezogen ist, weil das bis heute doch am intensivsten in den Anschauungen von Karl Marx zum Ausdrucke gekommen ist, weil er der Interpret desjenigen ist, was mehr oder weniger unbewußt oder bewußt in Millionen von Men­schen heute lebt.

Nun, gerade weil in den letzten siebzig Jahren in den Seelen die­ser Millionen von Menschen immer mehr und mehr diejenigen Im­pulse herangereift sind, die Karl Marx prophetisch schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann später ausgesprochen hat, gerade deshalb erscheint seine Anschauungsweise den führen­den Persönlichkeiten der Proletariermassen so einleuchtend. Ihm, Karl Marx, erschien dasjenige, was geschehen muß in der neueren Zeit, hervorzugehen - es ist das ja in den weitesten Kreisen bekannt -aus jener Entwickelung, welche das Wirtschaftsleben in den letzten Jahrhunderten, durch die Entwickelung der modernen Technik und Industrie, sowie durch die Leitung dieser industriellen und techni­schen Betriebe, Betriebsamkeiten durch das Privatkapital genom­men hat. Ihm erschien überhaupt der ganze Hergang der Mensch­heitsentwickelung so, daß sich im Laufe geschichtlicher Epochen immer ablösen Wirtschaftsformen durch Wirtschaftsformen. Dieje­nige Wirtschaftsform, welche sich auf Grundlage kapitalistischer Anschauungen in der neueren Zeit entwickelt hat, die denkt sich Karl Marx bis zu ihrer eigenen Auflösung hin sich drängend; so daß diese Wirtschaftsordnung, die immer mehr und mehr nötig hat, gro­ße Massen der Menschheit zu proletarisieren, dieses Proletariat ge­gen sich selber aufrufen wird, weil die Formen des Wirtschaftsle­bens, die sich herausgebildet haben, ihre Auflösung finden müssen durch die produktiven Kräfte, die sich innerhalb dieser Wirtschaftsformen

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bilden. Die produktiven Kräfte wandeln sich fortwährend. Die Wirtschaftsformen streben danach, konservativ zu bleiben. Endlich kommt der Zeitpunkt, wo die produktiven Kräfte nicht mehr in der Lage sind, in die alten Wirtschaftsformen sich hineinzu­fügen.

Einen solchen Zeitpunkt glaubt Marx herannahen zu sehen, in­dem er erkannt hat, wie das Proletariat mit seinen produktiven Kräften diejenige Wirtschaftsordnung zerreißen wird, in die dieses Proletariat selbst eingespannt worden ist.

Dasjenige, was als Charakteristisches dabei zugrunde liegt, das ist, daß Karl Marx in der wirtschaftlichen Entwickelung selbst gewisser­maßen die treibenden Motoren sieht, welche das Proletariat vorwärts-bringen zu denjenigen Punkten, die dann eine neue Wirtschafts-, das heißt aber für ihn eine neue Weltordnung herbeiführen werden.

Nun ist mit dem, was sich Karl Marx als die Umformung des mo­dernen Wirtschaftslebens denkt, auch selbstverständlich die Umfor­mung alles desjenigen verbunden, was den Umfang des Staatslebens ausmacht, und die Umformung alles desjenigen, was das geistige Leben ausmacht. Denn Karl Marx denkt über die Entwickelung der Menschheit durchaus im Sinne des modernen naturwissenschaftli­chen Denkens. Er ist von der Anschauung älterer sozialistisch den­kender Menschen durchaus abgekommen, welche damals geglaubt haben, daß das Wichtigste das menschliche Wollen sei, welches ein­greift in das Gefüge des menschlichen gesellschaftlichen Lebens. Karl Marx glaubt, daß die Menschen im Grunde wollen müssen, so wie ihnen dieses Wollen durch die Notwendigkeit der Wirtschafts­ordnung bestimmt ist. Und aus der Wirtschaftsordnung selbst, aus der Art und Weise, wie die Menschen produzieren, wie die Men­schen wirtschaften, bilden sich die staatlichen Ordnungen, bildet sich das Recht, bildet sich Sittlichkeit und so weiter, bildet sich auch, wie ein Überbau, wie etwas, welches das wirtschaftliche Leben bloß spiegelt, dasjenige, was man geistige Kultur nennt. Und man kann nun heute, wenn man dasjenige kennt, was in den Seelen pro­letarischer Menschen vorgeht, sagen: In weitesten Kreisen ist diese Anschauung verbreitet; der Mensch ist in das Wirtschaftsleben eingespannt,

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und das Wirtschaftsleben, die Art und Weise, wie er sich ernährt, wie er sein übriges Leben führen kann, das bestimmt, wie er zufrieden ist mit der rechtlichen Ordnung, welche rechtliche Ord­nung sich überhaupt bilden kann. Das Wirtschaftsleben bestimmt auch, wie er denkt, wie er fühlt, was er in der Kunst, was er in der Wissenschaft hervorbringt.

So ist es für weite Kreise geworden; in weitesten führenden Krei­sen des Proletariats besonders gilt dasjenige, was Geistesleben ist, als eine Ideologie. Dieses Wort Ideologie hört man immer wieder und wiederum, wenn der Proletarier gerade das bezeichnen will, was er als Geistesleben ansieht. Das auf der einen Seite.

Auf der anderen Seite wendet der Proletarier dem Staatsleben sei­ne Aufmerksamkeit zu. Er findet aber in diesem Staatsleben dasjeni­ge ausgeprägt, was er bezeichnet - wiederum nach dem Vorgange von Karl Marx - als die alles beherrschenden Klassenkämpfe. Und er wendet zuletzt seine Aufmerksamkeit dem Wirtschaftsleben zu, das ihm am allernächsten liegt, weil er unmittelbar in dasselbe einge­spannt ist. Und indem er gerade durch dieses Wirtschaftsleben ganz und gar sein Leben in Anspruch genommen findet, entwickelt er das, was er ausspricht mit den Worten «marxistische Geschichtsauf­fassung». Diese entwickelt er aus seiner Überzeugung, daß im Grun­de genommen der ganze geschichtliche Verlauf der Menschheit aus wirtschaftlichen Kämpfen besteht, von Formen des Wirtschaftsle­bens geprägt ist, und daß alles übrige von diesem materiellen Leben abhängig ist. Und das steht wiederum im Zusammenhang mit der Empfindung, die er von der Kultur der leitenden, der führenden Kreise hat, in die er mit seiner Seele doch nicht eindringen kann, die ihm selbst in ihrer wissenschaftlichen Strenge wie eine Art Luxus-kultur oftmals vorkommt und die er als Ideologie empfindet.

Heute stehen wir in einem Entwickelungspunkt der europäischen Kultur, wo wir tiefer fragen müssen als in sozialistischen und nicht­sozialistischen Kreisen seit siebzig Jahren gefragt worden ist, wo wir tiefer fragen müssen: Was liegt eigentlich dieser Anschauung des Proletariats zugrunde, dieser Anschauung, daß alles geistige Leben eine Ideologie ist, daß alles Staatsleben in Klassenkämpfen verläuft,

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daß alles, was wirkliche Geschichte ist, nur ein Ergebnis des materiel­len Entwickelns ist? - Dem Materialismus in seinen verschiedensten Formen zugeneigt war gerade jenes Denken der neueren Mensch­heit, in das auch Karl Marx mit seinen Ideen, mit all seinen Impulsen geleitet worden ist.

Nun kann man fragen: Warum ist denn gerade die Ideenrichtung dieser bedeutenden, dieser einschneidenden Denker in die Bahn ge­lenkt worden, welche einzig und allein das Wirtschaftsleben als das Maßgebende für alle menschliche Entwickelung anschaut? Wodurch ist denn das Denken des modernen Proletariers selbst auf die gleiche Bahn gedrängt worden?

Wer die Entwickelung der neueren Zeit nicht nach der konventio­nellen Geschichte, sondern nach dem, was heute schon ein tieferer geschichtlicher Blick geben könnte, studiert, der findet allerdings ei­ne sehr, sehr merkwürdige Erscheinung, welche ihn nahebringen kann der Lösung der gerade eben aufgeworfenen Frage.

Das Wirtschaftsleben der neueren Zeit hat allerdings, könnte man sagen, einen Gang genommen, den man begreifen kann, wenn man ihn zu begreifen versucht so, wie man wissenschaftliche Tatsachen begreift. Man kann nicht sagen von diesem Wirtschaftsleben, es hät­te nicht unterlegen einer bestimmten naturwissenschaftlich zu be­greifenden Notwendigkeit, so wie es sich entwickelt hat, man kann nicht einmal sagen, wenn man sachgemäß die Dinge untersucht:

dieses Wirtschaftsleben als solches könnte anders sein. - Dann aber käme man, wenn man dabei stehenbleiben wollte, zu einer außer­ordentlich pessimistischen Anschauung des Lebens.

Andere Fragen aber entstehen. Nur eingeschränkt, ich möchte sa­gen, wie hypnotisiert war der Blick, waren die Kräfte des Menschen auf das Wirtschaftsleben hin.

Andere Gebiete des Lebens haben eine Entwickelung genommen, die heute gar sehr anders angesehen werden muß als die bloße wirt­schaftliche Entwickelung. Es lag in der ganzen Anschauungsweise der neueren Zeit, gewissermaßen die Wirtschaft als das anzusehen, woraus auch die beiden anderen Hauptzweige des menschlichen Lebens sich ergeben: das Staatsleben und das Geistesleben.

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Man möchte sagen, nach naturwissenschaftlichen Vorurteilen wurde es für Karl Marx und seine Anhänger klar: das Wirtschafts­leben enthält die Ursachen. Aus diesen Ursachen heraus entwickelt sich die Gestaltung des Staats- oder Rechtslebens, entwickelt sich das geistige Leben. Aber ist das so? Dieses ist die große Frage. Heute ste­hen wir bereits an dem Wendepunkt, wo es notwendig ist einzuse­hen, daß diese ganze Fundamentalbetrachtung radikal falsch ist, daß es unmöglich ist, aus dem Wirtschaftsleben die beiden anderen Zweige des Gesamtmenschenlebens wie aus dessen Wirken heraus zu begreifen, wie es unmöglich ist, das Staats- oder Rechtsleben aus dem Wirtschaftsleben heraus zu begreifen, es unmöglich ist, das gei­stige Leben aus dem Wirtschaftsleben heraus zu begreifen.

Das ist gerade die Eigentümlichkeit der neueren Zeit, daß diese neuere Zeit in ihrer Welt- und Lebensanschauung nichts gehabt hat, was es ihr möglich gemacht hätte, über dieses Vorurteil hinauszu­kommen, daß das Wirtschaftsleben allem anderen menschlichen Leben zugrunde liegt.

Drei Seiten eines Tieferen, in der Menschennatur tiefer Begrün­deten stellen sich dar als Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschafts­leben. Nebeneinander stehen sie. Das ist dasjenige, was wir anfan­gen müssen zu begreifen. Aufgeräumt muß werden - das wird den proletarischen Forderungen einimpfen das soziale Wollen -, auf­geräumt muß werden mit dem nur aus der Naturwissenschaft, aus naturwissenschaftlichen Vorurteilen folgenden Irrtum, als ob in der Wirtschaftsordnung die ursächliche Grundlage für die beiden anderen Lebensgebiete, für das Rechtsgebiet und das Geistesgebiet liege.

Wer dieses einsehen will, der muß den Blick vor allen Dingen auf eines richten. Sehen Sie hin auf die Art und Weise, wie sich das neu­zeitliche Denken, das neuzeitliche Anschauen der Welt entwickelt hat. Mehr als man glaubt, ist verbunden dieses Denken, dieses An­schauen der Welt, mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn ich der Auffassung wäre, daß das praktische Leben, die äußere Lebenspraxis irgendwie abhängig wären von Theorien, von An­schauungen, von Begriffen und Ideen, so wie sich das aus einer einsei­tigen

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Philosophie heraus denken läßt, dann würde ich diese Bemer­kung, die ich eben gemacht habe, gar nicht machen. Aber so sehe ich den geschichtlichen Verlauf nicht an. Mir erscheint dasjenige, was sich im ganzen Umkreis des Lebens, dieses Leben gestaltend, dieses Leben impulsierend, ausdrückt, das scheint mir mehr oder weniger sogar nur symptomatisch in der Denkweise einer Zeit zum Aus. drucke zu kommen; so daß ich niemals das praktische Leben ablei­ten möchte von der Denkweise, aber behaupten möchte, daß die Denkweise, die Anschauungsart ein deutlicher symptomatischer Ausdruck für dasjenige ist, was in den Tiefen der Menschenseele vorgeht und das äußere, auch das praktische, zuletzt das wirtschaft­liche Leben gestaltet.

Eingeflossen in diese Denkweise in allen Lebenskreisen ist dasje­nige, was man naturwissenschaftliches Denken nennen könnte. Wor­auf aber allein bezieht sich das naturwissenschaftliche Denken? In bezug auf diese Frage sind heute noch viele Vorurteile vorhanden, und ich glaube, daß diejenigen, die heute in dieser Denkweise leben, sehr erstaunt sein werden, in welche Veränderungen der heutigen Anschauungsweise sie hineinwachsen werden. Was man heute gera­dezu für axiomatisch hält, geradezu für absolut gültig hält, es wird ganz sicher angefochten werden, es wird ganz sicher bedeutsame, mächtige Metamorphosen erfahren. Wie denken auf einem weiten Gebiete heute gerade verständig denkende Naturforscher? Wie den­ken sie auf einem bestimmten Gebiete? Sie denken: Wir begreifen heute eigentlich noch nicht das Leben, nicht die Seele; wir begreifen im Grunde genommen nur alles dasjenige, was innerhalb der Zeit-ordnung unlebendig ist, nun, sagen wir, was das Tote ist. Aber als ein Ideal sieht man an, daß aus dem immer weitergehenden Begrei­fen des Toten auch so etwas sich entwickeln werde, wie das Begrei­fen des Lebendigen.

Das aber wird man einsehen müssen, daß die ganze Anschauungs-weise, wie wir sie in den letzten drei bis vier Jahrhunderten entwik­kelt haben, wie sie der Nerv naturwissenschaftlichen Vorstellens ist, daß diese ganze Anschauungsweise nur geeignet ist, das Tote zu be­greifen. Gerade deshalb ist die Naturwissenschaft so groß geworden,

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weil diese Denkweise geeignet ist, das Tote zu begreifen, alles Tote, welches auch in die Pflanzen, Tiere, Menschen, in alles Lebendige eingebettet ist. Wir verstehen durch die Naturwissenschaft nur das in allem vorhandene Tote.

Diese Denkweise, welche gerade die Naturwissenschaft so groß gemacht hat, sie ruiniert, sie korrumpiert alles dasjenige, was sozia­les Denken ist und was die Grundlage des sozialen Wollens sein muß, aus dem einfachen Grunde, weil das soziale Wollen sich richten muß auf den lebensfähigen sozialen Organismus. Begreifen wir aber nicht einmal das Lebendige in der äußeren Natur, wie soll dieses Denken geeignet sein, die Lebensfähigkeit des sozialen Organismus irgend­wie herbeizuführen? Mit dem innersten Gefüge des neuzeitlichen Denkens hängt es zusammen, daß der Mensch seine Ratlosigkeit, seine Unbeholfenheit gegenüber dem sozialen Leben zugestehen muß. Da muß vor allen Dingen eine Metamorphose des innersten menschlichen Anschauens, des innersten menschlichen Denkens eintreten, damit der Mensch nicht mehr so ratlos und unbeholfen den Dingen gegenübersteht.

Derjenige, der heute vorurteilslos auf all dasjenige hinsieht, was da oder dort als sozial Neues sich geltend macht, der hat eigentlich das Gefühl, daß auflebt auf einem anderen Gebiete dasjenige, was Goethe im zweiten Teil des «Faust» in seiner Homunkulus-Szene als mittelalterlichen Aberglauben so schön dramatisch verkörpert hat. In diesem Mittelalter glaubte man, daß der menschliche Organismus selber hergestellt werden könne durch Zusammenfügung toter Stof­fe und toter Kräfte, nach einem menschlichen Verstande, der selber eigentlich nur Herrschaft über das Tote hat.

Von diesem ist man als von einem Aberglauben abgekommen; aber es ist so, als wenn sich ein Aberglaube der Menschen von einem Gebiet hin verpflanzen wollte auf ein anderes Gebiet. Und das, was sich heute vielfach geltend macht als soziale Anschauung, es kommt einem vor wie eine Homunkulus-Theorie, wie wenn man keine Begriffe hätte von dem, was als lebender sozialer Organismus sich gestalten soll, wie wenn man diesen sozialen Organismus nur zu­sammenfügen möchte so, wie der mittelalterliche Alchimist den

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Homunkulus zusammenfügen wollte aus demjenigen, womit man sich durchdrungen hat als der nur auf das Tote gehenden naturwis­senschaftlichen Denkweise. Das ist vor allem dasjenige, was über­wunden werden muß.

Neben die wirtschaftliche Entwickelung der Menschheit stellt sich die staatliche Entwickelung hin, die neben anderem vorzugs­weise in der Ausgestaltung des Rechtes besteht, und es stellt sich hin das geistige Leben. Wie ich gesagt habe, die wirtschaftliche Entwik­kelung, sie kann naturwissenschaftlich begriffen werden. Können es auch die beiden anderen Zweige des menschlichen Gesamtlebens? Kann es das Rechtsleben? Kann es das geistige Leben? - Diese Frage beantwortet sich, wenn man die Gestaltungen dieser beiden Lebens-zweige in der neueren Zeit ein wenig ins Auge faßt. Als vor drei bis vier Jahrhunderten zu gleicher Zeit mit der technischen und kapita­listischen Entwickelung auch die neuere Weltanschauungsrichtung heraufkam, da war es so, daß das ganze Denken der Kreise, welche die Führenden waren, dahin drängte, in das staatliche Leben einzu­beziehen immer mehr und mehr auf der einen Seite das geistige Leben, auf der anderen Seite das wirtschaftliche Leben.

Das geistige Leben ist im Grunde genommen bis zu einem hohen Grade schon in das staatliche Leben eingeflossen. Man sieht gerade­zu den eigentlichen Fortschritt der neueren Menschheitsentwicke­lung darinnen, daß man die geistigen Lebenszweige, die früher mehr oder weniger selbständig waren, selbständig sich entwickelt haben, eingespannt hat in die staatliche Rechtsordnung. Wie stolz ist man darauf, um nur eines zu erwähnen, daß man es dahin gebracht hat, das ganze Schulwesen in die staatliche Rechtsordnung hineinzu­zwängen.

Mit dem Wirtschaftsleben ist es nicht so schnell gegangen; aber man hat es doch als einen wesentlichen Fortschritt angesehen, daß in das staatliche Gefüge hineingespannt worden sind die großen Ver­kehrsanstalten, Post, Telegraph, Eisenbahn; und je nachdem die leitenden, die führenden Kreise aus ihrem Interesse heraus das ange­messen fanden, haben sie immer mehr und mehr von dem Wirt­schaftsleben hineingezwängt in das staatliche Leben.

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Weil nun der Blick wie hypnotisch auf dieses Wirtschaftsleben hingerichtet ist in der neueren Zeit, und weil das Proletariat vor­zugsweise in dieses Wirtschaftsleben eingespannt ist, entstand für das Proletariat das Ideal: den Staat nun für sich so in Anspruch zu nehmen, wie früher die leitenden Kreise diesen Staat in ihrem Interesse in Anspruch nahmen und diesen Staat, wie er sich her­ausgebildet hat aus allen möglichen alten Formen, als Rahmen zu benutzen, um nun das gesamte Wirtschaftsleben wie eine gewaltige Genossenschaft hineinzuzwängen in diesen modernen Staat.

Man kann geradezu zeigen, wie immer mehr und mehr unter die­ser wirtschaftlichen Hypnotisierung auch die moderne proletarische Frage sich entwickelt hat. Man blicke nur zurück noch in die achtzi­ger Jahre, in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts! Was galt da in den Klassen der Sozialdemokratie in Deutschland, was galt da dieser Sozialdemokratie als Ideal?

Nun, die beiden Hauptpunkte dieses sozialdemokratischen Idea­les waren etwa bis in die neunziger Jahre hinein erstens: Abschaf­fung aller sozialen und politischen Ungleichheit; zweitens: Abschaf­fung der eigentlichen Lohnverhältnisse, der Lohnarbeit. Das waren zwei, ich möchte sagen, aus einem allgemeinen Menschheitsbewußt­sein hervorgehende Forderungen. Diese zwei Forderungen sind noch nicht vollständig durchdrungen von der Nuance, die nur nach dem wirtschaftlichen Leben hin orientiert ist. In den neunziger Jah­ren kommen an die Stelle dieser beiden Ideale, die ich soeben ge­nannt habe, zwei wesentlich andere: erstens Verwandlung alles Pri­vateigentums an Produktionsmitteln in Gemeineigentum; zweitens Umwandlung der Warenproduktion in eine sozialistisch durch und für die Gesellschaft geleitete und geführte Produktion. Ganz ausge­laufen in ein rein wirtschaftliches Programm sind da die sozialdemo­kratischen Forderungen.

So, möchte ich sagen, zeigt sich gerade in ihrem heutigen Wirt­schaftsprogramm die Sozialdemokratie als die letzte Vollstreckerin desjenigen, was im Grunde genommen die bürgerliche Weltanschau­ung im Laufe der letzten Jahrhunderte ausgebildet hat.

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Nur derjenige sieht eigentlich das, was innerhalb des heutigen Proletariats als Forderung lebt, in der richtigen Weise an, der sich klar darüber wird, daß diese Forderungen nichts anderes sind als die letzte Konsequenz desjenigen, was die bürgerliche Weltordnung, die bürgerliche Wirtschaftsordnung bis zum heutigen Tage herausgebil­det hat. Aber noch weiter ging es.

Was ich Ihnen gerade vorhin charakterisiert habe als die neuere Weltanschauung, die ganz durchdrungen ist von den Impulsen der Naturwissenschaft, das ist es ja auch, was innerhalb der bürgerlichen Kreise sich im Laufe der letzten Jahrhunderte immer wieder und als die allem zugrunde liegende Welt- und Lebensanschauung gebildet hat. Woher haben die führenden Geister der Proletarier dasjenige, was sie heute denken, dasjenige, was sie in alles, was ihr soziales Wollen ist, hineingetragen? Sie haben es aus dem Erbgut der bürger­lichen wissenschaftlichen Vorstellungsart.

Man darf schon sagen: Bisher war die Entgegennahme der bürger­lichen wissenschaftlichen Orientierung das letzte große Vertrauen, welches die proletarischen Kreise diesem Bürgertum entgegenge­bracht haben, im Grunde genommen bis heute entgegengebracht haben. Denn übernommen haben sie die bürgerliche Weltanschau­ung. Und mit dieser bürgerlichen Weltanschauung wurden sie an die Maschinen gestellt, wurden eingespannt in das verödende Leben, in das für sie verödende Leben des Kapitalismus, wurden weggeris­sen von all denjenigen Berufsarten, die den Menschen die Frage beantworten: Was bin ich eigentlich in der Welt? Neben der Ma­schine in ihrer Seelenlosigkeit und innerhalb der kapitalistischen Ordnung, in der man ein Rad ist, beantwortet sich nicht die Frage:

Was bin ich eigentlich als Mensch innerhalb der menschlichen Entwickelung?

Da entstand für den Proletarier vor allen Dingen die Forderung, von der Wissenschaft, von wissenschaftlicher Orientierung aus selbst die Antwort auf diese Frage zu erhalten. Ganz etwas anderes als für die bürgerlichen Kreise wurden die Bilder der neueren Weltanschau­ung für den Proletarier. Der Angehörige der bürgerlichen Kreise steht noch darinnen in einer Wirtschafts-, in einer Lebensordnung,

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die im Grunde genommen überall die Tradition, die Überlieferun­gen des Alten enthält. Er mag noch so sehr überzeugt sein von dem­jenigen, was unter dem alleinigen Einflusse der naturwissenschaftli­chen Denkweise in der neueren Zeit sich ergeben hat, den ganzen Menschen erobert es bei ihm nicht; er hat von woanders her religiö­se, geistige, künstlerische oder sonstige Impulse neben dieser moder­nen wissenschaftlichen Orientierung dastehen. Für den Proletarier ist diese moderne wissenschaftliche Orientierung dasjenige, das ihm die Frage beantworten soll: Was bin ich als Mensch?

Oh, hat man hineingesehen in zahlreiche Proletarierseelen, in sol­che Seelen, die sich ihr Menschengefühl und ihre Sehnsucht nach Menschenwürde bewahrt haben, dann weiß man, wie sie lechzen da­nach, gerade von der modernen wissenschaftlichen Orientierungs­seite her die Frage beantwortet zu bekommen: Was bedeute ich in der Welt als Mensch? - Dann stellt sich hin vor diese Seelen dasjeni­ge, was in dem Ausdruck «Ideologie» schon gegeben ist: ein Geistes­leben, das dem Menschen nicht verbürgt seinen Zusammenhang mit der geistigen Welt, ein Geistesleben, das nur in unwirklichen Ideen, nur in einer Ideologie bestehen soll; es kann die Seelen nicht tragen. Das mag der Einzelne nicht wissen, die Wirkung davon ist in der Seele! Das ist dasjenige, was die Seelen verödet, daß das Proletarier­tum von dem Bürgertum und den leitenden Kreisen ein Denken, eine Weltanschauung übernommen hat, die den Menschen nicht ausfüllen kann, daß der Proletarier, der weggerissen worden ist von den alten Lebensordnungen, nicht glauben kann, nicht verbunden sein kann mit den alten Überlieferungen, an denen noch die anderen hängen, und daß diese naturwissenschaftliche Denkweise, die nur das ist, was das Tote begreifen kann, ihm doch keine Antwort geben kann auf die Frage nach den höchsten Dingen, nach denen er doch mehr oder weniger unbewußt sich sehnend fühlt, nach dem Leben der eigenen Seele innerhalb der Weltenordnung. Das ruht im Grun­de in jeder Proletarierseele; mag sich dasjenige, was daraus kommt, in noch so schlimmen Formen ausleben, das ruht auf dem Grund der Proletarierseelen. Und selbst dasjenige, was als Ausschreitungen der heutigen sozialen Bewegung sichtbar wird, es wird nur deshalb

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sichtbar, weil jene Seelenöde vorhanden ist, die unter dem Einflusse des eben Geschilderten gekommen ist.

Sehen wir uns an: Wie haben sich in der letzten Zeit die Lebens­weisen, denen der Mensch schon auch etwas verdanken muß neben der naturwissenschaftlichen Ordnung, die dem Proletarier das eben Geschilderte brachte, wie haben sich diese entwickelt? Gewiß, der Glaube an den Staat, so wie er sich im Laufe der neueren Zeit erge­ben hat, der ist fest verankert in vielen Seelen, die durchaus nicht umlernen wollen, der Glaube an den Staat, der am besten alles unter seine Fittiche nehmen würde, was auch Wirtschafts-, was auch Gei­stesleben ist! Weil dieser Glaube so tief verankert ist, deshalb wird von den Tatsachen so wenig gelernt. Sprechen denn nicht eigentlich die letzten viereinhalb Jahre allzu deutlich von dem, was die Staaten mit ihren Missionen erreicht haben über einen großen Teil der Erde hin? Die Zeiten werden eintreten müssen, in denen man sehen wird, daß dasjenige, was man als furchtbarste Weltkatastrophe erlebt hat, eine Folge der Struktur der ganzen Organisation der modernen Staa­ten ist. Und untersucht man, was dazu geführt hat, daß die Staaten durch ihr eigenes Tun in diese Weltkatastrophe hineingetrieben sind, so muß man doch fragen: Wie haben die Staaten zu bewältigen versucht und bewältigen können dieses Zusammengefüge der drei Lebensgebiete: des geistigen, des staatlichen oder Rechtslebens und des Wirtschaftslebens? Als Staaten sind sie in den Weltkrieg hinein-getrieben! Und wer namentlich die Ausgangspunkte dieses Welt­krieges beobachtet, der wird starke Argumente gegen den Bestand, das Zusammenfügen, die innere Struktur der in den letzten drei bis vier Jahrhunderten der Menschheitsentwickelung zutage getretenen Staaten sehen.

Aus einem anderen geht aber hervor, wie das Geistesleben eigent­lich gerade in derjenigen Zeit sich entwickelt hat, in der es am meisten in Anspruch genommen wurde durch alles dasjenige, was dem Staate angehört, in der Zeit, in der man so stolz darauf war, die Gewalt des Staates über alles Geistige immer mehr und mehr auszudehnen.

Das ist im Grunde genommen ein nur mit starken pessimistischen Strichen zu zeichnendes Kapitel der neueren geschichtlichen Ent­wickelung!

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Sehen wir uns einmal dieses Geistesleben der letzten drei bis vier Jahrhunderte an: Loblieder sind ihm viele gesungen worden. Aber die charakteristischen Eigenschaften, sie sind im Grunde we­riig betont worden. Die Stimmen unserer Zeit werden genötigt sein, anderes gerade von diesem Geistesleben der letzten drei bis vierJahr­hunderte auszusagen, als in den Lobliedern, die ihm gesungen wor­den sind, ausgesagt wurde. Ein charakteristisches Merkmal dieses Geisteslebens lassen Sie mich hervorheben.

Sehen wir nicht, wenn wir wirklich unbefangen sehen wollen, wie große, bedeutende Menschen im Laufe der letzten drei bis vier J ahrhuriderte aufgetreten sind? Wenn sie nicht gerade auf dem Ge­biete gewirkt haben, das unmittelbar für das Leben, das man eben führte, notwendig war, haben gerade die hervorragendsten Geister eine irgendwie einschlagende Wirkung gehabt? Darüber sollte man sich keinen Illusionen hingeben.

Lassen Sie unseren Blick einmal lenken auf eine sehr, sehr bedeu­tende Persönlichkeit der neueren Zeit: auf Goethe. Kennen die Men­schen Goethe wirklich? Im Gegenteil! Nichts wissen wir im Grunde von diesem Goethe! Ist denn dasjenige, was als gigantisches, großes, gewaltiges Geistesleben in diesem Goethe lebt, irgendwie in die See­len der Menschen eingezogen? Nein, nirgendwo! In Deutschland selbst hat man, nachdem Goethe mehr oder weniger ein Liebling vornehmer Kreise gewesen ist, in den achtzigerJahren eine «Goethe-Gesellschaft» gegründet. Ist diese «Goethe-Gesellschaft» eine Ange­legenheit der Nation, wie es das geistige Erbgut Goethes notwendig machen sollte? Nein, sehr verehrte Anwesende! Jemand, der selbst lange Zeit innerhalb dieser «Goethe-Gesellschaft» gewirkt hat, aber immer in Opposition war gerade mit den leitenden Kreisen dieser Goethe-Gesellschaft, der darf es Ihnen sagen: Diese «Goethe-Gesell­schaft» ist eine pedantische, gelehrte Ausgestaltung desjenigen, was äußerlich, aber nicht innerlich etwas mit diesem Goethe zu tun hat! Das Geistesleben der neueren Zeit, nicht nur bei Goethe, sondern bei allen anderen Größen, ist nicht übergegangen in das allgemeine menschliche Leben. Es ist ein Geistesleben, das gewissermaßen die neuere Menschheit nicht annehmen konnte. Wenn sie es angenommen

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hat, hat sie es höchstens so angenommen, daß als Sensation dies oder jenes aufgenommen worden ist, daß man sich informiert hat über dieses oder jenes, daß man gewissermaßen dieses oder jenes auch salonfähig gemacht hat. Als zum Beispiel die «Goethe-Gesell­schaft» lange Zeit experimentiert hatte mit ihrem Vorstande, ist sie zuletzt darauf verfallen, einen gewesenen preußischen Finanzmini­ster, der nie irgendeine innere Beziehung zu Goethe gehabt hat, zum Vorsitzenden der «Goethe-Gesellschaft» zu machen! Das ist nur eine der charakteristischen Erscheinungen; sie könnte nicht nur verzehn­facht, sie könnte verhundertfacht, vertausendfacht werden, ja ver­millionenfacht, wenn man eingehen würde auf dieses moderne Gei­stesleben. Dieses Geistesleben ist gerade darinnen charakterisiert, daß die weitesten Kreise der Menschheit gerade die bedeutenden Lei­stungen nicht haben aufnehmen können, daß diese bedeutenden Lei­stungen leben mußten in der tragischsten Weise wie Parasiten der Menschheitsentwickelung. Das gehört in einem tieferen Sinne, als man gewöhnlich glaubt, zu der Entwickelung des sozialen Bewußt­seins und des ganzen sozialen Lebens in der neueren Zeit. Und wenn man sich nicht wird bequemen wollen, in solchen Erscheinungen des Geisteslebens ein Bedeutsames zu sehen für die moderne soziale Entwickelung, so wird man niemals den Übergang finden zu wirk­lichem, inhaltsvollem sozialen Wollen.

In gewisser Hinsicht ist dieses neuere Geistesleben eine sterile Theorie geworden. Warum? Wer da weiß, welches die Bedingungen eines wirklichen Geisteslebens sind, der weiß, daß das Geistesleben niemals in den Machtbereich irgendeiner äußeren Gewalt einge­spannt werden darf, wenn es gedeihen soll. Die Naturwissenschaft, die nur auf das Tote gerichtet ist, und alle diejenigen Geisteszweige, die sich der Naturwissenschaft angenähert haben unter dem Zwang der neueren Verhältnisse, sie konnten in die Strukturen der Staaten eingespannt werden. Aber herausgetrieben wurden aus diesen Staats-strukturen diejenigen Zweige des Geisteslebens, die auf den indivi­duellsten Fähigkeiten der Menschen beruhen, die gerade die Stoß­kraft entwickeln sollten in dem Menschen zum seelischen Wollen. Deshalb fehlt unserem neueren Geistesleben jene Stoßkraft, die die

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alten Religionsvorstellungen gehabt haben, weil in den weitesten Kreisen die Menschen nicht in der Lage sind, nicht imstande sind, dasjenige aufzunehmen, was in die Entwickelung der Menschheit hineinläuft, und was leider in tragischer Weise eben wie Parasiten leben muß.

Man wird für diese Erscheinungen eine Erklärung finden. Sie liegt darinnen, daß in der neueren Zeit ein besonderer Fortschritt gese­hen wurde in der Verquickung des geistigen Lebens mit dem Staats-leben. Ehe man nicht darauf aufmerksam werden wird, daß auf die­sem Gebiete eine radikale Umkehr notwendig ist, wird von dieser einen Seite her die soziale Gesundung nicht kommen können. Das Geistesleben, Schulleben, alle anderen Zweige des Geisteslebens, sie mussen ein besonderes selbständiges Glied des gesunden sozialen Organismus ausmachen; sie müssen herausgelöst werden aus dem Gefüge des Staates, dem nur eigentlich die Versorgung des Rechts-lebens, des eigentlich politischen Lebens, bleiben soll.

Man könnte auf mancherlei Erscheinungen hinweisen, wenn man besprechen wollte, wie nicht bloß die Verwaltung der Wissenschaft, die Verwaltung des geistigen Lebens abhängig geworden ist von staatlichen Machtmitteln und Zwängen, sondern wie auch der Inhalt der Wissenschaft selbst abhängig geworden ist, das innerliche Trei­ben im Wissenschaftlichen abhängig geworden ist. Daher zeigt es sich, wie wenig geeignet gerade derjenige ist, der eigentlich als Wis­senschafter groß ist, wenn er Naturwissenschafter ist, mit Bezug auf soziales Denken und soziales Wollen. Ein charakteristisches Beispiel dafür: Man konnte in der letzten Zeit als einen vorurteilslosen Geist Oscar Hertwig> einen bedeutenden Naturforscher auf biologischem Gebiet, anführen, der in seinem ausgezeichneten Buch «Das Werden der Organismen - eine Widerlegung der Darwinischen Zufallstheo­rie», unsäglich Bedeutendes für die Entwickelung des neueren natur-wissenschaftlichen Denkens geleistet hat. Derselbe Oscar Hertwig hat den unglückseligen Versuch gemacht, in einem kleinen Büchel­chen seine naturwissenschaftliche Denkweise für das soziale und rechtliche und Staatsleben zum Ausdruck zu bringen. Man kann sich kein unsinnigeres, ungesünderes Machwerk denken, neben dem

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großen Werk auf dem Gebiete der Naturwissenschaft des Oscar Hertwig, als dieses kindische Büchelchen über die sozialen, über die Rechtsfragen und andere ähnliche Fragen, Wissenschaftsfragen der neueren Zeit! Das ist so recht ein Beweis, wie sich unter der Ver­staatlichung des geistigen Lebens eine Denkart ausgebildet hat, die einfach nicht eindringen kann in dasjenige, was innerhalb der sozia­len Forderungen liegt.

Abhängig geworden überhaupt in einer merkwürdigen Weise ist dieses geistige Getriebe von etwas anderem; so daß schließlich schon wirklich gar keine Seltenheiten solche Gelehrte sind wie der Histori­ker Heinrich Friedjung. Ich spreche wahrhaftig nicht aus Animosität gegen Heinrich Friedjung; er war mir ein lieber Jugendfreund, aber heute sind die Zeiten so ernst, daß nur sachliche Interessen in Be­tracht kommen. Jener Heinrich Friedjung, der Historiker, der, wie man sagt, ein epochemachendes Werk über das neuere Osterreich geschrieben hat, er hat die historische Urkundenmethode, die Me­thode zum Untersuchen historischer Urkunden, angewendet; er hat sich mit seiner Geschichte in den Dienst des österreichischen Au­ßenministers, des Barons Ährenthal gestellt; er hat, wie er glaubt, nach treu historischer Methode bewiesen, daß gewisse österreich-feindliche Machenschaften von sieben Verschwörern herrühren müssen. Zu einer Gerichtsverhandlung ist es darüber gekommen. Heinrich Friedjung konnte darauf hinweisen, daß er doch kein Hi­storiker ist, der leicht zu nehmen ist, daß die Universität Heidelberg ihm den Ehrendoktor gegeben hat. Trotzdem Friedjung nach streng geschichtlicher Methode bewiesen hatte, daß die Dokumente, mit denen Baron Ährenthal die Serben verurteilen wollte, echt seien, hat das Gericht anerkennen müssen, daß sie plumpe Fälschungen sind.

Damals wurde die geschichtliche Methode selber verurteilt. Wir leben nur leider heute in einer Zeit, in der man solche Dinge nicht ernst genug, vor allen Dingen nicht tief genug nimmt, indem das gei­stige Leben überhaupt, trotz des Ernstes, mit dem es betrieben wird, wie eine Nebenströmung des übrigen Lebens einherläuft. Für mich ist immer charakteristisch gewesen für diese Äußerlichkeit, mit der tiefstes Geistesleben heute genommen werden kann, dasjenige, was

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ich nennen möchte den Grafen mit den zwei Hosentaschen. Ich er­lebte diesen Grafen mit den zwei Hosentaschen, einen geistreichen Menschen, ich erlebte ihn bei einem meiner Besuche im Nietzsche­Archiv. Er war eine vertraute Persönlichkeit des Nietzsche-Archivs. Er hatte zwei Hosentaschen, aus der einen zog er mir heraus dazu­mal, als wir gerade aus dem Nietzsche-Archiv herausgingen, eine Bi­bel, eine vollständige Bibel in Perldruck; er konnte sie in die Hosen­tasche stecken. Er sagte: Sehen Sie, die führe ich immer bei mir. Ich habe aber noch eine andere; und er zog aus der anderen Hosentasche den «Zarathustra», ebenso in Perlschrift herausgegeben, damit ich es sehe. So hatte der Graf mit sich getragen, oder wollte wenigstens mit sich tragen die zwei für ihn bedeutendsten Bücher! Ich möchte sa­gen, das ist ein rein symbolischer Ausdruck für manche derartige Angelegenheiten des modernen Menschen, überhaupt zu den geisti­gen Dingen zu stehen. Der Graf mit den zwei Hosentaschen war ganz symbolisch, die eine Hosentasche war gefüllt mit der Bibel, die andere mit Nietzsches «Zarathustra». So sehen wir, wie das neuere Geistesleben steril, unfruchtbar geworden ist, trotz aller Loblieder.

So sehen wir, daß das Staatsleben, so wie es sich in der neueren Zeit bis heute entwickelt hat, sich durch die Weltkatastrophe gewis­sermaßen selbst ad absurdum geführt hat. Muß da nicht die Frage aufgeworfen werden: Lebt nicht gerade in der Zusammenfügung der drei wichtigsten Lebenszweige, dem Rechtsleben, Geistesleben und Wirtschaftsleben dasjenige, was uns in die Weltkatastrophe hinein-getrieben hat, was uns die heutigen sozialen Tatsachen nicht bewäl­tigen läßt?

Wer eingeht auf die Art und Weise, wie allmählich diese drei Zweige des menschlichen Lebens im Staatsleben aufgegangen sind, der kann gar nicht anders, als erkennen, daß in der Wiederauflösung, in der Wiedertrennung mit Bezug auf die drei angeführten Glieder die Gesundung des sozialen Organismus liegt. Lebendig, lebensvoll, nicht bloß nach Homunkulusart, wird man über den sozialen Orga­nismus erst denken, wenn man wirklich nach den Lebensbedingun­gen des Geisteslebens auf der einen Seite, des Rechts- oder politi­schen Lebens im Staate auf der anderen Seite, und schließlich nach

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den Bedingungen des Wirtschaftslebens frägt. Dann wird man aber auch darauf kommen, daß diese drei Lebenszweige durchaus ver­schiedenartige Grundlagen haben, daß sie sich am besten dann ent­wickeln, wenn ein jeder dieser Lebenszweige streng auf sich selbst gestellt ist.

Man konnte in der neueren Zeit dies nur aus dem Grunde nicht einsehen, weil eben wie hypnotisiert der Blick der Menschen nur nach dem Wirtschaftsleben hin gerichtet war. Und so sah man vor allen Dingen den Menschen mit seiner Arbeitskraft eingespannt, wenn er Proletarier war, in das Wirtschaftsleben. In diesem Wirt­schaftsleben, im Wirtschaftskreislauf sollte sich eigentlich nur dasje­nige bewegen, was Ware oder warenähnliche Leistung ist. Das emp­findet auch der moderne Proletarier. Das drückt sich in seinen For­derungen aus, wenn er auch, was er wörtlich sagt, anders formuliert, er empfindet es als seiner Menschenwürde widersprechend, daß er eingespannt ist in den Wirtschaftsprozeß, wie die Ware selbst. Wie die Waren ihren gegenseitig zu bestimmenden Preis haben, so hat in­nerhalb dieser Preisbildung einen Preis auch dasjenige, was mensch­liche Arbeitskraft ist. Das war auf der einen Seite das einschlagende in der Lehre von Karl Marx, daß er die tiefsten Empfindungen des Proletariats mit Bezug auf die Arbeitskraft zum Ausdruck brachte, daß er die Leute darauf aufmerksam machte: Wie Ware nach Ange­bot und Nachfrage auf dem Warenmarkte gekauft und verkauft wird, so wird eure Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte gekauft und verkauft. In dieser Beziehung muß man noch radikaler werden als Karl Marx selber, wenn es zur Gesundung des sozialen Organismus kommen soll. Man muß sich klar darüber sein, daß menschliche Ar­beitskraft etwas ist, was schlechterdings in nichts sich vergleichen läßt mit Ware, was daher auch nicht in irgendeiner Beziehung einen Preis haben kann wie irgendeine Ware. Das fühlt derjenige Mensch, der seine Arbeitskraft zum Markt tragen muß, er fühlt, daß wir nun schon angekommen sind in demjenigen Zeitpunkt menschlicher Entwickelung, wo auch das dritte folgen muß, zu zwei anderen Din­gen hinzu, die gefallen sind im Laufe der menschheitlichen Entwik-kelung. Gefallen ist innerhalb des menschlichen Lebens das alte

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Sklaventum, wo der ganze Mensch gekauft und verkauft werden konnte; gefallen ist das Leibeigentum, wo schon weniger vom Men­schen gekauft und verkauft werden konnte; fallen muß auch das dritte, das die kapitalistische Wirtschaftsordnung noch bewahrt hat, fallen muß die Tatsache, daß gekauft und verkauft werden kann auf dem Arbeitsmarkte die menschliche Arbeit. Denn indem der Mensch seine Arbeitskraft verkauft, muß er selber mitgehen mit seiner Ar­beitskraft. Indem er selber mitgehen muß, verkauft er doch gewis­sermaßen noch ganz sich selbst. Das ist dasjenige, was gefühlt wird:

wir sind angekommen an dem Punkte der menschlichen Entwicke­lung, wo nichts mehr vom Menschen gekauft und verkauft werden darf, wo dem Wirtschaftsleben nur bleiben darf dasjenige, was abge­sondert vom Menschen, objektiv für sich einen Wert haben kann. Das ist: dem Wirtschaftsleben, dem Wirtschaftskreislauf dürfen in der Zukunft nur eigen sein Warenproduktion, Warenverkehr, Warenkonsum.

Was im Wirtschaftsleben steckte vom Menschen, was heute noch zum Teil vom Menschen drinnensteckt, die menschliche Arbeits­kraft, muß heraus. Sie kommt nicht anders heraus aus dem Wirt­schaftsleben, als wenn sie im gesunden sozialen Organismus selb­ständig verwaltet wird, wenn nicht zu einer Wirtschaftssache, son­dern zu einer Rechtssache die Arbeitskraft wird, das heißt, wenn ne­ben dem Wirtschaftsorganismus der Rechtsstaat, der politische Staat sich entwickelt. Im Wirtschaftsleben wird herrschen die Brüderlich­keit, jene Brüderlichkeit, die gewissermaßen Brüderlichkeit im gro­ßen Stile ist, wo ein assoziatives Leben aus den Berufsgemeinschaf­ten, aus der Regelung der Produktion nach der Konsumtion und so weiter ist. In den politischen Staat, der wieder ganz selbständig, wie ein souveräner Staat neben einem anderen Staat, sich neben dem Wirtschaftsleben entwickeln wird, in ihm wird herrschen demokra­tische Gleichheit aller Menschen. Alle Einrichtungen werden so sein müssen, daß dasjenige da zur Geltung und zum Ausdruck kommt, in dem alle Menschen untereinander gleich sind, was alle Menschen angeht. Da wird vor allen Dingen festzulegen sein dasjenige, was sich auf das Arbeitsrecht bezieht, neben vielen anderen Dingen.

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Aber das Arbeitsrecht kommt zunächst für die soziale Bewegung in der Gegenwart in Frage. Ganz unabhängig von dem wirtschaftli­chen Gebiete wird im selbständigen Rechtsstaate unter den Men­schen Gleichheit herrschen, ob sie geistig oder physisch arbeiten, das Arbeitsrecht wird dort geregelt werden.

Was wird dadurch eintreten? Dadurch wird eintreten, daß das Wirtschaftsleben als ein in sich abgeschlossenes Gebiet auf der einen Seite grenzt an die Naturordnung, auf der anderen Seite grenzt an das Rechtsleben. Von der Naturordnung ist das Wirtschaftsleben ab­hängig. Ob in irgendeinem Jahre die Äcker fruchtbar sind oder nicht, was für Kräfte da unter der Erde überhaupt sind, davon hängt vieles im Wirtschaftsleben ab. Man kann durch technische Einrich­tungen der Fruchtbarkeit des Bodens eine andere Naturbedingung bringen, ihr durch andere Bedingungen des Wirtschaftslebens bei-kommen, aber eine Grenze ist in bezug auf dasjenige, was durch die­se Naturbedingungen vorliegt, bestimmt. Das drückt sich in Preis-bildungen des Wirtschaftslebens, in allen Einrichtungen des Wirt­schaftslebens aus. Niemandem wird einfallen, irgendwie die Natur abhängig machen zu wollen von den Einrichtungen des Wirtschafts­lebens. Ebenso unabhängig, wie die Natur selbst, ebenso unabhängig wie von unten her die Keime der Körnerfrüchte heraufkommen, die unabhängig von dem Wirtschaftsleben sind, ebenso unabhängig müssen die innerhalb des Rechtslebens geregelten Arbeitsrechte sein. Der Arbeiter tritt ein in den Wirtschaftskreislauf mit Rechten, die außerhalb dieses Wirtschaftskreislaufes gebildet werden, so wie die Naturkräfte außerhalb des Wirtschaftskreislaufes liegen. Alle Preis-bildungen, alles dasjenige, was im Wirtschaftsleben sich überhaupt entwickelt, das entwickelt sich dann auf Grundlage des außer dem Wirtschaftsleben entstandenen Arbeitsrechtes. Das Arbeitsrecht ist preisbildend, nicht aber wird der Preis der menschlichen Arbeits­kraft aus dem Wirtschaftskreislauf heraus bestimmt.

Das wird allein das gesunde Verhältnis des menschlichen physi­schen Arbeiters zu dem geistigen Leiter abgeben können. Dann wird der Arbeiter nicht mehr den heutigen illusorischen Vertrag zu schlie­ßen brauchen über seine Arbeitskraft, dann wird er jenen einzig

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möglichen Vertrag schließen können, der sich bezieht auf die ent­sprechende Teilung des gemeinsam von dem physischen Arbeiter und dem geistigen Leiter Produzierten. Auf keine andere Weise als durch strenge Absonderung des staatlichen Lebens von dem Wirt­schaftsleben läßt sich das erreichen, was notwendig ist auf diesem Gebiete.

Ebenso notwendig ist aber auf der anderen Seite das selbständige, das freie Geistesleben. Dasjenige, was sich im Staate entwickeln kann, ist nur gesunde Entwickelung, wenn im Staate nur dasjenige geregelt wird, was gleich gilt für alle Menschen. Das geistige Leben, es wird einfach ertötet, wenn es sich bilden soll auf derselben Grundlage, auf der die Rechte, auf der das politische Leben sich bil­det. Das geistige Leben muß sich herausbilden aus einer auf sich selbst gestellten Versorgung und Verwaltung der individuellen Fä­higkeiten der Menschen. Das wird dann Geistesleben sein, das emanzipiert wird von dem Staatsleben, das nun wirklich die menschliche Seele wiederum zu tragen imstande sein wird. Das wird keine Ideologie sein, das wird kein Geistesleben sein, welches nur abstrakte Begriffe liefert; das wird ein Geistesleben sein, welches sei­ne eigene Wirklichkeit voll und ganz beweisen wird, welches den Menschen mit seiner Seele tragen wird, den Menschen wieder hin­einstellen wird in eine geistige Ordnung. Das ist dasjenige, was der heutige Proletarier noch ablehnt. In den Untergründen seiner Seele lechzt er nach einem solchen Geistesleben, weil er fühlt, daß die Seele sonst verödet.

Eine furchtbar ernste Angelegenheit ist dieser Ruf nach einer frei­en Gestaltung des geistigen Lebens. Deshalb ist die Sache so ernst, weil alle Triebe der Menschen, alles dasjenige, was sich nach den landläufigen Anschauungen der neueren Zeit, nach den Denkge­wohnheiten herausgebildet hat, weil das dieser Gesundung des sozia­len Organismus zuwiderläuft. Deshalb ist es auch, warum man gera­de über diese Forderung des freien Geisteslebens, des auf sich selbst gestellten freien Geisteslebens, zu denjenigen sprechen möchte, die heute die Jugend darstellen. Wenn Wissenschaft und Weltanschau­ung, Geistesleben überhaupt, in die Zukunft hinein tragbar sein sol­len,

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dann brauchen wir ein Geistesleben, das etwas anderes ist als dasjenige, was auf die Basis des Staates gestellt werden kann. Sie sol­len fühlen, daß es etwas anderes sein wird, wenn der Lehrer der un­tersten Stufe weiß: dasjenige, was er zu tun hat, wird verwaltet von denjenigen, die nur verwalten innerhalb eines auf sich selbst gestell­ten geistigen Organismus, wenn ein Lehrer weiß, er ist nicht abhän­gig von irgendwelchen Maßregeln des Staates. Wenn in weitem Um­fange nicht mehr der Staat erzieherisch wirkt, wenn diejenigen, die Theologen, Juristen, Mediziner und so weiter werden wollen, nicht mehr vom Staate abhängig sind, und namentlich auch gefühlt wird, daß man gerade braucht, wenn aus den Bedürfnissen des Geistesle­bens selbst heraus sich dieses entwickeln wird, daß man gerade brau­chen wird dasjenige, was der Geist für die Menschheit nötig hat, dann wird sich ein Geistesleben entwickeln, das zurückwirken kann auf die anderen Zweige des menschlichen Gesamtlebens.

Haben wir eben besprochen, welche Gestalt eigentlich die prole­tarischen Forderungen nach der Aufhebung des Lohnverhältnisses einnehmen müssen, so können wir jetzt darauf hinweisen, wo die wahre Gestalt der Kapitalfrage liegt.

Viele Menschen reden heute vom Geist, von jenem Geiste, der unter der Entwickelung der letzten Jahrhunderte zum Schatten, zur Ideologie geworden ist. Aus diesem Geiste kann man nichts die See­len Tragendes herausholen. Dieser Geist, dieses Geistesleben ist zum großen Teil auch zu demjenigen geworden, was keine Schlagkraft hat, um einzulaufen in das unmittelbar praktische Leben. Deshalb fand Karl Marx nichts anderes als das wirtschaftliche Leben, das ihm noch irgendwelche Realitäten garantierte. Er sagte: In der Praxis muß der Mensch erfahren, daß sein Denken wirklich eine Bedeu­tung hat, daß die Wahrheit seines Denkens wirklich sich ausgestal­ten kann. Aber diese Praxis fand man nur im Wirtschaftsleben. -Das geistige Leben muß sich selber die Lebenspraxis geben können aus Untergründen heraus, die Wirklichkeiten sind. Das ist es, was diese Angelegenheiten gerade zu etwas ungeheuer Ernstem macht. Dann aber wird dieses Geistesleben nicht jene Abstraktheiten ha­ben, welche heute unser großes soziales, innerlich soziales Übel

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sind; dann wird dieses Geistesleben als ein sehr Konkretes Gestalt annehmen.

Oh, sehen wir uns dieses Geistesleben noch einmal von einem ge­wissen Gesichtspunkte aus an. Wir sehen, wie innerhalb dieses Gei­steslebens die ethischen Forderungen konstruiert worden sind, wir sehen, wie innerhalb dieses Geisteslebens aus gewissen philosophi­schen Unterlagen heraus Ethiken des Fühlens, Ethiken der Näch­stenliebe, Ethiken der göttlichen oder moralischen Weltenordnung begründet worden sind. Wovon sprechen diese Ethiken? Viel spre­chen sie von der notwendigen Nächstenliebe, von dem menschli­chen Wohlwollen, von der Brüderlichkeit. Ihre Begriffe, ihre Ideen aber, sie bleiben eben in abstrakter Höhe, schattenhaft, dringen nicht hinunter in das unmittelbare alltägliche Leben. Philiströs - das ist das Wort, wenn es auch radikal ausdrückt etwas, was dem Men­schen nicht so radikal erscheint -, philiströs geworden ist unser Gei­stesleben. Unwahr ist es geworden. In abstrakten Höhen bewegt es sich, nicht untertauchen kann es in die unmittelbare praktisch-all­tägliche Wirklichkeit. In diese aber muß es untertauchen. Antiphili-­strös muß es werden. Wenn es untertaucht in dasjenige, was Alltäg­lichstes ist an Bedürfnissen des täglichen Lebens, wenn der Geist sich darin bewährt, daß er eingreifen kann in die unmittelbarsten, ich möchte sagen, alltäglichsten Handlungen des Menschen, dann erst wird sich die Kraft des Geistes im sozialen Leben zeigen können. Dann aber wird sich zeigen, daß die Kapitalismusfrage zu gleicher Zeit gelöst werden wird mit der Frage des geistigen Lebens. Gewiß, abstrakt formuliert, enthält es viel für sich, wenn man davon spricht, daß das Privatkapital das moderne Menschenleben dem Zerfall und dem wirtschaftlichen Kriege überliefert hat und daß da eine Abände­rung eintreten muß. Man weiß zunächst nichts anderes, als zu sagen:

Also muß das Privateigentum aufhören. Man kann so ehrlich sein, wie nur irgend jemand mit dieser Forderung ehrlich sein kann, man kann aber dennoch der Anschauung sein, gerade aus einer tieferen Erkenntnis der sozialen Impulse heraus, daß mit der Umwandlung des Privateigentums in Gemeineigentum nichts Besonderes erreicht wird. Im Gegenteil, es würde an die Stelle des verödenden Kapitalis­mus

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der nicht minder verödende Bürokratismus treten. Es würde an die Stelle von Thron und Altar Fabrik und Kontor treten. Nun, ob die Verhältnisse besser wären, das muß noch bezweifelt werden.

Dasjenige, um was es sich handelt, ist, daß wirklich dasjenige ein­träte, was eigentlich gemeint ist, was im Unterbewußtsein der Prole­tarier eigentlich lebt, daß das Kapital, das durch die Verbindung mit den individuellen menschlichen Fähigkeiten in der Verwaltung des Kapitals da ist, in einer gewissen Weise eingreift in den wirtschaftli­chen Prozeß. Gerade nicht dem Egoismus des einzelnen, sondern der Allgemeinheit soll gedient werden. Denn auf diesem Gebiete empfindet der Proletarier ein ungeheuer bedeutsames nationalöko­nomisches Prinzip, das vielleicht gerade deshalb, weil es so recht dem Leben entlehnt ist, weil es so recht bedeutend ist, von den neue­ren Nationalökonomen niemals betont worden ist. Man redet im Ethischen, im Sittlichen von Altruismus, von Egoismen als von Ge­gensätzen, man findet den Altruismus schön, den Egoismus außer­ordentlich häßlich. Man bedenkt folgendes nicht: Sobald man in das gewöhnliche wirtschaftliche Leben, in denjenigen sozialen Organis­mus hineinschaut, in welchen im modernen Sinne an die Stelle der alten primitiven Wirtschaft jene Wirtschaft getreten ist, die auf Ar­beitsteilung beruht, ist das Tatsache, daß, je weiter die Arbeitsteilung fortgeschritten ist, desto weniger der einzelne Mensch jedenfalls volkswirtschaftlich für sich arbeiten kann.

Ich spreche damit ein volkswirtschaftliches Prinzip aus, das ich mich seit dem Jahre 1904 bemühe, populär zu machen; allein die Menschheit will dieses volkswirtschaftliche Prinzip nicht verstehen. Ob man will oder nicht, in einem sozialen Organismus, in dem Ar­beitsteilung herrscht - und das ist bei jedem sozialen Organismus der modernen zivilisierten Welt der Fall -, in einem solchen sozialen Organismus kann nicht wirtschaftlich egoistisch gearbeitet und ge­wirkt werden. Alles, was der einzelne arbeitet, muß der Gesamtheit zufallen. Und alles dasjenige, was dem einzelnen zukommt, kommt ihm vom sozialen Kapital her zu. Nach der Ablösung der Natural­wirtschaft durch das Geld, der weiteren Arbeitsteilung, die durch das Geld eingetreten ist, ist dies ein fundamentales volkswirtschaftli­ches

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Prinzip geworden, daß der Mensch nicht für sich arbeiten kann in einem sozialen Organismus, in dem Arbeitsteilung herrscht, daß er nur für andere arbeiten kann.

In Wahrheit kann man in einem sozialen Organismus ebenso wenig für sich arbeiten, wie man sich selber aufessen kann. Sie werden sagen: Wenn einer ein Schneider ist und er sich selber einen Anzug macht, dann arbeitet er doch für sich. Es ist nicht wahr, wenn das in einem sozialen Organismus geschieht, in dem Arbeits­teilung ist; denn das Verhältnis, das er dadurch zwischen dem Rock und sich selber herstellt, indem er diesen Rock für sich in einem sozialen Organismus mit Arbeitsteilung herstellt, ist ein ganz anderes, als in einer primitiven Wirtschaft. Es ist allerdings nicht möglich, heute in diesen kurzen Auseinandersetzungen Ihnen die vollgültigen Beweise vorzuführen, allein man kann diese Beweise erbringen, und ich werde hinweisen auf diese Dinge in meinem Buche über «Die Kernpunkte der sozialen Frage». Man kann diesen Beweis liefern, daß wenn heute sich ein Schneider einen Rock näht, er ihn aus dem Grunde näht, damit dieser Rock seinem Mitmenschen dient, damit er für andere Menschen arbeiten kann. Der Rock ist heute für den Schneider nicht mehr zum Selbstver­brauch allein zu fabrizieren, ist nicht im egoistischen Sinne zu fabrizieren, ist Produktionsmittel. Diesen anderen Charakter hat er angenommen einfach dadurch, daß der Schneider lebt in einem sozialen Organismus, der auf dem Prinzip der Arbeitsteilung be­ruht.

Unter allem, was geschieht, ist dieser volkswirtschaftliche Al­truismus das Tätige. Sündigt man dagegen, das heißt, setzt man über diesen sich selber realisierenden Unterbau jenen Überbau, durch den man sich aneignet in egoistischer Weise die Früchte, die eigent­lich im wahren sozialen Prozeß der Allgemeinheit zufließen, so setzt man das in die Welt, was ich nennen möchte: eine reale Lüge. Der Egoismus der heutigen Wirtschaftsordnung ist nichts anderes als eine Summe von realen Lügen, von Sünden wider dasjenige, was doch eigentlich unter der Oberfläche geschieht, und was steht unter dem Gesetze des sozialen, des wirtschaftlichen Altruismus.

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Und es ist die Reaktion der menschlichen proletarischen Seele, die da fühlt, daß im modernen sozialen Organismus, der auf Arbeits­teilung beruht, Altruismus wirtschaftlich herrscht, es ist die Reak­tion auf den ungesunden, verlogenen Egoismus, der sich auslebt in dem Kampf gegen den Kapitalismus.

An die Stelle desjenigen, was heute einfach sozialer Unverstand ist in weitesten Kreisen der führenden Klassen der Menschheit, muß soziales Verständnis treten. Dann wird soziales Verständnis auch dafür eintreten, daß dasjenige, was durch das Kapital geschieht, ein Kreislauf werden müsse, daß gesorgt werden müsse, daß Verwalter des Kapitals immer derjenige ist, der diese Verwaltung rechtfertigt durch seine individuellen Fähigkeiten. In dem Augenblicke, wo er diese Verwaltung nicht mehr rechtfertigt durch seine individuellen Fähigkeiten, müssen die Mittel und Wege gefunden werden, daß das Kapital hinüberfließe zu einem anderen, der durch seine individuel­len Fähigkeiten wiederum dieses Kapital nutzbringend verwalten kann für die menschliche Allgemeinheit.

Das ist dasjenige, was gefunden werden wird durch eine freie Pfle­ge der individuellen menschlichen Fähigkeiten im Geistesorganismus: daß der Kreislauf des Kapitals wirken wird. Heute gibt es eigentlich dasjenige, was ähnlich ist dem, was ich hier meine, nur für das scho­felste Eigentum, das die moderne Wirtschaft hat, für das allerschofel­ste, nämlich für das geistige Eigentum. Vom geistigen Eigentum gibt man zu, man habe es eigentlich nur aus der sozialen Ordnung heraus; wenn es auch auf individuellen Fähigkeiten beruht, aus der bloßen Individualität des Menschen kann eine geistige Leistung nicht kom­men. Wir verdanken sie immer den sozialen Impulsen. Wir sind ver­pflichtet, sie wieder den sozialen Impulsen zurückzugeben. Deshalb ist es gerecht, daß dasjenige, was jemand geistig hervorbringt, eine Zeit nach seinem Tode geistiges Allgemeingut wird. In einer ähnlichen Weise, wenn auch die Zeitpunkte andere werden müssen, ist dasjeni­ge, was materielles Eigentum ist, nur so lange gerechtfertigt in bezug auf den einzelnen Menschen, solange der Mensch das Verfügungsrecht darüber in Anspruch nehmen kann durch seine individuelle Fähig­keit. Dasjenige, was so lange bei einem Menschen bleiben darf, als

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diese individuellen Fähigkeiten tätig sind, das muß die Mittel und We­ge finden, auf dem Umwege der Verwaltung der geistigen Organisa­tion, zu anderen, wiederum in den Dienst der Allgemeinheit gestellten Persönlichkeiten zu gelangen. Ein Kreislauf im Eigentum der Produk­tionsmittel wird treten an die Stelle des heutigen Privateigentums. Das wird die große Lösung der Kapitalfrage sein. Es ist ein Stammeln auf diesem Gebiete, wenn man heute spricht von der Sozialisierung der Produktionsmittel. Durch diese Sozialisierung der Produktions­mittel würde nur eine Ordnung, die bürokratisch wäre, und die wie­derum dieselbe Tyrannei aus den Reihen der heute Fordernden ent­stehen lassen würde, eintreten, niemals diejenige, die wirklich den gesunden sozialen Organismus hinstellen kann. Dieser gesunde so­ziale Organismus muß dadurch hingestellt werden, daß das Kapital zirkuliert zwischen geistig Fähigen. Kreislauf des Kapitals heißt, daß im Laufe der Zeit dasjenige, was kapitalistisch verwaltet werden muß, wirklich im Sinne des allgemeinen Besten verwaltet werden kann.

