GA 328

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ERSTER VORTRAG Zürich, 3. Februar 1919 Die wirkliche Gestalt der sozialen Frage, erfaßt aus den Lebensnotwendig keiten der gegenwärtig en Menschheit auf Grund geisteswissenschaftlicher Untersuchung

#G328-1977-SE007 Die soziale Frage

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ERSTER VORTRAG

Zürich, 3. Februar 1919

Die wirkliche Gestalt der sozialen Frage,

erfaßt aus den Lebensnotwendig keiten der gegenwärtig en Menschheit

auf Grund geisteswissenschaftlicher Untersuchung

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Was sich heute einschließt in das Wort soziale Frage, ist etwas, das die denkende Menschheit zu einem großen Teile intensiv seit Jahrzehnten beschäftigt, beschäftigt weil diese soziale Frage heute, man kann sagen, nicht nur drängend ist für die Entwickelung der Menschheit, sondern brennend geworden ist. Insbesondere aber darf man sagen, daß die furchtbare kriegerische Katastrophe, welche in den letzten Jahren über die Menschheit hereingebrochen ist, auch ihr düsteres Licht gewor­fen hat gerade auf das, was man die soziale Frage und die damit zusam­menhängende Menschheitsbewegung der unmittelbaren Gegenwart nennt.

Da ich das soziale Rätsel in die ganze geschichtliche Bewegung der neueren Zeit hineinstellen muß, werde ich in den nächsten Vorträgen über mancherlei Dinge, welche mit Ursache und Verlauf der furchtbaren kriegerischen Katastrophe zusammenhängen, zu sprechen haben. In diesen einleitenden Ausführungen möchte ich nur darauf hinweisen, wie schon im Ausgangspunkt des Krieges sich zeigte das Hereinkraften der sozialen Frage in jenen Angstemotionen, die deutlich wahrzunehmen sind bei denjenigen, welche am Ausgangspunkt dieses Krieges standen. Gewiß wäre vieles anders geworden im Jahre 1914, wenn diejenigen, die da oder dort wichtige Entscheidungen zu treffen gehabt haben, nicht unter der Angst gestanden hätten: Was soll werden, wenn die soziale Bewegung immer mehr und mehr sich geltend macht? Vieles, was sich in diesem sogenannten Kriege herausgestaltet hat, hat sich herausgestal­tet unter der Furcht auf der einen Seite und unter dem vollen Mißver­ständnis von seiten mancher führender Persönlichkeiten gegenüber der sozialen Frage auf der anderen Seite. Manches hätte sich anders gestaltet, wäre diese Furcht und dieses Mißverständnis nicht dagewesen. Und

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wiederum, im Verlaufe des Krieges sehen wir, wie Persönlichkeiten, die innerhalb der sozialen Bewegung sich betätigen, Hoffnungen hervorru­fen bei sich und anderen, daß gerade die Möglichkeit sich zeigen könnte, zu diesem oder jenem Ausgleich der Disharmonien zu kommen, die in so schrecklicher Weise in das Menschenleben eingezogen sind. Und jetzt, da diese tragischen Ereignisse in eine Art von Krise eingezogen sind, sehen wir, wie insbesondere in den besiegten Ländern zurückge­blieben ist als Ergebnis: drängendste Notwendigkeit, zu der sozialen Frage Stellung zu nehmen, in dasjenige einzugreifen, was als soziale For­derungen in die Zeitgeschichte eintritt.

Schon aus alledem könnte derjenige, der das Leben der Gegenwart denkend überblickt, der nur irgendwie die Neigung hat, sich bekanntzu­machen mit den Lebensgewohnheiten der Gegenwart, er könnte erse­hen, wie in der sozialen Frage gerade jetzt etwas auftaucht, womit sich alle Glieder der menschlichen Gesellschaft werden lange, sehr, sehr lange zu beschäftigen haben. Und gerade in diesem Zeitpunkt, wo, wie gesagt, in den besiegten Ländern das Leben einfach Lösungsversuche der sozialen Frage fordert, lagert jetzt etwas wie Tragik über einem gro­ßen Teile der zivilisierten Menschheit.

Überblickt man die geistigen Leistungen, die Literatur und alles ähn­liche, das seit vielen Jahrzehnten aufgetaucht ist innerhalb der Bespre­chungen, der Diskussionen, der Bestrebungen in bezug auf die soziale Frage, es ist ein Unermeßliches an Menschenarbeit, an Menschenden­ken. Aber niemals stand man den sozialen Problemen so lebendig gegen­über wie heute. Heute zeigt sich am Leben selbst, was als soziale Forde­rung auftritt. Es scheint, als ob trotz aller Anstrengungen, eindringlich­stem Denken, trotz bestem Wollen, das sich geltend gemacht hat in den letzten Jahrzehnten, doch das, was sich an Fähigkeiten herausgebildet hat, durch und durch ungenügend war, um die soziale Frage, so wie sie in ihrer wahren Gestalt heute durch das Leben vor die Menschenseele gestellt wird, zu bewältigen. Das lagert wie etwas ungeheuer Tragisches über den Bestrebungen der gegenwärtigen Menschheit. Etwas, worauf man sich so lange vorbereitet hat, es trifft gerade diejenigen, von denen man glauben möchte, daß sie maßgebend wären, anscheinend ganz un­vorbereitet.

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Wer nicht vom Gesichtspunkte theoretischer Wissenschaft, nicht aus bloßen Begriffen heraus und auch nicht aus einseitigen Parteianschau­ungen heraus in den letzten Jahrzehnten sich mit der sozialen Frage be­schäftigt hat, der hat finden können, daß die mächtigsten Lebenswider­sprüche gerade auf diesem Gebiete immer zutage getreten sind. Und vielleicht ist der folgende einer der bemerkenswertesten Widersprüche, die auf dem Gebiete des sozialen Lebens zutage getreten sind. Vieles hat man diskutieren hören, über vieles hat man lesen können durch Leute, die vom Leben selbst hineingestellt waren in die moderne soziale Bewe­gung. Überall hatte man, gerade wenn man vielleicht mitten drinnen stand in der Diskussion, mitten drinnen stand in dem Wollen der moder­nen Arbeiterschaft selbst, überall hatte man das Gefühl: Ja, da wird mancherlei gesprochen, da wird über viele Fragen, über mancherlei Lebenskräfte gesprochen. Man versucht, diesen oder jenen Impulsen Richtungen zu geben. Aber in dem, was man nennen könnte soziales Wollen, liegt noch etwas ganz, ganz anderes als das, was da ausgespro­chen wird. Kaum irgendeiner Lebenserscheinung gegenüber konnte man so deutlich das Gefühl haben: das mehr oder weniger Unterbe-wußte, Unausgesprochene, spielt eine größere Rolle als das, was in scheinbar klare Begriffe, in nüchterne Diskussionen hineinverlegt wor­den ist. Hier ist der Punkt, wo man den Anhalt dafür finden kann, nicht zu verzweifeln bei den Versuchen, gerade von einem bestimmten Ge­sichtspunkte aus den sozialen Rätseln sich zu nähern.

Ich habe ja hier in Zürich, in anderen Städten der Schweiz, öfter ge­rade über Fragen der Geisteswissenschaft sprechen dürfen. Vom Stand­punkte dieser geisteswissenschaftlichen Forschung suchte ich niich auch seit Jahrzehnten den sozialen Rätseln zu nähern. Hört man heute man­che, die sich Praktiker dünken, dann könnte man gewiß verzweifeln daran, irgend etwas Ersprießliches leisten zu können für die einschlägi­gen Fragen vom Gesichtspunkte der bloßen geistigen Forschung aus. Allein gerade das Widerspruchsvolle, auf das ich hinzudeuten habe in den Bestrebungen innerhalb des sozialen Lebens, das treibt diese Ver­zweiflung wieder weg. Denn man sieht, wie wichtige Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Bewegung lächeln, wenn die Rede darauf kommt, man wolle durch diese oder jene geistigen Bestrebungen etwas beitragen

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zur Lösung der sozialen Frage; sie belächeln das als Ideologie, als eine graue Theorie. Aus dem Gedanken heraus, aus dem bloßen Geistesleben heraus, so meinen sie, werde gewiß nichts beigetragen werden können zu den brennenden sozialen Fragen der Gegenwart. Aber sieht man ge­nauer zu, dann drängt es sich einem auf, wie der eigentliche Nerv, der eigentliche Grundimpuls der modernen, gerade proletarischen Bewe­gung nicht in dem liegt, wovon der heutige Proletarier spricht, sondern gerade liegt in Gedanken.

Die moderne proletarische Bewegung ist, wie vielleicht noch keine ähnliche Bewegung der Welt - wenn man sie genauer anschaut, zeigt sich dies im eminentesten Sinne -, eine Bewegung aus Gedanken ent­sprungen. Dies sage ich nicht bloß wie ein Aperçu. Wenn es mir gestat­tet ist, eine persönliche Bemerkung einzufügen, so sei es diese: Ich habe jahrelang innerhalb einer Arbeiterbildungsschule in den verschieden­sten Zweigen proletarischen Arbeitern Unterricht erteilt. Ich habe ken­nengelernt, was in der Seele des modernen proletarischen Arbeiters lebt und strebt. Von da ausgehend habe ich kennengelernt, was in den Ge­werkschaften der verschiedenen Berufe und Berufsrichtungen lebt. Also nicht bloß vom Gesichtspunkte theoretischer Erwägungen, wie in einem Aperçu, ist das ausgesprochen, was ich sagen will, sondern als Er­gebnis wirklicher Lebenserfahrung.

Wer - was bei den führenden Intellektuellen leider so wenig der Fall ist -, wer die moderne Arbeiterbewegung da kennengelernt hat, wo sie von Arbeitern getragen wird, der weiß, welch wunderbares Phänomen dieses ist, wie eine gewisse Gedankenrichtung, eine gewisse Gedanken-strömung die Seele gerade dieser Menschen in der intensivsten Weise er­griffen hat. Das ist ja das, was es so schwierig macht heute, zu den sozi­alen Rätseln Stellungzunehmen, daß eine so geringe Möglichkeit des Ver­ständnisses, des gegenseitigen Verständnisses der Klassen da ist. Die bür­gerlichen Klassen können heute sich so schwer in die Seele des Proletari­ers hineinvers etzen, können so schwer verstehen, wie in der, ich möchte sagen, noch undekadenten Intelligenz, in der elementarischen Intelligenz Platz greifen konnte ein solches - mag man nun zum Inhalte stehen, wie man will -, ein solches, an menschliche Denkforderungen höchste Maß­stäbe anlegendes System, wie das Denksystem von Karl Marx.

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Gewiß, Karl Marxens Denksystem kann von dem einen angenom­men, von dem anderen widerlegt werden, vielleicht das eine mit densel­ben guten Gründen wie das andere. Es konnte revidiert werden von de­nen, die das soziale Leben weiter betrachten nach Marxens und seines Freundes Engels Tode. Von dem Inhalt dieses Systems will ich gar nicht sprechen, von dem Inhalt dieses Gedankensystems. Der scheint mir das allerwenigst Bedeutungsvolle. Das Bedeutungsvollste erscheint mir, daß die Tatsache vorliegt: Innerhalb der Arbeiterschaft selbst, innerhalb der proletarischen Welt wirkt als mächtigster Impuls ein Gedankensy­stem. Man kann geradezu die Sache in der folgenden Art aussprechen: Eine praktische Bewegung, eine reine Lebensbewegung mit alleralltäg­lichsten Menschheitsforderungen stand noch niemals so fast ganz allein auf einer rein wissenschaftlichen, gedanklichen Grundlage wie diese moderne Proletarierbewegung. Sie ist gewissermaßen sogar die erste derartige Bewegung der Welt, die sich rein auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hat. Dennoch, wenn man wiederum alles das nimmt

- ich deutete es schon an -, was der moderne Proletarier über sein eigenes Meinen und Wollen und Empfinden zu sagen hat, so scheint einem das bei eindringlicher Lebens beo bachtung durchaus nicht als das Wichtige.

Nun haben viele in einer sehr scharfsinnigen Weise gezeigt, wie diese moderne proletarische soziale Bewegung heraus entstanden ist aus der Menschheitsentwickelung der letzten Jahrhunderte. Scharfsinnig ge­zeigt worden ist, wie insbesondere durch die Entwickelung der moder­nen Technik, durch die Entwickelung des modernen Maschinenwesens eigentlich das Proletariat im modernen Sinne erst geschaffen worden ist, wie durch den gewaltigen wirtschaftlichen Umschwung der neueren Zeit eben die moderne soziale Frage entstanden ist. Was andere in einer so scharfsinnigen Weise gerade über diese Entstehung der sozialen Frage gesagt haben, ich will es hier nicht wiederholen. Aber mir scheint es notwendig, gerade auf das hinzuweisen, was die vorhandenen Lebenswidersprüche in dieser modernen proletarischen Bewegung cha­rakterisiert. Gewiß ist es richtig, daß ohne den gewaltigen Umschwung, ohne die technische Revolution der neueren Zeit die moderne soziale Bewegung nicht in der Gestalt hätte kommen können, in der sie nun ein­mal heraufgezogen ist. Allein so intensiv es auch behauptet wird, daß

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bloß aus wirtschaftlichen Impulsen, aus ökonomischen Kräften, aus Klassengegensätzen, aus Klassenkämpfen heraus sich dasjenige ergeben habe, was im sozialen Leben heute sich zeigt, vor einer eindringlichen Seelenbeobachtung des modernen Proletariers hält die Behauptung, daß nur wirtschaftliche Gegensätze, nur wirtschaftliche Kräfte dabei im Spiele seien, nicht stand. Gerade derjenige, der gewöhnt ist aus der Gei­steswissenschaft heraus, bei allem Menschlichen hinzublicken auf die Feinheiten und Intimitäten des seelischen Lebens, die dem Träger dieses Seelenlebens oftmals selbst nicht bewußt sind, gerade dem ist es klar, daß nicht das, was sich technisch, wirtschaftlich herausgebildet bat, das Wesentliche ist in der Gestaltung der heutigen sozialen Frage, sondern daß die Tatsache bedeutungsvoll ist, daß aus ganz anderen Lebenszu­sammenhängen heraus gewisse Menschen zu dem Betrieb der Maschine in der Art des großkapitalistischen Betriebes hingestellt worden sind, und daß durch dieses Hinstellen in diesen Menschen etwas erwacht ist, was nicht in unmittelbarem Zusammenhange mit dem steht, was wirt­schaftlich um sie ist, und in das sie wirtschaftlich verstrickt sind. Was da erwacht ist, das hängt vielmehr zusammen mit den tiefsten Lebensge­wohnheiten der modernen Menschheit.

Wer die Geschichte nur so betrachtet, wie es nun auch die sozialisti­sche Wissenschaft der neueren Zeit wiederum tun will, daß man immer sagt, das Folgende gehe aus dem Vorhergehenden hervor, Wirkung führe immer auf eine Ursache zurück, der berücksichtigt nicht, daß Wandelkräfte, Umgestaltungs kräfte in der lebendigen Wirklichkeit vor­handen sind, die den bloßen Zusammenhang von Ursache und Wir­kung, ich möchte sagen: des nüchternen, trockenen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, an bestimmten Punkten dieser Entwicke­lung revolutionierend gestalten.

Sehen wir hin auf die einzelne menschliche Entwickelung. Wir kön­nen sie, wenn man so sagen darf, sukzessive verfolgen, meinetwillen von der Geburt bis zum siebenten Lebensjahre ungefähr, wo der Zahnwech­sel eintritt. Da ist eine mächtige Revolution in der Entwickelung des menschlichen Organismus. Man muß den Blick hinrichten auf das, was da gerade in dieser Periode des Lebens geschieht. Da ist nicht bloß ein geradliniger Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Dann geht es

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wiederum vom siebenten bis annähernd in das vierzehnte, fünfzehnte Jahr hinein so, daß man eine geradlinige Entwickelung von Ursache und Wirkung verfolgen kann. Dann aber folgt wiederum eine revolutio­nierende Gestaltung im menschlichen Organismus bei der Geschlechts-reife. Weniger bemerkbar sind später solche Umwandlungen, aber sie sind auch da. Wie so im einzelnen menschlichen Leben solche Dinge sich abspielen, welche zuschanden machen das immer und immer wieder­holte bequeme, aber durchaus unrichtige Wort, die Natur mache keine Sprünge, wie im einzelnen Organismus solche Sprünge vorhanden sind, so auch in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit. Einfach haben sich innerhalb derjenigen Zeit, die sich etwa begrenzen läßt von der Mitte des 14., 15. Jahrhunderts bis heute, die weiter laufen wird, mächtige Umwandlungsprozesse im menschlichen Bewußtsein selber abgespielt.

So wie der einzelne menschliche Organismus ein anderer ist, wenn er geschlechtsreif geworden ist, als er vorher war in einer gewissen Rich­tung, so ist der menschliche soziale Organismus etwas anderes gewor­den, nachdem die elementaren, grundlegenden, nicht bloß innerhalb der geraden Linie von Ursache und Wirkung aufzufindenden Impulse sich geltend gemacht haben. Wer genauer das geschichtliche Leben zu beob­achten vermag, der weiß, daß vor diesem Zeitraum in der Menschheit vieles instinktiv sich abgespielt hat, was in diesem Zeitraum eintritt in die volle Bewußtheit, was aufgenommen werden muß von der vollen Bewußtheit. Daher nimmt die soziale Bewegung in dieser Zeit, für die sie besonders charakteristisch ist, die Gestalt an, die in dem ja oft gebrauchten Wort, das nur nicht intensiv genug charakterisiert wird, zu­tage tritt: proletarisches Klassenbewußtsein. Bei diesem Wort «proleta­risches Klassenbewußtsein» sollte man viel weniger darauf Rücksicht nehmen, daß es hindeutet auf den notwendigen Kampf, in den sich der Proletarier gegen die anderen Klassen verstrickt glaubt, man sollte viel­mehr darauf hinweisen, daß etwas eingezogen ist in die Seele des Prole­tariers in einem Zeitalter, in dem soziale Instinkte, die früher gewaltet haben, in soziales Bewußtsein sich umgestalten. Früher waren Klassen-instinkte vorhanden. Nunmehr liegt zugrunde der sozialen Bewegung Klassenbewußtsein.

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Dieses Klassenbewußtsein, es ist, ich möchte sagen, nur der Oberflä­che nach bezeichnet, wenn man den Wortlaut ernst nimmt: proletari­sches Klassenbewußtsein. Das, was sich in diesem Wort «proletarisches Klassenbewußtsein» versteckt, das ist etwas ganz anderes. Und es läßt sich vielleicht, wenn man kurz eine wichtige Tatsache charakterisieren will, diese Tatsache so charakterisieren: Innerhalb alter Berufszusam­menhänge, wie sie sich zum Beispiel im alten Handwerk oder in anderen Berufen zum Ausdrucke brachten, lagen gewisse soziale Instinkte, die in die menschliche Seele hereinleuchteten, die in der menschlichen Seele krafteten. Diese Instinkte konnten wirken, so daß sie ein gewisses per­sönliches Band bildeten zwischen dem, was der Mensch denkt, fühlt, will, was er für seine Ehre, für seine Freude, für sein ästhetisches Bedürf­nis hält. Die Arbeit selbst gab den Menschen für alle diese Dinge etwas.

Als der Mensch an die Maschine gestellt worden war, als er in das durchaus unpersönliche Getriebe des modernen Kapitalismus hineinge-stellt wurde, wo nicht mehr klar durchsichtig für die verfertigte Men­schenleistung das Entgelt auftritt, sondern wo die Vermehrung des Kapitals durch das Kapital das Wesentliche ist, also der Mensch hinein­gestellt worden ist auf der einen Seite in das Maschinengetriebe, auf der anderen Seite in den modernen Kapitalismus und seine Wirtschaftsord­nung, da war er herausgerissen aus denjenigen Welt- und Lebenszusam­menhängen, die ihm etwas gaben für sein Persönliches, für seine persön­liche Freude, für seine persönliche Ehre, für seine persönlichen Willens-impulse. Er war gewissermaßen auf die Spitze seiner Persönlichkeit ge­stellt neben der Maschine, innerhalb der rein objektiven, unpersön­lichen Zirkulation von Ware und Kapital, die ihn menschlich-persönlich im Grunde nichts anging. Aber die menschliche Seele will immer in einer gewissen Weise voll wirken, will immer ihren ganzen Umfang eigentlich entfalten. Und so wurde der Arbeiter, der entrissen wurde aus den charakterisierten anderen Lebenszusammenhängen, der hineinge­stellt wurde in einen Zusammenhang, der losgerissen ist von der voll-lebendigen Menschlichkeit, darauf hingewiesen, über seine Menschen­würde nachzusinnen, seine Menschenwürde nachzuempfinden

Und so verbirgt sich hinter dem, was man proletarisches Klassenbe­wußtsein nennt, in der modernen geschichtlichen Entwickelung in

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Wahrheit ein Heraufdämmern, ein Heraufglänzen eines vollen, aus dem Menschenwesen, aus der menschlichen Seele selbst geschöpften Men­schenbewußtseins. Hinlenkung des Bewußtseins auf die Frage: Was bin ich als Mensch? - auf die Frage: Was bedeute ich als Mensch in der Welt? - das zu empfinden hatte derjenige Gelegenheit, der als Proleta­rier hingestellt war neben die den Menschen verleugnende Maschine, neben das den Menschen verleugnende Kapital.

Da glaube ich doch, daß die ganze Betrachtung der sozialen Frage auf einen anderen Boden gestellt wird, wenn man bedenkt, daß, während die übrigen Menschen mehr oder weniger aus Lebenszusammenhängen heraus, die nicht so radikal Revolutionierendes brachten, aus den alten Instinkten in das moderne Bewußtsein hineingetrieben worden sind, der moderne Proletarier radikal in die bewußte Auffassung seiner selbst hin-eingetrieben wurde aus der früher bloß instinktiven Auffassung der Menschenwürde und der sozialen Stellung des einzelnen Menschen in der menschlichen Gesellschaft.

Nun fiel dieses Eintreten des Menschheits bewußtseins in die Seele des Proletariers zusammen mit allerlei anderem, das ja vorging in der menschlichen Entwickelung. Es fiel zusammen mit einer gewissen Stufe des menschlichen Denkens, mit einer gewissen Stufe der menschlichen Entwickelung. Man kennt heute im Grunde genommen die geschicht­liche Entwickelung der Menschheit sehr schlecht. Denn diese geschicht­liche Entwickelung der Menschheit, sie wird ja im Grunde genommen immer von der einen Seite oder von der anderen Seite parteiisch darge­stellt. Wer unbefangen hinblickt auf die Entwickelung der Menschheit, dem stellt sich oftmals etwas ganz anderes heraus als das, was üblich ist zu sagen über diese Entwickelung der Menschheit. So kann man auch sagen: Wer heute auf das hinsieht, was gegenwärtig am meisten Autori­tät genießt, die Wissenschaft, der weiß, daß auch das, was man heute ge­wissermaßen mit absoluter Objektivität belegt, sich entwickelt hat, aus irgend etwas hervorgegangen ist und deutlich in sich die Kennzeichen davon trägt, daß es auch wiederum andere Gestalten annehmen werde. Sieht man auf diese Wissenschaft hin in ihren glänzenden Methoden, in ihren unendlich gewissenhaften Forschungsweisen, auf diese Wissen­schaft, die geradezu besonders geeignet ist, die Natur und ihre Erscheinungen

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zu durchdringen, so merkt man : das Eindringlichste an ihr, was sie zu sagen hat, ist, daß sie im Grunde genommen recht wenig geeignet ist, zu ergreifen das tiefste, intimste menschliche Fühlen und Empfin­den, daß sie recht wenig zu sagen hat über das, was der Mensch eigent­lich wissen will, wenn er seinen Blick richtet auf Selbsterkenntnis und Selbsterfassung. Auch die Wissenschaft hat sich in gewisser Weise los-gerissen vom Menschen. Sie trägt keinen persönlichen Charakter mehr, und sie spricht auch nicht mehr von dem, was im Menschen das Gei­stige, das Übersinnliche, das Ewige ist. Spricht sie davon, so zeigt sie deutlich, daß sie in der Art, wie sie heute Mode ist, nicht die entspre­chenden Methoden, nicht die entsprechenden Forschungsweisen hat.

Man kann von dieser Gestalt der Wissenschaft zurückblicken auf jene Zeiten, wo innerhalb der Menschheitsentwickelung das Leben noch in vollem Zusammenhang zeigte religiöse Erfassung der Welt, religiöses Empfinden und wissenschaftliches Anschauen. Die beiden traten aus­einander. Was einheitlich war, spaltete sich ungefähr in derselben Zeit, in der jene objektive Revolution heraufkam, die im Maschinenzeitalter und im modernen Kapitalismus ihren Ausdruck findet. Damals war es auch, als diese wirtschaftliche Umwälzung geschah, damals war es auch, wo gewissermaßen die religiöse Entwickelung stillestehen wollte, nicht mitmachen wollte das, was der wissenschaftlichen Entwickelung sich ergab. Damals, als man die Galilei, die Giordano Bruno verurteilte, da blieb in einer gewissen Weise das innerste menschliche Empfinden und Fühlen zurück vor demjenigen, was aus dem Menschen heraus über die Natur, über die Welt überhaupt sprechen will. Der Mensch verlor den Glauben daran, daß er durchdringen könne sein Wissen mit religiöser Glut, mit religiöser Wärme. Heute ist man stolz darauf, daß man die Wissenschaft freihalten kann von alldem, was man nur der Religion zu-erteilen will. In diese Zeit hinein, wo die Wissenschaft immer mehr und mehr religionsfrei, geistfrei werden wollte, in diese Zeit hinein fällt die Entwickelung des proletarischen Bewußtseins, fällt die Ergreifung des Menscbheitsbewußtseins durch das Proletariat.

Dieses Proletariat drängte hin zum modernen Denken, zur modernen Intelligenz, zum Erfassen desjenigen, was erfaßt werden kann mit den menschlichen Geisteskräften. Es fand aber eine Wissenschaft, die nicht

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mehr in sich die Stoßkraft hatte, den ganzen Menschen zu ergreifen und zu erfüllen. Und das hat der Seele des modernen Proletariers die beson­dere Gestalt gegeben. Das geistige Bewußtsein der Menschheit, das gei­stige Bewußtsein der führenden Klassen, die es in früheren Zeiten waren, hatte seine Stoßkraft verloren, hatte der Menschheit eine mehr oder weniger für die menschlichen Angelegenheiten abstrakte Wissen­schaft geliefert. So sahen sich die Seelen des Proletariats der neueren Zeit einer Wissenschaft gegenübergestellt, die nicht das Vertrauen erweckte, daß durch sie etwas gegeben werden kann, was als wahrste innerste Geistwirklichkeit in der äußeren sinnlichen und wirtschaftlichen Tätig­keit lebt. Eine solche Wissenschaft hatte der Proletarier vor sich, einer solchen Wissenschaft sah er sich gegenübergestellt. In sie lebte er sich ein. Und so trat in seiner Seele etwas aus rein geistigen Entwickelungs-untergründen auf, was heute wie als eine Selbstverständlichkeit, wie als eine absolute Wahrheit genommen wird, was aber nur in seiner wahren Wesenheit erkannt wird, wenn man einen Blick hat für das, was in den Seelen der Menschen vor sich geht. Was den tieferen Beobachter am meisten berührt, das ist die Art und Weise, wie der moderne Proletarier über die eigentlichen geistigen Angelegenheiten, über Sitte, Sittlichkeit, Kunst, Religion, selbst über Wissenschaft innerhalb der Menschheits­entwickelung redet, daß er alle diese Dinge mit dem Ausdruck Ideologie umfaßt. Das berührt einen am allertiefsten. Insbesondere berührt es einen tief, wenn man vernimmt, dieser moderne Proletarier glaube sich klar sein zu können, daß alles das, was der Mensch denkt, was er künstle­risch ausbildet, was er religiös empfindet, eigentlich nur wie ein aus der menschlichen Seele heraus gebildetes Scheinbild, eine Ideologie ist. Die wahre Wirklichkeit aber sind die wirtschaftlichen Kämpfe, sind die öko­nomischen Vorgänge; die stellen eine Wirklichkeit dar. Das, was sie wie einen Abglanz hineinwerfen in die menschliche Seele, das ist geistige Entwickelung der Menschheit, das ist Ideologie. Das wirft höchstens wiederum einige Impulse zurück in die rein materielle Wirklichkeit des ökonomischen Geschehens. Aber es ist auch, wenn es wieder zurück-wirkt in das ökonomische Geschehen, doch ursprünglich aus diesem ökonomischen Geschehen herausgewachsen.

Diese Stellung zum geistigen Leben, die lebt in der modernen proleta­rischen

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Frage als etwas viel Wesentlicheres, als man denkt. Und warum, warum ist Kunst, Sitte, Sittlichkeit, Religion, sonstiges geistiges Leben dem modernen Proletarier zur Ideologie geworden? Weil er empfangen hat von denjenigen, die früher die führenden Kreise waren, eine Wissen­schaft, die nicht mehr einen lebendigen Zusammenhang unterhalten will zu der wirklichen Geistwelt, eine Wissenschaft, die nicht mehr aufweist irgendeinen Impuls, der zu wirklicher Geistigkeit führt. Eine solche Wissenschaft kann höchstens zu abstrakten Begriffen als Naturgesetze führen. Sie kann auch zu nichts anderem führen, als zu einer Anschau­ung des Geistigen als Ideologie. Sie zeitigt Methoden, die eben nur ge­eignet sind auf der einen Seite für die rein objektive, außermenschliche Natur, und innerhalb des Menschenlebens nur für das wirtschaftliche Geschehen. Als der moderne Proletarier diese Wissenschaftsrichtung übernehmen mußte, da wurde sein Blick wie durch eine mächtige sugge­stive Kraft hingelenkt auf das, worauf man durch solche Wissenschaft nur hingelenkt werden kann, auf das Wirtschaftsleben. Und er fing an zu glauben, daß dieses Wirtschaftsleben die einzige Wirklichkeit sei, wäh­rend die Wahrheit die ist, daß das, was ihm die bürgerlichen Klassen als Wissenschaft übergeben haben, eben einzig und allein sich richten kann auf das wirtschaftliche Leben.

Das aber war ein ungeheuer Ausschlaggebendes, denn das gab der modernen proletarischen Bewegung ihren eigentlichen charakteristi­schen Impuls. Man kann sehen, wie altes Instinktives in dieser proletari­schen Bewegung noch vorhanden war, selbst bis in die letzten Jahr­zehnte des 19. Jahrhunderts hinein. Man findet da in einzelnen proletari­schen Programmen noch solche Punkte, wo gesprochen wird von einem Bewußtsein der Menschenwürde, von der Inanspruchnahme von Rech­ten, die zu solcher wahren Menschenwürde führen. Seit den neunziger Jahren aber sehen wir unter dem Einfluß derjenigen Impulse, von denen ich eben gesprochen habe, wie des Proletariers und seines gelehrten Ver­fechters Blick wie durch eine mächtige suggestive Kraft bloß hingelenkt worden ist auf das Wirtschaftsleben. Und nun glaubt er nicht mehr, daß anderswo in einem Geistigen oder Seelischen ein Anstoß liegen könne zu dem, was notwendig eintreten müßte auf dem Gebiete der sozialen Bewegung. Er glaubt allein, daß durch die Entwickelung des ungeistigen,

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unseelischen Wirtschaftslebens der Zustand herbeigeführt werden kann, den er als den menschenwürdigen empfindet. So wurde sein Blick darauf gerichtet, das Wirtschaftsleben selber so umzugestalten, daß ihm genommen werde all der Schaden, der von der privaten Unternehmung, von dem Egoismus des einzelnen Arbeitgebers herrührt und der Un­möglichkeit des einzelnen Arbeitgebers, gerecht zu werden den Ansprü­chen auf Menschenwürde von seiten der Arbeitnehmer. Und so fing der Proletarier an, das einzige Heil zu sehen in der Überführung alles Privat­besitzes an Produktionsmitteln in gemeinschaftlichen Betrieb oder gar gemeinschaftliches Eigentum. Dabei liegt zugrunde das, was sich allein ergeben konnte, wenn man gewissermaßen den Blick abgelenkt hatte von allem Seelischen und Geistigen, wenn das Geistige rein zur Ideolo­gie geworden war, wenn man eine Methode hatte und auf diese als eine rein wissenschaftliche fußte, die doch nur hingerichtet sein konnte auf den rein ökonomischen Prozeß.

Nun stellte sich aber eine sehr merkwürdige Tatsache heraus, die eben zeigt, wieviel Widerspruchsvolles in dieser modernen proletarischen Bewegung liegt. Der moderne Proletarier glaubt, daß die Wirtschaft, das Wirtschaftsleben selbst sich so entwickeln müsse, daß ihm zuletzt sein volles Menschenrecht werde. Um dies volle Menschenrecht, so wie er es anschaut, kämpft er. Allein innerhalb seines Strebens tritt etwas auf, was eben niemals aus dem wirtschaftlichen Leben allein als eine Folge auftreten kann. Das ist eine bedeutende, eine eindringliche Spra­che redende Tatsache, daß geradezu im Mittelpunkte der verschiedenen Gestaltungen der sozialen Frage aus den Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen Menschheit heraus etwas liegt, von dem man glaubt, daß es aus dem Wirtschaftsleben selbst hervorgehe, dieses aber niemals aus dem Wirtschaftsleben allein hervorgehen konnte, was vielmehr in der geraden Fortentwickelungslinie liegt, die über das alte Sklavenwesen durch das Leibeigenwesen der Feudalzeit zu dem modernen Arbeitspro­letariat heraufführt. Wie auch immer die Warenzirkulation, die Geldzir­kulation, das Kapitalwesen, der Besitz, das Wesen von Grund und Boden und so weiter sich gestaltet haben, innerhalb dieses modernen Lebens hat sich etwas herausgebildet, was nicht deutlich ausgesprochen wird, auch von dem modernen Proletarier nicht ganz deutlich ausgesprochen

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wird, was aber nur allzu deutlich empfunden wird als der eigentliche Grundimpuls seines sozialen Wollens. Das ist dieses : die moderne kapitalistische Wirtschaftsordnung kennt im Grunde genom­men nur Ware innerhalb ihres Zirkulationsgebietes. Sie kennt Wertbil­dung dieser Waren innerhalb des wirtschaftlichen Organismus. Und es ist innerhalb des kapitalistischen Organismus der neueren Zeit etwas zu einer Ware geworden, von dem heute der Proletarier empfindet : es darf nicht Ware sein. Aber er kann sich wissenschaftlich, da sein Blick nur auf das ökonomische Leben gerichtet ist, doch nichts anderes sagen, als : es ist Ware. Das ist nämlich seine eigene Arbeitskraft.

Wenn man einmal einsehen wird, daß hier einer der Grundimpulse der ganzen modernen sozialen Bewegung liegt, daß in den Instinkten, in den unterbewußten Empfindungen des modernen Proletariers ein Abscheu davor lebt, daß er seine Arbeitskraft dem Arbeitsunternehmer ebenso verkaufen muß, wie man auf dem Markte Waren verkauft, daß er einen Abscheu empfindet, daß auf dem Arbeitskräftemarkt nach Angebot und Nachfrage seine Arbeitskraft ihre Rolle spielt, wie die Ware auf dem Markte unter Angebot und Nachfrage, wenn man darauf kommen wird, daß dieser Abscheu vor der Ware Arbeitskraft der eigentliche Grundim­puls der modernen sozialen Bewegung ist, wenn man ganz unbefangen darauf blicken wird, daß dies eindringlich und radikal auch von den sozialistischen Theorien nicht hinlänglich ausgesprochen wird, dann wird man den Punkt gefunden haben, von dem ausgegangen werden kann in dem, was sich heute so drängend, ja brennend erweist mit Bezug auf die soziale Bewegung.

Im Altertum gab es Sklaven. Der ganze Mensch wurde wie eine Ware verkauft. Etwas weniger vom Menschen wurde verkauft, aber noch immer nahezu der ganze Mensch, in der Leibeigenschaft. Das Kapital ist die Macht geworden, die noch etwas vom Menschen als eine Ware in Anspruch nimmt, nämlich seine Arbeitskraft. Die Methoden müssen ge­sucht werden, durch die getrennt werden kann von der übrigen Waren-zirkulation die Ware Arbeitskraft. Man wird erst durchschauen, was hinter dieser Tatsache steckt, wenn man nicht suggestiv auf das Wirt­schaftsleben hinsieht, das nach ganz anderen Methoden begriffen wer­den muß als der Mensch selber, wenn man wissen wird, daß nicht aus

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diesem Wirtschaftsleben heraus, sondern aus einem ganz anderen Erle­ben im sozialen Organismus herausfließen muß die Art, wie die mensch­liche Arbeitskraft dem Charakter der Ware entzogen werden könne. Man wird einsehen müssen - und geisteswissenschaftliche Forschung wird dazu die Grundlage geben -, daß der Glaube falsch ist, man könne durch die Betrachtung des bloßen Wirtschaftssystems, auf das allein die naturwissenschaftliche Methode paßt, die Wege herausfinden, wie die Arbeitskraft des einzelnen Menschen in den sozialen Organismus sich eingliedern könne. Erst wenn man verstehen wird, daß der Glaube, Arbeitskraft gehöre dem wirtschaftlichen System an, dem anderen Glauben gleicht, dem man sich hingibt, wollte man, was im mensch-lichen Lungen- und Herzsystem, im Zirkulationssystem vor sich geht, in gleicher Art betrachten wie das, was im Nervensystem des Kopfes vor sich geht, ist man auf dem rechten Weg. Das Nerven- und Sinnessystem, wie es im Kopfe zentralisiert ist, ist im menschlichen Organismus ein eigenes, für sich bestehendes, selbständiges Glied. Was als Lungen- und Herzsystem, als Zirkulationssystem vorliegt, ist wiederum ein für sich bestehendes, selbständiges Glied. Ebenso das Stoffwechselsystem. Das Genauere können Sie in meinem Buch «Von Seelenrätseln» nachlesen. Das ist das Charakteristische im menschlichen Organismus, daß seine Systeme gerade dadurch ihre rechte Entfaltung und Wirksamkeit entfal­ten, daß sie nicht zentralisiert sind, sondern daß sie nebeneinander beste­hen und frei zusammenwirken. Kann man heute nicht einmal in dieser umfassenden, eindringlichen Weise den menschlichen Organismus be-greifen, so kann man mit der Wissenschaft, die noch nicht reformiert ist, die aber in geisteswissenschaftlichem Sinne reformiert werden muß, den sozialen Organismus erst recht nicht verstehen. Man glaubt heute, der menschliche Organismus ist etwas Zentralisiertes, während er eine Drei­gliedrigkeit ist.

Und so ist auch der soziale Organismus eine Dreigliedrigkeit. Was heute unter einer mächtigen Suggestion als einziger sozialer Organis­mus angesehen wird, das Wirtschaftssystem, das ist nur ein Glied. Ein anderes Glied ist dasjenige, aus dem heraus entspringen muß das Ver­ständnis für die Funktion der menschlichen Arbeitskraft in der ganzen Struktur des sozialen Organismus. Die beiden Systeme müssen nebeneinanderstehen.

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Und der Charakter der Ware wird der Arbeitskraft nur im falschen neuzeitlichen Denken verliehen.

Und dieses engherzige neuzeitliche Denken, das hat auf der anderen Seite das dritte, das sich selbständig in den ganzen sozialen Organismus hineinstellen muß, das geistige Leben, zur bloßen Ideologie gemacht. Die theoretische Ansicht, daß das Geistige bloß Ideologie ist, sie ist das Ungefährlichste. Das Wichtigste ist, daß in einem Menschen, der die Anschauung hat, das Geistige wurzele nicht in einer allen Dingen zu­grunde liegenden geistigen Wirklichkeit, sondern in einer bloßen Ideo­logie, nicht die geistige wirkliche Stoßkraft vorhanden sein kann. Ein solcher Mensch hat kein Interesse daran, dem geistigen Leben seine rich­tige Rolle in der Welt zuzuerteilen.

Betrachtet man gerade nach den Lebensnotwendigkeiten der neueren Zeit das, was sich auf dem Gebiete des proletarischen Bewußtseins abge­spielt hat, so findet man, daß man nicht einen Einblick gewinnen konnte in die drei Glieder des sozialen Organismus. Der ist einem verlorenge­gangen. Nach Verstaatlichung strebt man, weil man glaubt, daß ein ein­ziger sozialer Organismus alles übernehmen könne.

Geisteswissenschaftliches Bewußtsein muß einen weiteren Horizont eröffnen, als heute selbst in dieser brennenden Zeit von berufenen Füh­rern oftmals gegeben wird mit Bezug auf die soziale Frage. Es muß hin­gewiesen werden darauf, daß nicht nur Neues gewollt werden soll, son­dern daß wir nötig haben, neu zu denken, daß wir nötig haben nicht nur eine wissenschaftliche Betrachtung des sozialen Lebens, welche die tra­ditionelle Wissenschaft übernimmt, sondern daß wir nötig haben den Neuaufbau einer Wissenschaft, die neue Gedanken, die erst Wirklich­keitsgedanken sein werden vom sozialen Organismus, in das Bewußt­sein der Menschheit hinein bringt.

Das wird dazu führen müssen, daß die Gründe für soviel Unglück in der neueren Zeit einmal durch das Menschheitsbewußtsein beseitigt werden. Auch derjenige, der nicht theoretisch, sondern aus dem Leben heraus wirkt, wie ich glaube, es auch in dieser Stunde getan zu haben, auch der wird heute abgefertigt und unschädlich gemacht zumeist von denjenigen, die sich die eigentlichen Praktiker denken, indem sie sagen :

Ach, von solchen theoretischen Sachen kommt doch nichts irgendwie

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Ersprießliches in die Welt. Diese «Lebenspraktiker», die die wahren Ab­straktlinge sind, diese Lebenspraktiker, deren Praxis in nichts anderem besteht als in der Beschränkung ihres Sinnes auf die engste Grenze, diese Lebenspraktiker sind es, die vielfach das Unglück und die Katastrophe der neueren Zeit herbeigeführt haben. Werden sie weiter wirtschaften können auf allen Parteirichtungen, wird das Unglück nicht zu Ende ge­hen, wird das Unglück sich nur ins Unermeßliche erweitern. Die wirk­lichen Lebenspraktiker müssen ihre gebührende Stellung in der öffent­lichen Wirksamkeit erhalten, diejenigen, die von den Entwickelungs-möglichkeiten sprechen, die im sozialen Organismus räumlich und in der zeitlichen Entwickelung liegen, wie zum Beispiel im einzelnen menschlichen Organismus. Diese wahren Lebenspraktiker, die aus der tiefer liegenden Wirklichkeit heraus sprechen, die sind es, auf welche in Wahrheit heute gerechnet werden sollte. Sie sind es, die nicht zu ver­zweifeln brauchen an ihrem eigenen Wissen. Sie sehen allerdings zu ihrem Leidwesen und zu ihrem Bedauern, wie das, was die Lebensprak­tiker, auch die sozialistischen Lebenspraktiker, auf der anderen Seite einzig und allein tun zu müssen glauben, wie das nirgends zu etwas ande­rem als zum Raubbau des Lebens führen kann. Derjenige, der aus dem Geiste heraus als Lebenspraktiker wirken will, will aus der Wirklichkeit für lebensfähige Wirklichkeit streben.

In welchem Sinne Lösungsversuche sich ergeben können für die Fra­gen, die ich versucht habe, heute aus den neueren Lebensgewohnheiten heraus in einer wahren Gestalt darzustellen, wie daraus Lösungsversu­che sich ergeben können auf Grundlage einer Wirklichkeitsuntersu­chung des sozialen Lebens und der gesellschaftlichen Struktur der Menschheit, davon werde ich mir dann erlauben, übermorgen hier zu sprechen.

ZWEITER VORTRAG Zürich, 5. Februar 1919 Die vorn Leben geforderten wirklichkeitsgemäßen Lösungsversuche für die sozialen Fragen und Notwendig keilen auf Grund geisteswissenschaftlicher Lebensauffassung

#G328-1977-SE024 Die soziale Frage

#TI

ZWEITER VORTRAG

Zürich, 5. Februar 1919

Die vorn Leben geforderten wirklichkeitsgemäßen Lösungsversuche

für die sozialen Fragen und Notwendig keilen

auf Grund geisteswissenschaftlicher Lebensauffassung

#TX

Mit Bezug auf meine Ausführungen möchte ich die Bitte aussprechen, diese vier Vorträge durchaus als ein Ganzes zu betrachten, so daß das, was in einem der Vorträge vorgebracht wird, keineswegs aus sich selbst wird immer vollständig beurteilt werden können. Das Thema, das in Be­tracht kommt, ist ja ein so umfassendes, daß es sich wirklich nur bewälti­gen läßt in einer Anzahl von Vorträgen.