Auch das kann ich nur andeuten. Auch das wird weiter ausge­führt werden in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft».

Sie sehen aber daraus, daß nicht nur das Geistesleben selber in sei­nen eben mehr geistigen Zweigen gesucht wird, wenn es auf sich sel­ber gestellt werden wird, sondern daß auch dasjenige, was im Wirt­schaftsleben abhängig ist von den geistigen Kapazitäten, den geisti­gen Fähigkeiten der Menschen, daß das seine richtigen Wege für die Gesundung der Zukunft nehmen würde durch die Verselbständi­gung des geistigen Organismus. Dieser ist es vor allen Dingen, wel­cher nicht bloß schattenhaftes Denken, schattenhaftes Geistesleben, Luxusgeistesleben hervorbringen wird, sondern ein solches Geistes­leben, das den Geist gewahr wird dadurch, daß dieser Geist überall eindringen kann in das materielle Leben.

Das ist etwas, das einem vor Augen steht, wenn man hineinschaut in die eigentliche Menschheitsgrundlage, so wie sie der Mensch heu­te, im heutigen Zeitpunkt entwickelt; die alten Schlagworte in bezug darauf, ob der Geist, ob die Materie gerechtfertigt ist, sollte man heute herausweisen.

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Ich spreche zu Ihnen vom Standpunkte einer Geisteswissenschaft, aber einer solchen Geisteswissenschaft, für welche der alte Streit, Geist und Materie, ein Unsinn geworden ist. Denn ein Drittes ist es, um was es sich handelt, und wovon Geist und Materie die äußeren Ausdrücke sind. Gelangt man in dieses Dritte hinein, wo weder Geist noch Materie, sondern die urlebendige Geistigkeit der Welt selber geschaut wird, dann gelangt man an dasjenige, was nicht mehr ein Glied des menschlichen Gesamtlebens wie die Ursache hinstellt, sondern alle drei Glieder, Wirtschaftsleben, Rechts- oder politisches Leben und Geistesleben als die drei Offenbarungen eines urgründ­lich Tiefen zum Ausdruck bringt. Dann wird der große Irrtum überwunden werden, der heute ein praktischer Lebensirrtum ge­worden ist, daß man alles auf das Wirtschaftsleben stellen will. Dann wird dasjenige eintreten, was nicht eine abstrakt in den Staatsorga­nismus hineingelegte Einheit ist, sondern dann werden aus einer ei­genen Lebendigkeit heraus das Wirtschaftsleben, das Rechts- oder Staatsleben, das geistige Leben sich entwickeln. Und indem sie sich entwickeln, werden sie zu einer Einheit zusammenwachsen.

Nicht denke ich an irgendeine Aufrichtung der alten Stände:

Lehrstand, Nährstand, Wehrstand. Gerade alles Ständehafte, alles Klassenhafte wird dadurch überwunden, daß der soziale Organis­mus selbst in seine drei Glieder geteilt wird. Der Mensch aber steht in diesen drei Gliedern als das Vereinende darinnen. Der Mensch ist meinetwillen in irgendeinen Beruf, in irgendeine Gliederung hinein­gestellt. Mit den anderen Gliedern steht er in einem lebendigen Zu-sammenhange. Aus freiem Vertrauen schickt er seine Kinder in die Schulen der geistigen Organisation. Im Wirtschaftsleben steht ohne­dies jeder darinnen; im Staats- und Rechtsleben dadurch, daß dieses Staatsleben vor allen Dingen dasjenige zu verwalten hat, vor dem alle Menschen gleich sind.

Schwache Seelen und Denker, die bilden sich über dasjenige, was ich soeben ausgesprochen habe, vorzugsweise ein, daß ja im Grunde genommen die Einheit des staatlichen Lebens dadurch gefährdet würde. Ja, was hat denn diese Einheit des staatlichen Lebens am mei­sten gefährdet in den letzten Jahrhunderten? Gerade daß man eine

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abstrakte Einheit gesucht hat, gerade daß man diese drei Glieder des sozialen Organismus, die selbständig sich entwickeln sollten, chao­tisch durcheinandergeworfen und verschmolzen hat. Wie das Gei­stesleben gedeihen würde unter dieser Einheit, das habe ich Ihnen gezeigt. Das Wirtschaftsleben aber hat, trotzdem der Staat da war, sich in einer solchen Weise entwickelt, daß es heute flammende Op­position entwickelt in zahlreichen Gebieten der zivilisierten Welt gegen dasjenige, was Staatsleben ist.

Eine Gesundung wird nur eintreten, wenn man von der gewohn­ten Denkweise auf diesem Gebiete zu der lebensvollen Anschauung des gesunden sozialen Organismus sich heraufarbeitet. Und die kann in nichts anderem bestehen, als daß nebeneinander gegliedert sind, gleichsam wie nebeneinanderstehende souveräne Staaten, die nur durch ihre Delegierten ihre gemeinsamen Angelegenheiten be­sorgen: der wirtschaftliche Organismus, der Rechts- oder politische Organismus und der geistige Organismus. Das bestreiten heute noch viele. Aber derjenige, der, wie der zu Ihnen sprechende, bald sein sechstes Lebensjahrzehnt vollendet hat und während seines ganzen bewußten Lebens immerdar den Blick hingerichtet hat auf die Ent­wickelung der proletarischen Bewegung, aber nicht so, daß er nur über das Proletariat gedacht hat, sondern daß er immer gelernt hat durch seine Lebensschicksale mit dem Proletariat zu denken, der weiß, wieviel Vorurteile sich heute noch auftürmen gegen das, was die Zeit fordert, gegen das, was im Grunde genommen im Unterbe­wußtsein der proletarischen Seelen ruht: die Dreigliederung des s zialen Organismus. Ich gehöre nicht zu denen, wenn ich auch gese­hen habe, wie sich Jahrzehnt für Jahrzehnt Vorurteile auftürmen gegen diese, wie ich glaube, einzig zur Gesundheit des sozialen Or­ganismus beitragende Anschauung, ich gehöre nicht zu denen, die dem Pessimismus huldigen, ich gehöre nicht zu denen, die er­schrocken dastehen, wenn die Ereignisse auch heute eine für man­chen schreckhafte Gestalt annehmen, ich gehöre nicht zu denen, die etwa am Lebensabend sagen würden: wieviel, wieviel ist doch ver­geblich durchgemacht worden! Nein, zu denjenigen gehöre ich, und das möchte ich nur als persönliche Bemerkung am Schlusse anfüh­ren,

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damit Sie die ganze Gesinnung meiner Besprechung von heute Abend auch verstehen, zu denjenigen gehöre ich, die nicht sagen würden, wenn sie auf ihr Leben zurückschauen: wenn du wieder jung sein könntest, würdest du das Leben noch einmal durchleben wollen? - ich würde niemals sagen: nein - sondern ich würde immer sagen: ja!

Aus dieser Lebensbejahung heraus fühle ich mich ja manchem fern, der mit mir dieses Leben bis zu meinem Alter durchlebt hat und der, wie das ja leider für die heutige Zeit gesagt werden muß, durchaus sich nicht durchringen konnte zu dem, was die laut spre­chenden Tatsachen der Gegenwart zu bewältigen in der Lage ist; aber den Glauben habe ich, daß diejenigen, denen ich mich doch na­he fühle, nahe fühle, selbst wenn ich dreimal so alt bin, daß diejeni­gen, die heute jung sind und zu denen ich heute zu meiner großen Befriedigung in der Hauptsache sprechen darf, daß die es sein wer­den, die hineinwachsen werden in eine solche Zeit, in der zwar zu­nächst viel Leid, viel Schmerzvolles, viel Tragik wird durchzuma­chen sein, in der aber auch die Möglichkeit vorhanden sein wird, recht stark, recht intensiv umzudenken und umzulernen. Deshalb fürchte ich auch nicht, daß gerade in diesem Kreise viele sein wer­den, die dasjenige, was ich heute auseinandergesetzt habe, als eine Utopie bezeichnen.

Etwas ganz anderes könnte man heute als eine Utopie bezeich­nen, und es ist auch neulich hier in Basel als eine Utopie bezeichnet worden von dem kürzlich erst tragisch geendeten Kurt Eisner' der in seinem Vortrag sagte: die Welt mit ihrer Bewirtschaftung und son­stigen sozialen Ordnung, in der wir leben, die hätte sich der kühnste Utopist vor zweitausend Jahren nicht ausmalen können. - Die Wirklichkeit ist heute die stärkste Utopie. Was Wunder, daß dann, wenn man von einer Wirklichkeit, die gefordert wird von der menschlichen Seele, die gefordert wird von der menschlichen Ver­nunft, wenn man von einer solchen Wirklichkeit spricht, daß es wie eine Utopie erscheint.

Diejenigen aber, die heute jung sind, die werden aus der heutigen realen Utopie in wirkliche Realitäten hineinwachsen. Starke Kraft,

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starker Mut und ein gewisser guter Wille zur Geistigkeit, die drei werden zusammensetzen das wahrhaftige soziale Wollen. Und aus dieser Synthese des wahrhaftigen sozialen Lebens mit den proletari­schen Forderungen wird sich das entwickeln, was da kommen muß zur Gesundung unserer Verhältnisse.

Daß durch die heutige Jugend gefunden werde jener Weg des Gei­stes zu dem Wissen, der heute in Flammenzeichen sich abhebt von dem sozialen Horizont geradezu, das ist dasjenige, was ich vorausset­ze, das ist dasjenige, das mich heute mit einer großen Befriedigung, mit einer großen Liebe der Aufforderung hat nachkommen lassen, die gerade von Studierenden an mich ergangen ist. Findet man bei denjenigen, die heute auf ein kommendes Leben hinsehen, Lebens­kraft, Lebensmut und starke Geistigkeit, und ein daraus sich zusam­mensetzendes soziales Wollen, dann wird es, trotz allem, was sich heute bedrängend und verheerend zeigt, weitergehen in der Ent­wickelung der Menschheit. Dann kommt das, auf das wir wieder hoffen dürfen.

Dann dürfen wir aber heute schon hoffen auf ein solches, das den Beweis bringen wird, daß das menschliche Leben immer dann lebens­wert ist, wenn man es begründen will auf die Freiheit des Geistes, auf die Gleichheit aller Menschen vor demjenigen, was die Men­schenwürde wahrhaftig begründen kann, und auf ein Wirtschafts­leben, das in seiner Brüderlichkeit, in seiner brüderlichen Arbeit der Freiheit des Geisteslebens, der Gleichheit der demokratischen Ord­nung des Staatslebens, ebenbürtig ist.

Diskussion

Rudolf Steiner: Ich werde mir gestatten auf einzelne Bemerkungen der verehrten Diskussionsredner etwas einzugehen.

Zunächst möchte ich darauf aufmerksam machen, daß ich ja be­greife, daß diejenigen Dinge, die ich mit Bezug auf die soziale Ord­nung, den sozialen Organismus gesagt habe, nicht, ich möchte sa­gen, im Handumdrehen eine Überzeugung hervorrufen können. Ich

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wollte ja auch heute in diesem Vortrage, der ohnedies ja lang genug gewesen ist, nur gewissermaßen Anregungen geben, die dann auf ir­gendeine Weise weiter zu verfolgen sind.

Ich weiß, wie außerordentlich stark sich eingelebt hat dasjenige, was der erste verehrte Diskussionsredner in Anlehnung an das Pri­vateigentum, in Anlehnung an die Forderung der Sozialisierung der Produktionsmittel gesagt hat. Ich möchte Sie nur auf eines aufmerk­sam machen: Nicht wahr, man hat sich gewöhnlich heute der Vor­stellung unterworfen, oder man ist gewöhnlich der Meinung, daß äußere Tatsachen außerordentlich fest sind; aber viel fester sind in uns unsere Denkgewohnheiten. Und an dasjenige, an das wir uns im Denken lange gewöhnt haben, vor allen Dingen als menschliche Ge­sellschaft, nicht nur durch Jahrzehnte, sondern sogar durch Jahr­hunderte gewöhnt haben, das kann einen nicht gleichgültig lassen. Deshalb wird nicht leicht bemerkt werden, daß ja in alledem, was heute die Formen annimmt des Übergangs des Privateigentums in Gemeineigentum, daß da eigentlich etwas darinnen steckt, was als Forderung recht berechtigt ist, was aber nicht so unmittelbar Ge­genstand des sozialen Wollens werden kann, weil etwas Letztes da­bei nicht überwunden wird, was überwunden wird, wenn Sie wirk­lich ganz im tiefsten Ernste auf dasjenige eingehen, was ich heute vorgebracht habe. Was von allen Sozialisten heute nicht überwun­den wird in den Denkgewohnheiten, damit auch nicht in den Impul­sen des Wollens, das ist der Eigentumsbegriff. Das Privateigentum möchte man aufheben; aber weil man sich an den Eigentumsbegriff so stramm gewöhnt hat, kommt man über den Eigentumsbegriff nicht hinaus. Eigentum muß sein; also, da es nicht Privateigentum sein kann, fordert man Gemeineigentum, Gesellschaftseigentum, Verstaatlichung und so weiter.

Denken Sie das nur durch, was ich heute vorgebracht habe, dann verschwindet der alte Eigentumsbegriff überhaupt. Die Gegenstän­de, die heute Eigentum sind - Kapital, Produktionsmittel -, die wer­den zirkulieren. Das heißt, es ist ein lebendiger Organismus da. Im­mer wird derjenige Verwalter gewisser Produktionsmittel sein, der dazu die meisten Fähigkeiten hat. Daß das keine Utopie ist, davon

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werden sich einige vielleicht doch überzeugen, wenn sie dasjenige le­sen, was ja auch noch nicht erschöpfend ist, was ich in meinem in ein paar Tagen erscheinenden Buch über die soziale Frage vorge­bracht habe.

Aber es handelt sich nun gerade darum, aus gewissen Denkge­wohnheiten, die gar zu sehr in allem, was Menschen heute machen, drinnen leben, herauszukommen. Das meinte ich, indem ich darauf aufmerksam machte, daß die Produktionsmittel nur so lange in Ver­bindung mit einem Menschen sich finden können, solange die Fä­higkeit dieses Menschen das rechtfertigt. Sehen Sie, wir haben ja heute unter anderen Wissenschaften, auch denen, von denen man das nicht merkt, ganz unter dem Einfluß der naturwissenschaftli­chen Denkweise auch alle Sozialwissenschaft und geschichtlichen Wissenschaften stehen; wir haben ja auch eine Nationalökonomie innerhalb solcher Wissenschaften. Man bemerkt namentlich eines immer nicht. Und in diesem Kreise darf auch vielleicht gerade auf dieses Eine eingegangen werden. Die Menschen leiden heute gar zu sehr unter einer Krankheit, die Marx sehr richtig genannt hat «mors immortalis», der nicht zu tötende Tod. Im Leben ist alles in Bewe­gung; nur die Abstraktheit, die sich der Mensch in seinem Kopfe macht, die ist eigentlich etwas Festes. Das ist dasjenige, was bleibt. Und daher sind die Menschen, in der Zeit, in der sich das Begriffs-vermögen gegenüber dem früheren Anschauungsvermögen, nament­lich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, ausgebildet hat, in diesem neueren Zeitalter, das sich fundamental von allen früheren unter­scheidet, vielfach das Opfer der Begriffe geworden. Wenn wir in un­sere elementarsten Wissenschaften hineingehen, so haben wir im Methodischen, im Theoretischen wirkliche Irrtümer ... .]. Es führt zu keinen brauchbaren lebendigen sozialen Impulsen, sondern bildet sich zu einem hoffnungslosen Denken auf dem sozialen Gebiete aus. Daher wird man schwer eingehen auf jene Verlebendigung der Be­griffe, die angestrebt wird in meinen heutigen Darstellungen. Man möchte sich doch an irgend etwas halten, was den alten Eigentums-begriff aufrecht erhält. Man muß über den Eigentumsbegriff über­haupt hinaus! Und der erste Diskussionsredner, er wird, wenn er

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dasjenige, was ich heute angegeben habe, zu Ende denkt, sehen, daß eigentlich in der Forderung nach Verstaatlichung oder Vergesell­schaftung und so weiter der Produktionsmittel, nichts anderes liegt, als eben die Forderung, dasjenige, was durch die Produktionsmittel produziert wird, der Allgemeinheit zum Nutzen zu bringen. Das wird aber vielleicht - die gegenwärtigen Experimente zeigen das ge­rade, wo sie angestellt werden, ich will aber über diese gegenwarti-gen Experimente gar nicht diskutieren -, das wird vielleicht bis zu einem gewissen Grade durch solche Experimente erreicht. Vielmehr wird es erreicht werden dann, wenn die Produktionsmittel wirklich zirkulieren, wenn nicht die Gesamtheit, die doch nur ein Abstraktes ist, die doch nur aus irgendeinem Mehrheitsbeschluß irgend etwas ausführen kann, wenn nicht die Gesamtheit das Eigentum an Pro­duktionsmitteln hat, sondern wenn die Produktionsmittel so frei zirkulierend sind, wie zum Beispiel das geistige Eigentum dreißig Jahre nach dem Tode eines Menschen etwas frei Zirkulierendes ist, etwas, was durch den geistigen Organismus aber natürlich dann ver­waltet ist.

Dasjenige, was erreicht werden soll durch die Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel, das wird eben noch in die Freiheit des einzelnen eingreifen können, ohne irgendwie brachzu-legen die menschlichen individuellen Fähigkeiten. Das wird gerade auf die Weise erreicht, von der ich heute gesprochen habe.

Mein Bestreben - jetzt schon wahrhaftig, ich darf sagen durch fünfunddreißig Jahre auf dem Gebiet der sozialen Frage - geht dahin, überall die Dinge zu Ende zu denken, überall nicht Theorien zu su­chen, sondern aus dem unmittelbaren Leben heraus das Lebensmög­liche zu suchen.

Wenn Sie dasjenige zu Ende denken, was ich heute vorgebracht habe, dann werden Sie sehen, daß an jedem Punkte der heutigen so­zialen Ordnung einfach fortgesetzt werden kann in der Richtung, die ich angegeben habe. Daher ist das, was ich angegeben habe, das Gegenteil jeglicher Utopie: es ist etwas unmittelbar Praktisches. Ob man in Rußland beginnt, wo die Dinge heute bis zu gewissen Zer­störungen vorgeschritten sind, ob hier in der Schweiz, wo das Alte

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noch aufrecht steht, bis heute irgendwie weitergeht, überall kann man von den verschiedensten konkretesten Einrichtungen aus dasje­nige bewirken, was ich fordere: die Trennung des Geisteslebens, des Wirtschaftslebens und des Rechtslebens. Man muß nur gewisserma­ßen die Maschine zurückdrehen, die man in verkehrter Richtung in der letzten Zeit, ja in den letzten Jahrzehnten geführt hat. Zur Mo­nopolstellung einzelner - wie soll es denn dazu kommen, wenn das Verhältnis des einzelnen zum einzelnen geregelt wird in dem einen Gliede des sozialen Organismus, in dem Rechtsstaat? Zu einer Mo­nopolstellung kann es nicht kommen, denn wie ich auch in meinem Buche zeigen werde, dasjenige, was jemand als Leiter bezieht, kann ja von Anfang an festgestellt werden, während dasjenige, was sich durch die gesellschaftliche Konjunktur ergibt, entweder in den Be­trieb hineingesteckt werden muß, oder zum Ausgleich eben an die Allgemeinheit, das heißt, an einen anderen gehen muß, der es nun verwaltet, wenn er die Fähigkeiten dazu hat. Alle diejenigen Schä­den, welche durch die heutige Stellung des Privateigentums eintre­ten, werden auf diese Weise beseitigt. Das ist dasjenige, was man be­merken sollte an meinen Auseinandersetzungen, daß eben wirklich das erreicht wird, was andere erreichen wollen, aber mit unzulängli­chen Mitteln erreichen wollen. Das ist dasjenige, was ich namentlich mit Bezug auf den ersten verehrten Herrn Diskussionsredner sagen möchte.

Gewiß, er hat auf einen Punkt hingewiesen, der sehr berechtigt ist. Sehen Sie, er schilderte Leute, die heute davon reden, daß der einzelne Staat ein Organismus sei in dem Sinne, wie in der Natur­wissenschaft ein Organismus eben ein Organismus ist. Damit nimmt er Bezug auf ein falsches Denken. Die Wahrheit ist die, daß, wenn man schon Vergleiche anstellen will, man sie richtig anstellen muß; dann kann der einzelne Staat höchstens eine Zelle sein, der gesamte Organismus kann die wirtschaftende Erde sein. Das ist dasjenige, was, ich möchte sagen, diese Wahrheit beeinträchtigt, wenn die Leu­te dasjenige, was sich räumlich begrenzt, als ein Ganzes denken. Die­se Richtung des Denkens würde sogleich aufhören, wenn man sehen würde. daß diese Organisation, die man Staat nennt, wenn sie nicht

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ja bei wirklichen Organismen [. . .] nicht der Fall sein kann, wohl aber bei Zellen, die sich zusammensetzen. Also, ohne sehr stark auf diese Spielerei einzugehen, möchte ich nur sagen, was etwas Richti­ges hat: daß die ganze Erde eine Art Einheitsarbeit heute schon ge­worden ist. Aber das wird begründet in einem anderen Sinne, als ich es auseinandergesetzt habe. Und wie gesagt, ich habe mich nicht theoretisch, sondern aus dem unmittelbaren Leben heraus mit den entsprechenden Dingen beschäftigt.

Selbstverständlich muß dem zweiten Diskussionsredner recht ge­geben werden, wenn er sagt: die Nächstenliebe muß der Grundge­danke der Menschheit werden. Nur möchte ich bei solchen Dingen auf eines aufmerksam machen. Ich will mich auf den Standpunkt dieses zweiten Herrn Diskussionsredners stellen. Ich betrachte das immer als etwas Fruchtbareres, wenn man mit jemandem spricht, als wenn man gewissermaßen gerade diejenigen Punkte aufsucht, die als gegnerisch vorgebracht werden können. Sehen Sie, von Näch­stenliebe spricht man, wie der verehrte Diskussionsredner gesagt hat, ja schon zweitausend Jahre. Dennoch, trotz des Sprechens von dieser Nächstenliebe - ich bitte, man betrachte die letzten vier bis fünf Jahre! Es handelt sich also vielleicht doch darum, daß man nicht bloß von der Nächstenliebe spricht, sondern wie man von dieser Nächstenliebe spricht, ob man in abstrakter Weise von ihr spricht oder ob man in Konkretheit nachsieht, wie diese Nächsten­liebe sich betätigen kann. Und da will ich mich auf den Standpunkt des verehrten Diskussionsredners stellen. Sehen Sie, einer der bedeu­tendsten, schönsten, das heißt für den Menschen bedeutendsten Aussprüche der Evangelien, des Christus Jesus, ist der: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenentwicklung.» So ungefähr würde die richtige Übersetzung lauten. Es ist heute schon an der Zeit, einzusehen, daß im christlichsten Sinne dieses ein wahres Wort ist. Wir haben Christus nicht bloß zu suchen in den Evangelien, wir haben nicht bloß den Christus zu suchen, der gewissermaßen einge­sargt war in den Evangelien, wir haben den Christus zu suchen, der lebendig ist, der unter uns wandelt. Wir haben hinzuhören auf dasje­nige, was der Christus jeden Tag aufs Neue verkündet. Ich glaube,

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der hört den Christus richtig, der imstande ist, mit jedem neuen Zeit­alter das zu vernehmen von dem Orte, wo die Zeichen der Zeit er­scheinen, was der Christus spricht für jedes Zeitalter in einer neuen Weise. Und ich meine, heute spricht er zu uns durch die Zeiten so, daß wir nicht stehenbleiben dürfen, auch nicht bei den Wortformen, wie früher die Nächstenliebe gepredigt worden ist, sondern daß wir zu neuen Formen fortschreiten müssen auch in der Lebensauf­fassung, wie wir ganz deutlich fortschreiten zu neuen Formen des Lebens selbst. Das ist das, was ich zu bedenken geben möchte.

Ich habe vor ganz kurzer Zeit in Bern drüben einen Redner ge­hört, einen katholischen Geistlichen, der sehr wirkungsvoll gespro­chen hat. Der Mann sprach ganz ähnlich wie unser zweiter Herr Diskussionsredner. Er sagte auch: Nächstenliebe müsse herrschen; vor allen Dingen müsse Jesus Christus führen die moderne soziale Bewegung. - Ich möchte sagen: selbstverständlicher kann eigentlich nichts sein als dieses. Aber dann kamen weitere Ausführungen dieses Herrn - in Bern drüben, meine ich -, ja, er sprach das, was er sagte, sehr wirkungsvoll, aber ich selbst erinnerte mich, daß ich ja schon vor fünfundvierzig Jahren in meinem Schulbuch diese Aus­führungen gelesen habe - es bleiben Worte. Dieselben Worte ge­brauchte der Herr. Ich mußte denken: Trotzdem liegt zwischen der Abfassung in meinem Schulbuch und dem, was der Herr heute sagte, die schreckensvolle Weltkriegskatastrophe! - Also wird es doch wohl heute notwendig sein, auch umzudenken, anders die Dinge anzufassen, als sie angefaßt worden sind vorher. Sollen wir denn gar nichts lernen? Sollen wir denn in dem alten Trott fortfahren, immer wiederum, so wie unsere Vorfahren gesagt haben «Nächstenliebe», die doch nicht verhindern konnten, trotzdem sie Nächstenliebe pre­digten, daß schreckensvolle Tage eingetreten sind. Nicht darauf kommt es an, Nächstenliebe zu predigen! Ich habe oftmals gesägt in den verschiedensten Kreisen: Wenn im Zimmer ein Ofen steht, und ich rede so, wie es nun üblich geworden ist in der bürgerlichen Welt­anschauung, von allerlei ethischen Forderungen zu sprechen, zu de­nen auch die Nächstenliebe gehört, dann müßte ich sagen: Der Ofen hat die Pflicht, das Zimmer warm zu machen. Aber wenn ich mich

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auch bemühe zu sagen: Lieber Ofen, es ist deine Ofenpflicht, das Zimmer warm zu machen, es ist deine heilige Pflicht -, und ich wie­derhole das immer wieder und wieder, das Zimmer wird halt kalt bleiben! Aber ich kann mir die Rede sparen, wenn ich Holz einlege und es anzünde. Da tue ich das Konkrete, da wird es warm im Zim­mer. Manchmal redet man von der Art und Weise, wie sich im Wirt­schaftsleben Assoziationen bilden sollen, wie da, wie ich gesagt ha­be, im großen Stile die Brüderlichkeit herrschen soll, und im kon­kreten Leben zustande komme; redet man davon, wie man gliedern muß den sozialen Organismus, dann redet man von etwas Konkre­tem. Da steckt ja schon alles drinnen, auch was Nächstenliebe sein will! Aber das bloße Reden von Nächstenliebe, das ist ja auch dasje­nige nicht, was heute unter unseren komplizierten Verhältnissen et­was zuwege bringt. Und wenn es heißt: Jesus Christus soll der Füh­rer sein -, selbstverständlich soll er der Führer sein. Aber es kommt nicht auf das Reden an, sondern auf dasjenige, was einer tut. Auf das kommt es an, nicht auf das bloße Betonen: Herr! Herr! - das ist er schon selber! -, sondern auf dasjenige kommt es an, daß man ihm wirklich nachfolge.

Wenn hier gesagt wird, die großen Lebensgebiete müssen eine Einheit bilden, und man könnte sich nicht recht vorstellen, wie die­se drei Lebensgebiete getrennt werden können, dann möchte ich Sie doch darauf hinweisen, daß es schon einmal notwendig ist, auf dem Gebiete des sozialen Denkens diesen Schritt vorwärts zu machen, den nun leider die Naturwissenschaft ihrerseits auf ihrem Gebiete nicht hat machen können.

Ich habe in meinem vorletzten Buche, «Von Seelenrätseln», dar­auf hingewiesen, wie ich durch Benützung alles desjenigen, was heu­te die Naturwissenschaft auch schon benützen könnte, habe heraus­finden können im Laufe einer dreißigjährigen geistigen Forschung, wie der menschliche Organismus ein dreigliedriger ist, wie der menschliche Organismus wirklich zerfällt in den Nerven-Sinnes-Organismus, der in sich selber zentriert ist, der durch die Sinnesorga­ne mit der Außenwelt auch selbstverständlich in einem Verhältnisse steht; wie als zweites neben ihm steht der sogenannte rhythmische

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Organismus, der Atmungs-, Herzorganismus und als drittes der Stoffwechselorganismus. Alle Tätigkeiten des menschlichen Orga­nismus sind in diesen drei Gliedern enthalten, die aber in sich zen­triert sind, und gerade dadurch zu der so gewaltigen Einheit zusam­menwirken, daß jedes Glied sein Zentrum in sich hat, und durch das Zentriertsein in sich kommt eben gerade die lebendige Einheit zu­stande. Man denke auf diesem Gebiete nicht naturwissenschaftlich; ich will nicht wie Schaffle oder Meray mit Analogien spielen, das liegt mir ganz fern; aber ich möchte darauf hinweisen, daß gesundes Denken Mühe hat mit Bezug auf den sozialen Organismus, diese Dreiteilüng vorzunehmen. Mit Bezug auf den sozialen Organismus müssen wir diese Dreiteilung nicht nur theoretisch vornehmen, son­dern sie in Wirklichkeit umsetzen. Ich kann nicht verstehen, warum es schwierig sein solle, sich zu denken, daß eine geistige Organisa­tion in sich selber sich verwaltet, gewissermaßen souverän in sich sich verwaltet, der Rechtsstaat wiederum souverän in sich selber, und der Wirtschaftsstaat sich in sich selber souverän verwaltet. Die höhere Einheit, die kommt gerade im lebendigen Zusammenwirken erst recht zustande; während wenn man von vornherein eine Ein­heit hineinträgt, sei es Einheit, die auf das Wirtschaftsleben gerichtet ist, sei es Einheit im Rechtsleben, wie in diesem alten Rechtsstaate, oder geistigen Leben, wie bei den alten theokratischen Einrichtun­gen es gewesen ist, stören sich diese drei Glieder; während sie sich nicht stören, wenn sie zur lebendigen Einheit zusammenwirken, wenn man sie wirklich in sich zentriert; nur muß das Zentrieren in der richtigen Weise geschehen.

Neulich hat mir ein Zuhörer in Basel erwidert, er könne sich auch nicht vorstellen, wie das sei, es müsse doch in allen drei Gliedern zum Beispiel Gerechtigkeit, Recht darinnen sein. - Ja, gewiß muß in allen drei Gliedern Recht und Gerechtigkeit drinnen sein, wie die Luft in ihrer Stofflichkeit umgeändert in allen drei Gliedern des menschlichen Organismus sein muß; deshalb muß sie aber doch durch das Atmungs- und Herzsystem in sich verarbeitet werden, in einem Gliede besonders zubereitet werden. Dadurch ist sie in beson­derer Weise wirksam für die anderen Glieder. Dadurch wird gerade

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die richtige Einheit hervorgebracht, daß das eine Glied in der richti­gen Weise erzeugt und entwickelt dasjenige, was für die anderen notwendig ist. Darauf beruht die lebendige Organisation. Das ist dasjenige, worauf der Mensch schon wird eingehen müssen; denn darauf kommt es gerade an.

Das ist dasjenige, was ich gegenüber den Einwendungen, die in bezug auf diese Gliederungen gemacht wurden, sagen muß. Das, worauf es ankommt, ist, daß dasjenige, was durch diese Gliederung eben erreicht werden kann, gerade das ist, was unbewußt in den pro­letarischen Forderungen liegt, was aber nur verwirklicht werden kann durch bewußtes soziales Wollen. Und von diesen verschiede­nen Möglichkeiten wollte ich heute, soweit es in dieser kurzen Zeit möglich war, zu Ihnen sprechen.

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DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHE GRUNDLAGE DER SOZIALEN FRAGE Sechster Vortrag, Bern, 14. Oktober 1919

Wenn es sich um Ideen handelt, die bestimmt sind, im praktischen Leben verwirklicht zu werden, so sind im Grunde genommen volle Irrtümer weniger schädlich, als halbe und Drittels- und Viertels-wahrheiten. Denn volle Irrtümer können verhältnismäßig leicht wi­derlegt werden und werden sich kaum lange halten im öffentlichen Leben. Halbwahrheiten, Viertelswahrheiten sind gegenüber der Kompliziertheit des Lebens außerordentlich starke Versuchungen. Sie werden aus verschiedenen Leidenschaften, aus den Empfindun­gen der Gemüter heraus lange durchs Leben getragen, bis man viel­leicht unter schweren Kämpfen, vielleicht auch unter schweren Lei­den darauf kommt, daß solche Halb- und Viertelswahrheiten eben solche sind und so, wie sie gefaßt werden, in das Leben nicht zu übertragen sind.

Derjenige, welcher mit unbefangenem Blicke das moderne Leben betrachtet, er wird sich insbesondere nach den harten Prüfungsjah­ren der zivilisierten Menschheit, die wir nun durchgemacht haben, ein solches Geständnis, wie ich es eben ausgesprochen habe, nament­lich dem gegenüber machen müssen, was man in der Gegenwart und seit langem die soziale Frage nennt. Denn von allen Seiten her wer­den im Grunde genommen in dieser sozialen Frage eine ganze große Summe von Halb- und Viertelswahrheiten zusammengeknäuelt.

Nun liegt der Versuch vor, der unternommen worden ist in mei­nem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnot­wendigkeiten der Gegenwart und Zukunft», hinzuschauen auf das­jenige, was eigentlich, abgesehen von den Halb- und Viertelswahr­heiten der Programme, diese moderne soziale Arbeit, diese moderne soziale Frage enthält, und worauf sie der Wirklichkeit gemäß hin-steuern kann. Weiter ausgebaut werden soll dann dasjenige, was in diesen «Kernpunkten» veranlagt ist, für die Schweiz hier zum Bei­spiel in der von Dr. Boos herausgegebenen «Sozialen Zukunft».

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Bevor ich auf meine eigentliche Aufgabe für den heutigen Abend eingehe, gestatten Sie mir vielleicht eine kurze, ganz kurze persönli­che Bemerkung, die aber doch zusammenhängt mit dem Thema. Dasjenige, was von mir versucht worden ist, es ist eben durchaus ein Versuch, der sich seiner Unvollkommenheit bewußt ist. Was von mir versucht worden ist in meinem Buch «Die Kernpunkte der so­zialen Frage», ist nicht entsprungen aus irgendeiner der gegebenen politischen Richtungen, will sich überhaupt nicht auf irgendeinen gegebenen politischen Standpunkt stellen, gewissermaßen nicht un­mittelbar hineinreden in das gegebene politische Leben der Gegen-wart. Es ist entsprungen aus einer sehr langen Lebensbeobachtung und will nicht irgendein Programm sein, nicht irgendeine abstrakte soziale Idee, sondern will sein ein Ergebnis des praktischen Lebens selber, wie es sich mir ergeben hat, da ich Gelegenheit hatte - durch mein Lebensschicksal ist es so gekommen -, wirklich kennenzuler­nen alle, darf ich wohl sagen, Menschenklassen und Menschenkate­gorien der gegenwärtigen Welt, sie kennenzulernen in ihren gegen­seitigen Forderungen, in ihrem gegenseitigen Mißverstehen, in ih­rem Zusammenarbeiten und Nichtzusammenarbeiten. Und da ich im Grunde genommen in früheren Jahren, wo ich nur immer Gele­genheit hatte, Themata wie das heutige zu berühren, mich haupt­sächlich mit Geisteswissenschaft als solcher zu befassen hatte, so darf ich sagen, daß durch keinerlei Parteischattierung dasjenige be­einflußt ist, was ich vor Ihnen auszusprechen haben werde. Mein Leben hat mich durch mancherlei geführt, aber jedenfalls niemals durch irgendeine Partei. Und dasjenige, was zuletzt das Ergebnis einer jahrzehntelangen sozialen Beobachtung ist, die immer vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Erkenntnis aus unternom­men worden ist, das, meine sehr verehrten Anwesenden, wird auch verhindern, daß ich jemals mich an irgendeinem gegebenen Partei­programm werde beteiligen können.

Anregungen also zur wirklichen praktischen Durchführung sind es, um die es sich handelt. Daß solche Anregungen, wenn man über sie spricht, in mehr oder weniger scheinbar abstrakte Sätze gefaßt werden müssen, ist ja selbstverständlich; aber diese abstrakten Sätze

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sollen nur dasjenige ausdrücken, was eben Lebenserfahrung ist, was durchaus Unterlage sein kann für praktische Lebensgestaltung.

Sehen wir uns von einem solchen nicht programmäßigen, son­dern praktischen Gesichtspunkte aus das soziale Leben, wie es sich seit mehr als einem halben Jahrhundert gerade in der zivilisierten Welt, wie sie uns angeht, entwickelt hat, sehen wir uns dieses soziale Leben an, so werden wir finden, daß die Auffassung dieses sozialen Lebens eine grundverschiedene ist, und seit Jahrzehnten, seit mehr als einem halben Jahrhundert eine grundverschiedene schon gewe­sen ist bei den führenden Klassen der Menschheit auf der einen Seite und bei der großen breiten Masse des proletarischen Volkes auf der anderen Seite.

Aus einem Zusammenleben - ich war jahrelang Lehrer an einer Berliner Arbeiterbildungsschule - konnte ich ja gerade auch die Denkweise der breiten proletarischen Masse kennenlernen, und nicht nur die Denkweise, sondern die Empfindungs- und Gefühls­weise, wie sie sich ausprägt in dem, was sich dann kristallisiert zu den sozialen Forderungen der Gegenwart und auch der nächsten Zukunft.

Dasjenige, was dann entstanden ist in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage», es ist ein Niederschlag dessen, was fußt auf den Er­kenntnissen, die ich glaubte, immer haben zu müssen aus den Beob­achtungen, aus den Erkenntnissen heraus, die mir als Ergebnis gelie­fert haben, daß mit dem, was als bewußte Idee, als bewußtes Partei­programm zugrunde liegt den Forderungen der breiten proletari­schen Masse, nicht in der sozialen Frage irgendwie weiterzukommen ist, daß diese proletarische Masse sich gerade in einem verhängnis­vollen Sinne hingab halben und Viertelswahrheiten, und daß gerade derjenige, der in der sozialen Frage ernst und ehrlich es meint, nicht stehenbleiben kann bei dem, was formuliert wird unter dem Einfluß des mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Wirkens - der Anfang liegt ja mehr als ein halbes Jahrhundert zurück -, des Wir­kens von Karl Marx und seiner Anhängerschaft. Wie gesagt, unter dem Eindruck dieser Erkenntnis sind meine «Kernpunkte der sozia­len Frage» gerade in einem Moment geschrieben, wo man glauben

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könnte, daß solche Wahrheiten, solche Erkenntnisse durch die Be­stätigung, die sie aus der Tatsachenwelt heraus erfahren haben, ver­standen werden können. Sie waren geschrieben, als seit Jahren schon wütete dasjenige Unheil, das durch den Krieg hervorgebracht wor­den ist, den sogenannten Weltkrieg. Ich meine damit nicht den Aus­gang des Krieges, ich meine die Tatsache, daß dieses Unheil, dieses furchtbare Morden überhaupt über die moderne zivilisierte Mensch­heit hat kommen können.

Ich mußte im Frühfrühling 1914 in Wien es aussprechen, daß dem, der vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus die Ent­wickelung der modernen Menschheit anschaut, vorschwebt, wie die moderne soziale Entwickelung einer Krankheit, einer Art Geschwür-bildung gleiche, die in der nächsten Zeit in einer furchtbaren Weise würde zum Ausbruche kommen können. Es wurde dieses Buch ge­schrieben in der Zeit, in der bereits eine Strömung, die sich heraus-entwickelt hat aus dem programmatischen Marxismus, in Rußland zu einem praktischen Resultat hätte führen sollen. Dasjenige, was man nennen muß das sich für jeden Unbefangenen zeigende furcht­bare Scheitern des Marxismus in Rußland, das hätte die erste Bestäti­gung zu diesen Ideen, die in den «Kernpunkten der sozialen Frage» ausgesprochen worden sind, sein können. Seither sind noch weitere Bestätigungen erfolgt. Ich brauche nur hinzuweisen auf das Schei­tern der ungarischen Revolution, die so viele Hoffnungen zertreten mußte. Und ich brauche endlich nur hinzuweisen auf das noch nicht erfolgte, aber sicher in Aussicht stehende Versanden der deutschen Revolution vom 9. November 1918.

Derjenige, der die Verhältnisse kennt, kann heute wissen, daß die­se deutsche Revolution ein furchtbar laut sprechendes Experiment der Weltgeschichte ist, ein Experiment, welches ohnegleichen zeigt, wie unfähig die Ideen, die das 19. Jahrhundert in vielen Kreisen auf sozialem Gebiete hervorgebracht hat, sind, irgendeine praktische Lebensgestaltung hervorzurufen. Sehen wir uns einmal von der ei­nen Seite aus diese Ideen an. Sehen wir sie uns an, wie sie das moder­ne Proletariat empfindet unter dem Einflusse derjenigen Impulse, die da herstammen aus dem sogenannten Marxismus, wie er von

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Karl Marx, von Engels begründet worden ist, wie er wahrhaftig nicht eine bloße Theorie ist, sondern in den Gefühlen und Empfin­dungen der breiten Masse lebt.

Dieser Marxismus, er hat als erstes erzeugt in weiten Kreisen der proletarischen Bevölkerung dasjenige, was man nennen möchte den Unglauben an eine geistige Welt. Wichtiger als alles übrige erscheint vor dem Einsichtigen dieser Unglaube an die geistige Welt von sei­ten des Proletariats. Ideologie - das ist das Wort, dem man begegnen konnte, wenn man gewohnt worden ist, nicht über das Proletariat zu denken, sondern mit dem Proletariat zu empfinden und zu leben. Ideologie, das heißt, oder soll wenigstens heißen, das ganze Geistes­leben. Recht, Sitte, Moral, Kunst, Wissenschaft, Religion, das alles ist im Grunde genommen nur wie ein Rauch, der aufsteigt als etwas bloß Eingebildetes aus der Wirtschaft, Eingebildetes, das aufsteigt aus der einzig wahren Wirklichkeit, die besteht in den wirtschaftli­chen Produktionsverhältnissen, in den ökonomischen Vörgängen.

Die wahre Wirklichkeit sah dieses Proletariat unter dem Einflusse der genannten Persönlichkeiten in dem, was das Wirtschaftswesen ist. Wie die Menschen wirtschaften, wie sie sich beteiligen im Wirt­schaftsleben zunächst, wie sie sich im Wirtschaftsleben verhalten zu den Produktionsmitteln - so wird es ihnen eingehämmert - stammt aus der bloßen materiellen Arbeit. Was in ihnen als Ideen aufsteigt, was in ihnen als sittliche Ideale aufsteigt, was schließlich Religion, was Wissenschaft, was Kunst ist: das alles hat keine innere geistige Wirklichkeit, so sagt man, sondern das alles ist wie ein Spiegelbild der rein ökonomischen Wirklichkeit.

Und sieht man nach, woraus sich diese Anschauung gebildet hat, so muß man sagen: Diese Anschauung ist das Erbgut der Weltan­schauung, die im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte ent­standen ist gerade unter dem Einfluß der leitenden, führenden Kreise der Menschheit. Es ist nicht wahr, daß das moderne soziale Leben einzig und allein heraufgekommen ist durch den Kapitalismus und durch dasjenige, was mit diesem Kapitalismus in der neueren Zeit verbunden war durch die moderne Technik. Nein, es verhält sich so, daß gleichzeitig mit dem Heraufkommen des modernen Kapita­lismus

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und der modernen Technik eine gewisse Weltanschauung heraufgekommen ist, die es nur zu tun haben will mit den chemi­schen, mit den mechanischen, mit den physikalischen Tatsachen, die sich nicht erheben will zu einem selbständigen Erfassen des gei­stigen Lebens. Die technische Kompliziertheit des modernen Wirt­schaftslebens hat es zuwege gebracht, daß alles sozusagen überflutet worden ist von den Einflüssen, von den Antrieben dieses Wirt­schaftslebens. Wie man das Wirtschaftsleben aus der Technik, und wiederum die Technik aus der modernen Wissenschaft herausgeho­ben hat, so brachte das eine Weltanschauung, die rein wissenschaft­lich orientiert ist, hervor, eine Weltanschauung, die bloß in Ideen, in Begriffen, in Gedanken bestand, die sich auf das äußerliche mechani­sche, chemische, physische Leben beziehen. Nicht hatte dieses mo­derne Leben die Kraft, irgend andere Ideen, andere Weltanschau­ungsgedanken zu fassen als diejenigen, die sich auf die Inaugurie­rung des Wirtschaftslebens, auf die Inaugurierung der modernen technischen Betriebe im großen und ganzen beziehen. Zu anderen Ideen war diese wissenschaftliche Richtung, war dieses ganze moder­ne Denken unfähig. Man konnte sich durch dieses moderne Denken beantworten, wie die äußeren mechanischen Vorgänge vor sich ge­hen und wie man sie in Bewegung zu setzen hat im praktischen Le­ben; man konnte sich durch diese Wissenschaft chemisch, physika­lisch verständigen, aber es blieb aus diesen Ideen, aus diesen Gedan­ken der Wissenschaft eines weg, das allerdings dem Menschen am nächsten steht, der Mensch selber. Vielmehr, besser gesagt, man be­griff den Menschen auch nur, insoweit er sich zusammensetzte aus materiellen Stoffen, mechanischen, physischen und chemischen Kräften. Da aber der Mensch außerdem Geist und Seele ist, so be­griff man auf diese Art den Menschen eigentlich nicht. Und man hatte eine Weltanschauung, aus deren Gedankenwelt die Gedanken vom Menschen in Wirklichkeit ausgeschlossen waren. Niemand be­antwortete in dieser modernen Weise so, wie in einer unvergleich­lich vollkommenen Art von dieser modernen Wissenschaft beant­wortet wurde die Frage, wie physische Vorgänge entstehen, nie­mand beantwortete diesen modernen Menschen in moderner Art

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die Frage so vollkommen Wie entstehen seelische Vorgänge? Was ist der Mensch seiner innersten Wesenheit nach?

Und sehen Sie, die leitenden, führenden Kreise, sie behielten als Erbstück, als Überlieferung dasjenige, was überkommen war aus Religion, aus Kunst, aus alten Weltanschauungen, aus der alten Sitte. Das füllte für die modernen führenden Kreise die Seele aus. Das bil­deten sie sich aus neben dieser wissenschaftlichen Weltanschauung als etwas, was ihnen neben dem, was als Wissenschaft einfloß in die Technik, in die Wirtschaft, etwas bedeutete. Und so entstand für die führenden, leitenden Kreise eine doppelte Strömung in dem inneren Seelenleben: die eine Strömung, die gewissermaßen fern dem Leben sich religiöse Fragen vorlegte, die sich fern dem Leben moralische Grundsätze ausprägte, die sich fern dem Leben Kunst und gewisse Weltanschauungen bildete. Fragen Sie einmal, meine sehr verehrten Anwesenden, wie weit entfernt zum Beispiel bei dem modernen Kaufmann, oder bei dem modernen Industriellen oder dem moder­nen Staatsbeamten dasjenige, was er als religiöser Mensch fühlt und empfindet, dasjenige, woraus er sein Gutsein als Mensch bestreiten will, dasjenige, was seine ästhetischen Empfindungen sind, wie weit das entfernt ist von dem, was sich als seine Lebenspraxis abspielt und in seinem Kontor und in seiner Buchhaltung zum Ausdrucke kommt. Zwei ganz verschiedene Lebensströmungen sind da. Und die eine, die geistige Lebensströmung, die im Grunde genommen ein Erb­stück aus alten Zeiten ist, die hat keine Kraft, in das äußere Leben einzudringen. In dem, was äußere Lebenspraxis ist, leben die Zufäl­ligkeiten des Tages, lebt dasjenige, was, ich möchte sagen, in der Le­benspraxis von selbst lebt. Dann zieht man sich gerne vom Leben zurück und betrachtet das religiöse, das geistig-sittliche, das künstle­rische Leben als etwas, was über dem Leben schwebt. Nur dadurch aber war für die führenden, für die leitenden Kreise der modernen Zivilisation überhaupt ein Seeleninhalt möglich, daß sie sich neben dem, was ins äußere praktische Leben einfloß, dieses lebensfremde, innere Geistesleben bildeten.

Der Proletarier, der abberufen wurde vom alten Handwerk, der an die Maschine gestellt wurde, an die abstrakte Maschine, die so gar

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nichts Verwandtes mit dem hat, was im Menschen lebt, der Proleta­rier konnte, weil es seinen Empfindungen, die er nur entwickeln konnte beim Stehen an der Maschine, nicht entsprach, er konnte nicht übernehmen die alten Überlieferungen, die Sitte, das Recht, die Kunst, die Religion, die Weltanschauung, die den älteren Zeiten überliefert war und in der die führenden Klassen lebten trotz der modernen seelen- und geistlosen technischen Wirtschaft. Ihm blieb dasjenige, was aus dieser Wirtschaft selber hervorging. Und so bil­dete er sich eine Weltanschauung aus, so bildeten ihm seine Führer eine Weltanschauung aus, die geist-, seelenlos ist, eine Ideologie.

Eine Ideologie läßt sich theoretisch vertreten. Eine Ideologie läßt sich ausdenken. Mit einer Ideologie kann man sich sogar sehr ge­scheit vorkommen. Aber mit einer Ideologie läßt sich nicht leben, denn die Seele wird ausgehöhlt. Die Seele des Menschen kann nur wirklich leben, wenn sie nicht glaubt, dasjenige, was sie denkt, seien bloße unwirkliche Gedanken; sondern wenn sie sich bewußt sein kann: dasjenige, was in ihr lebt, das schließt sich an als etwas leben­dig Wirkliches an eine lebendige, wirkliche geistige Welt.

Und so wird viel, viel gesprochen im sozialistischen Programm; man braucht gar nicht zu sehen auf dasjenige, was gesprochen wird, denn das, was im Bewußtsein der Menschen vorgeht auf diese Art, das ist sehr verschieden von dem, was wirklich in ihrer Seele lebt. Dasjenige aber, was wirklich in den Seelen namentlich der breiten Masse der intellektuellen Bevölkerung heute lebt, das ist Seelenöde. Das ist ein Beweis dafür, daß man mit dem, was moderne Weltan­schauung ist, zwar denken, aber nicht leben kann. Das ist der erste Teil der sozialen Frage.

Ich weiß sehr gut, wie viele Menschen von ihrem Standpunkte aus, von ihrem bewußten Standpunkte aus mit Recht sagen: Du re­dest uns da von der sozialen Frage als einer Geistesfrage. Uns geht es doch um den Ausgleich der sozialen Unterschiede, der sozialen Dif­ferenzierungen. Uns geht es darum, daß das Brot in gleicher Weise verteilt werde unter den Menschen. - Ja, das ist eine Oberflächenan-sicht, die nur derjenige festhalten kann, der nicht unter die Oberflä­che der Dinge dringt. Denn die soziale Frage, sie ist in den Empfin­dungen,

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in dem unterbewußten Leben des modernen Proletariats vorhanden. Versuchen Sie noch soviel die rein materiellen Bedürf­nisse dieses Proletariats zu befriedigen, wenn Sie es könnten - Sie werden es schon nicht können -, Sie würden sehen: Die soziale Frage wird in einer neuen Gestalt erstehen müssen. Es wird nicht gehen, solange das Geistesleben ein solches Verhältnis zu der proletarischen Seele hat, wie ich es eben geschildert habe. Denn die Menschen glau­ben nur, es käme von den materiellen Interessen. In Wahrheit kommt es von der Ausgehöhltheit der Seelen, von dem inhaltslosen Leben.

Das muß als die wahre Grundlage des einen Teiles der sozialen Empfindungen, der breiten Sehnsucht des Proletariats angesehen werden.

Das zweite lernt derjenige kennen, der, wie ich schon sagte, nicht bloß über das Proletariat denken und empfinden gelernt hat, son­dern mit dem Proletariat wirklich denken und empfinden kann. Er lernt erkennen, was es für den modernen Proletarier bedeuten kann, wenn ihm immer wieder und wieder in Anlehnung an den Marxis­mus klargemacht wird: er stehe an der Maschine, er arbeite, aber er bekomme für seine Arbeit nur den Lohn. Man bezahle seine Arbeits­kraft mit dem Lohn, wie man auf dem Warenmarkt Ware bezahlt.

Das empfindet der moderne Proletarier, daß menschliche Arbeits­kraft nicht Ware sein kann, daß sie nicht so auf dem Markte ver­kauft und gekauft werden soll wie eine Ware! Daraus entspringt für ihn dasjenige, was der moderne Proletarier sein Klassenbewußtsein nennt. Er will sich aus dem Klassenbewußtsein heraus die Möglich­keit schaffen, daß menschliche Arbeitskraft ferner nicht Ware sei; denn er hat das Gefühl, dasjenige, was er arbeitet, das erzeugt nicht nur diejenigen Werte, die im wirtschaftlichen Leben als berechtigte Werte spielen, sondern das erzeugt Mehrwert, den ihm diejenigen entziehen, die die führenden, leitenden Kreise, wie er meint, die kapitalistischen Kreise sind.

Und so ist der Zusammenhang zwischen Mehrwert und dem men­schenunwürdigen Kaufen und Verkaufen der menschlichen Arbeits­kraft als Ware dasjenige, was den Proletarier bewegt als zweites.

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Und das dritte, was ist es? Man lernt es kennen, wenn man beob­achtet, wie ja im Grunde genommen die leitenden, führenden Kreise wesentlich andere Neigung entwickelt haben für die sozialen Fragen als diejenigen, die sich ihnen aufdrängten dadurch, daß das Proleta­riat Forderungen stellte. Aus sich heraus, man muß schon sagen, sind wenige Menschen der leitenden, führenden Kreise geneigt, wirklich einzugehen auf dasjenige, was die Kernpunkte der sozialen Frage sind, einfach aus dem Grunde, weil immer diejenigen, die in einer Position drinnen sind, viel weniger geneigt sind, an die Ent­wickelung dieser Position zu denken, als die anderen, die sich eine Position erst erobern wollen. Aber dadurch mußte wiederum mehr im Unterbewußten, im Instinktiven, als im deutlichen Bewußtsein, in den weiten Kreisen des Proletariats die Anschauung entstehen, als ob es gar nichts zu erwarten habe von den leitenden, führenden Kreisen, als ob es auf eine Lösung in der sozialen Frage ganz allein auf sich selbst angewiesen sei. Und so entstand etwas, was zu dem Verhängnisvollsten gehört, das in der neueren Geschichtsentwicke­lung da ist. Es entstand dasjenige, was, ich möchte sagen, sich an­lehnt an ein Wort, das oftmals ausgesprochen, oftmals angehört wird, das aber in seiner tieferen Bedeutung wenig erkannt wird. Sie wissen wahrscheinlich, jenes Kommunistische Manifest, das im Jah­re 1848 eingeleitet hat die marxistische soziale Bewegung, schließt mit den Worten: «Proletarier aller Länder vereinigt euch.» Begreif­lich ist es für denjenigen, der die moderne proletarische Bewegung kennenlernt, daß dies Wort gekommen ist. Und verhängnisvoll in der furchtbarsten Art ist die Wirkung dieses Wortes, denn es deutet von vornherein auf dasjenige, was geschehen soll, auf Kamp£ Und auf diesen Kampf soll heute noch gebaut werden. Es baut auf Kampf. Es baut nicht darauf, daß unter der Schwung- und Stoßkraft einer Idee, die sich im praktischen Leben verwirklichen soll, sich Men­schen zusammenfinden; es baut nicht auf den Glauben an die Kraft des Geistes. Dieses Wort, es baut auf den äußeren materiellen Zusam­menhang einer Menschenklasse, auf das Ungeistige. Und es drückt sich in diesem Worte klar und deutlich der Unglaube an das Geistige in verhängnisvollster Weise aus, je mehr sich dieses Wort einimpft

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den Seelen. Und man darf auch sagen, je mehr man es gedankenlos anhört, ohne seine weltgeschichtliche verhängnisvolle Bedeutung aufzufassen, desto mehr muß die Menschheit hineinsegeln in den Unglauben an das Geistige, und kann nicht, weil sich die materiellen Interessen vereinigen, wie sie einer Menschenklasse anhängen, zu dem kommen, was das Leben doch im Innersten bewegen muß: zu dem Glauben an die Kraft der geistigen Impulse.

So sieht sich dasjenige an, was man moderne soziale Frage nennt, von der einen Seite, vom Gesichtspunkt des Proletariats. Und dieses Proletariat, es hat gesehen, daß sich gewisse soziale Schäden, die es am eigenen Leibe empfindet, heraufentwickelt haben unter dem Einfluß von Kapital, von moderner Technik. Was meint es? Es meint, diese Schäden werden aufhören, wenn das Privateigentum in Gemeineigentum übergehe, wenn dasjenige, was jetzt von einzelnen verwaltet, bewirtschaftet wird, von der Gemeinschaft verwaltet und bewirtschaftet wird.

Und so sehen wir, wie austönt die proletarische Forderung immer wieder in den Ruf, der heute eben schon eine katastrophale Gestalt annimmt: Umwandlung der Produktionsmittel, Umwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln in Gemeineigentum und Gemeinverwaltung der Produktionsmittel. Nur dann vermeint der Proletarier, werde für ihn Heil kommen, wenn nicht mehr der Ein­zelne nach dem Profitinteresse, nach dem Gewinninteresse die Pro­duktionsmittel verwalte, sondern wenn die menschliche Gemein­schaft, an der jeder teilnehmen kann in demokratischer Weise, diese Produktionsmittel verwalte. Und weil das Proletariat sich verraten glaubt von den Menschen, die den führenden, leitenden Kreisen an­gehören, weil es glaubt, daß diese führenden, leitenden Kreise sich gar nicht interessieren aus ihren Interessen heraus für dasjenige, was eine Gestaltung des sozialen Lebens sei, so ertönt zusammen dasjeni­ge, was sich im Laufe vieler Jahrzehnte entwickelt hat, in den Ruf nach einer Art von Diktatur des Proletariats selber in der Ablösung alter Verwaltungs- und Gesellschaftsverhältnisse durch neue.

Aber in diese Dinge muß hineingesehen werden nicht von einem Parteistandpunkte aus, in diese Dinge muß hineingesehen werden

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vollständig unbefangen. Man sieht vielleicht doch nur vollständig unbefangen hinein, wenn man nun auch das Gegenbild ins Auge faßt: ob die proletarischen Forderungen, so wie sie heute formuliert werden in einer großen Anzahl von Zeitungen und Büchern, wie sie bewußt in den Proletarierseelen leben, ob sie richtig sind oder nicht, darauf kommt es an. Denn bei wirklichen Bewegungen handelt es sich nicht um Gedankeninhalte, sondern um dasjenige, was im Wol­len der Menschen lebt. Das muß ins Auge gefaßt werden, daß Mil­lionen von Menschen diese Dinge glauben, und daß es nicht darauf ankommt, diese Dinge abstrakt zu widerlegen, sei es auf diese oder jene Weise, sondern darauf kommt es an, in diesen Dingen so weit zu kommen, daß ihre Handhabung praktisch eben auch wirklich le­bensgemäß, wirklichkeitsgemäß verstanden wird. Gerade aus dem Grunde, weil die leitenden, führenden Kreise, ich möchte sagen, wie ein Nebenprodukt ihres Wirtschaftens das gehabt haben, daß sie mit dem Leben nicht zu kämpfen hatten, oder wenigstens nicht in einer solchen Weise zu kämpfen hatten, auf einem solchen Boden wie das Proletariat, gerade aus diesem Grunde hat sich nicht in demselben Maße wie beim Proletariat, wo alle die Fragen, die ich jetzt ausge­sprochen habe, ich möchte sagen, übergehen in eine Art Magen-oder Brot- oder Geldfrage, es hat nicht in einer solchen Weise sich die soziale Frage entwickelt zu einer unmittelbaren Frage des prakti­schen Lebens, des persönlichen Interesses eines jeden, denn die per­sönlichen Interessen werden unter dem Einfluß des modernen Le­bens wie ein Nebenprodukt befördert. Daher haben die leitenden, führenden Kreise das nicht gekannt auf demselben Gebiete, was die proletarische Welt gehabt hat. Man kann es nehmen wie man will, den großen Versucher oder Verführer Karl Marx oder den genialen, bahnbrechenden Karl Marx, das kommt auf die Auffassung an, aber ein ähnlicher Karl Marx für die leitenden, führenden Kreise war nicht da. Daher sieht es heute so aus, daß im Grunde genommen gar nicht das richtige Licht fällt auf die proletarischen Forderungen. Man kann sie beweisen, man kann sie widerlegen; aber es sind auch andere Anschauungen möglich, die man ebensogut beweisen oder widerlegen kann, und die das Gegenbild davon darstellen.

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Sehen Sie, der Proletarier deutet alles, was sich als menschliche Ideenwelt in Kunst, Sitte, Wissenschaft und so weiter entwickelt, wie eine Art Spiegelbild zu den rein wirtschaftlichen Verhältnissen, die allein er überschauen kann. Menschliche Gedanken sind ihm nur dasjenige, was im Menschen wie ein Spiegelbild ausgelöst wird aus den wirtschaftlichen Interessen, aus den Produktionsverhältnissen. Alles, was die Menschen denken und fühlen, geht hervor aus den wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen - so sagt der Proletarier.

Leicht könnte von der Gegenseite aus das volle Gegenteil mit ge­nau demselben Beweisrecht belegt werden. Und zwar, nehmen wir nur eines: Es ist zum Beispiel kinderleicht, möchte ich sagen, zu be­weisen, daß dieses ganze moderne Wirtschaftsleben, wie wir es na­mentlich in der Zivilisation des Okzidents und seines Anhanges, Amerikas, haben, daß dieses ganze menschliche Wirtschaftsleben, wie es die moderne Welt beherrscht, ein Ergebnis von Menschenge­danken ist, die wiederum aus der geistigen Welt heraus geboren sind. Das kann man ganz im Konkreten nachweisen. Man braucht gar nicht in abstrakten Vorstellungen stehen zu bleiben. Nehmen Sie das Folgende.

Wenn wir die Verhältnisse vor dem Kriege ins Auge fassen, so kann man sagen, daß in der westlichen Welt etwa vier- bis fünfhun­dert Millionen Tonnen Kohlen jährlich erzeugt werden. Für die me­chanische Arbeit unter den Menschen, durch Industrie und sonsti­ges, werden diese vierhundert bis fünfhundert Millionen Tonnen Kohlen verarbeitet im modernen Wirtschaftsleben. Ich rechne ab, indem ich diese Zahl, vier- bis fünfhundert Millionen Tonnen, vor Sie hinstelle, alles dasjenige, was für privaten Besitz und so weiter notwendig ist. Dasjenige, was an Kraft, an Technik, die dann Wirt­schaftskraft wird, hineinfließt in das moderne Leben durch diese Millionen Tonnen von Kohlen, die in den Maschinen verarbeitet werden, das kann man berechnen, man kann berechnen, was es für die Menschheit leistet. Darauf kommt es an, daß man den Vergleich sachgemäß mit Pferdekräften und mit Menschenkräften setzen muß. Wenn man nun annimmt, daß ein Mensch etwa acht Stunden täglich arbeitet, so bekommt man mit einer einfachen Rechnung

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heraus, wieviele Menschen wieviel Menschenarbeitskraft anwenden müßten, wenn sie dasselbe durch Anwendung der Menschenkräfte leisten sollten, was auf technische Weise in der weiteren technischen Verarbeitung geleistet wird durch diese Millionen Tonnen Stein­kohle. Da zeigt sich das Merkwürdige, das sehr Merkwürdige, daß die Rechnung ergibt, daß sieben- bis achthundert Millionen Men­schen arbeiten müßten, ihre Arbeitskraft hergeben müßten, wenn sie durch menschliche Arbeitskraft dasselbe leisten wollten, was ge­leistet wird mit dem, was aus diesen Kohlen an Energien stammt.

Sehen Sie, diese Möglichkeit, die Kohlenenergie hineinzuschaffen ins wirtschaftliche Leben, die entstammt einzig und allein den Ge­danken, die sich entwickelt haben unter dem Einflusse der geistigen Entwickelung des Abendlandes. Gerade ein Vergleich mit den Wirt­schaftsverhältnissen des Morgenlandes ergibt das. Es sind etwa, nun, sagen wir 250 Millionen Menschen, die in sich diejenige Kraft ha­ben, aus deren Köpfen heraus entsprungen ist alles dasjenige, was an Gedanken notwendig war, um dieses moderne Wirtschaftsleben in Szene zu setzen; bleiben noch etwa 1250 Millionen Menschen, die nicht teilgenommen haben an diesem Leben. Rechnet man aus, was diese dann leisten bei derselben täglichen Arbeitszeit, dann be­kommt man eine Zahl, die weit geringer ist als diejenige, die da an­gibt, wieviel durch die Kohlenförderung und Kohlenverarbeitung auf mechanischem Felde zustande kommt. Das heißt aber nichts an­deres als: dasjenige, was gerade das Spezifische des modernen Wirt­schaftslebens ist, das ist ein Ergebnis menschlicher Gedanken. Und diese menschlichen Gedanken sind wahrhaftig nicht aus der Materie heraus entsprungen; die sind das Ergebnis der abendländischen Kul­turentwickelung. Und man kann sehr wohl beweisen, daß durch diese Gedanken, durch diese Art zu arbeiten, zu unseren 1500 Mil­lionen Menschen auf Erden Menschenkräfte von weiteren 700 bis 800 Millionen hinzugetan werden. So daß wir in Wahrheit heute so arbeiten auf der Erde, als wenn nicht nur 1500 Millionen arbeiteten, sondern als ob weit über 2000 Millionen Menschen arbeiteten. Man kann es leicht beweisen, daß das alles, was so die eigentliche Struk­tur, der eigentliche Charakter dieses modernen Wirtschaftslebens

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ist, aus dem die sozialen Fragen entstanden sind, daß das ein Ergeb­nis der Geistesentwickelung ist, daß dieser Geist durchaus nicht eine Ideologie ist, sondern daß dieser Geist der Schöpfer des Wirtschafts­lebens ist.

Das heißt, es steht auf der einen Seite die proletarische Auffas­sung, auf der anderen Seite die gewöhnliche Gegenauffassung, die wahrhaftig ebenso gut bewiesen werden kann wie die andere Auffas­sung. Und genau ebenso, wie man in marxistischer Weise ausrech­nen kann, wie die Menschen arbeiten, um zu dem Werte, der im be­rechtigten Wirtschaftsleben herrscht, Mehrwert zu erzeugen, ebenso kann man nachweisen, ganz genau ebenso wissenschaftlich streng, wie es im Marxismus geschieht, daß alles, was modernes Wirtschafts­leben ist, aus den Gedanken der führenden, leitenden Menschenkrei­se stamme, und daß dasjenige, was als Lohn abfällt, herausgearbeitet ist aus dem, was die leitenden, führenden Kreise für die Menschheit sozial leisten. Man kann ebenso, wie man auf der einen Seite den Mehrwert ausrechnet, der von der Arbeit abfällt nach oben, ebenso gut kann man die Gesamtheit allen Lohnes ausrechnen als dasjenige, was abfällt durch das, was von den leitenden, führenden Kreisen, von dem Gedankengetragenen der Menschheit geleistet wird.

Nur ist das nicht geschehen, und zwar, wie ich überzeugt bin, aus dem einzigen Grunde, weil eben auf der anderen Seite aus der Sorg­losigkeit heraus nicht ein «Karl Marx» arbeitete, der das ebensogut bewiesen hätte, wie der wirkliche Karl Marx seine Theorie für das Proletariat bewiesen hat. Was ich Ihnen jetzt sage, ist wahrhaftig nicht irgend etwas abstrakt Erfundenes. Geradeso wie ich es aus der Förderung der Kohlen nachgewiesen habe, so können Sie es aus den Tatsachen des Wirtschaftslebens heraus nachweisen, daß das Gegenteil von dem richtig ist, was Marx, nur beschränkt für den Mehrwert, nachgewiesen hat.

Wenn man ins Auge faßt jene Struktur, die die moderne Technik dem Wirtschaftsleben aufgedrückt hat, so ist in Betracht zu ziehen, daß diese moderne Technik aus dem menschlichen Gedanken her­vorgeht und diese wiederum aus dem Geistesleben hervorgehen, und daß eine gewisse Konzentration der Produktionsmittel für beson­dere

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Zeiten notwendig ist, die einfach wegen der fortgeschrittenen Technik konzentriert und von einzelnen verwaltet werden müssen. Man kann schon sagen, setzt man entgegen dem, was das moderne Wirtschaftsleben, die modernen Produktionsverhältnisse herausge­bildet haben - Konzentrationen der Produktionsmittel, die jetzt in den Händen von einzelnen sind -, setzt man dagegen die abstrakte Forderung des Mehrwerts, der zu gewinnen ist aus Produktionsmit­teln, die gemeinschaftlich verwaltet werden sollen, dann wird man eben sehen, was herauskommt! Gewiß, man kann in abstracto die Forderung erheben, daß dasjenige, was bisher geleistet worden ist durch die leitenden, führenden Kreise, die die Gedanken geliefert ha­ben zur Struktur der modernen Wirtschaft, ihnen abgenommen und von der Gemeinschaft verwaltet werden kann. Demjenigen aber, der nun nicht hineinsieht aus dem menschlichen Empfinden heraus, aus den Emotionen heraus in das Getriebe des Lebens, sondern un­befangen dieses Getriebe des Lebens beobachtet, ja, dem erscheint als drohender Gedanke für die nächste Menschenzukunft dieser:

Wenn es nun wirklich geschehen könnte, daß verwirklicht würde die Übernahme dessen, was bisher durch einzelne Individualitäten [. . .] geleistet worden ist - wenn das auch Schäden in seinem Gefol­ge gehabt hat -, wenn das nun durch die Gemeinsamkeit geleistet werden sollte, so würde es wahrscheinlich mit dieser Gemeinschaft so gehen, wie es in der Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahr­hunderts den Japanern gegangen ist, die aus einem gewissen Natio­nalstolz heraus gehandelt haben, als sie die ersten Kriegsschiffe über­nommen haben von den Engländern. Die Engländer boten ihnen auch die Lehrmeister zu diesen Kriegsschiffen an; aber sie haben die­se englischen Lehrmeister weggeschickt und wollten nun selber fah­ren. Und nun konnte man vom Lande aus sehen das schöne Schau­spiel, wie die Kanonenboote fortwährend im Kreise sich drehten; sie konnten nicht vorwärtskommen, denn die Japaner hatten nicht ge­lernt, wie es zu machen ist. Es war vergessen worden zu zeigen, wie man das Ventil schließt und öffnet, wodurch der überflüssige Dampf abgeht. Und so konnten sie nichts machen, mußten abwarten. bis die Dampfkraft ganz verbraucht war.

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So fürchtet man, wenn man in die Dinge wirklich hineinschaut, wie sie sich heute im sozialen Leben vollziehen, daß es gehen könnte, wenn dasjenige, was die einzelnen der führenden, leitenden Kreise aus Sachkenntnis und Sachtüchtigkeit heraus, wenn auch mit Schä­den, leisten, übernommen werden sollte von der abstrakten Ge­meinschaft, die demokratisch urteilt, wie nun das, was man produ­zieren soll, mit den technischen Verwaltungen und so weiter ein­gerichtet werden soll.

Das alles sind Dinge, die sich nicht an parteimäßige Programme hängen, nicht aus einer Parteischablone ergeben, die sich aber dem­jenigen ergeben, der das Leben praktisch und unbefangen ansieht, und wirklich den Willen hat, auf dieses Leben praktisch und un­befangen einzugehen.

Und das erste, was sich daraus ergeben wird, es ist auch das erste, was ich als Ergebnis ziehen mußte in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft». Dasjenige, was vor allen Dingen für die Menschheit ge­braucht wird, das ist zu der Naturerkenntnis hinzu, die nun wirk­lich die Schöpferin ist der modernen Technik und damit des moder­nen Wirtschaftslebens, zu dieser natürlichen Erkenntnis hinzu eine wahre Menschenerkenntnis.

Sehen Sie, es wird Ihnen ja von mancher anderen Seite auch erzählt von jener vertrackten Weltanschauung, die sich angliedern soll an dasjenige, was jetzt in Dornach als ein Monumentalbau gebaut wird, eine Art «Hochschule für Geisteswissenschaft, anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft» nennt sich das Dings. - Sie würden gut tun, wenn Sie von vornherein gleichsam wie ein Axiom anneh­men würden, daß dasjenige, was ich im Zusammenhange mit anthro­posophischer Geisteswissenschaft nenne, das gerade Gegenteil ist von dem, was meistens von den Nichtkennern in der Welt gesagt wird. Denn bei dieser Geisteswissenschaft handelt es sich darum, zur Naturwissenschaft als der geistigen Grundlage des modernen Wirt­schaftslebens hinzuzufinden dasjenige, was den Menschen angeht, hinzuzufinden eine wirkliche Menschenkenntnis. Deshalb auch wird diese Geisteswissenschaft Anthroposophie, Menschenweisheit

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genannt, eine wirkliche Erkenntnis vom Menschen. Die moderne Naturwissenschaft tut ganz recht, wenn sie sich bei der Erkenntnis der Natur und bei allem denjenigen, was mit mechanischem, chemi­schem, physikalischem, technischem Leben und Wirtschaft zusam­menhängt, wenn sie sich dabei nicht einläßt auf den Menschen, wenn sie den Menschen gleichsam nur wie einen Zuschauer im Hin-tergrunde läßt. Aber das ist das Verhängnisvolle, daß in der neueren Zeit alles dasjenige, was an Vorstellungsart in der Naturwissenschaft ist, angelegt ist auch auf das soziale Denken, daß man glaubt, das so­ziale Leben mit denjenigen Gedanken durchdringen zu können, die der Naturwissenschaft außerordentlich nützlich sind, welche die Naturwissenschaft zu einer reinen Höhe erhoben haben; aber bei dem sozialen Denken muß der Mensch drinnen leben. Da muß ein Bewußtsein walten, das wirklich bis zum Menschen dringt.

Dieses Bewußtsein, das ist es, was Geisteswissenschaft hinzufügen will zu dem, was in der neueren Zeit bloß naturwissenschaftliches Denken ist und davon abhängig soziales Denken. Und diese Geistes­wissenschaft will - deshalb ist sie so vielen Menschen höchst unbe­quem - tiefer in den Menschen eindringen, als man mit Anatomie, mit Physiologie, mit Biologie, durch die man doch nur das Äußere des Menschen kennenlernt, eindringt. Diese Geisteswissenschaft will eindringen in diejenigen Tiefen der Menschennatur, wo sich etwas abspielt, was nicht bloße Gedanken sind, wo sich Wirklichkeiten abspielen, die gleich sind mit den Wirklichkeiten des äußeren Lebens, die gleich sind auch mit den Wirklichkeiten der äußeren Natur.

Diese Geisteswissenschaft will auf der einen Seite sich wirklich er­heben zu der Erkenntnis des Geistigen. Sie will aber auf der anderen Seite nicht stehenbleiben vor den Tatsachen des allerpraktischsten Alltagslebens. Für diese Geisteswissenschaft ist es undenkbar, daß im menschlichen Bewußtsein ein solches Zweifaches lebt, wie ich es geschildert habe für den modernen Kaufmann, für den modernen Astronomen, für den modernen Staatsbeamten, die ihr abgesonder­tes, lebensfremdes religiöses, ästhetisches Leben haben, das über dem Leben schwebt, das auch ferneliegt dem, was das alltägliche Le­ben ist. Scheinbar ist dieses Leben sehr geistig, das sich da als Geistesleben

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entwickelt. In Wahrheit aber ist es lebensfremd. Daher hat es auch einen gewissen Unglauben an das Leben erzeugt.

Daher kam es auch, daß in den breiten Massen niemals ein Glaube an dieses geistige Leben sich so hat ausbilden können, daß man hingesehen hat auf dieses Geistesleben so, als ob von diesem Geistes­leben nun irgend etwas sozial Heilsames kommen könnte. Da haben gewirkt ernste und ehrliche Persönlichkeiten. Diejenigen, die es durchdringend ernst meinen mit dem sozialen Leben - das geistige Leben betrachten sie im Grunde genommen nur als utopistisch. Da haben gelebt Fourier und ähnliche Geister, die sich so schöne Pro-gramme aufgestellt haben, wie sie sich das Leben ausgestalten wollen. Aber aus welcher Gedankenkonstitution, aus welcher Seelenverfas­sung sind alle diese sozialen und sozialistischen Ideen entstanden? Sie sind entstanden aus einem Gedankenleben heraus, das eben ne­ben das Leben sich selber als lebensfremd hinstellt, das so fremd dem Leben ist, wie das religiöse Leben dem Kaufmann im Kontobuch ist. Daß aus solcher Seelenverfassung schöne Ideen, echt gemeinte, gut gemeinte Ideen hervorgehen können, ist selbstverständlich, aber nicht Ideen, die in das wirkliche praktische Leben eingreifen.

Geisteswissenschaft will zu den höchsten Höhen des Geistes hin­auf. Aber indem sie heruntersteigt in das tiefste Innere des Menschen, wo nicht lebensfremde Gedanken, sondern Gedanken sind, die ein­dringen in die Wirklichkeiten der Außenwelt, sollen diese imstande sein, wenn sie auf der einen Seite hinaufgreifen in höchste geistige Höhen, zu gleicher Zeit aufzufassen auch dasjenige, was uns begeg­net im Kontobuch im Verhältnis des Arbeitgebers zum Arbeitneh­mer, dasjenige, was überall im unmittelbaren Leben lebt. Schwach und ohnmächtig waren die Gedanken jenes Geisteslebens, das be­herrscht hat die menschlichen Seelen in den letzten drei bis vier Jahrhunderten; denn diese Gedanken waren schöne ästhetische, reli­giöse, wissenschaftliche und weltliche Gedanken, aber sie waren nicht Gedanken, die hinunterreichten in die Wirklichkeit und etwas Wirkliches erkannten.

Nehmen Sie einmal irgend etwas, was, sagen wir wie ein moder­ner Moralkodex, wie eine Ethik wirkt, sehen Sie, was darinnen ge­sagt

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ist über Menschlichkeit, Gutsein, Wohlwollen, Nächstenliebe, menschliche Brüderlichkeit, das steht dem Leben fremd gegenüber, das greift nicht ein in dieses unmittelbare Leben, sowenig wie die moderne Philosophie, die in abstrakten Ideen lebt, wie das moderne Geistesleben überhaupt.

Hinuntergreifen in das, was die Philosophie, was überhaupt die wirkliche, äußere reale Wissenschaft zutage fördert, das kann eigent­lich heute nur die Geisteswissenschaft. Lesen Sie in meinen zahlrei­chen Büchern über diesen Gegenstand nach. Sie werden finden, daß Geisteswissenschaft nichts zu tun hat mit jenen Abstraktionen, mit dem, was man heute als philosophische Weltanschauung und der­gleichen tradiert, sondern da sehen Sie, daß diese Geisteswissenschaft darauf angewiesen ist, nun wirklich in den Geist, in dem der Mensch mit seiner Seele drinnen lebt, einzutauchen, um aufzugreifen wirkli­che Erkenntnisse vom Menschen; weil der Mensch einmal am aller­geistigsten ist, darum eine Erkenntnis zu begründen, die zu der höchsten Höhe des Geistes hinaufsteigt, und gleichzeitig hinunter-taucht in das unmittelbar praktische Leben. Denn dringt man nur tief genug vor in den Erkenntnissen, so erweist sich dieses Leben in der Erkenntnis als eine Einheit, nicht als eine Zweiheit.

Dieses Geistesleben wird auch imstande sein, in das Leben einzu­dringen, das wir das soziale nennen. Nicht ist imstande jene abstrak­te Geisteswissenschaft, jene abstrakte Wissenschaftlichkeit, die der moderne Proletarier als Ideologie empfindet, nicht ist sie imstande, einzudringen in die wirkliche soziale Gestalt des Lebens. Ihre Ge­danken, ihre Ideen sind zu schwache, dringen nicht ein, dringen nicht hinunter, sind Abstraktionen, bleiben im Gedanklich-Unwirk­lichen. Sie sind wirklich Ideologien. Aber der Geist braucht nicht bei Ideologien stehenzubleiben. Der Geist kann doch so stark zu den Ideen vordringen, daß diese Ideen zu gleicher Zeit Kräfte sind, die in der Wirklichkeit enthalten sind. Mit solchen Ideen allein ist es möglich, hineinzutauchen in das soziale Leben.

Aber dazu ist eben eine bestimmte soziale Struktur notwendig. Und diese soziale Struktur versuchte ich anzudeuten, skizzenhaft zu gliedern wenigstens, in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage».

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Ich versuchte zu beweisen, wie es notwendig ist, daß in der Tat los-gelöst werde die Verwaltung des geistigen Lebens von dem Wirt­schaftsleben und von dem Staatsleben, dem die Rechtspflege überlas­sen werden muß; von allem Politischen und Wirtschaftlichen ist los­zutrennen das Geistige. Solange das Wirtschaftsleben aus sich heraus entwickelt das geistige Leben, indem der wirtschaftlich Mächtige zu gleicher Zeit imstande ist, am besten sich auch mit Bezug auf seine geistige Bildung vorwärtszubringen, solange überhaupt ein Zusam­menhang besteht, ein innerer Zusammenhang zwischen dem Gei­stesleben und dem Wirtschaftsleben, so lange ist es unmöglich, daß das Geistesleben völlig frei sich entwickelt.

Derjenige aber, der dieses Geistesleben kennt, von dem ich eben gesprochen habe, er weiß, daß das sich nur auf einem völlig freien Boden entwickeln kann. Denn das Geistesleben, von dem ich gesprochen habe, das ist ein Erzeugnis des menschlichen Inneren. Dieses menschliche Innere muß in völliger Freiheit gepflegt werden. Schule und Erziehung müssen unabhängig verwaltet werden in eigener Verwaltung, unabhängig von dem Wirtschaftsleben und von dem übrigen Staatsleben, von dem politischen und dem Rechts-leben.

Es ist etwas ganz anderes, wenn der Lehrer der untersten Schul­klasse nicht sich zu richten hat nach dem, was ihm geliefert wird durch das Wirtschaftsleben, nich? sich zu richten hat nach dem, was ein Staat für Anforderungen stellt, damit er seine Stelle besetzen kann; sondern wenn da folgt dasjenige, was im Geistesleben, im wichtigsten Teile, eben im Erziehungs- und Unterrichtswesen sich vollzieht, wenn das lediglich folgt aus dem, was die Menschen wie­derum im Geiste erleben sollen. Soll ich konkret charakterisieren, müßte ich sagen: Es muß in der Zukunft das gesamte Geistesleben, auch das Unterrichts- und Schulleben, so gestaltet sein, daß diejeni­gen, die unterrichten, die erziehen, von den untersten bis zu den höchsten Stufen nur so weit mit dem Unterricht und der Erziehung belastet sind, daß ihnen dabei übrig bleibt die Möglichkeit, dieses geistige Leben, an dem sie arbeiten, an dem sie mit tätig sind, auch zu verwalten. Das geistige Leben bildet ein selbständiges Glied des

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sozialen Organismus. Das verwaltet sich selbst, ist in seine eigene Verwaltung gestellt.

Wenn dies der Fall sein wird, dann wird man dasjenige nicht erle­ben, was einem so stark vor das Seelenauge tritt, wenn man etwa in der folgenden Lage ist. Wir haben versucht, in Stuttgart nunmehr zu begründen durch das tatkräftige Anfassen des sozialen Lebens durch unseren Freund Emil Molt, wir haben versucht, eine Schule zu be­gründen, welche wenigstens in ihrer inneren geistigen Konstitution so gestaltet ist, daß sie aus dem eben charakterisierten Geist heraus genommen ist. Da wurde die Lehrerschaft zunächst so vorbereitet, daß sie wenigstens wirkt im Sinne eines völlig freien geistigen Le­bens. Es mußte an diesem Zipfel gleichsam begonnen werden aus dem Grunde, weil ja viele Wege heute verlegt sind, und weil dasjeni­ge, das hier gemeint ist, wahrhaftig eben urpraktisch gemeint ist und eigentlich erst verstanden wird, wenn es mit dem Instinkt für das praktische Leben angefaßt wird, nicht mit irgendwelchen theoreti­schen Ideen und dergleichen. Es ist eine achtklassige Volksschule, die in freier Unterrichtsverfassung dasselbe leisten soll an Äußerem zu Lehrendem wie die gewöhnlichen Volksschulen und wie die ge­wöhnlichen Realschulen und Gymnasien bis zum vierzehnten, fünf­zehnten Lebensjahre für Knaben und Mädchen zugleich, die aber zu gleicher Zeit in völlig freier Weise menschliche Individualität ent­wickeln soll, so daß die Individualität sich in das soziale Leben hin-einstellt und es gestalten wird, bei welcher nicht das soziale Leben von seinem Wirtschaftsstandpunkte aus und von seinem Staats-standpunkte aus die Schablonen liefert, nach denen die Individuali-täten sich entwickeln müssen. Dann aber sieht man, daß man die Verordnungen in die Hand bekommt, wie von Klasse zu Klasse un­terrichtet werden soll, und heute schon steht in den Verordnungen drinnen als Vorschrift, was gemacht werden soll. Für den aber, der gerade denken kann, der unabhängig das Leben betrachten kann, für den erscheint es als die einzige Möglichkeit, daß für das, was zugrunde zu liegen hat im Erziehen, im Unterrichtswesen, für das, was angibt, was Tag für Tag, Stunde für Stunde in der Schule zu geschehen hat, daß dafür nicht maßgebend ist irgendein demokratischer Wille - das

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nähme sich aus wie aus pädagogischer Kurzsichtigkeit -, sondern das Fach- und Sachkönnen derjenigen, die aus dem geistigen Leben selber heraus arbeiten und auch das Geistige verwalten können.

Diese Dinge müssen eben praktisch angefaßt werden. Dadurch werden sie es erst, daß vieles, was man heute praktisch nennt, und das man sich gar nicht anders vorstellen kann, anders wird, als es für heute geworden ist, daß man das wirklich unbefangen anschaut, wie es sein sollte, und dann den wirklichen inneren Gesetzen der mensch­lichen Entwickelung folgt.

Das andere, was sich hinzugliedern muß zu diesem freien Geistes­leben, das seine eigene Verwaltung hat - ich kann das heute nur skiz­zieren -, das ist der selbständige Rechtsstaat, das selbständige staatli­che politische Element, das aber aus sich ausgegliedert hat auf der einen Seite das Selbständigsein alles Geisteslebens, auf der anderen Seite aber auch das Wirtschaftsleben. Ein Rechtsleben hat es eigent­lich in den letzten Jahrhunderten nur gegeben, insoferne dieses Rechtsleben sich entwickelt hat aus dem Wirtschaftsleben heraus. Und gerade bei denjenigen Staaten, die durch ihre staatlichen Wirt­schaftlichkeiten in diesen furchtbaren Krieg hineingezogen worden sind, zeigte sich das am allerdeutlichsten, daß ihre gesamte politische Konstitution eine Folge ihres Wirtschaftslebens war, daß sozusagen der Staat in einem solch hohen Maße schon auch die Wirtschaftsge­meinschaft war. Das würde nur zum höchsten Gipfel der Unmög­lichkeit hinaufgesteigert, wenn nun durch das marxistische Pro­gramm eine große Genossenschaft aus dem Staat entstehen würde, wo in Gemeinsamkeit die Produktionsmittel verwaltet werden sol­len, bearbeitet werden sollen. Es würde nicht irgend etwas Neues entstehen, es würde nur dasjenige, was schon die großen Schäden hervorgebracht hat, ins Ungeheuerliche gesteigert. Aber im selb­ständigen Rechtsleben kann Rechtsschöpfung nur aus dem selb­ständigen Rechtsbewußtsein entstehen. Das heißt, es muß sich ent­wickeln neben dem Wirtschaftsleben ein selbständiges Staats-oder Rechtsglied des sozialen Organismus. Es wird gerade dieses Glied alles dasjenige umfassen, worinnen alle mündig gewordenen Menschen urteilsfähig geworden sind.

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Das Geistesleben wird man niemals demokratisch verwalten kön­nen; das Geistesleben muß man verwalten aus Sach- und Fachkennt­nis des Einzelnen, Maßgebenden. Dasjenige aber, was Wirtschaftsle­ben als solches ist, das kann auch nicht demokratisch verwaltet wer­den. Das muß so verwaltet werden, daß wiederum das dem wirt­schaftlichen Gebiete Entsprechende das Zugrundeliegende ist. Dieses Wirtschaftsleben muß so verwaltet werden, daß derjenige, der auf einem Gebiete wirtschaftet, in diesem Wirtschaftsgebiete drinnen geistig mündig ist, fest begründet ist. Dieses Drinnenstehen, Begrün­detsein, stark Begründetsein, dieses Heraus-handeln-Können aus ei­nem Wirtschaftsgebiet, das wird untergraben, wenn in demokrati­scher Weise entschieden werden soll, wie in den einzelnen Betrieben gearbeitet werden soll, oder was in den einzelnen Betrieben gearbei­tet werden soll und so weiter.

Wenn für das soziale Gemeinwesen wirklich die Kräfte, die da sind, fruchtbar gemacht werden sollen, so geschieht das nur da­durch, daß der einzelne Vertreter aus Sachkenntnis, aus Fachtüch­tigkeit auf seinem rechten Posten steht und für die Gemeinschaft dasjenige produziert, was er nach seinen Fähigkeiten produzieren kann. Dabei bleibt aber noch immer dasjenige, worüber nicht er ausschlaggebend ist allein, sondern worüber urteilsfähig ist jeder mündig gewordene Mensch, der das demokratische Element ver­tritt, wobei jeder Mensch gleich ist, gleich darinnen steht, auch wo­rinnen jeder ein Verhältnis entwickeln soll von Mensch zu Mensch.

Immerfort wird auf sozialistischem Boden heute betont. Der Arbeiter ist getrennt von seinem Arbeitsprodukt, er erarbeitet das Produkt, das er kaum kennenlernt, oder von dem er nur einen Teil kennenlernt. - Das ist gewiß alles wahr. Das Produkt geht auf den Markt über, er ist von ihm getrennt, er ist von seinem Arbeitsgebiet getrennt, er leistet seine Arbeit, seine Menschenarbeit einfach ab an etwas, das er gar nicht kennt. Aber nur solange ist das der Fall, als wir neben dem Wirtschaftsleben, in das der einzelne eingespannt ist, nicht ein selbständiges Glied haben, nicht ein selbständiges Leben haben, wo man sich von Mensch zu Mensch ausbildet, weil man als Mensch neben dem Menschen ein gleicher ist. Dieses selbständige

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Leben, auf dem nur entschieden wird, was rechtens ist, dieses ei­gentliche politische Leben, das ist der Inhalt des Staatslebens. Das ist dasjenige, worinnen Demokratisches wahrhaftig sich entwickeln kann. Das muß aber im Konkreten gepflegt werden. Man kann nicht sagen: diejenigen, die auf einem bestimmten Gebiete des wirt­schaftlichen Lebens Ausgezeichnetes geleistet haben, die werden auch auf dem Rechtsgebiet Ausgezeichnetes leisten, so daß dieses Rechtsgebiet am besten von ihnen gepflegt werden kann. Nein, das ist nicht der Fall, weil der Mensch nur dasjenige pflegen kann, nur in dem urteilsfähig werden kann, was sich im Leben konkret wirklich entwickelt. Es darf nicht verbunden sein chaotisch das Rechtsleben mit dem Wirtschaftsleben, sondern es muß das Rechts-leben neben dem Wirtschaftsleben dastehen. Und es muß sich der Mensch in ein Verhältnis setzen, in ein konkretes Verhältnis auf dem Rechtsboden zu dem anderen Menschen. Es müssen sich in ihm Interessen entwickeln für die anderen Menschen, mit denen er zu­sammenlebt im Wirtschaftsleben, wenn das Wirtschaftsleben Be­dürfnisse entwickelt, die zu befriedigen sind. Auf dem Boden des Rechts, da wird jeder Mensch wissen: du bist ein Glied in der übri­gen Menschheit, du nimmst teil an etwas, was dein Verhältnis und kein anderes, was dein Verhältnis unter den anderen bestimmt. Du stehst in der ganzen Menschheit, du lernst dich nun erkennen als das Glied des auf Gleichheit der Menschen, auf Demokratie gebauten Staates. Dieser Staat wird für dich eine Realität. Denn er wird eine Realität, indem er vor allen Dingen dein Arbeitsrecht behandelt. Das Arbeitsrecht wird nicht mehr im Wirtschaftsleben eingerichtet, nicht mehr wird der Arbeiter abhängig sein von der wirtschaftlichen Macht desjenigen, mit dem er zusammen die Arbeit leisten und die Arbeit unternehmen kann, sondern dasjenige gilt, worinnen jeder Mensch gleich ist. Auf dem abgesonderten Rechtsboden wird das zu entscheiden sein, worin jeder Mensch gleich ist. Und andere Ver­hältnisse werden auf dem entsprechenden Boden zu regeln sein. Ich kann das alles heute nur charakterisieren, ganz im allgemeinen, das Genauere darüber finden Sie in meinen «Kempunkten der sozialen Frage».

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Dann bleibt das Wirtschaftsleben, das eigentliche, das einheitliche Wirtschaftsleben. Und dann wird man in diesem Wirtschaftsleben nicht das in ihm haben, was heute auch ist, sondern man wird in die­sem Wirtschaftsleben Assoziationen haben, die aus den Konsumen­ten, den Produzenten zusammen gebildet werden. Und diese Asso­ziationen, sie werden sich zu befassen haben mit demjenigen, was eng zusammenhängt mit der wirtschaftlichen Bedürfnisfeststellung, mit der Feststellung dem Preise, dem Warenwert, mit all dem, was nur an der menschlichen Arbeitsleistung, die in die Ware übergeht, hängt. Es wird das Wirtschaftsleben nicht zu entscheiden haben über das Aufbringen der menschlichen Arbeitskraft, darüber ent­scheidet das Rechtsleben. Auf dem Boden des Wirtschaftslebens werden die Korporationen sich nur zu befassen haben mit den ge­rechten Preisen. So daß sich aus wirklicher Sachkenntnis und Fachtüchtigkeit heraus solche Preise ergeben durch das Darinnenstehen im Wirtschaftsleben, daß der einzelne tatsächlich im Durchschnitt für dasjenige, was er leistet, soviel erhält an entsprechenden Gütern, die zu seinem Bedarfe dienen, bis er ein Gleiches hervorgebracht hat wie dasjenige, das er eintauscht.

Ich komme da in kurzem auf die Urzelle des Wirtschaftslebens; wenn man sie so hinstellt, wie ich sie jetzt hinstellen muß, sieht das etwas paradox aus, dennoch beruht auf ihr im Grunde genommen alles. Es beruht auf ihr das vor allen Dingen, daß sich dadurch ge­rechte Preisverhältnisse ergeben; denn nicht durch irgendwelche ge­meinsame Verwaltung, nicht durch irgendwelches Überführen der Bereiche in die Verwaltung der Gesamtheit, oder ins Eigentum der Gesamtheit, nicht dadurch läßt sich ein sozialer Ausgleich erreichen, sondern lediglich durch das nicht durch den Zufall des Marktes be­stimmte Wertverhältnis der Ware, sondern durch das aus menschli­cher Vernunft heraus bestimmte Wertverhältnis der Ware, so daß es aus der wirklichen Leitung des Wirtschaftslebens als solcher heraus­geflossen ist.

Trocken und paradox und eigentlich trivial ausgesprochen: wenn ich heute ein Paar Stiefel fertig gebracht habe, so muß im sozialen Organismus dieses Paar Stiefel soviel wert sein, daß ich Güter dafür

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eintauschen kann, bis ich wieder ein solches Paar Stiefel fertig fabri­ziert haben werde, eingerechnet alles dasjenige, was für Arbeitslose, Kranke, Invalidität und so weiter zu leisten ist. Das ist die Urzelle des Wirtschaftslebens.

Das kann auch tatsächlich dann erreicht werden, wenn das Wirt­schaftsleben ganz losgelöst wird von den anderen beiden Gliedern des sozialen Lebens: vom selbständigen Geistesleben, vom selbstän­digen Rechtsleben.

Ich konnte Ihnen, wie ich schon sagte, diese Dinge nur skiz­zieren, allein sie sind entwickelt worden aus einem wirklichen Le­benspraxis, aus einem Auffassung des Lebens, so wie es eben ist, so wie es sich gestalten will. Das war auch der Grund, warum ich, wäh­rend dieser furchtbare Weltkrieg wütete, mancher Persönlichkeit sagte: Es handelt sich darum, daß diesem Wüten nur begegnet wer­den kann durch Ideen, die auf geistigem Grund und Boden gewach­sen sind. Sie haben die Wahl, so sagte ich zu manchem, entweder jetzt von solchen Ideen zur Menschheit zu sprechen, die diese Menschheit auffassen kann als Ausgangspunkt für eine wirkliche Besserung der Erde, oder Sie erleben Kataklysmen sozialer Art und Revolutionen.

Man hat sich nicht dazu bequemt, Vernunft anzunehmen. So kam die Revolution. Aber mit diesen Revolutionen hat es seine Ei­gentümlichkeit. Revolutionen waren in der Welt da. Eine der größ­ten Revolutionen war diejenige, die durch das Heraufkommen des Christentums sich vollzogen hat. Was war das für eine Revolution? Eine geistige Revolution war das. Dasjenige, was umgewandelt wor­den ist, das waren die Verhältnisse im geistigen Leben. Was Neues in der Menschheit wirklich heraufkommen kann auf diesem Wege durch eine Metamorphose in der Entwickelung, das können nur gei­stige Impulse zunächst sein.

Die christliche Umwälzung war eine geistige. Und was sie in ih­rem Gefolge hatte an Rechtsleben und an Wirtschaftsleben, war eine Folge der geistigen Umwälzung, die durch das Christentum sich vollzogen hat. Daher war sie, diese Umwälzung, eine große, und derjenige, der die Entwickelung des Christentums kennt, der weiß,

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wie tief einschneidend dasjenige war, was durch das Christentum als eine geistige Umwälzung in die Welt gekommen ist.

Betrachten wir aber jetzt eine Umwälzung der Rechtsverhältnisse, dem politischen Verhältnisse: Wir finden solche Umwälzungen in der Französischen Revolution oder in der kontinentalen Revolution des Jahres 1848. Man studiere diese Revolutionen und man wird finden:

Einiges haben sie erreicht, einiges haben sie an die Stelle des Alten ge­setzt; aber vieles ist zurückgeblieben, das durchaus nicht eine Lösung vorher erhobenem Forderungen war, sondern eine Lösung früher aufgestellter Forderungen war, Reste, die zurückblieben von diesen politischen Revolutionen, von den drei Elementen des menschlichen Lebens. Man kann sie verfolgen, die Umwälzungen auf geistigem Gebiete, auf politisch-rechtlichem Gebiete; eine Umwälzung auf gei­stigem Gebiete, diejenige durch das Christentum; eine Umwälzung auf politisch-rechtlichem Gebiete, die Umwälzung der Frnanzösi­schen Revolution und der Revolution des Jahres 1848. Jetzt will man eine Umwälzung auf wirtschaftlichem Gebiete. Das wirtschaft­liche Leben aus sich selber heraus kann sich mechanisieren, kann sich aus sich selber nicht umgestalten. Wer weltgeschichtliche Zu­sammenhänge kennt, dem weiß, daß es geistige Umwälzungen geben kann, weil vom Geiste aus alles übrige Leben befruchtet werden kann, daß auch noch etwas bleibt von den Rechtsverhältnissen, die im seelischen Zusammenleben der Menschen begründet sind, wenn sie sich in einer Umwälzung vollziehen. Wenn aber das Äußere selbst, rein aus sich gebildet, umgestaltet werden soll, so ist dies eine Illusion. Es ist einfach ein Gesetz der weltgeschichtlichen Entwicke­lung, daß da, wo eine bloß wirtschaftliche Revolution vollzogen werden soll, wie im gegenwärtigen Rußland, diese wirtschaftliche Revolution der Totengräber sein muß dem modernen Zivilisation, ehe sie nicht wieder aufnimmt etwas wirklich Geistiges.

Wahr ist es, Lenin und Trotzki sind die letzten konsequenten Aus­bildner dessen, was im Damwinismus dem Masse seit Jahrzehnten ge­lebt hat. Aber indem man versucht, das zu verwirklichen, was man in den Ideen als bloße Wirtschaftsideen einseitig ausbilden konnte, und woran man glauben konnte, solange es nicht praktisch wurde,

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wird man im selben Augenblicke, wo man es ins Leben einführen will, zum Totengräber der Zivilisation. Und Tod nur könnte sich im europäischen Osten ausdehnen unter dem Einflusse solcher Ideen, wenn nicht eingesehen würde, daß wir nötig haben in unserem Zeit etwas ganz anderes: eine Erneuerung des geistigen Lebens.

Das ist, was ich heute besonders stark betonen wollte, daß wir nötig haben, in einem selbständigen geistigen Gliede des sozialen Or­ganismus ein freies Geistesleben zu entwickeln, das nun wiederum auf wirklichen Geist baut. Aus diesem Geiste heraus wird sich eine wirkliche soziale Zukunft ergeben. Nicht hat man zu hoffen etwas von einer neuen Revolution. Diese neue Revolution müßte eine wirtschaftliche sein. Eine Wirtschaftsmevolution kann nur zerstören, kann nicht aufbauen. Heute ist die Welt reif für neue Geistigkeit, damit neu aufgebaut werden kann.

Das ist, was dem sagen muß, der nicht auf Parteiforderungen, nicht auf Parteiprogramme ein Vorurteil stützt, sondern der unbe­fangen und ehrlich auf das Leben hinsieht, und es ernst und ehrlich meint mit demjenigen, was man gewöhnlich, aber schlecht verstan­den, die soziale Frage nennt. Das ist dasjenige, was zunächst nachge­holt werden muß im Gang dem menschlichen Entwickelung: Aufklä­rung darüber zu verbreiten, in den breitesten Massen aufzuklären, von seiten derjenigen, die diese Aufklärung durch ihre bisherige Bil­dung, die sie als Erbe übernommen haben, haben ausarbeiten kön­nen, Aufklärung in breitesten Massen über das, was nötig ist. Sonst kennen die breiten Massen zwar dasjenige, was sie aus ihren Leiden­schaften heraus fördern, aber sie können nicht das durchschauen, was wirklich im Interesse der Menschheit und im Interesse einer sozialen Zukunft gefördert werden kann.

Was so versucht worden ist, in meinen «Kernpunkten der sozia­len Frage» darzustellen, folgt nicht irgendwelchen Parteischablonen, es folgt dem, was versucht worden ist zu erkennen aus der weltge­schichtlichen Entwickelung der Menschheit selber, was versucht worden ist zu erkennen aus dem weltgeschichtlichen Augenblick. Wem von einem Gemeinsamkeit der Produktionsmittel ausgeht, weiß schön nichts von Entwickelung. Denn selbst wenn es möglich wäre,

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daß eine Gemeinsamkeit der Produktionsmittel heute auftreten würde, heute eingeführt werden könnte, was nicht sein kann, weil es selbstverständlich unmöglich ist, weil es vernichten würde alle Initiative des einzelnen, selbst aber, wenn es möglich wäre, von dem Gemeinsamkeit dem Produktionsmittel auszugehen, dann hätte die gegenwärtige Generation in einem gewissen Alter diese Produk­tionsmittel, und die nachwachsende hätte sie erst wieder nicht. Und aus dem Protest dem Nachwachsenden würde sich wiederum das er­geben, was heute gutgemacht werden soll.

Nur ein solcher Gedanke, der aus der vollen Wirklichkeit, nicht aus dem einseitigen Wirklichkeit hervorgeholt ist, nur ein solchem ist heute wirklich von vornherein. Und der Gedanke, den ich Ihnen vorgeführt habe von der Dreigliedemung des sozialen Organismus, er berücksichtigt auch die zeitliche Entwickelung, nicht bloß das im Raume Nebeneinandersitzen der Menschen. Diesem Gedanke kann deshalb viel ehem das Geistesleben in seinen wichtigsten Partien, in seinem wesentlichsten Gebiete, im Schul- und Erziehungswesen, und auch mit Bezug auf den sozialen Organismus so gestalten, daß er dem sozialen Organismus in sachgemäßer Weise Kräfte zuführen kann. Heute hören Sie von sozialistischer Seite immer wieder:

Führen wir eine gemeinsame Verteilung dem Produktionsmittel ein, führen wir Arbeitspflicht und so weitem ein, dann werden wir die Menschen durch diese sozialen Strukturen so erziehen, daß sie von selber arbeiten werden und so weiter. Ja, sie wird nämlich nichts, die Menschheit, sie wird nichts leisten, wird nur dann arbeitswillig und arbeitslustig sein, wenn wirklich ein Geistesleben die individuellen Fähigkeiten des Menschen anfacht, so wie sie nur angefacht werden können, wenn wir den Menschen schön während seiner Erziehung so heranbilden, daß wir seiner vollen Individualität Rechnung tragen.

So wie auf diesem Gebiete, so ist die soziale Idee von dem Dmeiglie­demung des sozialen Organismus auf allen Gebieten dasjenige, was in umfassendster Weise dem Praktischen zugrunde liegt; sie kann nur dem Praktischen zugrunde liegen, weil sie aufgebaut ist auf dem Bö­den einem wirklichen Geisteswissenschaft, wo nicht bloß die Natur erkannt werden muß, sondern wo der Mensch erkannt werden

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muß, dadurch aber auch der Mensch dem Menschen ins Bewußtsein übergeht.

Ich möchte zum Schlusse nur noch betonen, daß dasjenige, was Sie ausführlich lesen können mit Bezug auf Kapitalgestaltung, Am­beitsgestaltung, Wirtschaftsgestaltung und so weiter in dem Zukunft, in meinen «Kemnpunkten dem sozialen Frage» und dort näher ausge­führt ist, wie schön gesagt, heute noch ein schwacher Versuch ist. Allein gerade deshalb, weil es nicht irgendein ausgedachtes Pro­gramm ist, sondern weil es aus dem praktischen Leben heraus ge­wonnen ist, deshalb muß es ein schwacher Versuch sein. Jene Men­schen, die heute sagen: man kann das nicht verstehen, was in den «Kernpunkten dem sozialen Frage» steht, ihnen fehlt eben dem Wimk­lichkeitsinstinkt, der heute notwendig ist, wenn man das Praktische wirklich einsehen soll in seinen Grundlagen. Es handelt sich nicht bloß darum, daß man sich zu einem sozialwissenschaftlichen Gedan­ken bekennt, sondern es handelt sich darum, daß man sich zu jenen Gedanken bekennt, die getragen werden können von dem Instinkt für die zu verwirklichenden Dinge. Da wird man dann, wenn man solche Gedanken versucht darzustellen, nicht den Anspruch ma­chen, daß sie vom Anfange an vollkommen sein sollen. Da wird man immer wieder betonen: sie sind ein Versuch. Und so soll dasje­nige, was gerade auf dem Boden der Bewegung der Dreigliederung des sozialen Organismus vorgebracht wird, es soll durchaus ein Ver­such sein. Denn das, was es letzten Endes sein soll, das wird sich eben zeigen, indem es in die Praxis umgestaltet und eingeführt wird.

Ich habe deshalb oftmals zu den Menschen gesagt: Möglicherwei­se wird von den einzelnen konkreten Angaben, die ich mache, kein Stein auf dem anderen bleiben; aber dasjenige, was angeregt werden soll, das ist so gestaltet, daß es die Wirklichkeit an einem Zipfel an­faßt. Faßt man sie da an, dann wird sich vielleicht etwas ganz ande­res ergeben, aber man wird eben wirklich arbeiten. Darauf kommt es an, nicht auf Programme, nicht auf vorgefaßte Ideen, und wenn sie noch so gescheit sind, nicht aus ihnen heraus zu arbeiten, wenn sie noch so alt sind, sondern aus der Wirklichkeit des praktischen Lebens heraus zu arbeiten! Aber nicht arbeiten aus der Zufälligkeit

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des Alltags, sondern aus den großen, überschauenden Ideen, aus de­nen wirklich alle großen, auch sozialen Gestaltungen entstanden sind. Ich glaube, so denkt jedem, der in dieser Art über solche Fragen spricht, wie ich es heute versucht habe. Ich möchte durch einen Ver­gleich ausdrücken, wie ich das meine. In diesen Tagen wurde von je­mandem in einem Atelier, wo man es sonst nur mit plastischen Ar­beiten zu tun hat, wo für den Bau plastisch gearbeitet wird, ein Stuhlmödell ausgearbeitet. Diesem Stuhl sollte die Idee zugrunde ge­legt werden, daß er auf der einen Seite unserem Schönheitsgefühl ge­nügt, das wir in Anspruch nehmen bei dem Dörnacher Bau; auf dem anderen Seite soll er aber möglichst billig sein. Möglichste Billigkeit ist notwendig neben der entsprechenden Formgestaltung, in der ganzen Behandlung. Nun hatten wir ein Modell gemacht. Als wir dieses Modell dem Arbeiter übergaben, da haben wir uns gesagt: Da ist das Modell, aber jetzt fängt die praktische Gestaltung an, und möglicherweise wird das, was zuletzt als Stuhl herauskommt, ganz anders aussehen als das Modell. Aber das, was herauskommt, wird deshalb praktisch sein, weil das Modell praktisch gedacht war.

So möchte ich auch nun die Sache über die «Kernpunkte dem so­zialen Frage» aufgefaßt wissen. Alles dasjenige, was Sie finden wer­den als Anregungen zur sozialen Frage, zum Beispiel in dem «Sozia­len Zukunft» hier für die Schweiz, es sollen gewissermaßen dieses Buch und unsere sonstigen Ideen nur etwas sein wie eine Art Mo­dell; aber es soll ein praktisch gedachtes Modell sein. Nimmt man die Arbeit in diesem Sinne auf, so wird Praxis herauskommen. Viel­leicht sieht sie dann sogar ganz anders aus, aber sie wird sich doch nur wirklich praktisch gestalten, wenn man sie auf Grundlage eines praktischen Impulses in Angriff nimmt.

Ein solcher dreigliedriger sozialer Organismus könnte, wie ich meine, am leichtesten - verzeihen Sie, daß ich alle diese Sachen spre­che, besonders für diejenigen, die nicht vollständig drinnenstehen in diesen Dingen, aber ich möchte es dennoch aussprechen -, er könnte ganz besonders stark hier in diesem Lande, das mit Recht stolz ist auf seine alte Demokratie, verwirklicht werden. Denn weil hier ge­rade das demokratische Element ausgebildet ist, hat man es hier am

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leichtesten einzusehen, in welchem Weise der Weg gefunden werden soll, das Geistesleben und das Wirtschaftsleben auf beiden Seiten in entsprechendem Weise abzulösen. - In einem weitergehenden Entwik­kelung kam die Dreigliederungsidee herauf. Meint man es mit diesen Ideen ernst, so glaube ich, wird man gerade dann, wenn man in ei­nem demokratischen Gemeinwesen lebt, verstehen, es leichter ha­ben mit dem Verständnis, was für die Dreigliedemung des sozialen Organismus notwendigerweise geschehen kann. Sonst wird diese Dreigliederung des sozialen Organismus von links und von rechts, von allen Seiten angegriffen. Und während es gerade darauf hinaus­laufen soll, ernst und ehrlich es mit der sozialen Frage zu meinen, ist es so gekommen, daß ich zum Beispiel persönlich am allerunflätig­sten angegriffen werde gerade von den Führern der sozialistischen Parteien aller Schattierungen. Aber dasjenige, um was es sich han­delt, ist eben, daß drei große Ideen, die nur ernst und ehrlich ge­meint sein sollen, heraufgekommen sind in der Menschheitsent­wickelung. Die eine Idee ist die vom Liberalismus, die andere die von der Demokratie, die dritte ist die vom Sozialismus. Man wird, wenn man es ehrlich mit diesen drei Ideen meint, nicht alle drei durcheinandemmischen können, oder die eine durch die andere besei­tigen lassen können, sondern man wird sich sagen müssen: vom selbständigen Geistesleben muß etwas ausstrahlen, was bis in den Kapitalismus, was in den ganzen Organismus hineinflutet. Das ist das freie menschliche Entwickeln, das ist das liberale Element. In dem politischen Staate, im Rechtsleben, muß etwas leben, worinnen alle Menschen gleich sind. Das ist das demokratische Element. Und im Wirtschaftsleben muß das brüderliche Element walten. Das muß die wahre Grundlage einer sozialen Struktur abgeben. Darum han­delt es sich. Man sollte nicht dasjenige, was segensvöll zunächst im Laufe der neueren Menschheitsentwickelung heraufgekommen ist als die Folge des Liberalismus, dem Demokratie, des Sozialismus, man sollte es nicht einseitig bekämpfen und auch nicht einseitig ver­treten; man sollte durchschauen, wie im selbständigen Geistesleben wächst der alles übrige soziale Leben überleuchtende Liberalismus; wie im wirklichen Rechtsstaat wächst die wiederum alles übrige

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Leben überleuchtende Demokratie, wie in jenem Wirtschafsleben, das sich nur mit Wamenemzeugung, Warenzirkulation, Warenkon­sum und der dadurch bedingten Feststellung der gerechten Preise be­faßt, der wiederum alles dumchdringende Sozialismus waltet. Dann, wenn man dieses durchschaut, wird man seine Lebensauffassung heute richtig durchdringen mit der Erkenntnis, daß volle Irrtümer im äußeren Leben weniger schädlich sind, weil sie leichter durch­schaut werden können, als halbe öder Viertelswahrheiten.

Das aber, was heute vielfach als soziale Bewegung unter den Men­schen existiert, in das fluten herein Viertels-, Drittelswahrheiten. Und indem man sich an das hält, was eine Teilwahmheit ist, glaubt man das ganze Leben zu erfassen. Man sollte aber das ganze Leben nur umfassen wollen auch mit einem lebendigen Zusammenwirken der Wahrheiten. Die ganze volle Wahrheit, sie läßt sich nicht in ei­ner abstrakten Idee und auch nicht in einem abstrakten Wirklichkeit offenbaren. Sie läßt sich nur ergreifen in dem lebendigen Zusam­menwirken der Ideen. Dann wird sich aus den halben und Viertels-wahrheiten diejenige ganze Wahrheit des Lebens auch auf sozialem Gebiete ergeben können, die notwendig ist. Und man wird einse­hen, daß man wenigem nötig hat die Bekämpfung der vollen Irrtümer als die Richtigstellungen der halben und Viertelswahrheiten.

Das ist, was ich gerade heute besonders betonen wollte mit Bezug auf die Ideen dem Lebensnötwendigkeiten dem sozialen Frage in der Gegenwart dem Menschheit und ihrem nächsten Zukunft.

Schlußwort

Dr. Roman Boos macht darauf aufmerkaam, daß auch hier in der Schweiz auf wirtschaftli­chem Gebiet die Gefahr ungeheuer groß sei, und daß man deshalb imstande sein sollte, Schöpferisches herauszuholen, was eben unbedingt notwendig sein werde, und daß mit vol­lem Gewicht das aufgefaßt werden müsse, was Dr. Steiner in seinen Ausführungen heute nur andeuten konnte. (Eine Diskussion scheint nicht stattgefunden zu haben.)

Rudolf Steiner: In bezug auf das Schlußwort wird meine Ausfüh­rung sehr kurz sein können. Ich möchte betonen, daß vielleicht je­mand sagen könnte, in diesem Vortrage ist sehr viel vorgebracht worden über jedes Glied des sozialen Organismus, das geistige, das Rechtsleben, das Wirtschaftsleben; aber das alles sei ja für einen gro­ßen

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Teil derjenigen, die heute von dem sozialen Frage sprechen, gar nicht das, worauf es ihnen ankomme, sondern es sei eben die soziale Frage vor allem eine Wirtschaftsfrage.

Nun beachten Sie die ganze Haltung sowohl des Vortrages wie dessen, was mit dem Impuls für die Dreigliedemung des sozialen Or­ganismus gemeint ist. Sie können es ja aus dem Vortrage wenigstens teilweise ersehen: Da ist nicht hingestellt ein fertiges Programm, sondern da wird davon ausgegangen, daß der soziale Organismus sel­ber, also das menschliche Gesellschaftsleben in einer gewissen Weise gegliedert werden soll, so gegliedert werden soll, daß gesonderte Verwaltungen dastehen für das Wirtschaftsleben, für das demokrati­sche, politische öder Rechtsleben und eine selbständige Verwaltung für das Geistesleben.

Nun kann man natürlich leicht sagen: Da trennst du ja eigentlich, was eine Einheit sein muß, die ganze menschliche Gesellschaft, die menschliche Gesellschaftsorganisation in drei Gebiete. Aber gerade durch die selbständige Verwaltung der drei Gebiete wird es möglich, die richtige Einheit dieser Gebiete zu bewirken. Es handelt sich ja nicht darum, daß etwa erneuert werde, wie manche geglaubt haben, dasjenige, was in der vörchristlichen, in der platonischen Weltan­schauung gefördert wurde als Lehmstand, Wehmstand, Nährstand. Nein, damals hat man die Menschheit als solche gegliedert in drei Stände; so daß dem eine zu dem einen, der andere zum zweiten, dem dritte zum dritten Stande gehört hat. Gerade das soll vermieden wer­den, daß die Menschen nicht Menschen sein können im Ganzen, sondern in Stände zerfallen. Es wird nicht die Menschheit als solche gegliedert, sondern es wird das menschliche Leben gegliedert. Und derjenige, dem im Leben drinnensteht, er steht in einer gewissen Wei­se auf allen drei Böden: In dem Geistesleben insofern er einen leben­digen Anteil hat an dem Geistesleben in der einen oder anderen Wei­se; er steht darinnen in dem Rechtsleben, in den gesamten Rechtsfra­gen, weil er ein mündig gewordener Mensch ist in diesem Teil, ent­weder direkt durch irgendein Referendum oder indirekt durch Ver­tretung und dergleichen, und er steht in dem, wöminnen er durch sei­ne Person Kredit hat, oder Sach- und Fachkenntnis hat, in einem be­stimmten

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Wirtschaftsgebiete, in welchem er eingegliedert ist durch eine Assoziation; das ganze Wirtschaftsleben ist in sich gegliedert.

Und nun zeigt sich gerade an den verschiedenen Einwürfen, die gemacht worden sind, wie wenig man den Grundgedanken heute noch verstanden hat. So zum Beispiel erschien in einem Zeitschrift ei­ne lange Besprechung dieser Dreigliederung des sozialen Organis­mus, und es wurde gesagt: Ja, der will drei Parlamente an die Stelle des einen Parlamentes setzen - ein geistiges Parlament, ein Rechts-parlament und ein Wirtschaftsparlament. Worauf es ankommt, ist aber dieses, daß in einem demokratischen Parlament nur entschie­den werden kann dasjenige, wozu urteilsfähig geworden ist jeder Mensch, wozu keine Sach- und Fachkenntnis gehört, und daß gera­de ausgeschieden werden soll dasjenige, wozu Sach- und Fachkennt­nis gehört. Also, wenn auf dem Gebiete des geistigen Lebens und auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens kein Parlament dasein darf, so [deshalb, weil dort] die Sache eben umgekehrt ist. Es handelt sich al­so darum, ehrlich den Parlamentarismus zu verwenden, indem man ihn auf dasjenige Gebiet beschränkt, auf dem er sich wirklich sach­gemäß ausleben kann.

Daraus aber sieht man, daß der Nerv eigentlich wenig bis heute verstanden worden ist. Aber versteht man den Nerv dem Sache, dann wird man sehen, wie aus dem Fundamente heraus gerade diese Idee real gedacht ist. Wer da glaubt, durch irgendein Programm, sei es noch so schön ausgedacht, zum Beispiel das Wirtschaftsleben gliedern zu können nach einem bestimmten Struktur, der mag sich ja selbst sehr gescheit vorkommen, aber aus der Wirklichkeit heraus denkt er nicht. Aus der Wirklichkeit heraus denkt aber derjenige, dem sagt:

Die Menschheit muß in einem sozialen Organismus leben, dem von drei Seiten her verwaltet wird; dann wird dasjenige kommen, was soziale Struktur ist. Das werden die Menschen durch das, was sie erle­ben werden durch diese Dreigliederung des sozialen Lebens, gestalten. Das ist es, worauf es ankommt, nicht daß man sagt: Jetzt gibt es eine soziale Frage, die muß gelöst werden. Heute kann sie noch nicht ge­löst werden, morgen wird es möglich sein - dem eine sagt es auf die eine, der andere auf die andere Weise, aber so denken sehr viele.

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Nein, der denkt ganz unreal, der das glaubt. Es handelt sich dar­um: In der Menschheit ist die soziale Frage an die Oberfläche ge­kommen, und jetzt muß eine solche soziale Struktur hervorgerufen werden, daß diese soziale Frage fortwährend gelöst werden muß. Heute sind die Verhältnisse da, heute wird sie so oder so gelöst wer­den, nicht morgen werden sie gelöst werden. Und werden morgen andere Fragen auftauchen, so werden die Verhältnisse für morgen wieder gelöst werden müssen; dann werden wieder andere Dinge kommen, und die Menschen müssen in der sozialen Struktur drin­nenstehen. Es wird ein förtdauernder Prozeß sein. Die Lösung ist von Tag zu Tag neu in Angriff zu nehmen. Es ist nicht so etwa, daß man sagen kann, heute ist sie da und wird auch weiterhin so da sein, sondern man muß fragen: Wie muß die Gesellschaft gestaltet wer­den, daß das, was durch die Gesellschaft wird, in sozialem Sinne ge­staltet werden kann. Wer nicht in diesem Sinne real die menschli­chen Dinge nimmt, in realer Wesenheit denkt, der sieht nicht hinein in dasjenige, was in der Wirklichkeit vor sich geht.

Man glaubt heute zu denken, aber man denkt höchst unwirklich. Man glaubt zum Beispiel: das soziale Leben wird durch eine gewisse Umgestaltung des Wirtschaftslebens eine soziale Struktur bekom­men. Nun, schön, das wäre geradeso, wie wenn man glauben wollte, daß der einzelne menschliche Organismus durch dasjenige, was er ißt und trinkt, seine Struktur bekommt. Nein, der menschliche Organismus hat eine innere Gesetzmäßigkeit. Er hat eine solche Gesetzmäßigkeit, daß er schön in dem Altem des Zahnwechsels eine ganz bestimmte Umwandlung durchmacht, im Altem der Ge­schlechtsreife wieder eine andere Umwandlung durchmacht. Aus Umwandlungen, aus dem Inneren der menschlichen Organisation heraus kommen im menschlichen Organismus die Vorgänge; es kommen aber auch Vorstellungen im Lauf dem geschichtlichen Ent­wickelung. Diese ist heute an einem Punkt angekommen, auf dem es notwendig ist, daß die Dreigliedemung des sozialen Organismus in Angriff genommen werde!

Nun will ich zum Schluß nur noch das Folgende sagen, um Ihnen zu zeigen, wie die Dinge gemeint sind. Sehen Sie, wer wirklich mei­ne

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Schriften verfolgt, wird wissen, daß es mir durchaus nicht darum zu tun ist, wenn ich so etwas erlebe, über irgend jemanden zu spot­ten. Ich weiß am besten, wie berücksichtigenswümdig dasjenige ist, was auch das einfachste Gemüt vorbringen kann. Aber nehmen wir einmal das Folgende. In einer Diskussion wurde mir erwidert - ei­gentlich sind die Erwiderungen oftmals da, wo man heute glaubt be­sonders revolutionär zu sein, nach einem gewissen Schablone, auf die Erwiderung selbst braucht man nicht einzugehen - aber ein solchem Erwiderer sagte etwas, was nicht direkt zu tun hatte mit der Sache, er sagte: Sehen Sie einmal, sehr verehrte Anwesende, wir wollen durchaus nicht - er sprach vom Standpunkte des allerradikalsten Phraseurs der sozialistischen Partei -, wir wollen durchaus nicht, sagte er, die geistige Arbeit etwa abschaffen, wir wollen sie bestehen lassen; denn sehen Sie, so sagte er, ich bin zum Beispiel ein Schuh­flicker, ich weiß ganz gut, daß ich nicht die Arbeit eines Standesbe­amten verrichten kann; wir müssen also Leute anstellen, wenn wir einmal die Führung errungen haben, die dieses Amt übernehmen können. - Ein glöriöser Gedanke! Der gute Mann glaubte, die Ar­beit eines Standesbeamten nicht machen zu können, aber was er glatibte, war, ein Minister sein zu können, der dann die ganze Struk­tur bestimmte. Das war für ihn ganz selbstverständlich.

Solche Art einfachem Irrtümer, in denen man lebt, sind heutzutage im realen Leben das Wesentliche, das liegt durchaus zugrunde. Das sind Dinge, die da zeigen, wo Ansätze sind, die nicht zu irgend etwas Fruchtbarem führen können.

Dagegen hatte ich in der letzten Zeit auch von einer anderen Seite her das Folgende erfahren. Zu mir kam, nachdem ein Artikel ge­schrieben war, dem eigentlich die ganze Dreigliedemung des sozialen Organismus in Grund und Böden verdammte, zu mir kam dann in einen meiner Vorträge vor einigen Wochen ein Amerikaner, der sag­te: Ich habe diesen Artikel gelesen; dem Artikel ist so geschrieben, daß er alles beschimpft. Ja, da muß was daran sein! Und da habe ich mir die Sache beschafft, so sagte er. - Sie sehen, manchmal haben die beschimpfenden Artikel auch ihre guten Wirkungen. Dem Mann war nun schon, als er zu mir kam, ganz drinnen in dem Dmeigliederungs­idee.

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Er sagte zu mir: Glauben Sie, daß mit dieser Dreigliederungs­idee nun etwas gegeben sein wird, was im absölutesten Sinne nun für die ganze menschliche Zukunft gelten kann? Ich sagte: Nein. Wir haben eine Phase der geschichtlichen Entwickelung durchgemacht, welche dazu geführt hat, daß wir in diesem Einheitsstaate alles abge­schlossen haben. In diesem Einheitsstaate wurde abgeschlossen, sagen wir in Österreich, das Wirtschaftsleben, das Rechtsleben, das Geistes­leben, namentlich in Form des Völkerkulturlebens. Ich habe oft dar­über gesprochen. Es gab ja in diesem Österreich im 19. Jahrhundert solch eine Verwaltung, daß im 20. Jahrhundert gar nichts anderes möglich war, als was dazu geführt hat, daß zunächst die Bösnien­und Herzegowina-Sache geschah, diese Annexiön, die ja verhandelt worden ist. Das, was da entstanden ist, das wurde verquickt mit dem Bau der Salönikibahn, das heißt einer rein wirtschaftlichen Sache. Und aus dem entstand eine chaotische Durcheinandermischung, zu der noch ein mein geistiges Element, nämlich der Gegensatz des Sla­wen- und Magyarentums, kam. Und da braute sich zusammen aus dem furchtbaren Völkergewirme des Ostens dasjenige, was sich ergab aus dem Zusammengeknäultwemden dem drei Gebiete. Aber sie wa­ren eben so beschaffen, daß es zum Einheitsstaate hindrängte. Jetzt ist er reif, in die drei Glieder zu zerfallen. Und es wird wiederum ei­ne ganz andere Notwendigkeit in einer verhältnismäßig gar nicht zu fernen Zeit entstehen. Das Leben ist eben lebendig, ist nichts Abge­schlossenes. Man will etwas, was für immer und überall gilt!