Im heutigen Vortrage möchte ich vorläufig skizzenweise sprechen von denjenigen Lösungsversuchen, die aus einer wirklichen Erkenntnis der Wesenheit des sozialen Organismus kommen können, jene Lösungsmöglichkeiten der sozialen Frage, welche nicht einseitig aus den Forderungen dieser oder jener Menschenklasse, dieses oder jenes Standes hervorgehen, sondern welche hervorgehen aus einer wirklich­keitsgemäßen, aus einer sachgemäßen Beobachtung der Entwickelungs-kräfte der Menschheit, insbesondere derjenigen Entwickelungs kräfte der Menschheit, die in ausgesprochenstem Maße die Entwickelungs­kräfte der Gegenwart und der nächsten Zukunft dieser Menscbheit sind. Versucht man das, was man heute die soziale Frage nennt, irgendwie einer Lösung entgegenzubringen aus den Aspirationen, den Forderun­gen eines Standes, einer Klasse heraus, überhaupt aus irgendeinem Teil des sozialen Organismus heraus, so kann man gar nicht anders als durch das, was man vollführt auf der einen Seite, Wirkungen hervorzurufen für andere Klassen, für andere Faktoren des sozialen Organismus, die in irgendeiner Weise entwickelungshemmend oder die Gesundheit der Lebensverhältnisse untergrabend sind.

Für unsere Zeit gilt dies, was ich als Wahrheit hier andeute und im Laufe der Vorträge erhärten will: daß das ganze moderne Leben, oder man kann eben auch sagen, der moderne soziale Organismus, eine ganz

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bestimmte Gestaltung erfahren hat durch das, was ja oftmals als das Cha­rakteristische dieses modernen Lebens ausgesprochen wird, durch die moderne Technik, durch den technischen Betrieb des Wirtschaftslebens und was damit im Zusammenhange steht, durch die kapitalistische Art, diesen Wirtschaftsbetrieb zu organisieren. Auf dasjenige, was moderne Technik, was moderner Kapitalismus in das Leben hereingebracht haben, hat sich notwendig nicht nur der beobachtende Blick der Men­schen gerichtet, sondern es haben sich darauf gerichtet auch die mehr oder weniger bewußten oder mehr oder weniger instinktiv wirkenden organisierenden Kräfte innerhalb der sozialen Struktur der mensch­lichen Gesellschaft.

Man kann nun das Charakteristische, das gerade zu der besonderen Gestalt der sozialen Frage in der neueren Zeit geführt hat, wohl so aus-sprechen, daß man sagt: Das Wirtschaftsleben, von der Technik getra­gen, der moderne Kapitalismus, sie haben mit einer gewissen naturhaf­ten Selbstverständlichkeit gewirkt und die moderne Gesellschaft in eine gewisse innere Ordnung gebracht. Neben der Inanspruchnahme der menschlichen Aufmerksamkeit für das, was Technik und Kapitalismus gebracht haben, ist die Aufmerksamkeit abgelenkt worden von anderen Zweigen, anderen Gebieten des sozialen Organismus, die ebenso not­wendig wirksam werden müssen, wenn der soziale Organismus gesund sein soll wie das wirtschaftliche Gebiet.

Ich darf vielleicht, um mich über das zu verständigen, was ich gerade als den Nerv einer umfassenden, allseitigen Beobachtung über die soziale Frage erkannt zu haben glaube, von einem Vergleich ausgehen. Aber ich bitte zu berücksichtigen, daß ich nichts anderes meine damit als einen Vergleich, als etwas, was unterstützen kann das menschliche Ver­ständnis, um es gerade in diejenige Richtung zu bringen, welche not­wendig ist, um sich Vorstellungen zu machen über die Gesundung des sozialen Organismus. Wer in dieser Hinsicht betrachten muß den kom­pliziertesten natürlichen Organismus, den menschlichen Organismus, der muß seine Aufmerksamkeit darauf richten, daß die ganze Wesenheit dieses menschlichen Organismus darauf beruht, daß er drei nebeneinan­der wirksame Systeme in einem inneren Gefüge aufzuweisen hat. Diese drei nebeneinander wirksamen Systeme kann man etwa in folgender

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Weise kennzeichnen. Man kann sagen: Im menschlichen natürlichen Organismus wirkt dasjenige System, welches in sich schließt das Ner­ven- und Sinnesleben. Man könnte es auch nach dem wichtigsten Gliede des Organismus, wo das Nerven- und Sinnesleben gewissermaßen zen­tralisiert ist, den Kopforganismus nennen.

Als zweites Glied der menschlichen Organisation hat man anzuerken­nen, wenn man ein wirkliches Verständnis erwerben will für diese menschliche Organisation, was ich nennen möchte das rhythmische System, das zusammenhängt mit Atmung, Blutzirkulation, mit alldem, was sich ausdrückt in rhythmischen Vorgängen des menschlichen Orga­nismus.

Als drittes System hat man dann anzuerkennen alles dasjenige, was als Organe und Tätigkeiten zusammenhängt mit dem eigentlichen Stoff­wechsel. In diesen drei Systemen ist enthalten alles dasjenige, was in ge­sunder Art unterhält, wenn es aufeinander organisiert ist, den Gesamt-vorgang, der sich abspielt im menschlichen Organismus.

Ich habe versucht, in vollem Einklange mit alldem, was naturwissen­schaftliche Forschung schon heute sagen kann, diese Dreigliederung des menschlichen natürlichen Organismus wenigstens zunächst skizzen-weise in meinem Buche «Von Seelenrätseln» zu charakterisieren. Ich bin mir klar darüber, daß alles das, was Biologie, Physiologie, was Natur­wissenschaft mit Bezug auf den Menschen in der allernächsten Zeit her­vorbringen werden, gerade hinführt zu einer solchen Betrachtung des menschlichen Organismus, welche durchschaut, wie diese drei Glieder -Kopfsystem, Zirkulations- oder Brustsystem und Stoffwechselsystem -gerade dadurch den Gesamtvorgang im menschlichen Organismus auf­rechterhalten, daß diese Glieder in einer gewissen Selbständigkeit wir­ken, daß nicht eine absolute Zentralisation des menschlichen Organis­mus vorliegt, daß auch jedes dieser Systeme ein besonderes, für sich be­stehendes Verhältnis zur Außenwelt hat: das Kopfsystem durch die Sinne, das Zirkulationssystem oder rhythmische System durch die Atmung, und das Stoffwechselsystem durch die Ernährungsorgane.

Wir sind mit Bezug auf naturwissenschaftliche Methoden noch nicht ganz so weit, um das, was ich hier angedeutet habe, was aus geisteswis­senschaftlichen Untergründen heraus für die Naturwissenschaft von mir

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zu verwerten gesucht worden ist, um das wirklich schon innerhalb der naturwissenschaftlichen Kreise selbst zur allgemeinen Anerkennung zu bringen, wie das wünschenswert für den Erkenntnisfortschritt erschei­nen kann. Das heißt aber: Unsere Denkgewohnheiten, unsere ganze Art, die Welt vorzustellen, ist noch nicht vollständig angemessen dem, was zum Beispiel im menschlichen Organismus sich als die innere Wesenheit des Naturwirkens darstellt. Man könnte in einem gewissen Sinne sagen: Nun ja, die Naturwissenschaft kann warten, sie wird nach und nach ihren Idealen zueilen, sie wird schon dahin kommen, solch eine Betrachtungsweise als die ihrige anzuerkennen. Aber mit Bezug auf die Betrachtung und namentlich das Wirken des sozialen Organismus, kann man nicht warten. Da muß nicht nur bei irgendwelchen Fachmännern, sondern da muß in jeder Menschenseele - denn jede Menschenseele nimmt teil an der Wirksamkeit des sozialen Organismus - wenigstens eine instinktive Erkenntnis von dem vorhanden sein, was diesem sozia­len Organismus notwendig ist. Ein gesundes Denken und Empfinden, ein gesundes Wollen und Begehren mit Bezug auf die Gestaltung des sozialen Organismus kann sich nur entwickeln, wenn man, sei es auch mehr oder weniger bloß instinktiv, sich klar darüber ist, daß dieser soziale Organismus, soll er gesund sein, ebenso dreigliedrig sein muß wie der natürliche Organismus.

Da bin ichan dem Punkte, wo ich mich besonders verwahren muß dage­gen, mißverstanden zu werden. Es ist ja, seit Schäffle sein Buch geschrie­ben hat über den Bau des sozialen Organismus, immer wieder und wie­derum versucht worden, Analogien festzustellen zwischen der Organi­sation eines Naturwesens, sagen wir der Organisation des Menschen und der menschlichen Gesellschaft als solcher. Was hat man da alles ver­sucht festzustellen, was im sozialen Organismus die Zelle ist, was Zel­lengefüge sind, was Gewebe sind und so weiter! Noch vor kurzem ist ja ein Buch erschienen von Meräy, «Weltmutation», in dem gewisse natur­wissenschaftliche Tatsachen und naturwissenschaftliche Gesetze ein­fach übertragen werden auf, wie man meint, den menschlichen Gesell­schaftsorganismus. Mit all diesen Dingen, mit all diesen Analogiespiele­reien hat dasjenige, was hier gemeint ist, absolut nichts zu tun. Und der­jenige, welcher nach Abschluß dieser Vorträge sagen wird: Aha, hier

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hat man es auch wiederum mit einem solchen Analogiespiel zwischen dem natürlichen Organismus und dem gesellschaftlichen Organismus zutun-, der wird dadurch nur beweisen, daß er nicht in den eigentlichen Geist des hier Gemeinten eingedrungen ist. Denn nicht das will ich: irgendeine für naturwissenschaftliche Tatsachen passende Wahrheit herüberverpflanzen auf den sozialen Organismus, sondern das will ich, daß das menschliche Denken, das menschliche Empfinden so lernt an der Betrachtung des naturgemäßen Organismus, daß es seine Methode, seine Empfindungsweise dann auch anwenden kann auf den sozialen Organismus. Wenn man einfach das, was man glaubt gelernt zu haben am natürlichen Organismus, überträgt auf den sozialen Organismus, wie Schäffle es getan hat, wie es andere getan haben, wie es wiederum in dem Buch über «Weltmutation» gemacht wird, so zeigt man damit nur, daß man nicht sich die Fähigkeiten aneignen will, den sozialen Organis­mus ebenso selbständig, ebenso für sich zu betrachten, nach seinen eige­nen Gesetzen zu forschen, wie man dies tut für den natürlichen Organis­mus. Also nur um mich verständlich zu machen, habe ich den Vergleich gezogen mit dem natürlichen Organismus. Denn in dem Augenblicke, wo man wirklich so vorgeht, daß man objektiv, wie der Naturforscher, sich gegenüberstellt dem natürlichen Organismus, so sich dem sozialen Organismus in seiner Selbständigkeit gegenüberstellt, um dessen eigene Gesetze zu erkennen, in diesem Augenblicke hört gegenüber dem Ernst der Betrachtung jedes Analogiespiel auf.

Ich will gleich bemerken, wie dieses Analogiespiel aufhören muß. Die Betrachtung des sozialen Organismus - allerdings hat man es da mit einem Werdenden, mit einem eigentlich erst Entstehenden zu tun -, in­soferne er gesund sein soll, führt ebenfalls zu drei Gliedern dieses sozia­len Organismus; aber man erkennt beides selbständig für sich, wenn man objektiv die Dinge nehmen kann. Man erkennt auf der einen Seite die drei Glieder des menschlichen Organismus, auf der anderen Seite ob­jektiv für sich die drei Glieder des sozialen Organismus. Würde man Analogien suchen, dann würde man vielleicht in der folgenden Weise verfahren. Man würde sagen: Das menschliche Kopf- oder Nerven-Sin­nessystem hängt zusammen mit dem menschlichen Geistesleben, mit den geistigen Fähigkeiten; das Zirkulationssystem regelt den Zusam­menhang

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dieses geistigen Systems mit dem gröbsten System, mit dem materiellen System, mit dem Stoffwechselsystem. Das Stoffwechselsy­stem wird dann nach gewissen Empfindungen, die man nun schon ein­mal aus gewissen Untergründen heraus hat, als das gröbste System des menschlichen Organismus angesehen. Was wäre nun, wenn man ein Analogiespiel treiben würde, das Nächstliegende? Das Nächstliegende wäre, daß man sagte: Nun ja, auch der soziale Organismus zerfällt in drei Glieder. In ihm wickelt sich ab das menschliche Geistesleben. Das wäre ein Glied. In ihm wickelt sich ab das eigentliche politische Leben - wir werden gleich nachher von dieser Gliederung sprechen-, in ihm wickelt sich aber auch ab das Wirtschaftsleben. Nun könnte man, wenn man Analogiespiel treiben wollte, glauben, dasjenige, was als geistiges Leben, als geistige Kultur im sozialen Organismus gewissen Gesetzen unterworfen ist, das hätte solche Gesetze, die sich vergleichen ließen mit den Gesetzen des geistigen Systems, des Nerven- und Sinnessystems. Dasjenige System, das im Menschen als das gröbste, als das eigentlich Stoffliche angesehen wird, eben das Stoffwechselsystem, das würde ein bloßes Analogiespiel wahrscheinlich vergleichen mit dem, was man nennt das grobe, materielle Wirtschaftsleben. Derjenige, der die Dinge nun für sich betrachten kann, der weit von sich weist ein bloßes Analo­giespiel, der weiß, daß das, was wirklich ist, gerade umgekehrt ist gegen­über dem, was durch ein bloßes Analogiespiel herauskommt. Für den sozialen Organismus liegen gegenüber der wirtschaftlichen Produktion und Konsumtion, gegenüber der wirtschaftlichen Warenzirkulation so die Gesetze dem Leben zugrunde, wie im menschlichen natürlichen Organismus Gesetze zugrunde liegen seinem Nerven- und Sinnesleben, gerade seinem Geistsystem. Allerdings, dasjenige, was das Leben des öffentlichen Rechtes ist, das eigentliche politische Leben, das Leben, welches man oftmals viel zu umfassend denkt, das man bezeichnen kann als das eigentliche Staatsleben, das läßt sich nun vergleichen mit dem zwischen den zwei natürlichen Systemen, dem Stoffwechselsystem und dem Nerven-Sinnessystem liegenden rhythmischen System, dem regu­lierenden System, dem Atmungs- und dem Herzsystem. Aber nur dadurch läßt es sich vergleichen, daß eben, wie im menschlichen Orga­nismus zwischen dem Stoffwechsel- und dem Nervensystem in der

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Mitte das Zirkulations- oder rhythmische System liegt, so liegt das System des öffentlichen Rechtes zwischen dem Wirtschaftssystem und zwischen dem eigentlichen Leben der Geisteskultur. Und dieses Leben der Geistes kultur, dieses Leben des Geistes im sozialen Organismus, das hat nun nicht Gesetze, die sich analog denken lassen den Gesetzen der menschlichen Begabungen, den Gesetzen des menschlichen Sinnes- und Nervenlebens, sondern das, was geistiges Leben im sozialen Organis­mus ist, das hat Gesetze, die sich nur vergleichen lassen mit den Geset­zen des menschlichen gröbsten Systems, des Stoffwechselsystems.

Das ist es, wozu eine objektive Betrachtung des sozialen Organismus führt. Das muß aber auch vorausgesetzt werden, damit kein Mißver­ständnis mit Bezug auf diese Punkte eintritt, damit man nicht glaube, es werde einfach Physiologisches oder Biologisches auf den sozialen Orga­nismus übertragen. Der soziale Organismus muß aber durchaus selb­ständig für sich betrachtet werden, wenn Ersprießliches zu seinem Ge­deihen, zu seiner Gesundung geschehen soll.

Wie tönt aus den mancherlei Gebieten von Mittel- und Osteuropa auch hier herein das Wort «Sozialisierung». Diese Sozialisierung wird kein Heilungsprozeß, sondern ein Kurpfuscherprozeß am sozialen Organismus sein, vielleicht sogar ein Zerstörungsprozeß, wenn nicht in die menschlichen Herzen, in die menschliche Seele einzieht wenigstens die instinktive Erkenntnis von der Notwendigkeit der Dreigliederung des sozialen Organismus. Dieser soziale Organismus hat allerdings, wenn er gesund wirken soll, drei solche Glieder in sich.

Das erste dieser Glieder, wenn man auf der einen Seite beginnt - man könnte selbstverständlich auch beim geistigen Leben beginnen, allein wir wollen beim Wirtschaftsleben beginnen, weil sich dieses ja ganz augenscheinlich alles übrige Leben beherrschend durch die moderne Technik und den modernen Kapitalismus in die menschliche Gesell­schaft hereingetragen hat -, also als erstes Glied des sozialen Organis­mus ist das Wirtschaftsleben, ist das ökonomische Leben zu betrachten. Dieses ökonomische Leben, wir werden zum Teil schon heute, zum Teil im weiteren Verlauf dieser Vorträge sehen, daß es ein selbständiges Glied für sich innerhalb des sozialen Organismus sein muß, so relativ selbständig wie das Nerven-Sinnessystem im menschlichen Organismus

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relativ selbständig ist. Zu tun hat es dieses Wirtschaftsleben mit all dem, was Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsumtion ist. Mit alldem, was mit diesen drei Dingen zusammenhängt, hat es das Wirt­schaftsleben zu tun. Wir werden uns gleich nachher über seine Eigen­tümlichkeiten noch genauer verständigen.

Als zweites Glied des sozialen Organismus ist zu betrachten das Leben des öffentlichen Rechtes, das eigentliche politische Leben, jenes Leben, welches man im Sinne des alten Rechtsstaates als das eigentliche Staatsle­ben bezeichnen könnte. Während es zu tun hat das Wirtschaftsleben mit alldem, was der Mensch braucht aus der Natur und aus seiner eigenen Produktion heraus, während es das Wirtschaftsleben zu tun hat mit Waren, Warenzirkulation und Warenkonsumtion, kann es dieses zweite Glied des sozialen Organismus nur zu tun haben mit alldem, was sich aus rein menschlichen Untergründen heraus auf das Verhältnis des Men­schen zum Menschen bezieht. Das bitte ich durchaus zu berücksichti­gen, denn es ist wesentlich für die Erkenntnis der Glieder des sozialen Organismus, daß man weiß, welcher Unterschied besteht zwischen dem System des öffentlichen Rechtes, das es nur zu tun haben kann aus menschlichen Untergründen heraus mit dem Verhältnis von Mensch zu Mensch, und dem Wirtschaftssystem, das es nur zu tun hat mit Waren-produktion, Warenzirkulation, Warenkonsumtion. Man muß dieses ebenso wissen, wie man zu unterscheiden wissen muß im menschlichen natürlichen System die Beziehung der Lunge zur äußeren Luft, zur Ver­arbeitung dieser äußeren Luft, wie man wissen muß dieses zu unter­scheiden von der Art und Weise, wie die aufgenommenen Nahrungs­mittel, durch das dritte natürliche System im Menschen umgewandelt, für den Menschen verwendet werden.

Als drittes Glied, das wiederum selbständig sich neben die beiden an­deren Glieder hinstellen muß, hat man zu unterscheiden im sozialen Organismus alles das, was sich auf das geistige Leben bezieht. Noch ge­nauer könnte man sagen, weil vielleicht die Bezeichnung «geistige Kul­tur» oder alles das, was sich auf das geistige Leben bezieht, durchaus nicht ganz genau ist: alles das, was beruht auf der natürlichen Begabung des einzelnen menschlichen Individuums, was hineinkommen muß in den sozialen Organismus auf Grundlage der natürlichen Begabung, geistigen

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und physischen Begabung des einzelnen Individuums. So wie das erste System, das Wirtschaftssystem, es zu tun hat mit alldem, was da sein muß, damit der Mensch sein materielles Verhältnis zur Außenwelt regeln kann, während das zweite System es zu tun haben muß mit all demjenigen, was da sein muß im sozialen Organismus wegen des Ver­hältnisses von Mensch zu Mensch, hat es das dritte System, das System, das ich, nur um einen Namen zu haben, das geistige System nenne, zu tun mit alldem, was hervorsprießen muß und eingegliedert werden muß in den sozialen Organismus aus der einzelnen menschlichen Individuali­tät heraus.

Ebenso wahr als es ist, daß moderne Technik und moderner Kapitalis­mus unserem gesellschaftlichen Leben eigentlich in der neueren Zeit das Gepräge gegeben haben, ebenso notwendig ist es, daß diejenigen Wun­den, die von dieser Seite her notwendig der menschlichen Gesellschaft geschlagen worden sind, dadurch geheilt werden, daß man den Men­schen und die menschliche Gesellschaft selbst in ein richtiges Verhältnis bringt zu dem, was ich hier charakterisiert habe als die drei Glieder die­ses sozialen Organismus. Das Wirtschaftsleben hat einfach durch sich selbst in der neueren Zeit ganz bestimmte Formen angenommen. Es hat sozusagen hereingedrängt in das menschliche Leben seine eigenen Ge­setze. Die anderen beiden Glieder des sozialen Organismus sind in der Lage, mit derselben Selbstverständlichkeit sich in der richtigen Weise nach ihren eigenen Gesetzen in den sozialen Organismus hineinzuglie­dern. Für sie ist es notwendig, daß der Mensch aus Selbständigkeit, aus Bewußtsein heraus die soziale Gliederung vornimmt, jeder an seinem Orte, wo er steht. Denn im Sinne derjenigen Lösungsversuche der sozia­len Fragen, die hier gemeint sind, hat jeder einzelne Mensch seine soziale Aufgabe in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft.

Das erste Glied des sozialen Organismus, das Wirtschaftsleben, das ruht zunächst auf der Naturgrundlage. Geradeso wie der einzelne Mensch mit Bezug auf das, was er für sich durch Lernen, durch Erzie­hung, durch das Leben werden kann, ruht auf der Begabung seines gei­stigen und körperlichen Organismus, auf denjenigen Begabungen und Talenten, die ihm gegeben sind, so ruht alles Wirtschaftsleben auf einer gewissen Naturgrundlage. Diese Naturgrundlage drückt einfach dem

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Wirtschaftsleben und dadurch dem gesamten sozialen Organismus sein Gepräge auf. Aber diese Naturgrundlage ist eben da, ohne daß sie durch irgendeine soziale Organisation, durch irgendeine Sozialisierung in ur­sprünglicher Art getroffen werden kann. Sie muß berücksichtigt wer­den. So wie bei der Erziehung des Menschen berücksichtigt werden muß die Begabung, die er hat auf den verschiedenen Gebieten, seine natürliche körperliche und geistige Tüchtigkeit, so muß von aller Sozia­lisierung überhaupt, von jedem Versuche, dem menschlichen Zusam­menleben auch eine wirtschaftliche Gestaltung zu geben, berücksichtigt werden die Naturgrundlage. Denn aller Warenzirkulation und auch aller menschlichen Arbeit und auch jeglichem geistigen Kulturleben liegt zugrunde als ein erstes elementarisches Ursprüngliches das, was den Menschen kettet an ein bestimmtes Stück Natur. Da muß man wirk­lich denken über den Zusammenhang des sozialen Organismus mit der Naturgrundlage, wie man beim einzelnen Menschen mit Bezug auf Ler­nen, mit Bezug auf Erziehung, im Verhältnis zu seiner Begabung zu denken hat. Man kann sich dieses gerade an extremen Fällen klarma­chen. Man braucht zum Beispiel nur zu bedenken, daß in gewissen Ge­bieten der Erde, wo die Banane ein naheliegendes Nahrungsmittel für die Menschen abgibt, in Betracht kommt für das menschliche Zusam­menleben das an Arbeit, das aufgebracht werden muß, um die Banane von ihrer Ursprungsstätte aus an einen bestimmten Bestimmungsort zu einem Konsummittel zu machen. Vergleicht man die menschliche Arbeit, die aufgebracht werden muß, um die Banane für die menschliche Gesellschaft konsumfähig zu machen, mit der Arbeit, die aufgebracht werden muß etwa in unseren Gegenden Mitteleuropas, um den Weizen konsumfähig zu machen, so ist die Arbeit, die für die Banane aufge­bracht werden muß, bescheiden gerechnet, dreihundertmal geringer. Die Arbeit, die aufgebracht werden muß, um den Weizen konsumfähig zu machen, ist, gering gerechnet, dreihundertmal größer.

Gewiß, es ist ein extremer Fall. Aber solche Unterschiede mit Bezug auf das notwendige Maß von Arbeit im Verhältnis zu der Naturgrund­lage sind auch unter unseren Produktionszweigen da, unter den Produk­tionszweigen, die in irgendeinem sozialen Organismus Europas vertre­ten sind. Nicht in dieser radikalen Verschiedenheit wie Banane und Weizen,

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aber diese Unterschiede sind da. So ist das durchaus im Wirtschafts-Organismus begründet, daß durch das Verhältnis des Menschen, seiner Konsumtion zur Natur, das Maß von Arbeitsfähigkeit wesentlich ab­hängt von der Naturgrundlage, wie das Wesen eines Menschen abhängt von seiner natürlichen körperlichen oder geistigen Begabung. Und man braucht ja nur zum Beispiel zu vergleichen: In Deutschland, in Gegen­den mit mittlerer Ertragsfähigkeit, ist das Erträgnis der Weizenkultur so, daß ungefähr das sieben- bis achtfache der Aussaat wiederum ein-kommt durch die Ernte. In Chile kommt das zwölffache herein, in Nordmexiko kommt das siebzehnfache ein, in Peru das zwanzigfache, in Südmexiko das fünfundzwanzig- bis fünfunddreißigfache. Da haben Sie für verschiedene Gegenden der Erde die Ertragsfähigkeit der Weizen-kultur im Verhältnis zum Boden, zu dem Ertrag des Bodens. Das aber beeinträchtigt im wesentlichen das Maß von Arbeit, welches aufge­bracht werden muß, um den Weizen in der entsprechenden Weise als Ware in das Wirtschaftsleben einzufügen.

So wie man solche Angaben machen kann für das Maß von Arbeit, das notwendig ist, um den Weizen in verschiedenen Gegenden konsumfä­hig zu machen, so kann man auch unterscheiden in dem Maße von Arbeit, das notwendig ist, um die verschiedensten Produktionszweige, Rohprodukte der verschiedensten Produktionszweige, innerhalb des Wirtschaftslebens eines sozialen Organismus konsumfähig zu machen. Dieses ganze zusammengehörige Wesen, welches verläuft in Vorgän­gen, die beginnen in dem Verhältnis des Menschen zur Natur, die sich fortsetzen mit alldem, was der Mensch zu tun hat, um die Naturpro­dukte umzuwandeln und sie zu bringen bis zur Konsumfähigkeit für den Menschen, alle diese Vorgänge, die in diesen Gesamtvorgängen von der Naturgrundlage bis zur Konsumfähigkeit liegen, alle diese Vor­gänge, und nur diese, schließen sich für einen gesunden sozialen Orga­nismus in das reine Wirtschaftsglied der sozialen Organisation ein. Die­ses Wirtschaftsglied der sozialen Organisation müßte nun - ich werde das im Lauf der Vorträge noch genauer ausführen und beweisen - mit einer solchen Selbständigkeit im ganzen sozialen Organismus drinnen-stehen, wie das menschliche Kopfsystem im menschlichen Gesamtorga­nismus drinnensteht.

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Und selbständig neben diesem Wirtschaftssystem müßte ein anderes System stehen, das es zu tun hat nur mit dem Verhältnis des Menschen zum Menschen. Das, was im reinen Wirtschaftssystem lebt, hat es mit dem Bedarf nach diesem oder jenem zu tun, wodurch festgestellt wird des Menschen Verhältnis zur objektiven Ware. Was als zweites Glied im sozialen Organismus sich entwickeln muß, wenn ein gesundes soziales Leben wach werden soll, das ist alles das, was regelt das Verhältnis von Mensch zu Mensch.

Man hat versäumt, den richtigen Blick für die Unterscheidung dieser zwei Glieder des sozialen Organismus sich anzueignen, dadurch daß man, wie hypnotisiert durch das moderne Wirtschaftsleben und durch uralte Denkgewohnheiten in der neueren Zeit glaubte, die wirtschaft­lichen Kräfte und Vorgänge notwendigerweise entweder für einzelne Gebiete oder im Sinne der Sozialisten radikal für das ganze Wirtschafts­leben übertragen zu können, überleiten zu können auf das, was ich hier als das zweite Glied, als das eigentliche staatliche Gebiet im engeren Sinne, als das Gebiet des öffentlichen Rechtes, als das Gebiet des Ver­hältnisses von Mensch zu Mensch zu schildern habe.

Dieses staatliche Gebiet wird sich nur dann gesund entwickeln kön­nen, wenn es die gegenteilige Entwickelungsströmung einschlägt, wel­che gerade von manchen als die richtige angesehen wird. Während zahl­reiche Menschen heute glauben, daß eine Gesundung des sozialen Orga­msmus nur möglich ist, wenn man möglichst verstaatlicht, wenn man möglichst viel vergesellschaftet, handelt es sich vielmehr darum, daß man erkennt und anzuwenden weiß für alle einzelnen Zweige des Lebens, daß eine durchgreifende Selbständigkeit eintreten muß zwi­schen dem Wirtschaftsleben auf der einen Seite mit seinen eigenen Ge­setzen, und dem engeren Staatsleben auf der anderen Seite, wiederum mit seinen eigenen Gesetzen.

Ich kann mir wohl denken, wie viele Menschen es gibt, die sagen: Um Gotteswillen, so kompliziert soll die Sache werden! Das, was man nun zusammenbringen wollte aus den Notwendigkeiten der neueren Ent­wickelung, das soll in verschiedene Systeme auseinandergelegt werden!

- Wer so spricht, daß ihm das zu kompliziert ist, daß er sich nicht denken könne, daß das Naturgemäße auf diesem Wege zustande kommt, der

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gleicht dem, der nichts davon wissen will, daß der menschliche Organis­mus nur dadurch leben kann, daß er mit relativer Selbständigkeit das rhythmische Leben, das Atmungs- und Herzleben, in der Brust, im Atmungs- und Herzsystem konzentriert, zentralisiert hat. Das Ganze des menschlichen Organismus beruht darauf daß jedes solche Systemle­ben in sich abgeschlossen ist, und daß sie dann wiederum zusammenwir­ken. Die Gesundheit des sozialen Organismus beruht darauf daß das Wirtschaftsleben seinen eigenen Gesetzen gehorcht, das Rechtsleben, das Leben des öffentlichen Rechtes, der öffentlichen Sicherheit, alles das, was man im engeren Sinne als politisch bezeichnen kann, wiederum seinen eigenen Gesetzen gehorcht, seine eigenen Einrichtungen hat. Ge­rade dann werden die beiden Gebiete des sozialen Organismus in der richtigen Weise zusammenwirken. Und möge es auch bei manchem, der da glaubt, aus gewissen Voraussetzungen heraus sich doch endlich zum Rechten durchgerungen zu haben, mag es nun auch bei manchem ein Schaudern erregen, gesagt werden muß es doch: So lange besteht keine Gesundung des sozialen Organismus, als in einer Partei, in einer Ver­waltung zentralistisch zusammen verwaltet wird Wirtschaftsleben und politisches Leben. Wir werden dann sehen, daß das auch für das dritte Gebiet gilt. Notwendig ist, daß ebenso, wie das Zirkulationssystem seine eigene Lunge, wie das Nerven-Sinnessystem sein eigenes Gehirn-system hat, daß ein eigener Verwaltungsorganismus, ein selbständiger Verwaltungs-, ein selbständiger Vertretungsorganismus, also Partei-oder sonstige Vertretung, vorhanden ist je für das Wirtschaftsleben, für das politische Leben oder das öffentliche Rechtsleben, und für das dritte Gebiet, wiederum selbständig, für das geistige Leben.

Diese drei Gebiete haben in sich eine gewisse Souveränität im gesun­den sozialen Organismus und verhandeln untereinander durch ihre selb­ständigen Vertreter, um dadurch jenes gegenseitige Verhältnis herzu­stellen zwischen den drei Gliedern des sozialen Organismus. Das ent­spricht dem auch in selbständiger Weise hergestellten Verhältnis der drei Glieder des menschlichen natürlichen Organismus. Es wird sich herausstellen, daß im wesentlichen diejenigen Vertretungen und Ver­waltungen, die sich herausergeben werden aus dem Wirtschaftsgliede des Organismus, daß diese im wesentlichen darauf hinzuarbeiten haben,

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daß dieser Wirtschaftsorganismus für sich auf assoziativer Grundlage aufgebaut ist, Genossenschafts-, Gewerkschaftswesen, aber höheres Genossenschafts-, Gewerkschaftswesen ist, solches Genossenschafts-, Gewerkschaftswesen, das sich nur mit den Gesetzen von Warenproduk­tion, Warenzirkulation, Warenkonsumtion beschäftigt. Das ist es, was die Grundlage bilden, was den Inhalt bilden wird für das Wirtschafts-glied des sozialen Organismus. Auf dem Assoziationsleben wird er be­ruhen. Es wird auf demjenigen beruhen, was die notwendigen Un­gleichheiten, die durch die Naturgrundlage gegeben werden, zum Aus­gleich bringt. Ich habe darauf hingewiesen, wie verschieden der menschliche Arbeitsaufwand ist, je nach dem dies oder jenes Verhältnis zu der Naturgrundlage eines Produktionszweiges besteht. Alles dies kommt in eine unnatürliche soziale Organisation hinein, wenn so zu­sammenarbeiten, wie bisher zusammengearbeitet haben, Natur, Men­schenarbeit und Kapital. Natur, Menschenarbeit und Kapital sind in der chaotischsten Weise hinein konfundiert worden in den Einheitsstaat oder sind anarchisch draußen geblieben, außerhalb dieses Einheitsstaa­tes. Es muß erkannt werden, daß sowohl das Leben der geistigen Kul­tur, das beruht auf den körperlichen und geistigen Anlagen der Men­schen und ihrer Ausbildung, als auch das öffentliche, politische und Rechtsleben, daß sie die Aufgabe haben, gerade auszusondern, für sich zum selbständigen Leben zu bringen das, was das System des Wirt­schaftsorganismus ist.

Ich kann noch, um mich vielleicht verständlich zu machen, soweit dies schon heute notwendig ist, zu dem Folgenden greifen. Als aus allerdings anderen Grundlagen heraus als diejenigen sind, in denen wir heute nun schon leben, auftauchte aus tiefen Untergründen der menschlichen Natur heraus der Ruf nach einer Neugestaltung des sozialen Organis­mus, da hörte man als Devise dieser Neuorganisation die drei Worte:

Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit. Nun wohl, wer sich mit vorurteils-Losem Sinn und mit einem gesunden Menschheitsempfinden einläßt auf alles wirklich Menschliche, der kann natürlich nicht anders als die tiefste Sympathie und das tiefste Verständnis empfinden für alles das, was da liegt in den Worten Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit. Dennoch, ich kenne ausgezeichnete Denker, tiefe, scharfsinnige Denker, welche

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immer wieder und wiederum im Laufe des 19. Jahrhunderts sich Mühe gegeben haben, zu zeigen, wie es unmöglich ist, in einem einheitlichen sozialen Organismus die Ideen von Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit zu verwirklichen. So hat ein scharfsinniger Ungar den Nachweis zu füh­ren gesucht, daß diese drei Dinge, wenn sie sich verwirklichen sollen, wenn sie eindringen sollen in die menschliche soziale Struktur, sich widersprechen. Scharfsinnig hat er nachgewiesen zum Beispiel, wie es unmöglich ist, wenn man die Gleichheit im sozialen Leben allein durch­führt, daß dadurch die in jedem Menschenwesen notwendig begründete Freiheit auch zur Geltung komme. Widersprechend fand er diese drei Ideale. Merkwürdig, man kann gar nicht anders, als denen zustimmen, die diesen Widerspruch finden, und man kann gar nicht anders als aus einem allgemein menschlichen Empfinden mit jedem dieser drei Ideale seine Sympathie haben! Warum dieses?

Nun, eben aus dem Grunde, weil man den rechten Sinn dieser drei Ideale erst einsieht, wenn man erkennt die notwendige Dreigliederung des sozialen Organismus. Die drei Glieder sollen nicht in einer abstrak­ten, theoretischen Reichstags- oder sonstigen Einheit zusammengefügt und zentralisiert sein, sie sollen lebendige Wirklichkeit sein und durch ihr lebendiges Wirken nebeneinander erst die Einheit zusammenbrin­gen. Wenn diese drei Glieder selbständig sind, so widersprechen sie sich in einer gewissen Weise, wie das Stoffwecbselsystem dem Kopfsystem und dem rhythmischen System widerspricht. Aber im Leben wirkt das Widerspruchsvolle gerade zu der Einheit zusammen. Daher wird man zu einem Erfassen des Lebens des sozialen Organismus kommen, wenn man imstande ist, die wirklichkeitsgemäße Gestaltung dieses sozialen Organismus zu durchschauen. Dann wird man erkennen, daß im Zu­sammenwirken der Menschen im Wirtschaftsleben, wo sie untereinan­der zu regeln haben auf dem besonderen, eigenen Gebiete dieses erste soziale Glied, daß auf diesem Gebiete in dem, was Menschen tun, wirken muß die Brüderlichkeit. In dem zweiten Gliede, in dem System des öffentlichen Rechtes, wo man es zu tun hat mit dem Verhältnis des Men­schen zum Menschen, nur insoferne man überhaupt Mensch ist, hat man es zu tun mit der Verwirklichung der Idee der Gleichheit. Und auf dem geistigen Gebiete, das wiederum in relativer Selbständigkeit dastehen

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muß im sozialen Organismus, hat man es zu tun mit der Idee der Frei­heit. Da gewinnen plötzlich diese drei goldenen Ideale erst ihren Wirk­lichkeitswert, wenn man weiß: sie dürfen nicht in einem chaotisch Durcheinandergewürfelten sich realisieren, sondern in dem, was ein nach wirklichkeitsgemäßen Gesetzen orientierter sozialer dreigliedriger Organismus ist, in welchem jedes einzelne der drei Glieder für sich das ihm zugehörige Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ver­wirklichen kann.

Ich kann heute die Struktur des sozialen Organismus nur skizzenhaft andeuten. In den nächsten Vorträgen werde ich dieses alles im einzelnen begründen und beweisen. Was ich aber zu dem Gesagten noch hinzuzu­fügen habe, ist, daß als drittes Glied des gesunden sozialen Organismus wirken muß alles dasjenige, was sich in ihn hineinstellt aus der mensch­lichen Individualität heraus, was auf Freiheit basiert sein muß, was auf der körperlichen und geistigen Begabung des einzelnen Menschen be­ruht. Hier berührt man wiederum ein Gebiet, welches allerdings, richtig charakterisiert, manchem Gegenwartsmenschen noch ein leises Schau­dern verursacht. Das, was umschlossen werden muß von diesem dritten Gebiete des gesunden sozialen Organismus, das ist alles dasjenige, was sich auf das religiöse Leben des Menschen bezieht, was sich auf Schule und Erziehung im weitesten Sinne bezieht, was sich auch sonst auf das geistige Leben, auf den Betrieb von Kunst und so weiter bezieht. Und, heute will ich es nur erwähnen, in den nächsten Vorträgen werde ich auch das ausführlich begründen: Alles das gehört in dieses dritte Gebiet, was sich bezieht nun nicht auf das öffentliche Recht, das in das zweite Gebiet gehört, sondern was sich bezieht auf das private Recht und auf das Strafrecht. Ich habe manchen gefunden, dem ich vortragen konnte diese Dreigliederung des sozialen Organismus und er hat mancherlei verstanden - das konnte er nun gar nicht verstehen, daß das öffentliche Recht, das Recht, das sich auf die Sicherheit und Gleichheit aller Men­schen bezieht, abgetrennt werden muß von dem, was Recht ist gegen­über einer Rechtsverletzung, oder gegenüber dem, was eben private Verhältnisse der Menschen sind, daß das voneinander abgetrennt wer­den muß, und daß Privatrecht und Strafrecht dem dritten, dem geistigen Gliede des sozialen Organismus zugezählt werden muß.

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Nun, das moderne Leben hat sich leider bis jetzt ganz und gar abge­kehrt von einer Berücksichtigung dieser drei Glieder des sozialen Orga­nismus. So wie der Wirtschaftskörper mit seinen Interessen eingedrun­gen ist in das staatliche, in das eigentlich politische Leben, seine Interes­sen hineingebracht hat in die Vertretungskörper des politischen Lebens, dadurch getrübt hat die Möglichkeit, wirklich dieses zweite Glied des sozialen Organismus so zu gestalten, daß sich die Gleichheit aller Men­schen darinnen verwirklicht, so hat auch aufgesogen das Wirtschafts-und das staatliche Leben das, was sich nur in freier Gestaltung entwik­keln kann. Aus einem gewissen Instinkt heraus, allerdings aus einem verkehrten Instinkt heraus hat die moderne Sozialdemokratie das reli­giöse Leben abzutrennen versucht von dem öffentlichen Staats leben: «Religion ist Privatsache»; aber leider nicht aus einer besonderen Ach­tung vor der Religion, aus einer besonderen Schätzung desjenigen, was mit dem religiösen Leben dem Menschen gegeben ist, sondern gerade aus einer Mißachtung, aus einer Gleichgültigkeit gegenüber dem reli­giösen Leben, was mit den Dingen zusammenhängt, die ich im vorigen Vortrage, vorgestern, ausgeführt habe. Aber richtig ist an dieser Forde­rung die Abtrennung des religiösen Lebens von den beiden anderen Ge­bieten, von der Gestaltung des Wirtschaftslebens und von der Gestal­tung des politischen Lebens. Aber ebenso notwendig ist die Abtren­nung des gesamten niederen und höheren Erziehungswesens, wie des geistigen Lebens überhaupt, von den beiden anderen Gliedern. Und erst dann wird ein wirklich gesundes Leben des sozialen Organismus eintre­ten, wenn innerhalb derjenigen Körperschaften, die zu wachen haben uber die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetze, wenn in dieser Körperschaft nur darauf gesehen wird, daß aus den freien menschlichen Individualitäten heraus Schule, religiöses und sonstiges geistiges Leben sich entwickeln kann, wenn darüber gewacht wird, daß dieses Leben in Freiheit sich entwickelt, wenn nicht der Anspruch darauf gemacht wird, von sich aus zu regeln, von der Wirtschaft oder vom Staate aus zu tegeln das Schul-, das Erziehungs-, das geistige Leben.

Das scheint heute radikal. Allein, man muß solche Radikalismen aus­sprechen, sobald man sie erkannt hat. Das geistige Leben, einschließlich des Erziehungslebens und einschließlich der Rechtsprechung in Privat- und Strafsachen,

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unterliegt so sehr dem, was aus der einzelnen Indivi­dualität des Menschen herausfließt in voller Freiheit, daß die beiden an­deren Glieder des sozialen Organismus keinen Einfluß nehmen dürfen auf die Konfiguration, auf die Gestaltung dieses Lebens.

Ich habe Ihnen heute zunächst nur eine Skizze gegeben über die Ge­dankenrichtung, in der sich die Lösungsversuche der sozialen Frage bewegen müssen, jene Lösungsversuche, welche auf den wirklichen Notwendigkeiten des Lebens beruhen, welche nicht auf den abstrakten Forderungen einer einzelnen Partei, einer einzelnen Klasse beruhen, sondern auf den Entwickelungskräften der neuzeitlichen Menschheit überhaupt.

Ich möchte sagen: Jeden Einwand, der gemacht wird, kann ich ver­stehen, ich bitte aber gerade mit Einwänden zu warten, bis das gehört ist, was ich zur Ausführung dieser allgemeinen Skizze in den nächsten Vorträgen zu sagen haben werde. Insbesondere heute könnte ich Ein­wände verstehen, wo ich ja nur versucht habe zu charakterisieren, wo die Beweise noch nicht vorliegen. Aber ich möchte sagen: Ich kann jeden Finwand verstehen aus den mancherlei Erfahrungen heraus, die ich mit den Ideen, die ich auch hier vertreten will und die ich aus der ja so vielfach verkannten Geisteswissenschaft heraus als die Wirklichkeits-grundlage des Lebens zu erkennen glaube, die ich mit diesen Dingen ge­macht habe.