Das ist das Unbequeme an solchen Ideen, daß sie nicht aus ab­strakten Ideen heraus erdacht sein können, wie Programme; die Pro-gramme führt man ein, und dann ist das erledigt. Nein, so ist es nicht; sondern solche Ideen, geistige Ideen, die rechnen mit dem Geistesleben, dem Rechtsleben und dem Wirtschaftsleben im drei­gliedrigen sozialen Organismus. Und daher können sie auch immer nur dasjenige, was für eine bestimmte Epoche gilt, finden. Und sie sind sich bewußt, daß wiederum dies in einer bestimmten Zeit abge­löst werden muß von etwas anderem. Sie machen auch Ernst mit der Entwickelung, indem sie auch das in der Entwickelung suchen, was sie selber für ihm Zeitalter finden können.

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Also, ich wollte nur in diesem Sinne ein praktisches Resultat zeigen und sagen, daß es sich nicht um irgend etwas Absolutes, wie bei ande­ren Programmen dem Gegenwart, handeln kann, sondern um etwas, was im eminentesten Sinne aus der Gegenwart heraus gedacht ist.

So findet dasjenige, was heute in die Welt treten will, die vemschie­denste Beurteilung. Es mag die verschiedenste Beurteilung finden, wenn nur diese Beurteilung, dieses Urteilen, sich endlich damit zu­mechtfindet, die Dinge lebensvöll zu studieren. Es kommt bei solchen Dingen nicht darauf an, daß pedantisch das ausgeführt wird, was ge­rade auf irgendeiner Seite angedeutet ist, sondern so wie es gemeint ist: daß die Wirklichkeit praktisch angefaßt wird. Dann mag von dem einzelnen, von den Einzelheiten, kein Stein auf dem anderen bleiben, aber es wird aus solchem lebensvöllen Anfassen dasjenige wirken und auch entstehen, was dem Heile dienen kann.

In diesem Sinne möchten aus der Wirklichkeit für die Wirklich­keit diese Dinge gesagt sein. Nicht eine einseitig politische, über­haupt nicht eine einseitig nur aufgefaßte Entwickelung ist von der Dreigliederung des sozialen Organismus aus gemeint und kann nicht gemeint sein. Und so möchte sie auch aufgenommen sein, diese Dreigliederung des sozialen Organismus, ohne emotionelle Gesinnung.

Auf der anderen Seite möchte sie so angesehen werden, daß sie unbefangen aufgefaßt werde, wie sie unbefangen gemeint ist. Von mancher Seite wird heute gesagt: Ja, diese Dreigliederung des sozia­len Organismus wäre ja ganz gut, aber sie müßte ganz zuletzt entste­hen; vorher müsse alles drunter und drüber gehen, vorher müsse Diktatur kommen und so weiter. - Wenn man so denkt, dann will man in Wirklichkeit eben nicht das Praktische, sondern dasjenige, was nur aus abstrakten Forderungen hervorgeht, die unmittelbar nur aus dieser öder jenem Seelenstimmung hervorkommen. Man will eben dann nicht die soziale Dreigliedemung, wie sie hier gemeint ist, sondern man will eigentlich dasjenige, in das man sich verliebt hat.

Wenn man aber ernsthaft im Leben etwas erringen will, muß man sich zu dem Standpunkt empormingen, dem unbefangen dieses Leben durchschaut und überschaut.

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GEISTESWISSENSCHAFT (ANTHROPOSOPHIE) UND DIE BEDINGUNGEN DER KULTUR IN GEGENWART UND ZUKUNFT Siebenter Vortrag, Basel, 20. Oktober 1919

Wenn Sie hier in Basel am Aeschenplatz in die Straßenbahn einstei­gen und nach Dornach hinausfahren, dann noch den kleinen Weg über Dornach machen, kommen Sie auf einen Hügel, auf dem sich der Goetheanumbau, der eine Hochschule für Geisteswissenschaft werden soll, erhebt. Obgleich sich nun, wie in erfreulicher Weise zu bemerken war und ist, in der letzten Zeit Tag für Tag eine außer­ordentlich große Besucherzahl einfindet, um diesen Bau zu besich­tigen, so muß man doch feststellen, daß, wenn irgendwie in der Außenwelt, zum Beispiel auch im Rahmen von Zeitungsartikeln, Antworten auf die Fragen gegeben werden, was eigentlich innerhalb dieses Baues, wenn er einmal fertig ist, getrieben werden soll, diese heute noch im allgemeinen - Ausnahmen selbstverständlich abge­rechnet - das Gegenteil einer Wahrheit darstellen. Alles mögliche wird ja von dem erzählt, was da getrieben werden soll einstmals oder schon jetzt getrieben wird in diesem Dornacher Bau. Jedenfalls sind die Antworten, die den Fragenden erteilt werden, sehr weit von dem entfernt, was die an der Geistesströmung, die diesem Dornacher Bau zugrunde liegt, Beteiligten eigentlich sich als ihr Ziel setzen. Denn dieses Ziel geht aus einer sorgfältigen Erwägung und Beobach­tung desjenigen hervor, was ich nennen möchte die Kulturbedin­gungen für die Menschheit in der Gegenwart und Zukunft. Und aus allerlei Voraussetzungen heraus, über die ich gerade am heutigen Abend mir erlauben werde zu sprechen, liegt dieser geistigen Bewe­gung, die im Dornacher Bau ihren Ausdruck finden soll, die Über-zeugung zugrunde, daß heute in den Sehnsuchten weiter Kreise das enthalten ist, daß eine völlige Gesundung, eine gesunde Weiterent­wickelung unserer Menschheitskultur erfolgen müsse von dem See­lischen des Menschen aus, von demjenigen aus, was der Mensch in seiner Seele als seinen Zusammenhang mit der geistigen Welt erfas­sen

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kann. Es liegt ihr die Überzeugung zugrunde, daß auch dem ge­genüber, was sich in unserem sozialen Leben an Forderungen und Bedrängnissen ausdrückt, vom Geiste und der Seele aus versucht werden muß, die Impulse zu finden, die den Sehnsüchten einer gro­ßen Anzahl von Menschen - und diese Anzahl wird immer größer und größer werden - entsprechen.

Nun kann man sagen, auch das zeigt sich - ich möchte es nur ne­benbei erwähnen -, daß jetzt an Sonntagen und anderen Tagen ziemlich viele Menschen aus Basel und der Umgebung hinauskom­men, um in dem provisorischen Saal unserer Schreinerei, in dem wir einstweilen diese Veranstaltungen abhalten müssen, bis wir das Goe­theanum selbst werden eröffnen können, zu sehen dasjenige, was wir unsere Eurythmie-Aufführungen nennen, und es steht zu glau­ben, daß eine große Anzahl derjenigen, die zu diesen Eurythmie­Aufführungen bereits nach Dornach hinausgepilgert sind, doch die Überzeugung gewonnen haben, daß auch in dieser Einzelheit auf ei­nem umgrenzten Gebiete versucht wird, etwas zu durchgeistigen, etwas in die Sphäre des Geistes zu erheben, was unter dem Einflusse des Materialismus der letzten Jahrhunderte eben auch heute noch von unserer Kultur mehr oder weniger materialistisch, physiolo­gisch und dergleichen betrieben wird.

Liegt doch in dieser Eurythmie vor eine Bewegungskunst des menschlichen Organismus selbst, die hervorgeholt ist aus den Orga­nisationsanlagen des ganzen Menschen, des ganzen Menschen, der da umfaßt Leib, Seele und Geist. Und abgesehen davon, daß ange­strebt wird in dieser Eurythmie eine besondere neue Kunstform, die eigentlich nicht zu vergleichen ist mit dem, was man oftmals als Nachbarkünste empfindet, so kann auch gesagt werden, daß auch diesen Bestrebungen zum Geiste hin zugrunde liegt dasjenige, was ich nennen möchte Beseelung der Bewegungsmöglichkeiten des menschlichen Organismus, die zum Beispiel im Turnen bloß in äußerlich physiologischer Weise, in rein materieller Weise aufgefaßt werden. Bewegungen soll der Mensch ausführen, und deshalb wird diese Eurythmie auch einmal einen geistig-pädagogischen Wert erhalten. Neben den künstlerischen Bewegungen soll dadurch der

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Mensch Bewegungen ausführen, die nicht so wie beim Turnen bloß hergenommen sind aus der Anatomie und Physiologie des Men­schen, sondern die hergenommen sind aus demjenigen, was in dem bewegten Menschen leben kann: Geist und Seele.

Nun, es ist schwierig, wenn man mit einer durchgreifenden Gei­stes- oder Seelenströmung heute vor die Welt hintritt, nicht mißver­standen zu werden. Man möchte sagen, die Mißverständnisse pfeifen eigentlich aus allen Löchern. Und so kann es denn vorkommen, daß zum Beispiel an einzelnen Orten einige Mißverständnisse in bezug auf die Geisteswissenschaft selbst schon weggeräumt worden sind, daß man dieser Geisteswissenschaft sogar gestattet, in soziale Fragen hineinzusprechen. Wir haben aber wiederum die, wie wir glauben Richtigkeit, wie aber andere gemeint haben Ungeschicklichkeit be­gangen, an einzelnen Orten, wo ich über Geisteswissenschaft und soziale Fragen zu sprechen hatte, gleichzeitig Eurythmie-Aufführun-gen zu machen. Und siehe da, sofort machte sich das Urteil geltend:

Wie kann eine geistige Bestrebung etwas wert sein, die gleichzeitig tänzerische Übungen aufführen läßt?

Nun, ich könnte Ihnen die Liste der Mißverständnisse, die wie gesagt aus allen Ecken kommen, leicht vermehren, denn die Welt urteilt doch noch vielfach heute so, als ob alles dasjenige, was im Dornacher Bau gemacht werden soll, irgend etwas Obskures sei, irgend etwas Dunkel-Mystisches. Man hört ja so vielfach heute, wenn von geistigen Bestrebungen die Rede ist, daß da oder dort, sogar an sehr vielen Orten, alles mögliche Mystische getrieben werde. Daß die Bewegung, die sich an den Dornacher Bau knüpfen soll, mit solchen obskuren mystischen Bewegungen nichts zu tun hat, das könnte diejenigen, die darauf ausgehen, in solchen Dingen klar und wahr zu sehen, schon die Tatsache lehren, daß derjenige, der vor Ih­nen steht und zu Ihnen spricht als von seiner Sache, von der Sache dieses Dornacher Baues, dieses Goetheanums, daß der zurückweisen kann auf ein bereits im Jahre 1894 geschriebenes Buch, «Die Philo-sophie der Freiheit». Und wenn jemand diese «Philosophie der Frei-heit» liest, ich denke, er wird nicht den Eindruck bekommen, daß durch diese «Philosophie der Freiheit» irgend etwas von obskurer

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Mystik, von Schwärmerei oder dergleichen in die Welt gebracht werden soll. Und ich darf sagen, schließlich durchdringt doch alles dasjenige, was den Hauptinhalt, den Hauptimpuls dieser geisteswis­senschaftlichen Bewegung bilden soll, von der ich zu sprechen habe, jene Sehnsucht der gegenwärtigen Menschheit, die sich ausspricht in dem Drang nach einer solchen Lebensgestaltung, innerhalb welcher der einzelne individuelle Mensch auf der einen Seite wohl seine so­zialen Pflichten erfüllen kann, aber dennoch andererseits als einzel­ner, individueller Mensch ein freies Wesen sein kann.

Einleitungsweise nur möchte ich hinweisen auf eine Erscheinung, die mit etwas Ihnen sehr Bekanntem zusammenhängt. Und wenn ich den Ausgangspunkt nehme in meinen heutigen Betrachtungen von einem Politiker, so glauben Sie durchaus nicht, daß ich mir es heute auch nur im Entferntesten zur Aufgabe machen werde, über die politische Kultur der Gegenwart zu sprechen. Ich möchte über die Kulturbedingungen der Gegenwart und Zukunft in einem viel breiteren Sinne sprechen; aber ich möchte doch ein Charakteristi­sches erwähnen, das uns zeigen kann, wie aus den Kulturbestrebun­gen und Kulturidealen der Gegenwart gewissermaßen der Ruf nach Freiheit sich herausarbeitet, nur eben so herausarbeitet, daß er wahr­haftig nicht tief genug genommen wird. Und ihn tief genug zu neh­men, zu vertiefen dasjenige, was die Sehnsucht der Menschheit nach Freiheit ist, das hängt innig zusammen mit der Auffassung, welche Geisteswissenschaft von den Kulturbedingungen der Gegenwart und Zukunft hat.

Diejenigen, die meine Vorträge in diesem Jahre und auch früher hier gehört haben, diese verehrten Besucher, die sich erinnern, wie ich gesprochen habe während derjenigen Zeit, in welcher man in Woodrow Wilson, man darf sagen, einen von aller Welt verehrten Mann sah, zu dem man hinaufsah, an den man zahlreiche Zukunfts­hoffnungen heftete, diese verehrten Zuhörer werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich, der ich in den Zeiten, in denen dieser Mann viele Anhänger hatte, meine Gegnerschaft frei zum Ausdruck brach­te von einem gewissen Gesichtspunkte aus, wenn ich heute von der besonderen Freiheitsauffassung, von dem besonderen Rufe nach

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Freiheit, der heraustönt aus der politischen Weltanschauung des Woodrow Wilson, meinen Ausgangspunkt nehme. Muß man doch glauben, daß der starke, sonst wie ich meine ganz unbegreifliche Eindruck, den Woodrow Wilson auf die Welt bis jetzt gemacht hat, wo die Sache aufhört, gerade darauf beruht, daß allen Programm­punkten, allem, was von diesem Manne in die Welt gegangen ist, schließlich in einer gewissen Weise zugrunde liegt der Impuls der menschlichen Freiheit. Sehen wir doch einmal zu, wie dieser Mann gewirkt hat, bevor er Präsident von Amerika geworden ist, sehen wir zu, was ihn groß gemacht hat als Präsident von Amerika. Wir werden finden, daß es seine Auffassung ist von einer möglichen sozialen Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens, in der der Mensch in demokratischer Art seine Freiheit haben kann. Woo­drow Wilson sah, wie innerhalb des Lebens von Amerika gerade in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und im Beginne des 20. Jahrhunderts sich herausgebildet haben jene großen Ansamm­lungen von Kapitalien in den Händen von wenigen Menschen. Er sah, wie sich gebildet haben die Trusts und so weiter. Und er sah, wie dadurch die Herrschaft über andere Menschen errungen haben einzelne wenige kapitalkräftige Menschen. Da setzte er mit seiner Betrachtung und Wirksamkeit ein. Da machte er zunächst den Im­puls der Freiheit geltend. Er forderte gegenüber der Ansammlung der wirtschaftlich-politischen Macht in den Händen von wenigen eine vollständige Demokratisierung des menschlichen Staatslebens. Er wollte, daß jeder einzelne Mensch die Möglichkeit habe, seine Fähigkeiten im menschlichen Zusammenleben zur Wirksamkeit zu bringen. Er wollte nicht, daß diejenigen, die einmal sich festgesetzt hatten in irgendeinem Industrie- oder Handelszweige, Monopole ha­ben können, gegen welche die berechtigten Fähigkeiten der Schwa­chen nicht aufkommen können. Er hat gewollt, daß gesucht werden die Anlässe zu dem, was im sozialen Leben geschehe, in jeder einzel­nen, auch der einfachsten Menschenstätte. Und er hat das oftmals zum Ausdruck gebracht. Und es ist charakteristisch für ihn, daß er überall seinen politischen Bestrebungen eben das Freiheitsziel unter-gelegt hat.

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Wir brauchen nur seine außerordentlich bedeutsame Schrift ins Auge zu fassen «Die neue Freiheit». Man möchte sagen, auf jeder Seite findet man da, wie sich das bewahrheitet, was ich eben ausge­sprochen habe. Ich will nur einen seiner bemerkenswertesten Aus­sprüche vor Ihnen zitieren. So sagte er: Es gibt nur ein Mittel, freies Leben zu schaffen, und es heißt: Sorge dafür, daß unter jedem Kleide ein freies und hoffnungsvolles Herz schlage. - Ich glaube wirklich, dasjenige, was so stark gewirkt hat, das ist dieser Ruf nach Freiheit.

Nun, dieser Ruf nach Freiheit tonte immer hinein in die praktisch-politisch-soziale Wirksamkeit. Die Schrift «Die neue Freiheit» ist ja eigentlich nur eine Sammlung von Wahlreden. Da ist also nicht die Rede von einer Freiheit, die nur philosophisch erspekuliert wird, da ist nicht die Rede von irgendeiner abstrakten bloßen Bewußt­seinsfreiheit, da ist die Rede von einer Freiheit, die sich im Leben verwirklichen und realisieren soll.

Nun, solch eine Freiheit, die sich im Leben verwirklichen und re­alisieren soll, ich suchte sie auch zu begreifen durch mein im Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschriebenes Buch «Die Philosophie der Freiheit». Aber ich darf es wohl jetzt, wo ich nach langem Zögern dieses Buch in einer neuen Auflage habe erschei­nen lassen, ich darf es wohl jetzt unverhohlen aussprechen, daß ich glaube, daß auch ein wirklich praktisches Ausleben der Freiheit nur möglich ist, wenn man diese Freiheit nicht aufsucht bloß im äuße­ren sozialen und politischen Leben, sondern wenn man sie aufsucht in der Tiefe der menschlichen Seele selbst. Und in der Tiefe der menschlichen Seele selbst sollte die Freiheit durch meine «Philoso­phie der Freiheit» aufgesucht werden. Bleibt man an der Oberfläche des bloßen sozialen und politischen Lebens oder des äußeren gesell­schaftlichen Lebens stehen, so wird man sehr bald sehen, daß die Verwirklichung der Freiheit gar nicht möglich ist, wenn man sie nur so faßt. Denn Freiheit ist etwas, was entspringen muß aus dem ein­zelnen Menschen, was nicht da sein kann, wenn die einzelnen Men­schen nicht fähig sind, dies zu verwirklichen, wenn die einzelnen Menschen es nicht erst hineingießen in das soziale Leben, das sie zu­sammen führen. Will man aber die ganze Bedeutung des hier Ange­regten

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würdigen, für die Kultur der Gegenwart durchschauen, dann muß man über manches, was die bloße Phraseologie bringt in der Gegenwart, hinwegsehen, und man muß einmal versuchen, über mancherlei Dinge ernst und ehrlich und wahr zu sprechen. Der Ruf nach Freiheit ist, ich möchte sagen, über die ganze gebildete Welt hin da. Er ist heute da für den, der ihn nur hören will, für die ameri­kanische, für die europäische, für die asiatische Welt. Und die Frage ist nur diese: wie kann aus dem Leben der Gegenwart heraus das Bewußtsein der Freiheit verwirklicht werden?

Da muß man sich einmal genauer anschauen, wie ein von dem Freiheitsimpuls begeisterter Mann wie Woodrow Wilson, über die Freiheit heute redet, und wie andere über die Freiheit heute reden. Sonderbar wird es Ihnen klingen, und ich muß gestehen, ich habe lange gezögert, ob ich in so schroffer Form, wie ich es tun werde, die Wahrheit, die ich hier zu sagen habe, aussprechen werde, weil solche Dinge heute noch viele Menschen schockieren, weil man sol­che Dinge noch viel zu sehr nach den gewohnten Phrasen nimmt, viel zu wenig eingeht auf dasjenige, was eigentlich hinter diesen Din­gen steht. Lesen Sie das Buch «Die neue Freiheit» von Woodrow Wilson, nehmen Sie auf, wie er da spricht über die sozialen Verhält­nisse von Amerika und schließlich über die sozialen Verhältnisse der gegenwärtigen Zivilisation überhaupt. Was finden Sie darinnen? Eigentlich nur Kritik, Kritik darüber, wie diese Freiheit innerhalb der heutigen Zivilisation nicht verwirklicht ist, wie man streben müsse, diese Freiheit innerhalb der heutigen Kultur und Zivilisation zu verwirklichen. Es sind scharfe Worte in dieser Richtung der Kri­tik in dem Buche von Woodrow Wilson «Die neue Freiheit». Und wenn man bei der Kritik stehen bleibt - und viel anderes als Kritik ist nicht in diesem Buche zu finden - und nun wirklich ernst und ehrlich sich frägt: Wie verhält sich diese Freiheitskritik oder auch so­ziale Kritik Woodrow Wilsons zu der Kritik, die von anderer Seite geltend gemacht wird? -, da kommt man zu einem merkwürdigen Resultate. Ich habe mich zum Beispiel bemüht, Lenins und Trotzkis Kritik der Freiheit daraufhin einmal zu prüfen, wie sich diese Kritik der Freiheit und der sozialen Zustände zu der Kritik des Woodrow

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Wilson in der Neuen Freiheit verhält, und ich glaube, daß derjenige, der einen solchen Vergleich ehrlich und wahr anstellt, nichts ande­res sagen kann als: Mit Bezug auf die Kritik der sozialen Verhältnisse und der Realisierung der Freiheit in denselben heute stimmt Woo­drow Wilson mit Lenin und Trotzki überein, so verschieden auch die Konsequenzen sind, die sie ziehen.

Solch eine Wahrheit muß man sich gestehen können, auch dann, wenn man es ganz begreiflich findet, daß trotz dieser Kritik Woo­drow Wilson selbstverständlich zu den entgegengesetzten Konse­quenzen kommt wie Lenin und Trotzki. Und wenn man auch gera­de so wie derjenige, der vor Ihnen steht, überzeugt davon ist, daß Lenin und Trotzki die Totengräber, nicht die Neubegründer eines sozialen Lebens sind, daß kaum irgend etwas Schlimmeres über die Menschheit kommen könnte, als wenn die Ideen von Lenin und Trotzki ihre Verwirklichung finden würden - aber eine wichtige, eine bedeutsame Tatsache spricht sich in dem aus; was eben jetzt auseinandergesetzt sein muß, die Tatsache spricht sich aus, daß von den entgegengesetztesten Parteistandpunkten aus, von den entge­gengesetztesten sozialen Leidenschaften aus die Menschen heute zu ähnlichen Kritiken der bestehenden Kulturverhältnisse kommen und schließlich auch zu dem abstrakten Rufe nach Freiheit. Nur fassen sie diese Freiheit in sehr, sehr verschiedenem Sinne auf.

Durchdringt man die Tatsache, daß schließlich der wahre Impuls der Freiheit nur aus den Tiefen der menschlichen Seele selbst kom­men kann, dann frägt man wohl auch: Worinnen liegt es denn, daß trotz allem Politisieren und Rufen nach Freiheit von Woodrow Wil­son so viel in seinem Buche steht und auch in seinen übrigen Bü­chern, von dem man sagen muß, es sind abstrakte, unpraktische Wahrheiten, die niemals in die Wirklichkeit eindringen können? Ich glaube, daß dasjenige gerade, was sich Woodrow Wilson unter Freiheit denkt, daß das gerade ihn abhält, ein wirklich praktischer Mensch für das Seelenleben der Gegenwart zu sein. Sehr charakteri­stisch ist es, wie Woodrow Wilson die Freiheit erklärt. Fr erklärt sie, man möchte sagen, wie wenn er die ganze Summe seiner Begriffe aufgenommen hätte von der Maschinenkunst her. Er sagt zum Beispiel:

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Ein Schiff bewegt sich frei, wenn es so eingerichtet ist, daß sei­ne Apparate genau angepaßt sind den Windbewegungen, den Wel­lenbewegungen, wenn es keine Hindernisse und Hemmungen er­fährt von der Windbewegung, von den Wellenbewegungen, wenn es gleichsam dahingetragen wird frei, ohne zu widerstreben dem, was es dahinträgt. - Und so wäre ein Mensch frei im Sinne von Woo­drow Wilson, der so angepaßt wäre an die sozialen äußeren Verhält­nisse, daß nichts in ihm Hindernisse und Hemmungen abgäbe, um dahingetragen zu werden, so daß er gleichsam nirgends fühlt, er sei abhängig, er sei eingezwängt, er sei gestört nach irgendeiner Rich­tung. Man braucht eigentlich nur einen einzigen Satz ernst zu neh­men, dann wird man finden, welche Bedeutung diese Anschauung des Woodrow Wilson über die Freiheit hat. Vergleichen wir ernst und ehrlich den Menschen, der frei sich aus dem innersten Antriebe seiner Seele betätigen soll in irgendeiner menschenwürdigen sozialen Ordnung, vergleichen wir ihn mit einem Schiffe, das möglichst we­nig Hemmungen entgegensetzt den Windeskräften und den Wellen-kräften, dann lassen wir ganz außer Auge, daß das Schiff von einer anderen Kraft still gehalten werden muß gegen Wind und Welle, sich selber nicht still halten kann, daß aber der Mensch, wenn er frei sein soll, ganz gewiß nicht von den sozialen Kräften bloß hingetra­gen werden soll, sondern daß er unter Umständen gerade anhalten können muß und sich auch den Kräften, die auf ihn einwirken, ent­gegenstellen können muß. Das Gegenteil von dem wäre hier heraus­gekommen für eine wirkliche Idee von Freiheit, was sich als eine Art Definition der Freiheit bei Woodrow Wilson findet. Und das werden wir finden, daß der unbestimmte Ruf nach Freiheit heute in vielen Menschenseelen sitzt, daß aber dasjenige, was sie bewußt mit dem Impuls der Freiheit verbinden, etwas anderes ist, als wonach sie unbewußt wirklich streben. Das stand mir schon vor dem Seelenau­ge, als ich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus dem menschlichen Geiste heraus meine «Philosophie der Freiheit» konzi­pierte. Mir stand vor Augen, wie die Frage: Kann der Mensch über­haupt innerlich frei oder unfrei sein? - wie diese Frage Philosophie und Weltanschauung und religiöse Überzeugungen durch die ganze

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zivilisierte Menschheitsentwickelung hindurch beschäftigte. Ist der Mensch ein Wesen, ein Naturwesen, das rein durch Naturursachen getrieben wird, dann ist er nicht frei. Oder lebt in dem Menschen eine Wesenheit, die dasjenige, was er als äußeres leibliches Wesen ist, nur wie einen Apparat besitzt und gebraucht aus den eigensten in­nersten Impulsen heraus? Wäre er das, dann könnte davon gespro­chen werden, daß er, dieser Mensch, ein wirklich freies Wesen sei. Ist der Mensch frei oder ist er nicht frei? Ist er das eine oder das an­dere durch seine Wesens- und Naturanlage? Diese Fragen standen vor meiner Seele. Und wer innerhalb der heutigen Wissenschaftlich­keit sich an diese Fragen heranmachen will, der muß allerdings Re­chenschaft abgeben, wie er es hält mit den verschiedenen Anschau­ungen, die sich da und dort in der ganzen zivilisierten Menschheits­entwickelung über die Freiheitsfrage geltend gemacht haben.

Nun erschien mir die Hauptsache darinnen zu liegen, daß die Fra­ge gewöhnlich ganz falsch gestellt wird, die Frage: Ist der Mensch durch seine eigene Natur und Wesenheit ein freies Wesen oder ist er es nicht? Sie ist falsch gestellt. Und sie kann als falsch gestellte Frage niemals mit einem glatten Ja oder Nein beantwortet werden. Und so werden Sie finden, daß meine «Philosophie der Freiheit» darauf aus­geht, die ganze Fragestellung auf einen anderen Boden zu bringen. Allerdings, dasjenige, was ich nun ausführen werde, liegt mehr als die Grundlage unter dem, was in meiner «Philosophie der Freiheit» selber dargestellt ist. So wie der heutige Mensch ist, in dem eigentlich erst das rechte Bewußtsein von einer Freiheit erwacht ist, so hat sich dieser heutige Mensch herausentwickelt aus früheren Zuständen der menschlichen Wesenheit. Heute wird viel zu wenig darauf Rück­sicht genommen, daß man ernst und ehrlich das Entwickelungsprin­zip auch auf die Menschheit anwenden müßte. Zwar denkt man, in recht, recht ferner Vergangenheit, da war der Mensch einmal so eine Art affenartiges Wesen; dann sagt man: Es ist wissenschaftlich noch nicht an der Zeit, darüber zu sprechen, wie aus diesem Affenwesen, aus diesem tierischen Affenwesen, das da einmal auf Bäumen herum­geklettert ist, der heutige Mensch geworden ist. Man läßt eine lange, weite Wüste sein zwischen dem Affensein des Menschen und dem

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heutigen Menschen. Aber wenn man das auch nicht zugibt, im we­sentlichen hat man doch die Vorstellung, daß, als der Mensch einmal Mensch geworden ist, sein Seelisch-Geistiges sich nicht mehr beson­ders radikal geändert habe. Ich weiß, daß das ein anfechtbarer Satz ist. Wer aber die Entwickelungsgeschichte der Menschheit, wie sie gewöhnlich angesehen wird, auf sich wirken läßt, der wird diesen Satz doch berechtigt finden. Und wer genauer eingeht auf diese Ent­wickelungsgeschichte der Menschheit, der wird finden, daß so, wie sich der Mensch entwickelt hat, in ihm zwar das Bewußtsein nach Freiheit erwacht ist, so daß aus den Tiefen der Menschenseelen her­aufquillt der Ruf: Du mußt erstens aus deinen eigenen Leidenschaf­ten, Emotionen, Empfindungen und Gefühlen heraus frei handeln können; du mußt in einem gesellschaftlichen Zustande leben, in dem du frei sein kannst. Aber auf der anderen Seite ist dieser Ruf ei­gentlich nur als ein solcher vorhanden. Es ist heute auch nicht das Menschheitsbewußtsein vorhanden, welches diesen Ruf im Men­schen selber zu seiner vollen Bedeutung kommen läßt. Das heißt, der Mensch findet nicht genügend in sich von seiner eigenen Wesen­heit, so daß er von diesem in sich sagen könne: ja, da ist etwas in mir, welches ein freies Wesen ist. Wir sind im Lauf der Menschheits­entwickelung aufgestiegen zu einer großartigen Entwickelung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, und der letzte wird sein der­jenige, der die hier gemeinte Geisteswissenschaft vertritt, der die großartigen naturwissenschaftlichen Fortschritte - ich habe das hier oftmals auseinandergesetzt - irgendwie ableugnen möchte oder ge­gen die berechtigten naturwissenschaftlichen Anschauungen etwas einwenden wollte. Aber so wie wir die Naturwissenschaft in der neueren Zeit ausgebildet haben, so bedeutet dieses, daß der Mensch der neueren Zeit, der letzten drei bis vier Jahrhunderte, sich eigent­lich nur begreifen kann als ein leibliches Wesen. Aus den Tiefen des Menschenwesens, aus dem naturgemäß gegebenen Menschenbe­wußtsein steigt gar nicht so herauf: du bist ebenso eine reale Seele, du bist ebenso ein realer Geist -, wie heraufsteigt aus den Tiefen des Menschenwesens: da hast du deinen Arm, da hast du deine Hand, die sind aus Fleisch und Blut und Knochen.

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Das ist nicht bloß, ich möchte sagen, eine Nachlässigkeit der Weltanschauung. Man verkennt vollständig, was da eigentlich zu­grunde liegt, wenn man dies bloß kritisiert, was ich jetzt ausgespro­chen habe, und darinnen bloß eine Nachlässigkeit der Weltanschau­ung sieht, wenn man bloß sagt: Die Menschen der Gegenwart sind so bequem, daß sie eben glauben, der Mensch sei nur ein materielles Wesen, und es spreche sich in ihm nichts Seelisches und Geistiges aus. Nein, meine sehr verehrten Anwesenden, mit einer solchen Kri­tik kommt man nicht weiter, man muß vielmehr einsehen, so wie sich der Mensch entwickelt hat, so ist er zunächst - wenn er nichts anderes in seine Seele herein aufnimmt als dasjenige, was eine heute äußere Naturanschauung und äußere Naturwissenschaft und das Zeitbewußtsein bieten können - dazu gezwungen, sich nur als ein materielles Wesen zu fühlen. Mit anderen Worten, wenn wir dasje­nige, was von der Gegenwartskultur die Zeit besonders liebt, was von der Gegenwartskultur die Zeit besonders als Wissenschaft, als Kunst, als religiöse Überzeugung hervorbringt und auch in die Schu­len hineinwirken läßt, wenn wir das auf den heutigen Menschen so wirken lassen, daß er sich davon durchdringt, so wird er, wenn er ehrlich ist, gerade zum Materialisten werden müssen. Das ist ein har­tes Wort. Aber es ist, wie ich glaube, ein richtiges Wort. Man kann heute in einer gewissen Beziehung unehrlich sein, kann aus irgend­welchen Vorurteilen heraus sagen: Ich glaube doch an Geist und Seele. - Dann meint man es mit dem, was eigentlich das Zeitbewußt­sein und die naturwissenschaftlichen Überzeugungen hervorgebracht haben, nicht ernst. Und nimmt man es ernst mit diesen Überzeü­gungen, so bleibt nichts anderes übrig, als daß der Mensch sich als ein materielles Wesen fühlt. Er hat einmal sich so entwickelt, daß wenn er sich heute bloß seinen selbstgegebenen Lebensbedingungen überläßt, er nur zu dem Glauben kommt, er sei ein leibliches We­sen. Ein leibliches Wesen kann ebensowenig wie irgendein anderes Naturwesen ein freies Wesen sein. Daher kann man sagen: Wenn das Gegenwartsbewußtsein ernst genommen wird, so entspringt aus diesem Gegenwartsbewußtsein nirgends so etwas wie der Impuls der Freiheit. Man kann den Ruf nach Freiheit ertönen lassen aus unterbewußten

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Instinkten heraus, wie Woodrow Wilson das tut. Aber man wird zu verkehrten Begriffen von Freiheit gelangen, zu einer Defini­tion der Freiheit, die nichts über Freiheit und ein freies Wesen sagt, wie es wiederum Woodrow Wilson tut, wenn man in dem Zeitbe­wußtsein der Gegenwart aufgeht. Man muß den Mut haben, aus die­sem Zeitbewußtsein, das die weitesten Kreise ergriffen hat, das po­pulär geworden ist, herauszugehen. Und man kann sagen, gerade in der Zeit, als ich meine «Philosophie der Freiheit» geschrieben habe, da konnte man sich mit solchen Ideen, gleichgültig, wo man auf der Erde lebte, recht einsam fühlen innerhalb der Gegenwartskultur. Man kann es verstehen, wenn aus dem - weltgeschichtlich gespro­chen - jungen Leben Amerikas heraus die besonderen Anschauun­gen des Woodrow Wilson erwachsen sind. Und wenn ich meine «Philosophie der Freiheit» heute anschaue - ich darf auch darüber ein offenes Wort sprechen -, weiß ich, wie berechtigt jene Vorwürfe sind, die dem heutigen Leser dieser «Philosophie der Freiheit» auf­stoßen können. Ich weiß sehr gut, wenn sich heute jemand in die er­sten dreißig, vierzig Seiten dieses Buches hineinliest, so wird er sagen:

Nun, das trägt deutlich die Eierschalen der deutschen Philosophie an sich, Professorenbegriffe, Universitätsbegriffe, Schulbegriffe.

Ich muß aber dennoch an der Form dieses Buches festhalten und appellieren an die Gegenwart so, daß ich sage: Wie man nicht neh­men sollte das Wesen des Menschen nach seinem Anzuge, so sollte man auch meine Philosophie nicht nach ihrer Einhüllung in die Be­griffe nehmen, die ihr nun einmal als solche Einhüllung dienen mußten aus der Zeit heraus und aus der Bildung heraus, aus dem Geistesleben heraus, innerhalb dessen diese Philosophie entstanden ist. Mir erscheint vielmehr etwas anderes wichtig, das mir, ich möchte sagen, wie symbolisch während dieser Ausarbeitung meiner «Philosophie der Freiheit» entgegengetreten ist. Ich arbeitete dazu­mal zugleich, indem ich an dieser Philosophie arbeitete, am Goethe-und Schiller-Archiv in Weimar. Da arbeitete einige Zeit mit mir zu­sammen ein amerikanischer Gelehrter. Er arbeitete eine literarhisto­rische Abhandlung aus über Goethes «Faust». Es war sehr interes­sant, mit dem Manne zu sprechen, und wer in Symptomen sehen

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kann die Wirklichkeit, der hatte gewissermaßen amerikanisches Geistesleben mitten im mitteleuropäischen Geistesleben um sich in dem ausgezeichneten amerikanischen Literarhistoriker Calvin Tho­mas. Aber sehen Sie, da arbeiteten, ich möchte sagen, wie in einem exakten mitteleuropäischen Büro im weimarischen Goethe- und Schiller-Archiv alle möglichen Gelehrten, also auch amerikanische Gelehrte. Ich konnte, wenn die Amtsstunden vorüber waren, nur meine Mußezeit dazu verwenden, an meiner «Philosophie der Frei­heit» zu schreiben. Aber da mußte ich mir doch oftmals sagen: Wie nahe steht denn eigentlich dasjenige, was in Calvin Thomas' Kopf amerikanisches Wissen, amerikanische Erkenntnis ist, demjenigen, was auch die europäischen Gelehrten in derselben Sache schrieben, und wie einsam ist man gegenüber dieser Kulturbildung, der ganzen Welt gegenüber mit dem, was aus einem unabhängigen Geistesleben als eine wirkliche Idee der Freiheit konzipiert werden kann. Man fühlte sich gewissermaßen auch demjenigen gegenüber einsam, was aus dem - weltgeschichtlich gesprochen - jungen Freiheitsgefühl Amerikas heraus an einer Idee über den Impuls der Freiheit herkom­men kann. Und mir war es dazumal ein Anliegen, die ganze Frage­stellung der Freiheit, wie ich schon sagte, auf einen anderen Boden zu bringen. Ich mußte mir sagen: So wie der Mensch ist, wenn er sich nur selbst demjenigen überläßt, wenn er nur dasjenige nimmt, was zunächst seine Seele aus dem Zeitbewußtsein heraus erfüllen kann, dann kann er sich gar nicht als ein freies Wesen wissen. Des­halb stellte ich die Frage anders. Und diese andere Fragestellung durchdringt dasjenige, was ich anerkenne als die Idee der Freiheit. Ich kann nicht fragen: Ist der Mensch frei oder ist er nicht frei? -sondern: Kann der Mensch im Inneren seiner Seele, nachdem er durchgemacht hat dasjenige, was sich ihm gleichsam von der Natur und von seiner Wesenheit heraus selbst ergibt, weiter seine Seele entwickeln, indem er seine Seelenentwickelung selbst in die Hand nimmt, und kann er dann etwas in ihm Schlafendes so aufwecken, daß dieses eigentlich tiefere Wesen in ihm dann zur Geltung kommt, so daß er durch diese Erweckung eines zweiten Menschen in ihm erst ein freies Wesen wird? Kann der Mensch sich erziehen zur Freiheit,

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oder kann er es nicht? Kann der Mensch ein freies Wesen wer­den oder nicht? Wie wird er ein freies Wesen? - Das war die neue Fragestellung, die aufgeworfen werden mußte.

Damit aber war hingewiesen darauf, daß der Gegenwartsmensch, wenn er überhaupt zum Bewußtsein des vollen Menschen kommen will, nicht stehenbleiben darf bei dem, was sich von selbst dem Men­schen ergibt in seiner Entwickelung, sondern daß er seine Entwicke­lung in die Hand nehmen muß. Allerdings ist das ein Gesichtspunkt, der heute recht, recht vielen Menschen höchst unbequem ist. Denn um ihn plausibel zu machen, muß man ja das Folgende zu den Men­schen sagen: Seht einmal ein fünfjähriges Kind an. Denken wir uns, dieses fünfjährige Kind stehe vor einem Band lyrischer Gedichte von Goethe. Dieses fünfjährige Kind, das vor dem Band lyrischer Ge­dichte von Goethe steht, wird mit diesem Band lyrischer Gedichte etwas machen; es wird ihn zerreißen, vielleicht zerbeißen, oder an­deres, aber man kann nicht voraussetzen, daß dieses fünfjährige Kind das Richtige mit dem lyrischen Band von Goethe machen wer­de. Aber das Kind kann sich entwickeln, das Kind kann herangezo­gen werden, so daß es später das Richtige machen lernt mit diesem Band lyrischer Gedichte von Goethe. Nun, wie wäre es, wenn man zu den gegenwärtigen Menschen sagen würde: Überlasse du dich nur demjenigen, was dir das Zeitbewußtsein von selbst gibt, dann verhältst du dich zu den eigentlichen Geheimnissen der Natur, zu den eigentlichen Geheimnissen der Welt um dich wie das fünfjährige Kind zu dem lyrischen Band Goethe. Es hat den ganzen lyrischen Band Goethes vor sich wie ein ganz verständiger Mensch, aber es dringt natürlich nicht ein in dasjenige, in das man eindringen kann als ganz verständiger Mensch. Es muß erst erzogen werden. Nun setzt der Ruf nach Freiheit in Wirklichkeit voraus, daß der Mensch wirklich die große intellektuelle Bescheidenheit habe, sich zu sagen:

Vielleicht stehe ich vor der Natur, vor der Wesenheit der Welt, wie das fünfjährige Kind vor dem Band lyrischer Gedichte von Goethe steht. Ich muß erst selbst die Entwickelung meiner Seele in die Hand nehmen, dann wird so, wie für das fünfjährige Kind nach fünf oder sieben Jahren der lyrische Band Goethes etwas ganz anderes wird,

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dann wird für mich die Welt etwas ganz anderes. Während ich vor­her, wenn ich mich nur dem überlasse, was von selber kommt, ein unfreies Wesen bin, erwacht in mir ein anderer Mensch, wenn ich meine Entwickelung selber in die Hand nehme. Und indem dieser andere Mensch mich durchglüht, mich durchwärmt, mich durch­dringt, werde ich ein freies Wesen.

Ja, das war als das Fundament einer menschlichen Freiheitsauf­fassung in meiner «Philosophie der Freiheit» ausgesprochen, und es war nicht etwa bloß als eine philosophische Wahrheit gedacht, sondern es sollte gezeigt werden, daß durch das, was da der Mensch in sich erweckt, indem er sich weiterbringt - als wenn er dasjenige nur erreicht, was ihm von selbst gegeben wird -, indem der Mensch sich so entwickelt, entwickelt er ja ein gleichsam vorher schlafendes, verborgenes Tatsächliches in sich. Er schafft etwas in sich, das ihn erst zur Freiheit bringt. Solange man theoretisiert, solange man abstrakte Ideen ausdenkt, werden diese Kopfsache des Menschen sein. Sie werden nicht sonderlich den ganzen Menschen ergreifen. Es könnte ja eigentlich jeder, der sich mit solchen Din­gen befaßt hat, wissen, wie schattenhaft die schönsten, die idealsten abstrakten Ideen in den Menschen leben. Anders ist es, wenn nicht abstrakte Ideen, sondern Leben selbst in dem Menschen erweckt werden soll, wenn der Mensch lebendig etwas durchmachen soll, wodurch etwas in ihm erwacht, was vorher nicht da war. Das ist ein Lebendiges, das den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, das nicht nur eine Kopfsache ist, das eine Sache von Seele und Geist des ganzen Menschen ist. Da nimmt man zusammen alle Empfin­dungen, alle Impulse, da nimmt man zusammen das ganze mensch­liche Willensleben, da wird Freiheit zu einer realen Kraft im Men­schen, da wird Freiheit zu etwas Erlebtem. Dann aber, wenn sie zu etwas Erlebtem wird, dann will sie der Mensch auch in dem äußerlichen Zusammenleben ausgestalten, dann kommt er von seinem Erleben der Freiheit, indem er mit anderen Menschen lebt, auch zu einer Idee von einer solchen sozialen Struktur des mensch­lichen Zusammenlebens, in dem nur die Freiheit verwirklicht sein kann.

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Daher versuchte ich im zweiten Teil meiner Philosophie eine Sit­tenlehre der Menschen zu begründen, eine soziale Anschauung zu begründen, die, ich möchte sagen, dann wie selbstverständlich aus dem erwachten Freiheitsgefühl und Freiheitssinn hervorgehen müs­se. Nimmt man so den Impuls der Freiheit als etwas, das man im tiefsten Wesen des Menschen lebendig erfaßt, dann ist die Freiheit keine abstrakte Idee, dann ist die Freiheits-Philosophie keine bloße Philosophie, dann ist dasjenige, was durch eine solche Anschauung von der Freiheit ausgesprochen wird, etwas, was in alles Handeln des Menschen, in alle Zielsetzungen des Menschen übergeht. Dann ist darinnen etwas enthalten, wonach die anderen rufen, wenn sie von Freiheit sprechen, das aber derjenige findet, der nicht stehen-bleibt bei den Weltanschauungen der Gegenwart, wenn er die Frei­heit verstehen will, sondern der aufsteigt zu dem, was im Menschen schlummernd liegt und was erweckt werden kann. Dasjenige, was so, ich möchte sagen, als eine Freiheitssprache zu der Menschheit geredet werden kann als innig zusammenhängend mit den Kulturbe­dingungen der menschlichen Gegenwart und Zukunft, das bedurfte nun allerdings in seiner weiteren Entwickelung noch eines anderen.

Und hier ist der Grund, warum übergegangen werden mußte von der Grundlegung einer Freiheitsphilosophie zur anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft. Nehmen Sie eines der Hauptbü­cher dieser anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, mein Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Da finden Sie im einzelnen die Wege charakterisiert, die der Mensch in­nerlich seelisch und geistig einschlagen muß, damit in ihm dieses Be­wußtsein des anderen Menschen, des wirklich freien Menschen er­wachen kann. Da finden Sie, wie es möglich ist, daß der Mensch wirklich zu einer solchen Erfassung seiner eigenen Wesenheit kommt, daß ihm die wahre Gestalt des Denkens und auch des Wol­lens vor die Seele tritt. Und ich darf dabei auf etwas hinweisen, auf das ich in einem der letzten der hier gehaltenen Vorträge schon hin­gewiesen habe: Denken und Wollen wird für den etwas anderes, als es für das gewöhnliche Bewußtsein ist, der so, wie es beschreibt mein Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»,

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in das Menschenwesen eindringt. Man lernt erkennen an dem Den­ken, wie das Wesen, das man dann erfaßt als das höhere Menschen-wesen, schon da war, bevor der Mensch durch Geburt oder Emp­fängnis in das physische Dasein getreten ist. Man lernt erkennen an der wahren Gestalt des menschlichen Willens, wie der Mensch sein Wesen durch die Todespforte hinein in die geistige Welt trägt. Man lernt erkennen, indem man sich wirklich erhebt, sich entwickelt zu der wahreren Wesenheit des Menschen, das Ewige im Menschen.

Damit aber sind erst die Wege richtig im einzelnen gezeichnet, welche den Menschen dazu bringen, ich möchte sagen, die «Philoso­phie der Freiheit» wie etwas Selbstverständliches anzusehen; die We­ge dazu sind gezeichnet, zu finden das wirklich freie Menschenwe­sen. Damit aber ist zugleich gedient den tieferen Kulturbedingungen der Gegenwart und Zukunft, die sich aussprechen gerade in solchen Rufen nach Freiheit, wie ich sie in der Einleitung meines heutigen Vortrages charakterisiert habe.

Was braucht denn der Mensch, wenn er all dasjenige, was er intensiv fühlt über ein menschenwürdiges Dasein, was braucht der Mensch an Inhalt für sein innerstes Menschenbewußtsein? Dasjenige, was ich da sagen will, das wird sich vielleicht am besten veranschau­lichen lassen, wenn ich Sie zurückverweise auf den Ausgangspunkt der geistigen Menschheitskultur der letzten drei bis vier Jahrhunder­te. Denn es war ein Großes, als in der Morgenröte der neueren Menschheitsentwickelung aufgetreten sind Geister wie Kopernikus, Galilei, Gioroano Bruno und so weiter. Was taten sie im Grunde? Sie brachen mit den Erkenntnis- und Weltanschauungsüberlieferun­gen der alten Zeit und wiesen den menschlichen Blick hin auf die unbefangene Beobachtung der Außenwelt. Vorurteile wollten sie zerstreuen. Dasjenige wollten sie klar hinstellen, was der Mensch durch die Beobachtung der Außenwelt gewinnen kann. Nach und nach ist aber damit etwas anderes eingetreten, ist dasjenige eingetre­ten, das ich zum Teil schon charakterisiert habe. Das ist eingetreten, daß ein altes Bewußtsein von dem, was der Mensch in seinem Inner­sten ist, zerstört worden ist durch die neuere Beobachtung. Sieht man heute ganz gemäß unserer neueren Naturwissenschaft den wei­ten

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Sternenhimmel an, was ist dieser Sternenhimmel? Etwas, das wir durch Mathematik und Mechanik begreifen wollen, etwas, mit dem wir nur verwandt fühlen dieses abstrakte Produkt unseres Kop­fes, die Mathematik und die Mechanik. Und vergleichen wir das mit dem Bewußtsein, das in älteren Zeiten der Mensch hatte, wenn er zum Sternenhimmel aufblickte. Er hatte nicht das abstrakte natur­wissenschaftliche Bewußtsein: Da droben kreisen die Sterne nach mathematisch-mechanischen Gesetzen, du aber, Erdenwurm, stehst hier auf dieser Erde, entstehst mit der Geburt und vergehst mit dem Tode, und dasjenige, was du bist, das hat nichts zu tun mit dem Ster­nenlauf. Wenn wir zurückgehen in ältere Stufen des Menschheitsbe­wußtseins, so finden wir, daß in diesem älteren Menschheitsbewußt­sein die Anschauung lag: Du Mensch, wie du hier stehst auf dieser Erde, du bist nicht bloß an diese Erde geheftet; dasjenige, was in dir an Kräften wirkt und lebt, das hängt zusammen mit dem, was da oben in den Sternen kreist, und vervollkommnest du deine Erkennt­nis, wirst du deiner selbst als eines vollständigen Menschenwesens bewußt, so weißt du dich verwandt wie mit den Tieren und Pflanzen und Steinen der Erde, so mit dem ganzen Weltenraum der Sterne. Wir haben erkauft dasjenige, was wir mathematisch-mechanisch über die Sterne gelernt haben, mit dem Abgeschnürtwerden des Menschen von dem Kosmos, von der Welt. Wenn man nun in der Weise, wie ich es geschildert habe, durch den Weg zu den höheren Erkenntnissen geht, und in sich dahin gelangt, jenes Menschenwe­sen zu erkennen, das nicht mit der Geburt oder Empfängnis seinen Anfang genommen hat, sondern das in geistigen Welten vor Geburt und Empfängnis da war, und das auch jetzt in uns lebt, und das durch die Pforte des Todes in die geistige Welt dringt, dann lernt man allerdings mit diesem Menschenwesen, nur in einer neuen Form, nicht in einer alten, abgenutzten Form, wiederum seine Ver­wandtschaft mit dem ganzen Kosmos kennen; dann wird der Mensch wiederum durchdrungen von Weltbewußtsein. Sein bloßes irdisches Bewußtsein verwandelt sich in Weltbewußtsein. Dann hat aber der Mensch etwas, was er gerade als eine Kulturbedingung des Geistes in der Gegenwart und für die Zukunft braucht. Den Zeitpunkt

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könnte die Menschheit nimmermehr ohne die tiefste Schädi­gung ihres Wesens erleben, wo hingewiesen würde auf neue äußere Beobachtungen, und das alte Geistesleben nach und nach auslöschte. Der Mensch bedarf des Glaubens, des Hinweises auf die Erkenntnis eines Bleibenden, das standhalten kann, wie auch die äußere Welten-beobachtung sich erweitert.

So ist es anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, wel­che auf ihren Wegen den Menschen sich selbst so zeigt, daß er wie­derum anknüpfen kann mit seinem Weltbewußtsein an den ganzen Kosmos, daß er sich wiederum weiß mit seinem Geiste im Zusam­menhange mit dem Weltengeiste. Das ist nicht bloß eine theoretische Idee, das ist wiederum etwas, was sich einlebt in den ganzen Men­schen, und was ihn, diesen Menschen, zu einem anderen Wesen macht. Man wird in der Gegenwart und in der Zukunft viel, viel spekulieren können, was man für soziale Einrichtungen zu treffen hat, damit die Menschen darinnen ein menschenwürdiges Dasein finden. Man gibt sich in der neueren Zeit sogar der Täuschung hin, daß man solche Einrichtungen erfinden werden könne. Man wird nur dann zu Einrichtungen kommen, die dem Menschen ein men­schenwürdiges Dasein geben, wenn der Mensch aus seinem tiefsten Geistig-Seelischen heraus solche Einrichtungen zu schaffen imstande ist. Dazu aber bedarf es nicht des Träumens von einer Umgestaltung der äußeren sozialen Verhältnisse; dazu bedarf es des ernstlichen Inangriffnehmens einer neuen Geisteskultur, einer Auferweckung desjenigen, was schlummert und schläft in der Menschenseele, und was erst auferweckt werden muß, damit der Mensch von sich selber wissen könne, er sei ein freies Wesen. Man übersieht heute vollstän­dig, welch tiefer Riß in unserer Geisteskultur ist. Durch viele Jahr­hunderte haben gewisse soziale Mächte darüber gewacht, daß die äußere Wissenschaft nur ja nicht spreche von dem Geistigen und Seelischen. Das sollte Sache des Dogmatismus sein. Das sollte man durch einen bloßen Glauben erfahren, sich von bloßen Autoritäten diktieren lassen, was man zu denken habe über Geist und Seele; weil ein Monopol beanspruchten gewisse soziale Mächte für das Diktie­ren des Anzuerkennenden über Geist und Seele, deshalb wurde die

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Wissenschaft abgedrängt auf das bloße Materielle. Es wirkt sehr ei­gentümlich auf den tiefer in die Menschheitsentwickelung Hinein­blickenden, wenn er heute hört, wie die offizielle Wissenschaft glaubt, daß sie vorurteilslos den Wahrheiten nachgehe und durch dieses vorurteilslose den Wahrheiten Nachgehen herausfände etwas, was man heute einzig und allein Wissenschaft nennt, und was sich im Grunde genommen nur mit sinnlichen Tatsachen befassen will. In Wahrheit ist das Entwickelungsvorgang geworden, in Wahrheit ist das menschliches Forschen, welches kapituliert hat vor dem Mo­nopol gewisser sozialer Kreise, die sich allein befassen wollten mit dem, was die Menschen über Geist und Seele zu denken haben. Eine Wissenschaft, wie ich sie charakterisiert habe, wie sie zur Freiheit führt, sie führt zu gleicher Zeit dahin, daß der Mensch nicht nur nachforschen kann über das Physische, über sein Leibliches, es führt dahin, daß der Mensch nachforschen lernt auch über das Geistige und über das Seelische. Und lernt er nachforschen über das Geistige und über das Seelische, so nimmt er stärkere, wirklichkeitsgemäßere Begriffe auf, als diejenigen sind, die er aufnimmt, wenn er sich auf das bloße äußere Materielle beschränken muß. Und so hat man ver­sucht, in das soziale Denken nur hineinfließen zu lassen dasjenige, was aus dem heutigen Zeitbewußtsein herauskommt. Und man glaubt von diesem Gesichtspunkte aus, daß eigentlich menschliche Ideen gar nicht hineingreifen können in die sozialen Verhältnisse, oder man macht sich höchst verkehrte soziale Ideen zurecht. In mei­nem Buche «Von Seelenrätseln» - eines der letzten, das ich geschrie­ben habe, und das ebenso wie die anderen nur die gerade Fortset­zung ist desjenigen, was Sie in meinem Buch «Die Philosophie der Freiheit» finden -, in diesem Buche «Von Seelenrätseln» habe ich ge­zeigt, wie die wahrhaftig anthroposophisch orientierte Geisteswis­senschaft nicht nur in der Lage ist, abstrakt über allerlei Geistig­Seelisches zu sprechen, sondern wie sie dadurch, daß sie das wirklich Geistige erfaßt, zu gleicher Zeit in die Lage kommt, das Menschen-wesen, das Leib, Seele und Geist ist, in seiner Ganzheit aufzufassen. Und so durfte ich in diesen «Seelenrätseln» zum Beispiel darauf hin­weisen, wie es ein großer Irrtum ist in der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen

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Physiologie, wenn man davon spricht, daß der Mensch sensitive Nerven habe, die vom Sinnesorgan zum Zentralor­gan gehen, während von dem Zentralorgan wiederum zu den Mus­keln die motorischen Nerven gehen. Eine abstrakte Wissenschaft, die von Geist und Seele nur abstrakt spricht, die wird sich niemals getrauen, die wird auch gar nicht die Methode finden, über das Sinn­liche etwas zu sagen, was nicht bloß sinnlich nachzuweisen ist. Nachweisen kann man, wenn man ausspricht, daß es nur eine Gat­tung von Nerven gibt, daß kein Unterschied ist zwischen sensitiven und motorischen Nerven, daß solche Erscheinungen, wie die Tabes, die man anführt zur Bekräftigung der Meinung, daß es motorische Nerven gebe, gerade das Umgekehrte beweisen von dem, wovon man glaubt, daß es durch sie bewiesen werde.

So wird in dieser anthroposophisch orientierten Geisteswissen­schaft etwas geschaffen, das in die ganze Natur wiederum eindringt, das Stoßkraft genug hat, um in die ganze Natur einzudringen. Da­durch aber darf diese Geisteswissenschaft auch in dasjenige eindrin­gen, was insbesondere die Kultur der Gegenwart interessieren muß. Es darf diese Geisteswissenschaft eindringen in die Struktur des sozialen Lebens. Und aus denjenigen Erfahrungen heraus, die der Mensch mit dem höheren Menschen macht, sind erst die wirklich sozialen Begriffe zu gewinnen. Daher leben wir heute in einer so verworrenen Zeit, leben heute in solcher Wirrnis und solchem Cha­os darinnen, weil die Menschen, die sich mit den Lösungen der ver­schiedenen Fragen sozialer Natur beschäftigen, nicht in der Lage sind, tief genug zu schürfen in der Menschenwesenheit selbst, um zu finden diejenigen Ideen, die das soziale Leben wirklich beherrschen können. Und so ist man ratlos gegenüber den drängendsten und brennendsten Fragen der Gegenwart, und man steht gerade vor die­sen sengendsten und brennendsten Fragen so, daß aus dem Inneren der Menschennatur im Grunde genommen keine Antwort als Wider-klang kommt.

Man hat gesehen, indem man die weltgeschichtliche Entwicke­lung des Menschen verfolgt, wie große Umwandlungen sich vollzo­gen haben. Oder war nicht eine der größten Umwandlungen, die

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sich vollzogen haben im Verlaufe der Menschheitsentwickelung, diejenige, durch die das Christentum heraufgekommen ist? Das Christentum, das der Erdenentwickelung erst den rechten Sinn gegeben hat, es ist heraufgekommen durch eine mächtige Umwand­lung. Es hat mancherlei zurückgelassen. Nicht alle Menschen er­kannten die Wahrheiten des Christentums; aber im ganzen war das Christentum dasjenige, was in dem alten Kulturelemente umwan­delnd gewirkt hat, im Grunde die ganze europäische Zivilisation mit ihrem amerikanischen Zivilisationsanhang hervorgebracht hat. Man erlebte später so etwas, wie zum Beispiel die Französische Revolu­tion. Während das Christentum eine rein geistige Umwandlung war und im größten Umfange ihr Ziel erreicht hat, kann man sagen von der Französischen Revolution, die eine politische war, daß sie zwar etwas erreicht hat von ihren politischen Zielen, daß aber Wichtiges und Wesentliches zurückgeblieben ist, was nicht erreicht worden ist von den Zielen, die gestellt worden sind. Und nun erleben wir in unserer Zeit die Sehnsucht vieler Menschen nach einer neuen Um­wandlung, nach neuen Revolutionen. Und wir sehen bereits diese Revolutionen vielfach am Werke. Traurige Erfahrungen hat die Menschheit gemacht. Wenn sie nur unbefangen genug sein will, so müßte sie auch in proletarischen Kreisen das einsehen. Traurige Erfahrungen hat die Menschheit gemacht mit den extremen sozialen Revolutionen im Osten von Europa, in Ungarn, und eine große Lehre der Weltgeschichte müßte das Scheitern dieser sozialen Revo­lutionen sein. Und eine noch größere Lehre könnte sein, wenn die Menschen überhaupt etwas lernen können von den weltgeschichtli­chen Vorgängen, das traurige Schicksal der deutschen Revolution vom 9. November 1918, eine versandende Revolution. Und wenn man alles dasjenige sachgemäß überblickt, was sich aus solchen Tat­sachen ergibt, aus den gescheiterten Revolutionen Ungarns und Ost­europas, aus der traurig versandenden deutschen Revolution, dann ersieht man: Geistige Umwandlungen, wie die durch das Christen­tum gegebenen, sie können sich vollziehen im Laufe der Mensch­heitsentwickelung; politische, wie die Französische Revolution, nur zum Teil; wirtschaftliche Revolutionen, wie sie jetzt versucht werden,

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sind zum Scheitern verurteilt, können nichts anderes als zerstö­ren, können nichts Neues heraufbringen, wenn sie sich nicht in geistige Fortschrittsimpulse verwandeln. Eine der wichtigsten und wesentlichsten Kulturbedingungen der Gegenwart ist diese, daß aus dem richtig ergriffenen Freiheitsimpulse heraus die Menschen darauf kommen, daß alle die Fragen, die man heute erfaßt, man im Zusam­menhange mit der ganzen geistigen Entwickelung der Menschheit betrachten muß, mit einer Erneuerung des menschlichen Geistesle­bens. Und das müßte die Menschheit sich klar zum Bewußtsein bringen, bevor die traurige, fürchterliche Notlehre eintreten könn­te, die eintreten würde, wenn dasjenige, was zum Untergange der Menschheitskultur im Osten von Europa sich vollzieht, was unter so traurigen Symptomen in Ungarn sich vollzogen hat, was versan­det in Deutschland, wenn das in der Art, wie es von denen erfaßt wird, die keinen Begriff haben von dem wirklichen Impuls des Gei­stes, seinen heute von vielen als zeitgemäß angesehenen Fortgang nähme.

Auch was wirtschaftlich getan wird, das wird richtig nur aus dem Menschengeiste heraus getan, und wir leben in einem Zeitalter, wo die alten Begriffe nicht mehr genügen, wo wir neue Begriffe finden müssen, die auch eine neue wirtschaftliche Kultur für die Gegenwart und für die Zukunft erst schaffen können. Richtig sagt Woodrow Wilson: Wir haben neue Wirtschaftszustände, die Menschen konn­ten sich nicht verschließen den neuen wirtschaftlichen Einrichtun­gen; aber wir denken mit den alten Rechtsbegriffen, mit den alten überkommenen Geistesideen über dieses Wirtschaftsleben. - Aber dann, dann sprießt aus demjenigen, was in seiner Seele wurzelt, nichts hervor, was nun das neue Wirtschaftsleben meistern könnte.

Dasjenige, was als anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft hier gesucht wird in dem, was hier mitgeteilt ist, das wird auf der einen Seite hinaufreichen zu den höchsten Höhen des menschli­chen Geistes- und Seelenlebens, auf der anderen Seite aber auch stark genug sein, um hinunterzureichen dahin, wo erfaßt werden müssen die alltäglichsten Einrichtungen des Lebens. Wie ist es denn heute? Das Geistesleben hat allmählich einen ganz abstrakten Charakter

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angenommen. Denken Sie einmal nach, wie sich die religiöse, die ästhetische, die künstlerische, die Weltanschauungsüberzeugung sa­gen wir eines Kaufmannes oder eines Industriellen oder eines Staats­beamten gestaltet. Das ist eine Sache für sich, die er in seiner Seele erlebt. Die reicht in das Kontobuch, oder in dasjenige, was er in sei­nem Büro tut, nicht hinein. Da werden auf dem Gebiete, wo er seine geistigen Ideen erzeugt, nicht zugleich die Ideen und Impulse ge­schaffen, die dann in seinem Kontobuch zum Ausdruck kommen. Darauf steht höchstens «Mit Gott»; aber das ist auch alles, wodurch die Tätigkeit, die da drinnen zum Ausdrucke kommt, zusammen­hängt mit dem, was er als ein abstraktes Geist- und Seelenleben durch die Welt trägt. Daher aber ist es gekommen, daß, als auftraten in der neueren Zeit Menschen mit guter sozialer Meinung, wie Saint-Simon, Blanc, Fourier, gesagt wurde: Das sind gute moralische Ideen, aber mit guten Meinungen wandelt man die sozialen Zustände nicht um. -Das kann man heute überall hören, wo vom sozialistischen Stand­punkte aus gesprochen wird. Und man hat Recht. Mit solchen sozia­len Ideen, wie sie Saint-Simon, Blanc, Fourier und so weiter hatten, mit denen wandelt man das soziale Leben nicht um, weil sie ent­sprungen sind aus dem Bewußtsein der Menschen heraus, daß, wenn man über das Geistige denkt und sinnt, dieses Geistige eine Sache für sich ist, das nicht zu gleicher Zeit die Welt erfassen soll. Abstrakt ist zuletzt alles Geistesleben geworden. Auf der einen Seite nimmt der Mensch den Aufschwung religiös oder künstlerisch oder weltan­schauungsgemäß in geistige Höhen, wenn er ihn überhaupt nimmt. Auf der anderen Seite überläßt er sich, ich möchte sagen, dem Zufall des Lebens; in der Naturwissenschaft, indem er in Laboratorien, auf der Sternwarte und dergleichen arbeitet, und dasjenige, was er da herausbringt, sei es auf sozialem, sei es auf wissenschaftlichem Ge­biete, keinen Zusammenhang mit dem abstrakten Geistesleben hat. Eine Einheit des geistigen und materiellen Lebens will ausgießen anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft über die gesamte menschliche Zivilisation. Und folgen soll aus demjenigen, was aus­gebildet wird in dem Menschen dadurch, daß er den höheren Men­schen in sich erblickt, zu dem Ewigen aufsteigt, die Möglichkeit, das

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Ewige, das jenseits von Geburt und Tod für den Menschen liegt, zu ergreifen, aber die Ideen zugleich so stark zu machen, daß sie ins all­tägliche Leben eingreifen können. Denn nicht der meint es ernst und wahr mit dem Geiste, der vom Geist redet, sondern der meint es ernst und wahr mit dem Geiste, der den Geist verfolgt bis in sein letztes Hineinziehen in das materielle Dasein, für den gar nichts mehr von geistloser Materie auch in der praktischen Lebensauffas­sung übrig bleibt. Das ist dasjenige, was man bezeichnen könnte als Kulturbedingungen der Gegenwart und der Zukunft, daß solch geistig-seelisches Bewußtsein die Menschen hätten.

Dann werden die Menschen, die von solchem Bewußtsein durch­drungen werden, sich auch soziale und politische Zustände schaffen, wie sie ersehnt werden von solchen Menschen, wie zum Beispiel Woodrow Wilson. Heute aber steht die Sache so, daß man eigentlich nur Kritik übt, daß produktive Ideen noch nicht da sind, weil man nicht zum Geiste hinabsteigen will, oder hinaufsteigen will. Heute sehen wir, wie von Amerika aus - wir haben das Beispiel von Woo­drow Wilson selber angeführt, gewiß einer maßgebenden Persön­lichkeit -, wie von Amerika aus kritisiert wird das soziale Leben der Gegenwart, und der Ruf nach Freiheit ertönt. Allein man will sich nicht entschließen, zum wirklichen Impuls der Freiheit sachgemäß aufzusteigen. Und erlebt haben wir es, wie in Europa wahrhaft schö­ne, geistreiche Ideen über Freiheit und soziale Zustände entstanden sind. Aber in der europäischen Zivilisation ist es uns eigen, daß wir nicht imstande sind, aus den Abstraktionen, aus den philosophischen Höhen herunterzuholen, was wir so schön erdenken und erfühlen und es einzuführen ins unmittelbare Leben. Und wir verstehen es noch nicht, wenn gesprochen wird von einem solchen Einführen wirklicher, nicht bloß erdachter Ideen in das politische Leben. Und wenn wir nach Asien hinüberblicken, haben wir es mit einer ande­ren Zivilisation zu tun, die eine ebenso treffende Kritik an dem sozialen und Freiheitsleben der Gegenwart übt, wie Amerika und Europa. Man braucht nur die wunderschönen Auseinandersetzun­gen des Rabindranath Tagore zu lesen und man wird finden, wie der­jenige, der an der Spitze der asiatischen Kultur steht, in der Kritik es

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auch so weit bringt. Er bringt es in dem Produktiven nicht so weit, weil er nicht in der Lage ist, sich zu sagen: Nach Neuem muß ge­strebt werden, wenn wiederum vom Geistesleben die Rede sein soll. Er will ein altes Geistesleben bleiben lassen, allein wirksam sein lassen.

Nun, wir haben es ja leider in Europa erlebt, daß die Menschen schließlich so sehr verloren haben den unmittelbaren Zusammen­hang zwischen dem, wonach sie im Geiste streben, und dem, was ih­nen der Alltag bringt, daß wir jetzt zahlreiche Gesellschaften damit beschäftigt sehen, Europa zu gestalten nach rein äußerlichen wirt­schaftlichen Gesichtspunkten und ihr Seelenbedürfnis, da einem die christliche Religion in Europa nicht mehr genügt, aus Asien her durch allerlei Theorien und so weiter zu befriedigen suchen. Solche Beziehungen sind nicht geeignet, einen Neuaufbau des Geisteslebens herbeizuführen; die sind die letzten dekadenten Schatten eines Alten.

Mit alle dem rechnet dasjenige, was hier gemeint ist als anthropo­sophisch orientierte Geisteswissenschaft. Sie ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man von ihr sagt. Und der Dornacher Bau, dem man so oftmals zuschreibt, daß er symbolisch sei, der hat kein einziges Symbol, sondern er soll nur gebaut sein, ich möchte sagen, rein naturgemäß so, daß in Aussicht genommen ist, das und das wird einmal darinnen getrieben, wie man etwa die Nuß erkennen lernt in ihrer Schale, und wenn man die Schale anschaut, die um die Nuß herum ist, so findet man, daß sie naturgemäß so gestaltet ist, daß sie der Nuß angemessen ist. So wollten wir für ein neues Geistes­leben eine neue Schale auch architektonisch, künstlerisch, malerisch schaffen. Naturgemäß wurde der Bau aufgeführt nicht aus abstrak­ten Ideen heraus, nicht aus einer vertrackten ästhetischen Anschau­ung heraus. Oftmals habe ich einen recht trivialen Vergleich ge­braucht, um nur einigermaßen zu sagen, was ich eigentlich meine mit diesem Dornacher Bau. Ich glaube, viele von Ihnen wissen, daß in Deutschland, in Österreich oder auch hier gewisse Kuchen Gugel­hupf genannt werden, und dann nennt man die Form, in der der Gugelhupf gebacken wird, Gugelhupftopf. Nun sagte ich, man stelle sich vor dasjenige, was in diesem Bau getrieben werden soll, als Gugelhupf,

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als Kuchen, dann muß, wenn der Kuchen richtig sein soll, der Gugelhupftopf der richtige sein. So muß das Geistesleben, das da getrieben werden soll, die richtige Umhüllung haben, wie die Nuß in der Nußschale die richtige Umhüllung hat. Bis auf dieses Grund­prinzip des Baues wird alles im Grunde genommen heute in weiten Kreisen noch mißverstanden.

Nun, ich wollte heute, wie in anderen zahlreichen Vorträgen, die ich hier an demselben Orte schon gehalten habe, wiederum einmal darauf hinweisen, wie sich die Sachen, die in dem Dornacher Bau und dem, was in ihm getrieben werden soll, wirklich zu der zivili­sierten Entwickelung der Menschheit verhalten, im Gegensatze zu den zahlreichen Mißverständnissen, die sich ergeben, die sich sehr naturgemäß ergeben müssen. Man sieht vielleicht aus den paar Andeutungen, die ich habe geben können, die aber innig zusammen­hängen mit den wichtigsten menschlichen Sehnsüchten nach Erneu­erung der Kultur in der Gegenwart und für die Zukunft dasjenige, was gerade mit diesem Bau und seiner Sache gemeint und gewollt ist. Wenn von Amerika herüber ertönt der Ruf, wie ich es bei Woodrow Wilson charakterisiert habe, der Ruf nach Freiheit: es soll gefunden werden diejenige Menschlichkeit, das menschenwürdige Dasein aus einer Fassung des Geistigen und des Seelischen heraus, das diesem Ruf entgegenkommen kann als seine Verwirklichung, als die richtige Antwort auf die Frage, die gestellt wird. Die umgehen manche Men­schen heute noch leicht. Aus dunklen, unbestimmten Gefühlen her­aus erhebt man Zeitforderungen. Aus einer klaren Geist-Erkenntnis heraus müssen die Antworten gegeben werden. Ich muß denken, wie recht in einer gewissen Beziehung Woodrow Wilson hat, wenn er hinweist darauf, wie nicht in geheimen Konsortien entschieden werden soll über dasjenige, was die Angelegenheiten des Volkes, der Menschheit sind. Woodrow Wilson will, daß entschieden werde in jedem einzelnen Familienhause, sei es auf dem Lande, sei es in der Stadt, aber daß insbesondere zusammengekommen werden solle in dem Schulhaus. Das ist eine schöne Idee, daß die Pflegestätte des Geistes die Ursprungsstätte sein soll für das Ausbilden der Zeit-ideen. Und ein schöner Ausspruch Woodrow Wilsons ist es, wo er

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sagt: Unser Ziel ist die Wirklichkeit der Freiheit. Wir wollen darauf hinarbeiten, private Kapitalanhäufung gesetzlich zu verhindern, und das System, durch das die private Kapitalanhäufung geschaffen wur­de, gesetzlich unmöglich zu machen. Und ein weiterer sehr schöner Ausspruch ist: Drinnen im Lande, auf den Bauernhöfen, in den Lä­den, in den Dörfern, in den Wohnungen der Großstadt, in den Schulhäusern, überall, wo Menschen zusammentreffen und gegen­seitig wahr sind, dort ist es, wo die Bäche und Flüsse ihrem Urquell entspringen, um erst die mächtige Kraft jenes Stromes zu bilden, der alle menschlichen Unternehmungen auf seinem Zuge zu dem großen gemeinsamen Meere der Menschheit trägt und treibt. - Eine schöne Idee, die Menschen so zusammenzurufen, daß aus allen einzelnen Quellen heraus der Strom sich bilden kann zu der Befreiung der Menschheit, und eine schöne Idee, gerade aus den Pflegestätten des Geistes, aus den Schulhäusern, die Ziele setzen zu lassen, welche die Menschheit weitertragen sollen.

Aber wenn Sie das nehmen, was ich versuchte heute auszuführen, dann wird vielleicht dieser Ruf nach den Schulhäusern, wie ihn Woodrow Wilson erhebt, dennoch anders ausfallen müssen. Denn ich glaube, erst dann, wenn in diesen Schulhäusern gepflegt wird ein Kulturleben, das durchdrungen ist von einer wirklichkeitsgemäßen Erfassung, von menschenwürdiger Erfassung des freien Menschen-geistes und der Menschenseele, erst dann wird aus dem Schulhaus herauskommen der rechte Menschenfreiheitsstrom. Solange wir in die menschliche Seele nicht hinempflanzen können das richtige Ver­ständnis der Freiheit, mögen wir sie in den Schulhäusern versam­meln, sie werden auch dort kaum wirklichkeitsgemäße Ziele finden. Erst dann werden diese gefunden werden, wenn wir den Mut haben, eine geistgemäße, wirklichkeitsgemäße Weltanschauung, Kunst-anschauung, religiöses Bekenntnis in die Schulen hineinzutragen. Denn wichtiger als das, was die Gegenwartsmenschen im allgemei­nen aus den Schulen heraus beschließen, wird dasjenige für die Men­schenzukunft sein, was herauskommen wird aus den Schulen, wenn wir den richtigen Geist in diese Schulen hineintragen.

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DER GEIST ALS FÜHRER DURCH DIE SINNES- UND IN DIE ÜBERSINNLICHE WELT Achter Vortrag, Bern, 6. November 1919

Wenn Sie von hier aus nach Basel fahren, dort am Aeschenplatz einsteigen in die elektrische Bahn, den Weg nach Dornach neh­men, so finden Sie dort auf dem benachbarten Hügel einen Bau - der allerdings noch nicht vollendet ist, aber schon die Absichten auch in seinem Außenwerk zeigt, die mit ihm verbunden sind -, einen Bau, der sich nennt, der dienen soll als freie Hochschule für Geisteswissenschaft, der repräsentieren soll äußerlich dasjenige, was angestrebt wird durch jene geistige Bewegung, welche sich sel­ber nennt: anthroposophisch orientierte, geisteswissenschaftliche Bewegung.

Man kann heute schon, seit der Bau ja auch äußerlich sichtbar ge­zeigt hat, daß es so etwas wie eine solche Bewegung gibt, mancherlei hören und mancherlei lesen über das, was dieser geistigen Kulturbe­wegung zugrunde liegt. Gewiß ist auch mancherlei, was als eine Ausnahme aber noch zu gelten hat, vorhanden, was Treffendes ent­hält über diese Bestrebungen. Im ganzen darf aber heute noch gesagt werden, daß das, was so in der Öffentlichkeit gesagt oder geschrie­ben wird über sie, ziemlich das Gegenteil von dem ist, was durch diese Bewegung wirklich angestrebt wird. Sie wird sehr häufig ge­schildert wie eine unwissenschaftliche, obskure, im schlimmen Sinne mystische Bewegung. Sie wird namentlich sehr häufig so geschildert, als ob sie im Gegensatz stehen wollte zu dem oder jenem, zu Gesell­schaften, Bekenntnissen und dergleichen mehr. In Wahrheit will diese Bewegung und dieser Dornacher Bau, das Goetheanum, durch den sie repräsentiert wird, denjenigen Sehnsuchten, denjenigen Zie­len dienen, die heute oftmals so unbewußt wohnen in den Men­schenseelen, in den Menschenseelen breitester Massen, die in vieler Beziehung noch nicht die Form finden, sich auszusprechen, die aber zusammenhängen mit alledem, was die gegenwärtige und die zu­künftige Menschheit herausführen soll aus dem Kulturchaos, das ja

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für jeden Unbefangenen wahrzunehmen ist, und aus dem sich jeder Unbefangene in der Gegenwart herauslösen muß.

Soll man andeuten aus geschichtlichen Erscheinungen heraus, worinnen, ich möchte sagen, der Hauptnerv dieser Bewegung liegt, so darf man vielleicht hinweisen auf etwas, was dem heutigen Men­schen scheinbar recht ferne liegt, was auch scheinbar recht abstrak­ten Regionen des Denkens und Vorstellens angehört, was aber nur ausgebildet zu werden braucht für die allgemeinsten und breitesten menschlichen Interessen, um uns mitten in dasjenige hineinzufüh-ren, was gerade der heutigen Kultur zu ihrer Erneuerung, zu ihrer Wiedergeburt notig ist. Hinweisen möchte ich auf dasjenige, was Goethe angestrebt hat aus der ganzen Breite und Tiefe seiner Weltan­schauung heraus, die heute noch lange nicht genug gewürdigt ist, hinweisen auf das, was er angestrebt hat als eine Erkenntnis der le­bendigen Welt im Gegensatze zu der toten, zur unlebendigen, zu der unorganischen Welt.

Dasjenige, was Goethe als Erkenntnis angestrebt hat, hing eng zu­sammen mit seinem gesamten geistigen Streben, und er hat sich das Beste, was seine Weltanschauung zum Inhalte hat, hervorgeholt aus der Anschauung der Kunst, hat aber dasjenige, was er aus der An­schauung der Kunst gewonnen hat, ausgedehnt auf das wirklich wis­senschaftliche Erkennen, wie er es anschauen mußte eben im Sinne der Weite und Breite seiner Weltanschauung. Goethe ließ auf sich wirken, allerdings mit Bezug auf die ihm so liebe Pflanzenwelt und ihre Betrachtung, alles dasjenige, was ihm zur Verfügung stehen konnte in bezug auf die Pflanzenwelt aus der damaligen Wissen­schaft; aber man kann sagen, nichts genügte ihm zur Erklärung des Wesens der Geheimnisse dieser Pflanzenwelt von dem, was er auf­finden konnte in der damaligen Wissenschaft. Und so wendete er denn seinen umfassenden Blick selber aus der Ursprünglichkeit sei­nes Wesens heraus über die ganze Pflanzenwelt, soweit sie ihm zu­gänglich war, über alle ihre Formen, und suchte aus der Mannigfal­tigkeit, aus der Verschiedenheit der Pflanzen heraus eine Einheit. Er suchte dasjenige aus der Mannigfaltigkeit der Pflanze heraus, was er seine Urpflanze nannte. Wenn man definieren hört, was er unter seiner

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Vorstellung versteht, so könnte es abstrakt scheinen, es ist aber nicht so. Goethe verstand unter seiner Urpflanze ein Einheitsbild, von dem jede Pflanze, welche äußere Form sie auch tragen mag, ein Abbild ist, ein einheitliches, ideelles, geistiges Gebilde, mit dem man die Pflanzenwelt durchlaufen kann, und das sich gewissermaßen in jeder einzelnen Pflanze offenbart.

Eine solche Urpflanze - so schrieb Goethe aus Italien seinen Wei­marischen Freunden -, eine solche Einheitspflanze, die nur im Geiste zu erschaffen ist, die nirgends in der äußeren Welt zu ersehen ist, die müsse es doch geben können - so sagte er scheinbar abstrakt -, wie könnte man sonst wissen, daß ein einzelnes Gebilde eine Pflanze ist?

Allein darauf kommt es weniger an, was er für eine abstrakte Mei­nung über diese Dinge hatte, es kommt vielmehr darauf an, daß er den Glauben hatte, den tiefgehenden und mit dem Wesen der Dinge zusammenhängenden Glauben hatte, der sich in den folgenden Worten ausspricht. Er sagte und schrieb über diese Urpflanze: Wenn man sie gefaßt hat im Geiste, dann muß es einem möglich sein, nicht nur mit ihr die Pflanzenformen, die da draußen in der Welt sind, zu vergleichen und zu erkennen, sondern es muß einem möglich sein, innerlich geistig selber Pflanzenformen zu ersinnen, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten.

Es ist dieses ein gewichtiges, ein bedeutsames Wort. Denn was will ein Mensch, ein erkennender Mensch, der solch eine geistige Idee erfassen will? Er will nichts Geringeres als in seiner Seele einen Gedanken wachrufen, der ihn dazu führen kann, ich möchte sagen, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen: zu erfinden die äußere Wirklichkeit, die dann in die Erscheinung treten kann. Er möchte also innerlich so verwandt werden mit dem, was in der Pflanze, was in den lebenden Gebilden überhaupt heranwächst, daß er in seinem eigenen Geiste, in seinem Denken, in seinem Vorstellen das inner­lich habe, was sich äußerlich im Wachstum als Kraft offenbart. Er möchte also innerlich untertauchen mit seinem ganzen Wesen in die äußere Welt. Es ist das Streben viel bedeutsamer als dasjenige, was Goethe im einzelnen damit erreicht hat. Wie gesagt, wenn man es nur so in bezug auf die Pflanzenwelt, die ja den einen interessieren

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mag, den anderen weniger, wenn man es nur so in bezug auf die Pflanzenwelt charakterisiert, was Goethe gewollt hat, so könnte es manchem abstrakt erscheinen. Aber in dieser Art geistiger Bestre­bung liegt etwas, was man erweitern kann über den ganzen Umfang menschlicher Erkenntnis, menschlicher Weltanschauung.

Dann steigt man auf von der Betrachtung des einzelnen, unbedeu­tenden Lebewesens zu derjenigen des ganzen Menschen, des Men­schen, der in sich nicht nur enthält dann, wenn man zu seiner Ganz­heit aufsteigt, dasjenige, was heute die äußere Naturwissenschaft beobachtet, was vielfach der materialistische Sinn der Zeit als das einzige änsieht an dem Menschen, sondern der umfaßt Leib, Seele und Geist.

Goethe ist von der Naturwissenschaft ausgegangen. Was sich anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft nennt, geht auf der einen Seite von Goethe aus, indem es ausbilden möchte die Welt­anschauungsgesinnung, die im Geiste solches verarbeitet, solches sich offenbaren läßt, das mit der Wirklichkeit so wirklich innig ver­wandt ist, wie Goethes Idee von der Urpflanze mit der einzelnen Pflanze; andererseits weiß sich diese geistige Bewegung in völligem Einklange ihrerseits mit der wahrhaftigen naturwissenschaftlichen Gesinnung in unserer Zeit, nicht mit irgendeiner obskuren Mystik. Und sie weiß sich auf der anderen Seite in vollem Einklange mit ei­nem wirklichen ehrlichen und zeitbedingten religiösen Bestreben des Menschengeistes in der modernen Zeit. Ich habe auch an diesem Orte in den verflossenen Jahren öfters gesprochen davon, daß die Anthroposophie, die anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft diese Naturwissenschaft durchaus nicht in ihrer Bedeutung, in ihrem gewaltigen Einflusse auf die moderne Kultur verkennt, ja, daß sie diese Naturwissenschaft viel besser würdigt, als mancher der­jenigen, die auf dem Boden dieser Naturwissenschaft stehen wollen. Wer nicht nur die landläufigen Vorurteile über die Naturwissenschaft sich aneignet und damit glaubt, ein echter Naturwissenschafter zu sein, sondern wer mit vollem Bewußtsein sich in dasjenige vertieft, was die Naturwissenschaft für die ganze Erziehung der Menschen­seele und des Menschengeistes leisten könnte, der muß sagen: würde

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diese Naturwissenschaft, wie sie sich seit drei bis vier Jahrhunder­ten, insbesondere aber im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts, entwickelt hat, würde diese Naturwissenschaft sich in ihrem eigenen Wesen voll selbst ergreifen, würden diejenigen, die sie betreiben, ihre eigene Art voll verstehen, dann würde diese Natur­wissenschaft heute bereits von sich aus dasjenige verkünden, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft verkünden will. Es würde diese Naturwissenschaft von sich aus sprechen von Men­schenseele und Menschengeist, von dem, was Ewigkeitswert in der menschlichen Wesenheit ist.

Warum tut das die Naturwissenschaft nicht, trotzdem sie so gewissenhaft, mit so eindringlichen Methoden in die äußere sinnli­che Wirklichkeit der Natur eindringt? Warum erhebt sich diese Na­turwissenschaft auf der anderen Seite nicht in derselben Art, wie Goethe für die Pflanzenwelt, zu solcher innerer Verarbeitung der Naturidee, daß man in seinem Inneren eins wird mit der schaffen­den Natur selber?

Um diese Frage zu beantworten, muß man ein wenig zurück­blicken auf die geschichtliche Entwickelung der Menschheit in der neueren Zeit. In der Naturwissenschaft selber wurden große, gewal­tige Fortschritte gemacht. Man braucht nur zurückzugehen auf das­jenige, was von Kopernikus, von Galilei ausgegangen ist, was sich entwickelt hat bis herauf in die neueste Zeit, bis in die Gegenwart an Natureinsichten. Aber man muß zu gleicher Zeit in Erwägung zie­hen, wie wenig eigentlich dieser Betrieb der Naturwissenschaft völlig frei in bezug auf sein ganzes Walten, in bezug auf seine ganze Arbeit innerhalb des Geisteslebens der modernen Zivilisation war. Er war es nicht, denn nicht eine einheitliche Weltanschauung gestaltete sich aus im Laufe der neueren Menschheitsentwickelung, die neben der freien, unabhängigen Naturwissenschaft auch einzudringen versuch­te in das Wesen der äußeren Sinneswelt. In der äußeren Sinneswelt gab es Monopole, Monopole für die Erkenntnis der Seele und des Geistes. Die religiösen Weltanschauungen behielten weiterhin ge­wisse Ideen über Seele und Geist. Und sie brachten es dahin, daß in der Öffentlichkeit man ihnen, mehr oder weniger gezwungen oder

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frei, zugestand, daß nur sie irgend etwas zu sagen haben über des Menschen Seele, über des Menschen Geist.

Die Naturforscher standen ebenso wie andere Menschen unter dem Einfluß desjenigen, was sich so, ich möchte sagen, als eine Monopolerkenntnis über Seele und Geist geltend machte. Und sie beschränkten sich, weil sie sich nicht getrauten aufzusteigen von der Erkenntnis der Welt zu der Erkenntnis der Seelenwelt, zu der Welt des Geistes, sie beschränkten sich darauf, zu sagen: Ja, die Naurwis­senschaft hat eben ihre Grenzen; sie müsse sich auf die Sinneswelt allein beschränken.

Solch ein Geist wie Goethe, der gewiß durchdrungen gewesen ist sein ganzes Leben von einem verehrungsvollen religiösen Auf­schwung im Empfinden eines Göttlichen in der ganzen Natur und in der ganzen Welt, er hat immer auch die Notwendigkeit empfun­den, einheitlich zu gestalten seine Anschauung über das Leibliche, über das Seelische und über das Geistige.

Nur muß man hinsehen auf das, worin sich in gewisser Beziehung die Naturwissenschaft durch den Druck der eben genannten Er­kenntnismonopole befand, hinsehen auf das, was die Naturwissen­schaft durch ihre eigene Kraft dem Menschen geben kann. Dann wird man ein solches einheitliches Erkenntnis- und Geistesstreben, wie es bei Goethe vorhanden war, verstehen. Wer sich nicht bediük­ken läßt, ich möchte sagen, durch das Gebot, du sollst nicht Seele und Geist erkennen, der wird gerade durch die Art und Weise, wie der moderne Geist einzudringen versucht in die Geheimnisse der Naturwissenschaft, er wird eine Erziehung seines Geistes durchma­chen. Und diese Erziehung gibt dann die Anregung, fortzusetzen die Entwickelung des Menschengeistes zu höheren Entwickelungsstufen als diejenigen sind, die man einfach hat, indem man als Mensch geboren wird.

Um aber solche Entwickelungsstufen zu verstehen, dazu bedarf man einer gewissen intellektuellen Bescheidenheit. Diese intellek­tuelle Bescheidenheit, sie ist sehr notwendig dem gegenwärtigen Menschen. Diese intellektuelle Bescheidenheit muß den gegenwärti­gen Menschen dazu führen, sich zu sagen: Du bist nicht nur ein We­sen,

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das sich vielleicht im Werden der Weltenordnung aus niederen Organismen heraufentwickelt hat zu der gegenwärtigen Vollkom­menheit, sondern du bist ein Wesen, das sich selber weiterentwik­keln kann, weiterentwickelt hat in diesem Leben; so daß die Kräfte, die du bei der Geburt empfangen hast, eine höhere und immer höhe­re Ausbildung erfahren können.

Sehen Sie, man muß sich folgendes sagen können. Man muß un­befangen auf das fünfjährige Kind hinsehen können, das etwa einen Band lyrischer Gedichte von Goethe in der Hand hat. Dieses fünf­jährige Kind wird mit dem lyrischen Gedichtband Goethes wahrhaf­tig nicht viel anfangen können, jedenfalls nicht das, was der erwach­sene Mensch mit dem lyrischen Band von Goethe anzufangen weiß. Es wird vielleicht den Band zerreißen oder irgend etwas anderes mit ihm machen. Es muß erst heranwachsen, dann wird es den Band ly­rischer Gedichte von Goethe in der rechten Weise behandeln. Es muß seine Entwickelung in die Hand genommen werden. Denn als fünfjähriges Kind ist zwar auch alles dasjenige, was in dem Bande ly­rischer Gedichte drinnen ist, vor den Augen dieses Menschen, aber es ist noch nicht die Möglichkeit vorhanden, daß dieser Mensch aus diesem Band lyrischer Gedichte alles dasjenige herauszieht, was für ihn darinnen sein kann. So muß der Mensch der Gegenwart sich fühlen lernen gegenüber der ganzen Weite des Natur- und Welten-daseins. Er muß sich sagen können in intellektueller Bescheidenheit:

Du stehst gegenüber der Natur so, daß sie dir vermöge deiner gegen­wärtigen Entwickelung nicht dasjenige geben kann, was sie wahr­haftig in sich enthält; man muß die Möglichkeit voraussetzen kön­nen, seine Entwickelung in die Hand zu nehmen, damit man dann, indem man eine höhere Entwickelungsstufe erlangt als diejenige, die einem einfach durch die Geburt zukommt, indem man dann dasjeni­ge, was man immer vor sich hat, was man zu erkennen glaubt - wie das fünfjährige Kind, das noch nichts damit anzufangen weiß -, daß man das in derjenigen Weise zu behandeln vermag, daß es einem al­les dasjenige offenbart, was es in sich an Geheimnissen verschließt. Gerade die Anstrengung, die man vollführt, wenn man heute die na­turwissenschaftliche Methode anwendet, intensiv anwendet, die Tie­fe,

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in die man eindringt, die kann einen dazu veranlassen, aus der Anstrengung des Geistes heraus eine Kraft wie erweckt zu fühlen, durch die man eine solche Entwickelung durchmacht. Es liegt wahr­haftig nicht an der modernen Naturwissenschaft, daß die Menschen so ungerne zugeben, daß der Mensch eine Entwickelung durchma­chen kann! Nein, es liegt an dem Druck, den ich eben vorhin cha­rakterisiert habe, und den man nur vorurteilslos anschauen muß, um sich frei hingeben zu können dem, was in der naturwissenschaft­lichen Behandlung der Welt selber liegt. Dann wird man fühlen, daß die Seele innerlich erweckt wird, gerade indem sie die Natur im mo­dernen Sinne betrachtet, daß in ihr Kräfte erwachsen, die vorher nicht da sind. Zur Erweckung dieser Kräfte bringen sich in der Re­gel gerade die Naturwissenschafter der Gegenwart nicht. Aber wenn sie sich dazu brächten, so kämen sie eben dazu, daß gerade sie ver­kündigen könnten dasjenige, was man sucht in dem Problem der Unsterblichkeit der Seele, der Ewigkeit des Menschengeistes. Natur-wissenschaftliches Denken, naturwissenschaftliche Gesinnung, sie können zu einer inneren Erweckung des Menschengeistes führen. Und die kann dann fortgesetzt werden, kann systematisch ausgebil­det werden.

Wie das möglich ist, habe ich öfter skizzenhaft von diesem Orte aus und ausführlich geschildert in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», und im zweiten Teile meiner «Geheimwissenschaft» dargestellt. Man kann dasjenige, wovon man bemerkt, daß es sich durch die moderne naturwissenschaftliche Er­kenntnis entwickelt, in voller Selbsterziehung fortsetzen. Man kann dasjenige anwenden auf den Geist, was man Meditation, Konzentra­tion des Gedankenlebens, des Fühlens, des Willens nennt. Man kann jene innere Vorstellungswelt so weit treiben, oder wenigstens die Vorstellungen, die man anwendet, indem man Sterne beobach­tet, indem man im chemisch-physikalischen Laboratorium arbeitet, indem man äußerlich Pflanzen oder Menschen oder Tiere betrachtet, man kann dasjenige, was man da anwendet an innerer Geisteskraft, weiter ausbilden, indem man sich Gedanken so hingibt, daß man nur in diesen Gedanken so leben will, bis wenigstens der Gedanke

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die Seele dahin bringt, innere Zusammenhänge zu erfassen. Die kann man nicht erfassen, wenn man nicht der Seele eine solche inne­re Selbstkultur angedeihen läßt. Eine Erweckung einer inneren See­lenkultur ist möglich. Man kann in der Tat eine solche Erweckung erreichen, so daß einem das gewöhnliche Leben, das man auslebt auch in der gewöhnlichen Wissenschaft, wie ein Schlafen vorkommt, aus dem man erwacht. Und aus diesem Erwachen kann man neu das, was einen als Welt umgibt, beobachten.

Das ist das eine, was der moderne Mensch durchmachen kann. Wird er die Naturwissenschaft in der richtigen, ich möchte sagen, in der goetheschen Weise anwenden, so wird er zu einer religiösen Erkenntnis, zu einer wirklichen Geist-Erkenntnis kommen.

Aber auch aus dem Leben des modernen Menschen selber geht dasjenige hervor, was auf einen solchen Weg und, ich möchte sagen, zu einem entsprechenden Zukunftsziele hin führt.

Wer die Geschichte äußerlich betrachtet, so wie sie gewöhnlich heute äußerlich dargestellt wird, der hat nicht die wirkliche Ge­schichte vor sich. Man muß das geschichtliche Leben der Menschen mehr innerlich betrachten. Man muß vergleichen können, wie zum Beispiel noch ein Mensch des 9., 10. nachchristlichen Jahrhunderts in seiner ganzen Seelenverfassung war, und wie ein Mensch der Ge­genwart, selbst wenn er ein einfachst primitiv lebender Mensch draußen ist, wie ein Mensch der Gegenwart ist; denn auch der ein­fachste Mensch unterscheidet sich heute ganz wesentlich von dem Menschen des 9., 10. nachchristlichen Jahrhunderts. Ich will gar nicht weiter zurückgehen. Die Menschen sind durchaus in Entwik­kelung begriffen. Man muß heute das Wort Entwickelung nicht bloß in jenem eingeschränkten Sinne nehmen, in dem es die Natur­wissenschaft gewöhnlich nimmt. Man muß es in einem viel weiteren Sinne nehmen können, wenn man in das Wesen der Menschheits­entwickelung eindringen will.

Man muß sich sagen können, daß vor einer Reihe von Jahrhun­derten, also in den Jahrhunderten, die ich eben angedeutet habe, die Menschen sich viel näher standen innerhalb gewisser Verbände. Ein Mensch war mit seinem Nächsten vor dieser verhältnismäßig kurzen

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Zeit dadurch verbunden, daß er ihm blutsverwandt war, daß er ihm stammesverwandt war. Diese Nähe, dieses Nahe, das die Men­schen zusammenführte in Verbände vor verhältnismäßig kurzer Zeit, ist in der modernen Zeit nicht mehr vorhanden. Wenn man unbefangen ist, kann man das überall sehen. Der moderne Mensch [St vielmehr in sich abgeschlossen; der moderne Mensch ist viel mehr, ich möchte sagen, ein Einsamer seiner Seele geworden. Die Menschen der älteren Zeit gingen nicht so aneinander vorbei wie die Menschen der neueren Zeit. Die Menschen der neueren Zeit sind sich fremder geworden, sind sich ferner geworden. Aber es ent­springt dafür, möchte ich sagen, aus einem geistigen Gewissen her­aus etwas anderes, als noch vor Jahrhunderten für den Menschen entsprungen ist. Es entspringt - wiederum kann man es sehen, wenn man unbefangen in die eigene Seele hineinblickt und einen Sinn für solche Sachen hat, wiederum kann man wahrnehmen etwas wie eine innere Stimme -, es entspringt etwas wie eine innere Verpflichtung:

Du sollst nun, da du nicht mehr durch Blutsverwandtschaft, Stam­mesverwandtschaft den dir unmittelbar Nächststehenden dich nahe genug fühlst, durch deine Seelenentwickelung ihm nahe kommen können. Du sollst seinen Willen in einer wirklichen Menschenliebe in dir aufnehmen. Du sollst, damit du sozial mit ihm leben kannst, nicht an ihm vorbeigehen, sondern du sollst seinen Willen in deinen aufnehmen können, seine Gedanken zu deinen Gedanken machen können. Du sollst mit seiner inneren Seelenverfassung in deiner inneren Seelenverfassung denken, fühlen und wollen können. Du sollst dich ihm geistig-seelisch nähern können.

Gerade so, wie das Beschäftigen mit der Naturwissenschaft eine Art Erweckung für das seelische Leben darstellt, eine Art Aufwa­chen im gewöhnlichen Bewußtsein, das man sonst im Alltag und in der gewöhnlichen Wissenschaft hat, wenn man nur die gewöhnliche Wissenschaft richtig betrachtet, so gibt diese gewöhnliche Wissen­schaft, ich möchte sagen, innere soziale Pflichten, die immer mehr und mehr im Menschen erwachen. Sie stellt etwas dar, was man im Gegensatze zu dieser Erweckung bezeichnen kann - ich werde es jetzt etwas paradox ausdrücken müssen, allein manche von den

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Wahrheiten, die in der Gegenwart sich dem Kulturleben einverlei­ben müssen, müssen heute noch paradox klingen -, was man be­zeichnen kann als ein Gefühl, das uns überkommt, wenn wir so recht innerlich fühlen: geistig-seelisch nahe müssen wir dem Näch­sten treten, wir müssen uns in seinen Willen, seine Gedanken einle­ben; es ist das etwas, was sich wie ein Verlieren in den Menschen ausnimmt. Dieses Verlieren in den Nächsten mit seinem Geistig-Seelischen, diese Hingabe an den Nächsten, das liegt eigentlich zu­grunde dem so vielfach karikierten Vorgang von sozialer Empfindung in der Gegenwart.

Und wenn man sagt: Die Naturwissenschaft kann uns aufwek­ken -, dieses Gefühl, es bringt, ich möchte sagen, die entgegenge-setzte Seelenverfassung über uns, eine merkwürdige Seelenverfassung, wenn man sie nur verstehen kann. Aber geradesowenig wie man das Erwachen aus der naturwissenschaftlichen Methode heraus gewahr wird, ebensowenig wird man dieses Sich-in-den-Nächsten-Hinein-fühlen gewahr. Aber es wird immer mehr und mehr den modernen Menschen ergreifen. Dann werden sie dieses, im Gegensatze zu der Erweckung durch die Wissenschaft, empfinden wie ein Einschlafen, wie ein Ruhen in der Umgebung, wie ein Übergehen der eigenen Seele in die Seele des anderen. Und wie aus dem natürlichen Schlafe heraus erwacht, lebensvoll erwacht das geheimnisvolle Leben des Traumes, so kann erwachen aus dieser Hingabe an das Menschlich-Seelenvolle, das immer mehr und mehr wie eine Gewissenspflicht die moderne Menschheit überkommen wird, es kann heraus erwa­chen aus dieser Hingabe, die, ich möchte sagen, in einem höheren Sinne die eines Schlafens ist, Liebe, die sich ausdrückt in einer sol­chen Hingabe. Es ist eine Art Schlaf in der menschlichen Umgebung; aus der heraus aber hebt sich etwas wie ein Traum aus dem natürli­chen Schlaf. Und dieser Traum aus dem natürlichen Schlaf läßt sich vergleichen mit dem, was auftauchen wird immer mehr und mehr aus der wirklichen, nicht aus der karikierten sozialen Empfindung.

Dieser Traum, er wird erstehen lassen dasjenige, was dem Men­schen sagt: Siehe, indem du dich einlebst in den Willen, der da neben deinem Willen sich entwickelt, indem du verwachsen wirst mit dem

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Gedanken, der neben deinen Gedanken sich entwickelt, weißt du, wie du mit diesem Menschen innerlich zusammenhängst.

Wie Goethe fühlte etwas, das ihm gegeben wurde durch seine Idee der Urpflanze, was er bezeichnen mußte als ein Einleben in die ganze Kraft der Pflanzenwelt selber, so lebt man sich hinein wie in die Umgebung, in die lebendige Umgebung der Menschenwelt, gera­de durch das modernste Empfinden. Und wiederum erwacht einem aus diesem Einleben in die Menschenwelt heraus etwas, was nun wie eine neue Erkenntnis gerade aus dem sozialen Leben aufgeht. Man fühlt, mit dem Wesen des anderen Menschen bist du verbunden. Man fühlt, aus dem Wesen des anderen Menschen spricht wie traumhaft in dir etwas, was dir bezeugt: du warst mit diesem Men­schen in Vorzeiten schon verbunden.

Aus diesem wirklichen Erleben, aus diesem echt modernen Erle­ben wird der neueren Menschheit als eine Erfahrung, als ein richti­ges Erlebnis erwachsen dasjenige, was einzelnen bevorzugten Gei­stern schon erwachsen ist, wie zum Beispiel Lessing. Man kann, wenn man durchaus pedantisch sein will, wenn auch im höheren Sinne pedantisch, man kann sagen: Lessing, solch ein Mensch war gewiß groß, aber er hat in seinem Alter, als er schon halb schwach­sinnig war, seine «Erziehung des Menschengeschlechts» geschrieben und ist da auf die verrückte Idee gekommen, daß die Menschheit in wiederholten Erdenleben lebe. Es ist aber für denjenigen, der nicht ein Pedant ist, sondern der wirklich hineinblicken kann in die Ent­wickelung eines solchen Menschen wie Lessing, der doch immer weiter und weiter aufgestiegen ist, ganz anschaulich, daß ein solcher Mensch nur der Vorgänger war für alle diejenigen, die kennenlernen diese Eigentümlichkeit, diese gewaltige Erfahrung, die aus dem rich­tig verstandenen sozialen Fühlen hervorgehen wird, aus ihm auftau­chen wird, lebensvoll, wie ein Traum; aber es wird ein lebensvoller Traum sein, nicht bloß wie träumend, das Verbunden-gewesen-Sein mit Menschen, die man wieder antrifft im Erdenleben, das Verbun­den-gewesen-Sein in früheren Erdenleben, mit dem Hinsehen darauf, daß man in späteren Erdenleben wieder mit ihnen zusammensein wird. Dasjenige, was die Erfahrung der wiederholten Erdenleben ist,

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es wird gerade sich entwickeln aus dem richtigen sozialen Leben und Empfinden des modernen Menschen heraus.

Die gewöhnliche Naturwissenschaft, sie ist ja heute auch schon durch ihre Forschungen dazu gekommen, nicht mehr rein materiali­stisch sein zu wollen, mindestens bei einzelnen Geistern. Aber wenn dann der gewöhnliche Naturforscher nachweisen will, daß in dem Menschen etwas lebt, was geistig-seelischer Natur ist, was nicht bloß ein Ausdruck ist des Leibes, dann wendet er sich nicht an solche Erscheinungen, die er nachweisen kann, hinstellen kann, wie man Erscheinungen des Laboratoriums, der Klinik und dergleichen hin­stellt, sondern er wendet sich gerade an die abnormen Erscheinun­gen des menschlichen Lebens. Und ich möchte sagen, in die Mode gekommen ist gerade da, wo man versucht, darauf hinzuweisen, wie der Mensch auch ein Geistiges und ein Seelisches in sich hat, die Traumwelt zu untersuchen, die so geheimnisvoll aufwacht aus dem natürlichen Schlafe. Aber das heißt, alles dasjenige zu untersuchen, was sich ergibt aus den Erscheinungen der Suggestion, der Hypnose, des Somnambulismus und der Mediumschaft und so weiter. Auch da liegt es nahe, während die anthroposophisch orientierte Geistes­wissenschaft aus einer gesunden Naturerkenntnis und aus einem ge­sunden Miterleben der Menschenwelt heraus schöpfen will, sie zu verwechseln mit demjenigen, was sich anlehnen möchte für eine wirkliche Erkundung des menschlichen geistig-seelischen Wesens an solche Erscheinungen wie Hypnotismus, Somnambulismus und dergleichen.

Man kann, um diesen Erscheinungen etwas näherzukommen, geradezu von der Traumeswelt ausgehen, man kann darauf aufmerk­sam machen, wie diese Traumeswelt in Sinnbildern etwas vor die Menschen, die menschliche Seele hinzaubert in der Zeit zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, da der Mensch nicht voll gebun­den ist mit seinem geistig-seelischen Leben an den ruhenden Leib. Aber derjenige, der diese Traumeswelt sachgemäß studieren kann, wird er sich jemals etwa auf die Frage: Was ist diese Traumeswelt? -die Antwort geben: Diese Traumeswelt ist etwas, was den Menschen über sein gewöhnliches äußeres Tagesleben hinausführt. - Dann

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müßten nicht in diese Traumeswelt - für den Unbefangenen ist es ganz klar - sich einmischen allerlei Dinge, die bloß von den niede­ren, tierähnlichen Trieben der Menschennatur kommen.

Bedenken Sie nur, was der Mensch alles im Traume in der Lage ist zu tun, wie er hinneigt zum niederen Triebleben, wie er hinneigt selbst oftmals zum Verbrecherleben in dem, was er im Traume sich vorgaukelt. Der Mensch muß sich sagen: nicht in irgendein höheres Geistiges ist er versetzt, wenn er träumt, sondern im Gegenteil, in das Untermenschliche ist er hinuntergewandert. Wahrhaftig, es ist selber ein Traum, wenn die Menschen heute behaupten wollen -ganz gutwillig behaupten wollen -, im Traume würden sie in eine höhere Welt entrückt. Nein, in eine niedrigere Welt als diejenige ist, in die wir blicken durch unsere Sinne, werden wir durch den Traum gebracht. Und erst recht dann, wenn auf den Menschen ein solcher Einfluß ausgeübt wird, von seiten irgendeines geeigneten Mitmen­schen, daß er in den schlafähnlichen Zustand der Hypnose versetzt wird, kann man es dazu bringen, daß, ich möchte sagen, sogar un­verantwortliche Einflüsse auf den Menschen ausgeübt werden, in­dem man hereinwirkt in eine Art schlafähnlichen Zustand. Dann sieht er eine Kartoffel für eine Birne an und ißt sie für eine Birne, deshalb, rein deshalb, weil ihm suggeriert wird, eingegeben wird diese Idee: diese Kartoffel ist eine Birne. Und noch ganz andere Dinge können ihm eingegeben werden! Es ist ja nur der extreme Zustand, der auch sonst als, ich möchte sagen, nicht ein ganz er­laubter Zustand existiert, wo man rechnet auf die Herabdämpfung des Bewußtseins durch den anderen Menschen, und ihm im, ich möchte sagen, Vergewaltigen Ideen einreden will. Für denjenigen, der im Sinne wahrer Geisteswissenschaft arbeitet, für den entsteht die Frage: Was ist es für eine Seelenverfassung, in der der Mensch im Traume ist? Was ist es für eine Seelenverfassung, in der der Mensch ist, wenn er in einem solchen hypnotischen oder medialen -der ist ja auch einem hypnotischen Zustand ähnlich -, wenn er in einem solchen hypnotischen Zustand solche Einflüsse erfahren kann von irgendeinem Mitmenschen oder auch von anderer Um­gebung?

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In hypnotischem Zustand ist es in der Tat möglich, daß Gedan­kenübertragungen über weite Entfernungen sich darstellen können, sie können experimentell dargeboten, bewiesen werden. Aber es frägt sich nur, in welche Regionen man einen Menschen bringt, mit seinem ganzen menschlich-leiblich-seelisch-geistigen Wesen, wenn man in diese Regionen hinuntersteigt. Man bringt ihn dann in eine Region, die ein Untermenschliches ist, die das Tierische in dem Menschen darstellt.

In der Tat wird der Mensch heruntergeschraubt, herunterhypno­tisiert, herunterprofaniert in dasjenige, was als Tierisches in ihm spielt. Und gerade dadurch lernt man das Tierische im Menschen kennen, das doch noch etwas ganz anderes als das Tierische der Tierreihe ist; aber man gelangt in die Region des Untermenschli­chen hinein.

Im Gegensatz zu alledem, was da sich darbietet, möchte die hier gemeinte anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft dahin führen, das Seelisch-Geistige im Menschen dadurch zu erreichen, daß man nicht das, was schon im Menschen ist, herunterdämpft, um scheinbar etwas Geistig-Seelisches zu empfinden, sondern daß man hinaufentwickelt dasjenige, was schon in der Sinneswelt da ist, zu einer höheren Anschauung dadurch, daß man den Gedanken, den Willen, die Empfindung durch Meditation, Konzentration so er­zieht, wie es in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» dargestellt ist. - Den Menschen über sich hinaus-führen, in gesunder Weise über sich hinausführen über das, was in der Sinnesanschauung und gewöhnlichen Wissenschaft schon da ist, das will anthroposophische Geisteswissenschaft.

Dadurch gelangt sie in eine Region hinein, die durchaus etwas Neues ist gegenüber der äußeren Sinneswelt. Das ist sehr wichtig, daß man einsieht, daß der Mensch abhängig wird, indem er in Hyp­nose, in somnambulen, in medialen Zustand versetzt wird, oder auch, indem er sich gewöhnlich der Traumphantasie bloß hingibt, daß er abhängig wird von seiner äußeren sinnlichen Umgebung in einer solchen Weise, wie er nicht mehr abhängig ist, wenn er sich dem normalen Sinnesleben hingibt; wenn wir uns in wachem Zustande

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dem Sinnesleben hingeben, dann kann unser Wille die Augen abwenden von etwas, auf das hin er sie nicht wenden will, kann so­gar geringe Aufmerksamkeit auf das, was er hört, wenden. Kurz, wir sind unserer Menschlichkeit mächtiger durch den Willen, wenn wir durch die Sinne mit der Umgebung in Beziehung stehen. Das, was da in die Freiheit unseres Wollens gestellt ist, was uns in ein freies Verhältnis bringt, wenn wir im wachen Zustande sinnlich wahrneh­men, wird ein Zwangsverhältnis, wie es in der Tierheit ist, wenn wir heruntergedämpft werden im Wachzustand durch Hypnose. Da ent­decken wir nicht das eigentlich Seelische im Menschen, da entdek­ken wir dasjenige von der Tierheit in uns, was sonst verhüllt wird durch unsere freie Geistigkeit; was sonst verhüllt wird, das wirkt herauf, wird beherrschend den Menschen. Der Mensch wird hinun­terorganisiert zum Tiere. Nur erkennt man nicht - da der Mensch sich nicht benimmt wie das Tier, sondern sich schon geistiger zum Ausdruck bringt -, daß es sich doch um ein Hinunterorganisieren zu der Tierheit handelt. Das, was anthroposophische Geisteswissen­schaft will, das will im Gegensatz dazu den Menschen hinauferhe­ben zu einer höheren Bewußtseinsstufe, und dadurch erkennt man erst dasjenige, was sich auf einer niedrigeren Bewußtseinsstufe dar­stellt. Denn dann, wenn der Mensch so sein Geistiges, wie ich es dar­gestellt habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», entwickelt, dann tritt auch eine andere Bezie­hung zur Welt auf. Aber nicht diejenige Welt stellt sich dar, die sich darstellt, wenn wir hypnotisiert sind oder wenn wir in medialem Zustande sind, oder wenn wir somnambul werden, nicht die Welt der gewöhnlichen sinnlichen Umgebung stellt sich dar, sondern eine neue Welt, eine geistige Welt, eine Welt, die der Mensch früher nicht gekannt hat, aber die sich ihm darstellt als eine wirkliche, so wie sich die äußere Sinneswelt für die Sinne als eine wirkliche Welt ankündigt.

Sehen Sie, diese Entwickelung kann der Mensch durchmachen, indem er hinaufsteigt von dem Menschlichen in ein Übermenschli­ches, so wie er von der Hypnose, vom Somnambulismus aus hinun­tersteigt in ein Untermenschliches. Diese Entwickelung kann durchgemacht

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werden, und der Mensch kann dadurch hinaufkommen zu einem unmittelbaren Wahrnehmen, unmittelbaren Erleben des Geistigen. Der Geist kann dadurch hereintreten in das menschliche Bewußtsein.

Nun kann man ja sagen: Gewiß, in einem solchen Buche, wie in dieser Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ist dargestellt, welche Entwickelung man durchmachen muß, um zu begreifen, daß das wirklich eine wahre Welt ist, die man auf diese Weise kennenlernt, wie ich es geschildert habe. Aber es kann nicht jeder Mensch selbst ein Geistesforscher werden, es kann nicht jeder Mensch selber eintreten in diese geistige Welt, so daß er Mitteilun­gen aus dieser geistigen Welt machen kann. Derjenige allerdings, der bis zu jener Entwickelung kommt, die man immer, da wo man wuß­te von dem Vorhandensein einer geistigen, einer übersinnlichen Welt, genannt hat die Welt jenseits der Schwelle des gewöhnlichen Bewußtseins, wer eintritt in diese Welt, in der er das Geistige so um sich herum hat, wie man für das gewöhnliche Bewußtsein das Sinnli­che um sich hat, der macht seine Entdeckungen im Geistigen. Der weiß zum Beispiel mit diesen Entdeckungen unmittelbar, daß durch dasjenige, was heute vom Menschen erscheint, indem man ihn in hypnotischem, somnambulem Zustand hat, indem man medial wird, sein gewöhnliches Bewußtsein herabgedämpft wird. Was da im Menschen erscheint als das Untermenschliche, das stellt in Wahr­heit eine frühere Entwickelungsstufe des Menschen dar, und dasjeni­ge, was sich heute als seine Sinneswahrnehmung, seine Verstandes-wahrnehmung entwickelt, das stellt eine spätere Entwickelungsstufe dar. Und sogar das kann man erkennen - Sie können es nachlesen in der «Geheimwissenschaft» -, daß der Mensch heute, wenn man ihn in Hypnose versetzt, so wird auf eine abnorme Weise, wie er war in seiner Umgebung in einer Entwickelung der Erdenwelt, die weit zu­rückliegt hinter dem, was uns die geologische äußere Wissenschaft als Erdenentwickelung darstellt. Man kann geradezu etwas erfahren über einen viel geistig-seelischeren Zustand des Erdenplaneten, in dem der Mensch aber auch schon vorhanden war und so seine Um­gebung wahrnahm, wie er heute seine Umgebung wahrnimmt,

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wenn sein Bewußtsein herabgedämpft ist. Wir erkennen etwas von der Vergangenheit der Erde, die nicht so war, wie es die Kant-Lapla­cesche Theorie darstellt, sondern so war, wie ein geistig-seelisches Wesen selbst, in das der Mensch als Sinneswesen eingebettet war. Und andrerseits erkennt man den Menschen der irdischen Zukunft, wo die Erde wieder geistiger sein wird, wo der Mensch durch seine natürliche Beschaffenheit so erkennen wird, wie man heute erkennt, wenn man die Seele weiterentwickelt, wie ich es geschildert habe.

Allein diese Erkenntnisse, sie werden zunächst, obwohl sie ein Bedürfnis sind des neueren, des modernen Menschen, sie werden zu­nächst selbstverständlich, möchte ich sagen, nur von einzelnen Men­schen erreicht werden, einzelne Menschen werden hineinkommen in diejenige Region des Lebens, die da liegt jenseits der Schwelle des gewöhnlichen Bewußtseins. So vieles ist notwendig, wenn man wirk­lich zu diesen höheren Erkenntnissen kommen will. Sehen Sie, ich will Ihnen eine einfache höhere Erkenntnis anführen. In dieser ein­fachen höheren Erkenntnis aber sieht derjenige, der zu ihr kommt, zum Beispiel, worauf das Erlangen höherer Erkenntnisse, die Ent­deckung höherer Erkenntnisse eigentlich beruht. In der gewöhnli­chen Geschichte weiß man heute nicht, daß im Grunde genommen die Entwickelung der ganzen Menschheit ebenso innerlich bedingt ist wie die Entwickelung des einzelnen Menschen. Wer würde es heute nicht lächerlich finden, wenn man sagen würde: der Mensch, der sieben, vierzehn, zwanzig Jahre und so weiter alt wird, der ist immer das Ergebnis desjenigen, was er ißt und trinkt; dasjenige was er ißt, das bewirkt, daß das Kind von Kindheit auf sich immer wei­ter entwickelt, das macht es zum erwachsenen Menschen. Jeder Mensch weiß, daß das nicht der Fall ist, daß der Mensch gewisse Stu­fen seiner Entwickelung durchmacht, die ihn sogar über gewisse Sprünge in der natürlichen Entwickelung führen. Einen solchen deutlichen Sprung haben wir zum Beispiel um das siebente Jahr her­um, wenn der Zahnwechsel eintritt. Derjenige, der einen Sinn hat für solche Dinge, der weiß, welch gewaltige Revolutionen sich im menschlichen Organismus abspielen zum Beispiel dann, wenn die Geschlechtsreife eintritt; später sind die Umschwünge nicht mehr so

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deutlich und klar wahrzunehmen, sind aber dennoch vorhanden. Da entwickelt sich im Menschen etwas, was aus der Tiefe seines Wesens herausspringt. So aber auch bei der ganzen Menschheit. Und so war es etwa um die Mitte des 15. Jahrhunderts unserer nachchristlichen Zeit, wo die Menschheit einen Sprung in ihrer Entwickelung durch-machte. Die Seelenverfassung der Menschen ist eine ganz andere ge­worden. Eben dasjenige ist aufgetreten, was ich heute charakterisiert habe als das, daß der Mensch sich einsam fühlt gegenüber dem ande­ren Menschen, daß er in sich abgeschlossen ist, daß er nicht mehr durch die bloße Blutsverwandtschaft sich dem Menschen so nahe fühlt wie früher. Dieses Selbständigerwerden, dieses Persönlicher-werden hat sich so entwickelt, wie das aufgetreten ist, daß der Zahn-wechsel, die Geschlechtsreife eintritt bei der einzelnen menschlichen Individualität, bei der einzelnen menschlichen Organisation. So, aus der ganzen Menschheitsentwickelung heraus, ist da etwas gekom­men in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Solch ein Erkenntnisinhalt kann nur aus der geistigen Welt kommen. Und erst wenn man einen solchen Erkenntnisinhalt gewinnt, wie eine innere Erfahrungstatsa­che, kann man ein Urteil auch haben über die Wirklichkeiten der wiederholten Erdenleben, über den Gang des Geistes in der mensch­lichen Entwickelung, über das Leben des Geistes in dem natürlichen Dasein und so weiter.

Aber alles dasjenige, was man tun kann, um zu solchen Erkennt­nissen zu kommen, das ist: man kann sich dazu vorbereiten, durch Meditation, Konzentration, durch Hingebung der Gedanken, Emp­findungen, Willensimpulse, wie es geschildert ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Man kann sich entwik­keln, kann sich dann sagen: Du bist jetzt bereit, höhere Erkenntnis aufzunehmen; aber dann hat der Mensch zu warten. Die Art der Geisteswissenschaft bezieht sich nicht darauf, daß man losgehen kann und Erkenntnisse sammeln; sondern man kann nur die eigene Seele bereit machen; dann muß sie warten. Dann muß man, ich möchte sagen, auf den Moment warten, den man empfindet wie eine Gnadenwirkung aus der geistigen Welt heraus; man muß warten, bis die Erleuchtung kommt. Daß Erleuchtungen aus der geistigen Welt

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auftreten, tritt bei dem einen Menschen auf, bei dem anderen Men­schen nicht. Daher sind die Wahrheiten so, daß sie in einigen Men­schen auftreten, die sie ihren Mitmenschen mitteilen müssen. Selbst wenn solche einfachen Erkenntnisse, wie die von dem Umschwunge der ganzen Entwickelung der Menschheit im 15. Jahrhundert, auf­treten, man muß sie heute kennengelernt haben im reinen Seelenle­ben. Man muß verzichten gelernt haben auf das gewaltsame Erobern der geistigen Welt, man muß gearbeitet haben nur an der Entwicke­lung der Seele, um sich bereit zu machen zum Empfangen der Wahr­heiten. Dann kommen sie, kommen im geeigneten Moment. Man muß sich darauf beschränken, sie als solche einzelnen Wahrheiten hinzunehmen. Man muß sich nur klar sein darüber: wenn man Kon­sequenzen daraus ziehen will, so wie einzelne Menschen es machen, dann bringt man nur Karikaturen der geistigen Welt. Nehmen wir an, irgendein Mensch hat mancherlei innere Entdeckungen gemacht; er kommt zu einer Idee; dann baut er gleich ein ganzes System dar­aus, ein Natursystem, ein Geschichtssystem, ein ökonomisches oder ein soziales System, oder irgend etwas. Die Menschen sind nicht zu­frieden, solche einzelnen geistigen Erfahrungen zu machen, sondern ziehen weiterhin ihre Konsequenzen, bauen Systeme darüber auf. Derjenige, der erfahren ist in der geistigen Welt, der arbeitet nur an seiner geistigen Entwickelung, daß er bereit ist, zu empfangen, was sich ihm offenbart. Dann nimmt er wiederum eine solche einzelne Erfahrung hin, wartet wiederum, bis sich ihm eine andere ergibt. Wie in der äußeren sinnenfälligen Wirklichkeit auch die neue Erfah­rung herankommt, so muß man warten, so muß man immer inner­lich von Resignation erfüllt sein, durch die man warten kann, bis sich die einzelnen inneren Erkenntnisse ergeben. Sonst bringt man oftmals Gebilde der Phantasie zustande. Und weil die meisten Men­schen nur solche verschwommenen Phantasievorstellungen haben, deshalb meint man, die Gesetze, die in Betracht kommen, kämen nur aus Phantasiegebilden heraus. In Wahrheit kommen aber keine Phantasiegebilde heraus, wenn der Mensch sich anstrengt, vorwärts-zukommen. Nur wenn er sich nicht anstrengt, über das Unsichtbare Ideen zu gewinnen, kommt er zu Phantasiegebilden. Sondern nur,

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wenn er anstrebt, alle Gedanken und Entwickelung, alles Arbeiten im Geiste lediglich darauf abzielen zu lassen, daß der Geist in seinem Erkenntnisvermögen immer vollkommener und vollkommener wird, dann kann er genügend weit kommen; wenn er warten gelernt hat, dann ergeben sich ihm die Entdeckungen in der geistigen Welt durch dasjenige, was mitzuteilen ist in der geistigen Welt. - Es kann allerdings der Mensch, wenn ihm sein Schicksal, ich möchte sagen, nach dieser Richtung hin günstig ist, und er warten lernt, selber zu Entdeckungen kommen. Aber er kann vor allen Dingen dahin kom­men, daß er dasjenige, was geistige Entdecker ihm sagen, als Wahr­heit anerkennen kann, und daß er sich die Urteile aneignet durch eine solche innerliche Entwickelung, um auch dasjenige, was ihm der andere gibt, in seiner Wahrheit einzusehen.

Das ist gerade das Geheimnis des Lebens, das die Menschen füh­ren werden , wenn der Geist ihr Führer in der Sinneswelt und in die übersinnliche Welt werden wird. Gerade das wird die Eigentümlich­keit sein, daß das menschliche Zusammenleben intimer werden wird. Heute sehen wir einen illusionären, einen falsch verstandenen Sozialismus, sehen, wie die Menschen sozial wirken wollen, aber im­mer mehr und mehr sozial sich eigentlich voneinander entfernen. Dann aber, wenn man einsehen wird: Du kannst dich dazu entwik­keln, daß du dasjenige, wozu der andere durch die Intimitäten seines Innenlebens kommt, wodurch er geistige Entdeckungen macht, wirst anerkennen können, dann wirst du dich selber im Zusammen­leben mit ihm geistig bereichern können. Dann wird man einsehen, daß gerade wenn der Geist Führer sein wird in dem Sinnesreich des Menschen, durch diesen Geist auch das soziale Leben erst seinen rechten Sinn wird erhalten können.

Das Hineindringen in geistige Welten setzt ja voraus, wenn man wirklich bewußt jenseits der Schwelle kommen will, daß man in einem gewissen Sinne furchtlos werde gegenüber den Erlebnissen der geistigen Welt. Die gewöhnliche Sinneswelt, sie läßt uns, ich möchte sagen, in einer gewissen Weise in Sicherheit eingewiegt sein. Derjenige, der von dieser Sinneswelt über die Schwelle der geistigen Welt hinübergelangt in die wirklichen geistigen Welten, die zugrun­de

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liegen unserer Sinneswelt, der macht die Erfahrung, daß gewisser­maßen der bequeme, feste Erdboden nicht mehr unter ihm ist. Die geistige Welt hat nicht dieselben Kräfte der Schwere und derglei­chen, die diese Sinneswelt hat. Innerhalb der geistigen Welt fühlt sich der Mensch wie auf einem wogenden Meere, und diejenige Si­cherheit, die man sonst durch einen festen Standpunkt in der äuße­ren Sinneswelt hat durch das gewöhnliche Leben, diese Festigkeit, die muß gegeben werden durch innere Kraft, durch die man durch-steuert die geistige Welt.