Wir haben hinter uns die Zeit der furchtbarsten Menschheitskatastro­phe. Man müßte innerhalb des Lebens, das man führen mußte innerhalb dieser katastrophalen Zeit, nicht das menschliche Herz auf dem rechten Flecke gehabt haben, wenn man nicht Ausblick gehalten hätte nach sei­nen Kräften, nach seinen Fähigkeiten: Wo liegen die Hilfen aus dem furchtbaren Chaos heraus, in das wir hineintrieben? - Ich sagte Ihnen vorgestern, ich werde über die besonderen Verhältnisse dieses Krieges in seinen Ursachen und in seinem Verlaufe im Zusammenhange mit der sozialen Frage in den beiden nächsten Vorträgen noch zu sprechen haben. Heute möchte ich sagen, daß es mir klar war, als wir noch lange drinnenstanden in den Ereignissen, die jetzt in eine Krise eingetreten sind, von welcher manche kurzdenkende Menschen glauben, daß sie schon ein Ende ist, daß zu denjenigen Dingen, die aus dem Chaos, aus

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der furchtbaren Katastrophe auf dem einen oder anderen Gebiete der sogenannten zivilisierten Welt herausführen können, auch gehört ein richtiges Denken, ein richtiges Vorstellen wahrhaftiger, wirklichkeits­gemäßer Impulse für den menschlichen sozialen Organismus. Ich habe manchen Persönlichkeiten, die tätig und ratend drinnenstanden in den letzten Jahren in dem, was in so furchtbarer Weise geschah innerhalb der Entwickelung der neueren Menschheit, das vorgelegt, was auch der Nerv meiner jetzt hier zu machenden Ausführungen ist; ich habe man­cher Persönlichkeit, auf die es scheinbar ankam, klarzumachen versucht, wie anders die Ereignisse würden, wenn von autoritativer, von maßge­bender Stelle aus der Welt gesagt würde: Wir wollen einem gesunden menschlichen sozialen Ziele zueilen. - Das ganze Verhältnis der Staaten untereinander hätte anders werden müssen, wenn statt bloßer Rechts-und Staatsprogramme umfassende Menschheitsprogramme in dem hier gemeinten Sinne von da oder dort in die Menschheit gebracht worden wären.

Man kann nicht einmal sagen, daß solche Dinge nicht ein gewisses theoretisches Verständnis gefunden hätten. Was ich in diesen Vorträgen ausgeführt habe, hat manchen sogar recht sympathisch geschienen. Aber die Brücke zu schlagen zwischen dem Verstehen einer solchen Sache und dem Willen, nun wirklich alles zu tun, um diese Dinge im Leben entsprechend zu verwirklichen, jeder an seinem Orte, diese Brücke zu schlagen, das ist noch eine andere Sache. Das wirkt vielfach unbequem. Daher betäubt sich mancher gerne und sagt: Mir scheint das Ganze träumerisch, unpraktisch. - Er betäubt sich nur, weil er nicht den Willen hat, wirklich einzugreifen in den Gang der Ereignisse. Nicht ein revolutionärer Gang der Ereignisse ist hier gemeint, nicht etwas was von heute auf morgen geschehen soll, sondern an die Richtung ist ge­dacht, in welche alle einzelnen Maßnahmen des öffentlichen und priva­ten Lebens gebracht werden müssen, wenn eine Gesundung des sozialen Organismus eintreten soll. Das, was ich schon vorgestern gesagt habe, das habe ich in anderer Form manchem Menschen, auf den man rechnen wollte in dieser schwierigen Zeit, mit folgenden Worten gesagt: Heute, sagte ich zum Beispiel, stehen wir in dem furchtbarsten der Kriege. Spräche man aus diesem furchtbarsten der Kriege das, was der Menschheit

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sozial notwendig ist, so aus, daß man sagt: man bekenne sich dazu, diesem oder jenem Reiche einen menschenwürdigen Inhalt dadurch zu geben, daß man so etwas für die Menschheit verwirklichen will, dann würde man dem furchtbaren Gang der Ereignisse eine ganz andere, heil­samere Richtung geben als durch das bloße Schwert, durch die bloßen Kanonen und dergleichen, oder durch eine bloße, eigentlich auf gewis­sen Gebieten gar nicht vorhandene Politik. Ich sagte: Sie haben die Wahl, entweder das, was hier vorgelegt wird, was erkannt wird aus den Entwickelungsbedingungen und Entwickelungskräften der Mensch­heit heraus, durch Vernunft zu verwirklichen, oder vor etwas anderes gestellt zu sein.

Heute stehen wir, weil die Menschheit in den letzten Jahrzehnten ge­wissermaßen versäumt hat, das zu erkennen, was in diesen Dingen liegt, heute stehen wir vor der furchtbarsten Katastrophe, die hereingebro­chen ist wie eine Krankheit, wie eine Krankheit, die einen Organismus befällt, der nicht naturgemäß seinen Gesetzen nachlebt. Diese Kriegska­tastrophe soll gerade zeigen, deutlich zeigen, was man vor ihr auch schon hätte erkennen können, aber weil es nicht so deutlich war, eben nicht erkannt hat, die soll zeigen, was notwendig ist für die Gesundung des sozialen Organismus der Menschheit. Und manchem habe ich ge­sagt: Sie haben in diesen Andeutungen über die menschliche Entwicke­lung in sozialer Beziehung gegeben, was sich in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren in der zivilisierten Welt verwirklichen will. Es ist nicht ein Programm, nicht ein Ideal, von dem ich spreche, sondern es ist das Ergebnis der Beobachtung desjenigen, was sich in den nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahren durch das, was in der Menschheit keim-haft heute schon veranlagt ist, verwirklichen will. Und Sie haben nur die Wahl, sagte ich, entweder durch die Vernunft an der Verwirklichung zu arbeiten, oder sich gegenübergestellt zu sehen Revolutionen und sozia­len Kataklysmen, sozialen furchtbaren Umwälzungen. Nichts drittes gibt es daneben. Der Krieg wird vielleicht die Zeit sein - so sagte ich zu manchem -, wo noch Vernunft anzunehmen ist. Nachher könnte es zu spät sein. Denn es handelt sich nicht um ein Programm, das man ausfüh­ren oder unterlassen kann, sondern es handelt sich darum, daß das er­kannt werden muß, was sich verwirklichen will, und was der Mensch

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deshalb verwirklichen muß, weil es in seinen notwendigen geschicht­lichen Wachstumskräften für die Gegenwart und die nächste Zukunft liegt.

Was sich auch noch als ein besonderes Hindernis des Verständnisses ergab, das war, daß der eine oder andere immer wieder glaubte, solche Dinge bezögen sich nur auf das innere Gefüge irgendeines Staates oder irgendeines Menschheitsterritoriums. Nein, solches soziale Denken ist zu gleicher Zeit die Grundlage für die wirklich notwendige Gestaltung der äußeren Politik der Staaten untereinander. Geradeso wie der menschliche Organismus jedes seiner Systeme durch besondere Organe der Außenwelt zuwendet, so kann auch nur der Staat, wenn ich nun die­sen Gesamtausdruck gebrauchen darf, als sozialer Organismus seine drei Glieder nach außen in Tätigkeit versetzen. Ganz anders stellen sich die Verhältnisse von Einzelstaat zu Einzelstaat heraus, wenn nicht mehr zentralisierte Regierungen und Verwaltungen miteinander in Bezie­hung treten, sondern wenn von dem einen sozialen Gebilde die Vertre­ter des geistigen Lebens mit den Vertretern des geistigen Lebens des an­deren sozialen Staatsgebildes in Beziehung treten, wiederum die Vertre­ter des Wirtschaftsgebietes, des politischen Gebietes, mit der entspre­chenden Vertretung der anderen. Während das Zusammenfügen, das Durcheinanderwirren der drei Gebiete nach außen hin so wirkt, daß immer, wenn ich so sagen darf, an den Grenzen notwendig Konflikte entstehen müssen durch das Chaos, das in dem Durcheinanderwirren der drei Gebiete liegt, würde, wenn über die Grenzen der einzelnen Staa­ten hinüber die Vertretungen der drei Glieder in ihrer Selbständigkeit wirkten, das Wirken des einen Gliedes in internationaler Beziehung durch das Wirken des anderen nicht nur nicht gestört, sondern im Ge­genteil korrigiert und ausgeglichen werden.

Das ist es, was ich heute nur, ich möchte sagen, wiederum skizzen-weise hinstellen möchte zur Bekräftigung dessen, daß es sich hier nicht bloß handelt um Geltendmachung gewissermaßen einer inneren sozia­len Staatsstruktur, sondern um internationales und soziales Leben der Menschheit. Alle diese Dinge versuchte ich schon klarzumachen, wäh­rend wir in den furchtbaren katastrophalen Ereignissen drinnenstanden. Jetzt ist für viele Menschen Mittel- und Osteuropas furchtbares Un­glück

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hereingebrochen, furchtbares Unglück, das für jeden einzelnen, für jeden Einsichtigen sich als ein auch die übrige Welt bedrohliches Un­glück zeigt. Das muß Platz greifen mit Bezug auf ein wirkliches Ver­ständnis der Menschheit für ihre Aufgaben in der Gegenwart und Zu­kunft: daß diejenigen, welche also aus den wahren wirklichen Entwik­kelungsbedingungen der Menschheit heraus das Leben in seine Gesun­dung überführen wollen, nicht für unpraktische Idealisten, sondern für die wirklichen Lebenspraktiker endlich genommen werden. Der selbst­verständlichen Gestaltung des modernen Lebens aus Technik und Kapi­talismus heraus muß sich gegenüberstellen die durchaus auf innerster menschlicher Initiative beruhende Gestaltung der geistigen, selbstän­digen geistigen Kultur und der selbständigen Staatskultur, welche die wahre Gleichheit von Mensch zu Mensch begründet und welche auch, wie wir demnächst sehen werden, die Arbeits- und Lohnverhält­nisse erst in einer für das Proletariat wünschenswerten Weise regeln können.

Die Frage nach der Gestaltung der menschlichen Arbeit, nach der Be­freiung der menschlichen Arbeit von der Ware, die wird erst lösbar, wenn die Dreigliederung des sozialen Organismus eintritt. Das, was die modernen Sozialisten wollen, ist als Wollen gewiß berechtigt; was sie selbst als die Heilmittel ansehen, das würde am allerwenigsten als Heil­mittel wirken, wenn es in äußere Realität so übergeführt würde, wie sie wollen.

Das aber möchte ich immer wieder und wiederum betonen: Hier ver­suche ich nicht aus irgendeiner einseitigen Klassen- oder Parteistellung heraus, sondern aus der Beobachtung der menschlichen Entwickelungs­kräfte heraus über dasjenige zu sprechen, was die einen Sozialisierung, die anderen Gesundung des sozialen Lebens, wieder andere Wiederer­wachen eines gesunden politischen Sinnes und so weiter nennen. Daß man es aber mit etwas zu tun hat, was nicht ein willkürliches Programm ist, sondern was der tiefste Wirklichkeitsimpuls der nächsten Jahrzehnte der Menschheitsentwickelung ist, das ist es, was eigentlich zugrunde liegt der ganzen Meinung und Intention, die ich mit diesen Vorträgen verwirklichen will; daß man es nicht zu tun hat mit der Meinung eines Menschen aus diesem oder jenem Stande heraus, sondern daß man es zu

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tun hat mit dem, was da spricht die tiefere Wollensgrundlage der Menschheit für die nächsten Jahrzehnte. Das möchte ich nun im einzel­nen begründen und ausführen und beweisen durch die beiden Vorträge der nächsten Woche.

DRITTER VORTRAG Zürich, 10. Februar 1919 Schwarmgeisterei und reale Lebensauffassung im sozialen Denken und Wollen

#G328-1977-SE047 Die soziale Frage

#TI

DRITTER VORTRAG

Zürich, 10. Februar 1919

Schwarmgeisterei und reale Lebensauffassung

im sozialen Denken und Wollen

#TX

In den Vorträgen der vorigen Woche habe ich bereits darauf aufmerk­sam gemacht, daß die gegenwärtige soziale Lage mit Bezug auf ihre Ent­wickelung besonders dadurch Hemmnisse erfährt, Schwierigkeiten er­lebt, daß eine Verständigung der verschiedenen Klassen der gegenwär­tigen Menschheit in einer verhältnismäßig weiten Ferne liegt. Die füh­rende Bevölkerungsklasse, wie sie sich heraufentwickelt hat in den letz­ten Jahrhunderten, Jahrzehnten bis zur Gegenwart, sie hat gewisse Denkgewohnheiten, gewisse innere Impulse, aus denen heraus sie emp­findet, denkt und will. Und man möchte sagen: Ein Abgrund ist zwi­schen diesen Denkgewohnheiten und zwischen dem, was in der Art, wie ich es die vorige Woche charakterisierte, sich entwickelt hat als die ganz spezifische Eigenart in den Denkgewohnheiten des modernen Proleta­riats, in dem doch eigentlich der Ursprung dessen liegt, was man heute die soziale Frage nennt.

Wer sich bemüht, in das wirkliche Leben einzudringen, in die Kräfte, die spielen im gesellschaftlichen Zusammenhange der Menschen, für den erscheint es viel wichtiger, diese, man möchte sagen, unter dem Be­wußtsein der Menschen, unter dem, worüber sie bewußt diskutieren, liegenden Impulse zu beobachten als das, was eben im Bewußtsein selbst auftritt. Man kann innerhalb der über diese Dinge denkenden Kreise des Bürgertums heute mancherlei Ansichten hören. Man kann auch verneh­men die Anschauungen der Persönlichkeiten des Proletariats oder Füh­rer dieses Proletariats; man wird nicht so viel für eine reale Lebensan­schauung und für die Bildung eines Urteiles mit Bezug auf die soziale Tatsache der Gegenwart gewinnen aus der Beobachtung dieser An­schauung, als gewissermaßen aus dem, was hinter diesen Anschauungen liegt. Und da liegt viel mehr soziale Psychologie, soziale Seelenlehre, als man auf beiden Seiten eigentlich denkt.

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Wer - ich darf das von mir wohl sagen, der ich versuche, diese Dinge hier darzustellen-, wer sich bemüht hat, nach allen Seiten hin einzudrin­gen sowohl in die Denkgewohnheiten der bürgerlich leitenden Kreise auf der einen Seite wie in die Seelenimpulse des aufstrebenden Proleta­riats, der weiß, wie groß die Kluft ist zwischen beiden und wie schwierig das Verständnis ist; und dieses Nichtverstehen ist einmal eine welthisto­rische, ist selber eine soziale Tatsache der Gegenwart. Wir sehen ja jetzt wiederum Paris - Bern. Wenn man einen Sinn hat für das Hören solcher Dinge, dann wird man sagen: An beiden Orten wird eine ganz verschie­dene Sprache gesprochen. An beiden Orten wird eine so verschiedene Sprache gesprochen, daß man zunächst daran verzweifeln könnte, daß das, was an dem einen Ort gesprochen wird, an dem anderen auch nur im entferntesten empfunden wird, und umgekehrt. Deshalb ist es auch so schwierig, in der Gegenwart den Blick hinzulenken sowohl in bürger­lichen Kreisen als auch in Kreisen des Proletariats auf diejenigen Dinge, auf die es eigentlich als hauptsächlich treibende Kräfte in der sozialen Frage ankommt. Denn in dem, was geschichtlich vorgeht, ist ja nicht alles gleich wichtig, sondern unter den geschichtlichen Ereignissen sind solche, welche in signifikanter Weise das andeuten, was eigentlich die wirksamen, die wahrhaft wirksamen Kräfte sind. Andere Erscheinun­gen, die der oberflächliche Beobachter vielleicht für ebenso wichtig hält, kommen für die wahre Wirklichkeit gar nicht in Betracht.

Wer die proletarische Bewegung, wie sie sich herausgebildet hat in den letzten Jahrzehnten, sachgemäß zu verfolgen in der Lage war, dem wird sich als eine solche signifikante Tatsache wohl unter vielem ande­ren die aufdrängen, daß das moderne Proletariat, das ja wirklich in einer, man möchte sagen, wissenschaftlichen Form das in sich aufgenommen hat, was seine Impulse sind, daß dieses moderne Proletariat aus seinen Anschauungen heraus zu sagen verstand, wie die Dinge, die es in die ge­genwärtige Lage hineingebracht haben, ihre Auflösung finden müssen, wie das, was als eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung die alten Bevölkerungsklassen heraufgebracht haben, nach und nach verschwin­den und wie etwas anderes an dessen Stelle treten müsse.

Es liegt da eine Tatsache vor, für die sich manche Spötter gefunden haben. Allein unter die Spötter soll hier nicht gegangen werden, son­dern

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es soll auf das historisch Ernste dieser Angelegenheit hingewiesen werden. Wenn man gerade mit einsichtigen Vertretern der modernen proletarischen Lebensauffassung sich auseinandergesetzt hat - vielleicht hat man es besonders in den ersten Jahren, in denen man bekanntgewor­den ist mit dieser Bewegung, mehr getan als später, wo man sich in diese Dinge schon mehr hineingefunden, wo man sich mit ihnen mehr abge­funden hatte, wo man doch wohl die Frage aufwarf: Welche Gestaltung der Gesellschaft, des menschlichen Zusammenlebens und menschlichen Wirkens, welche Gestaltung des sozialen Organismus betrachtet man innerhalb dieser Lebensauffassung eigentlich als das, was da kommen soll, als das, was herbeigeführt werden soll? - man bekam immer die aus dieser Lebensauffassung heraus ganz sachgemäße Antwort: Das interes­siert uns weiter jetzt noch nicht. Für uns handelt es sich vor allen Dingen darum, die gegenwärtige Gesellschaftsordnung zu ihrer Auflösung zu bringen, sie dahin zu bringen, daß sie sich selber ad absurdum führt. Was dann an die Stelle tritt, das wird sich schon ergeben. - Immer handelte es sich den Leuten darum, die Ansicht zu vertreten, das moderne Proleta­riat müsse in die Macht- und Herrschaftsstellungen einrücken. Gelingt ihm das nach der Überwindung der vor ihm her marschierenden Klasse, so wird es dann, wenn es die Macht in den Händen hat, das finden, woran es vorläufig nicht zu denken braucht.

Das war programmatisch. Das ist aber nicht im eigentlichen Sinne sachgemäß gedacht. Es ist auch agitatorisch, allein es ist nicht wirklich­keits gemäß gedacht. Wirklich keits gemäß ist aber für den, der einen Sinn hat für die Entwickelungs kräfte der Geschichte, die Frage: Ja, was be­deutet denn eigentlich dann diese moderne proletarische Weltanschau­ung innerhalb der Entwickelung der Menschheit in die Gegenwart her­ein überhaupt? - Und da wird man immer wieder und wiederum abge­lenkt, weil, wie gesagt, die Anschauungen selbst weniger in Betracht kommen, abgelenkt von dem, was die Leute sagen zu dem, wie sie füh­len, wie sie über ihr eigenes Leben empfinden, wie sie denken über die anderen Klassen der menschlichen Gesellschaft. Kurz, man wird abge­lenkt von der proletarischen Frage auf den Lebensstatus des Proletariats selbst. Es tritt einem gewissermaßen aus dem Leben entgegen nicht Rede, nicht Aussage, sondern das bestimmt geartete Dasein einer Men­schenklasse,

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die durch die Art, wie sie da ist, sagt, um was es sich han­delt. Und die Antwort, die nun die Realität gibt, die das wirkliche leben­dige Proletariat, wie es heute ist, selbst gibt, diese Antwort, sie könnte etwa so formuliert werden. Es könnte gesagt werden: Dieses moderne Proletariat mit seinen Lebensmöglichkeiten und Lebensbedingungen, mit der Art und Weise, wie es drinnensteht in der modernen Gesell­schaftsordnung und sich selber in ihr fühlt, dieses moderne Proletariat fühlt sich, erlebt sich als die Kritik dieser modernen, aus Technik und Kapitalismus hervorgegangenen Wirtschaftsordnung.

Das ist, wie ich meine, außerordentlich interessant, daß man, wenn man Sinn für wirklichkeitsgemäße Anschauung hat, gewissermaßen in dem Proletariat selber die Antwort hat in dem, was da ist, nicht in einer Theorie, nicht in irgendwelcher theoretischen Auseinandersetzung, sondern in dem Proletariat selber. Eine Kritik ist es. Daß dieses moderne Proletariat so geworden ist, das liefert gewissermaßen die Kritik dessen, was sich außerhalb dieses Proletariats und dieses Proletariat für sich in Lohn nehmend als moderne Wirtschaftsordnung herausgebildet hat.

Weil dies so ist, hat insbesondere eingeschlagen in die Seele dieses modernen Proletariats eine an sich abstrakte, man möchte sagen aufwis­senschaftlichen Stelzen gehende Lehre, aber eine Lehre, die durchdrun­gen ist gerade von dem Impuls, der, wie ich es eben charakterisiert habe, als der eigentliche Lebensimpuls im modernen Proletariat selber vor­handen ist: die Lehre des Marxismus, die Lehre des Karl Marx. Es ist ein einzigartiges Beispiel in der Geistesgeschichte der Menschheit, daß eine unverbrauchte Menschenklasse, eine Menschenklasse mit noch nicht de­kadenter, mit unverbrauchter Intellektualität, mit so vollem Herzen, mit so offener Seele und so, wie wenn die darin wirksamen Kräfte die eige­nen Lebenskräfte wären, eine wissenschaftliche Theorie aufgenommen hat, wie das von seiten des modernen Proletariats mit der marxistischen Lehre geschehen ist.

In dieser Beziehung muß man die Dinge am Leben studiert haben. Man muß gesehen haben, wie selbst Schwierigstes, von den anderen Klassen als schwierig Angesehenes sich hineingefunden hat in die ele­mentar fühlende und empfindende Proletarierseele, wie das moderne Proletariat in Millionen und Millionen ergriffen worden ist von einer

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scheinbar theoretischen Lehre. Aber was lebt in dieser theoretischen Lehre? Das ist wiederum das Eigentümliche, daß in ihr auch nicht das lebt, was man im gewöhnlichen Sinne ein soziales Ideal nennt. Was in ihr lebt, hat nicht irgendeine Formulierung, wie ein Zukunftsstaat oder eine zukünftige soziale Struktur aussehen soll, sondern in ihr lebt im wesent­lichen eine Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschafts- und Wirt­schaftsordnung, und es liegt gewissermaßen der Instinkt in diesem mar­xistischen Werke, der Instinkt: Weise ich das Proletariat hin auf das, was Kritik der modernen technischen kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist, dann weise ich es auf seine eigenen Lebenskräfte hin, dann führe ich es zu seiner eigenen Wirklichkeit. Es ist schon in einem gewissen Sinne das Spiegelbild ausgedrückt des unmittelbaren proletarischen Lebens gerade in der marxistischen Lehre. Und diejenigen, welche glauben, daß die marxistische Lehre für das Proletariat abgetan ist, die begreifen auf der einen Seite nicht, daß äußere Formulierungen, bestimmte Anschau­ungen und Gedanken längst überwunden sein können, daß aber geblie­ben ist der spezifische Elan, der spezifische Impuls, der in einer solchen Sache lebt, und daß auf der anderen Seite gerade vielleicht in den entge­gengesetzten Anschauungen, zu denen man gekommen ist aus dem Marxismus heraus, daß in allerlei revisionistischen Versuchen nur wie­derum eine Fortentwickelung dessen lebt, was als Impulse in die Seele des modernen Proletariats durch den Marxismus hineingezogen ist.

Das ist nur, um zu charakterisieren eine soziale Tatsache der Gegen­wart, die mir wichtiger scheint als elementare Diskussionen, die gepflo­gen werden, denn sie weist gewissermaßen in die soziale Psychologie hinein. Und wenn sie auch nicht direkt eine Antwort gibt - wir werden im Laufe der Vorträge noch sehen, was als Antwort zu geben ist -, so weist sie auf die vorhandenen Fragen von Gesichtspunkten aus hin, die für das reale Leben der Gegenwart wohl wahrscheinlich als erste in Be­tracht kommen. Und welche Empfindung bekommt man, wenn man sich dieser Tatsache unbefangen, vorurteilslos gegenüberstellt? Da be­kommt man die Empfindung einer gewissen Eigentümlichkeit des modernen Lebens überhaupt. Dieses moderne Leben - wie ich ja oftmals in meinen Vorträgen, die ich hier in Zürich gehalten habe, betonte- hat Denkgewohnheiten, hat Denkformen herausgebildet, die sich für eine

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gewisse Richtung der Naturwissenschaft außerordentlich fruchtbar er-weisen. Es hat dann dieses moderne Denken auch eindringen wollen in das Begreifen und begreifende Reformieren, reformierende Begreifen des sozialen Lebens selbst, der sozialen Erscheinungen und Impulse des Lebens. Aber bei diesem Eindringen hat man überall das Gefühl: Die Menschen der Gegenwart, die gerade rein in den Denkformen und Denkgewohnheiten der Gegenwart drinnenstehen, haben nicht Be­griffe, welche in Wirklicbkeit die komplizierten Erscheinungen des sozialen Lebens erfassen können. Gewissermaßen sind die Begriffe zu engmaschig. Sie können nicht in sich fassen die komplizierten Erschei­nungen des sozialen Lebens selbst. Sie bleiben abstrakt, sie bleiben kon­turenhaft, aber sie dringen nicht ein in das wirkliche Leben selbst, das sich im sozialen Körper abspielt. Man möchte sagen: Ein kurzmaschiges Denken zeichnet diese moderne Menschheit aus. Und dieses kurzma­schige Denken, dieses Denken, das überall abreißt, wenn man ins wirk­liche Leben untertauchen will, dieses Denken, das ist auch übergegan­gen in das Bestreben des modernen Proletariats. Und so kommt es, daß dieses Denken hinreicht zur Kritik, nicht aber hinreicht dazu, wirkliche Impulse herauszugestalten aus dem menschlicben Seelenerleben, die dastehen könnten wie Richtungs kräfte, die in die Zukunft hineinführen. Überall reißt das Denken ab, wenn es nach solchen Impulsen hinstreben will.

Und damit bezeichnet man etwas, was tief einschneidend ist in das ganze Leben der Gegenwart. Wer mit vollem Ernst imstande ist, das aufzufassen, was diesem Leben der Gegenwart not tut, der muß gerade von dem Gesicbtspunkte aus seinen Blick darauf richten, der hier be­rührt wird, gerade jetzt in diesem weltgeschichtlichen Augenblicke, wo wahrhaftig für Diskussionen, die bloß theoretisch verlaufen, wenig Zeit ist, weil die Tatsachen drängend und brennend sind. Gerade jetzt in die­sem Augenblicke sieht man, wie die Menschen vor &ese drängenden und brennenden Tatsachen gestellt sind, und wie sie überall eben diese Erscheinung des Denkens zeigen, das in die Wirklichkeit nicht eindrin­gen kann. Von gutem Willen sind die Menschen vielfach durchdrungen, von einem den Tatsachen gewachsenen Denken aber nicht. Es zeigt sich gerade in diesem weltgeschichtlichen Augenblicke für den, der eben im

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Ernst in die Zeitlage einzudringen vermag, das Heraufkommen - oft­mals zeigt es sich maskiert in allerlei anderen Formen, ganz unbewußt dem Menschen- desjenigen Hanges der Menschen, der für die wirkliche ernste Lebensführung, wenn brennende und drängende Fragen vorhan­den sind, ganz besonders verhängnisvoll wird: das Heraufkommen einer gewissen Schwarmgeisterei, wie ich es nennen möchte. Diese Schwarmgeisterei, die sich in den verschiedensten Masken auf den ver­schiedensten Gebieten zeigt, die ist es, was uns so schwer in ein sachge­mäßes Wirken in der Gegenwart hineinkommen läßt. Und diese Schwarmgeisterei, sie hat sich ergeben aus der Entwickelung, die ich als die historische angedeutet habe in den Vorträgen der vorigen Woche, und die etwa begonnen hat um die Zeitenwende des 14., 15., 16. Jahr­hunderts.

Worinnen liegt das Wesentliche dieser Schwarmgeisterei? Das Wesentliche liegt eben gerade darinnen, daß durch eine gewisse unwirk­liche Lebensauffassung, durch eine Lebensauffassung, welche das ver­missen läßt, was ich in der vorigen Woche die Stoßkraft des inneren Er-lebens genannt habe, daß durch eine gewisse Lebensauffassung ein see­lisches, ein denkerisches, ein wissenschaftlich Erkenntnis suchendes in­neres Leben gewissermaßen eine Insel oder fortwährend eine Fülle von Inseln sucht, und nicht die Brücke bauen will zu demjenigen, was das Leben in der Alltäglich keit ist. Wir finden, wie zahlreiche Menschen der Gegenwart es gewissermaßen - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf- innerlich vornehm finden, in einer gewissen, sei es auch schulmä­ßigen Abstraktheit nachzudenken über allerlei ethisch-religiöse Pro-bleme in Wolkenkuckucksheimhöhen. Wir sehen, wie die Menschen nachdenken über die Art und Weise, wie sich der Mensch Tugenden an­eignen könne, wie er in Liebe zu seinen Mitmenschen sich verhalten soll, wie er begnadet werden kann. Wir sehen Begriffe von Erlösung, Gnade und so weiter sich entwickeln, die gewisse Träger von Lebensanschau­ungen möglichst nur in geistig-seelischen Höhen halten wollen. Wir sehen aber zugleich das Unvermögen, die echte Brücke zu schlagen von demjenigen, was die Leute gut und liebevoll und wohlwollend und rechtlich und sittlich nennen, zu dem, was in der äußeren Wirklichkeit, im Alltag uns umgibt als Kapital, als Arbeitsentlöhnung, als Konsum,

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als Produktion in bezug auf die Warenzirkulation, als Kreditwesen, als Bank- und Börsenwesen. Wir sehen, wie zwei Weltenströmungen nebeneinandergestellt werden auch in den Denkgewohnheiten der Men­schen: die eine Weltenströmung, die sich gewissermaßen in göttlich-geistiger Höhe halten will, die keine Brücke bauen will zwischen dem, was ein religiöses Gebot ist, und was eine Usance des gewöhnlichen Handels ist. Das Leben aber ist ein einheitliches. Das Leben kann nur gedeihen, wenn die es treibenden Kräfte von allem ethisch-religiösen Leben herunterwirken in das alleralltäglichste, profanste Leben, in das­jenige Leben, das eben weniger vornehm erscheint. Denn vernachlässi­gen wir es, diese Brücke zu schlagen, verfallen wir in bezug aufreligiö­ses, sittliches Leben in bloße Schwarmgeisterei, die fernsteht der alltäg­lichen wahren Wirklichkeit, dann rächt sich diese alltäglich wahre Wirk­lichkeit. Dann strebt der Mensch aus einem gewissen religiösen Impuls alles möglich Ideale an, alles mögliche, was er «gut» nennt, aber den In­stinkten, die als gewöhnliche alltägliche Lebensbedürfnisse gegenüber­stehen den Befriedigungen, die aus der Volkswirtschaft heraus kommen müssen, diesen Instinkten steht der Mensch ohne Empfindung machtlos gegenüber. Er weiß keine Brücke zu bauen von dem Begriff der gött­lichen Gnade zu dem, was im alltäglichen Leben vor sich geht. Dann rächt sich dieses alltägliche Leben. Dann nimmt dieses alltägliche Leben eine Gestalt an, die nichts zu tun haben will mit dem, was als ethische Impulse in vornehmeren, seelisch-geistigen Höhen gehalten werden will. Dann aber wird die Rache eine solche, daß das ethisch-religiöse Leben, weil es sich fernhält von der alltäglichen, von der unmittelbaren Lebenspraxis, daß dieses ethisch-religiöse Leben, ohne daß man es merkt, weil die Sache maskiert auftritt im Leben, eigentlich zu einer in­nerlichen Lebenslüge des Menschen wird.

Wie sehen wir heute die Menschen vielfach herumgehen, die aus ge­wisser ethisch-religiöser Vornehmheit heraus - wie sie meinen - den be­sten Willen zeigen mit Bezug auf ein richtiges Zusammenleben mit ihren Mitmenschen, die den besten Willen zeigen, ihren Mitmenschen nur das Allerallergütigste zu tun, die aber alles versäumen, dies wirklich zu tun, weil sie sich kein soziales, in den praktischen Lebensgewohnheiten drinnenstehendes Gefühlsleben aneignen.

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Und so erleben wir es - wenn ich den Ausdruck noch einmal gebrau­chen darf- in diesem welthistorischen Augenblick, wo die sozialen Fra­gen so sichtbarlich, so fühlbar drängen, daß von allen Seiten die Schwarmgeister, die manchmal sich für sehr starke Lebenspraktiker hai­ten, kommen und sagen: Wir haben nötig, daß die Menschen wiederum zurückkehren aus dem Materialismus, aus dem äußerlich materiellen Leben, das uns in die Katastrophe und in das Unglück hineingetrieben hat, zu einer gewissen Geistigkeit, zu einer geistigen Auffassung des Lebens. - Und man wird nicht müde, zu zitieren oder anzuführen die Persönlichkeiten, die in der Vergangenheit - Vergangenheit muß es in der Regel sein, dem Gegenwärtigen wird man weniger gerecht - sich für eine gewisse ideale Weise, für eine gewisse Geistigkeit ausgesprochen haben. Ja, man kann es erleben, daß, wenn jemand versucht, gerade auf das hinzuweisen, was heute für das praktische Leben so notwendig ist wie das tägliche Brot, daß er darauf aufmerksam gemacht wird, daß es ja in erster Linie darauf ankomme, die Menschen wiederum zum Geiste zu bringen. In dieser Mahnung steckt ungeheuer viel von dem, was gerade die Menschen in die heutige Katastrophe hineingeführt hat, steckt Schwarmgeisterei, die in den mannigfaltigsten Masken heute auftritt und in den Tatsachen wirkt. Gewiß, es ist auf der einen Seite Schwarm­geisterei, wenn jemand, ohne die äußeren praktischen Lebensbedingun­gen zu kennen, irgendwelche soziale Ideale aufstellt, die man Utopien nennt, in denen er recht fein herausstaffiert und herauskristallisiert das System zeigt, wie die Menschen leben sollten, damit sie glücklich oder zufrieden oder sonst irgendwie seien. Im Grunde genommen, selbst wenn solche Utopien sehr scharfsinnig sind, es kommt nicht auf den Scharfsinn an, es kommt auch nicht auf den guten Willen an, es kommt auf das an, wie sie sich zur Lebenspraxis stellen. Es kommt heute nicht darauf an, daß man die Menschen darauf hinweist, zum Geiste zurückzu­kehren, sondern es kommt darauf an, daß Geist in dem ist, wie man heute über den sozialen Organismus denkt. Auf die Art und Weise, auf das Wie des Denkens kommt es an. Meinetwillen rede man gar nicht vom Geist, aber in der Art und Weise, wie man über die Lebenspraxis redet, sei Geist. Dann wird man der heutigen Zeit viel besser dienen, als wenn man aus Schwarmgeisterei in jedem dritten Satz heute die Men­schen

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darauf hinweist, sie sollen wiederum zum Geiste zurückkehren, denn gewöhniich können sich diejenigen nichts unter Geist vorstellen, zu denen man so spricht, gerade weil sich auch diejenigen nichts Rechtes vorstellen unter Geist, die so sprechen. Die Utopien selber aber, die auf­gestellt werden - und auch heute sind sie ja nicht einmal so sehr gering an Zahl -, die sozialen Ideale, die fein ausgedacht sind, die sind noch nicht einmal das Schlimmste, denn in der Regel hält man nicht viel von diesen Dingen. Man kommt bald dahinter, daß diese Dinge unpraktisch sind, daß sie nicht aus den wahren Lebensbedingungen heraus gedacht sind. Viel schlimmer sind in der heutigen Lebenswirklichkeit die mas­kierten Schwarmgeistereien, welche aus scheinbarer Lebenspraxis her­ausgehen, aber diese Lebenspraxis nicht in Wirklichkeit in sich haben, sondern die eigentlich leben in wesenlosen Abstraktionen. Diese Schwarmgeister, wir haben sie - man muß in solchen Dingen immer frei von der Leber weg sprechen - in den Ereignissen der Gegenwart nur zu bedeutungsvoll erlebt. Und sie werden schwer erkannt. Sie werden schwer erkannt, weil man gerade auf diesen Gebieten den Blick nicht geschärft hat.

Wenn man heute in bezug auf einen Menschen, der im wesentlichsten gerade die Eigenschaft des Schwarmgeistes an sich hat - es soll im übri­gen gar nichts gegen manche sonstigen Qualitäten solcher Schwarmgei­ster gesagt werden, es können auch gute Leute sein, sie können ihre Pflicht tun aufihrem Gebiete, können sogar hervorragende Leute sein-, aber wenn man in bezug auf manche Persönlichkeit die Tatsache be­tont, daß er ein Schwarmgeist ist, dann sind die Menschen heute recht erstaunt, weil sie in dieser Beziehung, wie ihnen dünkt, selbstverständ­liche Urteile haben, aber weil in Wirklichkeit diese selbstverständlichen Urteile nichts anderes sind als ein wüster Aberglaube. Ich habe mir zum Beispiel im Verlauf der letzten Jahre auch manche «Lebenspraktiker» -das sage ich jetzt in Gänsefüßchen - angeschaut auf die Schwarmgeiste­rei hin. In dieser Beziehung wird die Menschheit, wenn sie zu wirklicher Erkenntnis vorrücken will, manches innerlich Paradoxe erleben müs­sen. Man wird zum Beispiel erstaunt sein, wenn ich als einen Schwarm-geist im eminentesten Sinne Ludendorff hinstelle. Das Urteil seiner An­hänger und seiner Gegner geht nach ganz anderer Richtung. Das

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Wesentlichste seiner Persönlichkeit ist, daß er mit Ausnahme desjenigen Gebietes, in dem er schulmäßig groß war, der Strategie, in bezug auf alles übrige Denken im eminentesten Sinne ein Abstraktling war, ein dem Leben völlig fremder Mensch, der sich schwarmgeistige Gedan­ken, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, über die Dinge machte, und der dadurch unsägliches Unheil bewirkt hat, daß er seine Schwarmgeistideen in die Wirklichkeit einführen wollte. Und so könnte man gerade manche von den Persönlichkeiten, die heute, weil man sie für Praktiker hält im Leben, unendliches Unheil anrichten, als die typi­schen Repräsentanten der Schwarmgeisterei hinstellen.

In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts trat diese Schwarmgei­sterei geradezu epidemisch auf, kam von Amerika herüber und überflu­tete Europa in Form der damals sogenannten «Gesellschaft für ethische Kultur». Da versuchte man irgend etwas, was lebensfremd war, was nur aus diesem vornehmen, abstrakten Erfühlen gewisser ethischer Impulse herausströmen sollte, als ethische Kultur auszubreiten. Und wenn jemand, wie ich es damals tun mußte, darauf hinwies, daß man mit sol­chen Dingen eben in Schwarmgeisterei drinnen lebt, daß man mit sol­chen Dingen gerade das menschliche Denken einsperrt, einschränkt, so daß es nicht untertauchen kann in die wahre Wirklichkeit, so wurde man entweder nicht verstanden oder mißverstanden oder verhöhnt.

Dieser Schwarmgeisterei soll sich eben das wirklichkeitsgemäße Den­ken gegenüberstellen, das, wie ich glaube, aus der hier ja auch durch viele Jahre hindurch vertretenen, wirklich geisteswissenschaftlichen Weltauffassung heraus sich ergibt. Was ist das Wesentliche dieser gei­steswissenschaftlichen Weltauffassung? Das Wesentliche ist, daß sie nicht vom Geiste spricht als demjenigen, was sich als ein bloßes Spiegel­bild aus der Anschauung der äußeren sinnlichen Wirklichkeit ergibt, sondern daß sie vom Geiste spricht aus einem wirklichen übersinnlichen Erleben einer Welt, die ebenso real ist, wie die durch Augen gesehene und durch Ohren gehörte und mit Händen getastete. Weniger kommt es darauf an, was man im einzelnen theoretisch über diese geistig wirkliche Welt sagt, sondern viel mehr kommt es darauf an, daß man durch alles das, was einem als Erkenntnis wird aus dieser Geisteserkenntnis der Welt, eine innere Seelenverfassung sich aneignet, einen inneren Lebensstatus,

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durch den der Mensch sich lebendig weiß als seelisch-geistiges Wesen in einer wirklichen geistigen Welt. Nicht darauf kommt es an, was man sagt über diese geistige Welt, sondern darauf kommt es an, wie man sich drinnenstehend fühlt in dieser geistigen Welt. Es mag schön sein, zu glauben an das oder jenes Übersinnliche. Das kann aber ebenso­gut zur Schwarmgeisterei führen, wie zu einem in gewisser Beziehung guten Wollen. Darauf aber kommt es an, daß man fühlt: Indem man denkt, indem man empfindet, ist in den Gedanken, die die eigene Seele durchblitzen, in den Empfindungen, die die eigene Seele durchzucken, der lebendig wirksame Geist.

Dieser lebendig wirksame Geist ist in uns. Er ist da, wie die Dinge draußen im Raume sind und die Vorgänge draußen in der Zeit sind. Und wenn man sich in diese Stellung zum wirklichen geistigen Erkennen nun nicht bloß hinein denkt, sondern hineinlebt, dann sprießt aus diesem gei­stigen Erkennen ein innerlicher Impuls, der ein Antrieb ist, den Geist in der Welt real zu machen durch sich selber, der ein Antrieb ist, den Geist als Realität zu erleben und zu verwirklichen in einer ganz anderen Weise, als das sein kann durch das, was ein bloßes Spiegelbild ist an Ideen, an Begriffen, die von einem Geistigen handeln. Es ist ein großer Unter­schied, ob man sagt: Ich denke über den Geist, ich glaube an den Geist-, oder ob man sagt: In mir denkt der Geist, in mir empfindet der Geist. -Der gewöhnliche Glaubensbegriff verliert eigentlich gegenüber diesem Erleben sogar seinen Sinn. Etwas von seelisch-geistiger Stärke muß in die Menschheitsentwickelung hineinkommen aus diesem geistigen Er­leben heraus. Und dieses Etwas von seelisch-geistiger Stärke, was in die Menschheitsempfindung hineinkommen soll, es ist von größerer sozia­ler Wichtigkeit als man denken kann, denn es ist das, was das Heilmittel ist für die lähmende, in der vorigen Woche hier charakterisierte Ideolo­gie, welche das Proletariat von dem Bürgertum als ein bedrückendes Erbe übernommen hat.

Das ist es, was in der ersten wahren Gestalt der sozialen Frage in Wirk­lichkeit lebt, wenn man in die Tiefen dieser Frage einzudringen versteht, daß die Entwickelung des modernen Geisteslebens um die Wende der neueren Zeit oder seit dieser Wende der neueren Zeit im 14. Jahrhun­derte allmählich sich so abgestumpft, abgeschwächt, abgelähmt hat, daß

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die Menschen nicht mehr wußten: in ihnen lebt der Geist als ein realer, lebendiger, sondern daß sie glaubten, nur Ideen, nur Spiegelbilder irgendeiner Wirklichkeit leben in ihnen - was dann in der Welt- und Lebensanschauung des modernen Proletariats dazu geworden ist, daß dieses Proletariat sagt: Es gibt auf geistigem Gebiete nur eine Ideologie. Die Wirklichkeit ist nur in dem ökonomischen, in dem wirtschaftlichen Prozesse, in dem Klassenkampfe; da spielt sich die Realität ab. - Aber daraus dampft in irgendeiner Weise etwas herauf in die Seelen der Men­schen; das kommt in Form von Bildern zur Offenbarung, von Bildern, die sich ausleben in der Wissenschaft, in der Sitte, in der Religion, in der Kunst. Das gibt einen Überbau für den einzig wirklich realen Unterbau. Und wenn man auch nicht umhin kann zuzugeben in der Soziologie, daß das, was in diesem Überbau als eine Ideologie lebt, wiederum real zu­rückwirkt auf das wirtschaftliche Leben, es bleibt doch Ideologie. Es gibt kein Heilmittel aus dieser Ideologie heraus, wenn man nicht zum wirklichen geistigen Erleben, wie es die geistige Wissenschaft in die moderne Menschheit hineinführen will, wenn man nicht zu diesem gei­stigen Erleben greift. Heilung von den Schäden der Ideologie ist nur zu erreichen durch wirkliche Vertiefung in den wahrhaftigen Geist und seine Erscheinungen, durch Vertiefung in die wirkliche übersinnliche Welt. Das, was bewirkt hat, daß innerhalb des modernen Proletariats alles geistige Leben, in das der Mensch durch die Kultur hineingeführt ist, als bloße Ideologie erscheint, das läßt, weil Ideologie nichts ist, was die Seele mit einem gewissen Elan, mit einer gewissen Schwungkraft, mit einem gewissen Bewußtsein, was sie eigentlich ist im höheren Sinne, erfüllen kann, die Seele unbefriedigt und leer. Aus dieser Leerheit der Seele ist die Stimmung, ist die trostlose Stimmung in der proletarischen Weltanschauung, die einen Teil, ein Glied der wirklichen sozialen Frage bildet, erwachsen. Und so lange man nicht einsehen wird, daß die Nei­gung der Menschen zur Ideologie geheilt werden muß, so lange wird man in die moderne proletarische Seele nicht das hineinbringen können, was positive Impulse sind, so lange wird bleiben in der modernen Prole­tarierseele eine bloße Kritik der heraufgekommenen technisch-kapitali­stischen Wirtschaftsordnung und Weltanschauung.