Außerdem müssen Sie bedenken, daß, wenn man hineingelangt in diese geistige Welt, man zunächst an diese geistige Welt nicht an­gepaßt ist. Man ist angepaßt einer Welt als Mensch zwischen Geburt und Tod; man ist nicht angepaßt an dasjenige, was als Ewiges sich enthüllt der Menschennatur, wenn man gerade in die Geisteswelt eindringt. Man ist angepaßt an die diesseitige Welt, an die Welt hier. Tritt man nun ein in die geistige Welt, nachdem man sich entwickelt hat, um hineinzugelangen, so fühlt man sich eigentlich zunächst, so-lange man noch im Leibe ist, noch nicht durch die Pforte des Todes gegangen ist, noch nicht für die ganze Entwickelung angepaßt. Man fühlt das oftmals als brennenden Schmerz, möchte ich sagen. Davor schrecken viele zurück. Nur wenn man sich gut vorbereitet, um das eine wie das andere zu erfahren, kann man über sich selbst hinaus­wachsen, kann sich hinauswagen auf das offene Meer der geistigen Erkenntnisse, auf dem man den Führer, den geistigen Führer in sich selber haben muß.

Aber für jeden Menschen ist es heute schon möglich, wenn er be­obachtet solche Dinge, wie ich sie dargestellt habe in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», einzusehen aus seiner ei­genen Überzeugung heraus, nicht durch Überlegungen, einzusehen, daß dasjenige auf Wahrheit beruht, der Wirklichkeit entnommen ist, was die Geist-Entdecker, die modernen Seher wirklich der Welt enthüllen können.

Ein menschliches Zusammenleben wird sich dadurch ergeben, daß wir wiederum einsehen lernen können, wenn der andere in sich die Fähigkeiten entwickelt, das Entdeckte voll anzuerkennen. Ein

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Zusammenleben im Geistigen wird sich ergeben, das die Grundkraft abgeben wird für ein Leben, wie es die Menschheit in der Zukunft brauchen wird, gerade wenn manche Strukturen im sozialen Orga­nismus überwunden werden sollen, die aus alten Kräften hervorge­gangen sind und die nur überwunden werden durch neue Kräfte des Geistes, die sich von Seele zu Seele entwickeln.

Gerade dadurch, daß das Geistige für die Menschen eine Wirk­lichkeit werden wird, gerade dadurch werden die Menschen einan­der näher kommen. Man muß nur bedenken, ob der eine Mensch dies oder jenes in der geistigen Welt entdeckt; das hängt ab von der Art und Weise, wie sein Leben ist. Nicht wahr, von der äußeren Sin­neswelt weiß der Mensch anderes, je nachdem er, ich will sagen, in Europa oder in Amerika oder in Asien geboren ist. So weiß jeder Mensch auch, wenn er ein geistiger Entdecker, ein Seher ist, von der geistigen Welt etwas anderes. Das andere, das er weiß, das ist wieder­um dem anderen Menschen, der wiederum etwas anderes weiß, eine Ergänzung zu seinem eigenen Wissen. Die Menschen werden einzel­nes, vom Geiste her verschiedenes wissen. Aber sie werden einander ergänzen können.

Vor einer wirklichen Geist-Erkenntnis, die so gemeint ist, wie sie heute hier vorgetragen worden ist, ist es wahrhaftig keine Schande oder irgend etwas Herabwürdigendes, wenn der eine Mensch in einem wirklich sozialen Dasein einfach dasjenige aus der geistigen Welt heraus ihm Übermittelte aufnimmt, was der andere zu entdek­ken befähigt ist. Denn das ist nicht zu fürchten, daß irgendein Mensch, der ein geistiger Entdecker wird, durch Unbescheidenheit glänzen würde innerhalb seiner Mitmenschengenossenschaft. Man muß, gerade wenn man in die geistige Welt eindringen will, sich zu­erst dasjenige gar sehr in der entsprechenden hohen Kraft aneignen, was ich intellektuelle Bescheidenheit genannt habe, und man weiß sehr gut, gerade dann, wenn man beginnt, etwas von der geistigen Welt zu wissen, wie wenig man eigentlich weiß. Das ist nicht zu fürchten, daß die geistigen Erkenner besonders hochmütig werden. Diejenigen, die von der geistigen Welt in Phrasen reden, die von dem Geiste reden, ohne daß sie etwas von ihm wissen, die von ihm

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reden durch bloße philosophische Schlüsse, die mögen hochmütig werden. Aber diejenigen, die in die geistigen Welten eindringen, die wissen außerdem, wie klein sie sind als Menschen gegenüber dieser geistigen Welt, die sich durch sie verwirklichen will, und sie wissen wahrhaftig, daß sie weder hochmütig noch rechthaberisch werden sollen.

Nun möchte ich noch etwas anderes erwähnen. Wenn man auf der einen Seite sagen muß: zum Heile der Zukunft der Menschheit ist es heute notwendig, daß hingehorcht werde von seiten derjeni­gen, die noch nicht gewisse Wahrheiten entdeckt haben, auf diejeni­gen, die sie entdeckt haben, und das durchaus nicht etwas Beschä­mendes, die Freiheit Herabwürdigendes ist, so kann zu gleicher Zeit auch darauf hingewiesen werden, daß ja auch derjenige, der vielleicht in einem hohen Grade schon erkennen kann, der ein Seher ist, an seinem Mitmenschen Ungeheures lernt. Das ist das Merkwürdige, daß man in dieser Richtung ein ganz neues Verhältnis gerade durch das Sehertum, gerade durch die Entwickelung des Seelisch-Geistigen, zu seinem Mitmenschen gewinnt. Man muß sich sagen, daß auch in einer einfachen, elementaren Lebensart Dinge sich offenbaren kön­nen. Wir erfahren sie, wir haben den Sinn, einzudringen in dasjeni­ge, was als geheimnisvolle seelisch-geistige Tiefen sich zum Beispiel auch durch ein Kind offenbart. Das gibt Veranlassung, wenn wir nur nicht es symbolisch deuten, wenn wir nur nicht nachgrübeln, sondern uns ihm in Liebe hingeben, gerade es geistig zu erkennen, daß nachher, wenn der Seher eine solche Liebe ausgeübt hat für das Einfache, für ihn der begnadete Moment eintritt, etwas Großes zu erkennen. Und jeder große, wirkliche Geist-Erkenner wird Ihnen erzählen können von denjenigen Momenten, wo nicht durch Ausle­gung desjenigen, was er eben gesehen hat, sondern wie wirklich ge­rade dann, wenn in ihm diese Kraft ausgelöst worden ist, er hinter­her an irgendeinem Menschen etwas anderes erfahren hat, indem er den Geist zu seinem Führer erkor. Man lernt einen Menschen ken­nen. Dasjenige, was er einem mitteilt aus seinen Erlebnissen, aus seinen Erfahrungen heraus, vielleicht als einfachster, primitivster Mensch, führt einen in seelische Tiefen hinein, wenn man richtig zu

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erkennen vermag, den richtigen Zusammenhang zu finden vermag. Man macht die Entdeckung, daß, was die Menschen erleben, was die Menschen erfahren, daß das bei jedem Menschen zu einer Offen­barung führen kann.

Ja, über die ganzen weiten Umkreise der Menschen hin kann von jedem Menschen, dem wir gegenübertreten, wenn wir den Geist zum Führer der Sinneswelt und zum Führer in die übersinnliche Welt wählen, es kann von jedem Menschen uns, wenn er uns seine Erfahrungen und Erlebnisse mitteilt, dasjenige, was er aus der Welt mehr gewonnen hat, etwas geben, es kann in uns zur Offenbarung kommen etwas, was man zu seiner weiteren Entwickelung durchaus nötig hat. Wir merken nur oftmals, daß die Menschen selber mit ihren mangelhaften Kräften nicht auf ihr Leben anwenden, was sie in ihrem Bewußtsein, in ihrem bewußten Seelenleben zu haben glauben; sie meinen, das ist etwas höchst Unwichtiges, weil die Men­schen unzulänglich sind, durch ihre eigene Urteilskraft zu erreichen, Übersinnliches zu schauen. Sieht man hinein in die Tiefen der Men­schenseele, wenn man sich den Sinn auf diese Weise angeeignet hat, wie ich es heute geschildert habe, so kann man auch gerade als Gei­stesforscher so viel gewinnen in der neueren Naturwissenschaft, durch die Art, wie die Naturwissenschaft in den Kliniken, auf den Sternwarten, in chemischen und physikalischen Laboratorien arbei­tet. Wenn wir dasjenige, was die Forscher mit ihrer Urteilskraft oftmals aus sich selber sehr unzulänglich auffassen, wenn sie be­schreiben ihr Tun und ihre Ergebnisse, was sie selbst mit dem, was sie darüber sagen, durchaus nicht recht erreichen, nicht in seinen Tiefen enthüllen können, wenn wir dasjenige hinnehmen, was uns erzählt wird von der Arbeit in den naturwissenschaftlichen Werk­stätten, dann enthüllen sich uns tiefe Naturgeheimnisse. Und gerade durch dasjenige, was Geisteswissenschaft auf diesem Gebiete macht, wird sich vergeistigen dasjenige, was die Medizin heute so vielfach anstrebt, was sie mit eigenen Mitteln nicht erreichen kann, was in Verbindung steht mit dem, was ich geschildert habe, daß die Medi­zin, die Naturwissenschaft gerade durch Geisteswissenschaft be­fruchtet werden können.

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Aber auch das Soziale wird befruchtet werden können, wenn der Geist wird Führer werden können durch die sinnliche und in die übersinnliche Welt hinein. Und man wird nicht zu glauben brau­chen, daß dasjenige, was als religiöses Element eine der Grundkräfte jedes Menschenwesens sein sollte, durch die Erkenntnis des geistigen Lebens, dadurch, daß das geistige Leben unter uns Platz greift und der Geist zum Führer des Menschen in der Menschenwelt wird, daß das etwa darunter leiden würde! Nein, das Gegenteil ist gerade der Fall. Gerade dasjenige, was die religiösen Bekenntnisse selber gesucht haben, zu dem konnten sie wegen der Bedürfnisse, die aus dem ge­sunden naturwissenschaftlichen Leben hervorgegangen sind, nicht gelangen, indem sie alte Traditionen bewahrt haben. Dadurch konn­ten sie dasjenige, was sie über Seele und Geist als Glaube des Men­schen erzeugen wollten, nur durch dogmatische Gebote erreichen, während in Wahrheit, indem die Menschen dazu kommen werden, daß sie den Geist zu ihrem Führer in der Sinneswelt machen, die Menschen im Geistigen drinnenstehen werden mit ihrem Seelen-leben. Menschen aber, die den Geist erkennen, Menschen, die mit ihren Vorstellungen, mit ihren Empfindungen im Geiste leben, sie werden auch den Geist verehren können, sie werden den Weg zur wahrhaft religiösen Verehrung finden können. Diejenigen Men­schen, die nichts wissen vom Geiste, werden auch nicht, wenn sie einer «Wortreligion» sich zuzählen, in Wirklichkeit religiöse Men­schen sein. Diejenigen, die den Geist zum Führer haben, die fürch­ten nicht, daß das Christentum Schaden nehmen könnte dadurch, daß durch moderne Geisteswissenschaft der Geist durchdrungen werde. 0 nein, diejenigen zeigen sich klein, die da sagen: es soll kei­ne Geist-Erkenntnis kommen, denn die wird das religiöse Gefühl, die wird das Christentum untergraben. Wer wirklich den Geist er­kennt, kann nicht so gering denken von der Kraft des Christus-Impulses, der seit dem Mysterium von Golgatha in der Welt wirk­lich wirkt. Er muß viel höher denken. Er muß so denken, daß er sich sagt: was auch für Erkenntnisse kommen mögen, je mehr man in den Geist eindringen wird, desto besser wird man gerade auch verehren lernen dasjenige, was nur erhöht werden kann in seiner

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Bedeutung für die Menschen dadurch, daß es immer besser und besser erkannt werde.

Nicht Geisteswissenschaft wird die wirkliche religiöse Entwicke­lung der Menschheit hindern, sondern das Stehenbleiben-Wollen jenseits der wirklichen Erkenntnis und des geistigen Fortschritts wird hemmend wirken auf die religiöse Entwickelung. Und es könnte sein, daß in einer gar nicht zu fernen Zeit zahlreiche Men­schen einsehen werden, woher eigentlich die Hemmnisse der religiö­sen Entwickelung kommen. Sie kommen davon, daß die Konfessio­nen nicht mehr leben wollen mit demjenigen, was im innerlichsten Menschen als Bedürfnis vorhanden ist.

Sehen Sie, ich wollte damit nur - ich kann das allerdings skizzen­haft nur tun in einem solchen Vortrage, wie ich ihn hier halten durf­te -, ich wollte damit nur kennzeichnen, wie der Geist der Führer des Menschen werden kann durch die Sinneswelt hindurch und in die übersinnliche Welt hinein.

Der Mensch lernt dasjenige in ihm, was ewig und unsterblich ist, was durch Geburt und Todespforte geht, gerade dadurch kennen, daß er den Geist in sich entwickelt, dem er angehörig ist. Er lernt erkennen, daß er durch seine Seele und seinen Geist ein Angehöriger der geistigen Welt ist, so wie er durch seinen Leib ein Angehöriger dieser Welt ist.

Heute ist es ja allerdings so, daß dasjenige, was ich charakterisiert habe, zwar in den tiefen Untergründen des Unterbewußten voll lebt. Derjenige, der heute durchschaut die Dinge, der weiß es, wie zahlrei­che Menschen da sind, welche die Sehnsucht haben nach einer sol­chen Gefolgschaft des Geistes; aber in dem Bewußtsein der Men­schen ist das oftmals nicht so. In weitesten Kreisen ist noch, möchte ich sagen, eine Abneigung, eine Antipathie gegen solche geistige Führerschaft. Derjenige aber, der drinnensteht in einer solchen gei­stigen Bewegung, der sieht auf die Art und Weise, wie geistigen Be­wegungen oder auch äußeren Kulturbewegungen begegnet worden ist im Laufe der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit! Und wenn man heute mit Herz und Sinn hängt daran, daß so etwas wie der Dornacher Bau, die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft,

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das Goetheanum, als äußerer Repräsentant - er ist ja noch nicht fer­tig, ist ja erst im Bau begriffen, aber er wird in nicht allzulanger Zeit hoffentlich fertig werden -, daß so etwas dastehen soll als das sicht­bare Zeichen für die geistige Bewegung, die ich Ihnen heute im Vor­trage charakterisiert habe, so hat man schon nötig, gegenüber man­cherlei absprechenden Urteilen, sich an Geschichtliches zu erinnern.

Denken Sie, wie die heutige Welt aussehen würde, wenn damals, als Kolumbus ein paar Schiffe ausrüsten wollte, um nach Westen hin zu steuern in Gegenden, von denen er wahrhaftig nichts wußte, und die anderen auch nichts wußten, wenn die Meinung gesiegt hätte -Sie können es in der Geschichte nachlesen, daß sie sehr vorhanden war, diese Meinung -, die diese Absicht des Kolumbus für eine Narr­heit, für einen Wahnsinn angesehen hat! Aber schließlich, er hat ge­siegt. Denken Sie, was geworden ist in der modernen Zeit dadurch, daß nicht die Gescheitheit derjenigen, die dem Kolumbus die Schiffe verweigert haben, gesiegt hatte, sondern daß gesiegt hat der «Wahn­sinn» des Kolumbus. Dieser Wahnsinn des Kolumbus ist für viele Menschen dasjenige, was anthroposophische Geisteswissenschaft will. Heute noch ist es vielen ein Wahnsinn. Dieser Wahnsinn aber schließt nicht bloß ein dasjenige, was nur eine Geist-Erkenntnis ist, nein, dieser Wahnsinn schließt ein eine solche Entwickelung des Geistes, durch die man auch ein wirklich praktischer Mensch wird, durch die man zu einem solchen Menschen wird, daß man praktisch wird angreifen können eine Entdeckungsfahrt in das wirkliche Le­ben. Eine wirkliche Entdeckungsfahrt in das Leben soll inauguriert werden durch dasjenige, für das dieser Dornacher Bau der äußere Repräsentant sein soll.

Mögen daher viele Menschen in dem, was damit unternommen werden soll, einen Wahnsinn sehen. Wer aus innerer Erkenntnis heraus Herz und Sinn verbunden hat mit dem, was als Wahrzeichen dafür stehen soll, daß beginnen soll der Geist Führer in der Mensch­heitsentwickelung zu werden durch die sinnliche Welt und in die übersinnliche Welt hinein, der weiß, daß sich entwickeln muß aus diesem «Wahnsinn» heraus dasjenige, was viele Menschen, und zu­letzt alle Menschen der zivilisierten Welt suchen müssen, damit herausgekommen

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werde aus manchem von dem, was von dem Unbe­fangenen heute als Chaotisches, als Kulturwirrwarr empfunden wird, um hinzugelangen zu demjenigen, was zahlreiche Menschen und zahlreiche Seelen doch ersehnen, mehr ersehnen, als einstmals die Zeitgenossenschaft des Kolumbus Indien ersehnt hat, ersehnen als dasjenige Licht, das der Menschheit aufgehen soll, damit sie wirk­lich höheren Kulturzielen in der Menschheit entgegengehen könne.

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DER GEIST ALS FÜHRER DURCH DIE SINNES- UND IN DIE ÜBERSINNLICHE WELT Neunter Vortrag, Basel, 10. November 1919

Es gilt wohl heute noch in weiten Kreisen als das Zeichen eines be­sonders aufgeklärten Geistes, wenn man die Möglichkeit ablehnt, durch menschliche Erkenntnis einzudringen in die geistige, in die übersinnliche Welt. Man kann zwar sagen, daß in einzelnen Kreisen gerade der naturwissenschaftlichen Denkungsart gegenwärtig schon gegen diese sogenannte Aufklärung Front gemacht wird. Allein so viel auch vielleicht von dieser Seite über Geist und übersinnliche Welt von diesem oder jenem Gesichtspunkte aus gesprochen wird, man kann nicht sagen, daß ein wirklich befriedigender Weg in die Welt des Geistes in weiteren Kreisen heute schon auch nur versucht oder angestrebt wird.

Daß es die Möglichkeit gibt, nicht bloß durch einen unbestimm­ten, schulmäßigen Glauben, sondern durch eine echte und wahre Fortsetzung derjenigen Vorstellungsart, welche gerade das naturwis­senschaftliche Denken in der neueren Menschheit so groß gemacht hat, in die übersinnliche Welt einzudringen, das sucht die anthropo­sophisch orientierte Geisteswissenschaft, die - wie ich schon vor einigen Wochen hier sagte - ihre äußere Repräsentation finden soll durch das Goetheanum in Dornach, als einen durch das Erlebnis des Geistes zu ergründenden Beweis vor der Welt hinzustellen.

Wenn ich wiederum von einem anderen Gesichtspunkte aus, als ich das in zahlreichen Vorträgen schon hier getan habe, begreiflich machen soll, wie gerade der Weg dieser anthroposophisch orientier­ten Geisteswissenschaft ist, so möchte ich heute einleitungsweise über etwas scheinbar recht Abstraktes, für manchen vielleicht fern-liegend Scheinendes sprechen.

Das Goetheanum hat ja nicht umsonst seinen Namen von Goethe genommen. In einer gewissen Beziehung bildet die ganze Weltan­schauung, die ganze Vorstellungsart Goethes den Ausgangspunkt für ein neueres geisteswissenschaftliches Streben. Und wenn man

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auch sagen kann, daß dasjenige, was man bei Goethe findet, noch durchaus als ein Anfang sich darstellt, so kann man gerade das Prin­zipielle am besten vielleicht veranschaulichen, wenn man von gewis­sen einfachen Gedanken oder Ideen Goethes ausgeht. In weiteren Kreisen wohl bekannt, aber leider heute noch allzuwenig gewürdigt, ist ja dasjenige, was Goethe seine Metamorphosenlehre genannt hat, in der wir auch seine Idee von der Urpflanze finden.

Mit dieser Urpflanze meint Goethe nicht etwa ein sinnliches Pflanzengebilde einfacher Art, wie der richtige heutige Naturfor­scher sagen müßte, sondern Goethe meint mit seiner Urpflanze et­was, das nur im Geiste zu erfassen und zu erleben ist. Aber er meint zu gleicher Zeit mit dieser Urpflanze etwas, das nicht in irgendeiner einzelnen Pflanze zu finden ist, sondern das auffindbar ist in jeder einzelnen Pflanze des weiten Pflanzenreiches der Erde. Er setzt also voraus, daß - ich möchte sagen - innerhalb jeder sinnlichen Pflanze eine übersinnlich zu erfassende, im Geiste zu erlebende Urpflanze vorhanden ist.

Dasselbe stellt er sich auch vor, obwohl er es weniger deutlich ausgeführt hat, für die anderen, für die nichtpflanzlichen Organis­men. Und wenn Goethe, zum Teil gerade aus seiner künstlerischen Gesinnung heraus, diese Idee von der Urpflanze entwickelt hat, so muß man doch sagen, daß sein hauptsächlichstes Streben darauf gerichtet war, durch so etwas wie die Urpflanze etwas im allerbesten Sinne Wissenschaftliches zu finden, etwas, das dem Menschen als Idee Führer sein kann, geistig Führer sein kann durch die ganze weite Pflanzenwelt.

Als Goethe zur Klärung und Reifung seiner Weltanschauung durch Italien zog, da schrieb er einmal an seine Weimarer Freunde, die gut dasjenige kannten, was er eigentlich mit seiner Urpflanze wollte, daß ihm besonders in der reichen, strotzigen Pflanzenwelt Italiens wiederum das Bild der Urpflanze aufgegangen sei. Zunächst abstrakt - man braucht sich nicht, wie wir gleich sehen werden, an das Abstrakte zu halten -, zunächst abstrakt sagt er: Eine solche Ur­pflanze muß es doch geben, denn wie könnte man sonst in dem gan­zen mannigfaltigen Pflanzenreiche finden, daß jedes einzelne Wesen

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wirklich eine ganze Pflanze sei? - Wie gesagt, das ist abstrakt ausge­sprochen, aber Goethe drückt sich über diese Urpflanze noch viel bestimmter, wesentlich eindringlicher aus. So sagt er zum Beispiel:

Wenn man im Geiste diese Urpflanze erfaßt hat, dann kann man aus dem lebendigen Bilde dieser Urpflanze heraus selber sich Bilder von einzelnen wirklichen Pflanzen machen, welche die Möglichkeit des Existierens haben.

Man muß nur im rechten Sinne auf das hinschauen, was mit ei­nem solchen Worte eigentlich gesagt ist. Goethe will also im Geiste zu einer Idee von dem Pflanzenwesen kommen, und er will im Gei­ste die Möglichkeit haben, aus seiner Urpflanze heraus ein Gebilde geistig zu formen, das eine einzelne Pflanze ist, nicht aber gleich ei­ner Pflanze, die er sinnlich sieht, sondern das gewissermaßen zu den sinnlichen Pflanzen eine solche hinzu erfindet, die nicht sinnlich existiert, die aber doch die Möglichkeit hätte, wenn die Bedingungen da waren, in der Sinnlichkeit zu existieren. Worauf ist da eigentlich hingewiesen? Da ist darauf hingewiesen, daß der Mensch durch sei­ne Seele in die sinnliche Wirklichkeit so untertauchen kann und in diesem Untertauchen in die sinnliche Wirklichkeit das Geistige, das in der sinnlichen Wirklichkeit drinnen ist, so erleben kann, daß er ganz zusammenwächst mit diesem Geiste, der überall in der Natur schaffend webt und lebt.

Das ist gerade das Große der Goetheschen Weltanschauung, daß sie hinzielt auf dieses Untertauchen in die Wirklichkeit, und daß sie überzeugt davon ist, daß, sofern man in diese Wirklichkeit unter-taucht, man auf das Geistige dieser Wirklichkeit kommt, so daß man den Geist der Wirklichkeit entdeckt, der einem dann Führer sein kann durch die ganze verwirrende Mannigfaltigkeit des Sinn­lichen selbst.

Nun kann man dasjenige, was Goethe angestrebt hat, ausdehnen auf die gesamte, den Menschen umgebende Welt und auf den Men­schen selbst. Diese Vorstellungsart im weitesten Kreise auf alles das­jenige auszudehnen, was dem Menschen von anderem und von sich selbst entgegentritt, das macht sich die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft zur Aufgabe. Sie ist damit das Gegenteil von

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allem unklaren Obskurantismus, das Gegenteil von allem unklaren Mystizismus. Sie strebt dasjenige an, was Goethe für seine Weltan­schauung beansprucht: mit mathematischer Klarheit, mit mathema­tischer Durchsichtigkeit in die geistige Welt unterzutauchen.

Nun fühlt sich diese Geisteswissenschaft darin durchaus im Ein­klange gerade mit der neueren Naturwissenschaft, obwohl sie weit über die Naturwissenschaft der neueren Zeit hinausgeht. Man muß nur durch diese Naturwissenschaft durchgegangen sein um einzuse­hen, wie aus dieser Naturwissenschaft selbst diese Geisteswissen­schaft heraussprießen muß. Sehen wir einmal hin auf dasjenige, was gerade diese neuere Naturwissenschaft eigentlich anstrebt. Sie sieht ja ihr eigentliches Ziel darin, eine solche Erkenntnis der den Men­schen umgebenden Dinge, der mineralischen, pflanzlichen und tieri­schen Welt, ja des Menschen selbst zu finden, bei welcher nichts mitspricht von irgendwelchen subjektiven Gefühlen oder Vorstel­lungen des Menschen selbst. Diese Naturwissenschaft sucht nament­lich auf ihrem neueren Standpunkte, dem des Experimentes, auf den sie sich mit Recht gestellt hat als Naturwissenschaft, die Natur so zu erforschen, daß die einzelnen Erscheinungen und Vorgänge der Na­tur selbst ihr Wesen, ihre Gesetze enthüllen, daß der Mensch nichts hineinwebt in dasjenige, was er Naturerkenntnis nennt, von dem was er in sich selbst findet.

Dadurch unterscheidet sich dasjenige, was seit drei bis vier Jahr­hunderten, insbesondere aber im 19. Jahrhundert als Naturwissen­schaft aufgetreten ist, von dem Naturerkennen früherer Zeiten. Wer dieses Naturerkennen früherer Zeiten verfolgt, der weiß, daß die Menschen dasjenige, was sie sich in ihren Vorstellungen ausbildeten, in die Naturerscheinungen hineintrugen und gewissermaßen selbst das wiederum aus den Naturerscheinungen herausholten, was sie erst hineingetragen hatten. Daß das gerade nicht geschehe, daß der Mensch ganz unbefangen die Natur zu sich sprechen lasse, das ist das Bestreben der neueren Naturwissenschaft.

Aber man kann doch nicht anders, wenn man über die Natur forscht, als den Geist forschen lassen. Man kann nicht anders, als dasjenige, was man als Gedanken-, als Ideenleben in sich hat, und

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was geistiger Natur ist, auf den Zusammenhang der Naturerschei­nungen anwenden. Nun kann man einen zweifachen Weg einschla­gen. Den einen Weg hat die gewöhnliche naturwissenschaftliche Weltanschauung der neueren Zeit eingeschlagen; den anderen aber möchte die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft ein­schlagen.

Wenn die Naturwissenschaft ihre Ideen ausbildet, diese Ideen, die so rein, wie ich es dargestellt habe, an der Natur gewonnen sein sol­len, dann kann sie mit diesen Ideen, ich möchte sagen, sich selbst be­trachten; dann kann sie sich fragen: Welches Wesen, welchen Wert haben denn die Ideen, die wir auf die äußere Natur anwenden? - Das tut die neuere Naturwissenschaft nicht. Die neuere Naturwissen­schaft beschränkt sich darauf, alles dasjenige über die Natur zu er­kennen, was nicht eine Antwort gibt auf die Frage: Was ist denn der Mensch eigentlich selbst? - Das ist ja das Charakteristische, von al­len, man darf sagen, einsichtigen Naturforschern, das Hervorgeho­bene, daß man sagt: Ja, wir können vieles erforschen über die physi­sche Welt außer uns und in uns - die Frage wird dadurch nicht beantwortet: Was ist der Mensch selbst? - Und immer wieder und wiederum muß man betonen: Indem die Naturwissenschaft die Na­tur zu erkennen bestrebt ist, stellt sie ein Weltbild hin, in dem der Mensch nicht drinnen ist als Seele und Geist. Auf die Frage nach Seele und Geist hat die ehrlich auf dem heutigen Standpunkte stehende Naturwissenschaft keine Antwort.

Man muß die Frage, warum dies so ist, historisch beantworten. Die Naturforschung weiß selbst nicht, warum sie nicht vordringt zu der Erkenntnis von Seele und Geist, warum sie haltmacht trotz ihrer bewunderungswürdigen Resultate über die äußere Natur vor Seele und Geist, warum immer wieder und wieder Naturforscher auftre­ten, die sagen: Ja, wenn die Naturwissenschaft sprechen würde von Seele und Geist, würde sie ihre Grenzen überschreiten. - Man glaubt unbefangen über die Natur zu reden. Man redet nicht unbefangen, denn als eine Last, als ein Druck befindet sich über der Naturwissen­schaft, eigentlich über der Denkweise der neueren Naturforschung dasjenige, was sich seit Jahrhunderten als eine gewisse Vorstellungs­art

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festgesetzt hat. Und dieser Druck besteht darinnen, daß von ge­wissen Bekenntnisströmungen aus ein Monopol beansprucht wurde über die Wahrheiten von Seele und Geist.

Gehen wir einige Jahrhunderte zurück, so finden wir gerade in derjenigen Zeit, in der die neuere Naturwissenschaft ihr Frührot hatte, wie die religiösen Bekenntnisse ihr Monopol beanspruchen, die Wahrheiten zu diktieren über Seele und Geist. Vor diesem Mo­nopolanspruch wich die Naturwissenschaft der neueren Zeit zu­rück. Die Naturwissenschaft der neueren Zeit ist mit Großartigkeit eingedrungen in die äußere Natur; aber nicht, weil man durch dieses Eindringen in die äußere Natur erkannt hätte, daß man nicht auf­steigen könnte zu Seele und Geist, hat man dieses Aufsteigen unter­lassen, sondern weil es so festgewurzelt war in den unbewußten menschlichen Anschauungen, daß Rechnung getragen werden muß dem Monopolanspruch der Bekenntnisreligionen. Deshalb verwan­delte sich dieser Glaube in einen scheinbaren Beweis, man könne nicht in Seele und Geist eindringen.

Wer sich ernst befaßt hat mit den naturwissenschaftlichen For­schungsmethoden der neueren Zeit, und der dann gerade dasjenige innerlich seelisch verarbeitet hat, was sich als Ideen über die äußere Natur mit Ausnahme des eigentlichen Wesens des Menschen ergibt, der weiß, daß der andere Weg, den die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft einschlägt, weiter in die Menschheitszukunft hinein gegangen werden muß. Würde die Naturforschung sich selbst verstehen, würde sie nicht unter dem angedeuteten Drucke leben, dann würde sie gerade, weil sie eine Naturwissenschaft anstrebt, die vom Subjektiven des Menschen absieht, zu dem Goetheschen Prin­zipe kommen, zusammenwachsen mit dem Geiste, der in den Er­scheinungen und Tatsachen und Wesen der Natur ausgebreitet ist. Und die neuere Naturwissenschaft würde, wenn sie sich selbst ver­stünde, von sich aus gerade dasjenige erwählen, was nun die anthro­posophisch orientierte Geisteswissenschaft als Fortsetzung der na­turwissenschaftlichen Richtung für sich in Anspruch nehmen muß.

Allerdings, wesentlich unterstützt werden muß dasjenige, was sich an innerlicher Vorstellungskraft, an Denkkraft, gerade durch

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die Naturwissenschaft heranerziehen läßt, durch sorgfältige innere geistige Methoden. Und auf der Ausbildung solcher innerer geistiger Methoden beruht alles dasjenige, wodurch die hier gemeinte Gei­steswissenschaft den Weg in die übersinnliche, in die geistige Welt hinein überhaupt finden will.

Man stellt sich heute vielleicht dasjenige viel zu leicht vor, was hier mit diesem Weg in die übersinnliche Welt gemeint ist. Man denkt, da sei so etwas gemeint wie ein inneres Spintisieren, ein Sich­Hingeben an allerlei Vorstellungen, durch die man allerlei auswebt von dem, was das Wesen der Dinge sein soll. Man stellt sich viel­leicht vdr, das sei leicht gegenüber der Schwierigkeit der Experimen­tiermethode oder gegenüber den Methoden, die an Sternwarten und in Kliniken angewendet werden. Allein wenn Sie so etwas durchle­sen, wie ich versucht habe darzustellen in meinem Buche «Wie er­langt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder in meiner «Ge­heimwissenschaft», so werden Sie sehen, daß es sich nicht um irgendein beliebiges Herumspinnen in inneren Vorstellungen han­delt, sondern um ein streng gesetzmäßiges, inneres seelisches Arbei­ten des Geistes in den Geist hinauf. Denn wirkliche Geisteswissen­schaft kann nimmermehr der Anschauung sein, daß man in den Geist eindringen könne durch äußere Experimentiermethoden, son­dern wahre Geisteswissenschaft muß die Anschauung vertreten, daß nur der Geist im Menschen den Geist der Welt finden kann.

Was da der Mensch in seinem Inneren durchzuführen hat, habe ich hier in diesen Vorträgen, habe ich in meinen Büchern als Medita­tion, als Konzentration des öfteren bezeichnet. Ich möchte heute nur darauf hinweisen, daß diese Konzentrations-, diese Meditations­arbeit eine rein innere Seelenarbeit ist. Aber wohin strebt diese inne­re Seelenarbeit? Wohin strebt dieses Arbeiten nur mit inneren See­lenkräften, diese Hingabe an das reine Walten des Seelisch-Geistigen in dem Menscheninneren?

Sie wissen, indem wir in der Welt leben, nehmen wir durch unse­re Sinne die Welt wahr, und dann verarbeiten wir diese Welt. So macht es ja auch die Naturwissenschaft. Dann verarbeiten wir diese Welt, indem wir über sie nachdenken, indem wir ihre Gesetze ent­hüllen,

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indem wir uns Vorstellungen über sie machen. Sie wissen aber auch, daß dieses Vorstellungmachen zu etwas anderem noch führt, zu etwas, das innig zusammenhängt mit der Gesundheit unse­res persönlichen Menschenwesens. Dieses Vorstellungmachen über die Welt hängt zusammen damit, daß wir die Eindrücke der Welt, wie wir sagen, durch unser Gedächtnis, durch unsere Erinnerungs­kraft behalten können. Uber diese Erinnerungskraft, dieses Ge­dächtnis des Menschen geht der Mensch so leicht hinweg, weil sie ihm etwas so Alltägliches sind. Aber das ist gerade das Eigentümli­che des wirklichen Erkenntnisstrebens, daß dasjenige, was vielfach Alltägliches ist, für den Menschen gerade als dasjenige aufgefaßt wer­den muß, dem gegenüber die wichtigsten, die bedeutungsvollsten Fragen aufgeworfen werden müssen.

Wenn wir die Sinneswelt wahrnehmen, uns Vorstellungen von ihr bilden, nach einiger Zeit scheinbar diese wiederum aus unserem Inneren hervorbringen, so daß wir uns an erlebte Ereignisse erin­nern, so lebt in diesen Erinnerungen, in diesem Gedächtnis-Walten viel Unbewußtes. Denken Sie nur, wie wenig Sie eigentlich mit Ihrem Willen Herr sind Ihres Gedächtnisses, wie wenig Sie befehlen können sozusagen Ihrer Erinnerungskraft. Bedenken Sie vor allen Dingen, wie wenig Sie in der Lage sind, während Sie äußerlich wahr­nehmen, auch an diese Erinnerung zu denken. Oder ist es etwa so, daß der Mensch, indem er mit seinem Auge hinaus in die Welt sieht, indem er mit seinem Ohre die Töne hört, daß er da zu gleicher Zeit dafür sorgt, daß Vorstellungen da sind, die eine Wiedererinnerung möglich machen? Nein, da müßte der Mensch neben den Wahrneh­mungen, neben den inneren Sinneswirkungen noch eine andere Kraft bewußt ausüben. Das tut er in Wirklichkeit im gewöhnlichen Leben nicht. Ich möchte sagen, das Gedächtnis mit seiner Kraft läuft so nebenher neben dem äußeren Leben. Es ist aber dasjenige, was da unterbewußt wirkt, was gewissermaßen alles Leben in der äußeren Sinneswelt mitbestimmt, so daß wir dieses Leben mittragen durch unsere Erinnerung durch das Leben. Es ist dieses aus dem Unterbe­wußten als eine Kraft heraufzuholen. Mit anderen Worten: Wir können dasjenige, was wir so nebenherlaufend unbewußt in Erinne­rungskraft

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ausüben, nicht heraufholen aus den Tiefen unserer Seele, indem wir uns bloß an unsere Erlebnisse erinnern, sondern indem wir versuchen, die Kraft, die wir sonst gar nicht kennen, die eben nebenher läuft, wie ich es gesagt habe, zu einer solchen bewußten Klarheit zu bringen, wie sonst nur das äußere sinnliche Wahrneh­men ist, indem wir diese Kraft heraufholen aus den unterbewußten Tiefen und weben und leben in dem, was sonst im Unterbewußten des Gedächtnisses ist. Wenn wir die Erinnerungskraft nicht zum Gedächtnis, nicht zur Erinnerung verwenden, sondern dazu, Ideen und Vorstellungen, die sonst eben nur durch die Erinnerungskraft wachgehalten werden, bewußt in unserem Geiste anwesend sein zu lassen, so stärken wir etwas in unserem Geiste, wodurch wir, wenn der nötige Zeitpunkt eingetreten ist, kennenlernen ein ganz anderes Erwachen als dasjenige ist, das wir jeden Morgen erleben. Wenn man immer wieder und wiederum bewußt so arbeitet, wie sonst nur das Gedächtnis, die Erinnerungskraft arbeitet, dann erlebt man et­was von einem neuen Erwachen in der Seele. Man erlebt etwas von einem Auftreten eines ganz anderen Menschen in der Seele, als derje­nige Mensch ist, der sonst durch die Sinneswelt geht. Den Geist kann man nicht durch Theoretisieren erreichen. Jede philosophische Auseinandersetzung, die den Geist durch bloße Schlußfolgerung er­reichen will, hat eigentlich nichts anderes im Auge als das Wort oder die Worte vom Geiste. Der Geist will erlebt sein. Und er kann da­durch allein erlebt sein, daß wir dasjenige, was sonst unterbewußte Erinnerungstätigkeit ist, was in tieferen Schichten unseres Men­schenseelenwesens lebt, heraufheben, so daß es in uns lebt mit einer solchen lichten Klarheit, wie sonst dasjenige in uns lebt, was wir durch unsere Augen sehen, was wir durch unsere Ohren hören, und daß in diesem Heraufgeholten der bewußte Wille so lebt, wie der bewußte Wille lebt, wenn ich das Auge von dieser Wand richte nach jener Wand hinüber, um den Blick von dem abzuwenden, was ich hier sehe, und hinzuschauen auf dasjenige, was ich dort sehen kann. Indem ich mich meiner Sinne bediene, lebt in diesem Sich-Bedienen der Sinne der bewußte Wille. Dieser Wille muß voll durchdringen diese innere Seelenarbeit, dann kommt man zu etwas, was eine Fortsetzung

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der gewöhnlichen Seelentätigkeit des Menschen ist, was sich ebenso verhält zu der gewöhnlichen Seelentätigkeit des Menschen, wie sich das wache Tagesleben zu dem Schlafesleben, aus dem höch­stens der Traum heraufspricht, verhält.

Daß es so etwas in der Menschennatur gibt, was heraufgeholt werden kann und was ein neues Erkenntnisorgan wird, was zu dem wird, was Goethe nennt Seelenauge, Geistesauge, das ist dasjenige, was durch allmähliches Einleben in solche innere Seelenarbeit anthro­posophisch orientierte Geisteswissenschaft erweisen will. Sie wird dadurch dasjenige sagen, was Naturwissenschaft nicht zu sagen ver­mag, weil sie unter dem angedeuteten Druck lebt. Dieser Druck aber muß, weil die Menschheit danach Sehnsucht hat - man kann diese Sehnsucht bemerken, wenn man nur unbefangen genug dazu ist -, dieser Druck muß hinwegfallen von der Menschheitserkenntnis.

So sehen Sie, daß anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft nicht irgendeine verkehrte Mystik, nicht irgend etwas Obsku­res, sondern eine wirklich echte Fortsetzung desjenigen sein will, was gerade in der Naturwissenschaft gewußt wird. Und gerade der­jenige, der eine naturwissenschaftliche Erziehung genossen hat, wird es leichter haben mit dem Konzentrieren und Meditieren der Ge­danken; denn er ist gewöhnt an Methoden, an Forschungsweisen, die von dem Subjektiven des Menschen absehen, die ins Objektive ganz hineingehen. Wendet man nun dasjenige, was man so sich her­anerzogen hat an der Naturwissenschaft, gerade auf das Meditieren an, dann schaltet man alle menschliche Willkür aus, dann bringt man etwas in das Meditieren, in die innere Seelenarbeit herein, was eine solche objektive Gesetzmäßigkeit ist, wie diejenige der Natur selber. Gerade indem man die Denk- und Vorstellungsweise der Na­turwissenschaft herein nimmt in den Menschen, wird die chaotische, die unklare Selbsterkenntnis, die mit mancher vertrackten und ver­kehrten Mystik angestrebt wird, wo man nur immer hineinbrüten will in sein eigenes Inneres, überwunden. Gegen dieses ungeschulte Hineinbrüten in sein eigenes Inneres steht dasjenige Arbeiten in dem eigenen Inneren, das bei jedem Schritte dieses Arbeitens so ver­fährt, wie nur der gewissenhafteste Naturforscher verfährt, indem er

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seine Urteilskraft ausdehnt über dasjenige, was sich vor seinem Auge oder vor seinen Instrumenten ausbreitet.

Das ist die eine Seite. Ich möchte sagen, es ist die Seite, die hin­weist auf die Erweckung besonderer Erkenntniskräfte. Die gewöhn­liche Erinnerungskraft wird allerdings in solchen Augenblicken nicht da sein, in denen man das Geistige unmittelbar erforschen will, denn diese Erinnerungskraft hat selbst eine Metamorphose durchgemacht. Sie ist zu einem Geistauge geworden, das den Geist wahrnehmen kann. Mit den gewöhnlichen Schlußfolgerungen, die die heutige landläufige Logik hat, kann man nicht zum wirklichen Geiste vordringen. Wer sprechen will von einem wirklichen Vor­dringen zum Geiste, der muß hinweisen auf die real vorhandenen Kräfte, die zu diesem Geiste führen. Und eine solche real vorhande­ne Kraft ist die Erinnerungskraft. Nur muß diese Erinnerungskraft umgewandelt werden, muß zu etwas ganz anderem werden. Jedes andere Eindringen in den Geist führt zu gleicher Zeit ins Dunkle, weil der menschliche Wille dabei ausgeschaltet wird, und damit das wichtigste Stück des menschlichen Wesens selbst. So wie wir dasje­nige, was aus, ich möchte sagen, organischen Untergründen unseres Geistes aufsteigt als phantastisch, so wie wir das, was wir nicht in der Gewalt haben, nicht als richtige Erinnerung bezeichnen, so wird der wahre Geistesforscher keinen Seeleninhalt annehmen für seine Geistesforschung, den er nicht mit dem Lichte seines Willens voll­ständig durchdringt.

Soviel über die eine Seite, das Vorstellungsleben, wie es die Gei­stesforschung verwendet. Aber noch etwas anderes im Menschen ist verwendbar und muß verwendet werden, wenn man den Weg in das Übersinnliche, in die geistige Welt hinein wirklich finden will. Und geradeso wie aus dem Geiste der Naturwissenschaft durch die Vor­stellungsweise der neueren Zeit die Geisteswissenschaft herausgefor­dert ist, so ist auf der anderen Seite durch das menschliche Leben in der neueren Zeit die Geisteswissenschaft herausgefordert. Wer unbe­fangen, nicht mit dem Vorurteil des heutigen Historikers, sondern eben unbefangen die Entwickelung der Menschenseele durch die letzten Jahrhunderte verfolgt, der kann sich sagen, daß gerade um

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die Mitte des 15. Jahrhunderts ein gewaltiger Umschwung eingetre­ten ist in der Verfassung der Menschenseelen, allerdings nur inner­halb der zivilisierten Welt, aber eben innerhalb dieser zivilisierten Welt. Es ist nur ein Vorurteil, wenn man hinblickend bloß auf die äußeren historischen Tatsachen glaubt, eine Menschenseele der zivi­lisierten Welt im 8., 9. nachchristlichen Jahrhundert habe dieselbe innere Verfassung gehabt wie die heutigen Menschenseelen. Gewiß, es gibt auch heute zurückgebliebene Menschenseelen, die mehr oder weniger noch auf dem Standpunkte des 8., 9. Jahrhunderts stehen; aber die sind gerade lehrreich, weil sie uns auch äußerlich zurück­führen in jene Zeit. Aber im ganzen können wir sagen: Man braucht ja nur der Erfahrung gemäß wirklich hinzu blicken auf das menschli­che Leben. Es ist ein gewaltiger Umschwung eingetreten, der seit der Mitte des 15. Jahrhunderts immer stärker und stärker in seinen Wirkungen sich zeigte. Will man ihn näher bezeichnen, so muß man sagen: Wenn man hinter diesen Zeitpunkt zurückgeht, so fin­det man, daß der Mensch dem Menschen ganz anders gegenüber­stand, als das heute eigentlich der Fall ist, und als es von unbewuß­ten menschlichen Kräften in die Zukunft hinein von der Menschheit eigentlich erstrebt wird. Was man auch aus gewissen Vorurteilen da­gegen sagen mag, es wird etwas in bezug auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch erstrebt, das in dem bezeichneten Zeitpunkte seinen Anfang genommen hat. In der früheren Zeit stand der Mensch dem Menschen nahe durch Blutsverwandtschaft, durch Stammesverwandtschaft, durch alles dasjenige, was aus seinem Orga­nismus heraus ihn verwandt machte mit dem anderen Menschen, oder was ihn verwandt machte mit dem anderen Menschen auch aus dem organischen Zusammenhange heraus, der sich zum Beispiel in der Geschlechtsliebe äußert. Sehen wir denn nicht, wenn wir nur sehen wollen, daß an die Stelle des alten Blutszusammenhanges, an die Stelle des alten Sippenzusammenhanges, des alten Familienzu­sammenhanges, des alten Stammeszusammenhanges, immer mehr und mehr dasjenige tritt, was von Mensch zu Mensch so wirkt, daß es von der Seele, von der wollenden Seele des einen Menschen über­geht auf die wollende Seele des anderen Menschen? Sehen wir nicht,

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daß die Entwickelung der Neuzeit immer mehr und mehr notwen­dig macht, daß der Mensch durch etwas ganz anderes als durch sei­nen bloßen leiblichen Organismus dem anderen Menschen nahe­tritt? Wir sehen ja, daß das Bewußtsein der Persönlichkeit seit dem angegebenen Zeitpunkte wächst, daß der Mensch immer innerlicher und innerlicher und damit auch immer einsamer und einsamer ge­worden ist. Der Mensch lebt mit seinem Seelenleben seit diesem Zeitpunkt, ich möchte sagen, in sich immer mehr und mehr isoliert. Das Seelenleben schließt sich gegenüber der Außenwelt ab. Das Blut spricht nicht mehr, wenn wir den Nächsten gegenüberstehen. Wir müssen unser Inneres regsam machen. Wir müssen uns hinüberle­ben in den anderen. Wir müssen seelisch in dem anderen aufgehen. Man mißversteht sehr, vielfach besonders in denjenigen Kreisen, die sich heute die sozialistischen mit Recht zu nennen glauben, dasjeni­ge, was man das soziale Prinzip, den sozialen Impuls der neueren Zeit nennen kann. Man sieht ihn aufgehen, diesen sozialen Impuls; man weiß aber heute noch in den wenigsten Kreisen, worin er eigentlich besteht.

Er besteht darin, daß immer mehr und mehr in dem einsam gewordenen Menschen der Impuls erwacht, seelisch-geistig durch seinen Willen sich hinüberzuleben in die anderen Menschen, so daß der Nächste derjenige wird, der es durch unser Bewußtsein, nicht durch unser Blut, nicht durch unseren organischen Zusammenhang wird. Da stehen wir den Menschen gegenüber und haben die Not-wendigkeit, uns in sie einzuleben. Was wir heute Wohlwollen, was wir heute Liebe nennen, ist etwas anderes, als was man vor Zeiten so genannt hat. Aber indem wir uns so in die anderen Menschen einle­ben, ist es, wie wenn alles dasjenige, was in uns selber pulsiert, was in uns als Wille lebt, aufnehmen würde den Willen des anderen. Wir treten ganz hinüber mit unserer Seele in den anderen. Wir gehen gleichsam aus unserem Leibe heraus und gehen in den Leib des ande­ren hinein. Wenn dieses Gefühl immer mehr und mehr überhand nimmt, wenn dieses Gefühl liebedurchdrungen, ich möchte sagen, als moderne Nächstenliebe über die Menschen sich ausbreitet, dann tritt aus diesem Miterleben des Willens, des ganzen Seelenlebens des

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anderen Menschen etwas auf, was eine wirkliche Lebenserfahrung ist. Heute könnten viele Menschen schon diese Lebenserfahrung ha­ben, wenn sie sich nicht durch Vorurteile sie trüben lassen würden. Wo sie auftritt, da schlägt man sie zurück mit wahrhaftig nicht gu­ten Gründen. Man braucht sich nur zu erinnern an einen Menschen wie Lessing. Er hat am Ende seines Lebens, als alles dasjenige durch seine Seele gezogen war, was er an menschlich Großem hervorbrin­gen konnte, noch seine «Erziehung des Menschengeschlechts» ge­schrieben, die gipfelt in der Anerkenntnis der Tatsache der wieder­holten Erdenleben des Menschen. Es gibt höhere Philister, wie es höhere Töchter gibt, und die haben ihr Urteil fertig über so etwas. Die sagen: Ja, der Lessing war eben sein ganzes Leben gescheit; aber dann ist er altersschwach geworden und ist zu solchen vertrackten Ideen gekommen, wie die der wiederholten Erdenleben.

Aber diese wiederholten Erdenleben sind keine erfundene Idee; sie sind dasjenige, was wir erleben, wenn wir nun nicht durch bloße Blutsverwandtschaft oder durch bloßes organisches Zusammenge­hören dem anderen Menschen gegenüberstehen, sondern wenn wir wirklich uns hinüberleben können in dasjenige, was in seiner Seele lebt. Da geht uns auf dasjenige, was uns entgegendringt, da tritt der Geist des einen Menschen dem Geist des anderen Menschen gegen­über, da entspringt ihm erfahrungsgemäß das, wovon er sagen kann:

das, was hier ein Band für deine Seele, für deinen Geist mit dem an­deren Menschen knüpft, das ist nicht durch dieses Leben entstanden. Durch dieses Leben ist entstanden dasjenige, was im Blute liegt. Was aber im Geiste als Notwendigkeit auftritt, das ist entstanden durch etwas, was diesem Leben vorangegangen ist. Wer wirklich diese Ent­wickelung des neueren Menschheitslebens seit der Mitte des 15.Jahr-hunderts verfolgt - es ist nur ein Nebel noch darüber gebreitet für die weitesten Kreise der Menschheit -, der wird aus dem Zusammen­leben mit den Menschen zu der Idee der wiederholten Erdenleben kommen. Und was da zur Erscheinung kommt, das tritt auf, ich möchte sagen, wie ein Traum. Ich sage «wie ein Traum» aus folgen­dem Grunde: Indem wir einschlafen, schlafen wir in ein Unbewuß­tes hinein. Dann tritt aus diesem Unbewußten das oder jenes als

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Traum heraus. Man kann dieses Einschlafen ins Unbewußte hinein vergleichen mit dem Untertauchen in die Seelen unserer Mitmen­schen, so wie ich es eben charakterisiert habe. Dann taucht aus die­sem Untertauchen, ich möchte sagen, nicht eigentlich bildlich, son­dern sehr eigentlich, aus diesem Hineinschlafen in unsere Mitmen­schen auch zunächst etwas auf wie der Traum der wiederholten Er­denleben und macht uns aufmerksam darauf, daß so etwas gesucht werden muß, um das Leben zu begreifen, um den Weg durch die Sinneswelt zu finden. Und dasjenige, was wie ein Traum aus dem so­zialen Leben herausleuchtet, das wird zu einer vollständigen Gewiß­heit, wenn wir nun ebenso, wie ich es vorhin dargestellt habe für das Gedächtnis, den menschlichen Willen ausbilden. Aber so wie das Gedächtnis zu einer vollbewußten Kraft werden muß, so muß der Wille andererseits etwas ablegen, was ihn im gewöhnlichen Leben ganz und gar dirigiert.

Was dirigiert denn im gewöhnlichen Leben unseren Willen, unse­re Begehrungen, unsere Begierden? Würden unsere Begierden nicht entspringen aus unserem organischen Leibesleben heraus, der Wille hätte gewissermaßen nichts zu tun. Wer den Willen erfahrungsge­mäß durchschaut, der weiß, daß dieser Wille sich stützt auf die Be­gierde. Aber wir können auch dasjenige, was als die eigentliche Kraft des Willens wirkt, von unseren Begierden loslösen. Bis zu einem gewissen Grade lösen wir es eben los im sozialen Leben. Aber das macht uns erst aufmerksam auf das, worauf es eigentlich ankommt. Wir lösen es los im sozialen Leben dadurch, daß wir, indem wir un­seren Nächsten lieben, indem wir in dem Nächsten untergehen, ihn ja nicht begehren wie ein Stück Fleisch. Nicht aus unseren Begier­den heraus lieben wir den Nächsten, sondern es ist da ein Anwenden eines begierdelosen Willens. Aber auch dieser begierdelose Wille kann durch eine besondere Schulung herangezogen werden. Das ge­schieht dann, wenn wir nicht bloß das wollen, was in der Außen­welt zu erreichen ist, das, wonach das eine oder das andere Begehren geht, sondern wenn wir den Willen auf unseren Menschen und seine Entwickelung selber anwenden. Das können wir. Wir überlassen uns nur zu häufig dem Leben, wie es uns trägt. Aber man kann auch

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dann, wenn man der Schule entwachsen ist, das heißt, wenn die an­deren nicht mehr die Erziehung besorgen, eine fortwährende Selbst­erziehung, eine fortwährende Selbstzucht ausüben. Man kann sein eigenes seelisches Wesen in die Hand nehmen, man kann sich vor­nehmen, dies und jenes zu erreichen. Man kann sich vornehmen, wenn einen das Leben bis zu einem gewissen Zeitpunkte dahin ge­führt hat, in diesem oder jenem Gebiete des Lebens sich auszuken­nen, auf ein anderes Gebiet des Lebens seine Urteilskraft zu übertra­gen, kurz, man kann den Willen umkehren. Während sonst der Wille immer von innen nach außen wirkt, wie die Begierde das Äußere beherrscht, so kann der Wille umgekehrt werden, nach innen gekehrt werden. Indem wir durch unseren Willen Selbst­zucht üben, indem wir versuchen, uns immer besser und besser nach der einen oder anderen Richtung zu machen, wenden wir die eigentliche begierdelose Willenskraft an. Und dasjenige, was Sie in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten ?» und im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft» finden, das zielt neben dem anderen, was ich schon charakterisiert habe, darauf hin, daß der Mensch eine solche Willenskultur auf sich sel­ber anwende, so daß er immer mehr und mehr, ich möchte sagen, mit seinem Willen in sich selber hineindringt. Dann aber, wenn diese zwei Kräfte zusammenwirken, die aus dem Unbewußten her­ausgeholte Erinnerungskraft, die dann erfaßt den menschlichen Willen, dann weiß sich der Mensch innerlich als Geist, dann weiß er, daß er auf rein geistige Weise innerlich den Geist ergriffen hat, dann weiß er, daß er das nicht durch die Organe des Leibes ausführt. Dann weiß er, wie geistiges Handeln im Geiste ist, dann weiß er, was es heißt: Seele und Geist sind unabhängig vom Leibe.

Man kann nicht beweisen, daß die Seele und der Geist unabhän­gig vom Leibe sind, denn sie sind es im gewöhnlichen Leben nicht. Im gewöhnlichen Leben ist Geist und Seele vom Leibe durchaus abhängig. Aber in uns lebt ein anderer Mensch, der ist unabhängig, den können wir aus seinen Tiefen heraufholen. Dann zeigt sich uns erst dasjenige, was im Menschen als das Ewige waltet.

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Sie sehen, es ist durchaus nicht eine verkehrte, vertrackte Mystik in dieser anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft. Es ist in ihr durchaus dasjenige, was sich in vollständig klarer Weise ausdrük­ken läßt, wozu man aber nur kommt, wenn man es sich wirklich innerlich erklärt und nicht nur sagt: Du sollst dein Inneres ausbilden, du sollst in dich hineinschauen, du sollst den Gott in deiner eigenen Natur finden. - In der anthroposophisch orientierten Geisteswissen­schaft wird auf ganz bestimmte Kräfte, die in einer ganz bestimmten Weise in Zucht genommen werden sollen, hingewiesen. Das ist es, worauf es hier ankommt. Damit ist allerdings diese anthroposo­phisch orientierte Geisteswissenschaft in einer anderen Art die Fort­setzung des modernen naturwissenschaftlichen und sozialen Stre­bens. Man kann ja auf dem Gebiete der Naturwissenschaft nicht mehr ganz und gar vom Geiste absehen. Und so ist es gekommen, daß, weil man den Druck nicht beseitigen wollte, den ich eingangs charakterisiert habe, man mit denselben Methoden, mit denen man, ich möchte sagen, sich duckt unter den gekennzeichneten Druck, auch den Nachweis führen will heute, daß es im Menschen so etwas gibt wie einen Geist, wie eine Seele. Und das ist dasjenige, was aufge­treten ist bei denen, die die ganze Sachlage in der Kulturentwicke­lung der Gegenwart nicht durchschauen.

Diesem Streben nach dem Geiste, das aber in einer verkehrten Richtung sich bewegt, verdanken wir alle die Hoffnungen, die sich auf gewisse berechtigte Untergründe aufbauen, die Hoffnungen, die gerade manche Naturforscher haben in bezug auf Hypnotismus, in bezug auf die Möglichkeit, daß der eine Mensch dem anderen bei herabgedämpftem Bewußtsein irgendeine Idee einsuggeriert. Wir verdanken diesem Streben die Hoffnungen, die manche setzen auf die Untersuchung des Traumlebens und dergleichen mehr, und wir verdanken diesem Streben, doch zum Geiste zu kommen - weil der Mensch nicht anders kann, als den Geist doch zu suchen -, den ganzen Irrtum des Spiritismus.

Was wird eigentlich auf diesem Gebiete gesucht? Nun, nehmen Sie so etwas, wie es der Fall ist beim Hypnotisieren oder beim Medi­umismus, was geschieht denn da eigentlich? Da wird dasjenige, was

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das normale menschliche Bewußtsein ist, durch das der Mensch fest drinnensteht im gewöhnlichen Leben, herabgedämpft. Indem der Mensch hypnotisiert wird, wird dasjenige, was seine bewußte Fähig­keit ist im gewöhnlichen Leben, herabgedämpft. Gewissermaßen auf den unbewußten oder halbbewußten oder viertelsbewußt ge­wordenen Menschen wirken dann andere Kräfte ein, die vielleicht vom Nebenmenschen oder von anderen ausgehen. Da kommt, das ist zweifellos, allerlei Interessantes zutage. Gewiß, es kommt auch durch den Mediumismus allerlei Interessantes zutage; aber dasjenige, was zutage tritt, das ist erreicht auf der Grundlage einer Herabdämp­fung, einer Einschläferung des gewöhnlichen Bewußtseins. Das wird niemals angestrebt bei den Forschungsmethoden der anthroposo­phisch orientierten Geisteswissenschaft. Die Forschungsmethode der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft sagt: Der Mensch ist vorgedrungen in seiner Entwickelung zu dem Bewußt­sein, das er im gewöhnlichen Leben durch seine Sinne im wachen Zustande hat; will man etwas über den Menschen ersprießliches Neues erkennen, so soll man ihm nicht dieses Bewußtsein lähmen, es nicht herabdämpfen, sondern im Gegenteil weiterführen, wie ich das angedeutet habe. Man soll die Klarheit erhöhen, die Sinneswahr­nehmungen hinführen in die Erinnerungskraft, indem man den Wil­len, der sonst nur aus der dumpfen Begierde entspringt, anwendet auf die Selbstzucht. Weil man diesen Weg nicht geht, nicht den Mut und die Ausdauer hat zu diesem Weg, dämpft man den Willen herab und glaubt, daß man dadurch zu einer Erkenntnis des Seelischen, des Geistigen im Menschen komme.

Wozu aber kommt man dadurch, daß man dem Menschen seine sonstige Fähigkeit nimmt? Dadurch, daß man den Menschen ein­schläfert, kommt man zu einer äußeren Betrachtungsweise des Men­schen, die ihn nicht zeigt als Geistig-Seelisches, die ihn zeigt gerade in seinem Untermenschlichen, in demjenigen, was ihn dem Tiere ähnlicher macht, als er im gewöhnlichen Leben ist. Das muß streng betont werden, daß durch alle diese manchmal gut gemeinten For­schungsmethoden der Mensch in das Untermenschliche hinunterge­führt wird. Wenn ich jemanden hypnotisiere und ihm eine Kartoffel

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gebe, aber durch die suggestive Kraft ihm klarmache, das ist eine Bir­ne, und er in die Kartoffel hineinbeißt mit dem Bewußtsein, in eine Birne hineinzubeißen, dann umdüstere ich sein höheres Bewußtsein so, wirke auf ihn so, wie gewirkt wird auf den Instinkt des Tieres. Nur daß der Mensch auch in seinem Untermenschlichen nicht ganz ein Tier ist, sondern daß sich seine Tiernatur in einer anderen Weise äußert. Das ist das Wesentliche. Und wenn man sucht nach irgend­welcher Gedankenübertragung im eingeschläferten Zustande oder bei herabgesetztem Bewußtsein überhaupt, so hat man es wiederum zu tun mit einer ins Menschliche übersetzten instinktiven Tätigkeit, das heißt mit einem Untermenschlichen. Wer zusammenwirft dasje­nige, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft sein will, mit diesen Dingen, der verleumdet anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Denn hier handelt es sich nicht darum, den Menschen herunterzuführen von seinem gewöhnlichen Bewußtseins­zustand in ein Untermenschliches, sondern ihn über sich hinauszu­führen, so daß das gewöhnliche Bewußtsein fortwirkt und ein höhe­res Bewußtsein zu diesem gewöhnlichen Bewußtsein hinzukommt.

Gerade das ist es, was anthroposophisch orientierte Geisteswis­senschaft durch ihre Forschungsmethode zeigt, daß dem Menschen, den wir hier haben in der Sinneswelt, zugrunde liegt ein tierischer, ein untermenschlicher Instinkt; und den kann man, indem man das gewöhnliche Bewußtsein einschläfert, hervorrufen, aufzeigen. Wenn er sich anders äußert als im gewöhnlichen Bewußtsein, so kann gera­de die hier gemeinte Geisteswissenschaft diese andere Äußerung ver­folgen. Sie charakterisiert diese andere Äußerung, die immer in der Hypnose, im mediumistischen Zustande stattfindet, als ein Unter-menschliches, als ein Herabsteigen in die Tierheit. Aber es zeigt sich zu gleicher Zeit, daß dasjenige, was als Tierisches im Menschen lebt, nicht so ist wie beim gewöhnlichen Tier. Die Forschungsmethode, von der ich hier gesprochen habe als von der der hier gemeinten Geisteswissenschaft, die weiß, daß dasjenige, was zum Vorschein kommt durch solche Experimente wie beim Hypnotismus, wie beim Mediumismus, etwas ist, was im Menschen heute noch lebt aus frü­heren menschlichen Zuständen. Gerade dadurch, daß diese Geisteswissenschaft

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nicht zu einer subjektiv gefärbten, sondern zu einer objektiven Selbsterkenntnis kommt, kann sie ein Urteil darüber gewinnen, was das eigentlich ist, was durch Hypnose, was durch Mediumismus auftritt. Das ist etwas, was dieser irdischen Welt gar nicht angehört.

Verfolgt man mit den Mitteln der Geisteswissenschaft dasjenige, was in der irdischen Welt sich ausbreitet im tierischen, im pflanzli­chen, im mineralischen Reich, verfolgt man es in seiner Beziehung zum Menschen, dann findet man, daß der Mensch, wie er jetzt ist, der Erde gerade dadurch angepaßt ist, daß er sein heutiges Bewußt­sein hat. Die Bewußtseinszustände, die bei eingeschläfertem, nicht gewöhnlichem Bewußtsein, die in der Hypnose, im Mediumismus auftreten, sind nicht Bewußtseinszustände, sind nicht menschliche Kräfte, die davon herrühren könnten, daß der Mensch der Erde angepaßt ist; das rührt her von einer solchen Anpassung, die dem Menschen eigen war, bevor die Erde Erde geworden ist. Und zu­rückgewiesen wird gerade durch solche Zustände durch die For­schung auf Zustände der Erde selbst, die aber dem heutigen Erden­zustand vorangegangen sind.

Erforscht man nun weiter, wie der heutige Erdenzustand zusam­menhängt mit der Tier- und Pflanzenwelt, so sieht man, daß der Mensch etwas in sich trägt, was ihn nicht als angepaßt erscheinen läßt an das heutige Erdendasein, daß die Tier- und Pflanzenwelt aber an das heutige Erdendasein angepaßt ist. Damit gewinnt man dann den Ausblick darauf, daß der Mensch allerdings in primitiven Zu­ständen, die, wenn heute hervorgerufen, nichts als sein Bewußtsein herabdämpfend sind, vorhanden war, bevor die heutigen Tiere in ihrer jetzigen Gestalt vorhanden waren. So daß wir zu sagen haben: Nicht aus der tierischen Welt ist der Mensch aufgestiegen, sondern der Mensch war, allerdings mit solchen Seelenzuständen und Gei­steszuständen, wie wir sie heraufholen, wie sie tierähnlich auftreten in den charakterisierten Zuständen, vorhanden, bevor die Erde zu diesem jetzigen planetarischen Zustande kam.

Ich kann Ihnen heute nicht die Einzelheiten, die Sie in meinen Büchern nachlesen können, auseinandersetzen. Ich wollte aber wenigstens

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andeuten, daß gerade, indem verfolgt wird manches, worauf heute Hoffnungen gesetzt werden für die Erkenntnis des heutigen Wesens des Menschen, damit ein Weg gezeigt wird, um den Aus­blick in vorirdische Zeiten und in das Wesen des Menschen in sol­chen Vorzeiten zu gewinnen. Ebenso aber werden wir dadurch, daß wir Bewußtseinszustände hervorrufen können, welche über dem heutigen, der Erde angepaßten Bewußtseinszustand liegen, darauf hingewiesen, wie wir leben werden in diesen höheren Bewußtseins-zuständen dann, wenn die Erde nicht mehr unser Wohnplatz sein wird.

Diese Dinge eröffnen sich dem inneren Schauen. Man kann nicht sagen: Diese Dinge kann man nicht beweisen, geradesowenig wie Sie beweisen können, daß es Kamele gibt. Sie müssen sie gesehen haben, oder irgend jemand muß sie gesehen haben, dann weiß man, daß es Kamele gibt. So kann man nicht mit der gewöhnlichen Urteilskraft, die nur für die gewöhnliche Welt gilt, das Übersinnliche beweisen. Man muß zeigen, wie man zum Schauen des Übersinnlichen kommt. Aus diesem Schauen des Übersinnlichen ergibt sich dasjenige, was zwar in die Sinneswelt hereinwirkt, was aber in der Sinneswelt selber niemals gesehen werden kann.

So könnte natürlich nun gesagt werden: Ja, du zeigst uns, wie es einzelnen Menschen gelingt, durch ein übersinnliches Schauen den Geist zum Führer zu machen durch die Sinneswelt und in die über­sinnliche Welt hinein. Aber können denn alle Menschen so zum Schauen in die übersinnliche Welt hinein kommen? - Mit dieser Sache verhält es sich so: Wenn Sie dasjenige auf sich wirken lassen, was in den schon angeführten Büchern von mir beschrieben ist als eine innere Zucht, als eine innere Entwickelung, die Sie selbst in die Hand nehmen für Ihre Seele, so gelangen Sie unbedingt dazu, aus Ihrer eigenen Urteilskraft, aus Ihrem eigenen gesunden Menschen­verstand, der dann eben entwickelt ist, dasjenige einzusehen, was der Geistesforscher in der geistigen Welt entdecken kann. Aber geradeso, wie es für die physische Forschung einzelne Forscher gibt, die das eine oder das andere aufsuchen, und man dann entgegenneh­men muß, was sie aufgefunden haben, so wird es in der Zukunft der

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Menschheitsentwickelung einzelne Geistesforscher geben, die dies oder jenes in der geistigen Welt erforschen. Für sie hängt, ob sie etwas erforschen können, davon ab, ob ihnen in gewissen Augen­blicken des Lebens, auf die sie gewartet haben, ohne ihr Zutun -denn man kann nur durch Seelenentwickelung sich zum Wartenden machen -, dasjenige, was als geistige Tatsache auftritt, erkennbar wird. Das muß, so könnte man, einen religiösen Ausdruck gebrau­chend, sagen, wie durch eine Gnade kommen. Diese Gnade wird für den Menschen als Geistesforscher ebenso eintreten, wie, sagen wir, für den einen Menschen und für den anderen diese oder jene Erfah­rung in der sinnlichen Welt eintritt. So wird es sein, daß gewisse Tatsachen immer einzelne Menschen aus der geistigen Welt hervor­holen werden.

Um diese Tatsachen hervorzuholen, ist verschiedenes nötig; da ist nicht bloß nötig, daß man dasjenige durchgemacht hat, was in den genannten Büchern steht, daß man restlos verstehen kann, was der Geistesforscher ausspricht, sondern da ist nötig etwas, was als Eigen­schaft des Menschen bezeichnet werden kann mit «furchtlos» in einem sehr hohen Grade gegenüber der geistigen Welt. Die Men­schen dringen ja so ungern in die geistige Welt ein aus dem Grunde, weil sie eigentlich Furcht haben vor dem Unbekannten, wie der Mensch immer Furcht hat vor dem Unbekannten. Furchtlos muß der Geistesforscher werden. Und auf der anderen Seite muß er sich die Eigenschaft der Leidfähigkeit, der Schmerzfähigkeit aneignen; denn eine wirkliche Entdeckung aus der geistigen Welt heraus, sie kann nicht erreicht werden ohne einen gewissen Schmerz, ohne ein gewisses Leid. Sie werden begreifen, daß das so sein muß, wenn Sie sich einfach vorstellen, daß ja der Zustand des geistigen Schauens nicht angepaßt ist an die gewöhnlichen Erdenverhältnisse, ebenso­wenig angepaßt ist im Grunde genommen, wie angepaßt ist unsere Seele unserem krank gewordenen Organismus, der schmerzt. Ver­setzt man sich wirklich mit der entwickelten Seele in die Tatsachen der geistigen Welt, so ist man in einer Welt, für die man zunächst nicht organisiert ist. Man dringt ein in eine Welt, die da schneidet, die da brennt. Das muß durchgemacht werden. Und man dringt zu

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den Tatsachen nur, wenn man wirklich mit der Gesinnung sich ihnen nähert, die darinnen besteht, daß man alles anwendet, was die Seele entwickeln kann, daß man dann aber wartet, bis in gewissen, ich möchte noch einmal sagen, gnadevollen Augenblicken die geisti­gen Tatsachen an die Menschen herantreten.

Das soll man sich durchaus nicht vorstellen als irgend etwas, das an einen so herantritt wie eine Phantasie-Idee, sondern das soll man sich vorstellen als ein Erlebnis von einer durchgreifenden Intensität in bezug auf das innere Dasein des Menschen. Ich will nur diese ein­fache Tatsache nehmen, die ich schon angeführt habe, die eigentlich nur durch Geistesforschung heute vor der Menschenseele auftreten kann, die Tatsache, daß in der Mitte des 15. Jahrhunderts das ganze Menschengeschlecht der zivilisierten Welt einen Umschwung erlebt hat - eine einfache Tatsache. Daß man sie aussprechen darf wie eine naturwissenschaftliche Tatsache, das darf nur davon herrühren, daß man an seiner Seele gearbeitet hat, emsig gearbeitet hat, daß man nicht durch Willkür den Geist hat erobern wollen, sondern daß man sich durch dieses Arbeiten versetzt hat in einen erwartungsvollen Zustand, bis da gekommen ist dasjenige, was sich als eine solche scheinbar einfache Wahrheit enthüllt.

Dann ist noch etwas notwendig. Es gibt Menschen, ich erinnere nur zum Beispiel an den Philosophen Schelling oder an andere, die bekamen durch besondere Gnadenaugenblicke den einen oder ande­ren Eindruck aus der geistigen Welt. Was taten sie? Sie konnten nicht schnell genug, wenn sie einen Eindruck aus der geistigen Welt empfingen, eine Weltanschauung aufbauen. Sie ziehen Konsequen­zen aus irgendeiner Impression, die sie aus der geistigen Welt be­kommen. Einen Eindruck haben sie bekommen, dann machen sie ein ganzes System daraus, eine ganze Weltanschauung. Das ist es, was sich der wirkliche Geistesforscher ganz und gar abgewöhnen muß. Der wirkliche Geistesforscher muß stehenbleiben bei dieser einzelnen Tatsache, die sich ihm enthüllt, und er muß weiter warten, bis sich ihm eine andere Tatsache enthüllt. Man darf nicht, wenn man zum Beispiel die Tatsache, die ich heute erwähnt habe, kennen­gelernt hat, daß der Erde vorirdische Zustände vorangegangen sind,

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in denen der Mensch schon gelebt hat, daraus ein ganzes wissen­schaftliches System ableiten über die Evolution der Erde, sondern muß solch eine Tatsache hinnehmen als eine isolierte, einzelne Tat­sache und andere ebenso isolierte, einzelne Tatsachen herankom­men lassen, so daß sich Tatsache nach Tatsache hinstellt, reichhaltig oder weniger reichhaltig. Aber man muß auf jede einzelne Tatsache warten; darauf kommt es an. Wenn auch geistige Erleuchtungen durchaus dasjenige sind, was zugrunde liegt der Geistesforschung, so treten diese geistigen Erleuchtungen nur ein, wenn das Schicksal den Menschen dazu prädestiniert. Geradeso wie man nicht schließen darf aus der nördlichen Halbkugel der Erde auf dasjenige, was auf der südlichen Halbkugel der Erde ist, sondern gesondert erforschen muß, was auf der südlichen Halbkugel der Erde ist, so darf man nicht von einem Winkel der geistigen Welt aus auf das andere der geistigen Welt schließen, sondern muß in der geistigen Welt lernen hertimzuwandern, die Einzelheiten in ihrer Isolierung aufzufassen. Daraus schon ersehen Sie, daß verteilt sein wird über die Menschen dasjenige, was sie erforschen können aus der geistigen Welt; sie kön­nen ja manches lernen.

Nun könnten Sie sagen: Ja, aber liegt denn da nicht die Gefahr vor, daß diejenigen, denen sich solche geistigen Tatsachen enthüllen, nun hochmütig unter den Menschen werden, daß sie sich als beson­dere Geschöpfe betrachten, die hervorragen über die übrigen Men­schen? - Dafür ist schon gesorgt. Dasjenige, was als erstes vorange­hen muß der wirklichen Geistesforschung, das ist absolute Beschei­denheit, gerade intellektuelle Bescheidenheit. Ohne daß diese Be­scheidenheit entwickelt wird gegenüber der ganzen übrigen Mensch­heit, kann man nicht weiterkommen auf geistesforscherischem Ge­biete. Der Geistesforscher weiß zwar seinen Mitmenschen einzelne Tatsachen aus der geistigen Welt mitzuteilen, aber die Tatsache, daß er die Gnade hat, mitzuteilen etwas, was ihm geoffenbart wird, ver­dankt er zu gleicher Zeit der Art, wie er seinen Mitmenschen entge­gentritt. Der Geistesforscher ist ein solcher, der mit wahrer Ehr­furcht selbst dem kleinsten Kinde gegenübertritt, wenn es ihm etwas vorlallt aus dem in dem Menscheninnern verborgenen Geist und der

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in ihm verborgenen Seele, auch wenn sie nur aus Kindeskehle schrei­end sich geltend macht. Der Geistesforscher ist froh, wenn er dies oder jenes aus der Erfahrung des einzelnen Menschen hört. Die Erlebnisse, die ihm die Menschen mitteilen, sind seine Schule. Der ordnet er sich vollständig unter. Er weiß nur eines, er weiß, daß das­jenige, was die Menschen erleben, und wenn sie auch auf noch so primitiven Bildungsstufen stehen, ein unendlich Wertvolles ist, daß nur dasjenige dabei nicht nachkommt, was gewöhnlich des Men­schen Urteilskraft ist. Wenn die Menschen das, was sie erlebt haben, richtig beurteilen würden, würden sie Seelen- und Geistesschätze aus ihrem Innern und aus dem Untergrund ihres Wesens hervorho­len. Auf die blickt der Geistesforscher hin. Jeder Mensch ist für ihn ein gleiches Wesen mit heiligen Rätseln in der Seele, nur daß das Oberbewußtsein, das Urteilsvermögen manchmal nicht nachkommt dem, was in den Tiefen der Seele ist. So wird gerade der Geistesfor­scher ein bescheidener Mensch, weil er in dieser Beziehung die gei­stige Gleichheit der Menschen immerfort vor seinem Auge hat, und weil er weiß, daß er dasjenige, was er in der geistigen Welt erforscht, nur dadurch hat, daß er ein Mensch unter Menschen ist. Dadurch ist er aber prädestiniert, zu arbeiten im Geiste für die anderen Men­schen, die nun ihrerseits durch Meditation, Konzentration ihre See­len so weit bringen können, daß sie dasjenige entgegennehmen, was der Geistesforscher sagt.

Sie können erwidern, das sei aber doch nicht sehr gut eingerichtet, daß die Menschen so nebeneinander leben sollen, daß man von ein­zelnen Menschen erfahren soll, was man zwar begreifen kann, was man aber nicht selbst erforschen kann. Darauf kann ich Ihnen ein Zweifaches erwidern. Das eine ist, daß dies eben eine Tatsache ist, die man hinnehmen muß wie eine andere Tatsache des Lebens, mag es für manchen auch anders wünschenswert sein. Das ist das eine, was ich erwidern kann. Das andere aber ist, daß derjenige, der eine solche Menschenzukunft voraussieht, eine Menschenzukunft, in der es unter den Menschen solche gibt, die hineinschauen in die geistige Welt, und aus dieser geistigen Welt den Menschen intime Angele­genheiten enthüllen, so daß auf diese Weise die anderen Menschen

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aus ihrem Verständnisse heraus miterleben, was sie auf die angedeu­tete Weise gewinnen können, der weiß auch, daß sich dann intimste Verhältnisse von Mensch zu Mensch entwickeln. Und er weiß auch, daß gerade dadurch die sozialen Impulse von Seele zu Seele hinüber­gehen und dadurch das wirkliche soziale Leben im Geiste hervorge­rufen wird, wovon man heute glaubt, es nur mit äußeren Mitteln er­ringen zu sollen. Denken Sie nur, wie die Menschen zusammenge­bracht werden, wie sie in ihrem Zusammenleben eine soziale Struk­tur darstellen werden, wenn die Menschen so einander gegenüber­stehen werden, daß der eine Mensch annimmt das, was der andere als eine für ihn wichtigste, intime Angelegenheit erforscht. Gerade dadurch werden die Menschen in der Zukunft einander in der wün­schenswerten Weise nahekommen, daß so Geist in die Seele des nächsten Menschen hinüberwirkt, wie das angedeutet worden ist. Diejenigen, die den Geist erforschen können, werden für die ande­ren Menschen wie eine Notwendigkeit empfunden werden. Auf der anderen Seite wird die ganze Menschheit auch von dem Geistesfor­scher empfunden als das, in dem er wurzelt, ohne das er nicht leben kann, ohne das er selbst mit seiner Geistesforschung nicht den aller-geringsten Sinn hätte.

Hat man heute auch die soziale Frage zu etwas gemacht, was bloß äußerlich materialistisch aufgefaßt wird, so zeigt - gerade innerlich angesehen - dasjenige, was anthroposophisch orientierte Geisteswis­senschaft ist, daß, wenn der Geist der Führer wird durch die Sinnes-welt und aus der Sinneswelt heraus in die übersinnliche Welt, da­durch auch im sozialen Zusammenleben der Menschen diejenige Struktur herbeigeführt wird, durch die der Mensch in der Zukunft für den Menschen das werden kann, was er eigentlich werden soll.

Damit versuchte ich Ihnen heute wiederum von einem anderen Gesichtspunkte aus, als ich es in den zahlreichen früheren Vorträgen gemacht habe, zu charakterisieren, wie durch Anthroposophie ver­sucht wird, in den Geist einzudringen, und wie dieses Eindringen auf der Grundlage ruht, die Eigenkräfte der menschlichen Seele zu entwickeln. Das versuche ich - es sind bald zwei Jahrzehnte - in dem zu vertreten, was ich anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft

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nenne. Noch immer wird in zahlreichen Kreisen gesagt, daß diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft darstelle irgend etwas von einem Streben nach Buddhistischem oder derglei­chen. Ich habe schon im letzten Vortrage hier angedeutet, wie gera­de diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, die aus der Wesenheit des Menschen, aus der gegenwärtigen Wesenheit des Menschen selbst heraus arbeitet, perhorresziert jene Schwäche der Menschen, die nicht aus dem, was da ist, nicht aus dem, was wir uns in der neueren Naturwissenschaft angeeignet haben, streben will, sondern die meinetwillen nach dem Orient, nach Indien hinüberge­hen und da dasjenige nehmen will, was für ein ganz anderes Zeitalter angepaßt war und in unsere Gegenwart nicht mehr hereinpaßt. Wir erleben es immer wieder und wieder. Vor ein paar Tagen konnte es hier wiederum erlebt werden, daß Leute sagen: Anthroposophismus, wie sie sich ausdrücken, stelle auch irgendeine Flucht nach Indien dar. Wenn das insbesondere gesagt wird von Leuten, die sich «christ­lich» nennen, dann möchte ich diesen Christen einmal ins Gedächt­nis rufen etwas, was sie vielleicht kennen werden: «Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten.» Denn es ist nichts anderes als ein falsch Zeugnis ablegen wider seinen Nächsten, wenn man von dem, was hier gemeint ist als anthroposophische Geistes­wissenschaft, so spricht, als ob das irgend etwas Obskures, als ob das irgend etwas von einem Suchen sei für die rein passiv gewordene Menschheit und dergleichen. Weil die Menschheit passiv geworden ist, weil die Menschheit nicht mehr zur Tätigkeit kommen kann durch dasjenige, was ihr durch die Jahrhunderte traditionell vermit­telt wird, muß gesucht werden ein neuer Geist als Führer durch die Sinneswelt und in die übersinnliche Welt hinein.

Denjenigen, die immer nur von der Aufwärmung des alten Gei­stes sprechen und perhorreszieren, wie man die Naturwissenschaft zu Galileis Zeit perhorresziert hat, dasjenige, was als Geisteswissen­schaft auftritt, denen sollte vor allen Dingen gesagt werden, nament­lich wenn sie vom christlichen Geiste aus sprechen wollen: Derjeni­ge, der es mit dem Christentum ernst nimmt, der braucht keine Furcht davor zu haben, daß durch irgendeine, sei es auch geistige

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Entdeckung, dem Christus-Impuls in seiner wahren Bedeutung, dem religiösen Verehren der Menschen überhaupt Abbruch getan werde. Im Gegenteil, höherer Glanz wird dem religiösen Leben dadurch verliehen, daß die Menschen wiederum wissen werden, was Geist und was Seele ist, daß sie sich nicht diktieren lassen werden, was Geist und was Seele ist, daß sie suchen werden im Innern der Seele den Weg zum Erleben des Geistes und der Seele. Das aber ist es, was angestrebt wird in derjenigen Bewegung, die draußen in Dornach im Goetheanum ihre äußere Repräsentation hat.

Durch diese Bewegung wird das angestrebt, was in zahlreichen Seelen, ohne daß sie es wissen, unbewußt als Sehnsucht lebt. Man wird es aus diesen Seelen nicht durch ein bloßes Dekret oder Diktat herausholen können, sondern es wird in den Seelen als ein Streben leben, auch wenn man es dahin bringen würde, die eigentliche Ver­tretung dieses Strebens niederzutreten. Denn geradeso wie der Mensch absterben würde, wenn er in seinem fünfunddreißigsten Le­bensjahr aufhören würde, neue Lebenskräfte in sich aufzunehmen, wie er von diesem Zeitpunkt an nicht weiterleben könnte, wenn er sich nicht neue materielle Lebenskräfte zuführen würde, so kann die Menschheit nicht weiterleben, wenn sie nur das Alte, Traditionelle verarbeiten will, wenn nicht in gehörigem Zeitmomente ein neuer Geist auftritt, der sich in die Menschheitsentwickelung hineinwebt.

Denn das möchte diese Geisteswissenschaft hinstellen, klar und deutlich hinstellen, nicht Obskurantismus, nicht vertrackte Mystik. Das möchte sie klar und deutlich hinstellen, daß der Geist das Le­bendige ist, der rechte Führer ist durch die Sinneswelt und in die übersinnliche Welt. In der Sinneswelt werden wir richtungslos ohne den Geist. Entwickeln wir aber den Geist als einen Führer durch die Sinneswelt, dann erweist er sich nicht als ein abstrakter Ideengeist al­lein, dann erweist er sich als der lebendige Geist in uns. Und dann müßten wir ihm geradezu die Schwingen beschneiden, durch die er in sein eigentliches Heimatland, in das Heimatland des Geistes hin­einstreben will, wenn wir nicht, nachdem wir ihn zum Führer durch die Sinneswelt gewählt haben, aufsteigen wollten durch ihn, durch seine Führerschaft in die übersinnliche Welt. Denn der Geist

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ist lebendig. Und wenn der Glaube sich verbreiten kann, daß der Geist gegenüber der Materie nichts selbständig Lebendiges ist, was ist Schuld daran? Schuld daran ist nur dieses, daß der Mensch den Geist in sich durch seinen Willen ertötet, und so der tote Geist den leben­digen Geist nicht erfassen kann. Wird aber der Geist im Menschen belebt, dann ergreift lebendiger Geist im Menschen den lebendigen Geist in der Welt.

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ANHANG Aus einer Fragenbeantwortung, Münchenstein, 10. April 1919

Vorbemerkung aer Herausgeber: Auf Einladung der sozialistischen Jugendorganisation Mün­chenstein-Neue-Welt sprach Rudolf Steiner am 10. April 1919 in dem nahe Dornach gelegenen Dorf Münchenstein über Sozialismus. Am Tage zuvor hatte er vor der Basler Studenten­schaft zu einem ähnlichen Thema gesprochen (vgl. den fünften Vortrag in diesem Band). Möglicherweise ist dies auch der Grund dafür, daß der Münchensteiner Vortrag nicht offiziell mitgeschrieben wurde. Der Wortlaut der hier wiedergegebenen Voten Rudolf Steiners wäh­rend der dem Vortrag folgenden Aussprache basiert auf der Elartextübertragung einer steno­graphischen Mitschrift, die im Original nicht mehr vorliegt. Da das vorliegende Manuskript an einigen Stellen Lücken sowie Ungenauigkeiten enthält, bedurfte es einer eingehenden re­daktionellen Bearbeitung durch die Herausgeber.

Frage: Ist es nicht ein großer Fehler, daß die Sozialdemokratie das Geistige und Seelische leug­net und nur den Leib anerkennt?

Rudolf Steiner: Nun, es ist nicht so leicht, mit ein paar Worten gera­de auf diese umfassende Frage einzugehen, aus dem einfachen Grun­de, weil dasjenige, was in den gelobhudelten wissenschaftlichen Kreisen als geistiges und seelisches Leben vielfach geschildert und vertreten wird, tatsächlich für den Einsichtigen nicht etwas im Auf­stieg Begriffenes eigentlich ist, sondern etwas ist, was im Grunde ge­nommen seine letzte Entwickelungsphase, seinen letzten Abstieg durchmacht. Wenn man vom Geistigen spricht, sollte man nicht im allgemeinen vom Geistigen sprechen, sondern man sollte sich immer klar sein, daß das Geistige absteigende und aufsteigende Entwicke­lungen durchmacht. Und wenn heute das landläufige, gebräuchliche Geistesleben, das ich ja auch im Vortrage charakterisiert habe, das ein Ergebnis der führenden Klasse in den letzten Jahrhunderten ist, wenn dieses Geistesleben abgelehnt wird, gerade dieses Geistesleben, das durch die staatliche und wirtschaftliche Entwickelung, insbeson­dere des 19. Jahrhunderts so geworden ist, so kann man das begrei­fen. Es handelt sich ja darum, gerade ein wirkliches Geistesleben zu finden, ein Geistesleben, das seine eigene Wirklichkeit behält. Und dann muß ich sagen, dazu ist vor allen Dingen heute notwendig, daß

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erfüllt werde das eine, was ich mir erlaubte im Vortrag auszuspre­chen: daß wirklich von den Ereignissen gelernt werde.

Es ist ja gerade das Eigentümliche, daß sich innerhalb der so viel­fach gelobten Zivilisation die Menschen gefunden haben, die von Nächstenliebe, von Gottesliebe, von Brüderlichkeit gesprochen ha­ben, gesprochen haben, nun, aus dem Zeitalter der sogenannten Hu­manität heraus. Sie haben sehr gescheit, sehr vernünftig gesprochen, oftmals in Zimmern mit Spiegelscheiben, in geheizten Räumen. Die­se waren geheizt mit Kohlen, bei deren Förderung - Untersuchun­gen haben das gezeigt gerade im Aufgang der sozialen Bewegung der neueren Zeit - Kinder von neun bis elf, zwölf, dreizehn Jahren mit­gearbeitet haben! Diese Kohlen wurden gefördert in Zechen, in denen nackte Männer unter halbnackten Frauen standen, wo wahr­haftig keine Veranlassung war; das Schamgefühl, geschweige denn irgendwelche christlichen Ideen zu beachten. Das muß man wirk­lich bedenken, daß es sich nicht bloß darum handelt, ein solches Wort, wie das von der Nächstenliebe, hinauszuschmettern. Durch die Richtigkeit und Wichtigkeit des Gefühlsinhaltes wird man damit natürlich immer einen Eindruck machen...

Da nimmt man es doch lieber hin, zunächst einmal weniger ver­standen zu werden und hinzustellen dasjenige, durch das man der neuen Zeit dienen kann, als nur das Alte immer wieder und wieder­um wiederholen zu müssen. Es muß eben die Frage aufgeworfen wer­den für alle diejenigen, die da sagen: Behaltet nur eure alte Religiosi­tät, bewahrt auch den früheren Gottesglauben und dergleichen -, für alle diese muß gesagt werden: Nun, ihr habt ja schließlich 2000 Jahre lang immer dieses bringen wollen. Wie weit habt ihr es eigent­lich gebracht damit, wenn ihr euch gegen dasjenige, was der Zeit die­nen will, so widersetzt? Bedenket eben, daß ihr doch Zeit genug gehabt hättet! Euch ist die Zeit gelassen worden durch 2000 Jahre hindurch; jetzt ist es notwendig, daß ihr anerkennet, daß ein Neues hereinbrechen muß über die geprüfte und geplagte Menschheit. Das muß gerade jemand aussprechen, der ganz auf dem Standpunkte steht, daß er gerade die Hoffnung hegen darf, weil er auf dem Boden wahren sozialen Denkens steht, durch das ein neues Geistesleben

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begründet werde, das den Menschen wirklich wieder zusammen-bringen wird mit einem lebendig empfundenen Geistigen, nicht mit einem Toten, zu dem die alten Traditionen und dergleichen doch schon geworden sind.

Gewiß, man kann dem Sozialismus vorwerfen, wenn man will, daß er bis jetzt wenig das Geistesleben berücksichtigte. Aber warten wir es ab. Das Geistesleben, das heute selbst von unseren Universitäten her tönt, das kann keine besondere Vorliebe finden bei denjenigen Menschen, die etwas Menschliches haben wollen, die ein Geistes­leben haben wollen, das allen Menschen wiederum das Bewußtsein geben wird, daß ihr physischer Mensch mit innerer Notwendigkeit zusammenhängt mit dem Seelisch-Geistigen im Menschen. Warten wir es ab, ob nicht gerade die sozialistisch denkenden Menschen die nächsten sein werden, die sich dem eigentlichen Geistesleben zu­wenden und nicht länger verständnislos dem entgegenstehen wer­den! Man kann nicht sagen, daß man in den heutigen bürgerlichen Kreisen gerade auf besondere Gegenliebe stößt, wenn man versucht, ihnen diese Geistesrichtung nahe zu bringen. . .

Die Leute kommen und wollen Programme haben. Die Leute ha­ben allerlei Wünsche, schöne Zukunftsziele und dergleichen. - Pro­gramme sind heute billig wie Brombeeren! Es werden Gesellschaf­ten begründet, Programme verfaßt und so weiter. Aber darauf kommt es nicht an. Sondern worauf es ankommt, das ist, daß man die Wirklichkeit erfaßt. Ich bin der Überzeugung, daß, wenn man sagen kann, wie sich die Menschen organisieren müssen in einem ge­sunden sozialen Organismus - und ich sehe eben in der Dreigliede­rung des sozialen Organismus etwas Gesundes -, daß dann die Men­schen finden werden, was ihnen frommt. Dann werden sie finden die Gestaltung, die Struktur des sozialen Organismus, in dem die Menschen dasjenige entsprechend verwirklichen können, was für die Menschheit kommen muß. Vielleicht bleibt kein Stein von dem, was ich heute auszusprechen habe, bestehen; darauf kommt es nicht an. Sondern darauf kommt es an, daß man die Dinge irgendwo an­faßt wie ich es meine. Dann kommt vielleicht etwas ganz anderes heraus. Es handelt sich eben um die Anregung, irgendwo im Gebiete

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der Wirklichkeit ernsthaft irgend etwas zu tun, was aus der Dreiglie­derung des sozialen Organismus, aus der Lebenserfahrung heraus, nicht aus einer grauen Theorie, nicht aus einem egoistischen Vor­urteil heraus gedacht ist. Das ist es, worauf es ankommt.

Deshalb ist mein Programm ein solches, das die Menschen vor allen Dingen aufruft, daß sie wieder die Möglichkeit haben, das in ei­nem gewissen Sinne zu verwirklichen. Das, was ich gerade ausgespro­chen habe, das unterscheidet sich wesentlich von den üblichen Pro­grammen. Und deshalb glaube ich, die Zeit wird ihren Gang gehen, selbstverständlich. Und im Grunde genommen ist das, was heute so vielfach ausgesprochen wird, gar nicht so sehr jung. Einer derjeni­gen, die am meisten angeregt haben, Karl Marx, der sozialistische Bekenner, er sprach in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als er noch jung war, etwa folgende Worte aus: Sollte alle Aufklärung und Überzeugungskraft an der Hartnäckigkeit der besitzenden Klasse abprallen, so sei es die heiligste Pflicht seitens des Proletariats gegen das Bollwerk des Kapitalismus anzustürmen . . .

Es wird von einem Zuhörer die Bemerkung gemacht Die Kapitalistenseele hat kein Gefühl für die Proletarierseele.

RudolfSteiner: Da handelt es sich um eine Erfahrung, die man schon reichlich in der Gegenwart heute machen kann. Nun ist verschiede­nes Nötige heute dazu vorgebracht worden. Vor allen Dingen kann nicht, weil die Zeit schon zu weit vorgerückt ist, auf jedes einzelne eingegangen werden. So möchte ich nur einiges bemerken zu einzel­nen Gesichtspunkten, die vorgebracht wurden. Da ist vor allen Din­gen gesagt worden, daß dasjenige, was ich ausgesprochen habe, im Widerspruch stehe mit dem sozialdemokratischen Programm.

Sehen Sie, ob solche Widersprüche vorhanden sind oder nicht, das wird nicht der Wortlaut desjenigen entscheiden müssen, meine ich, was ich heute zu sagen habe, sondern das wird erst durch die Zukunft entschieden. Ich glaube, daß es heute, unter den gegenwär­tigen Verhältnissen, notwendig ist, daß Menschen ganz aus ihrer un­befangenen Überzeugung heraus das aussprechen, was sie glauben,

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dem Leben abgelauscht zu haben, was notwendig ist zur weiteren Entwickelung der Menschheit. Programme sind im Grunde genom­men genug aufgestellt worden. Dasjenige, was da kommen muß, muß durch die Menschen und ihre Einsicht kommen. Deshalb halte ich es gerade für das Allererfreulichste - und es ist ja das auch zuwei­len zugegeben worden, es ist dieses anerkannt worden -, daß, ob-gleich ich vieles zu sagen habe, was nicht übereinstimmt mit irgend­einem Programm, mit irgendeiner Partei der Gegenwart, daß sich trotzdem Menschen finden, die diesen Dingen zuhören und die die­sen Dingen ihre Aufmerksamkeit schenken. Und ich glaube, wir werden gerade dadurch vorwärts kommen, daß wir einfach zuhö­ren, daß wir nicht einander niederdonnern. Man donnert unter Um­ständen gar nicht mit Worten; man kann auch niederdonnern denje­nigen, der einem unbequem ist, dadurch, daß man es gar nicht in Worten ausspricht, sondern indem man schweigt. Das ist auch eine beliebte Methode geworden in unserer Gegenwart. Somit habe ich einzelne der Punkte berührt, welche mir aus dieser Diskussion her­aus besonders wichtig erschienen.

Es ist allerdings noch gesagt worden, daß uns intelligente Leute noch fehlen. Ich denke über die Beziehungen der Intelligenz zu dem heutigen wahren Fortschritt etwa in der folgenden Weise. Gestatten Sie mir diesen geschichtlichen Vergleich: Das Christentum, das ja doch einen großen, einen bedeutsamen Einfluß gehabt hat auf die Entwickelung der Menschheit in der Gestalt, in der es entstanden ist vor beinahe 2000 Jahren, hat sich von Asien herüber durch die hochentwickelte Griechenwelt, durch die hochgebildete römische Welt hindurch entwickelt. Da war die Spitze der Intelligenz, aber er­faßt hat es diese Menschen nicht! Eingeschlagen hat es bei den Leu­ten, die durch die Völkerwanderung herunter kamen aus dem Nor­den, die von den Römern als die Barbaren, die von den Griechen als unintelligente Leute angeschaut worden sind. Die haben die unver­brauchte Intelligenz gehabt; die haben die neue, die dazumal junge Intelligenz gehabt. Die anderen haben die alte, die verblühte, die verfruchtete Intelligenz gehabt. - Das ist dasjenige, was wir heute wieder als die Grundlage der Hauptbewegung der gegenwärtigen

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Geschichte erkennen: Wir leben sozusagen in einer neuen Völker­wanderung. Diejenigen Menschen, die heute als die Intelligenten gel­len, die reden zuweilen etwas höchst Unintelligentes. Die reden von etwas, was durchaus die Zeit nicht vorwärtsbringen kann. Wir leben in einer Völkerwanderung, die nur nicht horizontal sich bewegt, sondern die von unten nach oben sich bewegt - wenn auch die Aus­drücke symbolisch gemeint sind, sie können doch verwendet wer­den dafür. Es sind eben diejenigen Menschen, die mit unverbrauch­ter Intelligenz sich herausheben aus den Kreisen, aus denen sich die bisherige Zivilisation gebildet hat. Im Grunde ruht ein Verständnis in diesen Seelen für das, was die Zukunft bringen muß. Ich glaube gera­de an diese unverbrauchte Intelligenz, denn sie ist gesund, ist nicht dekadent. Sie ist nicht in der abwärtsgehenden Bewegung wie die In­telligenz der heute vielfach leitenden Kreise. Ich sehe eine Völker­wanderung in der modernen proletarischen Bewegung, eine Völker­wanderung, die eben nur in anderer Richtung sich bewegt. Und sie wird etwas in die Welt setzen, was die Menschheit auf lange Zeiten hindurch wiederum in die Höhe tragen wird.

Das ist dasjenige, was einen in die Zukunft schauen läßt, was eini­ge Hinweise gibt. Wenn auch heute noch überall Unzulängliches, Ungesundes, auch in den hoffnungsvollsten Bewegungen existiert, so werden wir nicht pessimistisch sein müssen, sondern es ist etwas, was einen glauben läßt daran, daß doch von Seiten derjenigen, die fühlen werden können, was die alte Kultur verbrochen hat, endlich gebracht werden wird das, was nun heute eben gebracht werden muß: ein geistiges Leben, ein Rechts- und Wirtschaftsleben, das für alle Menschen da ist. Und Sie werden vielleicht bemerkt haben aus meinen Ausführungen, daß ich nicht daran denke, die Menschen weiter in Stände oder in Klassen zu gliedern. In älteren Zeiten hat man unterschieden Lehrstand, Nährstand und Wehrstand. Darum handelt es sich nicht. Gerade dadurch, daß abgesondert sind von dem Menschen die Einrichtungen, wie wir sie in dem dreigeglieder­ten sozialen Organismus haben, gerade dadurch ist der Mensch selbst dasjenige, was alle drei Glieder vereint. Und er wird in einem demokratischen Staatswesen seine Vertretung haben, oder selbst

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darinnen stehen; er wird im Wirtschaftsleben stehen müssen und im Geistesleben, also im ganzen dreigegliederten sozialen Organismus stehen. Der Mensch ist dasjenige, was die drei voneinander getrenn­ten Gebiete einheitlich umfaßt. Das ist dasjenige, was ich ausgespro­chen habe mit den Worten: den Menschen frei machen. Und er wird frei werden, wenn wir nicht mehr schwören auf den abstrakten Ein­heitsstaat.

Zwischenfrage: Ja, aber es müssen doch zum Beispiel für alle drei Gebiete Recht und Gerichte sein?

RudolfSteiner: Selbstverständlich muß das sein. Aber es handelt sich darum, daß gerade, wenn irgend etwas in allen drei Gebieten richtig leben soll, unbedingt in dem einen Gebiet dies erzeugt werden muß. So wie der menschliche Kopf ein Teil des ganzen Organismus ist und auch die Luft braucht, so kann er selbst die Luft nicht einatmen; die Lunge muß die Luft einatmen. Und die Luft wird dann dem gan­zen Organismus mitgeteilt . . .

Man kann heute eine gewisse Hoffnung haben, daß sich Dinge verwirklichen werden, die sich eben bisher noch nicht verwirklicht haben. Und dies aus dem Grunde, weil so unendlich Unheilvolles angerichtet worden ist in den letzten Jahren, muß die Menschheit schon als Sühne - wenn ich mich so ausdrücken darf - das wollen, muß etwas dafür tun wollen, daß Dinge, die sich bisher nicht ver­wirklichen konnten, nach und nach in einer möglichen Weise gelöst werden. Das ist dasjenige, was ich mir zum Schluß hier zu sagen noch erlauben wollte.

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HINWEISE

Im Februar 1919 hatte die öffentliche Wirksamkeit Rudolf Steiners für die Dreigliederung des sozialen Organismus mit der Unterschriftensammlung für den Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt» und mit dessen Veröffentlichung begonnen. Im gleichen Monat hielt er in Zürich jene Vorträge, aus denen dann die grundlegende Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» hervorging. Diese Vorträge sind innerhalb der Gesamtausgabe veröffentlicht in dem Band «Die soziale Frage», GA Bibl.-Nr. 328. Die in dem vorliegenden Band abgedruckten Vorträge vom März und April setzen diese Vortragstätigkeit innerhalb der Schweiz fort. Am 20. April ging Rudolf Steiner nach Stuttgart und blieb dort - mit kurzen Unterbrechungen, bedingt durch Vortragsreisen nach Tübingen, Berlin und Dornach - bis Ende September. In Stuttgart entfal­tete er eine umfassende öffentliche Tätigkeit, um eine grundlegende Umgestaltung des öffent­lichen sozialen Lebens im Sinne der Dreigliederung zu bewirken. Am 22. April wurde der «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus« gegründet, in zahlreichen Besprechungen die Gründung von Kultur- und Betriebsräten in die Wege geleitet. Zugleich bereitete Rudolf Steiner zusammen mit Emil Molt, dem Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, die Gründung der Waldorfschule vor, die am 7. September 1919 eröffnet werden konnte. Im Hinblick auf die bevorstehenden Friedensverhandlungen in Versailles unternahm Rudolf Steiner im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Erinnerungen des deutschen Generalstabschefs H. von Moltke den Versuch, die Hintergründe, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

All dies wurde in einer Situation unternommen, da alle Verhältnisse durch den Versuch radikaler Kräfte, die Revolution weiterzuführen, ins Wanken geraten waren. Im Juli nahm dann die umgekehrte Richtung überhand. Die scheinbare Stabilisierung, die Herstellung von »Ruhe und Ordnung« gab denjenigen Kräften die Oberhand, welchen es lediglich darum ging, die bestehenden Verhältnisse unverändert aufrechtzuerhalten, womit eine grundlegende innere Erneuerung gänzlich unmöglich gemacht wurde. Emil Molt faßt seine Erinnerungen an die Ereignisse dieser Monate mit den Worten zusammen: «Größte Intensität des Wirkens war aus zwei Gründen geboten: Zunächst mußte die chaotische Lage, wie sie sich aus der Revolution ergab, benützt werden, ehe sich die Verhältnisse wieder verfestigten, und dann sollte außenpolitisch auf die Verhandlungen in Versailles eingewirkt und die Kriegsischuldlüge aufgedeckt werden. Die Verständnislosigkeit und der Widerstand unserer Zeitgenossen war stärker, als wir vermuteten. Die Aufgaben, in die wir mit frischem Mut und mit Begeisterung hineinsprangen, waren letzten Endes auch größer als unser Können und unsere Ausdauer.« Dann weist Molt auf die trotz allem erreichten Ziele wie die Errichtung der Waldorfschule hin. (Siehe E. Molt, «Entwurf meiner Lebensbeschreibung«, Stuttgart 1972, S.160)

Im Oktober kehrte Rudolf Steiner nach Dornach zurück. Noch im gleichen Monat hielt er in Zürich die Vorträge »Soziale Zukunft» (GA Bibl.-Nr. 332a). Der vorliegende Band enthält nun auch die Vorträge, die er im Oktober und November in Bern und Basel über die soziale Frage gehalten hat. Von diesen Vorträgen gibt Emil Leinhas, ein enger Mitarbeiter Rudolf Steiners, die folgende Schilderung:

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»Am 1. Oktober 1919 kehrte Rudolf Steiner für längere Zeit nach Dornach zurück. Ich durfte ihn begleiten, um in Dornach einige Ferienwochen zu verbringen. Bald darauf hielt Rudolf Steiner an verschiedenen Orten der Schweiz öffentliche Vorträge über die Dreigliede­rung. Der erste dieser Vorträge fand vor einem ausgesprochen bürgerlichen Publikum in Bern statt. Bei dieser Gelegenheit konnte ich, zusammen mit Dr. Boos und zu unserer ge meinsamen Verwunderung, wieder einmal eindrucksvoll erleben, wie sehr Rudolf Steiner seine Art, sich auszudrücken, auf die jeweilige Zuhörerschaft abzustimmen wußte; wie er es verstand, auf die Lebensiage und Auffassungsfähigkeit seiner Hörer Rücksicht zu nehmen und ganz aus den Herzen der Anwesenden heraus zu sprechen. Seine Art der Darstellung der Dreigliederung vor dem bürgerlichen Publikum in Bern, das weder einen Weltkrieg noch eine Revolution mitgemacht hatte, war eine ganz andere als diejenige, die uns von Stuttgart her geläufig war. Diese absolut lebendige und sich unmittelbar aus den vorliegenden Zusam­menhängen heraus ergebende Art des Vortrags Rudolf Steiners, die weit entfernt war von allem Theoretischen, die denselben Gegenstand von immer neuen Seiten beleuchtete und ihm dadurch neue Perspektiven abgewann, war ganz unvergleichlich. Rudolf Steiner sprach nie aus einem abstrakten Denken heraus, sondern - selbst bei häufiger Wiederholung derselben Vorträge - immer aus einem unmittelbaren geistigen Erleben. Darauf beruhte die außer­ordentlich zündende und zu Herzen dringende Wirkung seiner Vorträge, einerlei, über wel­ches Thema und vor welchem Publikum er auch sprach.»

(Emil Leinhas, «Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner», Basel 1950, S.80 f.)

Textgrundlage: Die Vorträge wurden von der Berufsstenographin Helene Finckh (1883 -1960) mitstenographiert und von ihr in Klartext übertragen. Für den Druck wurden einige wenige unklare Stellen mit dem Originalstenogramm verglichen und entsprechende Korrek­turen vorgenommen.

Die Titel der Vorträge stammen von Rudolf Steiner; der Titel des Bandes ist von den Herausgebern.

Nachweis früherer Veroffentlichungen

Bern, 11. März 1919 in der Zeitschrift «Gegenwart», 5. Jg. 1943/44, Nr.8/9. Als Einzel-broschüre, hg. von F. Eymann, Bern 1944, 1946 (2. Aufl.).

Vortrag Basel, 10. November 1919 in «Die geistigen Hintergründe der sozialen Frage», Bd. IV. (Anhang), Dornach 1951.

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

zu Seite

13 Die wirklichen Grundlagen eines Völkerbundes: Vom 7. - 13. März 1919 fand in Bern die Internationale Völktrbunds-Konferenz statt, an der Rudolf Steiner als Gast teilnahm. Anläßlich dieser Konferenz, d.h. außtrhalb des offiziellen Programmes, hielt er am 11. März im Großratssaal des Berner Rathauses einen Vortrag über grundlegende Aspekte eines Völkerbundes, zu dem auch namhafte Persönlichkeiten eingeladen wurden. Für die persönlichen Einladungen zeichnettn die Nationalrätt J. Hirter und 0. Weber, ferner Baron von Wrangel, Dr. Hanns Buchli und Dr. Roman Boos.

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13 leitende Staatsmanner Europas: In seinem Vortrag vom 15. März 1919 (vgl. den Band «Die soziale Frage als Bewußtseinsfrage«, GA Bibl.-Nr. 189) nennt Rudolf Steiner im Zusammenhang mit diesem Problem den Stastssekretär im Deutschen Auswärtigen Amt, Gottlieb von Jagow (1863 - 1935). Die Äußerungen Jagows faßt er dort in die Worte zusammen: «Durch die Bemühungen der europäischen Kabinette ist es gelungen, solche befriedigenden Verhältnisse zwischen den Großmächten Europas herzustellen, daß der Friede für lange Zeiten hinaus in Europa gesichert ist.»

14 des sich nur bezeichnen laßt als ein Karzinom: Diese Äußerung findet sich im sechsten Vortrag des in Wien im April 1914 gehaltenen Zyklus »Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt«, GA Bibl.-Nr. 153. Wörtlich heißt es dort:

»Es wird also heute für den Markt ohne Rücksicht auf den Konsum produziert, nicht im Sinne dessen, was in meinem Aufsatz [in . S.191; Anm. d. Herausg.) ausgeführt worden ist, sondern man stapelt in den Lagerhäusern und durch die Geldmärkte alles zusammen, was pro­duziert wird, und dann wartet man, wieviel gekauft wird. Diese Tendenz wird immer größer werden, bis sie sich . in sich selber vernichten wird. Es entsteht dadurch, daß diese Art von Produktion im sozialen Leben eintritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzi­nom entsteht. Ganz genau dasselbe, eine Krebsbildung, eine Karzinombildung, Kultur-krebs, Kulturkarzinom! So eine Krebsbildung schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt; er schaut, wie überall furchtbare Anlagen zu sozialen Geschw>irbil­dungen aufsprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für den, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt, und was selbst dann, wenn man sonst allen Enthusiasmus für Geisteswissenschaft unterdrücken könnte, wenn man unterdrücken könnte das, was den Mund öffnen kann für die Geisteswissen­schaft, einen dahin bringt, das Heilmittel der Welt gleichsam entgegenzuschreien für das, was so stark schon im Anzuge ist und was immer stärker und stärker werden wird. Was auf seinem Felde in dem Verbreiten geistiger Wahrheiten in einer Sphäre sein muß, die wie die Natur schafft, das wird zur Krebsbildung, wenn es in der geschildiSiehe hierzu auch die entsprechende Äußerung Rudolf Steiner'< im IV. Kapitel seiner grundlegenden Schrift »Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkei­ten der Gegenwart und Zukunft», GA Bibl.-Nr. 23; Taschenbuchausgabe TB 606.

16 in einer Rede Wihons: Woodrow Wilson, 1856 - 1924, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 1913 - 1921, hielt die hier erwähnte Rede vor dem Senat am 22. Januar 1917. Wörtlich sagte er: «Vor allem andern ist damit gesagt, daß ein Friede ohne Sieg sein muß. Es ist nicht angenehm, das sagen zu müssen. Man wolle mir gestatten, meine eigene Auffassung dafür darzulegen und zu betonen, daß mir keine andere Auffassung in den Sinn gekommen ist. Ich suche bloß den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, und zwar ohne alle schonenden Vertuschungen. Ein Sieg würde zu bedeuten haben, daß der Friede dem Besiegten aufgezwungen würde, daß der Unterlegene sich den Bedingtingen des Siegers zu beugen hätte. Solche Bedingungen könnten nur in tiefer Demütigung, im Zustande der Nötigung und unter unerträglichen Opfern angenommen werden; und es würde eine schmerzende Wunde, ein Gefühl des Grolls und eine bittere Erinnerung zurückbleiben. Ein Friede, der auf solcher Grundlage ruhte, könnte keinen Bestand haben, sondern wäre wie auf Treibsand gebaut. Nur ein Friede zwischen Gleichgestell­ten kann von Dauer sein - ein Friede, der seinem ganzen Wesen nach auf Gleichheit und auf dem gemeinsamen Genusse einer allen gemeinsam zugute kommenden Wohltat

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beruht. Die rechte Gesinnung, die rechte Gefühlsstimmung zwischen den verschiede-nen Nationen ist für einen dauernden Frieden ebenso notwendig wie die gerechte Beile­gung hartnäcltiger Streitfragen über Gebiets- oder Rassen- oder Volkszugehörigkeit.» (Aus: «Die Reden Woodrüw Wilsens«, englisch und deutsch, hg. vom Committee on Public Information of the United States of America. Der freie Verlag, Bern 1919.)

Die Idee eines zu gründenden Völkerbundes ist auch in dem letzten der 14 Punkte Wilsons vom 8. Januar 1918 enthalten.

17 Die Pariser E'reignisse: Gemeint sind hier die Pariser Friedensverhandlungen, die am

18. Januar 1919 mit 70 Delegierten aus 27 Siegerstaaten begannen und mit der Unter­zeichnung des Friedensvertrages durch den deutschen Außenminister Hermann Müller und den Verkehrsminister Johannes BeIl am 28. Juni ihren Abschluß fanden. Die Ver­fassung des Völkerbundes wurde in der Vollversammlung der Pariser Friedenskonfe­renz am 29. April 1919 angenommen.

21 daß abgetrennt werden muß des Besitz des Kapitals von der Verwaltung des Kapitals: Zur Besitzfrage und die sog. «Neutralisierung des Kapitals» siehe insbesondere das dritte Kapitel »Kapitalismus und soziale Ideen« in der Schrift »Die Kernpunkte der sozialen Frage», GA Bibl.-Nr. 23.

Karl Marz, 1818 - 1883. Über die «Arbeitskraft als Ware« siehe das «Kommunistische Manifest», 1. Teil: »Diese Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkur­renz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt . . . Der Preis einer Ware, also auch der Arbeit, ist aber gleich ihren Produktionskosten.« Ausführlicher in »Das Kapital«, 1. Bd., 2. Abschn., 4. Kap. »Kauf und Verkauf der Arbeitskraft« und 3. Abschn., 5. Kap. »Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß». - Über die Mehrwerttheorie siehe «Das Ka­pital», 1. Band, Abschnitte 3-5 »Produktion des Mehrwertes«. Zum Thema «Arbeits­kraft als Ware» siehe auch Rudolf Steiner, »Die Kernpunkte der sozialen Frage», GA Bibl.-Nr. 23, am Ende des 1. Kapitels und den Aufsatz »Mar"tiamus und Dreigliederung» in «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915 -1921», GA Bibl.-Nr. 24.

25 wie ist die Verwertung individueller Fäbigkeiten im sozialen O'ganismus begründet?: Im Stenogramm heißt es, was offensichtlich auf einen Hörfehler zurückzuführen ist:

... . im menschlichen Organismus . . .». Siehe auch die 1946 von Prof. F. Eymann bro­schiert herausgegebene Fassung dieses Vortrages, S.15.

28 «Bagdadbabn»: Der Bau der Bagdadbahn von Kleinasien über Bagdad zum Persischen Golf wurde einer 1903 gegründeten Gesellschaft übertragen, in der die Deutsche Bank bzw. das Deutsche Reich entscheidenden Einfluß besaßen, was zu außenpolitischen Mißstimmigkeiten, speziell mit England, führte.

29 wenn der unterste Lehrer sich hineinzustellen weiß in ein fres Organissertes Geistesleben:

Siehe dazu Rudolf Steiners Aufsatz »Freie Schule und Dreigliederung», in »Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915 - 1921», GA Bibl.-Nr. 24. Dort heißt es: «Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ord­nung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen ... Der werdende Mensch soll erwachsen durch die Kraft des von Staat und Wirtschaft unab­hängigen Erziehers und Lehrers, der die individuellen Fähigkeiten frei entwickeln kann, weil die seinigen in Freiheit walten dürfen.» (2. Aufl., Dornach 1982, S.37/39).

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32 EbenAn dieser Stelle wurden einige Worte, die im Stenogramm angeführt sind, aber den Sinnzusammenhang nicht rekonstruieren lassen, fortgelassen. Siehe hierzu die Ausgabe von Eymann, a. a. 0., S.22.

38 kh ,hahe in den letzten Ja,e,'Rudolf Steiners Aufruf »An das deutsche Volk und an die Kulturwelt» wurde erst­mals im März 1919 veröffentlicht und von zahlreichen Persönlichkeiten des kulturellen und politischen Lebens unterzeichnet. Als Anhang wurde er auch dem Buch Rudolf Steiners »Die Kernpunkte der sozialen Frage», GA Bibl.-Nr. 23, beigefügt. Über die Sammlung der Unterschriften usw. vgl. Rudolf Steiners Vorträge vom Februar und März 1919, insbesondere vom 15. Februar (1. Vortrag in »Die soziale Frage als Bewußt­seinsfrage»), GA Bibl.-Nr. 189.

38 die Menschheit werde wieder gegliedert in die alten drei Stände: Die Formulierung »Nähr­stand, Wehrstand, Lehrstand» stammt von Erasmus Alberus (1500 - 1553), ähnlich auch Luther; sie faßt das von Plato in der «Politeia» über die Stände Gesagte zusammen; siehe den »phönikischen Mythos», wonach Gott den Herrschenden (Weisen) bei der Geburt Gold, ihren Beihelfern, den Wächtern, Silber, den Bauern und Handwerkern aber Eisen und Erz beigemischt habe (»Politeia» III. Buch, 414ff.). Siehe hierzu auch Vincenz Knauer, »Die Hauptprobleme der Philosophie», Wien und Leipzig 1892. Das Buch befindet sich in der Bibliothek Rudolf Steiners. Dort heißt es in den Vorlesungen über Plato (S.124): «Wie sich das Seelische im einzelnen Menschen in das Vernünftige, Iras­cible und Concupiscible gliedert, so finden sich im Staate drei Stände, die wir einer uns geläufigen Redeweise ganz entsprechend als Lehr-, Nähr- und Wehrstand bezeichnen können.«

39 Herman Grimm< 1828 - 1901. Die hier zitierte Äußerung ist enthalten in »Die deutsche Schulfrage und unsere deutschen Klassiker« (aus: »Fünfzehn Essays«, 4. Folge, Güters­loh 1890, S.46/47). Dort heißt es wörtlich:«Die Welt erfüllt der Drang nach Errei­chung eines unbekannten Zieles, dem zu Liebe die ungeheueren Anstrengungen ge­macht werden, deren Zeuge wir sind. Es ist, als empfänden alle Völker der Erde, jedes in seiner Art, Vorbedingung für einen allgemeinen geistigen Ringkampf sei, sich vom Ver­gangenen als maßgebender Macht zu befreien und zur Aufnahme eines Neuen sich tauglich zu machen. Erfindungen und Entdeckungen, meist unerhörter Art und oft von umfassenden augenblicklichen Folgen begleitet, befördern diesen Zustand unseres er­wartungsvollen Fortmarschierens in geschlossenen Massen. Wohin? - Es belebt uns ein Gefühl, als ob die gebrachten Opfer später einmal, jedes einzelne als gering, alle zusam­men als unentbehrlich erscheinen müßten. Das Ziel ist: die gesamte Meisschheit in ihrer letzten Gestaltung zu einem Reiche von Brüdern zu machen, die nur den edelsten Be­weggründen nachgebend gemeinsam sich weiterbewegen. Wer die Geschichte nur auf der Karte von Europa verfolgt, könnte glauben, ein gegenseitiger allgemeiner Mord

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müsse unsere nächste Zukunft erfüllen; während er, der sie am Globus studiert, sich der Gewißheit hingeben darf, daß vielmehr die Stunde herannahe, wo die in gleichen Gedanken höchsten geistigen Strebens vereinten germanischen Völker all den ungezähl­ten Millionen Asiens und Afrikas und was der Erdkreis sonst beherbergt, den Weg zu den wahren Gütern des menschlichen Lebens erschließen werden. Man gestatte diesen Gedanken, der mit unseren ungeheuren Itriegerischen Rüstungen und denen unserer Nachbarn nicht im Einklange zu stehen scheint, an den ich aber glaube und der uns erleuchten muß, wenn es nicht überhaupt besser sein sollte, das menschliche Leben durch einen Gemeinbeschluß abzuschaffen und einen offiziellen Tag des Selbstmordes anzuberaumen.»

41 Diskussion: Nach Beendigung des Vortrages eröffnete Roman Boos - nach einer kurzen Pause - die Diskussion mit den Worten: »Verehrte Anwesende, es wird nun die Diskus­sion eröffnet. Wenn jemand ein Votum abgeben will, so wird er gebeten, vielleicht hier­her zu kommen. Kurze Fragen können vom Sitzorte aus gestellt werden. Es ist auch möglich, wenn jemand lieber eine Frage schriftlich stellen will, daß er es auf diesem Wege tut.»

Die Voten der Diskussionsredner, die zumeist nur unvollständig (vermutlich auch aus akustischen Gründen) mitgeschrieben wurden, sind von der Stenographin im nach-hinein sinngemäß zusammengefaßt worden.

42 Lehrer an einer von Wilhelm Liebknecht gegründeten Arbeiterbedungs

43 eine Anzahl entsprechender ältererRedaktoren: Einer von ihnen, Emil Unger-Winkelried, war zestweilig Redakteur des «Vorwärts», später Redakteur verschiedener Tageszeitun­gen und zuletzt leitender Redakteur der »Bremer Nachrichten». Über seine Erlebnisse als Schüler an der Arbeiterbildungsschule und seine dortige Begegnung mit Rudolf Stei­ner siehe: E. Unger-Winkelried »Von Bebel zu Hitler», Berlin 1934, S. 47f.. Ferner Konrad Donat «Vorträge von Dr. Rudolf Steiner in Bremen», Manuskriptdruck, Bremen 1980.

44 Lenin und Trotzki: Über den Zusammenhang zwischen den beiden Vertretern des Bol­schewismus und dem Zarismus spricht Rudolf Steiner in verschiedenen Vorträgen. Im

3. Vortrag des Bandes »Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwicke­lung«, GA Bibl.-Nr. 196, Dornach 1966, S. 265 heißt es: »Dasjenige, was russischer Za­rismus war, das heißt heute, wo es in seiner Wahrheit erschienen ist, Lenin, Trotzki, Bolschewismus. Das ist die konkrete Wahrheit desjenigen, was damals bloß eine Illu­sion war. Der Zarismus ist bloß die an der Oberfläche schwimmende Lüge; dasjenige, was aber dieser Zarismus wirklich gepflegt hat, erschien, sobald er selbst weggefegt war, in seiner wahren Wirklichkeit.» Siehe auch die Fragenbeantwortung zum 2. Vortrag Rudolf Steiners in dem Band »Soziale Zukunft», GA Bibl.-Nr. 332a.

Und Lenin macht gerade aufmerksam auf zwei Dinge bei Marx: Die Idee der Diktatur des Proletariats, durch welche der Staat schließlich zur Auflösung gelangt, ist der Sache nach schon im «Kommunistischen Manifest» enthalten: «Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer

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anderen. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herr­schende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit die­sen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.» In einem Brief an Wedemeyer vom S. März 1852 nennt Marx diese Herrschaft des Proletariats «Diktatur des Proletariats» und bezeichnet sie als Übergang zur klassenlosen (d.h. staatslosen) Gesellschaft. - Lenin greift diese Idee auf in seiner Schrift »Staat und Revolution. Die Staatstheorie des Marxismus und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution», Belp/Bern 1918. Er äußert sich dort weitläufig über das auf die Diktatur des Proletariats folgende allmähliche Absterben des Staates, ständig unter Hinweis auf Marx und Engels. Auch der »neue Menschenschlag», der für die zukünftige kommunistische Gesellschaft vorausgesetzt wird, ist dort erwähnt: »Der Staat wird dann völlig absterben können, wenn die Gesellschaft den Grundsatz »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen» verwirklicht haben wird, das heißt, wenn die Menschen sich so an die Befolgung der Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewöhnt haben werden und ihre Arbeit so produktiv sein wird, daß sie freiwillig nach ihren Fähigkei­ten tätig sein werden . . . die höhere Entwicklungsphase des Kommunismus . . . setzt auch eine Produktivität der Arbeit und einen Menschenschlag voraus, der vom heuti­gen weit entfernt ist, von diesem hastigen Menschen, der imstande ist . . . Magazine öffentlicher Vorräte zu beschädigen und das Blaue vom Himmel zu verlangen.» (S.147) Eine ausführliche Charakteristik des Bolschewismus findet sich auch in Rudolf Steiners Vorträgen »Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage», GA Bibl.­Nr.186.

45 Jeder nach seinen Fäbigkeiten: In der »Kritik des Gothaer Programms» (1875) von Karl

Marx heißt es: ... . nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die

Produktionskräfte gewachsen sind, und alle Springquellen des genossenschaftlichen

Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz

überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen

Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!». Urheber dieser »Formel» ist Louis

Blanc.

46 Ich habe gesprochen . . . vor einer Arbeiter'

48 Adolf Damaschke, 1865 - 1935. Führer der deutschen Bodenreformbewegung. Vgl. sein Werk »Die Bodenreform. Der Weg zur sozialen Versöhnung», Berlin 1919. Siehe auch

R. Steiner «Soziale Zukunft», GA Bibl.-Nr. 332 a, Dornach 1977, S. 178; Taschenbuch-ausgabe TB 631.

Broschüre: Rudolf Steiner, «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwen­digkeiten der Gegenwart und Zukunft». GA Bibl.-Nr. 23: Taschenbuchausgabe Th 606.

49 Das habe ich gestern als die Lösung der sozialen Frage antworten gehört: Vortrag von Prof. Johannes Ude (geb. 1874>, einem katholischen Theologen und Sozialpolitiker. In einer Rede an der Völkerbundskonferenz in Bern am 10. März sagte er. «Und da sie nicht wagen werden, den Christus einen Narren Oder einen Heuchler zu nennen, so kann er nur das gewesen sein, was er selber von sich sagte, der Sohn des lebendigen Gottes.» Ausführlicher besprochen in R. Steiner, «Die soziale Frage als Bewußtseinsfragc«, GA Bibl.-Nr. 189, Dornach 1980, S.138.