Das aber wird man nicht erreichen, wenn man nicht wird den Willen

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haben, in eine wirklich praktische Lebensanschauung einzutreten, in eine Lebensanschauung, die nicht aus Theorien, auch nicht bloß religiö­sen Theorien besteht, sondern die leben will, lebenschaffend sein will, die selber Lebensimpulse gebären will. Dazu ist manches notwendig, wovor der heutige Mensch wie vor etwas ganz Radikalem zurück-schreckt. Aber das, was hier gemeint ist, ist viel weniger radikal, als was aus dem Leben, das in den modernen Zeitinstinkten entfesselt wird, an die Menschen herantreten wird, wenn sie zu bequem sind, sich an das Notwendige zu wenden.

Was ich hier von einer gewissen Seite her ausgeführt habe, bezieht sich auf das eine Glied des sozialen Organismus, der entstehen muß aus den Lebensbedingungen der modernen Menschheit heraus, auf das eine der drei Glieder, wie ich sie in der vorigen Woche, am Mittwoch, hier skizzenhaft auseinandergesetzt habe. Ich habe damals auseinanderge­setzt, daß in einem gewissen Sinne das Unglück der modernen Mensch­heit, wenn es auch nicht durchschaut wird - es ist so, daß es nicht durch­schaut wird -, darinnen besteht, daß man das, was dreigliedrig sein soll und dessen drei Glieder in einer gewissen Selbständigkeit leben­dig ineinanderwirken sollten, zu einem in seinen Kräften chaotisch wirr wirkenden Organismus gemacht hat und noch fernerhin machen will.

Nur um nicht mißverstanden zu werden, bemerke ich gleichsam noch einmal in Parenthese, daß es sich mir wahrhaftig nicht darum handelt, irgendeinen gewaltigen Umschwung zu befürworten, der sich von heute auf morgen vollziehen soll. Was ich angebe, soll eine Richtlinie, eine gewisse Strömung sein, nach der orientiert werden kann jede ein­zelne Frage, die im Staate, im geistigen Leben, im wirtschaftlichen Leben dem Menschen entgegentreten kann. Man braucht nicht etwa gleich zu glauben, wie manche Leute, denen ich diese Dinge auseinan­dersetzte, man müsse gleich das, was man heute «Staat» nennt, morgen zu etwas anderem machen. Man braucht nur den Willen zu haben in be­zug auf diese Dinge, das christliche «Ändert den Sinn» zu verwirk­lichen, das heißt, die Einzelheiten, die Einzelmaßnahmen, vor die man gestellt ist, wenn man bei ihnen eingreifen soll, mit Bezug auf ihre Ge­staltung nach einer gewissen Richtung hin zu orientieren.

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Und so habe ich auseinandergesetzt, daß das, was man heute zusam­menmuddeln will in einen einheitlichen Staat, geradeso wie wenn man den menschlichen Organismus - zu einem Homunkulus würde man ihn dann machen - zusammenmuddeln wollte, so daß seine drei Systeme wirr zentralisiert wären, daß das, was man heute so zentralisieren will, zum gesamten Staatsbetriebe machen will, lebendig in drei Glieder aus­einanderfallen muß, wenn sich ein gesunder sozialer Organismus ent­wickeln soll. Es muß als selbständiges Glied dieses sozialen Organismus alles dasjenige sich entwickeln, was geistige Kultur ist, als selbständiger Organismus sich entwickeln alles das, was man heute im engeren Sinne das politische Staatsleben nennt, das nicht durch Zentralisation, sondern nur durch eine lebendige Wechselwirkung mit dem geistigen Leben zu­sammenhängen soll, und es muß sich als drittes selbständiges Glied ent­wickeln der Wirtschaftsorganismus. Geistiger Organismus, Staatsorga­nismus, wirtschaftlicher Organismus, das ist es, wovon man sagen muß:

in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren streben die Entwickelungs-kräfte der Menschen dahin. Und wer sich dieser Entwickelung wider­setzt, widersetzt sich dem, was die Lebensmöglichkeiten der modernen Menschheit sind.

Den ersten Punkt berührte ich von dem Gesichtspunkte aus, den ich heute auseinandergesetzt habe, zunächst: Das Leben der sogenannten geistigen Kultur, alles umfassend, was man Schul- und Erziehungswe­sen, was man religiöses Leben nennen kann, alles das umfassend, was künstlerisches, literarisches Leben ist, aber auch alles das umfassend, was sich auf das Privat- und das Strafrecht bezieht. Diese Dinge werde ich noch genauer charakterisieren. Alles das, was innerhalb dieses Lebens der geistigen Kultur beschlossen ist, das muß auf eine gemein­schaftliche, aber selbständige Grundlage gegenüber den Grundlagen des übrigen sozialen Organismus gestellt werden. Das muß ganz auf sich gestellt werden, das muß auf eine solche Grundlage gestellt werden, daß man sagen kann: das Lebenselement innerhalb dieses Gliedes des sozia­len Organismus muß die aus dem Zentrum des Menschen heraus wir­kende freie Entfaltung seiner körperlichen und geistigen Anlagen sein. Alles muß auf diesem Gebiete auf Individualität gestellt werden. Denn was in dieses Gebiet einfließt, das muß aus dem Zentrum der menschlichen

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Individualität heraus kommen, und die körperlichen und geisti­gen Anlagen des Menschen müssen freie Entwickelungsmöglichkeit haben, müssen aber zu gleicher Zeit davon zurückgehalten werden, daß sie in irgendeiner Weise schädlich oder hemmend oder unberechtigt in das übrige Kulturleben eingreifen können.

Gerade auf diesem Gebiete könnte man mancherlei anführen. Ich möchte ein groteskes Beispiel anführen. Ich bitte' zu entschuldigen, daß das Beispiel etwas grotesk sein wird, aber es wird vielleicht zum Aus­druck bringen, was ich gerade mit Bezug auf dieses Gebiet sagen will. Nehmen wir an, irgendein junger Student, also ein Mensch, der als ange­hender Mensch drinnensteht in der geistigen Entwickelung, habe seine Doktorarbeit zu machen. Er bekommt den Rat von der maßgebenden Persönlichkeit, irgendein Thema zu bearbeiten, das noch wenig oder gar nicht bearbeitet ist - nun, sagen wir zum Beispiel, es soll über die Schimpfwörter eines alten römischen Schriftstellers handeln. Solche Dinge gibt es ja, wie diejenigen, die es angeht, ja wohl wissen werden. Nun arbeitet der junge Mann ein ganzes Jahr über die Schimpfwörter irgendeines alten Schriftstellers. Man sagt heute: Das ist wissenschaft­lich wichtig. - Ja, von seiten derjenigen Vorstellungen, die man auf ge­wissen Gebieten hat, ist das ja gewiß wissenschaftlich wichtig; aber es kommt etwas anderes in Betracht. Das ist das Hineingestelltsein einer solchen Sache in den ganzen sozialen Organismus. Ablenken muß man den Blick von dieser Tatsache, daß es ja sehr interessant sein kann, über die Schimpfwörter irgendeines alten Schriftstellers zu schreiben. Ich kenne eine Dissertation, wo sich der junge Mann furchtbar geplagt hat, die handelte über die Parenthesen bei einem alten griechischen Schrift­steller. Ich will gar nichts gegen das, was vom rein wissenschaftlichen Standpunkt über solche Dinge vorgebracht werden kann, sagen. Banau­sische Dinge sollen hier nicht geltend gemacht werden. Aber mit Bezug auf das Hineingestelltsein in den sozialen Organismus liegt doch das Folgende vor: Der junge Mann braucht vielleicht ein Jahr regsten Flei­ßes. Da muß er essen, da muß er trinken, da muß er sich kleiden. Dazu braucht er ein gewisses Einkommen, ein gewisses Kapital. Was heißt das: er verzehrt ein gewisses Kapital? Das heißt ja nichts anderes im wirklichen Leben, als: Viele, viele Menschen müssen für ihn arbeiten.

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Das, was er ißt, was er trinkt, das, wovon er sich kleidet, das engagiert ein ganzes Heer von Menschen während dieses Jahres. Ein kleines Heer von Menschen engagiert er für sein Essen, Trinken und Sich-Kleiden, und das kommt in Betracht mit Bezug auf den sozialen Effekt der Sache. Heute ist man vielfach der Ansicht, man könne einfach die Dinge so ohne soziales Verständnis, aus einer gewissen Neigung, rein wissen­schaftlichen Interessen zu dienen, in die Welt hineinstellen. Unser Leben in der Gegenwart fordert aber, daß ein jeglicher Zweig in seinem Ver­hältnis, in seiner lebendigen Beziehung zu allen anderen Lebenszweigen für das soziale Verständnis, für das soziale Gefühl aufgefaßt werde.

Wie gesagt, ich habe Sie um Entschuldigung gebeten, daß ich gerade ein groteskes Beispiel angeführt habe, es könnten weniger groteske an­geführt werden, aber ich habe dieses Beispiel angeführt, um Ihnen zu zeigen, wie notwendig es ist, ein soziales Gefühl dafür zu entwickeln, wie das geistige Leben, der ganze Betrieb des geistigen Lebens im sozia­len Organismus so drinnenstehen muß, daß er gerechtfertigt ist durch die allgemeinen Interessen der Menschheit. Das Allgemeininteresse der Menschheit muß gefragt werden, ob es auf die Feststellung der Schimpf­wörter irgendeines alten römischen Schriftstellers einen so großen Wert legt, daß ein Jahr lang ein kleines Heer von Arbeitern für diese Arbeit angestellt werden muß. Die Frage könnte man natürlich weniger gro­tesk nach manchen anderen Seiten hin ausarbeiten. Dann würde man darauf kommen, daß das, was die geistige Kultur umfaßt, zu der zum Beispiel auch die Erfindung technischer Ideen gehört, lebendig wirkt gerade in das andere Gebilde, in den Rechtsstaat hinüber, wenn die Dinge mit einer relativen Selbständigkeit im Leben stehen. Dagegen be­wirkt die Zentralisation, daß alles ins Chaos kommt.

Das, was geistiges Leben ist, muß mit einer relativen Selbständigkeit dastehen, muß nicht nur auf die innere Freiheit des Menschen gestellt sein, sondern es muß so innerhalb des sozialen Organismus dieses gei­stige Leben stehen, daß es auch in völlig freie Konkurrenz gestellt ist, daß es auf keinem Staatsmonopol beruht, daß dasjenige, was das geistige Leben als Geltung sich verschafft bei den Menschen - was es für den einzelnen individuellen Menschen für eine Geltung hat, das ist eine an­dere Sache, wir reden von der Gestaltung des sozialen Organismus -,

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daß das auf völlig freier Konkurrenz, auf völlig freiem Entgegenkom­men den Bedürfnissen der Allgemeinheit einzig und allein sich offenba­ren kann. Mag irgend jemand in seiner Freizeit dichten, so viel er will, mag er auch Freunde finden für diese Dichtung, so viel er will - das, was berechtigt ist im geistigen Leben, ist allein das, was die anderen Men­schen miterleben wollen mit der einzelnen menschlichen Individualität. Das aber wird auf eine gesunde Basis nur gestellt, wenn man alles gei­stige Leben, alles Schul- und Universitätsleben, alles Erziehungsleben und alles Kunstleben des staatlichen Monopolisierungscharakters ent­kleidet und auf sich selbst stellt - wie gesagt, nicht von heute auf mor­gen. Die Richtung ist damit angegeben, wenn man den Menschen auf sich selbst stellt. Damit wird die Brücke geschlagen zu etwas anderem. Ich habe mich bereits im Anfange der neunziger Jahre bemüht, in mei­ner «Philosophie der Freiheit», die jetzt ihre Neuauflage erlebt hat, viel­leicht gerade zur rechten Zeit, zu zeigen, wie das, was das wirkliche Frei­heitserlehnis im Menschen ist, niemals beruhen kann auf etwas anderem als auf dem wirklichen, in die Seele des Menschen hereinspielenden Gei­stesleben. Ich nannte das dazumal das Hereinspielen der Intuition in die Menschenseele, das Hereinspielen des wirklichen Geistigen. Dieses wirkliche Geistige muß in der Menschenseele in dem Lichte der Freiheit und der freien Konkurrenz geboren werden, dann lebt es sich in der richtigen Weise in den sozialen Organismus hinein. Dann darf es aber auch nicht, und das ist wichtig, unter irgendeinem Aufsichtsrecht irgendeines anderen Gliedes des sozialen Organismus stehen, dann muß es in völliger Freiheit, nur herausgefordert durch die allgemeinen Be­dürfnisse, sich offenbaren können.

Ich weiß - und ich werde in den nächsten Vorträgen auch das widerle­gen -, daß viele Leute glauben: Nun ja, wenn die Schule frei ist, dann werden wir wiederum von lauter Analphabeten umgeben sein. - Ich werde zeigen, daß das nicht der Fall ist. Worauf es mir zunächst heute ankommt, das ist, aus der inneren Natur der Sache heraus die Notwen­digkeit des freien Geisteslebens im sozialen Organismus zu zeigen. Es gibt Staaten, in denen ja die Wissenschaft, wie heute fast überall, Mono­pol ist, auch ihr Betrieb monopolisiert ist durch den Staat, und in denen sich das Gesetz findet: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. - Das

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bleibt aber eine bloße Phrase und muß eine bloße Phrase bleiben, wenn das geistige Leben nicht auf sich selbst gestellt ist. Nicht nur, daß dieses geistige Leben in bezug auf die Persönlichkeiten, die in ihm wirken, in bezug auf das, was öffentlich gesagt oder nicht gesagt werden darf, ab­hängig wird von einem anderen Gliede des sozialen Organismus, wenn dieses andere Glied Schulen, Universitäten einrichtet, wenn ich nur das erwähne; nicht nur, wie gesagt, der äußere Betrieb, die Anstellung der Persönlichkeiten, die Begrenzung dessen, was man sagen oder nicht sagen darf, wird dadurch bestimmt, sondern es wird auch der innere In­halt des Geisteslebens selbst bestimmt. Unser gesamtes wissenschaft­liches Leben trägt einen Charakter des politischen Lebens, seitdem sich in der neueren Zeit die Sphäre des politischen Lebens über das geistige Leben ausgedehnt hat. Das geistige Leben kann aber nicht die Angele­genheit irgendeines anderen Gliedes des sozialen Organismus sein; es kann seinen ihm selbst gemäßen Inhalt nur erhalten, wenn es aus der freien menschlichen Individualität heraus sich entwickelt.

Diesem geistigen Leben steht, wie dem Verdauungssystem das Kopf-system im menschlichen natürlichen Organismus, das bloße Wirt­schaftsleben gegenüber. Dieses Wirtschaftsleben hat seine eigenen Ge­setze. Herausgearbeitet hat den Charakter des modernen Wirtschafts­lebens gerade die proletarische Wissenschaft in einer empfindungsge­mäßen, in ein er lebensgemäßen Weise, nicht wie die Kathederwissen-schaft nur theoretisch, so daß man merkt an dieser proletarischen Wis­senschaft, wie das Wirtschaftsleben zum Menschen im allgemeinen steht.

Nun darf man da besonders auf einen Punkt immer wieder hinweisen. Ich habe auf diesen Punkt in diesen Vorträgen schon hingewiesen. Was an diesem Wirtschaftsleben heute besonders auffällt, beziehungsweise an der proletarischen wissenschaftlichen Betrachtung dieses Wirt­schaftslebens, ist, daß auch mit Bezug darauf das Proletariat das Erbe der anderen Klassen übernommen hat. Indem sich die moderne Technik, in­dem sich der moderne Kapitalismus herausgebildet hat, ist - aus den schon in der vorigen Woche hier angeführten Gründen - der mensch­liche Blick wie hypnotisiert auf dieses Wirtschaftsleben als das eigent­liche, im sozialen Organismus allein Wirkliche hingelenkt worden. Man

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glaubt, wenn man von menschlicher Entwickelung redet, nur auf dieses Wirtschaftsleben hindeuten zu müssen. Daß dieses Wirtschaftsleben, wie wir gesehen haben, ganz besonders engagiert worden ist, daß durch dieses Wirtschaftsleben ein besonders wirksamer Impuls des modernen Proletariats in das helle Licht der Sonne der Menschheitsempfindung, der Menschenwürdeempfindung gerückt worden ist, das muß gerade gegenüber dem Wirtschaftsleben ins Auge gefaßt werden. Dadurch hat ja Karl Marx in Millionen und aber Millionen von Proletariern so zün­dend gewirkt, daß die Leute glaubten, er habe zuerst mit klaren Worten auf dasjenige hingewiesen, was als ein Menschenunwürdiges lebt für den modernen Proletarier in seiner ganzen Stellung; er, Karl Marx, habe zuerst hingewiesen darauf, daß für den Proletarier seine Arbeitskraft Ware ist, wie andere Waren zirkulieren auf dem Warenmarkt und unter dem Gesetz von Angebot und Nachfrage stehen.

Karl Marx hat in vielfach irrtümlicher Weise auf die zugrunde liegen­den Tatsachen hingewiesen. Allein, daß er überhaupt auf diesen inner­sten Nerv der modernen sozialen Frage hingewiesen hat, das wird ihm von dem Gefühle der proletarischen Seele zum besonderen Verdienste angerechnet. Auch hier ist das Sozialpsychologische von einer viel wirk­lichkeitsgemäßeren Bedeutung als die Theorien, Betrachtungen und Diskussionen, die an manches im wirtschaftlichen und sonstigen sozia­len Leben angeknüpft werden. Aber daraus entsteht die Lebensfrage:

Wie kann dieses als menschenunwürdig Empfundene überwunden wer­den: Arbeitskraft des Menschen ist Ware und wird als Ware behandelt?

- So sagte ja zunächst Marx. Wie gesagt, die Sache ist in vieler Beziehung Irrig, aber darauf kommt es jetzt nicht an, denn wenn eine irrige Tatsa­che so gewaltige Stoßkraft in den Seelen von Millionen von Menschen hat, so ist sie eben eine soziale Tatsache. So sagte Karl Marx und so ver­standen ihn die modernen Proletarier. Dieses Verständnis, wenn es sich auch in mancher Beziehung geändert bat, wirkt heute noch nach, wirkt gerade heute ganz besonders lebendig in den Gefühlen. So sagte er: In­nerhalb des Wirtschaftsorganismus werden Waren auf den Markt ge­bracht und verkauft. Es gibt Besitzer von Waren, Eigentümer von Waren, es gibt Käufer von Waren. Zwischen denen zirkulieren die Waren. Der moderne Proletarier besitzt nichts außer seiner eigenen

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Arbeitskraft. Für jede Ware sind gewisse Herstellungskosten notwen­dig. Die Herstellung dieser oder jener Ware, bis sie konsumfähig ist, ist so und so hoch. Der moderne Proletarier hat nur seine Körperkraft, er hat nur seine Arbeitskraft. Zur Herstellung dieser Arbeitskraft ist alles das notwendig, was er erwerben muß an Nahrungsmitteln, an Kleidern und so weiter. Durch das, was er an Nahrungsmitteln, an Kleidern sich erwerben muß, wird immerzu die verbrauchte Arbeitskraft wiederum ersetzt. Das sind die Herstellungskosten für seine Arbeitskraft. - Nun sagte Karl Marx, und in seinem innersten Wesen meint dies auch der moderne Proletarier: Ungezwungen, ohne Zwang gibt ihm der Arbeit­geber nicht mehr als sogenannten Lohn für die Arbeit, als diese Herstel­lungskosten für seine Arbeitskraft. Aber wenn zum Beispiel durch eine Arbeit, die fünf Stunden dauert, abgearbeitet wäre alles das, was die Herstellungskosten sind, so gibt sich der moderne Unternehmer damit nicht zufrieden. Er fordert längere Arbeitszeit. Da arbeitet dann der Arbeiter umsonst, denn er bekommt nur so viel, wie die Herstellungs­kosten seiner Ware «Arbeitskraft» betragen. Was er darüber hinaus arbeitet, ist der Mehrwert. Das ist das, was er darbringt auf dem Altar-wenn man das Altar nennen darf- des Kapitalismus, was sich als Kapital ansammelt, was aber entstammt seiner Arbeitskraft, und deshalb dem entstammt, weil er nur die Herstellungskosten bekommt, weil er ge­zwungen ist dazu, auf dem Arbeitsmarkt das feilzubieten, feilzubieten unter den wirtschaftlichen Verhältnissen, was er allein hat: seine Ware «Arbeitskraft».

Sie können den größten menschlichen Scharfsinn, Sie können die tief­sten nationalökonomischen Erkenntnisse aufwenden, um darüber zu diskutieren, wie man das nun machen soll, daß im sozialen Organismus der Arbeiter nicht mehr seine Arbeitskraft als Ware zum Markte tragen soll, daß er diese letzte Konsequenz der Sklaverei aus der Welt schaffen könnte, und Sie werden, auch wenn Sie mit dem größten Scharfsinn, mit den tiefsten nationalökonomischen Erkenntnissen mehrere Menschen-leben nachdenken könnten, Sie werden zu keinem Resultate kommen. Sie können zu keinem Resultate kommen, denn dies ist gerade im emi­nentesten Sinne eine Frage, welche nicht diskutiert werden kann, welche nicht theoretisch beantwortet werden kann, sondern welche nur vom

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Leben selbst beantwortet werden kann, nur dadurch beantwortet wer­den kann, daß man etwas schafft, was im Leben so wirkt, daß die Arbeitskraft des Warencharakters entkleidet wird.

Wenn ich mich eines Vergleiches bedienen darf, möchte ich hinweisen auf jenes Männlein, das im Goetheschen «Faust» der Wagner in der Retorte erzeugt: den Homunkulus. Der ist aus dem zusammengesetzt, was ein Mensch zusammendenken kann an Ingredienzien aus der Natur heraus; aber er wird kein Mensch, er wird bloß ein Menschlein, ein Homunkulus. Sie mögen so aus Verständnisingredienzien oder aus nationalökonomisch erzeugten Ingredienzien etwas zusammensetzen -Sie werden nur einen sozialen Homunkulus bekommen! So wie man die Bedingungen schaffen muß, daß ein lebendiger Mensch da ist, so muß man die Bedingungen schaffen, daß ein lebendiger sozialer Organismus so wirkt, daß fortwährend im Leben, nicht durch Theorien, durch Argumente, abgetrennt werden muß das, was in der bloßen Warenzir­kulation sich ausleben soll, und das, was menschliche Arbeitskraft ist und sich nicht in der bloßen Warenzirkulation ausleben darf.

Dies erreichen Sie auf keine andere Weise, als wenn Sie darauf einge­hen, daß der lebendige soziale Organismus als selbständige Glieder ent­halten muß neben dem geistigen Glied das rechtlich-staatliche, das im engeren Sinne politisch-staatliche, und relativ selbständig daneben den Wirtschaftsorganismus, der nach seinen eigenen Gesetzen zu leben hat. So wenig als der Magen atmen oder Herzschläge vollführen kann, so wenig kann der wirtschaftliche Organismus aus seinen eigenen Kräften heraus Rechte entwickeln. Und er wird nie Rechte entwickeln, wenn er nur aus seiner eigenen realen Grundlage heraus wirkt. Aus dieser realen Grundlage heraus wird der soziale Organismus nur durch Produktion, durch Handel, zur Konsumtion treiben.

Geradeso aber wie gegenübersteht dieser Warenzirkulation diese Natur selbst, diese Naturgrundlage aller Produktion und aller Konsum­tion und aller menschlichen Geschehnisse und so weiter des Handwer­kes und Gewerbes, so muß auf der anderen Seite gegenüberstehen und nicht bestimmt werden durch die Wirtschaftsorganisation, sondern diese Wirtschaft bestimmend das, was im politischen, im Rechtsstaate lebt. Das muß so selbständig sein dem Wirtschaftsorganismus gegenüber,

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wie das Lungen-Herzsystem relativ selbständig ist dem Kopfsy­stem, dem Nerven-Sinnessystem gegenüber. Gerade dadurch, daß diese Dinge selbständig wirken, zusammenwirken, gerade dadurch stellen sie sich im Leben in das rechte Verhältnis. Nur dadurch, daß die Lunge und das Herz im organischen Leben abgesondert sind von dem Magenleben, wirken sie, die relativ selbständig sind, in der rechten Weise zusammen. Nur dadurch, daß im lebendigen sozialen Organismus ein selbständiges Glied da ist, welches nun nicht bestimmt aus irgendwelchen wirtschaft­lichen Untergründen heraus die Arbeitskraft zur Ware, sondern welches bewirkt, daß aus dem lebendigen Leben heraus die Arbeit nur in solcher Weise in der sozialen Struktur drinnensteht, daß sie als Recht in diese soziale Struktur eingefaßt ist, nur dadurch können Sie nach der anderen Seite hin bestimmt sein lassen das Wirtschaftsleben durch das, was das Rechtsleben, das politische Leben des Staates im engeren Sinne ist, wie bestimmt ist durch die Naturgrundlage das Wirtschaftsleben. Erst dann, wenn man diese drei Glieder relativ selbständig nebeneinander hat, wenn man ein selbständiges geistiges Glied, ein selbständiges Rechtssy­stemglied, eigentliches Staat sleben, und ein selbständiges Wirtschaftsle­ben hat und diese Glieder mit relativer Selbständigkeit nebeneinander wirken, wenn jedes dieser Glieder aus seinen eigenen Grundlagen her­aus seinen Vertretungskörper, seinen Verwaltungskörper hat, sagen wir, seinen Reichstag, seinen Bundestag, sein Ministerium hat und die einzelnen Glieder fast so souverän zueinander stehen wie Einzelstaaten, nur durch Delegierte zueinander verhandeln, erst dann wird der soziale Organismus wirklich gesund. Dann entwickeln sich auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens die Interessengrundlagen, die allein in diesem Wirtschaftsleben als Impulse ausschlaggebend sein können. Und dann wird die Frage aufgeworfen werden können vom Leben durch das, was im anderen Gliede des sozialen Organismus, im Rechtsorganismus ge­schieht: Wenn aus den Impulsen dieses Rechtsorganismus heraus die Begrenzung der menschlichen Arbeitskraft, die fortan nicht den Cha­rakter der Ware hat, sondern den Charakter eines Rechts hat, wenn diese Arbeitskraft so in einen bestimmten Wirtschaftszweig hineinfließt, daß sich dieser Wirtschaftszweig nicht rentiert, dann wird dieser Wirt­schaftszweig ebenso in bezug auf dieses Nichtrentieren angesehen werden

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müssen, wie wenn er sich durch das zu Teure eines Rohstoffes nicht rentiert. Das heißt: Die menschliche Arbeitskraft wird ein Beherrschen­des werden mit Bezug auf das Wirtschaftsleben, nicht ein Unterdrück­tes, nicht ein Versklavtes. Aber das wird nicht dadurch erreicht, daß man gewisse Gesetze gibt, sondern daß man im lebendigen Leben einen Körper schafft, der einfach dadurch, daß etwas anderes an menschlichen Impulsen in diesem abgetrennten Körper da sein muß, fortdauernd von Epoche zu Epoche die Arbeit dem Warencharakter entreißt, denn sie muß dem Warencharakter entrissen werden, sonst wird sie immer wie­derum aufgesogen werden, weil der Wirtschaftskörper immer die Ten­denz hat, die Arbeitskraft aufzusaugen und sie zur Ware zu machen. Immer muß der Staatskörper wachen, um wiederum die Arbeitskraft des Warencharakters zu entkleiden.

Überall zeigt einem das Leben, daß die Durcheinandermuddelung -wenn ich mich des trivialen Ausdrucks bedienen darf-der drei sozialen Lebensgebiete von Unheil ist. Man studiere nur einmal das, was sich als diese soziale und sonstige Menschheitskatastrophe in den letzten vier­einhalb Jahren herausgebildet hat. Man studiere es an den wirklichen Ereignissen. Es ist ein schönes Studium, zum Beispiel in dem Gebiet, das jetzt wie in Atome zerfallen ist, in Österreich zu studieren: Wie hat eigentlich das innere Gefüge sich halten wollen, sich halten wollen seit mehr als einem halben Jahrhundert? Da hatte man einen sogenannten Reichsrat. In diesem Reichsrat war eine gewisse Vertretung des Volkes, nur gewisser Schichten. Diese Vertretung zerfiel - nicht in der letzten Zeit, sondern da, wo sich die Ereignisse aber schon vorbereitet haben, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - in vier Kurien, in die Kurie der Großgrundbesitzer, der Landgemeinden, der Städte und Märkte und der Industrieorte, der Handelskammern; also der Landgemeinden, der Städte, der Großgrundbesitzer, der Handelskammern. Sie sehen, lauter im Grunde wirtschaftliche Impulse steckten in dieser Vertretung. Und diese Vertretung war nun die Staatsvertretung. Diese Vertretung gab Gesetze. Das kam nur davon her, weil man unter dem Einflusse der modernen Entwickelung, wie ich im Anfange meiner heutigen Betrach­tungen andeutete, ohnmächtig war, das wirtschaftliche Leben selbst mit seiner eigenen Organisation zu durchdringen, weil das Denken zu kurzmaschig

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wurde, zu engmaschig und begrenzt wurde, weil man gar nicht untertauchen konnte. Man nahm als Rahmen für das Wirtschaftsleben den heraufgekommenen Staat und pfuschte Wirtschafts- und Staatsle­ben durcheinander. Und ehe man nicht einsehen wird, daß durch dieses Ineinanderpfuschen Unzähliges von den Ursachen gelegt worden ist, was zu unserer katastrophalen Gegenwart geführt hat, eher wird man nicht auf die wahren Heilmittel verfallen.

Ich konnte heute nur wiederum manche Andeutungen geben. Die weiteren Ausführungen werde ich mir erlauben, übermorgen zu brin­gen. Nur das möchte ich noch bemerken: Selbst mit Bezug auf die große Weltpolitik könnten Sie erhärtet finden, was ich gesagt habe, wenn Sie nur auf die Untergründe des Lebens gehen wollen. Wer die Genesis die­ses furchtbaren Krieges studiert, der kein Krieg im alten Sinne ist, son­dern eine aus mancherlei Ingredienzien zusammengebraute große Menschheits katastrophe, die jetzt nicht in ihr Ende, sondern in ihre Kri­sis eingetreten ist, wer die Genesis dieser Katastrophe studiert, der wird zum Beispiel finden, daß eine wesentliche Gestalt in dem Ausgangs­punkte, in der ganzen Vorbereitung dadurch gegeben worden ist, daß sich das moderne Wirtschaftsleben herausgebildet hat in einer bestimm­ten Weise, und daß dieses moderne Wirtschaftsleben dadurch, daß man es nicht in der rechten Weise abzutrennen verstand in einen naturgemä­ßen, in einen wirklich lebensfähigen sozialen Organismus oder in einen Organismus über die Welt hin, daß sich dieses Wirtschaftsleben verbun­den hat mit dem bloßen Rechts staatsleben, das in relativer Selbständig­keit hätte bleiben sollen. Und so waren im wesentlichen Wirtschaftsfak­toren, Wirtschaftselemente da, welche sich bedient haben der staatlichen Machtkräfte durch die letzten Jahrzehnte, Wirtschaftskräfte, die in dis­harmonischer Weise gegeneinander gewirkt haben. Wären sie daraufan­gehalten gewesen, bloß auf Grundlage ihres wirtschaftlichen Lebens und auf Grundlage ihrer gegenseitigen Zusammenklänge sich zu entfal­ten, niemals hätten sie zu dieser Katastrophe £ühren können. Zu dieser Katastrophe haben sie geführt als bloße Wirtschaftskräfte, weil diese Wirtschaftskräfte sich bedienen durften durch eine falsche politische Körperschaft der politischen Staatskräfte, die für sie ihre Heere ins Feld schickten.

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Diese Sache muß man nur in der entsprechenden Weise, nicht nur theoretisch, sich vor Augen führen. Das tun ja gewiß heute manche Leute. Aber man muß sie in bezug auf das, was als der eigentliche Impuls der sozialen Frage durch die moderne Gegenwart drängend und bren­nend geht, in das rechte Licht als das wahre Symptom des gegenwärti­gen Lebens zu heben wissen. Dann kommt man aus der Schwarmgeiste­rei heraus, aus der bloßen Ermahnung, und kommt hinein in das, was wirklich ist, was möglich macht, daß die drei Glieder des sozialen Orga­nismus zusammenwirken im Leben. Was keine Diskussion, kein natio­nalökonomisches Urteil bewirken kann, das Nebeneinanderleben des Wirtschaftslebens und des politischen Lebens, wird die Arbeitskraft-frage lösen und wird einen der wesentlichsten, schwierigsten Punkte in der Empfindung des modernen Proletariats in der rechten Weise fort-dauernd aus der Welt schaffen können.

Nun, ich werde übermorgen diese Betrachtungen hier fortsetzen, in Einzelheiten eingehen und manches von dem, was heute noch fraglich bleiben mußte, wird sich ja dann in sachgemäßer Weise aufklären kön­nen. Nur auf das eine darf ich wohl noch hinweisen. So ist es schon und so wird es noch lange sein, daß die Leute aus den bequemen Denkge­wohnheiten der Gegenwart heraus das zu radikal, vielleicht auch zu aka­demisch oder sonst irgendwie finden, was in Wahrheit nicht ein abstrak­ter Idealismus, was in Wahrheit Lebenspraxis ist. Da werden manche sagen: Nun, da kommt so ein Geisteswissenschafter und will in der emi­nent praktischen Frage, in der weltbistorisch wichtigen Frage, in der sozialen Frage mitreden. - Gerade nicht um irgend etwas Besonderes für mich oder für die Vertreter jener Richtung, die ich hier geltend mache, zu sprechen, sondern mit Bezug auf solche Leute, die derlei Dinge für unpraktisch, für aussichtslos finden, weil sie die Aussichten nicht über­blicken, die Perspektiven nicht ins Auge fassen können, für diese Leute, nicht für mich, möchte ich einen Vergleich hier zum Schlusse heute ge­brauchen. Ich möchte hinweisen auf jenen armen Knaben, Stephenson, der dazumal verurteilt war, an einer Newcomenschen Dampfmaschine zu sitzen und der die Hahnen abwechselnd zu öffnen und zu schließen hatte, durch die auf der einen Seite der Dampf, auf der anderen Seite das Kondensationswasser eingelassen wird. Da bemerkte der kleine Knabe,

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daß da oben ja der Balancier auf- und niederschwinge, und da fiel er auf den Gedanken: Wie wäre es denn, wenn ich nun den einen Hahnen und den anderen Hahnen mit einer Schnur an den Balancier anbinden würde? Der würde das eine Mal beim Hinaufgehen den einen Hahnen herausziehen und den anderen hineinstecken, das andere Mal den einen Hahnen hineinstecken und den anderen herausziehen. Der Balancier würde meine Arbeit ersetzen, ich kann zuschauen, dachte sich der kleine Knabe. Und er führte das wirklich aus. Nun hätte damals schon etwas geschehen können, was sich in solchen Dingen vielfach ergibt, wenn irgend etwas Neues ins Leben hineinkommen soll, ausgesprochen oder ausgesagt wird, daß von einem ganz Gescheiten gesagt worden wäre:

Du dummer Junge, du hast das zu tun, was dir obliegt! Was hast du für Schnüre an den Balancier angebunden? Mach das rasch weg, sonst hau ich dich durch! - Nun, es ist nicht so geschehen, sondern es ist eine der wichtigsten Erfindungen der neueren Zeit, die Selbststeuerung der Dampfmaschine, aus dieser Erfahrung des kleinen Knaben erwachsen. Auf mehr als den richtigen Blick dafür entwickelt zu haben, was zur Selbststeuerung des sozialen Organismus, zu dem lebendigen Ineinan­der- und Zusammenwirken der drei Glieder führt - zu einer Selbstbetä­tigung des geistigen Gliedes, des rechtlich-politischen Gliedes, des wirt­schaftlichen Gliedes -, auf mehr erhebt Geisteswissenschaft nicht An­spruch. Aber nun hängt es davon ab, ob die ganz gescheiten Leute sagen zu dieser Geisteswissenschaft: Du dummer Junge, tu deine Aufgabe -, oder ob sie darauf eingehen werden. Das muß man sich oftmals, wenn man in diesen Dingen drinnensteht, in aller Bescheidenheit und ohne Anmaßung sagen. Der Glaube an die Schwarmgeister, die sich für Prak­tiker halten, möge bald der Erkenntnis weichen, daß die wahren Lebens-praktiker die verschrienen Idealisten sind, die aber auf die Lebenswirk­lichkeit eingehen können, daß sie es sind, die die wahren Entwicke­lungsbedingungen der Menschheit erforschen müssen, und daß nur durch die Erkenntnis und Auswirkung der wahren Entwickelungsbe­dingungen und Entwickelungskräfte der modernen Menschheit der Weg gefunden werden kann, der zu jener Lösung der sozialen Frage führen kann - das nächste Mal wollen wir davon sprechen -, die eben überhaupt im wirklichen Leben möglich ist. Nicht auf dem Wege der

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Anmaßung der heute noch vielfach als Praktiker geltenden Menschen wird das Rechte liegen, sondern wahrscheinlich werden sich als die wah­ren Lebenspraktiker die verschrienen Idealisten, die aber auf die Lebens­wirklichkeit wirklich eingehen können, erweisen müssen.

VIERTER VORTRAG Zürich, 12. Februar 1919 Die Entwickelung des sozialen Denkens und Wollens und die Lebenstage der gegenwärtig en Menschheit

#G328-1977-SE075 Die soziale Frage

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VIERTER VORTRAG

Zürich, 12. Februar 1919

Die Entwickelung des sozialen Denkens und Wollens

und die Lebenstage der gegenwärtig en Menschheit

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Vielleicht haben die Vorträge, die ich nun hier halten durfte im Laufe der vorigen und dieser Woche, von einem gewissen Gesichtspunkte her bezeugt, daß es gerechtfertigt ist zu sagen: Die Lebenslage der gegen­wärtigen Menschheit ist tief beeinflußt von der Entwickelung, welche das soziale Denken und Wollen im Laufe der neueren Zeit bis zu unserer Gegenwart herein angenommen hat. Mehr vielleicht, als heute mancher ahnt, greift herein der soziale Impuls in das unmittelbare Leben des Ein­zelmenschen; aber er wird immer mehr und mehr noch hereingreifen. Er wird bestimmend werden geradezu für die Kräfte des allerindividu­ellsten Verhaltens. Und man wird kaum richtig verstehen können, wie man heute drinnensteht im gesellschaftlichen Leben der Menschheit, welches durchwellt und durchpulst ist von den sozialen Impulsen, wenn man nicht ins Auge faßt, wie aus zwei Ursprüngen eigentlich im Laufe des neueren Lebens der Menschheit das soziale Denken und Wollen ver­schiedener Menschenschichten entstanden ist. Denn das Fortleben der Ursprünge bis in die Gegenwart herein, das wirkt auf diesem Gebiete eigentlich so, daß es sozial diesem gegenwärtigen Leben die Gestaltung gibt.

Ich habe in einem der Vorträge darauf hingewiesen, daß man nicht auskommt, wenn man zum Verständnis einer solchen Sache einfach in der Weise, wie man das gewohnt worden ist, das geschichtliche Leben geradlinig nach dem Verlaufe von Ursache und Wirkung betrachtet, so daß man immer mit Bezug auf das Folgende auf das Vorhergehende hin­weist. Ich habe versucht, darauf aufmerksam zu machen, daß dieses ge­schichtliche Leben der Menschheit in seinem Wesen oder Grund mit Be­zug auf gewisse Krisen des Verlaufs, besser gesagt, auf das Vorhanden­sein von Krisen des Verlaufs, ähnlich ist dem Leben des einzelnen Men­schen. Im Leben des einzelnen Menschen gibt es auch nicht eine geradlinige

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Fortentwickelung, so daß immer das Folgende ohne einen Sprung die Wirkung des Vorhergehenden ist. Man muß, um den bequemen, oft mißverstandenen Gedanken, die Natur mache keine Sprünge, in der ent­sprechenden Weise in seine Grenzen zurückzuweisen, immer wieder und wiederum darauf aufmerksam machen, wie in dem geradlinigen Fortschreiten des individuellen Lebens Krisen eintreten, wie die Krise des sechsten, siebenten Jahres mit dem Zahnwechsel auftritt, wie die Krisis eintritt, die aus den elementaren Untergründen des Organischen wie heraufzuquellen scheint in dem Geschlechtsleben. Und wer kundig ist des Verlaufes des menschlichen Lebens, dem zeigen sich solche kri­senhaften Umschwünge auch in den späteren Lebensaltern, wenn sie auch für eine oberflächliche Betrachtung nicht in einer so entschiedenen Weise wie die zwei ersten auftreten.

Solche krisenhaften Umschwünge zu beobachten im geschichtlichen Leben der Menschheit ist notwendig, um dieses geschichtliche Leben wirklich zu verstehen. So sehr auch die heutige Menschheit noch abge­neigt ist, auf solche Dinge hinzuschauen und hinzuhorchen, so notwen­dig ist es gerade in der Gegenwart, in der soziales Verständnis des Lebens gefordert wird, auf solche Dinge radikal stark hinzuweisen. Einen der letzten großen Umschwünge - so habe ich in den vorherge­henden Vorträgen ausgeführt - im Entwickelungsgange der Mensch­heit haben wir zu verzeichnen etwa um die Wende des 15., 16. Jahrhun­derts. Und nur weil man nicht tiefgehend genug den geschichtlichen Hergang der Dinge beobachtet, weiß man nicht, wie radikal verschieden namentlich alles das, was in der menschlichen Seele vorgeht, was in der menschlichen Seele als Forderung, was als Sehnsucht nach gewissen Be­friedigungen herrscht, wie das sich verändert hat gegenüber dem, was vor diesem Zeitpunkt vorhanden war.

Nun tritt zu gleicher Zeit wie im Gefolge dieses elementarischen Um­schwunges der neueren Menschheitsentwickelung das ein, was man so bezeichnen könnte, daß man sagt: Was früher in der Menschenseele selbst gelebt hat als soziale Impulse, die dann zu der sozialen Struktur der menschlichen Gesellschaft geführt haben, das hat sich vor diesern Zeitraum mehr instinktiv ausgelebt. Die Menschen lebten gesellschaft­lich zusammen, ordneten ihre Angelegenheiten gesellschaftlich aus gewissen

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Instinkten heraus. Um die angedeutete Zeit tritt an die Stelle des instinktiven sozialen Denkens und Wollens das bewußte Ergreifen sozialer Impulse. Es tritt langsam und allmählich auf; aber es unterschei­det sich die Lebenslage, in die sich dadurch &e moderne Menschheit versetzt, in radikaler Weise von der Lebenslage der mittelalterlichen und alten Menschheit. Da aber sehen wir dann sogleich, wie mit dem Herauf-nehmen der sozialen Impulse aus dem instinktiven in das bewußte Leben deutlich sich zwei Strömungen, zwei Ausgangsströmungen des sozialen Denkens und Wollens zeigen.

Die eine tritt ein bei denjenigen Menschen, die bis zum heutigen Tage genannt werden können die führende, die leitende Gesellschaftsschicht der Menschheit. Die andere Strömung tritt etwas später, aber deutlich von der anderen unterschieden bei dem ein, was wir heute als die prole­tarische Welt bezeichnen. Die leitenden intellektuellen bürgerlichen Kreise sind mit allen ihren Lebensinteressen, als die neuere Zeit herauf-rückt, verbunden mit dem, was als die neueren Staatsgebilde sich all­mählich herausgebildet hat aus den Formen des mittelalterlichen Zu­sammenlebens der Menschen. Diese bürgerlich leitenden Kreise sind durch ihre Interessen namentlich mit dem verbunden, was wir unter den drei Gliedern, die ich angeführt habe für den sozialen Organismus, be-zeichnen können als den eigentlichen Rechtsstaat, als das eigentliche politische Gebilde, welches entweder instinktiv oder bewußt auf Ord­nung alles dessen ausgeht, was sich auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch bezieht. Mehr oder weniger so, wie die Traditionen der Vergan­genheit und auch wie in gewisser Beziehung die neueren wirtschaft­lichen Verhältnisse sich ergeben, verbinden die leitenden bürgerlichen Kreise ihre Interessen mit dem, was von vielen Leuten als das einzige soziale Gebilde heute noch gehalten wird, eben mit dem Staate. Und in­dem sie bewußt übergehen von dem alten instinktiven sozialen Leben zu dem modernen bewußten, denken sie zunächst staatlich im Sinne des Rechtsstaates. Und das immer komplizierter werdende moderne Wirt­schaftsleben, das namentlich durch die Ausbreitung des menschlichen Betätigungshorizontes über die ganze Welt immer komplizierter wird, das versuchen diese leitenden Kreise hereinzugestalten in das Staatsge­bilde. Den Staat wollen sie gewissermaßen immer mehr und mehr zum

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Wirtschafter machen. Diese Bestrebung nimmt einen gewissen Fort­gang, und wir sehen, daß innerhalb gewisser Kreise einzelne Wirt­schaftszweige immer mehr und mehr dem staatlichen Gebilde einver­leibt werden. Ich habe auf solche Wirtschaftszweige das letzte Mal hin­gewiesen. Was wesentlich ist von dieser Seite, ist, daß das soziale Den­ken bei diesen Kreisen seine ganz bestimmte Gestaltung dadurch ge­winnt, daß sie erobern wollen für den Staat, für den sie interessiert sind, das hereinbrechende komplizierte Wirtschaftsleben.

Ganz anders entwickelt sich innerhalb des Proletariats der soziale Impuls. Dieses moderne Proletariat ist in der Heraufentwickelung der neueren Zeit nicht in gleicher Weise mit seinen Interessen engagiert in­nerhalb des eigentlichen staatlichen Gebietes. Es steht in einer gewissen Beziehung, die ich hier nicht weiter ausführen kann wegen Mangel an Zeit - die Sache ist leicht zu durchschauen -, abseits von dem, was die bürgerlich leitenden Kreise als ihre Interessen vertreten innerhalb des Staatsgebildes. Aber es wird gerade in der radikalsten Weise dieses Pro­letariat hineingetrieben in die Gestaltung des Wirtschaftslebens. Sein ganzes Denken und Wollen verläuft in der Weise, daß es ist wie eine Ab-spiegelung dessen, was im Wirtschaftsleben durchgemacht wird. Und so werden die sozialen Impulse des Proletariats ebenso bestimmt von den sozialen Gebilden der Ökonomie der Menschheit, des Wirtschaftsle­bens, wie die sozialen Impulse der bürgerlich leitenden und auch der in-tellektuellen Kreise bestimmt werden von den Impulsen des Rechtsstaa­tes, von den Impulsen des eigentlichen politischen Gebildes. Und beide Strömungen entwickeln sich immer mehr und mehr so, daß eben das zu­tage tritt, auf das ich in der Einleitung zum vorgestrigen Vortrage hin­gewiesen habe, daß eine Kluft, ein Abgrund besteht zwischen der beson­deren Konfiguration des sozialen Denkens und Fühlens der leitenden bürgerlichen und der proletarischen Kreise. Denn das, sagte ich, sei das Tragischeste der neueren Entwickelung in der gegenwärtigen Ausge­staltung der Lebenslage der Menschheit, daß dieser Abgrund besteht, daß so schwer ein Verständnis, ein gegenseitiges Verständnis der beiden charakterisierten Bevölkerungsschichten zu finden ist. So mußte eintre­ten, was wir nun kommen sehen: daß wie gerüstet zu einem Lebens-kampfe die beiden Bevölkerungsschichten sich gegenüberstehen. Und

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das Wesentliche in diesem Kampfe, der zum Teil sich schon auslebt, zum Teil aber erst sich vorbereitet, und der, wie es einleuchten kann, selbst noch heute nur oberflächlich das gesellschaftliche Leben ergreift, der gigantische Formen annehmen wird, das Wesentliche ist, daß auf der einen Seite die bürgerlich leitenden Kreise das Wirtschaftsleben mehr und mehr erobern wollen für den Staat, miterobern wollen für den Staat mit diesem Wirtschaftsleben in einer eigentümlichen Weise die Arbeits­leistung und Arbeitskraft des Proletariats selbst, und daß auf der ande­ren Seite das Proletariat den Staat erobern will für das, was es für sich an Interessen im abgesonderten Wirtschaftsleben erlebt.

Das ist im wesentlichen das Grundprinzip des Kampfes, der da so be­deutungsvoll hereinspielt in die Lebens lage der gegenwärtigen Mensch­heit. Und man hat über alldem, was offen im Bewußtsein vorgeht, ver­gessen, außer Aufmerksamkeit gelassen, ich möchte sagen, ins Unterbe­wußte der menschlichen Seele hinuntergedrängt das, was sich hinter die­sen zwei Impulsen, die ich angeführt habe, eigentlich verbirgt. Das, was sich heraufarbeiten will an die Oberfläche des menschlichen Lebens, seitdem der krisenhafte Umschwung im 15. Jahrhundert in der Entwik­kelung der neueren Menschheit eingetreten ist, das zeigt erst, während das andere vielfach eben nur im Bewußtsein maskiert sich abspielt, was wühlt und treibt und pulst im menschlichen Leben: das ist das Streben nach einer vollen Geltendmachung der menschlichen Persönlichkeit, so wie es die früheren Zeiten nicht gekannt haben. Geltendmachung der menschlichen Persönlichkeit, Fühlen des Menschenwesens in sich, das ist eigentlich der Grundnerv der sozialen Frage, und das kleidet sich nur nach diesen verschiedenen Lebensverhältnissen, die ja gerade mit dem Angegebenen bestimmt sind, in die gegebenen Formen. Und so konnte es kommen, daß ein Kampf, der im Grunde genommen ein Kampf ist um die Erringung der vollen Menschenwürde bei allen Menschen, ein Kampf gegenseitiger verschiedener Interessen selbst geworden ist, ein Kampf der Klassen, ein Kampf, der in die Gegenwart herein in einer so verhängnisvollen Weise seine Kräfte wirft.

Daß sich etwas verbirgt und maskiert offenbart in dieser neueren Ent­wickelung der Menschheit, das hat verursacht, daß man den Blick nicht richtete, oder besser gesagt, daß man bis jetzt nicht lernte, den Blick zu

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richten auf das, worauf es ankommt. Innerhalb der Zeit, in der die sozia­len Impulse instinktiv gewirkt haben, konnte man den sozialen Organis­mus auch instinktiv sich ausgestalten lassen. Nunmehr, da die sozialen Impulse in das Bewußtsein der Menschen eingetreten sind, wenn auch in maskierter Gestalt, da ist es notwendig, da ist es das Wichtigste in bezug auf das soziale Problem der neueren Zeit, daß soziales Verständnis, Ver­ständnis für die Gestaltung des sozialen Organismus in jede einzelne Menschenseele einzieht, wenn dieses Verständnis auch kein gelehrten­haftes zu sein braucht, sondern ein solches, das in der Empfindung, im Gefühle lebt und das sich auslebt in dem, was der einzelne Mensch als diese oder jene Notwendigkeit empfindet, sich hineinzustellen in die menschliche Gesellschaft. Deshalb ist es heute so notwendig, das zu tun, was ich versuchte, in diesen Vorträgen zu tun: den Blick hinzuwenden auf das, worauf alles in dem Streben der neueren Menschheit tendiert, was aber eigentlich erst heute sich durch die besonderen Verhältnisse an die Oberfläche drängen kann; den Blick darauf hinzuwenden, daß der soziale Organismus wirklich ein lebendiges Gebilde werden muß, ein solches Gebilde, das man in seinen Lebensbedingungen versteht, aller­dings lebendig versteht, nicht theoretisch. Deshalb wies ich daraufhin, daß die Gesundheit des sozialen Organismus davon abhängt, daß nicht chaotisch durcheinandergewürfelt werde das, was die drei Glieder des sozialen Organismus sind: geistiges Leben im weitesten Umfange, Rechts- oder politisches Leben, also das Staatsleben im engeren Sinne, und das Wirtschaftsleben. Erst dadurch werden die in den drei Gliedern wirksamen Kräfte ihre notwendige Ausbildung und ihre notwendige Befreiung erfahren, so daß diese drei Gebilde nicht je eines von den an­deren aufgesogen werden, sondern daß sie sich frei nebeneinander ent­falten und gerade in gewisser Selbständigkeit, wie ich von verschiede­nen Gesichtspunkten aus schon ausgeführt habe, nebeneinander- und zusammenwirken. Gegen diese Selbständigkeit war bisher aus gewissen Voraussetzungen heraus die eigentliche Tendenz der menschlichen Ent­wickelung gerichtet. Differenzierung dessen, was durcheinanderge­wirrt worden ist, das ist nun die notwendigste Lebensfrage mit Bezug auf das soziale Wesen der gegenwärtigen Menschheit.

Empfunden hat man von gewissen Seiten des menschlichen Denkens

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und Empfindens das, was ich hier meine, schon immer, als eben im Lichte der Bewußtheit der sozialen Impulse die Menschen anfingen, je nach ihren geistigen Voraussetzungen so oder so zu denken über die Verhältnisse von Staatsleben und Wirtschaftsleben. Da sehen wir soge­nannte soziale oder nationalökono mische - wie man es nun nennen will, das ist gleichgültig - Denkweisen, Denkgewohnheiten sich herausbil­den. Es kann nicht meine Aufgabe sein, die Entwickelung des sozialen Denkens in der neueren Zeit hier darzustellen. Nur auf eines will ich auf­merksam machen, das, ich möchte sagen, stark beleuchtet manches, auf das es gerade hier in diesen Vorträgen ankommen muß.

Unter den mancherlei Denkweisen, Vorstellungsarten in bezug auf die Verflechtung des wirtschaftlichen mit dem staatlichen und dem gei­stigen Leben der Menschheit trat auch dasjenige auf in der neueren Zeit, was man im i 8. Jahrhundert als das sogenannte physiokratische national-ökonomische Denken bezeichnete. Aus einem früheren Denken, das in­nerhalb des Staatsorganismus das Wirtschaftsleben mehr organisieren wollte, bildete sich wie durch einen notwendigen Gegensatz dieses phy­siokratische Denken aus. So bildete es sich aus, daß man dazu übergehen wollte, das Wirtschaftsleben nicht zu tyrannisieren durch das Rechtsle­ben des Staates, durch das politische Leben des Staatsgebildes im enge­ren Sinne, daß man das wirtschaftliche Leben seinen eigenen natürlichen Gesetzen überlassen wollte, es überlassen wollte den Impulsen, denen es verfällt, wenn einfach der Mensch frei heraus aus seinen Interessen das Spiel des Wirtschaftslebens einleitet. Da haben manche Bekenner dieses Systems eigentlich diese Dinge sehr beleuchtende Worte gesprochen, was etwa so nachgesprochen werden kann. Die Leute sagten: Wozu soll eigentlich innerhalb des politischen Staatsgebildes ein System von Ge­setzen ausgebildet werden, welche das Wirtschaftsleben regeln? Entwe­der werden diese Gesetze die gleichen sein wie diejenigen, die sich das Wirtschaftsleben selbst gibt, wenn es dem freien Spiel der Kräfte über­lassen ist, oder aber sie werden andere und ihm entgegengesetzte sein. Im ersteren Falle, wenn es dieselben sind, dann sind sie ja unnötig, dann braucht man sie nicht, dann gibt sich das Wirtschaftsleben seine eigenen Gesetze, dann braucht man nicht erst das Wirtschaftsleben einzuspan­nen in besondere Staatsgesetze. Wirken aber die Staatsgesetze entgegen

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dem Wirtschaftsleben, dann hemmen sie es, dann beeinträchtigen sie es, dann sind sie demselben schädlich.

Ich möchte sagen: Was sich in diesen beiden gegenteiligen Sätzen aus-spricht, es spukt heute noch in vielen Köpfen. Es spukt deshalb in vielen Köpfen, weil die moderne Menschheit, so sehr sie auch glaubt, praktisch zu sein, Sinn zu haben für das Reale, doch furchtbar angefressen ist von einem gewissen Sinn für abstrakte, für theoretische Einseitigkeit. Und würde man prüfen, wieviel in dem, was sehr vielen Leuten heute als das eigentlich praktische Leben erscheint, nichts anderes ist als verwirk­lichte Einseitigkeit, verwirklichte einseitige Theorie, dann würde man auf so manches Lebensrätsel stoßen und eine teilweise Lösung desselben herbeiführen können. Was klingt plausibler, was klingt selbstverständ­licher, als wenn ich sage: Entweder laufen die staatlichen Gesetze in der­selben Richtung wie die wirtschaftlichen, dann braucht man sie nicht, oder sie widersprechen ihnen, dann müssen sie dem Wirtschaftsleben schaden. Man denkt aber in diesen Gegensätzen nur, wenn man den sozialen Organismus ansieht wie etwas, das sich durch Begriffe, durch Gesetze, durch Prinzipien, durch Programme regeln lasse, wenn man nicht sich zu der Ansicht aufschwingen kann, daß der soziale Organis­mus etwas ist, was Leben in sich haben muß, was durch seine eigene Wesenheit leben muß. Was aber durch seinen eigenen Lebensinhalt, durch seine eigenen Lebensimpulse gedeiht und sprießt, das hat im wirklichen Leben Gegensätze in sich. Und der soziale Organismus muß, soll er ein realer, ein wirklicher sein, Gegensätze in sich haben

Daher ist das richtig, was vielleicht gerade vielen theoretisch ge­stimmten Seelen der Gegenwart wie eine Absurdität erscheint: das staat­liche, rein rechtliche, rein politische Leben muß gerade in einer gewissen Weise beschränken, in seinen Gesetzen entgegenwirken dem wirtschaft­lichen Leben, damit das Gesamtleben der Menschheit, das nicht bloß ein wirtschaftliches, nicht bloß ein rechtliches ist, sondern das ein wirt­schaftliches, rechtliches und geistiges ist, damit sich das entfalten kann, so wie im einzelnen menschlichen Organismus - ich gebrauche den Ver­gleich noch einmal, indem ich darauf hinweise, nicht als ob ich ein Ana­logiespiel aus der Physiologie und der Soziologie treiben wollte - das Verdauungssystem in einer gewissen Weise relativ selbständig für sich

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verläuft und neben sich das rhythmische System, das Atmungs-, Herzsy­stem hat, und beide sich in ihren Vorgängen in dem lebendigen Prozesse beschränken und gegenseitig begrenzen. So ist es notwendig, daß nebeneinandergestellt werden im wirklichen sozialen Organismus das Wirtschaftsleben auf der einen Seite und im engeren Sinne politisches Staatsleben auf der anderen Seite, und dem sich beigesellen muß mit relativer Selbständigkeit das geistige Leben, wie ich dies das letzte Mal wiederum von einem anderen Gesichtspunkt aus gezeigt habe.

Denn auf Folgendem beruht das, auf was es ankommt: Das wirt­schaftliche Leben hat in sich ganz andere innere Kräfte als das Rechtsle­ben, mit dem es zusammenwirken muß, damit das Gesamtleben der Menschheit gedeihen kann, und wieder andere als das geistige Leben. Man könnte, wenn man mehr oder weniger etwas konkret Lebendiges in abstrakte Formen bringen wollte, die aber doch vielleicht von einer Seite her, wenn auch einseitig, eben die Dinge verständlich machen, das Folgende sagen: Im Wirtschaftsleben, so wie es besteht in der Waren­produktion, Warenzirkulation und im Warenkonsum, kommt alles dar­auf an, daß die dem Leben entsprechende Wertbildung entsteht. Und diese Wertbildung vollzieht sich im wesentlichen so, daß der Wert sich bilden muß, wenn der soziale Organismus gesund sein soll, unter dem Einflusse des Impulses, daß der Verbrauch dessen, was der wirtschaft­liche Organismus für sich in Anspruch nimmt - nenne man es Markt oder anderswie - und für den Konsum bereit hält, daß der Verbrauch der Ware ein möglichst zweckmäßiger, ein möglichst vorteilhafter ist. Eine Ware muß so dem Konsum dargeboten werden, wenn der soziale Organismus gesund ist, daß sie sich in der zweckmäßigsten Weise ganz verbrauchen läßt, daß sie so lange dauert, als es zweckmäßig ist, oder so schnell verbraucht werden kann, als es zweckmäßig ist, daß aber jeden­falls ihr ganzer Inhalt auf den Verbrauch hintendiert.

Würde die menschliche Arbeitskraft voll eingespannt in das Wirt­schaftsleben - und dieses Wirtschaftsleben kann sich allein gesund ent­wickeln unter dem Gesichtspunkte der Waren-Preisbildung nach dem entsprechenden Verbrauche-, so wäre erfüllt, was die marxistische An­schauung des Proletariats behauptet, daß die menschliche Arbeitskraft selber Ware wäre, und so würde ja diese Arbeitskraft als mit dem Cha­rakter

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der Ware behaftet im sozialen Organismus ihren Wert erhalten müssen, indem sie in der zweckmäßigsten Weise voll verbraucht würde. Das wirtschaftliche Glied des sozialen Organismus hat auch, wenn man es genauer betrachtet, die Tendenz in sich, den Menschen zu verbrau­chen, und würde das wirtschaftliche Glied des sozialen Organismus nur seinen eigenen Gesetzen folgen, so würde eben innerhalb dieses Gliedes die menschliche Arbeitskraft verbraucht werden. Indem die bürgerlich leitenden Kreise dieses nicht beachteten, haben sie gerade dazu beigetra­gen, daß innerhalb des Wirtschaftslebens und der Stellung des Proleta­riats im Wirtschaftsleben sich der Nerv der modernen sozialen Frage herausgebildet hat, der sein Leben darin zeigt, daß gerade der moderne Proletarier es ganz besonders für sich in Anspruch nimmt, seine Arbeits­kraft des Charakters der Ware zu entkleiden. Wie sich auch sonst man­ches in der sozialen Frage maskiert und vieles davon im Unterbewußten des modernen Proletariers lebt, das ist ein wesentlicher Faktor, daß die proletarische Seele nach der Befreiung der menschlichen Arbeitskraft von dem Charakter der Ware hinstrebt.

Das aber kann niemals geschehen, wenn der Wirtschaftsprozeß nach seinen Gesetzen verläuft, und wenn man das gesamte Staatsleben nur zu einer einzigen Wirtschaft macht, wie es das Ideal vieler moderner Sozia­listen ist. Das kann auch nicht dann geschehen, wenn man in einseitiger Weise den Staat von sich aus zum Wirtschafter machen will. Ein gesun­des Verhältnis ergibt sich nur dann, wenn man den wirtschaftlichen Organismus in sich selber seine relative Wirksamkeit entfalten läßt, wenn man, wie es im natürlichen organischen Leben auch geschieht, ein System gewissermaßen darum, daß es seine in ihm liegenden Kräfte voll ausbildet, in relativer Selbständigkeit sich entfalten läßt und dann dasje­nige, was sich ergibt, begrenzt, verbessert durch ein danebenliegendes, relativ selbständiges System, wie im natürlichen Organismus ein System sich voll entwickelt, auch seine Schäden zum Ausdruck bringt, diese Schäden aber fortwährend paralysiert werden durch das danebenlie­gende System. Darauf beruht alle organische Wirksamkeit. Darauf muß auch beruhen die Gesundung des sozialen Organismus.

Es kommt mir wahrhaftig nicht darauf an, wie man den Wirtschafts­Organismus, wie man den Staatsorganismus definiert, wie man über sie

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denke, sondern darauf kommt es mir an, daß diese zwei Glieder neben­einander da sein müssen, und das eine sich relativ selbständig entwickeln muß, sogar die Veranlagung seiner Schäden aus sich heraus entwickeln muß, daß das andere System daneben sich entwickeln muß und paraly­sieren muß das, was sich sonst als Schäden ergeben würde im anderen System. Das ist das Wesen des Lebendigen; das muß auch das Wesen des lebendigen sozialen Organismus sein. Nur dann, wenn der wirtschaft­liche Körper sich selbst verwaltet, verwaltet aus seinen eigenen Bedin­gungen heraus, der rechtliche, der politische Körper sich selbst verwal­tet, wiederum aus seinen eigenen Bedingungen heraus, die sich ergeben durch die Regelung der Rechtsverhältnisse von Mensch zu Mensch, und wenn dann ein jeder dieser Organismen sich selbständig regelt, indem sie nebeneinander und aufeinander wirken, dann entsteht ein gesundes soziales Leben. Die soziale Frage ist nicht zu lösen durch eine Theorie, nicht zu lösen durch Gesetze, sondern sie ist nur dadurch zu lösen, daß im lebendigen Leben die eine Kräfteart, die wirtschaftliche, neben der anderen, der staatlichen, der politischen, im unmittelbaren, im eigenen Dasein wirkt, daß sich die beiden nebeneinander und ineinander entwik­keln, aber so entwickeln, daß eine jede in ihrer Selbständigkeit das teht.

Das ist es, was aus einer gewissen historischen Notwendigkeit heraus versäumt worden ist. Denn was geschehen ist, ist natürlich notwendig. Es soll keine Kritik, sondern eine Darstellung der Verhältnisse hier ge­geben werden. Das ist es aber, was sich als eine Notwendigkeit im Men­schenfortschritte für das Leben der Gegenwart und der rächsten Zu­kunft einstellen muß. Ergeben wird sich, daß um der Gesundung des sozialen Organismus willen das Wirtschaftsleben ein assoziatives wird, daß es sich so gliedert, daß ja die veranlagten Genossenschaften, Ge­werkschaften und so weiter sich so ausbilden, daß sie abstreifen, was sie noch übernommen haben aus dem Vorurteil, daß alles sich nach dem Muster des alten Rechtsstaates bilden müsse. Was noch an Staatsleben lebt in diesen dem Wirtschaftsleben dienenden Assoziationen, das muß abgestreift werden. Sie müssen rein dem Wirtschaftsleben dienende Körperschaften werden, solche Körperschaften, die beruhen auf dem Verhältnis, das innerhalb des Wirtschaftslebens der Mensch haben muß, sei es zu der Naturgrundlage des Wirtschaftslebens, sei es zu der Notwendigkeit,

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auf diese oder jene Art die Rohstoffe zu verwerten, die Waren in Zirkulation zu bringen, das Konsumverhältnis in das richtige Verhältnis zur Produktion und zum Handel zu bringen und so weiter. Die Kompliziertheit des menschlichen Lebens macht es heute notwen­dig, daß ein ganzes System von Assoziationen und Koalitionen, die her­ausgefordert werden durch die Naturgrundlage des Wirtschaftslebens, sich unter den Menschen bilden, solche Assoziationen und Koalitionen, welche im wesentlichen auf dem Verständnis der Verwertung der Naturgrundlage und der Hinleitung der Ware zur zweckmäßigen Kon­sumtion bestehen. Eben die Kompliziertheit erfordert, daß auf diesem Gebiete ein ganzes System von Assoziationen sich ausbildet. Aber diese Assoziationen werden herausgestaltet sein aus dem Zusammenhange des Menschen mit den wirtschaftlichen Kräften selber. Da wird sich er­geben, daß eben das eintritt, immer wieder und wiederum im wirklichen Leben eintritt, daß das Wirtschaftsleben dazu tendiert, den Menschen zu verbrauchen.

Neben dem Wirtschaftsleben muß stehen das politische Leben, das im Gegensatze zum Wirtschaftsleben, das aufAssoziationen zu beruhen hat, mehr auf der Demokratie ruhen muß, denn das staatliche Leben umfaßt das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Es umfaßt alles das, woran alle Menschen in gleicher Weise ihr Interesse haben. Wie das Wirtschaftsle­ben beruht auf dem wirtschaftlichen Wert der Güter, so wird das Staats-leben zu beruhen haben im wesentlichen auf dem öffentlichen Recht, das im Gesetze gründet oder das das Gesetz begründet, das da bestimmt das Verhältnis des Menschen unter Menschen. Und in lebendiger Wechsel­wirkung wird dasjenige, was sich aus dem Wirtschaftsleben heraus ent­wickelt, begrenzt, beschränkt werden müssen. Ansätze dazu sind ja vor­handen, aber eine durchgreifende soziale Einsicht muß Platz greifen. Dasjenige wird sich herausbilden müssen, was vor allen Dingen den Menschen davor schützt, von dem Wirtschaftsleben, das auf den Ver­brauch hin orientiert ist, selber mit Bezug auf seine Arbeitskraft ver­braucht zu werden.

Ebenso wie Preisbildung, Wert bildung das Wesentliche ist innerhalb des Wirtschaftskörpers, ebenso ist die Ausgestaltung des konkreten Rechtes, des konkreten öffentlichen Rechtes, das reguliert das Leben des

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Menschen neben dem Menschen, das Wesentliche im Leben des politi­schen Staates. Kann man in bezug auf die Empfindung, die gegenüber dem öffentlichen Rechte besteht, nicht eigentlich auch heute noch sagen, daß sie zu keiner ganz besonderen Klarheit sich durchgerungen hat? Man kann viel, viel bei denjenigen, die die Sache wissen sollten, die viel nachgedacht und nachgeforscht haben sollten über die Sache, man kann viel bei diesen nachfragen, was eigentlich unter dem Wesen des Rechtes zu verstehen ist, des Rechtes, das ja immer in konkreten Formen auftritt. Man bekommt erst einen Begriff von den Schwierigkeiten, die da vorliegen, wenn man zum Beispiel sich einläßt auf eine solche Frage, wie diejenige war, die in seiner Doktordissertation mein verstorbener Freund Ludwig Laistner zugrunde gelegt hat, «das Recht zur Strafe». Das kann selbst eine Frage werden, worinnen im Konkreten das Recht der menschlichen Gesellschaft zur Strafe besteht.

Man kann vieles versuchen, um nahezukommen dem Impuls des Rechtes. Insbesondere in unserer heutigen Zeit, wo von den verschie­densten Seiten her so viel vom Recht gesprochen wird, liegt es ja auf der Hand, sich immer wieder und wiederum dem nähern zu wollen, was eigentlich das Wesen des Rechtes ist. Wenn man versucht, dahinter zu kommen, worauf ein solches konkretes Recht beruht - auch das Besitz-recht ist auf ein Recht begründet; das Besitzverhältnis gründet auf dem Recht, ein Grundstück oder irgend etwas ausschließlich für sich, zu sei­ner Betätigung zu benützen mit Hinwegweisung der anderen-, das Ge­genstand des eigentlichen politischen Gliedes des sozialen Körpers ist, so finden die einen überhaupt nichts anderes, als daß es zuletzt doch auf Macht zurückgeht. Die anderen finden, daß es auf ein ursprüngliches menschliches Empfinden zurückgehe. Man kommt ja allzuleicht, wenn man der Sache zu Leibe rücken will, auf leere Formen. Ohne daß ich mich - was ja Stunden in Anspruch nehmen würde - einlassen kann auf eine volle Begründung, möchte ich doch dieses sagen, daß das Recht ja begründet ein gewisses Verhältnis des Menschen zu irgend etwas, einer Sache oder einem Vorgang oder dergleichen oder einer Summe von Vorgängen, mit Ausschluß von anderen Menschen. Worauf beruht es denn nun eigentlich, daß man die Empfindung, das Gefühl entwickeln kann: Irgendein Mensch oder ein Volk habe ein Recht auf das, was man

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im Auge hat? Und man bekommt da doch, wenn man noch so sehr sich abmüht, nichts anderes heraus, als daß man sich sagen kann: Im öffent­lichen Leben begründet den Rechtsanspruch das, daß die Vorausset­zung bestehen darf, daß der, der seine Betätigung einer Sache oder einem Vorgange oder einer Reihe von Vorgängen zuwenden darf, dies mit der größeren Wahrscheinlichkeit mehr im Sinne der allgemeinen Menschheit tut als irgendein anderer. In dem Augenblick, wo man die Empfindung hat, daß irgend jemandes Verhältnis zu einer Sache oder zu etwas anderem mehr zum Ausdrucke bringt den Nutzen der allgemei­nen Menschheit, als wenn ein anderer diese Sache benützt oder in dieses Verhältnis eingeht, so kann man dem Betreffenden das Recht auf diese Sache zusprechen. Das wird es ja auch im wesentlichen sein, was in der Empfindung der Menschheit den Ausschlag geben wird, wenn jetzt die großen Rechtsfragen des internationalen Lebens ins Dasein, ins wirk­liche Dasein treten. Man wird demjenigen voll zusprechen das Recht über ein gewisses Territorium, bei dem die Aussicht besteht, daß im Sinne des Wohles der allgemeinen Menschheit gerade dieses Volk das Territorium am fruchtbarsten, am sichersten verwalten kann.

So kommt man zu dem, was im demokratischen Staatswesen durchweben und durchfluten kann die Impulse, die orientieren müssen das Leben von Mensch zu Mensch, die, sei es in der Arbeiterversicherung, sei es irgendwie in anderen Versicherungen, die da sind zum Schutze ge­gen die Schäden des Wirtschaftslebens, in alledem muß das leben als das Fundament des Rechtes, von dem ich eben gesprochen habe. Und ein Verständnis, aber jetzt nicht ein Verständnis für irgendeine allgemeine abstrakte Definition des Rechtes, sondern ein Verständnis für die Wirk­samkeit des Rechtes im einzelnen konkreten Fall, das ist es, was behufs eines gesunden sozialen Lebens der Menschheit eintreten muß. Dieses Rechtsleben, dieses Leben des politischen Staates im engeren Sinn, des zweiten Gliedes eines gesunden sozialen Organismus, das wird es auch sein, welches den eigentlichen Kreuzpunkt, möchte ich sagen, der modernen sozialen Frage allein, nicht durch irgendwelche Verwirkli­chungen von theoretischen Ansichten und Prinzipien und Program­men, sondern durch das unmittelbare Leben aus der Welt schaffen wird, nämlich den Punkt, den ich vorhin bezeichnet habe als die Forderung

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des modernen Proletariats: die Arbeitskraft des Menschen des Waren­charakters zu entkleiden.

Dazu ist allerdings notwendig, daß man auch verstehe, ich möchte sagen, aus dem Fundament heraus verstehe, worauf es ankommt bei dem Anteil, den menschliche Arbeit im allgemeinen menschlichen Leben, in der Struktur der menschlichen Gesellschaft hat. Wiederum würde es Stunden in Anspruch nehmen, wenn ich ein soziales Grundge­setz der menschlichen Arbeit hier im einzelnen begründen wollte; intui­tiv, glaube ich, und instinktiv kann jeder Mensch, der das Leben nur einigermaßen durchschaut, begreifen, was ich jetzt aussprechen werde. Ich habe versucht, bereits im Beginne des Jahrhunderts in einem Auf­satz, der dazumal in meiner damals erscheinenden Zeitschrift «Luzifer-Gnosis» über die soziale Frage erschienen ist, gerade auf dieses funda­mentale soziale Gesetz aufmerksam zu machen. Aber man predigte damals und predigt über viele Dinge auf diesem Gebiet auch heute noch tauben Ohren, leider. Dieses Gesetz besteht darin, daß niemand, inso­fern er dem sozialen Körper, dem sozialen Organismus angehört, für sich selber in Wirklichkeit arbeitet. Wohlgemerkt, insoferne der Mensch dem sozialen Organismus angehört, arbeitet er nicht für sich selbst. Jeg­liche Arbeit, die der Mensch leistet, kann niemals auf ihn zurückfallen, auch nicht in ihrem wirklichen Erträgnis, sondern sie kann nur für die anderen Menschen geleistet sein. Und das, was die anderen Menschen leisten, das muß uns selbst zugute kommen. Es ist nicht bloß ein ethisch zu fordernder Altruismus, der in diesen Dingen lebt, sondern es ist einfach ein soziales Gesetz. Wir können gar nicht anders, ebensowenig wie wir unser Blut anders leiten können, als in der Zirkulation der mensch­lichen Betätigung so wirken, daß unsere Tätigkeit allen anderen, und aller anderer Tätigkeit uns zugute kommt, daß niemals unsere eigene Tätigkeit auf uns selbst zurückfällt.

So paradox es klingt, wenn Sie untersuchen, welchen wirklichen Zir­kulationsprozeß menschliche Arbeit im sozialen Organismus macht, Sie werden finden: sie geht aus dem Menschen heraus, sie kommt den ande­ren zugute, und das, was die einen von der Arbeitskraft haben, das ist das Ergebnis der Arbeitskraft anderer. Wie gesagt, so paradox es klingt, wahr ist es. Man kann ebensowenig leben von seiner eigenen Arbeit im

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sozialen Organismus, als man sich selber aufessen kann, um sich zu er­nähren.

Obschon im Grunde genommen das Gesetz sehr leicht zu verstehen ist, können Sie einwenden: Wenn ich nun aber ein Schneider bin und unter den Kleidern, die ich für andere herstelle, auch einmal mir selber einen Anzug mache, dann habe ich doch meine Arbeitskraft auf mich selber angewendet! - Das ist nur eine Täuschung, wie es überhaupt immer eine Täuschung ist, wenn ich glaube, daß das Ergebnis eigener Arbeit auf mich zurückfällt. Indem ich mir einen Rock, eine Hose oder dergleichen mache, arbeite ich in Wahrheit nicht für mich, sondern ich setze mich in die Lage, weiter für andere zu arbeiten. Das ist das, was die menschliche Arbeit als Funktion rein durch ein soziales Gesetz inner­halb des sozialen Organismus hat. Wer gegen dieses Gesetz verstößt, der arbeitet gegen den sozialen Organismus. Deshalb arbeitet man gegen den sozialen Organismus, wenn man weiter verwirklicht dasjenige, was sich im neueren geschichtlichen Leben ergeben hat, daß man den prole­tarischen Arbeiter von dem Erträgnis seiner Arbeitskraft leben läßt. Denn das ist keine Wahrheit, das ist eine durch die sozialen Verhältnis-mittel kaschierte, realisierte Unwahrheit, die sich hereindrängt als zer­störend in das Wirtschaftsleben. Das ist dasjenige, was aber in dem Wirt­schaftsleben nur geregelt werden kann, wenn dieses Wirtschaftsleben sich selbständig entwickelt und neben ihm relativ selbständig das politi­sche, das engere Staatsleben sich entwickelt, das immerzu entreißt dem wirtschaftlichen Leben die Möglichkeit, die menschliche Arbeit auf sich selber zu lenken. Innerhalb des Rechts systems wird das bewirkt im rich­tigen sozialen Verständnis, daß die menschliche Arbeit diejenige Funk­tion erhalte, welche sie erhalten muß gemäß dem wahrhaftigen Verlaufe des Lebens im sozialen Organismus. Der wirtschaftliche Organismus für sich hat immer die Tendenz, die Arbeitskraft des Menschen zu ver­brauchen. Das Rechtsleben muß immer der Arbeitskraft ihre naturge­mäße altruistische Stellung anweisen, und immer ist es von neuem not­wendig, durch neue konkrete demokratische Gesetzgebung das, was das Wirtschaftsleben in Unwahrheit realisieren will, diesem Wirtschaftsle­ben immer aufs neue zu entreißen, und immer aufs neue die menschliche Arbeitskraft aus den Fängen des Wirtschaftslebens auf dem Wege des

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öffentlichen Rechtes herauszureißen. Geradeso wie zusammenwirken müssen das bloße Verdauungs system mit dem Atmungs-Zirkulationsle­ben, indem aufgenommen wird von dem zirkulierenden Blute das, was dem Verdauungssystem einverleibt wird, so muß nebeneinanderwir­ken, aufeinanderwirken das, was im Wirtschaftsleben vorgeht und das, was im Rechtsleben vorgeht, sonst gedeiht das eine und das andere nicht. Der bloße Rechtsstaat, wenn er Wirtschafter werden will, lähmt das Wirtschaftsleben; der Wirtschaftsorganismus, wenn er sich den Staat erobern will, tötet das System, das Leben des öffentlichen Rechtes.

Das ist es, was ich zu dem in den vorigen Vorträgen Gesagten noch hinzufügen möchte zur Begründung der Dreigliedrigkeit des sozialen Organismus. Indem die bürgerlich leitenden Kreise gewissermaßen den Blick wie hypnotisiert nur auf den Staat gerichtet hatten, wurde ihnen der Staat etwas wie ein Götze. Es wurde die Aufmerksamkeit nicht hin-gelenkt auf die notwendige Differenzierung des sozialen Organismus in die drei Glieder. Und so kam es, daß in der neueren Zeit auch aufgeso­gen, absorbiert wurde von dem Staate, von dem politischen Leben im engeren Sinne das geistige Leben. So wie die Warenzirkulation im Wirt­schaftsleben auf der Preis- und Wertbildung beruht, so wie das Leben innerhalb des politischen sozialen Organismus auf dem Rechtsleben be­ruht, so beruht alles geistige Leben auf dem unmittelbaren Inhalt des Produzierten. Und bedenken Sie nur, was für ein gewaltiger Unter­schied ist zwischen dem Wirtschaftsleben und dem geistigen Leben. Im Wirtschaftsleben kommt alles darauf an, daß die Ware zum zweckmä­ßigsten Verbrauch getrieben wird. Geistige Hervorbringung, sei es auf dem Gebiete des Erziehungs-, des Schulwesens, sei es auf dem Gebiete der Kunst, sei es auf irgendeinem anderen eben geistigen Gebiete, gei­stige Hervorbringung mit dem Begriff des Verbrauches in Zusammen­hang zu stellen ist geradezu eine Absurdität. Man kann es nicht. Man kann nicht das, was geistig hervorgebracht ist, in dieselbe Linie stellen wie das, was im Wirtschaftsprozeß zirkuliert. Das ist es, was auch be­wirkt hat, daß die Aufsaugung zum Beispiel des Schulwesens durch den Staat, des Universitätswesens durch den Staat und ähnliches, in der modernen Entwickelung zu einem hemmenden, auch jetzt im realen

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Sinne hemmenden Faktor geworden ist. Und das ist es, was die Mensch­heit aufmerksam machen muß, daß dieses Geistesleben wiederum be­freit, entfesselt werden muß. Und ich habe schon aufmerksam daraufge­macht, daß zu diesem geistigen Gliede des sozialen Organismus nun auch gerechnet werden muß, was heute noch manchem nun auch para­dox erscheinen wird, die wirkliche Praxis des privaten und des straf­rechtlichen Urteilens. So sonderbar das klingt, auch da gibt es schon eine Tendenz im modernen Leben, die nur nicht in der richtigen Weise beur­teilt wird. Was immer mehr und mehr von einer eben veffehlten Psycho­logie in Anspruch genommen worden ist für die Rechtsprechung, das ist es, was tendiert nach einem noch nicht erkannten, aber notwendiger-weise zu erkennenden Prinzip der Einverleibung des privat- und straf­rechtlichen Wirkens in das geistige Glied, das wiederum mit relativer Selbständigkeit dasteht, auch mit relativer Selbständigkeit dasteht ge­genüber all dem Leben, das sich als das engere politische Leben entwik­kelt, das sich als das Leben des öffentlichen Rechtes, der Gesetzgebung entwickelt. Gewiß, es wird in Zukunft in einem gesunden sozialen Organismus der Verbrecher zum Beispiel zu suchen sein von dem, was sich im zweiten Gliede, im politischen Gliede ergibt. Wenn er aber ge­sucht ist, dann wird er abgeurteilt von dem Richter, dem er in einem in­dividuellen menschlichen Verhältnis gegenübersteht.

Über diese Frage kann auch nur der vielleicht aus der Geschichte her­aus urteilen, der wie ich, der zu Jhnen jetzt spricht, Jahre, jahrelang be­obachten konnte auf einem Territorium, wo es wahrhaftig schwer wurde, einheitlich zu regieren, und wo man doch, ich möchte sagen, zwangs mäßig einheitlich staatlich regieren wollte: auf einem Territo­rium wie in Österreich. Da konnte man beobachten, was es ergeben hätte, wenn über die reinen Sprachgrenzen hinüber freie Gerichtsbar­keit dagewesen wäre; wenn sich trotz der Sprachgrenzen der in einem deutschen Gebiete wohnende Böhme den benachbarten tschechischen oder böhmischen Richter drüben, der böhmische Bewohner wiederum seinen Richter in dem deutschen Gebiete hätte wählen können. Man hat gesehen, wie segensreich dieses Prinzip gewirkt hat in dem leider An­fang gebliebenen Bestreben der verschiedenen Schulvereine. Darinnen liegt etwas, was, ich möchte sagen, wie ein schwerer Alpdruck heute

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noch immer dem, der dieses österreichische Leben miterlebt hat, auf der Seele ruht, daß dieses Ei des Kolumbus nicht gefunden worden ist: die freie Wahl des Richters und das lebendige Zusammenwirken des Klä­gers, des Richters und des Angeklagten, statt des Richters aus dem zen­tralisierten politischen Staate heraus, der nur maßgebend sein kann nicht für die Rechtsprechung, sondern für das Aufsuchen und Abliefern des Verbrechers oder dann für die Ausführung des Urteils.

So paradox das heute noch der Menschheit klingt, es muß einverleibt werden das Verhältnis des Menschen zu seinem Richter in straf- und pri­vatrechtlicher Beziehung dem geistig selbständigen Gliede. Schon vor­gestern habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß nicht abhängen wird die äußere Verwaltung, die Wahl der Personen in dem geistigen Gliede vom Staate. Wer hineinschauen kann in die modernen Verhältnisse, dem offenbart sich das auch, daß das innerste Leben von Wissenschaft und Kunst und allem Geistigen abhängig wird von dem, von dem es nicht abhängig werden darf, wenn sich dieses geistige Glied neben den ande­ren beiden Gliedern nicht in relativer Selbständigkeit entwickeln kann. Es erscheint heute noch vielen als etwas Paradoxes, wenn ich nun zu­sammenfassend sage, jedes dieser Gebiete müsse eine gewisse Souve­ränität haben, sein eigenes Repräsentativsystem, seine eigene Gesetzge­bung, die aus seinen Verhältnissen herausgewachsen ist, die aus den Assoziationsverhältnissen im wirtschaftlichen Gebiete herauswachsen, also seine Verwaltung, seine Gesetzgebung selbständig haben. In demo­kratischer Weise wird herauswachsen aus der Gesamtmenschheit eines bestimmten sozialen Gebietes für den eigentlichen politischen Staat, in dem geregelt wird das Verhältnis des Menschen zum Menschen, das Verhältnis zur Wirtschaft, das Verhältnis zum geistigen Leben; ohne daß in die beiden aber eingegriffen wird aus den Gesetzen des Staates heraus, und aus den im geistigen Leben selbst tätigen Kräften wird sich die Gliederung ergeben auch der Verwaltung für das geistige Leben. In einem noch viel höheren Grade kann aus wirklich modernem Leben her­aus das geistige Leben emanzipiert werden, in einem höheren Grad als es in alten Zeiten der Fall war, als das einzige geistige Leben, das für viele Menschen in Betracht kam, im religiösen Leben bestand, aus dem heraus sich ja auch das Schulwesen, das Universitätswesen gebildet hat.