51 Carl von Clausewitz, 1780-1831. Preußischer Generalmajor und Militärschriftsteller. Sein Werk «Vom Kriege« wurde nach seinem Tode in acht Büchern veröffentlicht und war für lange Zeit das Standardwerk der Militärwissenschaft. Das Werk wurde auch von Lenin intensiv studiert. Das berühmt gewordene Zitat findet sich im 8. Buch: »Man weiß freilich, daß der Krieg nur durch den politischen Verkehr der Regierungen und der Völker hervorgerufen wird, aber gewöhnlich denkt man sich die Sache so, daß mit ihm jener Verkehr aufhöre und ein ganz anderer Zustand eintrete, welcher nur ses­nen eigenen Gesetzen unterworfen sei. Wir behaupten dagegen: Der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen:

mit Einmischung anderer Mittel, um damit zu behaupten, daß dieser politische Verkehr damit nicht aufhört, nicht in etwas ganz anderes verwandelt wird, sondern daß er sn seinem Wesen forthesteht, wie auch die Mittel gestaltet sein mögen, derer er sich be-dient.»

52 Johann Gottlieb Fichte, 1762-1814, »Der geschlossene Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik», Tübingen 1800. Ausführlicher geht Rudolf Steiner auf Fichtes Schrift ein im 5. Vortrag in »Die soziale Frage als Bewußtseinsfrage», GA Bibl.-Nr. 189. Dem Bolschewismus verwandte Formulierungen in Fichtes Schrift sind z.B. folgende: »Die Hauptresultate der aufgestellten Theorie sind diese: daß in einem dem Rechtagesetze gemäßen Staate die drei Hauptstände der Nation [Ackerbauer, Fabrikanten, Kaufleute] gegeneinander berechnet, und jeder auf eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern eingeschränkt; daß jedem Bürger sein verhältnismäßiger Anteil an allen Produkten und Fabrikaten des Landes gegen seine ihm anzumutende Arbeit, ebenso wie den öffentlichen Beamten ohne sichtbares Äquivalent, zugesichert; daß zu diesem Behufe der Wert aller Dinge gegeneinander, und ihr Preis gegen Geld festgesetzt, und darüber gehalten; daß endlich, damit dieses alles möglich sei, aller unmittelbare Handel der Bürger mit dem Auslande, unmöglich gemacht werden müsse . . . Man hat ferner die Aufgabe des Staates bis jetzt nur einseitig, und nur halb aufgefaßt, als eine Anstalt, den Bürger in demjenigen Besitz-stande, in welchem man ihn findet, durch das Gesetz zu erhalten. Die tiefer liegende Pflicht des Staates, jeden in den ihm zukommenden Besitz erst einzusetzen, bat man übersehen. Dieses letztere aber ist nur dadurch möglich, daß die Anarchie des Handels ebenso aufgeboben werde, wie man die politische allmählich aufhebt, und der Staat ebenso als Handelsstaat sich schließe, wie er in seiner Gesetzgebung und seinem Rich­teramte geschlossen ist.» (Fichtes sämtliche Werke, hg. von 1. H. Fichte. Bd. III, S. 440 u.453.)

54 Welchen Sinn hat die Arbeit des modernen Proletaries?: Öffentlicher Vortrag in Bern,

gehalten am 17. März 1919 auf Einladung des »Bildungsausschusses der Arbeiterunion

Bern». Zum selben Thema hatte Rudolf Steiner wenige Tage zuvor, am 8. März, vor

Arbeitern in Zürich gesprochen. Siehe den Band »Die soziale Frage», GA Bibl.-Nr. 328.

Die ersten vier der dort abgedruckten sechs Vorträge bildeten die Grundlage für die

Schrift »Die Kernpunkte der sozialen Frage», GA Bibl.-Nr. 23.

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55 Völkerbunskonferenz: Siehe Hinweis zu S.13, sowie den ersten Vortrag in diesem Band.

56 Reden... .von e,nen, führenden Staatsmanne: Siehe Hinweis zu S.13.

schleichende Krsbskrankheit: Siehe Hinweis zu S.14.

64 Carl Vogt, 1817 - 1895, Naturforscher, engagierter Demokrat, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung 1848. »Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände» (1857).

Ludwig Büchner, 1824 - 1899, Arzt und Philosoph, Vertreter des uneingeschränkten

Materialismus und Darwinismus. Werke: »Kraft und Stoff» (1855), »Darwinismus und

Sozialismus» (1894). Über Büchner und Vogt siehe Rudolf Steiner, »Die Rätsel der

Philosophie», 2. Bd., 1. Kap. »Der Kampf um den Geist», GA Bibl.-Nr. 18.

65 Rosa Luxemburg, 1870 - 1919. Nahm 1905 an der russischen Revolution teil; galt als Vertreterin der radikalen Richtung innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutsch­lands. Lehrte an der Parteischule marxistische Nationalökonomie. Während des Ersten Weltkrieges war sie wegen Aufrufen gegen den Krieg fast ständig in Haft. Mit Karl Liebknecht Führerin der Spartakisten, welche die Keimzelle der am 31. Dezember 1918 von Liebknecht gegründeten Kommunistischen Partei bildeten. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden am 15. Januar 1919 in Berlin ermordet. - Über die Arbeiterbil­dungsachule siehe den Hinweis zu S.42. In Spandau sprach Rosa Luxemburg am 12. Ja­nuar 1902 zur Eröffnung der dortigen Arbeiterbildungaschule über das Thema »Die Wissenschaft und der Arbeiterkampf», anschließend sprach Rudolf Steiner zum selben Thema. Siehe hierzu W. Kugler, »Rudolf Steiner und die Anthroposophie», 3. Kap. 5. 173ff., DuMont-Dokumente, Köln 1983 (4. Auflg.). - In einem Brief Rosa Luxemburg» an Rudolf Steiner vom 14.10.1902 heißt es, dessen Tätigkeit an der Arbeiterbildungs-schule betreffend: »Von Ihren Erfolgen in der Arbeiterbildung höre ich immer von Zeit zu Zeit...»

66 wie kommt man dahin, daß «Mehrwert» nicht Vorrecht h,eibs, sondern zum Recht wird?:

Im Stenogramm heißt es an dieser Stelle: »Wie kommt man darüber hinaus, daß Mehr-wert zum Vorrecht, nicht zum Recht wird?» - Da diese Formulierung zu Mißverständ­nsssen führen kann, wurde der Satz sinngemäß geändert, was dänn im übrigen auch dem ähnlich lautenden Passus auf S.76 entspricht. Dort heißt es: »Und dieses Recht kann nur dann statt zu einem Vorrecht zum Recht gemacht werden . ..».

Was ist zu tun?: Diese Frage taucht insbesondere in der russischen Literatur und revolu­tionären Bewegung immer wieder auf. 1863 schreibt N. G. Tschernyschewskij seinen grundlegenden Roman »Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen». In seiner Schrift »Was sollen wir denn tun?» (1884 - 1886) stellt Tolstoi seinen Zeitgenossen das entsetzliche Elend der städtischen Massen vor Augen. Und Lenins Schrift »Was tun?» (1902), in der die Lehre von der Elitepartei aufgestellt wird, veranlaßte Trotzki, aus Sibirien zu fliehen und sich Lenin anzuschließen.

72 ein moderner, sehr bedeutender Forscher: Emil Du Bois-Reymond, 1815 - 1896, General-sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In einer akademischen Rede vom 3. August 1870 in Berlin sagte er: »Die Berliner Universität, dem Palaste gegenüber einquartiert, ist durch ihre Stiftungsurkunde das geistige Leibregiment des Hauses Ho henzollern.» (Aus: »Reden«, Band 1, S.92)

76 Aufruf: Siehe den Hinweis zu S.38.

330

77 Dazu müssen die Menschen aher erst im richtigen Verhältnisse zueinader stehen: Die im Stenogramm festgehaltenen Worte lassen hier eine Rekonstruktion des tatsächlichen Wortlautes und damit auch Sinnzusammenhanges nicht zu. Die entsprechende Stelle wurde im Text durch eine eckige Klammer markiert.

79 Dann wird der Proletarier nicht nur sich erlösen: Auch Marx vertrat - auf seine Weise -die Ansicht, daß die Befreiung des Proletariats zugleich die Befreiung der Menschheit bedeute. So schreibt er in »Die Heilige Familie» (1844/45) im 4. Kapitel: »Wenn das Proletariat siegt, so ist es dadurch keineswegs zur absoluten Seite der Gesellschaft ge­worden, denn es siegt nur, indem es sich selbst und sein Gegenteil aufhebt . . . Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbe­dingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, auf. zuheben.»

80 Proletarische Forderungen und deren künftige praktische Vereirklichung: Öffentlicber Vortrag, gehalten im großen Saal des Kirchgemeindebauses in Winterthur am Mitt­woch, dem 19. März 1919, auf Einladung des »Ausschuß der Bildungs-Kommission der Arbeiter-Union Winterthur».

Völkerbundekonferenz: Siehe Hinweis zu S.13 und den ersten Vortrag in diesem Band. Rede eines früheren Staatsmannes: Siehe Hinweis zu S.13.

81 von der schleichenden Krebskrankheit: Siehe Hinweis zu S.14.

82 wie etwa der deutsche Kaiser: Wilhelm II. hat sich verschiedentlich in diesem Sinne geäußert. Siehe hierzu die Sammlung solcher Aussprüche von Joachim Kürenberg, »War alles falsch? Das Leben Wilhelm II.», Basel 1940; Kap. 60, »Der Kaiser und die Reichstagsparteien». Einige Beispiele: »Für mich ist jeder Sozialdemokrat gleicbbedeu­tend mit Reichs- und Vaterlandsfeind!» - »Eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen . . . möge das ganze Volk in sich die Kraft finden, diese unerhörten Angriffe zurückzuweisen! Geschieht es nicht, nun, dann rufe ich Sie, um der hocbverräteriscben Schar zu wehren. um einen Kampf zu führen. der uns befreit von solchen Elementen!»

83 Engelhert Pernerstofer; 1850 - 1918. Neben Victor Adler einer der Führer der österrei­chischen Sozialdemokratie. Während des Ersten Weltkrieges war er Vizepräsident des Reichsrates. Über seine Begegnung mit Pernerstorfer berichtet Rudolf Steiner im 8. Kap. seiner autobiographischen Aufzeichnungen »Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28. In der von Pernerstorfer herausgegebenen Monatsschrift »Deutsche Worte», XII. Jg. 1893 (Dez.) erschien auch eine kurze Besprechung von R. Steiners »Die Philosophie der Freiheit», GA Bibl.-Nr. 4, verfaßt von Aug. Schroeder. (S.795/6).

84 als Lehrer der von Wilhelm Liebknecht begründeten Arbeiter.Bildungsschule: Siehe die Hinweise zu S.42 und 65 (R. Luxemburg).

Materralistische Gescbichtsinffassung: Am prägnantesten wurde sie von Karl Marx for­muliert in der Vorrede zu seiner Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie», 1859. Dort heißt es: »Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab, und einmal gewonnen, mei­nen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaft­lichen Produktion ihres Lebens geben die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer be-stimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Ge­samtheit

331

dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesell­schaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte, gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produk­tionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Le­bensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Wi­derspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhält­nisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Über­bau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatie­renden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristi­schen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurtei­len, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.»

86 die Magd der Theologie: Der Ursprung des im Mittelalter häufig verwendeten Ausspru­ches »philosophia ancilla theologiae» geht auf Petrus Damiani (1007 - 1072) zurück. Sie­he auch: Immanuel Kant (1724 - 1804), »Der Streit der Fakultäten in drei Abschnitten» (1798), in: »Sämtliche Werke», hg. v. G. Hartenstein, Leipzig 1868, Bd. VII, S.344:

»Auch kann man allenfalls der theologischen Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräumen . . .».

ein moderner, berühmter Physiologe: Siehe Hinweis zu 5.72.

88 Vogt, Büchner und Luzembnrg: Siehe Hinweise zu S.64/65.

92 Klassenkampf Siehe hierzu den ersten Satz des »Kommunistischen Manifestes»: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.»

95 Österreichischer Reichsrat: Über die Zusammensetzung des Österreichischen Reichsestes seit 1867 siehe Rudolf von Herrnritt, »Handbuch des österreichischen Verfassungsrech­tes» (1909), S.142ff. Dort ist auch die komplizierte Form des Wahlrechts sowie dessen Entwicklung dargestellt. Der Autor sagt ausdrücklich, es sei dabei das Prinzip der Inter­essenvertretung mit dem Steuerfuß verbunden worden, »vorzüglich wirtschaftliche In­teressen (seien) für die Bildung des Reichsrates maßgebend» gewesen.

96 das sogenannte Zentrum: Im Jahre 1870 aufgrund eines Aufrufes von Peter Reichensper­ger wurde das »Zentrum» als katholische Partei gegründet und bildete die Opposition gegen die kleindeutsch-preußische Reichsgründung. Nach 1914 gab sie sich den Namen »Deutsche Zentrumspartei». Während des Ersten Weltkrieges veeband sie sich unter dem Einfluß Erzbergers mit den »Fortschrittlern» und Sozialdemokraten zur Reichs­

tagsmehrheit der Friedeosresolution (1917).

332

101 in pnei.ne'n demnächst erscheinendern Büchelchen: »Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft» (1919), GA Bibl.-Nr. 23.

wer unbefangen hinblickt auf das Wirtschaftsleben: Siehe auch R. Steiner, »Nationalöko nomischer Kurs», GA Bibl.-Nr. 340. Zu Fragen der Währung siehe insbesondere den 14. Vortrag.

102 Was man geistig produziert: Werke aus geistiger Arbeit unterstanden damals einer Schutzfrist von 30 Jahren, die inzwischen in den meisten Ländern, so auch in der Schweiz, auf 50 Jahre, in Deutschland auf 70 Jahre verlängert wurde. Nach Ablauf die­ser Frist geht das Recht der Erben auf die Allgemeinheit über, d.h. daß dann jedermann das Recht hat, die betreffenden Werke nachzudrucken.

105 Diskussion: Die Voten der einzelnen Diskussionsredner sind nur bruchstückbaft erhal­ten. Die Zusammenfassungen stammen von den Herausgebern.

107 auf einen Millionär zu warten: Anspielung auf den Sozialreformer Charles Fourier (1772 - 1837), der in den letzten zehn Jahren seines Lebens täglich um die Mittagszeit zu Hause blieb, um den großen unbekannten Gönner nicht zu verpassen, den er auf diese Zeit bestellt hatte und der ihm die Millionen bringen sollte, mit der er die ersten »Pha­lange» - die von ihm konzipierte Produktionsgenossenschaft - errichten wollte. Siehe dazu Werner Hofmann, »Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahr. hunderts», Sammlung Göscben 1962, S.57.

112 in Bern: Siebe den ersten Vortrag in diesem Band.

114 Proletarische Forderungen und deren künftige praktische Verwirklichung: Öffentlicher Vortrag, gehalten in der »Burgvogtei» in Basel am Mittwoch, dem 2. April, abends 8 Uhr. In der »Burgvogtei» hatte im Januar 1919 eine Versammlung des Arbeiterbundes mit über tausend Teilnehmern stattgefunden, die eine Resolution faßte, in der der ent­schlossene Kampf der Arbeiterklasse um die politische Macht gefordert wurde. Nacb dem Generalstreik 1918 waren innerhalb der sozialistischen Bewegung heftige Rich­tungskämpfe entstanden, wobei die Basler Sektion als eine der radikalsten hervorgetre­ten war. Siebe dazu Markus Bolliger »Die Basler Arbeiterbewegung im Zeitalter des Er­sten Weltkrieges und der Spaltung der Sozialdemokratischen Partei», Basel 1970.

116 Eine englische Enquete: Bericht der Children's Employment Commission von 1842. Friedrich Engels hat sie in seinem epochemachenden Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England», 1845, gründlich ausgewertet.

Äußerungen des gewesenen deutschen Kaisers: Siehe Hinweis zu S.82. 117 Vortrag . . . im Frühling 1914 in Wien: Siebe Hinweis zu S.14.

der leitende auswärtige Staatssekretär: Siehe Hinweis zu S.13.

118 Über Wilhelm Liebknecht und die Arbeiter.Bildungsschule: Siehe Hinweis zu S. 42.

auch innerhalb der politischen Partei: Kann nur heißen, innerhalb des Bildungswesens im Rahmen der Partei, nicht bei politischen Aktionen der Partei. Rudolf Steiner wurde die Weiterarbeit an der Arbeiter-Bildungsschule in dem Augenblick ünmöglich gemacht, als einige führende Parteifunktionäre bemerkten, daß er nicht in ihrem materialistisch-marxistischen Sinne unterrichtete.

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119 Karl Marx und die Theorie des Mehrwertes: Siehe Hinweis zu S. 21.

120 Vogt und Büchner: Siehe Hinweis zu S. 64.

Ferdinand Lassalle, 1825 - 1864; begründete 1863 in Leipzig den Allgemeinen Arbeiter­verein. Als er unter Anklage gestellt wurde, die besitzlosen Klassen zu Haß und Verach­tung der Besitzenden aufgewiegelt zu haben, hielt er vor dem Berliner Kriminalgericht am 16. Januar 1863 seine viel beachtete Verteidigungsrede »Die Wissenschaft und die Arbeiter». Dort sagte er u. a.: »Dies gerade ist die Größe der Bestimmung dieser Zeit, auszuführen, was finstere Jahrhunderte nicht einmal zu denken für möglich gehalten haben, die Wissenschaft an das Volk zu bringen!» Aus: »Ferdinand Lassalles Reden und Schriften», Berlin 1893, S. 83. - Über Lassalle siehe auch die Biographie von Hermann Oneken, 3. Auflg. 1923.

Rosi Luxernburg und die Veransialtung in Spandau: Siehe Hinweis zu S. 65. 122 Wort des deutschen Kaisers: Siehe Hinweis zu S.82.

123 Karl Marx über die Arbeitskraft als Ware: Siehe Hinweis zu S. 21.

124 Der Allerbalter: Siehe J. W. v. Goethe, »Faust», Teil 1, Marthens Garten. Wörtlich heißt es dort:

Wer darf ihn nennen?

Und wer bekennen:

Ich glaub' ihn?

Wer empfinden

Und sich unterwinden

Zu sagen: ich glaub' ihn nicht?

Der Allumfasser,

Der Allerhalter,

Faßt und erhält er nicht

Dich, mich, sich selbst?

126 Öste"ichisehe Vefassung: Siehe Hinweis zu S. 95.

128 Du Bois-Reymond: Siehe Hinweis zu S. 72.

Die Wissenschaft als Magd der Theologie: Siehe Hinweis zu S. 86.

der Völkerbund... muß ein Übersarlament ins Lehen rufen: Am 11.März1919 wurde an der Völkerbundskonferenz in Bern ausgiebig über die Notwendigkeit eines Völkerpar­lamentes diskutiert. Am radikalsten äußerte sich Herr Müblestein, der ein Einkammer­system mit Abgeordneten der Völker forderte. Vgl. Bericht in »Neue Zürcher Zeitung' vom 11. März 1919. Ob Rudolf Steiner in seinem Vortrag sich auf die Aussagen von Mühlestein bezieht, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen.

129 Tauhen Ohren hat man gepredigt: Siehe den Hinweis zu S.38.

131 in meinern Buche, das in ein paar Tagen erscheinen wird: Siehe Hinweis zu S. 101.

135 Freibeir Gleichheit, Briüderlichkeit: Innerhalb des dreigegliederten sozialen Organismus ordnet Rudolf Steiner die Freiheit dem Geistesleben, die Gleichheit dem Rechtsleben und die Brüderlichkeit dem Wirtschaftsleben zu. Siehe auch »Die Kernpunkte der sozia­len Frage», GA Bibl.-Nr. 23, Ende des 2. Kapitels; »Neugestaltung des sozialen Organis­mus». GA Bibl.-Nr. 330.10. Vortrag.

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137 daß er werden wird der Befreier altes Menschlichen: Siehe Hinweis zu S.79.

138 Wi'ly Handschin, Vorstandsmitglied der «Jungburschen», Mitglied der Ende 1918 in Basel gegründeten «Altkommunistischen Partei», die den Klassenkampf und die Bewaff­nung der Arbeiter befürwortete Im Märt wurde er zusammen u. a. mit Fritz Platten und Humbert-Droz in das Zentralkomitee der neu gegründeten Kommunistischen Partei der Schweiz gewählt. Der Gründer des Jugendverbandes, dem Handschin ange­hörte, war Jakob Herzog, den Lenin als echten revolutionären Typus hoch schätzte. Siehe M. Bolliger, a. a. O., vor allem S.70, 137 f., 242, 283.

Herr Stader weist aufdie Ideen von Freiged und Freiland hin: Es handelt sich um die Frei­wirtschaftslehre von Silvio Gesell (1862 - 1930), dargestellt in seinem Werk «Die natür­liche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld«, 1916. - Otto Studer, von Beruf Musiker, war Begründer und Leiter der Basler Gruppe des Schweizerischen Freiwirt­schaftsbundes.

Hans Mühlestein, 1887-1969; aus Biel stammend. Vielseitige und hochgebildete Persön­lichkeit von unkonventioneller, durchaus selbständiger, zum Teil abenteuerlicher Le­bensführung. Lyriker, Dramatiker, Gelehrter, Übersetzer von Renaissance-Dichtungen, Verfasser wissenschaftlicher Werke über die verschiedensten Gebiete: Etrusker, Hod­ler, Bauernkrieg, Religionsgeschichte («Die verhüllten Götter«), Atomphysik und alt­griechische Philosophie. Als Sozialpolitiker immer auf der Seite der Verfolgten stehend. 1918 Deputierter der USPD Göttingen am Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin. Zeitweise der PdA nahestehend. Mühlestein weist wie Rudolf Steiner auf das «Versanden» der deutschen Revolution hin. Siehe auch den Hinweis zu S.128.

«Schweizerischer Bund für Reformen der Übergangszeit»: Dieser Bund wird von P. Schmid-Ammsnn in seinem Buch über den Generalstreik im Zusammenhang mit der verworrenen Lage nach dem Generalstreik erwähnt (S.375).

139 Ein Herr kam dazumal: Es läßt sich nicht eindeutig feststellen, um welchen Vortrag in Bern es sich handelt. In der Diskussion vom 11. März ist die Freiwirtschaft nicht er­wähnt; nach dem Vortrag vom 17. März fand keine Diskussion statt. Möglicherweise handelt es sich bei dem Besucher um Fritz Schwarz, der damals Geschäftsführer des Schweizerischen Freiwirtschaftsbundes, mit Sitz in Bern, war und der als sachkundiger Vertreter der Freiwirtschaftsidee in Bern galt.

140 Man muß erkennen: Hier mußte eine kurze Passage weggelassen werden, da der Manu­skripttext keine eindeutige Textwiedetgabe möglich machte.

142 «Von Seelenrätseln» (1917), GA Bibl.-Nr. 21. Die grundlegende Darstellung der Dreiglie­derung des menschlichen Organismus gibt Rudolf Steiner im Kapitel «Die physischen und die geistigen Abhängigkeiten der Menschenwesenheit». Taschenbuchausgabe TB

637.

Albert E. F Schäffle, 1831 - 1903; Nationalökonom; 1862-1865 Abgeordneter im würt­tembergischen Landtag. 1871 österreichischer Handelsminister. Verfaßte zahlreiche soziologische Schriften, u. a. «Bau und Leben des sozialen Körpers», 4 Bände, Tübingen 1875-1878, 2. Auflg. 1896, 2 Bände.

C. H. Meray, «Weltmutation. Schöpfungsgesetze über Krieg und Frieden und die Geburt einer neuen Zivilisation», Zürich 1918. Die Schriften von Schäffle und Meray werden von Rudolf Steiner auch erwähnt in den «Kernpunkten der sozialen Frage», a. a. O., 2. Kapitel, und in den Vorträgen »Die soziale Frage«. GA Bibl.-Nr. 328, S.27 u. 118.

335

145 Soziales Wellen und proletarische Forderungen: Öffentlicher Vortrag, gehalten am 9. April 1919 im großen Hörsaal des Bernoullianums in Basel. Veranstalter war der Basler Studentenbund. - Am 25. Februar 1919 hatte Rudolf Steiner vor der Zürcher Studen­tenschaft über «Das soziale Wollen als Grundlage einer neuen Wissenschaftsordnung« gesprochen. Siehe den Band «Die soziale Frage», GA Bibl.-Nr. 328.

148 Einen solchen Zeitpunkt glaubt Marz herannaben zu sehen: «Seit Dezennien ist die Ge­schichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse ... Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden - die modernen Arbeiter, die Proletarier . . . Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Pro­letariats sind gleich unvermeidlich.« (Kommunistisches Manifest)

Anschauung älterer sozialistisch denkender Menschen: Zum Beispiel Claude Henri de Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837), Pierre Joseph Proudhon (1809-1865), Louis Blanc (1811-1882), Robert Owen (1771-1858), auch noch Ferdi­nand Lassalle (1825-1864). Knappe Übersicht über ihre Ideen in Werner Hofmann, «Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts«, Sammlung Göschen, 1962. Ausführliche Texte in »Der Frühsozialismus«, Quellentexte, herausge­geben von Thilo Ramm, Kröner, 2. Auflg. 1968. Siehe auch Rudolf Steiner in «Neuge­staltung des sozialen Organismus», GA Bibl.-Nr. 330, Vortrag vom 30. Juli 1919.

155 die beiden Hauptpunkte dieses sozialdemokratischen Ideales: 1863 gründete Lassalle den «Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein«, der als «sittliche Pflicht« des Staates die Bre­chung des ehernen Lohngesetzes durch staatlich unterstützte Produktionsgenossen­schaften forderte. 1868 gründeten die Marzisten August Bebel und Wilhelm Liebknecht die «Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei«. 1875 vereinigten sich die beiden Richtun­gen in Gotha zur «Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands«. Das Gothaer Pro gramm enthielt die beiden ersten von Rudolf Steiner genannten Hauptpunkte. Es erreg­te den Zorn von Karl Marx, weil es nicht mit seiner materialistischen Auffassung über­einstimmte (vgl. Karl Marx, «Kritik des Gothaer Programms 1875«). Nach diesem Pro­gramm «erstrebt« die Partei «den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft . . . Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Ge­stalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit«. 1881, nach dem Er­lebnis der Bismarckschen Sozialistengesetze, arbeitete Kautsky ein neues, rein marxisti­sches Programm aus, das in Erfurt angenommen wurde und in dem die beiden späteren, von Rudolf Steiner genannten Forderungen stehen: «Nur die Verwandlung des kapitali­stischen Privateigentums an Produktionsmitteln - Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel - in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeute­ten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde.« Siehe auch Rudolf Steiners Äußerungen über die sozialistischen Programme in «Neugestal­tung des sozialen Organismus», GA Bibl.-Nr. 330, S.110 f.; siehe auch Horst Seefeld «Programme der deutschen Sozialdemokratie», Bonn 1963, und Eduard von der Hellen, «Das rote Programm«. 1892.

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160 Vorsitzender der «Goethe-Gesellschaft»: Georg Kreuzwendedich Freiherr von Rheinbaben

1855 - 1921; preußischer Finanzminister 1901 - 1909, Präsident der Goethe-Gesellschaft

1913 - 1921. Siehe auch Rudolf Steiner »Geschichtliche Symptomatologie», GA Bibl.­Nr.185, S.129. - Rudolf Steiner ist in den Goethejahrbüchern von 1892 - 1898 als in

Weimar ansäßiges Mitglied der Goethe-Gesellschaft aufgeführt.

161 Oscar Hertwig, 1849 - 1922. Sein Buch über das soziale Lehen: »Zur Abwehr des ethi­schen, des sozialen, des politischen Darwinismus», Jena 1918. Die Unfruchtbarkeit naturwissenschaftlicher Denkweise für das soziale Leben erweist sich z.B. in folgenden

Sätzen:

»In der Reihe der verschiedenen Organisationsstufen des Stoffes ist eine jede mit den ihr eigenen Wirkungsweisen ausgestattet. Diese sind einfacher beim chemischen Atom und Molekül, entsprechend ihrer Stellung in der Stufenreihe, und lassen sich daher mit den Methoden der Naturforschung genauer bestimmen und in feste Regeln und Gesetze einordnen. Auf jeder höheren Stufe aber gewinnen sie zusehends an Komplikation, bis sie endlich in ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit kaum noch zu übersehen, geschweige denn in irgendeiner festen Formel auszudrücken sind. Kaum läßt sich dann vorausbe­rechnen, mit welcher Wirkungsweise der Mensch oder gar die menschliche Gesellschaft auf irgendeine Veränderung ihrer Umgebung, suf einen Eingriff von außen, reagieren werden.» -

Dann stellt er die verschiedensten Arten von «Kräften» in eine Linie:

.... wenn man von Atom-, von Molekular- und Zellkräften, von chemischer und ve­getativer Affinität, von den Kräften der Pflanzen und Tiere, von geistigen und sittlichen Kräften des Menschen, von der Kraft eines Staates usw. spricht . . . wir können, wie schon früher nachgewiesen wurde, nur nach den Wirkungen forschen, die den verschie­denen Organisationsstufen eigen sind; wir können versuchen, dieselben unter allgemei­ne Regeln zu bringen und ihre Entstehung uns aus der Organisation des Stoffes und sei­nen Beziehungen zur Umwelt, also aus den gegebenen Systembedingungen, verständ­lich zu machen. Von diesem Standpunkt aus ordnet sich der Mensch mit seiner Ge­schichte und Kultur, mit seinen in ihr sich offenbarenden sittlichen und geistigen Kräf­ten in das System der Natur ebenso vollständig und restlos ein, wie jedes andere Natur-objekt und kann zum Gegenstand der Naturforschung gemacht werden. Wenn ich nach diesen Vorbemerkungen wieder auf unser Thema zurückkomme, dann läßt sich ohne mißverstanden zu werden, sagen, daß Handlungen, in denen wir den Ausdruck sittli­cher Mächte erblicken, ihren Ursprung in dem Gemeinschaftsleben von Tieren finden, die auch in geistiger Hinsicht schon höher ausgebildet sind. Sie entstehen allmählich und in demselben Maße, als zwischen den ursprünglich vereinzelten und nur für sich bedachten Individuen ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verwandt-schaft lebendig wird. . . . (Es) entwickeln sich in der Klasse der Insekten schon Tierstaa­ten in verschiedenen Formen der Ausbildung. Auch läßt ihr Studium bei den sozialen Insekten, bei Bienen, Ameisen, Termiten mancherlei Vergleichapunkte mit menschli­chen Verhältnissen gewinnen. Bei dieser Auffassung sind auch die ungeheuren Unter­schiede, die zwischen der Menschheit mit ihrer geistigen und sittlichen Welt auf der einen Seite und dem Tierreich auf der anderen Seite bestehen, keine prinzipiellen, son­dern nur solche des Grades.» (S.35-37)

162 Heinrich Fiedjung, 1851 - 1920; Historiker und politischer Schriftsteller. U. a. begrün­dete er die »Deutsche Wochenschrift», die Rudolf Steiner von Januar bis Juli 1888 redi­gierte. Siehe hierzu Rudolf Steiner, »Mein Lebensgang«, GA Bibl.-Nr. 28, Kap. VIII. -Heinrich Friedjung hatte im Jahre 1909 Abgeordnete des kroatischen Landtages »in aufsehenerregenden Zeitungsartikeln hochverräterischen Einverständnisses mit den

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Führern der großserbischen Bewegung jenseits der Grenzen beschuldigt. Die Kläger konnten vor Gericht nachweisen, daß die Beschuldigungen Friedjungs auf gefälschten Dokumenten beruhten, die diesem vom Außenministerium in Wien zur Verfügung gestellt worden waren. Friedjung, der sich durch seine kritiklose Verwendung gefälsch­ten Materials bloßgestellt hatte, mußte den Rückzug antreten». Siehe R. von Salis »Weltgeschichte der neuesten Zeit», 2. Band, S.350.

162 Alois Freiherr von Aehrental, 1854 - 1912; österreichisch-ungarischer Außenminister

1906-1912.

163 Graf mit den zwei Hosentaschen: Ließ sich nicht ermitteln.

170 ein volkswirtschaftliches Prinzip: Gemeint ist hier das von Rudolf Steiner in einem Auf­satz aufgestellte »Soziale Hauptgesetz». Hier sein Wortlaut: »Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der einzelne die Er­trägnisse seiner Leistungen fur sich beansprucht das heißt je mehr er von diesen Er trägnissen an seine Mitmenschen abgibt und je mehr seine eigenen Bedurfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden» Aus «Geisteswissenschaft und soziale Frage» 1905/06 in »Luzifer Gnosis. Gesammelte Auf sätze 1903-1908», GA Bibl Nr 34 5 191ff auch als Einzelausgabe Dornach 1977

171 «Die Kernpunkte der sozialen Frage» (1919), GA Bibl. Nr 23, Schneiderbeispiel siehe S. 133 f.; vgl. auch »Nationalokonomischer Kurs», GA Bibl.-Nr. 340, S. 44-46, 47f., 51-53, 66; ferner «Nationalökonomisches Seminar», GA Bibl.-Nr. 341, S. 42-45, 48.

173 Auch das wird weiter ausgefihrt werden: Siehe »Die Kernpunkte der sozialen Frage«, GA Bibl.-Nr. 23, III. Kap. «Kapitalismus und soziale Ideen«.

176 Kurt Eisner, 1867 - 1919; Sozialistischer Politiker, Journalist, Schriftsteller; gehörte der extremen »Unabhängigen Sozialistischen Partei« an und war als Kriegsgegner im Ge­fängnis. Am 8. November 1918 rief er in München die Republik Bayern aus und trat an die Spitze der Regierung. Am 21. Februar 1919 wurde er auf dem Weg zur Eröffnung des Landtages vom Grafen Arco erschossen. Rudolf Steiner sprach mit ihm über Fragen der Kriegsschuld während der internationalen Sozialistenkonferenz in Bern vom 3. - 10. Februar 1919, an der Eisner als bayrischer Ministerpräsident teilgenommen hatte. Sein Vortrag «Der Sozialismus und die Jugend« fand statt am 10. Februar 1919 auf Einladung der Basler Studentenschaft. Das Gespräch mit Kurt Eisner ist vermittelt durch Hans Kühn, siehe sein Buch «Dreigliederungszeit«, Dornach 1978, S. 33f. Siehe auch Rudolf Steiner «Die soziale Grundforderung unserer Zeit In geanderter Zeitlage» GA Bibl Nr.186, 1. Vortrag; ferner Die soziale Frage als Bewußtseinsftage» GA Bibl Nr 189 6. Vortrag (ausführlich) Siehe auch Schriftenreihe »Beitiage zur Rudolf Stemer Geasmt ausgabe», vormals «Nachrichten der Rudolf Steiner Nachlaßverwaltung» Nr 24/25 Sonderheft «50 Jahre «Die Kernpunkte der sozialen Frage« April 1919 April 1969 S. 14, 16, 23 ff.- Wenn auch Rudolf Steiner vor jenem Treffen im Jahre 1919 nie per sönlich Kurt Eisner begegnet war so gab es doch einige Beruhrungspunkte zwischen ihnen. So hat Rudolf Steiner im «Literarischen Merkur», XIII. Jg. Nr.4, 1893 Eisners Schrift «Psychopathia spiritualis Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft besprochen. Siehe «Gesammelte Aufsatze zur Kultur und Zeitgeschichte 1887 1901 GA Bibl.-Nr. 31, S. 467ff am 3 Dezember 1893 bat Steiner in einem Brief Kurt Eisner er möge sich «öffentlich» uber die «Philosophie der Freiheit», die er durch den Verleger Emil Felber an Eisner senden ließ »aisssprechen» Ob Eisner dieser Bitte nachgekom men ist, ließ sich bisher nicht feststellen Von einer «persönlichen Einwirkung» Rudolf

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Steiners auf Kurt Eisner sprechen die Herausgeber des Buches »Kurt Eisner Die Halbe Macht den Räten», Renate und Gerhard Schmolze (Köln 1969, S. 7). In dem gleichen Buch (S.29) ist auch zu lesen, daß Eisner die Atsatellung Steiners an der Berliner Arbei­terbildungsschule vermittelt habe. Ähnliches schreibt auch Alwin A. Rudolph in seinen »Erinnerungen an Rudolf Steiner und seine Wirksamkeit an der Arbeiterbildungsschule 1899-1904», Basel 1979, S. 40.

177 Diskussion: Von ihr liegt keine Mitschrift vor. Das Schlußwort sprach Rudolf Steiner auf Bitten des Veranstalters. In späteren Vorträgen erwährit Rudolf Steiner die Äuße­rung eines Herrn in dieser Diskussion, der erklärte, es könne nichts besser werden, bevor nicht Lenin Weltherrscher geworden sei. Siehe »Die Erziehungafrage als soziale Frage», GA Bibl.-Nr. 296, S. 32f., und »Soziale Zukunft», GA Bibl.-Nr. 332, S. 66.

179 wirkliche Irrtümer: Hier weist das Stenogramm einige Unstimmigkeiten auf, daher wurde der Manuskriptwortlaut nicht in den laufenden Text aufgenommen. Die Steno­grammübertragung ergibt folgenden Wortlaut:

»so haben wir methodische Erkenntnisse, Theoretisches drinnen, wirkliche Irrtü­mer, wie gesagt, in diesem Kreise darf ich schon auf so etwas aufmerksam machen. Sie können in jedem Physikbuch definiert finden zum Beispiel: Undurchdringlichkeit ist die Eigenschaft des Körpers, so daß am selben Ort und in derselben Zeit nur ein und nicht zwei Körper sein können. - Es ist eine Definition, die durch nichts gerechtfertigt ist, die nur aus der Luft heraus geholt ist. Erkenntnistheoretisch richtig gedacht, müßte es heißen : Einen physischen Körper nennt man denjenigen, an dessen Stelle zu gleicher Zeit, wenn er sich an der Stelle befindet, nicht ein zweiter sein kann. Es gibt überhaupt nur Postulate für das Begriffsvermögen in diesen Definitionen. Heute fordert man nur Definitionen. In Wirklichkeit gibt es nur Postulate, gibt es nur Charakteristiken im Begriffsvermögen. Das Begriffsvermögen als solches darf überhaupt nicht irgendwie tonangebend sein. Dieses wird weniger bemerkt im naturwissenschaftlichen Denken, es ist aber fundamentale Irrtümer legend auf dem Gebiete des sozialen Denkens ....

183 ein katholischer Geistlicher: Siehe Hinweis zu S. 49.

184 in meinem vorletzten Buche: Siehe Hinweis zu S. 142.

185 Schäffle oder Meray: Siebe Hinweis zu S. 142.

Neulich hat mir ein Zuhörer in Basel erwidert: Siehe Hinweis zu S. 138; Hans Mühlestein.

187 Die geisteswissenachaftliche Grundlage der sozialen Frage: Öffentlicher Vortiag in Bern am 14. Oktober 1919, veranstaltet vom Schweizerischen Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus und dem Berner Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft, eröffnet durch Roman Boos.

«Soziale Zukunft»: Vom «Schweizerischen Bund für Dreigliederung des sozialen Orga­nismus« herausgegebene und von Roman Boos redigierte Zeitschrift, 1919 -1921. Siehe »Das literarische Werk von Roman Boos. Bibliographie und biographische Notiz», Basel 1973, S. 39 f.

190 Ich mußte im Frühling 1914 in Wien es aussprechen: Siehe Hinweis zu S. 14 »das sich nur bezeichnen läßt . . .».

Üher das Scheitern des Marxismus in Rsl'land das Scheitern der ungarischen Revolution und das Ven,»nden der deutschen Revolution: Siehe R. von Salis, «Weltgeschichte der neuesten Zeit«. 3. Band. S. 88 ff., 24 ff., 151ff.

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205 ftancois Maric Charles Fourier, 1772 - 1837; arbeitete ein soziales System aus, in dem durch die Produktivassoziation Landwirtschaft und Industrie verbunden und jeder Zwischenhandel ausgeschaltet werden sollte. Die erdachten Produktivgenossenschaften nannte er «Phalange». Siehe auch Hinweis zu S. 107.

208 Wir hahen ....... durch u,»»eren Freund Emil Molt... eine Schule zu gründen: Ge­meint ist die erste Freie Waldorfschule in Stuttgart, die als einheitliche Volks- und höhere Schule von Emil Molt, Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, und Rudolf Steiner, der die Leitung bis zu seinem Tod im März 1925 innehatte, im Jahre 1919 gegründet wurde. Auf der Grundlage der von Steiner entwickelten Menschenkun-de und Erziehungskunst arbeiten heute über 200 Schulen in Europa und Ubersee. -Siehe Rudolf Steiners Vorträge über Erziehungskunst, innerhalb der Gesamtausgabe in den Bänden Bibl.-Nrn. 293 - 311. Siehe auch Emil Molt «Entwurf meiner Lebensbe­schreibung«, Stuttgart 1972. - Die Gründung der Schule war zugleich ein erster Schritt zur Loslösung des Schulwesens vom Staate im Sinne des Dreigliederungsgedankens. Siehe hierzu auch Walter Kugler, «Selbstverwaltung als Gestaltungsprinzip eines zu­kunftsorientierten Schulwesens, dargestellt am Beispiel der Freien Waldorfschulen», Stuttgart 1981.

Dann aher sieht man, daß man die Verordnungen in die Hand bekommt: Bezieht sich wohl darauf, daß die Erziehungshehörden der Waldorfschule Verpflichtungen auferleg­ten, im dritten, sechsten, achten Schuljahr jeweils die «Lehrziele« der Staatsschule er­reicht zu haben. Dazu sagte Rudolf Steiner in einer Ansprache vom 20. August 1919:

«Schlechte Lehrziele, schlechte Abschlußziele werden uns vom Staat vorgeschrieben. Diese Ziele sind die denkbar schlechtesten, und man bildet sich das denkbar Höchste auf sie ein. Die Politik . . . von jetzt wird sich dadurch äußern, daß sie den Menschen schablonenhaft behandeln wird, daß sie viel weitergehend als jemals versuchen wird, den Menschen in Schablonen einzuspannen. Man wird den Menschen behandeln wie einen Gegenstand, der an Drähten gezogen werden muß und wird sich einbilden, daß das einen denkbar größten Fortschritt bedeutet. Man wird unsachgemäß und möglichst hochmütig solche Dinge einrichten, wie es Erziehungsanstalten sind. Ein Beispiel und Vorgeschmack davon ist die Konstruktion der russischen bolschewistischen Schulen, die eine wahre Begräbnisstätte sind für alles wirkliche Unterrichtswesen. Wir werden einem harten Kampf entgegengehen und doch diese Kulturtat tun.« Aus: Rudolf Steiner «Konferenzen mit der Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart«, GA Bibl.-Nr. 300/1, S. 61 f.; zu den Vorschriften der Erziehungsbehörden siehe im gleichen Band S. 26ff.

214 Lenin und Trotzki: Maßgebende Führer der russischen sozialistischen Bewegung. Siehe auch den Hinweis zu S. 44.

216 Heute horen Sie von soztalistischer Seite immer wieder: Gemeint ist offenbar die u.a. von Lenin vertretene marxistische Utopie, nach welcher der Mensch durch soziale Struktu­ren erzogen werden soll. Der Rat der Volksbeauftragten hatte im Dezember 1918 eine »Sozialisierungskommission» eingesetzt, an deren Spitze Karl Kautsky stand. Als Ant­wort darauf verfaßte Rudolf Steiner unter dem Titel «Vorschläge zur Sozialisierung. Leitsätze für die Dreigliederungsarbeit» und etwas später das Flugblatt «Der Weg des dreigliedrigen sozialen Organismus», das der weiteren Dreigliederungsarbeit zugrunde gelegt wurde. Am 6. März 1919 erließ die Nationalversammlung ein Gesetz, das die Arbeitskraft als höchsten wirtschaftlichen Wert unter den Schutz des Reiches stellte und Bestimmungen über die «Vergesellschaftung» geeigneter Betriebe enthielt. Im Juli

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mußte der Bund für Dreigliederung in einer Erklärung gegen den Mißbrauch der Be­triebstäteidet von seiten der Linksradikalen Stellung nehmen. Siehe Rudolf Steiner, »Aufsätze über die Dreigliederung und zur Zeitlage. 1915 - 1921», GA Bibl.-Nr. 24, S. 424ff.- Die Einführung von Arbeiterbetriebstäten und die Sozialisierung «dazu geeigneter Betriebe« wurde schließlich in die neue Reichsverfassung aufgenommen.

222 erschien in einer Zeitschrift eine lange Besprechung diee'r Dreigliederung: Gemeint ist der Aufsatz «Die Dreigliederung des sozialen Körpers» von Prof. Philipp von Heck in der Zeitschrift «Die Tribüne», Nr.1, Juli 1919. Eine Erwiderung Rudolf Steiners erschien in der selben Zeitschrift in den Heften 3/4 und 5/6; abgedruckt innerhalb der Rudolf Steiner Gesamtausgabe in dem Band «Aufsätze zur Dreigliederung des sözialen Organis­mus und zur Zeitlage 1915-1921», GA Bibl.-Nr. 24, S. 444 ff.

225 Bosnien und Herzegowina-Sache: Im Jahre 1878 wurden die bisher türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina gemäß Art. 25 des Berliner Kongreßvertrages von Öster­reich-Ungarn besetzt und in Verwaltung genommen. Seitdem strebte die Monarchie danach, die Okkupation in eine Annexion zu verwandeln. Nach Vereinbarung mit dem russischen Außenminister, dem der österreichisch-ungarische Außenminister Alois Freiherr von Aehrenthal dafür eine Zustimmung zur Öffnung der Dardanellen für rus­sische Kriegsschiffe versprach, erklärte 1908 Österreich-Ungarn die Annexion von Bos­nien und der Herzegowina, die ein Schritt zur Verwirklichung des Trialismus - d. h. der Einigung der Südslawen unter der Herrschaft der Donaumonarchie - sein soll.

230 Woodrow Wilion: Siehe Hinweis zu S. 16.

232 »Die Neue Freiheit. Ein Aufruf zur Befreiung der edlen Kräfte eines Volkes», München

1914. Der Vergleich der sozialen Kritik Wilsons mit derjenigen Lenins und Trotzkis wird von Rudolf Steiner ausführlich behandelt in «Soziale Zukunft», GA Bibl.-Nr. 332, S. 17-20. - Nachfolgend einige Passagen aus Wilsons »Die Neue Freiheit», die der bol­schewistischen Kritik entsprechen (S.86, 144, 179):

«Die Hände, die sich ausstrecken, um unsere Wälder mit Beschlag zu belegen, die die Ausnutzung unserer großen kraftspendenden Flüsse verhindern oder für sich reservie­ren, die Hände, die sich zum Herzen der Erde ausstrecken, um jene gewaltigen Reich­tümer zu packen, die in Alaska oder in anderen Gebieten unserer unvergleichlichen Staaten verborgen liegen, - es ist überall die Faust des Monopols. Sollen diese Männer auch fürderhin an der Schulter der Regierung stehen und uns raten, wie wir uns schüt­zen sollen - vor ihnen schützen? Bin ich nicht tüchtig genug, meine Konkurrenten zu schlagen, dann werde ich dazu neigen, mich mit ihnen zu verständigen. Das ist durchaus natürlich. Das geschah immer, seitdem es Freibeuterei gab. Das geschah stets, seitdem Macht dazu benutzt wurde, eine Vorherrschaft aufzu­richten . . .

Es gibt in den Vereinigten Staaten kaum einen Landesteil, der nicht wüßte, daß Son­derinteressen und Sonderabsichten die Regierung führen. Das geschah durch das Wal­ten jener interessanten Leute, die wir in der Politik nennen. Ein Boß ist weni­ger Politiker als ein politischer Geschäftsagent für Sonderinteressen. Ein Boß gehört zu keiner Partei, er steht hoch über den Parteien. Er hat seine Abmachung mit dem Boß der anderen Partei, so daß, ob pun Kopf oder Schwanz, stets wir es sind, die verlieren müssen. Aus den gleichen Quellen beziehen die beiden Bosses ihre Einnahmen, und sie verwenden die Beiträge für die gleichen Zwecke. Es sind Leute, die die einflußreiche

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Stelle, auf der sie stehen, durch geheime Machenschaften erlangten; Leute, die nie ge­wählt wurden, die das Volk nicht zum Regieren bestimmte und die weit mächtiger sind, als sie es wären, wenn man sie gewählt oder berufen hätte.»

234 Er sagt zum Beispiel: Wortlaut von Wilsons Definition der Freiheit, a. a. O., S. 218:

«Was ist Freiheit? Man sagt von einer Lokomotive, daß sie frei laufe. Was meint man damit? Man will sagen, die einzelnen Bestandteile seien so zusammengesetzt und inein­ander gepaßt, daß die Reibung auf ein Minimum beschränkt wird. Man sagt von einem Schiff, das leicht die Wellen durchschneidet: wie frei läuft es, und meint damit, daß es der Stärke des Windes vollkommen angepaßt ist. Richte es gegen den Wind, und es wird halten und schwanken, alle Planken und der ganze Rumpf werden erzittern, und sofort ist es . Es wird nur dann frei, wenn man es wieder abfallen läßt und die weise Anpassung an die Gewalten, denen es gehorchen muß, wiederhergestellt hat. Die Frei­heit des Menschen besteht in dem richtigen Ineinandergreifen der menschlichen Interes­sen, des Handels und der Kräfte. Die notwendigen Beziehungen zwischen den einzel­nen, zwischen ihnen und den ganzen menschlichen Einrichtungen, unter denen sie le­ben, ferner zwischen diesen Einrichtungen und der Regierung sind heute viel kompli­zierter als je zuvor. Es mag ermüdend und umständlich sein, über diese Dinge zu reden, aber es ist doch wohl der Mühe wert, uns darüber klar zu werden, wodurch denn ei­gentlich die ganze jetzige Verwirrung veranlaßt ist. Das Leben ist komplizierter gewor­den, es setzt sich aus viel mehr Elementen und Teilen zusammen als früher. Und darum ist es schwieriger, alles in Ordnung zu halten und herauszufinden, woran es liegt, wenn die Maschine nicht mehr läuft.»

240 Calvin Thomas> Professor of Germanic Languages and Literatures an der Universität von Michigan. Siehe auch Rudolf Steiner, «Geschichtliche Symptomatologie», GA Bibl.-Nr. 185, Dornach 1982, S.128.

243 eines der Haupchü:her: »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« (1904), GA Bibl.-Nr. 10; Taschenbuchausgabe TB 600.

246 Durch viele Jahrhunderte hahen gewisse soziale Mächte darüber gewacht: Gemeint sind hier die Konzilien der römisch-katholischen Kirche, insbesondere das achte ökumenische Konzil von Konstantinopel. In den «Ganones contra Photium» wird in diesem gegen den Patriarchen Photius veranstalteten Konzil unter Can. 11 festgelegt, daß der Mensch nicht «zwei Seelen», sondern «unam animam rationabilem et intellectualem» habe.

247 «Von Seelenrätseln» (1917), GA Bibl.-Nr. 21. Siehe den Hinweis zu S. 142.

248 Tahes dorsalis: Rückenmarksschwindsucht.

249 Revolutionen in Rußlans, Unga'n, Deutschland: Siehe Hinweis zu S. 190.

251 Saint-Simon, Fourier, Louis Blanc: Siehe Hinweis zu S. 148.

252 Rabtndranath Tagore, 1861 - 1941. Indischer Dichter, Philosöph und Pädagoge. Mit seinem Werk »Gitanjali«, einer englischen Prosafassung einer Auswahl seiner religiösen Lyrik, wurde er international bekannt. 1913 erhielt er für dieses Werk den Nobelpreis für Literatur. Seine Kritik an der modernen westlichen Kultur erscheint vor allem in dem Buch «Nationalismus», deutsch 1918. Einige Sätze aus diesem Werk (S. 22f., 35 u. 42): Die «Geschichte ist in ein Stadium gekommen, wo der sittliche Mensch, der ganze Mensch, fast ohne es zu wissen, immer mehr und mehr dem politischen Menschen und dem Geschäftsmenschen, dem Menschen des begrenzten Ziels, Platz macht. Dieser Vorgang,

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der unterstützt wird durch die erstaunlichen Fortschritte der Naturwissenschaft, wird immer riesiger und gewaltiger und bringt den Menschen aus seinem sittlichen Gleichgewicht, indem er die menschliche Seite seines Wesens durch seelenlose Organi­sation überwiegen läßt ... Dieser beständige, ungeheure mechanische Druck des Leb-losen auf das Lebendige ist es, worunter die heutige Welt stöhnt. Nicht nur die unter­worfenen Rassen, sondern ihr selbst, die ihr glaubt frei zu sein, opfert täglich eure Frei­heit und Menschheit dem Götzen Nationalismus und lebt in der dumpfen, vergifteten Atmosphäre von Mißtrauen, Gier und Angst, die sich über die ganze Welt erstreckt . . . Aber dürit ihr sagen, daß nicht die Seele, sondern die Maschine das Wertvollste für uns ist und daß das Heil des Menschen davon abhängt, daß er es in der Kunst, sich dem Rhythmus des toten Räderwerks anzupassen, zur Vollkommenheit bringt?«

254 Ausspruch Woodrow Wisons: Wörtlich heißt es a. a. O. S. 98 f.:

»Der große Schmelztiegel Amerikas, die Stätte, in der alle zu Amerikanern gemacht werden, ist die öffentliche Schule. In sie schicken Menschen jeder Rasse, jeder Herkunft und jeder Lebeosstelle ihre Kinder oder sollten ihre Kinder schicken; und hier werden alle miteinander vermischt, werden mit dem amerikanischen Geiste durchtränkt und zum amerikanischen Manne oder zur amerikanischen Frau' entwickelt. Wir söllten aber nicht nur unsere Kinder zu bezahlten Lehrern in diese Schule schicken, sondern wir sollten selbst in dem gleichen Schulhause miteinander zur Schule gehen, um lebendiger und stärker zu spüren, was amerikanisches Leben ist. Und im Vertrauen möchte ich sagen: wo immer man einen Schulrat findet, der vielleicht gegen die Öffnung der Schule zu öffentlichen Versammlungen jeder Art Einwendungen erhebt, dort muß man nach dem Politiker suchen, der sich dagegen auflehnt; denn das Heilmittel gegen schlechte Politik ist das Gespräch mit dem Nachbar. Der Ideenaustausch zwischen Nachbarn bringt die verhüllten Dinge unseres politischen Lebens ans Licht; und wenn es uns ge­lingt, die Nachbarn zu vereinen, auf daß sie alles, was sie wissen, freimütig aussprechen, dann wird unsere Politik, unsere kommunale Politik, unsere Staatspolitik so offenbar werden, als sie es sein sollten. Denn der größte Nachteil unserer Politik ist es, daß sie innen nicht so aussieht wie außen. Nichts aber klärt die Luft so sehr als eine freie Aussprache.«

258 Urpflanze: Brief Goethes, Palermo, 17. April 1787: «Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes (Pflanzen im> Giardino Publico>, Palermo) fiel mir die alte Gril­le wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte. Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?» -Italienische Reise, Kap. Sizilien.

Er sagte una schrieh üher diese Urpftanze: Goethe an Herder, Neapel, 17. Mai 1787: «Fer­ner muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und -organi­sation ganz nahe bin und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann . . . Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Not­wendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles Lebendige anwenden lassen.» -Italienische Reise, Zweiter Aufenthalt in Rom, Juli.

260 Nikolaus Kopernikus, 1473 - 1543; Begründer des heliozentrischen Weltsystems. Sein Werk «De revolutionibus orbium coelestium» (Vom Umlauf der Himmelskörper) 1543.

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260 Galileo Galilei, 1564 - 1642; verwendete als erster das von ihm konstruierte Fernrohr als Mittel der astronomischen Forschung und legte mit seiner modernen Physik die Grundlage für die spätere Himmelsmechanik Newtons.

Monopole Jür die Erkenntnis der Seele und das Geistes: Paulus unterschied zwischen dem »psychischen» (seelischen) und dem «pneumatischen» (geistigen) Menschen. Das achte ökumenische Konzil (von der Ostkirche nicht anerkannt) in Konstantinopel von 869 erklärte, daß der Mensch nicht zwei Seelen, sondern »eine vernunftbegabte und geistige Seele» habe. Dazu sagte der von Rudolf Steiner sehr geschätzte katholische Philosoph Otto Willmann in seinem dreibändigen Werk »Geschichte des Idealismu'», 1. Auflage Braunschweig 1894, im § 54, Der christliche Idealismus als Vollendung des antiken (Band II, Seite 111): »Der Mißbrauch, den die Gnostiker mit der paulinischen Unter­scheidung des pneumatischen und des psychischen Menschen trieben, indem sie jenen als den Ausdruck ihrer Vollkommenheit ausgaben, diesen als den Vertreter der im Ge­setze der Kirche befangenen Christen erklärten, bestimmte die Kirche zur ausdrückli­chen Verwerfung der Trichotomie.« - Diese mit geistigen Fähigkeiten begabte Seele gilt in der Scholastik als «forma corporis« (formgebende Kraft des Körpers). Von hier ist es nur ein Schritt bis zur modernen naturwissenschaftlichen Auffassung, daß die Seele nur eine Funktion des Körpers sei. Gleichzeitig mit der Ablehnung des eigenständigen menschlichen Geistes übernahm die Kirche das Monopol des Lehramtes und legte die zu glauhenden Dogmen fest. Die folgenden Konzilien, vor allem dasjenige von Trient (1547 - 63) bestätigten das kirchliche Monopol. Verfolgt wurden am konsequentesten alle Lehren, die dem Menschen einen selbständigen Geist zusprachen (Katharer, Bogu­milen). Noch der Jesuit Zimmermann sagt in seinen Artikeln gegen Rudolf Steiner (Stimmen der Zeit, 1918, S. 561): «Das Bewußtsein der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart sagt durchgehends, daß sie keine unmittelbare Geistesschau haben . . . Wir haben kein leibfreies Denken. Leib und Seele sind zu einer Natureinheit verbunden; der Geist in uns bedarf, obwohl innerlich unabhängig vom Leibe, doch als einer inneren Wirkensbedingung des leiblichen Lebens und der Organe, einiger insbesondere. Eine Psychologie, die diese erfahrungsmäßigen Überzeugungen des Menschengeschlechtes Lügen strafen will, verdient von vornherein Mißtrauen.« - In seinem dritten Artikel erklärt Zimmermann, «daß die Kirche ein solches Bearbeiten der menschlichen Seele, um Wege in die geistige Welt zu finden, verbiete«. (Formulierung von Rudolf Steiner in «Die soziale Grundforderung unserer Zeit - In geänderter Zeitlage», GA Bibl.-Nr. 186, Vortrag vom 21. Dezember 1918)

261 Solch ein Geist wie Goethe: Siehe Rudolf Steiner «Goethes Weltanschauung» (1897), GA Bibl.-Nr. 6; Taschenbuchausgabe Th 625; siehe auch Rudolf Steiner, «Goethe-Studien. Schriften und Aufsätze aus den Jahren 1884 - 1901», Dornach 1982, TB 634.

263 »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten» (1904), GA Bibl.-Nr. 10; Taschen­buchausgabe TB 600.

»Die Geheim"issenschaft im Umriß» (1910), GA Bibl.-Nr. 13; Taschenbuchausgabe TB 601.

267 Gotthold Ephraim Lessing, 1729 - 1781; siehe «Die Erziehung des Menschengeschlech­tes«, Berlin 1780. Die entscheidende Frage wird in § 94 gestellt: ». . . Aber warum könn­te jeder einzelne Mensch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?« - § 96 «Warum könnte auch ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu mei­ner Vervollkommnung getan haben, welche bloß zeitliche Strafen und Belohnungen

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den Menschen bringen können?« - § 97 «Und warum nicht ein andermal alle die, wel­che zu tun uns die Aussichten in ewige Belohnungen so mächtig helfen?» - § 98 «Wa­ium sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal sö viel weg, daß es der Mühe wiederzu­kommen etwa nicht lohnet?» - Der letzte Satz (in § 100) lautet: ... . Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?»

269 wenn aufdenMenichen ein solcher Einfluß ausgeübt wird..., daßerin . . . Hypnose versetzt wird: Siehe dazu Rudolf Steiner »Geschichte des Hypnotismus und des Somnambulis­mus», in «Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung», GA Bibl.-Nr. 52; Einzelausga­be unter dem Titel »Das Suchen nach übersinnlichen Erfahrungen«, Dornach 1972.

289 die Naturwissenschaft... würde . . . ihre Grenzen überschreiten: Siehe dazu die Rede von Du Bois-Reymond »Über die Grenzen der Naturerkenntnis» vom 14. August 1872. Siehe auch Hinweis zu S. 72.

294 was Goethe nennt Seelen"uge: »Ich sah nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegenkommen . . .» (Dich­tung und Wahrheit, 3. TI., 11. B.) - »Das Auge mag wohl der klarste Sinn genannt werden . . . Aber der innere Sinn ist noch klarer...» (Shakespeare und kein Ende, 1813 - 16). - »Wir lernen mit Augen des Geistes sehen, ohne die wir, wie überall, so besonders auch in der Naturforschung blind umhertasten» (Entwurf einer Einleitung in die vergleichende Anatomie).

307 Fiedrich Wilhelm &helling, 1775 - 1854. Siehe Rudolf Steiner »Die Rätsel der Philoso­phie« (1914), GA Bibl.-Nr. 18; Taschenbuchausgabe TB610/611; Kapitel «Die Klassiker der Welt- und Lebensanschauung».

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PERSONENREGISTER

(H - Hinweis)


Aehrenthal, Alois Freiherr von: 162 H

Blanc, Louis: 251 R

Boos, Roman: 187 H, 220

Bruno, Giordano: 244

Büchner, Ludwig: 64 H, 88, 120


Clausewitz, Carl von: 51 H


Damaschke, Adolf: 48 H

Du Bois-Reymond, Emil: 128 H


Eisner, Kurt: 176 H

Engels, Friedrich: 190


Fichte, Johann Gottlieb: 52

Fourier, Charles: 105, 205 H, 251

Friedjung, Heinrich: 162 H


Galilei, Galileo: 244, 260 H

Goethe, Johann Wolfgang von 50, 153,

159, 241ff., 258ff. H, 285 H 294 H

Grimm, Herman: 39 H ,


Handschin, Willy: 138 H

Hertwig, Oscar: 161 H


Kopernikus, Nikolaus: 244, 260 H


Lassalle, Ferdinand: 120 H

Lenin, Wladimir Iljitsch: 44 H, 52, 214, 233 f.

Lessing, Gotthold Ephraim: 267 H, 298

Liebknecht, Wilhelm: 42 H, 84, 118

Luxemburg, Rosa: 65 H, 88, 120


Marz, Karl: 21ff. H, 44, 59f., 90f., 119, 123, 146ff., 164, 168, 189f., 201

Meray, C. H. : 142 H, 185

Molt, Emil: 208 H

Mühlestein, Hans: 138 H, 140,142


Nietxsche, Friedrich: 163

Pernerstorfer, Engelbert: 83 H

Saint-Simon, Claude Henry de: 251 H

Schäffle, Albert E. F. : 142 H, 185

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: 307 H

Schmidt, Dr. : 105

Steiner, Rudolf:

Die Philosophie der Freiheit (GA 4)

229f., 235 f., 239f., 242

Wie erlangt man Erkenntnisse der höhe­

heren Welten? (GA 10) 243, 263, 274 ff., 277, 291, 300

Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13) 263, 272, 291, 300

Von Seelenrätseln (GA 21) 142,184

Die Kernpunkte der sozialen Frage (GA 23) 48,101, 131,139, 171, 173 187 f., 203, 206, 211, 215, 217 f.

Aufruf an das Deutsche Volk (in: Die Kernpunkte . . .): 38; 76 .

ein volkswirtschaftliches Prinzip: Siehe das soziale Hauptgesetz, im Aufsatz:

Geisteswissenschaft und soziale Frage (in: Luzifer-Gnosis, GA 34) 170

Vortrag Wien 14. April 1914 (in: Inneres

Wesen des Menschen und Leben zwi­schen Tod und neuer Geburt, (GA 153) 14, 56, 81, 117, 190

Die soziale Frage (GA 328) 45

Arbeiterbildungaschule: 42, 65, 84, 88,118 f., 189

Studer: 138 H

.

Tagore, Rabindranath: 252 H

Thomas, Calvin: 240f. H

Trotzki, Leo: 44 H, 52, 214, 233, 234

Vogt, Carl: 64 H, 88,120 Wilson, Woodrow: 16 H, 230ff., 240, 249ff. Wrangel, Baron von: 49

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.