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Gewiß war das Eingreifen des modernen Staatswesens notwendig, um veralteten Religionsformen und veralteten Verwaltungen das zu verweisen, was ihnen nicht mehr zukam. Aber aus dem modernen Leben selber heraus muß sich wiederum das selbständige Geistesleben entwik­keln. Das ist es ja gerade, was eine geisteswissenschaftliche Richtung, wie sie diesen sozialen Betrachtungen hier zugrunde liegt, für sich in An­spruch nehmen muß, was sie in Anspruch nehmen muß aus dem Grunde, weil sie weiß, daß das gesamte wirkliche produktive Geistesle­ben, auch das, was sich zum Beispiel in technischen Erfindungen, tech­nischen Ideen auslebt, daß sich das nur mit wirklich der Menschheit heil­samen Impulsen entwickeln kann, wenn es sich aus dem lebendigen, selbständigen Geistigen entwickelt, unabhängig von den anderen bei­den Gliedern des sozialen Organismus. Der Geist wird im Menschen nur in der rechten Weise zur Produktivität die Stoßkraft haben, wenn dieses geistige Leben relativ selbständig ist. Spintisieren, theoretisieren, Dinge ausdenken, meinetwillen auch so, wie es von einer gewissen Rich­tung her in moderner Technik und Naturwissenschaft, namentlich in ihren Methoden bewundernswert geschehen ist, auch erfinden kann man, aber die wirkliche produktive Idee, die so produktiv ist, daß sie dem wahren Menschheitsfortschritte und zugleich dem wahren Menschheitsheile dient, diese Idee kann nur geboren werden innerhalb eines auf sich selbst gestellten Geisteslebens.

So weit ist man heute noch entfernt von dem, was ich hier eigentlich meine und was notwendig verstanden werden muß, wenn die soziale Frage auf eine heilsame Grundlage gestellt werden soll, daß manche Leute mir erwidert haben, wenn ich ihnen das auseinandergesetzt habe:

Ja, das ist ja nur in einem modernen Sinne eine Wiedererneuerung der alten platonischen Idee von der Dreiteilung des sozialen Körpers in die drei Stände: Nährstand, Wehrstand, Lehrstand. - Nein, das ist keine Er­neuerung dieser alten platonischen Idee, sondern das ist in gewisser Be­ziehung das radikale Gegenteil davon, und darauf kommt es an. Denn zwischen dem, was platonisch gedacht werden konnte als etwas Großes in Griechenland und noch für spätere Zeiten, und demjenigen, was heute gedacht werden muß zum Heile und zur Gesundung des sozialen Organismus, liegt der große, krisenhafte Menschheitseinschnitt um das

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15. Jahrhundert. Dazumal, zu platonischen Zeiten, war die Gliederung des sozialen Organismus eine solche, daß man die Menschen nach Stän­den einteilte. Die Gliederung, von der ich hier sprach, die gliedert nicht die Menschen, die gliedert den sozialen Organismus; die gliedert diesen sozialen Organismus so, daß unter Umständen ein Mensch in allen drei Gliedern drinnen sein kann, das Entsprechende tun kann, aber dadurch, daß der soziale Organismus gegliedert ist, ist er nicht in der Lage, irgendwie schädlich von dem einen Gliede in das andere hineinzuwir­ken, nicht einmal dann, wenn, wie es in modernen Parlamenten vielfach geschehen ist, derselbe Mensch meinetwillen als Landwirt zugleich in einer staatlichen Partei drinnensteht. Heute ist es noch möglich, daß er durch irgendwelche Assoziationen eine Interessenvertretung inaugu­riert, daß in das Rechtsleben hinein eine wirtschaftliche Interessenver­tretung kommt. Ich habe das letzte Mal ein Beispiel angeführt, wo ein ganzer Staat in seinem Rechtsleben von einer solchen Interessenvertre­tung durchsetzt wurde. Das wird ausgeschlossen. Aber was ich als drei­gliederig bezeichne im gesunden sozialen Organismus, das ist der vom Menschen abgesonderte soziale Organismus. Der Mensch wird gerade dadurch selbständig, wird gerade dadurch entkleidet des Charakters eines Sklaven des sozialen Organismus, daß nicht Menschenklassen, Menschenschichten als Glieder dastehen, sondern daß der soziale Orga­nismus selber gegliedert wird. Das weist zu gleicher Zeit daraufhin, daß dieses Denken, das hier zugrunde liegt, ein wahrhaft wirklichkeitsgemä­ßes ist, entfernt ist von alldem, was ich vorgestern als Schwarmgeisterei bezeichnet habe.

Diese Schwarmgeisterei tritt ja auf bei den verschiedensten Parteien. Sie ist ebenso in bürgerlichen Kreisen vorhanden wie auf seiten der Sozialdemokratie. Und diese Schwarmgeisterei ergreift dann die Men­schen, wenn sie immer wieder und wiederum keine Ahnung davon ent­wickeln, was der soziale Organismus als solcher eigentlich anstreben kann, wenn er gesund ist. Immer wieder und wiederum leidet das soziale Denken unter dem Einfluß der Empfindung, der Idee, als ob angestrebt werden könne unmittelbar, durch irgendwelche Programme, ein sozia­ler Organismus, der das Glück der Menschheit oder die Zufriedenheit der Menschheit oder dergleichen bedingt. Das kann nicht unmittelbar

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angestrebt werden. Was unmittelbar angestrebt werden kann, das ist ein lebensfähiger sozialer Organismus, ein solcher, der lebendige Kräfte des Lebens eben in sich hat. Hineingestellt in einen solchen Organismus, lebend in einem solchen Organismus, kann erst aus ganz anderen Unter­gründen heraus der Mensch sein Glück begründen. Das hat ganz andere Untergründe. Aber diese Untergründe, die müssen befreit werden von ihrer Fesselung. Und sie werden nur befreit, wenn ein lebensfähiger Organismus zugrunde liegt. So wie in einem wirklich lebens£ähigen Organismus die Seele sich entwickeln kann, in ihm in entsprechender Weise sein kann, so in einem lebensfiihigen sozialen Organismus eine glückliche, zufriedene, arbeitswillige und arbeitsverständige Mensch­heit. Das ist es, worauf es ankommt zur Gesundung des sozialen Orga­nismus.

Ein Blick auf das, was wir in einer katastrophalen Zeit erlebt haben, kann auch, ich möchte sagen, von einem internationalen Gesichts­punkte her und von einem größeren historischen Gesichtspunkte her er­härten, wie das, was ich hier als diese drei Glieder anführe, eine wirkliche Notwendigkeit für die gegenwärtige Lebensform der Menschheit und die Lebensform der Menschheit für die nächste Zukunft ist. Man möchte sagen, bevor diese schreckliche Katastrophe, die man einen Krieg nennt, über die Menschheit hereingebrochen ist, war die Kulmi­nation des Durcheinanderwürfelns und Durcheinanderwirrens der drei Glieder, die sich differenzieren müssen, erreicht. Und gerade dadurch, daß diese drei Glieder nicht in relativer Selbständigkeit nebeneinander wirken konnten, dadurch ist vieles von dem eingetreten, was in wahr­haftigem Sinne zu dem Ausgangspunkt und den Ursachen dieser kriege­rischen Katastrophe gerechnet werden muß. Man braucht ja nur auf Weniges hinzuweisen. Der Blick aller Menschen war darauf gerichtet, wie von der Beziehung des österreichischen Staates zu dem Balkanver­hältnis, namentlich zu Serbien, der Krieg seinen Ausgangspunkt ge­nommen hat. Wer eingeweiht war in die österreichischen Verhältnisse seit Jahrzehnten, der wußte zu beurteilen, wie die wirtschaftlichen Ver­hältnisse, die zwischen Österreich und dem europäischen Südosten spielten, in unnatürlicher Weise mit den Verhältnissen verschlungen waren, die relativ selbständig neben ihnen sich hätten entwickeln sollen,

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mit den rein politischen, und wie durch diese Verquickung, dadurch, daß nun die politischen Verhältnisse plötzlich für sich entscheiden soll­ten über etwas, was in wirtschafdichen Verhältnissen tief begründet war, eine realisierte Unwahrheit entstand und explodierte.

Wie anders wäre diese Sache geworden - ich kann dies am Schluß des heutigen Vortrages nur andeuten -, wenn das Verhältnis solcher Nach­barstaaten entsprechend der Dreigliederung gewesen wäre, wenn über die Grenze hinüber das Verhältnis ein rein politisches, auf demokrati­scher Grundlage beruhend und abgesondert gewesen wäre von den an­deren Gliedern, gleich wie sonst die Regierungsform ist. Wenn nun aber korrigierend, harmonisierend über die Grenze hinüber selbständig die wirtschaftlichen und geistigen Faktoren wirkten, da würde über das System der Staaten, der sogenannten Staaten so etwas an Interessenhar­monie und an Interessenverquickung ausgebreitet, wo immer das eine das andere korrigiert, wo nicht das eine einseitig eine Explosion herbei­führen kann. Gesunde Verhältnisse über die Grenzen hinüber würden durch diese Dreiteilung im internationalen Verhältnis der Völker entste­hen.

Und wiederum, wie hat die internationale Menschheit den Blick ge­richtet auf Deutschland, das ja in den Kriegserklärungen, wenigstens äußerlich, vorangegangen ist. Wer auf diesem Gebiet eingeweiht ist, der weiß, wie das Unglück geschehen ist. Man hat vielfach gesagt, im Juli und August, in den verhängnisvollen Tagen, habe die Politik neben der eigentlichen Kriegsführung, neben dem Heerwesen, versagt. Aber Poli­tik und Heerwesen sind da, wo beide wirken, gleichlaufende Dinge. Die sind nicht ohne weiteres zu trennen. Sie können nur in gesunder Weise sich entfalten, wenn sie wirken innerhalb des einen, des staatlichen Ge­bildes in einem dreigeteilten sozialen Organismus. Sonst wird notwen­digerweise die Politik, wenigstens in dem einen Gliede, einen einheit­lichen Charakter annehmen müssen. Sie wird zu einer bestimmten Zeit entweder im Militär oder im Nichtmilitär kulminieren. Denn was in sei­ner Natur, wenn es auch verquickt ist durch menschlichen Irrtum mit anderen Systemen, etwas Einheitliches sein muß, das kann sich nach außen nicht, das eine über das andere korrigierend, ergehen. In jenem furchtbaren Angstzustande, aus dem heraus in Berlin erwachsen ist das,

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was in den letzten Juli-, in den ersten Tagen des August erwachsen ist, da hat gewirkt die Zusammendrängung auf ein einziges System, was hätte verteilt sein sollen. Es drängte sich zusammen unter die Verant­wortung eines einzigen Systems, was ein einziges System zum Heile der Menschheit niemals tragen darf. Die konkreten Verhältnisse werden es gerade dann lehren, wenn man diese Dinge einmal vorurteilslos und un­befangen untersuchen wird. Oh, wieviel Unsinn ist gerade mit Bezug auf Politik und Heeresverwaltung gesagt worden! Es ist ja soviel Un­sinn gesagt worden in den letzten viereinhalb Jahren! Ich will nur das eine ausführen: Weil in einem untrennbaren Gliede des sozialen Orga­nismus ruhend Politik und Strategie nur wirken können, so kann nie­mals, wenn die Strategie veranlaßt ist, nur auf sich selbst zu sehen, die Politik diese Strategie in gesunder Weise beeinflussen. Man hat gesagt, sich immer wieder und wiederum auf einen Clausewitzschen Satz beru­fend: Die Kriegführung sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mit­teln. - Ich will nicht mich kritisierend ergehen über diesen Satz, inso­ferne er im Zusammenhang der ganzen kriegerischen Auseinanderset­zung steht. Aber so, wie die Herren, die immer wieder und wiederum diesen Satz - es sind auch Damen gewesen - angewendet haben, da hat er ungefähr ebensoviel Sinn, als wenn man sagt: Die Scheidung ist die Fortsetzung der Ehe mit anderen Mitteln.

Unsinn dieser Art ist aus einem unnatürlichen Denken, das wiederum unnatürlich in die realen Verhältnisse eingegriffen hat, viel produziert worden. Wenn man einmal die Dinge unbefangen durchschaut, wird man sehen, wie alles anders verlaufen wäre. Selbstverständlich ist das, was geschehen ist, historisch notwendig, und das, was ausgesprochen werden soll, soll als der Impuls für die Zukunft gelten, aber hypothe­tisch kann man doch sagen, wie alles anders verlaufen wäre, wenn die Struktur der europäischen internationalen Verhältnisse aufgebaut ge­wesen wäre unter dem Einfluß der sozialen Dreigliederung. Man wird sagen: Das, was gekommen ist, ist durch die Bündnisverhältnisse ge­kommen. Aber diese Bündnisverhältnisse hätten unter dem Einfluß der sozialen Dreigliederung niemals eintreten können. Das Ende solcher Bündnisbildungen wie diejenigen waren, welche zu dem Unglücke der letzten viereinhalb Jahre geführt haben, ist dann da, wenn die Menschen

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sich orientieren im Sinne der Dreigliederung des gesunden sozialen Organismus.

Das, was ich hier auseinandersetze, es ist durchaus im realen Sinne ge­dacht, es ist aus der Wirklichkeit heraus gedacht. Deshalb habe ich auch immer gesagt, wenn ich mich damals bemüht habe während dieser Schreckensjahre, an autoritativer Stelle in entsprechender Weise für die damalige Zeit auf die Dreigliederung hinzuweisen: Dasjenige, was real ist, ändert sich von Tag zu Tag, und es könnte selbstverständlich sein, daß, wenn die Verhältnisse sich wieder geändert haben, ich über diese Dinge anders sprechen müßte. Ich sagte zu den Leuten: Was hier vorge­legt wird, ist nicht ein Programm, ist nicht ein Ideal, es entspringt der Beobachtung dessen, was sich in den nächsten zehn, zwanzig Jahren in Mittel- und Osteuropa verwirklichen will, überhaupt in Europa. Sie haben die Wahl, entweder Vernunft anzuwenden heute, oder entgegen-zugehen Revolutionen und Kataklysmen.

Es hat schon begonnen und es wird sich in noch anderer Weise zeigen. Heute aber möchte ich wiederholen, was ich auch noch nach anderer Hinsicht bei diesen Gelegenheiten gesagt habe. Gesagt habe ich immer:

Wer ein Utopist, ein Theoretiker ist, der nicht aus der Wirklichkeit her­aus denkt, sondern aus gewissen abstrakten Forderungen oder aus Par­teiimpulsen heraus, der hat ein Interesse daran, daß das, was er wie ein Programm oder dergleichen gibt, auch wirklich so ausgeführt werde, wie er es im einzelnen gibt. Mir kommt es bei diesen Dingen, die ich zu vertreten habe, darauf nicht an-so sprach ich dazumal. Es könnte sein-sagte ich, und das sage ich auch heute noch -, daß von der Formulierung dessen, was ich vertrete, kein Stein auf dem anderen bleibt. Denn nicht darauf kommt es an, daß irgendwelche ausgedachten Dinge realisiert werden, sondern daß die Wirklichkeit an einem Punkte angepackt werde. Dann wird man finden, indem man sie anpackt, wie es weiterzu­gehen hat. Es könnte sich in weiteren Ausführungen herausstellen, daß alle Formulierungen anders werden müßten. Darauf kommt es nicht an, wenn man kein Utopist, kein Schwarmgeist ist, daß die Dinge wörtlich ausgeführt werden, sondern daß an einer Stelle wirklich angefangen werde. Und auf eine solche Stelle, wo angefangen werden muß, wollte ich hinweisen und will ich auch heute noch hinweisen, bevor es ganz zu

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spät wird, bevor die menschlichen Instinkte so weit entfesselt sind, daß eine Verständigung unter den Menschen, vielleicht auf Jahrzehnte hin­aus, nicht mehr möglich sein würde.

Daher - lassen Sie mich das zum Schlusse noch aussprechen, obwohl es nicht im engeren Sinne zu meinem Vortrage gehört - denke ich auch, daß heute derjenige, der mit der sozialen Frage irgendwie mit seiner Seele verknüpft ist, nicht nur die Aufgabe hat, die Dinge auszusprechen, sondern alle Mittel anzuwenden, um sie zum Verständnis der Mitwelt zu bringen. Denn das ist ja das, was wir als erstes tun können: gegenseitiges soziales Verständnis hervorrufen. Vieles ist verdorben worden, verdor­ben worden auf den verschiedensten Gebieten der Welt dadurch, daß ein kurzmaschiges Denken, wie ich es hier neulich charakterisiert habe, hin­ausgerufen worden ist in die Welt, daß nicht zur rechten Zeit an das Rechte gedacht worden ist. Deshalb muß ich es mit einer gewissen Be­friedigung begrüßen, daß es möglich geworden ist, immerhin aus den schwierigen Verhältnissen der Gegenwart heraus möglich geworden ist, auch mit Bezug auf praktische Auswirkung der hier vorgetragenen Ideen, in verhältnismäßig kurzer Zeit einiges zu erreichen. Solche Per­sönlichkeiten, bei denen in gewisser Weise, wenn ich so sagen darf, Feuer gefangen hat das, was hier als Wirklichkeitsansicht von der sozia­len Frage entwickelt worden ist, sie haben sich darauf eingelassen, dahin zu wirken, daß wenigstens auf diesem Gebiete, auf dem heute das Un­glück der große Lehrer sein kann, ein Verständnis für diese Dinge ein­trete. Allerdings möchte ich es als ein besonderes Glück bezeichnen, wenn hier auf schweizerischem Gebiete, wo verhältnismäßig noch Gele­genheit zu ruhiger Objektivität ist, gerade wegen der Möglichkeit dieser ruhigen Objektivität auch tieferes Verständnis eintreten könnte, dahin­gehend, daß man die Notwendigkeit einsieht, daß zum gegenseitigen sozialen Verständnis der Menschheit in dem in diesen vier Vorträgen an­gedeuteten Sinne etwas getan werden soll. Immerhin, unter den Schmerzen und in die Schmerzen hinein, die man über den Verlauf so mancher Ereignisse und über das Schicksal so mancher Glieder der Menschheit heute haben kann, kann es mit einer gewissen Befriedigung erfüllen, daß das Unglück manche Menschen doch etwas gelehrt hat. So konnte es geschehen - gestatten Sie, daß ich das anführe, weil es immerhin

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doch bedeutsam sein kann, wenn man nicht bloß abstrakt, sondern konkret über die soziale Frage handeln will-, daß ein Aufruf, dem ich einverleibt habe das, was ich hier ausführlich vertreten habe, in kurzen Sätzen, daß ein Aufruf, der eigentlich bestimmt ist zur Wirkung in alle Welt, doch bis jetzt Eingang gefunden hat in die Herzen derjenigen, die in Deutschland und Deutsch-Österreich schwer geprüft sind durch das Unglück und durch das Unglück einigermaßen belehrt sind. Ich habe in diesem Aufruf gerade auseinanderzusetzen versucht, wie das Deutsche Reich, als es gegründet worden ist, mit seiner Gründung in diejenige Zeit hineinfiel, wo die Entwickelungsmöglichkeiten der neueren Menschheit von einer solchen Neugründung im eminentesten Sinne ein Hingehen zu neuen sozialen Aufgaben verlangt hätten. Kleinen Dingen hat man sich sogar in umfassender Weise hingegeben; allein gerade das, was diesem Reiche obgelegen hätte, seinem Rahmen einen entsprechen­den Inhalt zu geben aus den Entwickelungskräften der modernen Menschheit heraus, die nun einmal nach dieser Dreigliederung hinge­hen, das hat man nicht sehen können. Und davon ist es gekommen, daß sich die übrige Welt so zu diesem Mitteleuropa stellte. Wie konnte die übrige Welt verstehen die Berechtigung dieser besonderen Reichsgrün­dung, wenn nicht aus dieser Reichsgründung etwas hervorging, was un­widerstehlich sein Recht innerhalb des internationalen Menschheitspro­zesses darwies!

Deshalb habe ich geglaubt, als ein rechtes, wenn ich jetzt sagen darf, Programm - aber Sie wissen aus dem Vorangegangenen: es ist kein Pro­gramm, es ist eine Wirklichkeit -, deshalb habe ich geglaubt, formulie­ren zu dürfen in einem Aufruf an die Menschheit eine Aufgabe, die nun­mehr erwachsen könnte der europäischen Menschheit, die ja vor der Notwendigkeit eines Neuaufbaues steht. Und immerhin konnte man mit Befriedigung erleben, daß bis gestern Mittag dieser Aufruf schon mehr Unterschriften in Deutschland gefunden hat, als der einstige Auf­ruf der neunundneunzig Intellektuellen unglückseligen Angedenkens, daß über hundert Unterschriften für diesen Aufruf aus Deutschland und bis gestern Mittag über siebzig Unterschriften aus Deutsch-Österreich für diesen Aufruf vorhanden sind. Ich erwähne das, weil ich aus der Realität heraus reden möchte und dadurch aufmerksam darauf machen

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möchte, daß ich nun mit dem, was ich glaube, daß notwendig ist im sozialen Fortentwickelungsprozeß, doch nicht mehr ganz allein dastehe, auch wenn es darauf ankommt, dies geltend zu machen für das gegensei­tige soziale Verhältnis der Menschen untereinander.

Und so wird weiter gewirkt werden müssen zunächst auf dem Wege einer wirklichen sozialen Aufklärung. Denn die ist das nächste. Die Menschheit steht einmal heute in bezug auf einen großen Teil der zivili­sierten Welt vor der Notwendigkeit, dem sozialen Problem sich Auge in Auge gegenüberzustellen. Sie wird dabei ein Problem lösen müssen -lassen Sie mich das zum Schlusse aussprechen -, das ihr im höchsten Grade den Denkgewohnheiten gegenüber unbequem ist. Viele Men­schen wollen noch zugeben, daß man eine Umwandelung der Einrich­tungen, eine Umwandelung auch der sozialen Struktur notwendig habe. Hat aber nicht der ganze Geist der Vorträge, von dem ich mir erlaubte hier zu sprechen, hat nicht dieser ganze Geist nachgewiesen, daß noch ein anderes notwendig ist? Wenn marxistisch gebildete proletarische Führer immer wieder und wiederum betonen, daß das marxistische Wort wahr ist: Die Philosophen haben die Welt interpretiert, erklärt; es handelt sich aber darum, die Welt nach Gedanken nicht nur zu erklären, sondern umzugestalten -, so ist das trotzdem den heutigen einschnei­denden Zeitforderungen gegenüber nicht nur eine Halbheit, vielleicht nicht einmal eine Viertelheit. Das, was notwendig ist, das ist, daß man nicht nur die Gedanken anwenden soll auf irgendwelche Umwandelung von Einrichtungen, von sozialen Strukturen, sondern daß es sogar not­wendig ist, die Gedanken selber umzuwandeln. Nur aus neuen, nur aus umgewandelten Gedanken wird ein gesunder sozialer Organismus sich entwickeln können. Einrichtungen, das lassen sich die Menschen noch leicht gefallen; umzudenken, das lassen sie sich weniger gefallen. Das aber ist notwendig. Und ehe man das nicht einsehen wird, wird man nicht sich orientieren und nicht mitwirken können an der Gesundung des sozialen Organismus.

Lange Zeit hat gepocht an das Tor der wichtigsten menschlichen Er­wägungen und Entschlüsse die soziale Frage. Jetzt ist sie eingedrungen in das Haus der Menschheit. Sie kann nicht wieder hinausgeworfen wer­den, denn sie ist in gewisser Beziehung der Menschheitsentwickelung

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gegenüber eine Zauberin. Sie wirkt nicht nur auf das Äußere des Menschheitsgefüges, sie wirkt so, daß die Menschen vor der Notwen­digkeit stehen, entweder umzudenken oder zu dem schon vorhandenen Unglück ein immer vermehrteres Unglück zu fügen.

Damit deutet man an, was notwendig ist, was notwendig realisiert werden muß, wenn es nicht zu spät werden soll in der Beziehung, daß die Instinkte, wie ich schon sagte, Formen annehmen, so daß eine Verstän­digung zwischen den verschiedenen Menschenklassen nicht mehr mög­lich sein werde. Nur dann gehen wir der Gesundung des sozialen Orga­nismus entgegen, wenn wir das Neue, das wir erwarten, wenn wir das Gesundende, das wir erhoffen, nicht begründen wollen auf die alten Ge­danken, sondern wenn wir uns kühn und kraftvoll entschließen, zur Fortentwickelung der Menschheit unsere Kraft zu wenden an neue Ge­danken; denn aus neuen Gedanken wird allein erblühen die Lebensmög­lichkeit von neuen Generationen. So wird man denken müssen, daß die soziale Frage heraufgekommen ist, daß sie entwachsen ist den Bedin­gungen des modernen Lebens. Aber man wird falsch denken, wenn man glauben wird, man könne sie irgendwie momentan lösen. Der Sozialis­mus ist nicht etwas, was eine Lösung oder ein Lösungsversuch ist, nein, das moderne Leben und das Leben der Menschheit in die Zukunft hinein hat die soziale Frage heraufgebracht. Sie wird immer da sein. Im leben-den sozialen Organismus wird sie immer gelöst werden müssen. Darin wird ein Teil, ein Stück des Lebens der zukünftigen Menschheit beste­hen müssen, daß in jeder Generation aufs neue diese Frage gelöst wer­den muß, aus neuen Formen gelöst werden muß, diese Frage, die einmal heraufgezogen ist, mahnend und erschütternd das ganze Gefüge des menschlichen Denkens und Wollens, die soziale Frage. Wenden wir uns ihr zu mit unserem ganzen Herzen, mit unserer ganzen Seele, sonst wird sie sich uns zuwenden, dann aber allerdings nicht zu unserem Heil, son­dern zu unserem Unheil.

DAS SOZIALE WOLLEN ALS GRUNDLAGE EINER NEUEN WISSEN SCHAFTSORDNUNG Vortrag vor der Zürcher Studentenschaft, SSV Zürich, 25. Februar 1919

#G328-1977-SE104 Die soziale Frage

#TI

DAS SOZIALE WOLLEN

ALS GRUNDLAGE EINER NEUEN

WISSEN SCHAFTSORDNUNG

Vortrag vor der Zürcher Studentenschaft, SSV

Zürich, 25. Februar 1919

#TX

Als Thema für den heutigen Abend ist gewünscht worden «Das soziale Wollen als Grundlage einer neuen Wissenschaftsordnung». Ich weiß nicht, aus welchen Motiven heraus gerade dieses Thema gestellt worden ist, aber als seine Forderung zu mir gelangte, fand ich es außerordentlich glücklich, denn es schlägt in der Tat denjenigen Ton an, der mir notwen­dig dünkt gerade gegenüber den Tatsachen, welche die soziale Bewe­gung in die Gegenwart hereingetragen hat, und die ja wahrhaftig eine viel deutlichere Sprache sprechen als alles dasjenige, was vorbereitend diskutiert, verhandelt worden ist über die soziale Frage im Laufe der letzten Jahrzehnte.

Man kann durch lange Zeiten verfolgen diese Entwickelung der sozialen Bewegung in der neueren Zeit, der Gegenwart, und man konnte gerade gegenüber dem sozialen Wollen, das sich immer mehr und mehr nach der einen oder nach der anderen Seite in diesen sozialen oder anderen Wollungen aussprach, bemerken, daß sich etwas hereinge­flüchtet, hereingeschlichen hat in dieses soziale Wollen, in die soziale Gesinnung der neueren Zeit, das einem erscheinen kann wie eine Um­hüllung eines auf einem ganz anderen Gebiete herrschenden Aberglau­bens älterer mittelalterlicher Zeiten, eines Aberglaubens, der einem wie­derum vor Augen tritt, wenn man sich vertieft in den zweiten Teil von Goethes «Faust» und dort auf die Szene stößt, wo Goethe seinen Wagner den Homunkulus bereiten läßt, das Menschlein, das auf dem Wege sein möchte, aus einem Homunkulus ein Mensch zu werden. Es beruht der Aberglaube des Mittelalters auch nach der Meinung Goethes darauf, daß man damals aus dem, was nur der theoretische, nur die äußeren Tat­sachen nüchtern und trocken zusammenstellende, zusammenfassende menschliche Verstand, der Wesenhaftes ausdenken kann, daß man nach diesem Ausgedachten etwas wirklich Lebendiges formen wollte. Die

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Unmöglichkeit, aus den Abstraktionen, die abgezogen sind vom äuße­ren Leben, etwas Lebendiges selbst zu formen, die trat Goethe ganz be­sonders vor Augen. Dieses Mittelalter aber beherrscht ja nicht gerade das heutige Denken selbst, aber es scheint mir in all den Impulsen, in den Instinkten unserer Zeitgenossen, vieler unserer Zeitgenossen, die sich soziales Wollen zusprechen möchten, eine Metamorphose, möchte ich sagen, manchen Aberglaubens zu herrschen. Man beobachtet die Entwickelung des sozialen Lebens, wie es sich im Laufe der Mensch­heitsgeschichte bis in die Gegenwart herein ergeben hat, man denkt sich aus gewisse Prinzipien, gewisse Grundsätze, nach denen verfahren werden soll, oder, wie man auf manchen Seiten hört, die sich selber verwirklichen wollen, und dann meint man dadurch, mit abstrakten Prinzipien, nach denen der Homunkulus geformt werden sollte, auch das formen zu können, was man den sozialen Organismus nennen kann.

Nach diesem sozialen Organismus nämlich strebt eigentlich, ich darf sagen, das Unbewußte der modernen Menschheit hin. Man braucht sich nur das Folgende klarzumachen, um das zu verstehen. Das soziale Leben der Menschheit ist ja selbstverständlich als solches nichts Neues, es tritt nur in einer anderen Erscheinung in der neueren Zeit auf. Die soziale Struktur des gesellschaftlichen Organismus wurde bis eigentlich in die neuere Zeit herauf aus menschlichen Instinkten, aus dem Unterbewuß­ten der menschlichen Impulse heraus bestimmt. Und das ist das Bedeut­same in den heraufkommenden Kräften der neueren Zeit, daß die Menschheit nicht mehr stehenbleiben kann bei einem bloß instinktiven Wollen, daß sie einfach, durch die Natur der Entwickelung herausgefor­dert, zu einem bewußten Wollen gerade mit Bezug auf die Gestaltung der sozialen Struktur sich ausrüsten muß. Will man sich aber mit einem bewußten Wollen ausrüsten, so braucht man diesem Wollen zugrunde­liegende, wirklichkeitstragende Gedanken, nicht bloß Gedanken, die ganz aus der Wirklichkeit abstrahiert sind, sondern Gedanken, die das eigene Wollen verwandt machen mit den Kräften, die im Naturgesche­hen, die im Weltenwalten selber drinnen sind. Man muß gewissermaßen mit seinem eigenen Wollen verwandt werden mit den Schöpferkräften des natürlichen Daseins.

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Das ist etwas, was aber weite Kreise der Menschheit erst noch lernen müssen. Sie müssen daran denken lernen, daß man eigentlich so gar nicht verfahren kann, daß man sich denkt: Was soll geschehen, um aus einer sozialen Struktur, die aus einem von vielen als unerträglich emp­fundenen Leben heraus kommen soll, eine mögliche soziale Struktur hinzustellen. Man kann gar nicht so verfahren. Man kann nichts ausden­ken, was gewissermaßen die sozialen Krankheiten sind. Man kann nur seine besten Bestrebungen darauf richten, aus dem Menschen selbst zu finden, wie die in der Gesellschaft zusammenlebenden Menschen ihre gegenseitigen Verhältnisse in gegenseitige Harmonien bringen müssen, um in diesem Wechselleben das zu entfalten, was notwendig ist, um die soziale Struktur herbeizuführen.

Da hat sich mir, wie ich glaube, aus langjährigen Studien der sozialen Frage ergeben, daß man diese Grundfrage, die man gerade durch das ab­strakte Denken heute als eine einheitliche betrachtet, daß man diese soziale Frage in drei Gliedern sehen muß, dreigliederig sehen muß, und zwar sehen muß erstens als eine Geistesfrage, zweitens als eine Rechts­frage und drittens als eine Wirtschaftsfrage. Dasjenige, was im moder­nen kapitalistischen Wirtschaftsleben heraufgekommen ist, heraufge­kommen ist auf Grundlage des Technischen, das sich ausgebildet hat in der neueren Zeit, das hat, wie hypnotisiert, den menschlichen Blick ein­zig und allein auf dieses Wirtschaftsleben hingelenkt, hat die Aufmerk­samkeit ganz davon abgezogen, daß die soziale Frage neben einer Wirt­schaftsfrage vor allen Dingen auch eine Geistesfrage ist und eine Rechts­frage.

Ich werde mir erlauben, zuerst die Geistesfrage zu behandeln, nicht aus dem Grunde, weil vielleicht, wie einige glauben, die Betrachtung des geistigen Lebens mir subjektiv besonders nahe liegt, sondern weil ich allerdings der Meinung bin, daß, wenn auch gerade proletarisch den­kende Menschen der heutigen Zeit es ablehnen, im Geistigen etwas zu sehen, was zur Lösung der sozialen Frage etwas beitragen kann, gerade für den wirklichkeitsgemäßen Betrachter dieser sozialen Frage sich das Geistige an erste Stelle stellen muß. Da muß man, um das einzusehen, die Seele des von der modernen sozialen Bewegung berührten Men­schen in ihrer wahren Gestalt betrachten. Man muß versuchen zu erken­nen,

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was eigentlich gerade in den sozialistisch orientierten Kreisen an Willensimpulsen lebt. Man muß vor allen Dingen ergründen, woher diese Willensimpulse gekommen sind.

Sehen Sie, als mit Technik und Kapitalismus das neuere Menschheits­leben heraufzog, da gliederte sich immer mehr und mehr der herr­schende Teil der Menschheit, die sogenannte herrschende Klasse, von dem ab, was sich in den verschiedensten Gebieten als das Proletariertum herausbildete. Zwischen dem proletarischen Wollen und dem nichtpro­letarischen Leben herrscht ja heute, das wird der Einsichtige nicht leug­nen, eine Kluft, die kaum zu überbrücken ist, wenn man nicht wenig­stens den Versuch macht, nicht nur mit den alten Gedanken und alten Willensimpulsen in der sozialen Bewegung tätig zu sein, sondern mit neuen Gedanken und Willensimpulsen. Es hat sich ja im Laufe der Zeit immer mehr und mehr herausgebildet innerhalb des Proletariertums selbst der Glaube - und man kann, so wie die Verhältnisse liegen, diesen Glauben durchaus nicht als einen irgendwie unbegründeten ansehen -, es hat sich der Glaube herausgebildet, daß die sozial benachteiligte Klasse von den sozial bis jetzt herrschenden Klassen nichts zu hoffen habe, wenn sie auf deren guten Willen, deren Ideen und so weiter bauen. Es hat sich, wenn ich so sagen darf, ein tiefes Mißtrauen eingeschlichen zwischen den einzelnen Menschenklassen. Und dieses Mißtrauen hat sich ergeben aus Untergründen, die bisher gar nicht in das Bewußtsein der Menschheit recht hinaufspielen, die im Unterbewußten noch immer vorhanden sind. Es hat sich daraus ergeben, daß die arbeitende Klasse dem Bürgertum, namentlich im Anfange der neueren Zeit, ein letztes großes Vertrauen entgegengebracht hat, und daß sie, nicht in ihrer Überzeugung, aber in ihrem Gefühl von diesem letzten großen Ver­trauen getäuscht worden ist. Sehen Sie, man redet heute von proletari­scher Weltanschauung. Viele, auch führende Persönlichkeiten, die glau­ben das proletarische Wollen in ihrem Denken zum Ausdruck zu brin­gen, die wissen eigentlich nicht, welches der Ursprung ihres ganzen Den­kens und Wollens ist. Was an Forderungen, die aus dem Leben selbst kommen, heute in der sozialen Bewegung lebt, das steht eigentlich in ei­nem merkwürdigen Kontraste mit dem, was über diese Forderung, über diese sozialen Lebensimpulse sogar vom Proletariat selbst gedacht wird.

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Wenn ich kurz ausdrücken soll, was ich auf diesem Gebiete meine, so muß ich sagen: Es ist proletarische, es ist soziale Kultur also entstanden; aber innerhalb des proletarischen Fühlens, innerhalb der sozialen Kultur und des Lebens herrscht ein Erbgut gerade aus denjenigen Anschauun­gen und Lebensauffassungen heraus, die sich in dem entscheidenden Augenblicke ihrer geschichtlichen Entwickelung gerade im Bürgertum ergeben haben.

Diesen entscheidenden Augenblick der neueren geschichtlichen Ent­wickelung muß der Betrachter dieser Entwickelung doch darinnen sehen, daß sich die neuere wissenschaftliche Denkungsweise entwickelt hat - ich bitte zu beachten, daß ich nicht sage: die Naturwissenschaft, sondern die neuere naturwissenschaftliche Denkungsweise - in einer solchen Art aus alten geistigen Impulsen heraus, daß diese wissenschaft­liche Denkungsart nicht dieselbe Stoßkraft, dieselbe geistige Stoßkraft mitbekommen hat, welche die alten Weltanschauungen hatten.

Die alten Weltanschauungen wurzelten in breiteren menschlichen Impulsen als die moderne wissenschaftliche Denkungsweise. Diese alten Weltanschauungen waren imstande, Impulse in die menschliche Seele hineinzusenden, durch die der Mensch empfindungs- und gefühls­mäßig sich die ihn immer so berührende Frage beantworten konnte:

Was bin ich eigentlich als Mensch in der Welt? - Solche Stoßkraft in das Seelenleben hinein ist der neueren wissenschaftlichen Denkungsweise nicht gegeben. Selbstverständlich, aus einer geschichtlichen Notwen­digkeit heraus, die aber deshalb nicht minder ein geschichtliches Ver­hängnis ist, haben sich die alten Weltanschauungen im entscheidenden Augenblick feindlich gestellt der neueren wissenschaftlichen Den­kungsweise gegenüber, statt in sie hineinfließen zu lassen in voller Freundschaft mit ihr, was sie für das geistige Leben des Menschen für seine Seele Tragendes hatte. Und so kam folgender Tatbestand.

Die Maschine, die kapitalistische Wirtschaftsordnung, riß eine An­zahl von Menschen aus dem bisherigen Lebenszusammenhang heraus, aus diesem Lebenszusammenhang, in dem diese Menschen bisher ge­standen hatten, aus ganz anderen Lebensverhältnissen für ihr Mensch­heitsempfinden, für die Empfindung ihrer Menschenwürde. Es war ein Zusammenhang zwischen dem, was der Mensch ist und tut. Denken Sie

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nur einmal an den Zusammenhang, der im alten Handwerk bis zum 13. Jahrhundert ganz deutlich bestand und später auch noch in Resten bestand! Aus diesem Zusammenhange heraus ist eine große Gruppe von Menschen an die Maschine geworfen, in die moderne Wirtschafts­ordnung hineingeworfen. Da gibt es kein irgendwie geartetes Verhält­nis zu den Produktionsmitteln; da gibt es keine Möglichkeit, irgendeine Wirkung herzustellen zwischen dem Menschen und dem, was er eigent­lich tut. Und so ist gerade jene Seite im Menschen, die der moderne Pro­letarier im Maschinenzeitalter nicht entwickelt, darauf angewiesen, zu fragen: Was bin ich als Mensch wert? Was bin ich als Mensch wert?

Diese Frage ist nicht mehr aus überkommenen, wertlos gewordenen Lebenszusammenhängen heraus zu beantworten, sondern sie ist aus dem eigenen Inneren heraus zu holen, aus demjenigen, was unabhängig ist von den äußeren Lebenszusammenhängen. Und da ergab sich nichts anderes für diese Menschenklasse, als dasjenige, was mit dem Maschi­nenzeitalter, mit der Wirtschaftsordnung in welthistorischer Gleichzei­tigkeit heraufkam: es ergab sich die moderne wissenschaftliche Den­kungsweise.

Die alten Klassen waren nicht genötigt, diese wissenschaftliche Den­kungsweise zu ihrem Glauben, zu ihrer Lebensauffassung zu machen; sie brauchten sie bloß zu ihrer theoretischen Überzeugung zu machen. Denn dasjenige, was sie ins Leben hineinstellte, das war etwas Überlie­fertes, das waren Impulse, die aus anderen Zeiten herrührten und die sie erbten aus älteren Zeiten. Der Proletarier allein war es, der aus allem her­ausgerissen war, der daher auch nicht sich bekennen konnte zu irgend­welcher Lebensauffassung, die mit den alten Lebenszusammenhängen verbunden war, und der gerade durch sein ganzes äußerliches Dasein prädestiniert war, das Neue, das heraufkam, zu seinem Seeleninhalt zu machen. So ist er, so paradox es klingt, so unglaublich es für viele aus­schaut, so ist er gerade, dieser Proletarier, der eigentliche, bloß wissen­schaftlich orientierte Mensch.

Um die ganze Tragweite dieser Tatsache zu würdigen, muß man nicht nur gelernt haben über die Proletarierbewegung zu denken, man muß durch sein Schicksal in die Möglichkeit versetzt gewesen sein, mit dem Proletarier zu denken, namentlich mit solchen Menschen aus der Prole­tarierklasse

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zu denken, die von der oder jener Seite her gerade zu Trä­gern wurden der proletarischen Bewegung. Da konnte man das Fol­gende ganz deutlich fühlen, wie es sich heute aus älteren Zeiten gerade ausbreitet in die unmittelbare soziale Gegenwart.

Nicht wahr, Sie können sagen: Ja, die wissenschaftliche Denkungs-weise haben doch bürgerliche Kreise in ausgiebigem Maße angenom­men. - Aber nehmen Sie selbst intelligente bürgerliche Kreise, denken Sie an solche Menschen, die ganz und gar in ihrem Denken, in ihren Überzeugungen wissenschaftlich orientiert sind: mit ihrem Fühlen, mit ihrer ganzen Lebensempfindung stehen sie doch in Zusammenhängen drinnen, die nicht ganz und gar bestimmt sind durch die wissenschaft­liche Orientierung. Man kann materialistischer Denker der modernen Zeit sein, kann sich aufgeklärt nennen, kann Atheist sein, kann das wirk­lich als seine ehrliche Überzeugung bekennen, aber man braucht durch­aus nicht sich loszusagen von allen empfindungsgemäßen Resten der alten Lebenszusammenhänge, die doch nicht aus dieser wissenschaft­lichen Orientierung heraus entstanden sind, sondern die entstanden sind in Zeiten, in denen noch geistige Impulse die vorhin skizzierte Stoßkraft hatten.

Ganz anders wirkte die rein wissenschaftliche Orientierung. Ich sage nicht, die Wissenschaften, denn selbstverständlich wirkte diese wissen­schaftliche Orientierung auf ganz ungelehrte Proletarier, ungebildete Proletarier; aber ganz anders wirkte sie eben da, wo sie als Lebensan­schauung über das Proletariat hingetragen worden ist.

Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel klarmachen. Ich stand vor vie­len Jahren gemeinsam an einem Vortragstisch mit der ja jetzt in so tragi­scher Weise untergegangenen Rosa Luxemburg; sie sprach über das Thema: «Die Wissenschaft und die Arbeiter.» Ich muß immer wieder und wiederum denken, wie sie zündend für eine große Versammlung daraufhinwies, daß eigentlich alle Vorurteile, die mit Bezug auf mensch­liche soziale Stellung, menschliche Rangordnung in den alten herr­schenden Klassen sind, zusammenhängen mit den Vorstellungen, die alte geistige Weltanschauungen in sich getragen haben. Dem modernen Proletarier, meinte sie, komme es einzig und allein zu, darauf zu hören, wie der Mensch nicht einen engelhaften, göttlichen Ursprung genommen

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hat, sondern wie er einstmals ganz unanständig auf Bäumen herum­geklettert sein soll, aus tierischen Untergründen herauf sich entwickelt hat, aus Untergründen, die wahrhaftig, wenn sie in ihrer Entwickelung verfolgt werden, die Überzeugung begründen müssen: Mensch ist gleich Mensch. Und alle früheren Rangunterschiede rühren von irgend­welchen Vorurteilen her. - Man muß da nicht auf die Formulierung sehen, sondern auf die Stoßkraft muß man sehen, wie solche Worte auf die proletarisch gesinnten Seelen wirken.

Hinsehen rein auf den Begriff, habe ich eigentlich gemeint, wenn ich sage: Der Proletarier ist in der neueren Zeit in seiner ganzen Weltan­schauung «wissenschaftlich» orientiert. Und diese wissenschaftliche Orientierung füllte seine Seele nicht so aus, daß er in der wünschenswer­ten Weise empfindungsgemäß, wie er es brauchte, die Frage beantwor­ten konnte: Was bin ich eigentlich in der Welt als Mensch?

Und woher hat der Proletarier diese Weltanschauung bekommen? Woher rührte diese wissenschaftliche Orientierung, die er manchmal in ganz unrichtiger Weise aufzunehmen hat? Sie ist doch eine Wissen­schaft. Die hat er genommen aus dem alten Erbgut der bürgerlichen Menschenklasse. Sie ist entstanden aus alter Weltanschauung heraus in­nerhalb der bürgerlichen Menschenklasse beim Übergange in das neuere Maschinen- und kapitalistische Zeitalter, als da Maschine und Kapitalis­mus die Menschen überwältigt hat.

Das nächste, was man so oftmals mit der entsprechenden Färbung be­tonen hört, ist: Innerhalb des Proletariats ist das menschliche Geistesle­ben zu dem geworden, was als Ideologie empfunden wird. Das hören Sie am alleröftersten, wenn die Untergründe der proletarischen Weltan­schauung auseinandergesetzt werden: daß Kunst, Religion, Wissen­schaft, Sitte, Recht und so weiter ideologische Spiegelbilder der äußeren materiellen Wirklichkeit sind.

Aber diese Empfindung, daß das alles so ist, daß das geistige Leben ein ideologisches ist, die ist nicht entstanden innerhalb des Proletariats, die hat der Proletarier empfangen als Mitgift vom Bürgertum. Und das letzte Vertrauen, das letzte große Vertrauen, das das Proletariat entge­gengebracht hat dem Bürgertum, das bestand darinnen, daß es Nahrung ubernommen hat, geistige Nahrung für seine Seele. Es konnte ja, da es

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entblößt war des Geisteslebens, als es gerufen wurde aus älterem Zusam­menhang zur Maschine und hineingestellt wurde in &e soziale Struktur, es konnte nur hinaufschauen zu dem, was sich entwickelt hatte als Wis­sen über den Menschen, über die Welt; es konnte nur hinaufschauen zu dem, was sich aus dem Bürgertum ergeben hat: es übernahm gläubig, dogmatisch, möchte ich sagen, es übernahm Ideologie von dem Bürger­tum. In die Überzeugung ist es noch nicht hineingegangen, aber in die Empfindung als die Enttäuschung, die das bieten muß, -wenn man das Geistige nicht ansehen kann als etwas, was eine in sich selbst begründete höhere Wirklichkeit enthält, sondern wenn man es ansehen muß nur als Ideologie. In den unterbewußten Empfindungen lebt es bei einer gro­ßen Anzahl der Träger der sozialen Bewegung, wird noch nicht gewußt, wird aber deutlich empfunden: Wir haben ein großes Vertrauen entge­gengebracht dem Bürgertum; wir haben ein Erbgut angetreten, das uns Seelenheil, das uns tragende Kräfte hätte bringen sollen. Das Bürgertum hat sie uns nicht gebracht; nur die Ideologie hat es uns gebracht, die keine Wirklichkeit enthält, die nicht das Leben tragen kann.

Man kann viel streiten, ob Ideologie wirklich das ist, was der Grund-charakter des Geisteslebens ist, oder nicht. Darauf kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, daß dieses Geistesleben heute von einem großen Teile der Menschheit als Ideologie empfunden wird, und daß, wenn man das Leben als Ideologie empfindet, die Seele verödet wird, leer bleibt, die geistige Schwungkraft gelähmt wird, und das entsteht, was heute entstanden ist: Die Entblößung des sozialen Wollens von dem Glauben, daß irgendwo etwas Geistiges sich entwickeln könnte, irgendwo ein Mittelpunkt auftreten könnte, ein wirklicher Mittelpunkt, aus dem unserer Weltanschauung oder dergleichen das Heil kommen könnte, auch mit Bezug auf die wünschenswerte Gestaltung der sozialen Bewegung. Ich möchte sagen, als ein Negatives ist das Geistesleben hin-eingetragen in die Entwickelung der modernen proletarischen Mensch­heit vor allen Dingen; und ein Positives fordern die Sehnsüchte dieser Menschheit. Ein Seelentragendes fordern sie, und ein die Seele Verzeh­rendes ist ihnen als Erbgut gegeben worden.

Das ist etwas, was so weht und still rinnt durch unsere ganze gegen­wärtige soziale Bewegung, was man nicht mit Begriffen erfaßt, was

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aber die Gestaltung des einen der Glieder - wir werden drei kennenler­nen - der sozialen Bewegung, der gegenwärtigen sozialen Bewegung ausmacht. Und sobald man einsieht, daß dies so ist, dann frägt man sich auch sachgemäß: Woher ist es gekommen und wie kann ihm abgeholfen werden? Statt daß das Wollen weiterhin gelähmt ist, dieses soziale Wol­len, wie kann es befeuert werden, wie kann es durchkraftet werden? Diese Frage muß man sich vorlegen.

Nun trat ein Ereignis ein, als das moderne Geistesleben an den ent­scheidenden Punkt kam, den ich schon angedeutet habe. Die herrschen­den Klassen von damals, die waren durch ihre ganzen Lebensverhält­nisse mit dem verbunden, was wir heute Staat nennen. Es ist von einzel­nen Menschen oftmals betont worden - ich kann das alles heute der Kürze der Zeit wegen nicht anführen, inwiefern es richtig ist -, es ist oft betont worden, daß der moderne Mensch glaube, das, was er heute Staat nennt, hätte eigentlich so immer bestanden. Das ist aber durchaus nicht richtig. Das, was wir heute Staat nennen, was zum Beispiel im Hegeltum geradezu wie der Ausdruck des Göttlichen selbst erscheint, das ist im Grunde nur ein Produkt des Denkens der letzten vier bis fünf Jahrhun­derte. Die sozialen Organismen früherer Zeiten waren ganz anders.

Nehmen Sie nur eine einzige Tatsache, nehmen Sie die jüngst noch aufgetretene Tatsache, daß sich aus den freien Lehranstalten, freien höheren Lehranstalten früherer Zeiten, die ganz auf sich selbst gebaut waren gegenüber dem Staate, lauter Staatsanstalten herausgebildet haben, daß gewissermaßen der Staat zum Verwahrer des Geistesgutes der Menschheit geworden ist. Daß er das geworden ist, das ist ein bür­gerliches Interesse im Beginne der neueren Zeit. Der Staat war es, der dem Bürger an die Seele heranwuchs, dem er mit all seinen Bedürfnissen verbunden war. Und aus diesem Impuls heraus erwuchs das Verhältnis, das neuere Verhältnis zwischen dem Geistesgut der Menschheit und zwischen dem Staate, erwuchs das, daß dieser Staat Verwahrer dieses Geistesgutes der Menschheit wurde, und daß er verlangte von denjeni­gen, die zu diesem Verwahrer kommen sollten, daß sie ihr Leben für ihn eigentlich einrichteten.

Wenn man etwas tiefer hineinblickt in das innere Gefüge des mensch­lichen Geistesgutes, dann kommt man darauf, daß nicht etwa bloß die

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äußere Verwaltung dieses Geistesgutes, die Gesetzgebung über Univer-sitäten staatlich geworden ist, über Schulen, Volksschulen staatlich ge­worden ist, sondern staatlich ist auch der Inhalt dieses Geistesgutes ge­worden

Gewiß, die Mathematik trägt nicht einen staatlichen Charakter; aber andere Zweige unseres Geistesgutes haben ihr Gepräge, haben das Zu­sammenwachsen dieses Geistesgutes mit staatlichen Interessen in der neueren Zeit erha2lten. Und dieses Zusammenwachsen ist nicht ohne An­teil an dem Werden zur Ideologie von seiten des Geistesgutes. Dieses Geistes gut kann nur seine eigene innere Wirklichkeit recht bewahren, in sich tragen, wenn es sich selbst, unter seine eigenen Kräfte gestellt, ver­walten kann, wenn es aus seiner unmittelbaren Initiative heraus dem Staat gibt, was des Staates ist, wenn es aber vom Staate nicht die Forde­rungen zu empfangen hat.

Gewiß, es wird heute noch viele geben, die in dem, was ich eben aus­gesprochen habe, keine fundamentale soziale Tatsache sehen. Man wird aber sehen, daß erst dann wiederum der in der Wirklichkeit waltende Geist der Menschheit das Rechte geben kann, wenn dieser Geist von der äußeren staatlichen Organisation getrennt, auf sich selbst gestellt ist. Ich weiß, was man für Einwände dagegen machen kann, aber darauf kommt es nicht an; sondern allein darauf kommt es an, daß der Geist, um recht gedeihen zu können, fordert, daß er immerfort hervorgehen kann aus der unmittelbaren freien Initiative der menschlichen Persönlichkeit.

So kommt man auf die wahre Gestalt des einen Gliedes der modernen sozialen Frage heran, daß man das geistige Leben recht betrachtet und die Notwendigkeit einsieht, daß dasjenige, was in die Struktur des Staa­tes hineinstößt, allmählich aus diesem Staat wiederum herausgebracht wird, so daß es seine eigene innere Tragkraft entfalten kann und dann wiederum zurückwirken kann, gerade weil es befreit ist, weil es sich selbständig neben den anderen Gliedern der sozialen Struktur entwik­kelt, und gerade dadurch richtig auf diese soziale Struktur wirken kann. Soll man über das Praktische in diesem ersten Gliede der sozialen Fragen reden, so muß man sagen: Die Tendenz der Entwickelung muß aufEnt­staatlichung des geistigen Lebens im weitesten Umfange gehen. Und sogar ein Glied dieses geistigen Lebens muß entstaatlicht werden, demgegenüber

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es heute wahrscheinlich höchst paradox erscheint, daß man so über dasselbe reden kann: das Verhältnis, in das eine richtende Per­sönlichkeit eintritt zu den Menschen, die mit dem Strafgesetz oder irgendwie mit dem Privatrecht zu tun haben, das ist ein so menschliches man hat in gewissen psychologisch orientierten Kreisen heute das auch eingesehen, aber die Sache von einer ganz verkehrten Seite angefaßt -, ein so persönliches, daß das Richten unmittelbar auch zu demjenigen ge­hört, was zum Internen des Geisteslebens gerechnet werden muß. So daß ich sowohl dasjenige, was als religiöse Überzeugung in der Mensch­heit geltend ist, alles künstlerische Leben, aber auch alles auf Privatrecht und Strafrecht Bezügliche zu dem rechnen muß, bei dem die Tendenz sich zu entwickeln hat nach Entstaatlichung.

Warum sollte derjenige, der von radikalen Maßregeln hört, gleich an eine gewaltsame Revolution denken? Auch in sozialistischen Kreisen der neueren Zeit denkt man ja allmählich nicht daran. Ich denke mir auch nicht, daß von heute auf morgen alles entstaatlicht werden kann; aber ich denke mir, daß in das soziale Wollen der Menschheit das einge­ben kann, daß die einzelnen Maßnahmen, die zu treffen sind gegenüber dem oder jenem- und daß muß ja selbst täglich da oder dort geschehen-, hinorientiert werden nach einem solchen allmählichen Loslösen des geistigen Lebens vom Staatlichen. Sie werden ganz konkret sich vorstel­len können, was damit eigentlich gemeint ist.

Den Staat müssen wir als etwas betrachten, was dem in der neueren Zeit immer mehr und mehr sich zur herrschenden Klasse ausbildenden Bürgertum besonders an die Seele gewachsen ist. Dieses Bürgertum hat nun in diesen Staat hineingetragen nicht nur das geistige Leben, sondern auch dasjenige, was sozusagen innerhalb der neueren menschheitlichen Entwickelung wie überwältigt hat den ganzen sozialen Organismus:

nämlich das wirtschaftliche Leben. Dieses wirtschaftliche Leben hinein-tragen in das Staatsleben hat damit begonnen, daß man gerade Ver­kehrsinteressen, Post, Eisenbahn und so weiter verstaatlicht hat. Daraus ist ein gewisser Aberglaube gegenüber dem Staat, gegenüber der staat­lich orientierten menschlichen Gemeinschaft entstanden. Und der letzte Rest dieses Glaubens ist der Glaube der sozialistisch orientierten Men­schen: daß eigentlich das Heil nur zu sehen ist in der gemeinsamen Ver­waltung

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des gesamten Wirtschaftslebens. Auch das ist also als ein Erb­gut übernommen worden von der bürgerlichen Denk- und Anschau­ungsweise.

Nun ist das Geistesleben auf die eine Seite gestellt, das Wirtschaftsle­ben auf die andere Seite gestellt; mitten drinnen steht der Staat.

Sie können sich fragen: Was soll denn nun eigentlich dem Staat ver­bleiben? - denn wir werden gleich nachher sehen, daß auch das wirt­schaftliche Leben die Konfundierung mit dem eigentlichen Staatsleben nicht verträgt. Wir kommen zu einer klaren Ansicht über diese Frage vielleicht dadurch, daß wir uns vor Augen halten, was eigentlich an dem sich herausbildenden modernen Staat die bürgerlichen Klassen gefun­den haben. Sie haben in diesem Staat gefunden den Hort ihrer Rechte.

Blicken wir nun auf das hin, was eigentlich Rechte sind. Ich denke dabei nicht nur an das Strafrecht, ich denke dabei auch nicht an Privat-rechte, insofern sie sich nicht auf das Verhältnis von Persönlichkeit zu Persönlichkeit beziehen, sondern ich denke an das öffentliche Recht. Zum öffentlichen Recht gehören zum Beispiel auch die Verhandlungen über die Besitzverhältnisse. Denn was ist schließlich Eigentum? Eigen­tum ist nur der Ausdruck für die Berechtigung, daß man irgend etwas als Persönlichkeit allein besitzt und bearbeiten darf. Das Eigentum wur­zelte in einem Rechte. Alles dasjenige, das wir eigentlich vielfach als äußere Sache betrachten, das wurzelt in seinem Verhältnis zum Men­schen in Rechten. Solche Rechte hatte sich in der neueren Zeit, die unse­rer modernen Staatsauffassung vorangingen, das Bürgertum und was mit ihm verwandt war, schon früher erworben; solche Rechte fand es am besten beschützt, wenn es hereinnahm alles dasjenige, was sich auf solche Rechte beziehen konnte, in das Staatsleben selbst.

Und so entstand die Tendenz, das Wirtschaftsleben immer mehr und mehr hereinzuziehen in das Staatsleben. Das Staatsleben durchdringt die Struktur des Wirtschaftslebens mit einer Summe von Rechten. Nun, diese Rechte sollen dem Staatsleben auch keineswegs in der Entwicke­lung der Zukunft genommen werden. Aber das soziale Wollen muß sich gerade dahin ausbilden, genau zu unterscheiden zwischen alledem, was Rechtsleben ist, was eigentliches Geistesleben ist, und was Wirtschafts­leben ist.

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Die moderne soziale Bewegung macht dies ganz besonders dadurch anschaulich, daß die herrschenden Kreise etwas nicht hereingenommen haben in das Rechtsleben ihres modernen Staates. Während sie vieles aus dem Wirtschaftsleben herausgenommen haben, aus dem bloßen isolier­ten Wirtschaftsleben herausgenommen und in die Rechtsstruktur des Staates eingegliedert haben, haben sie eines nicht in die Rechtsstruktur des Staates eingegliedert: und das ist die Arbeitskraft des proletarischen Arbeiters. Diese Arbeitskraft des proletarischen Arbeiters ist drinnen-gelassen worden in der Zirkulation des Wirtschaftsprozesses.

Das ist es, was zutiefst eingeschlagen hat in das Gemüt des modernen Proletariers, daß ihm durch den Marxismus und seine Nachfolger klar­gemacht werden konnte: Es gibt immer einen Arbeitsmarkt, wie es einen Warenmarkt gibt. Und wie auf dem Warenmarkt Waren angebo­ten werden und nach ihnen Nachfrage ist, so bringst du deine Arbeits­kraft - das einzige, was du besitzest - auf den Arbeitsmarkt, und sie gilt nur als Ware. Sie wird gekauft wie Ware; sie steht in dem modernen Wirtschaftsprozeß wie eine Ware drinnen.

Damit kommen wir auf die wahre Gestalt der zweiten modernen sozialen Forderung. Diese drückt sich darinnen aus, daß aus einem ge­wissen Unterbewußtsein seiner Menschenwürde heraus der moderne Proletarier es unerträglich fand, daß seine Arbeitskraft als Ware auf dem Warenmarkt gekauft und verkauft wird.

Gewiß, die Theorie der sozialistischen Denker sagt: So ist es gekom­men durch die objektiven Gesetze des Wirtschaftslebens selbst; die haben die Arbeitskraft auf den Markt hingestellt eben wie andere Waren. Das ist im Bewußtsein, vielleicht im Bewußtsein des Proletariers selbst. Aber im Unterbewußtsein waltet etwas ganz anderes. Im Unter-bewußtsein waltet eine Fortsetzung der alten Sklaverei, der alten Leib­eigenschaftsfrage. Da sieht man in diesem Unterbewußtsein nur, daß während der Sklavenzeit der ganze Mensch als Ware auf dem Arbeits­markt war und als Ware gekauft und verkauft werden konnte, daß dann etwas weniger von dem Menschen in der Leibeigenschaft es war, und daß jetzt noch geblieben ist die Arbeitskraft des Arbeiters. Damit gibt er sich aber auch ganz an den Wirtschaftsprozeß hin. Das empfindet er als unmöglich, als unwürdig.

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Daraus entsteht diese zweite soziale Forderung der neueren Zeit: Die Arbeitskraft zu entkleiden des Warencharakters.

Ich weiß, daß heute noch viele, sehr viele Menschen denken: Wie soll das gemacht werden? Wie soll denn anders überhaupt ein Wirtschaftsle­ben eingerichtet werden als dadurch, daß man die Arbeitstätigkeit, die Arbeitskraft entlohnt? - Damit aber kauft man sie schon! Aber man braucht ja auch nur dem entgegenhalten, daß schließlich auch Plato und Aristoteles durchaus es selbstverständlich fanden, es für selbstverständ­lich hielten, daß Sklaven da sein müssen. So muß man es schon verzeihen den modernen Denkern, daß sie es für notwendig halten, daß die Arbeitskraft zu Markte getragen werden muß.

Man kann sich nicht immer denken, was vielleicht schon in allernäch­ster Zeit eine Wirklichkeit ist. Aber fragen muß man heute: Wodurch kann die Arbeitskraft des Charakters der Ware entkleidet werden? Das kann dadurch allein geschehen, daß sie heraufgehoben wird in das Ge­biet des reinen Rechtsstaates, desjenigen Staates, aus dem ausgeschieden wird das geistige Leben auf der einen Seite, wie früher charakterisiert, und ausgeschieden wird auf der anderen Seite alles dasjenige, was im vorher charakterisierten Sinne zum Wirtschaftsprozeß gehört. Gliedern wir den ganzen sozialen Organismus oder denken wir ihn uns gegliedert in diese drei Glieder: in das selbständige Geistesleben, in das Rechtsle­ben und in das Wirtschaftsleben, dann haben wir statt des Homunkulus im Gebiete des Wirtschaftslebens den wirklichen Homo im Gebiete des Wirtschaftslebens, dann haben wir unser geistiges Auge gestellt auf den wirklich lebensfähigen, nicht den aus chemischen Agenzien zusammen­gesetzten sozialen Organismus.

Ich will wahrhaftig hier nicht Analogiespiel treiben zwischen Biologie und Soziologie - das liegt mir fern, ganz fern -, will weder in die Fehler des 5chaffle noch des Meray in seiner «Weltmutation» fallen; das alles will ich nicht, darauf kommt es nicht an. Aber es kommt darauf an, zu sehen, so wie im einzelnen menschlichen natürlichen Organismus drei selbständig nebeneinander herrschende Systeme tätig sind - ich habe dies im wissenschaftlichen Bereich in meinem letzten Buche «Von See­lenrätseln» wenigstens skizzenhaft ausgeführt -, so müssen auch im sozialen Organismus drei selbständig anzuwendende Systeme herrschen:

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das geistige System, das richterliche System, dann das System des öffentlichen Rechtes - wie gesagt, Privatrecht und Strafrecht ist ausge­schlossen -, und das eigentliche Wirtschaftssystem.

Dann aber, wenn man zwischen dem Geistesleben und dem Wirt­schaftsleben das regulierende Staatsleben hat, das regulierende Rechtsle­ben, dann hat man etwas so Lebensfähiges eingegliedert in den sozialen Organismus, wie man in den natürlichen menschlichen Organismus ein­gegliedert findet als ein relativ selbständiges System das Zirkulationssy­stem, das Lungen-Herzsystem, zwischen das Kopfsystem und das Ver­dauungssystem. Dann aber, wenn es auf eigenem Boden ganz und gar herausgestaltet ist aus dem bloßen Wirtschaftsleben - denken wir an eine Verwaltung, eine demokratische Verwaltung auf diesem Boden des Rechtslebens -, wenn jeder in der gleichen Weise seine Rechte in An­spruch zu nehmen hat, die das Verhältnis von Mensch zu Mensch allein auf diesem Boden regeln, dann wird die Eingliederung der Arbeitskraft in den Wirtschaftsprozeß zu etwas ganz anderem, als es jetzt der Fall ist.

Sie sehen, ich gebe Ihnen nicht an irgendein Prinzip, irgendeine Theo-rie: so kann man es machen, wenn man die Arbeitskraft des Warencha­rakters entkleiden will -, sondern ich sage Jhnen: Wie müssen sich die Menschen zunächst stellen, den sozialen Organismus gliedern, damit durch ihre Tätigkeit, durch ihr Denken, durch ihr Wollen dasjenige ent­steht, was als sozialer Organismus lebensfähig ist. - Ich will kein allge­meines Heilmittel angeben, sondern ich will nur erzählen, wie &e Menschheit im sozialen Organismus gegliedert sein müsse, damit aus ihrem gesunden sozialen Wollen heraus fortdauernd sich ergibt, was den sozialen Organismus lebensfähig macht. Ich will sozusagen an die Stelle des theoretischen Denkens ein mit der Wirklichkeit innig verwandtes und vertrautes Denken setzen. Was wird entstehen, wenn, ganz abgese­hen vom Wirtschaftsleben, auf einem für sich bestehenden Boden, der nach seinen eigenen Kräften relativ selbständig sich verwaltet und regiert, wenn auf diesem Boden über Arbeitsrecht so rein aus den menschlichen Untergründen heraus verhandelt wird und daraus Ge­setze gegeben werden? Dann wird etwas daraus entstehen, was ähnlich in den Wirtschaftsprozeß hineinwirkt wie jetzt die Naturgrundlagen dieses Wirtschaftsprozesses. Diese Naturgrundlagen des Wirtschafts­prozesses,

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wir sehen sie ja, wenn wir den Wirtschaftsprozeß wirklich studieren, klar und deutlich vor uns. Sie regeln den Wirtschaftsprozeß so, daß sich ihre Regelung dem, was der Mensch selber tun kann zu die­sem Wirtschaftsprozeß, entzieht. Nicht wahr, man braucht nur Auffäl­liges zu beobachten.

Nehmen Sie nur einmal - ich will radikal deutliche Beispiele anführen

- die Tatsache, daß in gewissen Gegenden, die allerdings den unsrigen entfernt liegen, die Banane ein außerordentlich bedeutsamer Artikel ist. Aber die Arbeit, die man hat, um die Banane hinzubringen an den Ort, wo sie konsumiert werden kann, ist außerordentlich gering an ihrem Ausgangspunkt, sagen wir im Vergleich zu der, die notwendig in unse­ren natürlich europäischen Gegenden ist, um den Weizen von seinem Ausgangsort bis zu seinem Konsumort zu bringen. Diese Arbeit, die die Banane konsumfähig macht im Verhältnis zu dem Weizen, verhält sich so ungefähr wie eins zu hundert, oder das Verhältnis ist sogar ein noch größeres als eins zu hundert. Also hundertmal größere Arbeit, als man für die Banane braucht, ist notwendig für die Konsumtion von Weizen. Und so könnten wir auch innerhalb des Wirtschaftsgebietes die großen Unterschiede anführen, welche in bezug auf die Regelung des Wirt­schaftslebens bestehen. Diese sind unabhängig von dem, was der Mensch selbst hinz ubringt: die liegen in der Ergiebigkeit des Bodens, in anderen Verhältnissen noch, und dergleichen; die stellen sich hinein in das Wirtschaftsleben wie ein konstanter Faktor, wie ein vom wirtschaf­tenden Menschen unabhängiger Faktor. Das stellt sich von der einen Seite aus her.

Denken Sie sich nun das Arbeits-Rechtsleben ganz abgesondert auf der anderen Seite von dem Wirtschaftsleben, dann wird sich, wenn nicht mehr wirtschaftliche Interessen in die Festsetzung der Arbeitszeit, in die Verwendung der Arbeitskraft selbständig hineinspielen in den rein menschlichen Verkehr zwischen Mensch und Mensch, etwas bilden, un­abhängig vom Wirtschaftsleben, das von der anderen Seite ebenso hin­einspielt in dieses Wirtschaftsleben, wie von jener Seite hineinspielen die von der Naturgrundlage gegebenen Faktoren.

Man muß sich in der Preisbildung, man muß sich in dem, was die Ware Wert hat am Warenmarkt, nach dem richten, wie die Naturfaktoren

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wirken. Man wird sich in der Zukunft, wenn der soziale Organismus lebensfähig sein soll, auch danach zu richten haben, wie produziert wer-den muß, wie die Warenzirkulation verlaufen muß. Wenn nicht diese Warenzirkulation bestimmt Entlohnung, Arbeitszeit, Arbeitsrecht überhaupt, sondern wenn unabhängig von der Warenzirkulation, von dem Warenmarkt, auf dem Gebiete des staatlichen Rechtslebens, bloß aus den menschlichen Bedürfnissen, bloß aus rein menschlichen Ge­sichtspunkten heraus die Arbeitszeit festgesetzt werden wird, dann wird es so sein, daß einfach eine Ware so viel kostet, als das Notwendige kostet zu ihrer Aufbringung der Zeit, die für eine bestimmte Arbeit not­wendig ist, die aber geregelt ist durch ein von dem Wirtschaftsleben un­abhängiges Leben, während zum Beispiel das Wirtschaftsleben heute von sich aus regelt das Arbeitsverhältnis, so daß nach den Preisen der Ware sich vielfach im volkswirtschaftlichen Prozeß regeln muß Arbeits­zeit, Arbeitsverhältnis. Das Umgekehrte wird eintreten bei einer richti­gen Gliederung des sozialen Organismus.

Man kann heute diese Verhältnisse erst andeuten. Sie sehen aber, sie entspringen aus einem sozialen Wollen, welches ganz verschieden ist von dem, das uns heute in eine so traurige Lage im Weltgeschehen hin­einversetzt hat; sie entspringen aus dem sozialen Wollen, das nicht in einer gewissen gemeinnützigen Weise aus dem menschlichen Denken alles herausspinnen wird, herausspinnen, wie man es muß, damit dies oder jenes in der richtigen Weise vor sich geht, sondern sie entspringen aus einem Denken, das so mit der Wirklichkeit verwandt ist, daß es nicht zutage tritt, wenn die Menschen in diesem oder jenem Verhältnis so oder so im sozialen Organismus gegliedert sein werden. Dann werden sie, weil sie dann gesund gegliedert sind im sozialen Organismus, das Rechte festsetzen, dann werden sie in der rechten Weise wirken.

Man muß nur erlebt haben, wie die anderen Sozialwollenden im wirk­lichen Leben drinnen die Verhältnisse bestimmten, eben in dem schon jetzt untergegangenen Österreich. Ein Staat war es, aber im Staate lebte nicht bloß das Rechtsleben, im Staate lebte sogar in ganz ausgesproche­ner Weise das von den Interessen der einzelnen menschlichen Kreise entsprungene Wirtschaftsleben. Denken Sie doch nur einmal, wie das alte österreichische Parlament war bis in das Ende der neunziger Jahre!

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Und aus dem, was in diesem Parlament vertreten war, gingen doch die Verhältnisse hervor, die bis in die Welt kriegs katastrophe hineinspielten, aus diesem Parlament, das aus vier Kurien bestand: der Handelskam­mer, der Großgrundbesitzer, aus der Kurie der Städte, Märkte und In­dustrialorte, und der Kurie der festeingefahrenen Wirtschaftskreise. Diese Wirtschaftskreise waren nicht auf dem Boden eines Wirtschafts­parlaments vertreten, sondern ihre Interessen bestimmten das Staatswe­sen, also die öffentlichen Rechte wurden nach ihren Interessen be­stimmt. Geradeso wie es unmöglich ist, daß eine konfessionelle Gesin­nungspartei, wie es im letzten deutschen Reichstag war, entsteht, und aus den Definitionen, Institutionen heraus das Rechtsleben des Staates beeinflußt, ebensowenig ist ein sozialer Organismus lebensfähig, der so gestimmt ist, daß wirtschaftliche Interessenkreise das Rechtsleben be­stimmen. Abgesondert muß dieses Rechtsleben sich entwickeln, heraus nur aus dem, was das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch meinet­willen in ganz demokratischer Weise betrifft. Dann wird durch dieses Rechtsleben in entsprechender Weise der dreigliederige Organismus auf der einen Seite das Wirtschaftsleben, auf der anderen Seite durch die Naturgrundlage dieses Wirtschaftsleben regeln.

Und innerhalb dieses Wirtschaftslebens, das nun wiederum Vertreter der verschiedensten Seiten dastehen hat, werden rein wirtschaftliche Faktoren und Interessen nötig sein. Man wird den sozialen Organismus haben, in dem - wenn ich mich jetzt nach den Gewohnheiten der Zeit ausdrücken darf-nun drei Klassen, drei Gebiete sind, jedes mit eigener Gesetzgebung und eigener Verwaltung. Sie stehen zueinander, ich möchte sagen, als souveräne Staaten, wenn sie sich auch durchdringen; sie rechnen miteinander. Das mag kompliziert sein, das mag dem Men­schen unbequem sein; aber es ist das Gesunde, ist dasjenige, was einzig und allein den sozialen Organismus für die Zukunft lebensfähig machen wird. Denn das Wirtschaftsleben selbst wird aus seinen Faktoren heraus nur dann bestimmt werden können, wenn auf seinem Boden einzig und allein Wirtschaftsinteressen tätig erscheinen, die nur bestimmt werden können durch das im Wirtschaftsleben notwendige Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion. Dieses Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion kann sich aber im Wirtschaftsleben nur ergeben auf

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assoziativer Grundlage, auf assoziativer Grundlage, wie es hätte werden können im Gewerkschafts-, Genossenschaftszusammenhang. Aber heute tragen Gewerkschafts-, Genossenschaftszusammenhänge durch­aus noch den Charakter, daß sie gerade herausgewachsen sind aus dem Staatsleben. Sie müssen hineinwachsen in das Wirtschaftsleben, müs­sen bloß dem wirtschaftlichen Leben dienende Körperschaften wer­den. Dann entwickelt sich der soziale Organismus in einer gesunden Weise.

Ich weiß, daß dasjenige, was ich gesagt habe, manchem außerordent­lich radikal erscheint. Aber ob radikal oder nicht, darauf kommt es nicht an; sondern es kommt darauf an, daß der soziale Organismus lebensfä­hig werde, daß die Menschen, indem sie den Anfang machen von dem alten instinktiven sozialen Leben zu dem bewußten sozialen Leben, sich durchdringen mit Impulsen, die aus der Einsicht entspringen, wie man drinnensteht im ganzen sozialen Organismus. Man ist heute ein ungebil­deter Mensch, wenn man das Einmaleins nicht kann; man ist heute ein ungebildeter Mensch, wenn man irgend etwas anderes, was zur Bildung nun einmal gehört, nicht weiß; aber man ist kein ungebildeter Mensch, wenn man kein soziales Bewußtsein hat, oder wenn man mit schlafender Seele im sozialen Organismus drinnensteht. Das ist etwas, was in der Zukunft gründlich anders werden muß! Es wird anders werden, wenn das Urteil entstehen wird: daß es einfach zur allerelementarsten Schulbil­dung gehört, sich mit sozialem Wollen auszurüsten, wie man sich mit der Kenntnis des Einmaleins ausrüstet. Heute muß jeder wissen, wieviel drei mal drei ist. In Zukunft wird es auch nicht schwieriger erscheinen, zu wissen, wie sich Kapitalzins zur Grundrente verhält, wenn ich etwas aus dem heutigen Leben heraus wähle. Es soll gar nicht schwieriger sein in Zukunft, als zu wissen, daß dreimal drei neun ist. Aber dieses Wissen wird eine Grundlage geben für ein gesundes Drinnenstehen im sozialen Organismus, das beißt für ein gesünderes soziales Leben. Und dieses ge­sunde soziale Leben muß angestrebt werden.

Es bereitet sich vor im gesunden Menschheitsbewußtsein dasjenige, was ich gesagt habe. Man muß nur einen Spürsinn haben für das, was sich vorbereitet und was in unserem gegenwärtigen neueren Leben nach Offenbarung und nach Gestaltung ringt.

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Denken Sie zurück an die drei großen Ideale der Französischen Revo­lution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Derjenige, der verfolgt, was diese Ideen in den Köpfen der Menschen im Laufe der Zeit für Schicksale durchgemacht haben, der weiß, wie oftmals die Menschen logisch gerungen haben mit dem Widerspruch, der besteht zwischen der Freiheit auf der einen Seite, die auf die einzelne persönliche Initiative hinweist, und der Gleichheit auf der anderen Seite, die realisiert werden soll in der Zentralisierung des staatlich orientierten sozialen Organis­mus. Das geht doch nicht. Aber die Sucht nach dieser Konfundierung ist entstanden in der neueren Zeit. Daß der Kapitalismus von heute noch nicht die Konzeption fassen konnte nach dem dreigliederigen sozialen Organismus, das ist entstanden aus der Idee des ganz zentralisierten Staates heraus.

Faßt man heute dasjenige, was schon in diesem Wollen, das sich in den drei Idealen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Ausdrucke bringt, auf, so faßt man es heute leicht so auf, daß man es betrachtet von dem Gesichtspunkte des dreigliederig geordneten sozialen Organismus. Dann findet man als erstes Glied das geistige Leben. Es muß sich ganz durchdringen von dem Prinzip, dem Impuls der Freiheit. Da muß alles gestellt sein auf die freie Initiative des Menschen, und kann es auch, wird am fruchtbarsten wirken, wenn es so gestellt ist. In bezug auf den Rechtsstaat, in bezug auf das zwischen dem geistigen und dem wirt­schaftlichen Leben regulierende Staatswesen, das eigentlich politische System, ist dasjenige, was alles durchdringen muß, die Gleichheit von Mensch und Mensch. Und in bezug auf das Wirtschaftsleben kann einzig und allein gelten die Brüderlichkeit, das soziale Miterleben des ganzen äußeren und inneren Lebens des einen Menschen durch den anderen.

Jm sozialen Organismus kann innerhalb des Wirtschaftslebens nur herrschen das Interesse. Dieses Interesse aber, das bringt eine ganz be­stimmte Eigenschaft des wirtschaftlichen Organgliedes hervor. Worauf deutet eigentlich im Grunde genommen alles, worauf läuft alles hinaus im Wirtschaftsleben? Es läuft alles darauf hinaus im Wirtschaftsleben, daß in der besten, zweckmäßigsten Weise, was der Wirtschaftsprozeß erzeugt, auch verbraucht werden kann. Ich rede vom Verbrauchen im engeren Sinne, aus dem das Geistige dann ausgeschlossen ist. Verbraucht

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werden kann zum Beispiel Arbeitskraft, menschliche Arbeits­kraft. Das fühlt aber der moderne Mensch: bloß verbraucht ,darf seine Arbeitskraft nicht werden. Er muß ebenso, wie er ein Interesse erwirbt durch seine Arbeitskraft, bei der geistigen Produktion auch ein Interesse erwerben durch seine Ruhe, durch seine ruhevolle Aufnahmefähigkeit des Geistigen. Der Mensch wird im Wirtschaftsleben verbraucht. Er muß sich fortwährend aus diesem Wirtschaftsleben herausreißen durch die anderen beiden Glieder des gesunden sozialen Organismus, wenn er innerhalb des Wirtschaftslebens nicht verbraucht werden soll.

Die soziale Frage ist nicht so da im modernen Leben, wie sie jetzt ent­standen ist und vielleicht gelöst werden kann, und dann eben gelöst ist. Nein, die soziale Frage ist als etwas da, was in das moderne Leben einge­treten ist und nicht mehr aus diesem Leben in aller Menschenzukunft herauskommen wird. Eine soziale Frage wird es im Hinblick auf die Zu­kunft immer mehr geben. Aber diese soziale Frage wird auch nicht auf einmal, nicht durch diese oder jene Maßnahme, sondern durch das fort­dauernde Wollen der Menschen gelöst werden, indem immerzu dasje­nige, was der Wirtschaftsprozeß vom Menschen verbraucht, reguliert wird durch das Rechtsleben vom rein politischen Standpunkt aus, und immerzu das Verbrauchte wiederum durch die geistige Produktion aus­geglichen werden kann durch den selbständigen geistigen Organismus.

Wer gesehen hat, wie sich in den letzten Jahrzehnten die soziale Frage entwickelt hat - es ist ja verhältnismäßig noch nicht solange her, daß die soziale Frage sich zu ihrer gegenwärtigen Gestaltung vorbereitet hat -, wer aufmerksam und mit innigem Anteil beobachtet hat, wie sich diese soziale Frage aus ihren Anfängen heraus entwickelt hat, der kann gerade mit Bezug auf soziales Wollen und seinen richtunggebenden Impuls für die zukünftige Gestaltung des Menschenlebens zu Gedanken kommen, die man vielleicht durch das Folgende charakterisieren kann.

Die soziale Frage sahen viele Menschen, auch viele recht aufgeklärte Menschen vor Jahrzehnten noch überhaupt nicht als etwas Existieren­des an. Ich habe noch in meiner Jugend einen österreichischen Minister kennengelernt, der hinübersah über die böhmisch-deutsche Grenze und den grotesken Ausspruch getan hat: Die soziale Frage hört bei Boden­bach auf! - Und ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie die ersten

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sozialdemokratischen Bergleute mit einer großen Gruppe an der Woh­nung meiner Eltern vorbeigezogen sind und zu ihrer Versammlung ge­zogen sind. Ich habe dann beobachtet, wie das soziale Wollen entstan­den ist, nicht als Denken über die soziale Bewegung, sondern durch das Miterleben dieser sozialen Bewegung. Da mußte ich mir sagen: Vieles mußte durchgemacht werden, viele Irrtümer auch mußten durchge­macht werden! Und selbst bei sozialistisch orientierten Denkern der neueren Zeit sind diese Irrtümer recht zahlreich gewesen. Es scheint ge­rade auf diesem Gebiete, daß die Menschen durch die Köpfe, die sie ent­wickeln, dies nicht erleben. Der Irrtum ist zu einer furchtbaren Breite gekommen.

Aus einem Geiste, der sich mir aus solchen Beobachtungen heraus er­geben hat, habe ich versucht, heute Abend über das soziale Wollen zu

Ihnen zu sprechen. Sie haben mich dazu eingeladen als Mitglieder einer

Menschengemeinschaft, die hinschaut auf dasjenige, was das soziale

Wollen zum Menschenheil in der Zukunft bringen soll.

Diejenigen, die als ältere Leute, wie zum Beispiel ich, immer durch Jahrzehnte zu solchen Menschen sprechen, die blicken zuweilen auch zurück auf dasjenige, was alles durchwandelt werden mußte, um zu dem Heutigen zu kommen. Dann aber bekommen sie durch manches, was durchwandelt werden mußte, doch auch die Überzeugung, daß der Irr­tum nicht fruchtlos war, daß, selbst wenn heute die Tatsachen eine trau­rige, oftmals eine erschreckende Sprache sprechen, die Menschen doch stark genug sein werden, den Ausweg zu finden aus demjenigen, was als unerträglich von einem großen Teile der Menschheit heute empfunden wird.

In diesem Sinne bitte ich Sie, aufzunehmen dasjenige, was ich mir er­laubte, am heutigen Abend zu Ihnen zu sprechen. Denn die Tatsachen sprechen auf manchem Gebiet eine deutliche Sprache. Und sie sprechen auch das deutliche Wort: Je mehr Menschen unter jenen, die heute noch jung sind, wahrhaftiges, lebensfähiges soziales Wollen aufnehmen, desto lebensfähiger wird der tüchtige, menschliche soziale Organismus sein.

Wer sich zum Wort zu melden wünscht, der möge es tun. Herr Dr. Boos, der heute vor einer Woche ungefähr einen Vortrag gehalten hat, hat sich bereit erklärt, die Diskussion zu führen.

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Ein Redner meldet sich zum Wort (Stenogramm unvollständig).

Dr. Steiner: Dasjenige, was Sie geltend gemacht haben, das bekommt seine Form dadurch, daß Sie übersehen haben, was eintreten muß durch die Gliederung zu relativer Selbständigkeit des Rechtsstaates auf der einen Seite, und des Wirtschaftslebens auf der anderen Seite. Die Arbeitsorganisationen, die zum Teil Produktionsgesellschaften, oder Konsumtionsgesellschaften, oder auch Verbindungen zwischen beiden sein werden, die haben es überhaupt nur zu tun mit Wirtschaftsfaktoren, die innerhalb des Wirtschaftslebens selbst spielen.

Die Regelung des Arbeitsrechtes, die fällt dem relativ selbständigen Staate zu: Dort wird nicht anders entschieden als auf demokratischer Basis, sagte ich, alles dasjenige, was da betrifft das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Deshalb erwähnte ich auch bei dem Boden dieses rein demokratischen Staates, daß das ein Verbindungsglied zwischen den beiden anderen Faktoren ist; auf diesem Boden herrscht Gleichheit der Menschen vor dem Gesetze. Da werden aufhören die bloßen Wün­sche einzelner wirtschaftlicher Organisationen, weil sie sich in dem de­mokratischen Rechtsleben ausgleichen müssen mit den Interessen ande­rer Kreise. - Also das ist gerade das, was bewirkt werden soll; dem soll eben abgeholfen werden, was Sie als einen Schaden empfinden, der ganz gewiß entstehen würde, wenn zum Beispiel die Arbeitszeit selbst festge­setzt würde innerhalb der Organisation des Wirtschaftslebens. Die Organisationen des Wirtschaftslebens haben es nur zu tun mit dem Wirtschaftsleben selbst: die Regelung im Sinne des Arbeitsrechtes also. Aber die Feststellung der Arbeitszeit, die unterliegt nurmehr der Staats-körperschaft, die es zu tun hat mit dem Verhältnis von Mensch zu Mensch.

Wir dürfen nicht vergessen, welch große Veränderungen von Mensch zu Mensch dadurch auftreten werden, daß einseitige Interessen sich ab­schleifen werden. Selbstverständlich, ganz vollkommen wird natürlich nichts auf der Welt sein; aber einseitige Interessen werden sich abschlei­fen im demokratischen Staatsgebilde, das die Gleichheit des Menschen vor dem Menschen zu seiner Grundlage hat.

Denken wir nur daran, daß wenn zum Beispiel eine gewisse Wirt­schaftsorganisation ein Interesse hat, eine bestimmte kurze Zeit zu

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arbeiten, so wird sie sich bequemen müssen, dieses Interesse auszuglei­chen mit den Interessen derjenigen Menschen, die leiden würden unter dieser kurzen Arbeitszeit. Aber wenn man gar nicht denkt an irgendwel­che unterbewußte Kräfte, so wird sich - geradeso wie sich im Naturor­ganismus wenigstens annähernd ergibt, immer annähernd natürlich, daß immer gleichviel Männer und gleichviel Frauen da sind, was aber doch natürlich nicht ein striktes Naturgesetz sein darfoder werden kann-, so wird sich auch ergeben, daß, wenn in der richtigen Weise die einzel­nen Faktoren des sozialen Organismus zusammenwirken, nicht ein Un­zuträgliches dadurch entstehen wird, daß einzelne kleine Interessen wer­den entwickeln können, die für andere in weitestem Maße schädlich sind.

Dasjenige, was meiner sozialen Denkweise zugrunde liegt, das unter­scheidet sich von vielen anderen sozialen Denkweisen dadurch, daß diese letzteren mehr abstrakt sind. Logisch kann man immer das eine von dem anderen sehr gut ableiten; es folgt manches Logische aus dem anderen. Entscheidend in solchen Fragen kann aber eigentlich nur die Lebenserfahrung sein. Natürlich kann ich nicht logisch beweisen - das kann kein Mensch -, daß nicht in einem solchen zukünftigen Organis­mus einmal eine Diskrepanz der Interessen eintreten kann; aber anzu­nehmen ist, daß, wenn die Kräfte sich innerhalb ihres eigenen Kreises, der ihnen angemessen ist, entwickeln können, dann eine humane Ent­wickelung eintreten wird. Ich meine, wenn Sie das gerade betrachten, was ich vorlegen möchte, die Festsetzung der Arbeitszeit aus dem blo­ßen Wirtschaftsprozeß heraus in den Rechtskreis des Staates, daß dann diese Schäden nicht werden entstehen können im praktischen Gebiete. Das ist es, was ich dazu zu sagen habe.

Ein weiterer Redner äußert sich (Stenogramm unvollständig).

Dr. Steiner: Ich möchte zu der Ausführung des verehrten Vorredners folgendes bemerken: Selbstverständlich leidet ja gewissermaßen jeder Vortrag daran, daß man nicht in einem einzelnen Vortrage alles sagen kann, und ich weiß nicht, aus welchen Auslassungen meines Vortrages der verehrte Vorredner die Schlußfolgerung gezogen hat, daß ich keine Stellungnahme hätte zu der modernen Arbeiterpsyche, daß ich die

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moderne Arbeiterbewegung nicht berücksichtigen würde und derglei­chen. Jeder tut das selbstverständlich nach seiner Art. Ich war jahrelang zum Beispiel Lehrer auf den verschiedenen Gebieten einer Arbeiterbil­dungsschule, habe mit den Arbeitern in Gewerkschaften und auch in politischen Organisationen Redeübungen getrieben. Ich darf heute das berechtigte Bewußtsein haben, daß eine ganz zahlreiche Menge von Arbeitern, die heute in Deutschland ihre Reden halten, das Reden dazu in meinen Redeübungen gelernt haben. Bei diesen Redeübungen wur­den alle möglichen Fragen besprochen, und Fragen, die nun wahrhaftig nicht ferne standen den allerintimsten Eigentümlichkeiten der Arbeiter-psyche. Also ich weiß nicht - ich hatte natürlich keine Veranlassung, auch diese besondere praktische Seite meines sozialen Wirkens und Wollens ins helle Licht zu stellen, aber ich kann auch nicht recht ver­stehen, aus welchen Auslassungen meiner Rede hervorgegangen sein soll, daß ich der praktischen Arbeiterbewegung so absolut fernstehen sollte.

Gewiß, es ist ein Selbstverständliches, daß innerhalb der modernen sozialen Bewegung gerade die Arbeiter selbst berücksichtigt werden. Aber bedenken Sie nur, daß ich den ganzen Abend immer betont habe, wie es aussieht eigentlich gerade innerhalb des Proletariats. Ich habe ja von dem Proletariat als solchem gesprochen. Sie haben bemerken kön­nen, wenn Sie gut zugehört haben, wie gerade das in meinen Vortrag hereinspielte, was ich glaube, praktisch auseinandergesetzt zu haben, was praktisch gerade in der proletarischen Arbeiterschaft von heute lebt.

Was nun den Vorwurf betrifft, daß ich vielleicht zu einseitig darge­stellt habe die, wie mir scheinen will, fundamental bedeutsame Tatsache, daß die bürgerliche Denkweise übernommen worden ist von der Arbei­terschaft, von namentlich den Führern der Arbeiterschaft, so beruht die­ser Ausspruch, den ich getan habe und den ich ja auch nur von einzelnen Seiten her selbstverständlich beleuchtet habe, wirklich auf einem ge­naueren Studium gerade der Arbeiterpsyche und der ganzen modernen Arbeiterbewegung

Ich möchte Sie dabei zum Beispiel auf folgendes aufmerksam machen: Ein mir auch persönlich bekannter russischer Schriftsteller hat jüngst

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auf eine sehr eigentümliche Weise darauf hingewiesen, daß die Philoso­phie, die Jünger hat, gerade hier in Zürich eine große Rolle gespielt hat:

die Philosophie des Avenarius, die doch ihrerseits gewiß aus rein bürger­lichem Untergrund erwachsen ist. Ich kann mir wenigstens nicht vor-stellen, daß Avenarius daran gedacht hat, daß seine Philosophie in der Arbeiterbewegung in Rußland diejenige Rolle spielt, die sie heute spielt. Soviel ich weiß, ist sehr stark hier vertreten, gerade in Zürich, von Adler namentlich, die aus der Naturwissenschaft entnommene philosophische Überzeugung von Mach. Diese beiden philosophischen Richtungen sind gewissermaßen die Amtsphilosophien des Bolschewismus, des radikal­sten Sozialismus. Der russische Schriftsteller Berdjajev sagt das in einem Aufsatz - er ist enthalten in der Übersetzung eines sehr interessanten Buches über «Rußlands politische Seele» -, und in diesem Aufsatz hat Berdjajev in sehr deutlicher Weise gerade diese politische Seele heraus-gearbeitet. Und so könnte man Ihnen zahlreiche Beispiele anführen; ich könnte Ihnen zahlreiche Beispiele anführen, die ähnlich wären dem, das ich Ihnen vorhin entnommen habe aus der Rede der verstorbenen Rosa Luxemburg, die Ihnen beweisen würden, daß eben das letzte bedeutende und gerade in die Arbeiterbewegung tief eingreifende Erbstück aus dem bürgerlichen Leben die bürgerliche Denkweise ist, die wissenschaftlich orientiert ist. Die Möglichkeit, das geistige Leben überhaupt zur Ideolo­gie zu machen, ist bürgerlichen Ursprungs. Das Bürgertum, wenn man solche Kategorien gebrauchen darf, hat zuerst die wissenschaftlich orientierte Denkweise auf dem Gebiete des Naturerkennens zur Ideolo­gie gemacht. Sie hat es nicht innerhalb ihrer Klasse auf das eigentlich wissenschaftliche Denken übertragen. Diese letztere Konsequenz hat dann das proletarische Denken gezogen. Gewiß, das proletarische Den­ken hat andere Konsequenzen gezogen; aber es hat eben Konsequenzen gezogen aus den Grundlagen, die heute deutlich zu erkennen sind als innerhalb der bürgerlichen wissenschaftlichen Vorstellungsart wur­zelnd, und nur etwas weiter fortgebildet. Das sollte eben in seiner Wich­tigkeit nicht verkannt werden.

Denn derjenige, der tiefer drinnensteht auch in der Gesamtheit, der tieferes Interesse entwickelt hat für den Anteil, den die moderne Arbei­terpsyche an der modernen Arbeiterbewegung hat, der wartet, ich

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möchte sagen, mit einer gewissen Sorge auf der einen Seite, aber auch mit einer gewissen inneren Befriedigung auf der anderen Seite auf den Moment, wo das innerhalb der modernen sozialistischen Bewegung zum Vorschein kommen wird. Man wird eines Tages bemerken, zum Bewußtsein heraufbringen, was jetzt noch im Unterbewußten ruht, man wird eines Tages bemerken: Aha, das haben wir noch in unserem See­lenoberdenken - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf-, in unserem seelischen Oberdenken; das muß heraus. Wir haben die Sehnsucht, un­sere ganze Menschenwürde wissenschaftlich zu orientieren; das bat uns die bürgerliche Frblinie der Wissenschaft bis jetzt nicht möglich ge­macht. Wir müssen ein anderes Geistesleben suchen.

Ich glaube allerdings, daß dann, wenn dieser Moment eingetreten sein wird, wenn die ganze, volle Sehnsucht des vielleicht von einer gewissen Seite her einzig modernen Menschen, nämlich des proletarischen Men­schen herauskommt - wenn es auch in der modernen Zeit noch nicht zum vollen Ausdruck gekommen ist -, wenn diese Sehnsucht des modernen Proletariers nach einer völligen Ausbildung der wissen­schaftlichen Denkweise zur Weltanschauung, mit der Kraft der alten Religionen, wenn das eingetreten sein wird, wenn er nicht mehr, weil er darauf gekommen ist, daß er nicht mehr Ware sein soll, die Konsequenz der bürgerlichen Denkweise ziehen wird, dann wird der Moment einge­treten sein, wo man überhaupt erst wird davon reden können, daß fruchtbares Organisieren des sozialen Wollens da ist.

In dem bloßen Sozialismus und in seiner Beziehung, die der verehrte Herr Vorredner hervorgehoben hat, zu der Philosophie des Bergson, glaube ich, daß man nicht so dogmatisch sich stellen darf. Ich will ja selbstverständlich nicht über solche philosophischen Fragen heute dis­kutieren. Der Herr Vorredner sagte, daß Bergson ein typischer Vertre­ter und Repräsentant der bürgerlichsten Denkweise ist. Dann würde der Sozialismus aus der Philosophie des Bergson gerade eben recht bürger­liche Untergründe herausgenommen haben! Man kann heute zum Bei­spiel nachweisen, daß Bergsons Philosophie ihrem Inhalte nach von ganz unermeßbar vielen «Schopenhauerianismen» durchzogen ist, daß Bergson viel mehr beeinflußt ist von Schopenhauer, als Sie nur irgend denken.

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Nun, wollte man eine solche Sache ausführlich erörtern, so müßte man eben wirklich recht ausführlich sein können. Ich kann das heute nicht; aber ich erwähne Ihnen nur, daß es auch einen innerhalb der pro­letarischen Welt sich als Denker fühlenden Menschen gibt, wie zum Bei­spiel Mehring, Franz Mehring, der also in vielem in Wirklichkeit ähnlich ist dem Bergson; der hat Schopenhauer gerade als den Repräsentanten des bürgerlichsten Spießertums in der Philosophie charakterisiert!

Über diese Dinge kann man verschiedener Ansicht sein, und ich glaube nicht, daß man über diese Dinge so dogmatisieren darf. Man kann ja die Ansicht haben, daß Bergson der fortgeschrittenste Philosoph ist und irrationale Elemente drinnen hat in seiner Philosophie. Aber man möchte fragen: Was hat denn irrationales Element mit der sozialen Frage zu tun? - Irrational kann doch geradesogut ein Proletarier sein wie ein Bürgerlicher. Ich kann nicht recht einsehen, was das ganze Irra­tionale damit zu tun hat. Da muß man schon die dogmatische Voraus­setzung machen: Bergson ist absolut derjenige, der der moderne Philo­soph ist; wenn also die Proletarier richtig denken sollen, so müssen sie Bergsonianer werden, nicht wahr. Das ging durch die ganze Frage.

Denn zweifellos ist es, daß auf den verschiedensten Gebieten im modernen Leben Tendenzen aufgetreten sind, die sich nach dem hin richten, was ich heute charakterisiert habe. Es wäre doch nun wirklich traurig um das menschliche Leben bestellt, wenn es immer gerade, möchte ich sagen, überzwerch gehen würde, wenn es immer in der ent­gegengesetzten Richtung von dem Rechten sich entwickeln würde! Nicht wahr, das kann natürlich nicht der Fall sein. Ich sagte selbst, daß zum Beispiel auf dem Gebiete des Gerichtswesens von einigen ganz psy­chologisch orientierten Menschen gewisse Dinge angefacht sind. Solche Beispiele könnte man natürlich unzählige anführen. Aber es ist auch eine Ableitung der Diskussion auf Nebengeleise, wenn man nicht eingeht auf dasjenige, was geltend gemacht worden ist, sondern eine Lieblingsmei­nung vorbringt. Gewiß, man kann ja sehr sympathisieren mit manchem, was heute als doch mehr auf geschichtliche Perioden hindeutende Prin­zipien in bezug auf Impulse gesagt worden ist; aber ohne mehr auf das letztere einzugehen - wollte man auf alle diese Dinge eingehen, müßte ich Sie aber sehr lange hier aufhalten -, also ohne mehr auf das letzte

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einzugehen, möchte ich sagen: Sehr viele Menschen sind heute noch in­nerlich obstinat, wenn man von dieser Dreigliederung spricht, von der ich heute gesprochen habe. Sie sagen dann: Es kann doch nicht drei ver­schiedene Glieder geben, die nach verschiedenen Prinzipien gelenkt und geleitet werden.

Aber ich habe nicht von drei verschiedenen Gliedern gesprochen, die nach drei verschiedenen Prinzipien gelenkt würden, sondern von einer Dreigliederung des sozialen Organismus habe ich gesprochen! Beden­ken Sie nur, daß diese Dreigliederung des sozialen Organismus in unse­rer Zeit ihrer ganzen Denkweise nach ebenso entsprechend gefunden werden muß nach und nach, wie zum Beispiel die uralten Gliederungen, die Sie bei Plato auch finden und die damals berechtigt waren. Mir hat einmal jemand hinterher nach meinem Vortrag gesagt: Also haben wir doch wiederum einen Hinweis auf die alten Gliederungen Platos: Nähr­stand, Wehrstand, Lehrstand! -Das, was ich gesagt habe, ist das Gegen­teil der Gliederung in Nähr-, Wehr- und Lehrstand; denn es werden nicht die Menschen in Stände gegliedert, sondern es wird eine Gliede­rung versucht des sozialen Organismus. Wir Menschen sollen gerade nicht abgeteilt werden! Es kann ganz gut derselbe Mensch tätig sein in dem geistigen Glied, oder tätig sein im rechtlichen und sogar in dem wirtschaftlichen Gliede. Der Mensch ist gerade dadurch emanzipiert von irgendwelcher Einseitigkeit in irgendeinem der Glieder des sozialen Organismus. Es handelt sich also nicht darum, daß die Menschen in sol­che selbständigen Klassen abgeteilt werden sollen, wenn man den ge­sunden sozialen Organismus entwickelt, sondern daß der soziale Orga­nismus selber nach seinen Gesetzen geordnet wird. Das ist der durch­greifende Unterschied. Früher hat man Menschen gegliedert. Nun soll, der Denkweise unserer Zeit entsprechend, der soziale Organismus selbst gegliedert werden, damit der Mensch hinschauen kann auf dasje­nige, worin er drinnen lebt, um je nach seinen Bedürfnissen, nach seinen Verhältnissen und Fähigkeiten in dem einen oder in dem anderen Gliede tätig sein zu können. Es wird zum Beispiel ganz gut möglich sein, daß in der Zukunft ein Mensch, der im Wirtschaftsleben tätig ist, zu gleicher Zeit Abgeordneter ist auf dem Gebiet des rein politischen Staates. Er wird aber dann ganz selbstverständlich seine wirtschaftlichen Interessen

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in einer anderen Weise geltend machen müssen, als er geltend machen kann dasjenige, was allein in Betracht kommt auf dem Gebiete des Rechtsstaates. Diese drei Glieder werden selber sorgen für die Abgren­zung ihrer Territorien. Es wird nicht alles durcheinanderkonfundiert werden, daß sich das eine in das andere hineinmischt.

Es wird auf viel bessere Weise erreicht, wenn die Dinge getrennt wer­den. Es sind ja natürlich dieselben menschlichen Anlagen, die in dem einen und anderen Gliede entscheiden. Aber so wie es in der mensch­lichen natürlichen Organisation - trotzdem ich kein Analogiespiel trei­ben will, möchte ich dies erwähnen - drei in sich zentralisierte Teile hat:

das Nerven-Sinnessystem, das Lungen-Atmungssystem und das Stoff­wechselsystem, so hat der gesunde soziale Organismus drei Glieder. Das ist etwas, was heute noch zu den gewöhnlichen Denkgewohnheiten nicht gehört, von dem ich aber glaube, daß es sich in die Denkgewohn­heiten der Menschen hineinfinden wird, und daß man es doch nicht weniger gründlich, meine ich, nehmen muß, als man es nimmt, wenn man nur gewissermaßen seine Lieblingsmeinung auseinandersetzt.

Dr. Roman Boos: Darf ich mir noch gestatten, die Frage an den Herrn Referenten zu richten in bezug auf das, was eben auf strafrechtlichem Gebiet gefragt worden ist? Nun,wenn von der Freiheit der Richter gesprochen worden ist, ob damit auch ein Ver­stoß gegen den Satz gemeint ist, daß keine Strafe ohne Gesetz ausgesprochen werden soll - wie mir scheint, ist das so gemeint, daß das Strafgesetz als solches doch nicht aus dem Gebiet des freien Geisteslebens heraus gegeben werden soll, sondern aus der poli­tischen Instanz, daß die Frage wahrscheinlich ein Mißverständnis enthält bei dem Herrn Dr. Weiß, der gemeint hat, es werde ein Verstoß gegen das Prinzip gefordert, daß keiner zu einer Strafe verurteilt werden kann, der nicht ein bestimmtes Gesetz übertreten hat. Darf ich vielleicht noch bitten, sich dazu zu äußern?

Dr. Steiner: Nicht wahr, in dieser Frage berühren sich ja selbstver­ständlich das System des öffentlichen Rechts mit dem System der prakti­schen Gerichtsbarkeit. Was ich betont habe, ist die Trennung des prakti­schen Richtens. Deshalb habe ich den Ausdruck «Richten» gebraucht, ausdrücklich des praktischen Richtens von dem allgemeinen öffent­lichen Rechtsleben, das ich bei dem gesunden sozialen Organismus im politischen Staat zentralisiert so denken muß, daß der gesunde soziale Organismus in seinem öffentlichen Rechtsleben dafür sorgen muß, daß entsprechend nach einem von ihm bestimmten Gesetze verfahren werden

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muß. Daß nicht in der will kürlichsten Weise gerichtet werden kann, das ist ganz selbstverständlich. Aber ich habe nicht an solche Dinge ge­dacht, die abstrakt sind und die in ihrer Abstraktheit mehr oder weniger selbstverständlich sind. Ich habe auch heute nicht über, sagen wir, den Wirkungsbereich des Rechtes zu sprechen gehabt, sondern ich habe über den sozialen Organismus und über soziales Wollen zu sprechen ge­habt. Und da bitte ich Sie, im Sinne des Themas das Folgende zu beden­ken.

Sehen Sie, ich habe eine fast ebensolange Zeit meines Lebens in Öster­reich zugebracht wie in Deutschland. Ich habe das österreichische Leben gründlich kennenlernen können; Sie dürfen mir glauben, daß es nicht eine abrupte Behauptung ist, wenn ich sage, daß vieles von dem, was im österreichischen sogenannten Staate in letzter Zeit geschehen ist, zusam­menhängt mit Ereignissen, die sich gerade in den siebziger, achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als tiefe Mißverhältnisse ergeben haben. Vergessen Sie nicht, daß in einem solchen Staate wie Österreich -aufanderen Gebieten würde sich das nicht in so radikaler Weise charak­terisieren lassen, aber vorhanden ist es in dieser oder jener Form auch -, besonders weil in Österreich durcheinandergeschoben sind die verschie­denen Sprachgebiete, Sie es zum Beispiel erleben konnten, daß ein Deut­scher, weil er gerade zufällig in irgendeinen Gerichtssprengel hineinge-hörte, in dem ein tschechischer Richter amtierte, der nicht Deutsch konnte, daß er abgeurteilt wurde von einem tschechischen Richter in einer Sprache, die er nicht verstand. Er wußte nicht, was über ihn geur­teilt wurde und was geschah mit ihm; er merkte nur, daß man ihn ab-führte. Ebenso war es umgekehrt der Fall, wenn ein deutscher Richter, der nicht Tschechisch verstand, einen Tschechen aburteilte, der kein Deutsch verstand. Was ich meine, ist die individuelle Gestaltung, die freie Gestaltung des Verhältnisses des zu Verurteilenden zum Richter.

Also ein solcher Staat wie Österreich hätte hiervon einen großen Er­folg zu erwarten. Aber dieser Impuls hätte erfordert, daß immer, für vielleicht fünf oder zehn Jahre - die Verhältnisse verschieben sich fort­während -, jedenfalls von dem zu Verurteilenden oder zu Richtenden sein Richter hätte gewählt werden können, in freier Wahl des Richters.

(Lücke im Stenogramm)

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Das ist einfach ein Gegenstand gar nicht des geistigen Lebens, son­dern es ist von vornherein ein Gegenstand des Lebens im Rechtsstaat; dafür, daß also nur nach einem Gesetze gerichtet wird, welches bestan­den hat, als die Tat begangen worden ist, wird das zweite, das staatliche Gesetz, als zu seiner Kompetenz rechnend, schon sorgen; es wird schon für jeden Fall seine Konsequenzen ziehen, selbstverständlich.

Aber die Frage ist eine ganz andere; wenn Sie die Dinge genauer neh­men, so werden Sie sehen, daß alle Lösungen dieser Fälle sehr, sehr kon­sequent sich ergeben. Ich konnte Ihnen ja heute nur die allerersten Vor­aussetzungen sagen; ich müßte sonst nicht nur die ganze Nacht, sondern auch noch am morgigen Tage weiter reden.

WELCHEN SINN HAT DIE ARBEIT DES MODERNEN PROLETARIERS? Öffentlicher Vortrag, Zürich, 8. März 1919

#G328-1977-SE137 Die soziale Frage

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WELCHEN SINN HAT DIE ARBEIT

DES MODERNEN PROLETARIERS?

Öffentlicher Vortrag, Zürich, 8. März 1919

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Als der heutige Vortrag angekündigt worden ist, wird mancher viel­leicht die Frage gestellt haben: Von welcher Seite kommt dasjenige, was da geredet werden soll? - Und nach der einen oder anderen Erkundung wird man vielleicht die Meinung haben, daß nun auch wieder geredet werden soll von derjenigen Verständigung, welche heute diejenigen so stark herbeisehnen, welche im Laufe längerer Zeiten herbeigeführt Fiaben das heutige kapitalistische Meer der sozialen Verwirrung, indem sie bemerken, daß ihnen das Wasser bis an den Mund reicht und sie nicht mehr imstande sind, in diesem Meere zu schwimmen. Sie suchen nach dem einen oder anderen Rettungskahn; sie werden solche Rettungs­kähne aus den Voraussetzungen, die sie gewöhnlich machen, aber nicht finden. Denn von einer solchen Verständigung möchte ich Ihnen heute abend nicht sprechen. Mir scheint, daß in der Zeit, in der wir leben, ganz andere Dinge notwendig sind. Denn sehen wir uns an, was eigentlich geworden ist und was sich auslebt in den gegenwärtigen Zuständen, die für manchen, der gerade eine solche Verständigung sucht, so schreck­haft sind.

Dasjenige, was man heute «die soziale Frage» nennt, ist ja keineswegs gestern erst entstanden. Es ist in der Art, in der man heute davon spricht, mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Aber was eigentlich geführt hat zu dieser sozialen Frage, das ist viel, viel älter; es ist dasjenige, was herauf-geführt hat die ganze Entwickelung der neueren Zeit, der letzten Jahr­hunderte. Und wenn wir uns anschauen, wozu es die Entwickelung der letzten Jahrhunderte gebracht hat, so können wir das kurz etwa in die folgenden Worte zusammenfassen.

Da war eine Anzahl von Menschen, denjenigen Menschen, die man vielleicht am besten dadurch bezeichnet, daß man sagt, es sind diejeni­gen, die gelebt haben von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und die sich in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wohlgefühlt haben. Man konnte von diesen Leuten wahrhaftig oft genug hören, wie weit

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wir es in der Zivilisation gebracht haben. Man konnte hören, was her­vorgebracht worden ist dadurch, daß die Menschheit in die Lage ge­kommen ist, nicht nur über weite Entfernungen einzelner Länder, ein­zelner Kontinente, sondern über Weltmeere hin sich schnell zu verstän­digen; wie weit man dadurch gekommen ist, daß sich eine gewisse Bil­dung ausgebreitet hat, daß die Menschen teilnehmen konnten an dem, was man das geistige Leben nannte und von dem man sich vorstellte, daß es zu einer ganz besonderen Höhe in unserer Zeit gekommen sei.

Nun, ich brauche Ihnen nicht zu schildern, was alles nach dieser Rich­tung hin geredet worden ist an Lobsprüchen über unsere moderne Zivi­lisation. Aber diese moderne Zivilisation, sie breitete sich aus über einem Untergrunde. Sie war ohne diesen Untergrund gar nicht denkbar; sie lebte von diesem Untergrund. Und was war in diesem Untergrunde? In diesem Untergrunde waren immer mehr und mehr Menschen von derjenigen Art, die aus ihrem tiefsten seelischen Empfinden den Ruf er­tönen lassen mußten: Gibt uns das, was dieses moderne Leben gebracht hat, ein menschenwürdiges Dasein? Wozu hat uns diese moderne Zivili­sation verurteilt? - Und so spaltete sich diese moderne Menschheit immer mehr und mehr in zwei Glieder: in die einen, welche sich in einer gewissen Weise wohlfühlten oder wenigstens befriedigt fühlten in die­ser modernen Zivilisation, die sich aber nur befriedigt fühlen konnten aus dem Grunde, weil die anderen im Untergrunde ihre Arbeitskraft hingeben mußten für eine gesellschaftliche Ordnung, an welcher sie im Grunde genommen doch keinen Anteil haben konnten.

Mit diesem ganzen Hergang der Sache entwickelte sich allerdings noch etwas anderes. Es entwickelte sich das, daß gerade die Träger der sogenannten Zivilisation nicht mehr die alten patriarchalischen Zu­stände mit den zahlreichen Analphabeten fortsetzen konnten. Es ent­wickelte sich das, daß die von dem Kapitalismus getragenen Menschen wenigstens einen Teil des Proletariats, der ihnen diente, gebildet machen mußten. Und aus der Bildung des Proletariats entwickelte sich etwas, was sich jetzt in so schreckhaften, aber für den, der die Geschichte versteht, nur allzu notwendigen Tatsachen zum Ausdrucke bringt: Das entwickelte sich, daß vor allen Dingen eine ganz große Anzahl von Menschen, die eben die Unterlage bilden mußten für diese moderne

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Zivilisation, nunmehr nachdenken konnten über ihre Lage, daß sie sich nicht mehr instinktiv hinzugeben brauchten, daß sie die Frage in inten­sivster Art stellen konnten Haben wir ein menschenwürdiges Dasein? Wie können wir zu einem menschenwürdigen Dasein kommen?

Diejenigen, die bisher die führende Klasse der Menschen waren, haben im Hergange des modernen Wirtschaftslebens dieses Wirtschafts­leben, soweit es ihnen genehm war, in Verbindung gebracht mit dem modernen Staate. Von diesem modernen Staate konnte, wenigstens in einem gewissen Maße, das moderne Proletariat nicht ausgeschlossen werden unter dem Einflusse der neueren Zeit. Und so kam es, daß das Proletariat auf der einen Seite innerhalb des Wirtschaftslebens aus seiner Lage herausstrebte, ein menschenwürdiges Dasein anstrebte, auf der an­deren Seite aber mit Hilfe des modernen Staates sein Recht zu erkämpfen versuchte.

Man kann nicht sagen - die Tatsachen der Gegenwart lehren es-, daß auf beiden Wegen wenig noch erreicht worden ist. Auf dem Wege des gewerkschaftlichen Lebens hat die moderne Arbeitergesellschaft inner­halb des Wirtschaftskreislaufes manches zu erreichen versucht: es waren Brocken von dem, was eigentlich der Inhalt eines menschenwürdigen Daseins innerhalb einer gesunden Wirtschaftsordnung sein muß. Auf dem Wege des staatlichen Lebens ist das erreicht worden. Allein dem weiteren stand entgegen die wirtschaftliche und politische Gewalt der bisher führenden Klasse der Menschheit. Und so kann man sagen, trotz­dem manches erreicht worden ist auf diesen beiden Wegen, steht heute das moderne Proletariat nicht weniger vor der Frage: Welchen Sinn hat denn eigentlich meine Arbeit mit Bezug auf dasjenige, was jeder Mensch in der Welt als seine Menschenwürde in Anspruch nehmen muß?

Demjenigen gegenüber, was durch lange Jahrzehnte das Proletariat in den verschiedensten Formen diesem führenden, leitenden Kreise zuge­rufen hat: So geht es nicht weiter! - demgegenüber wurde kaum irgend­ein verständnisvolles Wort hörbar. Und diejenigen Worte, die hörbar wurden, die standen eigentlich in einem merkwürdigen Verhältnisse zu dem, was eigentlich aus dem Geiste der Zeit heraus hätte angestrebt wer­den sollen. Hörten wir es nicht, wie von allen möglichen Seiten - von christlich-sozialer Seite, von bürgerlich-sozialistisch Strebenden - das

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oder jenes gesprochen wurde, was abhelfen könnte den Gefahren, die man glaubte heraufziehen zu sehen? War es mehr, im Grunde genom­men, als salbungsvolle Phrase, die aus den verschiedenen, aus den Über­lieferungen kommenden religiösen, sittlichen und so weiter Vorurteilen heraus erwuchsen dieser leitenden, bisher führenden Klasse?

Sie empfanden es nicht, diese führenden Kreise; aber eine andere Seite der Menschheit empfand es. Derjenige, der seine Richtung empfand von etwas ganz anderem als leeren Redensarten, derjenige, der seine Rich­tung empfand aus dem Bewußtsein der Klasse heraus, die in die beson­dere soziale Lage gebracht wurde, die Unterlage zu sein für diese moderne Zivilisation. Und so bildete sich, trotzdem ja auf der anderen Seite durch gewerkschaftliches, genossenschaftliches und auch politi­sches Leben manches geleistet wurde, noch etwas anderes heraus, etwas, was wichtiger noch ist, was eine Arbeit des modernen Proletariats ist, die voll von Keimen für die Zukunft ist, und von der auch die Tatsachen der Gegenwart in reichlichem Maße getragen werden: Das bildete sich heraus, daß, während die bisher führende Klasse ihrer Luxusbildung nachging, die einzig nur genährt und gekräftigt werden konnte von dem Kapitalismus, das Proletariat in den Zeiten, die ihm übrigblieben, in sei­nen Versammlungen nach einer im wahrsten Sinne des Wortes moder­nen Bildung ausging, ausging nach einem Geistesleben. Das war es, was die bisher führende Klasse der Menschheit nicht sehen wollte, daß durch Tausende und aber Tausende von Proletarierseelen hindurch eine ganz neue Bildung, eine ganz neue Anschauung über den Menschen sich ent­wickelte.

Es war in der Natur der Sache begründet, daß diese proletarische Bil­dung zunächst ausging von der Betrachtung des Wirtschaftslebens. Denn an die Maschine hatte das moderne Leben den Proletarier ge­schmiedet. In die Fabrik hatte sie ihn gedrängt, in den Kapitalismus hatte sie ihn eingespannt. Da heraus holte er seine Begriffe. Aber diese Begriffe - ich will nur daraufaufmerksam machen, wie intensiv alles das­jenige, was mit dem Marxismus zusammenhängt, verständnisvoll ein­schlug in die Proletarierseelen -, diese Bildung war eine solche, die wenig, wahrhaftig recht wenig Widerhall fand bei der leitenden, der bis­her führenden Klasse der Menschheit.

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Ist es nicht charakteristisch, daß derjenige, der die Dinge kennt, heute sagen muß: Unter den führenden proletarischen Persönlichkeiten, unter denjenigen, die wirklich verstehen mit dem Proletariat, nicht bloß über das Proletariat zu denken, unter denjenigen Persönlichkeiten, die aufge­nommen haben, was an wirklich fruchtbarer Bildung über das Wirt­schaftsleben heute aufgenommen werden konnte, unter denen lebt wahrhaftig heute eine gründlichere, wenigstens lebensgründlichere Kenntnis desjenigen, was im sozialen Organismus spielt, als selbst unter den Gebildetsten der Gebildeten, selbst unter den über Soziologie nach­denkenden Professoren, Universitätsprofessoren. Denn es ist charakte­ristisch, daß sich diese Kreise, deren Beruf es sozusagen war, sich mit Soziologie, mit der Nationalökonomie zu befassen, gesträubt haben so lange als möglich gegen alles dasjenige, was hervorging aus dem Ver­ständnis für das moderne Proletariat. Und erst als die Tatsachen dräng­ten, als die Tatsachen gar nichts anderes mehr zuließen, haben sich einige von diesen Bürgerlich-Führenden herbeigelassen, mancherlei marxistische oder ähnliche Begriffe in ihr nationalökonomisches System aufzunehmen.

Daß diese Arbeit von dem modernen Proletariat geleistet worden ist, ich möchte sagen, ganz im Verborgenen für die führenden, leitenden Kreise geleistet worden ist, das behaupte ich hier nicht aus einer grauen Theorie heraus; das behaupte ich, weil ich mitansehen konnte, wie diese Arbeit gezimmert worden ist. Ich konnte jahrelang in Berlin Lehrer an jener Arbeiterbildungsschule sein, die Wilhelm Liebknecht, der alte Lieb­knecht noch begründet hatte. Und teilweise in dieser Schule, teilweise in dem, was sich daran schloß, hatte man einen guten Ausschnitt von all-dem, was da gearbeitet worden ist, um eine neue Zeit heraufzuführen aus einem entwickelten proletarischen Menschheitsbewußtsein heraus. Das hätten längst alle diejenigen überlegen sollen, die in oberflächlicher Art diese moderne proletarische Bewegung nur wie eine bloße Lohn-und Brotfrage behandeln, die nicht verstehen, sie zu behandeln als eine Frage des menschenwürdigen Daseins aller Menschen.

Demgegenüber ist es wahrhaftig nicht sehr bedeutsam, wenn heute hingewiesen wird darau{ wie innerhalb der Tatsachenwelt, die sich aus dem sozialen Chaos heraus ergeben hat, Schreckhaftes, zuweilen Grausames

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geschieht. Derjenige, der die Dinge recht versteht, wie sie sich entwickelt haben, der frägt nicht nach dem Zusammenhange dieser Grausamkeiten oder des Schreckhaften mit der modernen proletari­schen Bewegung, sondern der ist sich klar darüber, daß die bisher füh­renden Klassen es sind, welche das hervorgebracht haben, was heute ge­schieht.

Der weltgeschichtliche Augenblick, der ist erst eingetreten, indem das Proletariat beginnt, für die weitgeschichtlichen Ereignisse eine Verant­wortung zu tragen. Bis in die furchtbare und in vieler Beziehung auch lrrsinnige Katastrophe des sogenannten Weltkriegs hinein ist dasjenige verantwortlich, was aus dem Kapitalismus, aus der kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Laufe der neueren Zeit und insbesondere der neuesten Zeit sich ergeben hat.

Was sehen wir aber nun im Mittelpunkte all desjenigen stehen, was proletarische Bewegung, was proletarische Sehnsucht, ja, was proletari­sche Forderung ist? Jm Mittelpunkt dessen sehen wir stehen, was der Proletarier empfinden mußte gegenüber dem, was er im Grunde genom­men herbeiführt und was durch die moderne Wirtschaftsordnung allein dem sozialen Organismus gegeben werden kann; denn die bisher leiten­den Kulturkreise interessierten sich im Grunde genommen beim Prole­tarier nur für dieses einzige, und dieses einzige ist die Arbeitskraft des Proletariers. Man muß wissen, wie gerade eingeschlagen haben die Be­trachtungen Karl Marx' und derjenigen, die in seinen Bahnen gegangen sind, in das moderne Proletariat, aus dem Grunde, weil in diesem modernen Proletariat die Empfindung da war: Vor allen Dingen muß Klarheit geschaffen werden mit Bezug auf die Art und Weise, wie menschliche Arbeitskraft einfließen darf in den sozialen Organismus.

Nun, es ist oftmals gesagt worden und es hat in weitesten Kreisen ein­geleuchtet: durch die moderne Wirtschaftsordnung ist die Arbeitskraft geworden zu einer Ware unter anderen Waren. Das ist ja das Eigentüm­liche des Wirtschaftslebens, daß es besteht in Warenproduktion, Waren-zirkulation und Warenkonsumtion. Aber das ist eingetreten, daß zu einer Ware gemacht wurde die Arbeitskraft des modernen Proletariers.

Von dieser Seite her ist im Grunde genommen innerhalb des Proleta­riats alles gesagt worden. Nur wird die Frage gewöhnlich doch nur

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nach einer Seite hin gelenkt, so daß sie nicht völlig in dem Lichte er­scheint, durch das man eigentlich Einblicke gewinnt in die Stellung der menschlichen Arbeitskraft im gesunden sozialen Organismus. Da muß eine Frage aufgeworfen werden, die sich allerdings aus der mar­xistischen Frage ergibt, die aber in einer noch präziseren, in einer noch intensiveren Weise aufgeworfen werden muß. Gefragt werden muß: Kann überhaupt menschliche Arbeitskraft jemals wirkliche Ware sein?

Dadurch wird die Frage auf ein ganz anderes Geleise noch geleitet. Man wird in der Tat fragen: Wie kann gerechtfertigterweise mensch­liche Arbeitskraft entlohnt werden? Wie kann menschliche Arbeitskraft uberhaupt zu ihrem Rechte kommen? Und man kann dabei doch die Voraussetzung haben: es muß schon so sein, daß die menschliche Arbeitskraft Lohn empfängt.

Lohn ist aber in gewissen Zusammenhängen nichts anderes, als ledig­lich das Kaufgeld für die Ware «Arbeitskraft». Aber Arbeitskraft kann niemals eine Ware sein! Und wo im Wirtschaftsprozeß Arbeitskraft zur Ware gemacht wird, ist dieser Wirtschaftsprozeß Lüge. Denn es wird in die Wirklichkeit etwas hineingeworfen, was niemals ein wahrer Be­standteil dieser Wirklichkeit sein kann. Menschliche Arbeitskraft kann aus dem Grunde keine Ware sein, weil sie den Charakter, den notwendig jede Ware haben muß, nicht haben kann. Im Wirtschaftsprozeß muß jede Ware in die Möglichkeit versetzt sein, an Wert mit einer anderen Ware verglichen zu werden. Die Vergleichbarkeit ist die Grundbedin­gung für das Ware-Sein von etwas. Menschliche Arbeitskraft aber kann niemals mit irgendeinem Warenprodukte in bezug auf den Wert ver­glichen werden.

Es wäre eigentlich furchtbar einfach, wenn man nur nicht heute ver­lernt hätte, einfach zu denken. Man denke nur daran, wenn meinetwillen in einer Familie zehn Leute zusammenarbeiten, jeder seinen Teil arbei­tet, wie man den Arbeirsteil eines einzelnen aus diesen zehn vergleichen kann mit den Leistungen, die diese zehn hervorbringen. Man hat gar nicht die Möglichkeit, mit den Warenleistungen die Arbeitskraft zu ver­gleichen. Die Arbeitskraft steht auf einem ganz anderen Boden des sozialen Beurteilens als die Ware. Das ist es, was vielleicht in der neueren

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Zeit nicht deutlich ausgesprochen worden ist, was aber lebt in den Emp­findungen des modernen Proletariats.

Was lebt in den Forderungen des modernen Proletariats? Das, was lebt in den Empfindungen des modernen Proletariats, das ist tatsäch­liche Kritik, das ist die weltgeschichtliche Kritik, die einfach in dem Leben des modernen Proletariers liegt und die entgegengeschleudert wird allem, was von den bisher leitenden Kreisen als soziale Ordnung heraufgefördert worden ist. Dieses moderne Proletariat ist nichts ande­res als eine weltgeschichtliche Kritik selber. Gerade der Erkenntnis, daß Arbeitskraft niemals Ware sein kann, verdankt die Empfindung, die Grundempfindung ihr Dasein, daß gelebt wird in der neueren Zeit in einer gewaltigen, in einer umfassenden Lebenslüge; denn gekauft wird Arbeitskraft, die ihrem Wesen nach niemals gekauft werden kann.

Daß dem Abhilfe geschaffen werden müsse, davon ist, wie es ja jedem Einsichtigen heute selbstverständlich sein muß, der moderne Proletarier überzeugt. Aber er ist hineingetrieben worden in dasjenige, was nicht er, was die bisher führenden Klassen aus dem sozialen Organismus ge­macht haben. Er ist aus allem übrigen herausgestellt worden und nur hineingespannt worden in den Wirtschaftsprozeß. Sollte es da nicht er­klärlich sein, daß er nun durch eine bloße Gesundung dieses Wirt­schaftsprozesses, des Kreislaufes des Wirtschaftslebens selbst, auch die Gesundung des ganzen sozialen Organismus herbeiführen will? Daraus sind die Ideale entstanden, dergestalt, wie sie als Ideale des modernen Proletariats bisher leben.

Gesagt worden ist: Dadurch, daß der Kapitalismus als privater Kapi­talismus durch den privaten Gebrauch der Produktionsmittel die moderne Produktion zu einer Warenproduktion gemacht hat, dadurch sei das moderne Proletariat in die Lage gekommen, die es nur selbst ganz empfinden kann. Dem kann nur abgeholfrn werden dadurch, daß zu­rückgegriffen werde zu dem, was die uralte Idee der Genossenschaft ist, zu jener Genossenschaft, die gewissermaßen von dem Produzieren des einen für den anderen ausgeht und hinarbeitet zur Selbstproduktion, in welcher nicht mehr der eine den anderen übervorteilen kann, aus dem Grunde, weil er dann selbst übervorteilt würde. Und weiter ist gesagt worden: Wie soll diese Genossenschaft, diese große Genossenschaft begründet

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werden? Da müsse man seine Zuflucht nehmen eben zu dem Rahmen, der sich im Laufe der neueren Zeit herausgebildet hat: zu dem modernen Staate. Den modernen Staat selber müsse man zu einer gro­ßen Genossenschaft machen, durch welche gewissermaßen die Waren­produktion übergeführt wird in Produktionen für den Selbstbedarf.

Da ist es gerade, wo man den Punkt ergreifen muß, auf dem man sagen kann: Man findet das Gesunde gerade in dem Geistesleben des moder­nen Proletariats auf der einen Seite, und man findet zu gleicher Zeit das­jenige, wo dieses Geistesleben des modernen Proletariats entwickelungs-fähig ist, wo es von der Stufe, die es bis jetzt beschritten hat, zu einer anderen Stufe noch fortschreiten kann.

Es sollte wahrhaftig von demjenigen, der anderer Meinung ist aufdie­sem Gebiete, nicht übelgenommen werden, wenn man aus ebenso auf­richtigen und ehrlichen Empfindungen heraus, wie er sie selber hegt, noch nicht gewissermaßen die Vollendung sieht in der gegenwärtigen proletarischen Weltanschauung, sondern wenn man gerade genötigt ist, darauf hinzuweisen, daß diese proletarische Weltanschauung in sich die Keime zu einem Fortschritt trägt, daß dieser Fortschritt aber auch wirk­lich angestrebt werden muß. Und er kann angestrebt werden.

Das wird derjenige zugeben, welcher einsieht, was ich bereits - es ist ungefähr achtzehn Jahre her - im Berliner Gewerkschaftshaus als eine Eigentümlichkeit, und dann oftmals wiederum als eine Eigentürnlich­keit gerade der modernen Arbeiterbewegung hervorheben mußte und was ich heute noch für absolut richtig halten muß. Ich sagte damals: Für den, der das geschichtliche Leben der Menschheit überblickt und aus diesem geschichtlichen Leben der Menschheit die moderne proletari­sche Bewegung mit Verständnis, mit innerem Verständnis hat hervor­gehen sehen, für den ist es auffällig, daß diese moderne proletarische Be­wegung anders als alle anderen Menschheitsbewegungen, die es je gege­ben hat, im Grunde genommen auf einem - man mag das grotesk finden, man mag es paradox finden - auf einem geradezu wissenschaftlich orien­tierten Boden steht.

Tief, tief wahr ist es, was damals nach dieser Richtung hin als einen Grundton, als eine Grundforderung der modernen Arbeiterbewegung der schon fast vergessene Lassalle angeschlagen hat in seiner berühmten

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Rede über «Die Wissenschaft und die Arbeiter». Nur muß man die Sache noch von einem anderen Gesichtspunkte aus ansehen, als sie heute gewöhnlich angesehen wird: man muß sie ansehen von dem Gesichts­punkte des Lebens. Da kann man sagen: Mit Bezug auf dasjenige, was dem modernen Proletariat zugänglich geworden ist, durch das, was ihm die führenden Klassen geben mußten, wenn sie ihn nicht im Analphabe­tismus fortbelassen wollten, durch das hat der moderne Proletarier die Möglichkeit erlangt, zu übernehmen, wie ein Erbgut zu übernehmen, was sich in der neueren Zeit herausgebildet hat, aus dem Bestreben der leitenden Kreise zu übernehmen, was sich als wissenschaftliche Weltan­schauung herausgebildet hat.

Worauf es ankommt, das ist dieses, daß aber nun der moderne Proleta­rier in ganz anderer Weise reagieren mußte auf diese wissenschaftliche Weltanschauung als alle anderen Kreise, sogar diejenigen, welche un­mittelbar diese Weltanschauung ausgebildet hatten. Man kann inner­halb der leitenden und bisher führenden Kreise ein sehr aufgeklärter Mensch sein, ein Mensch, dessen innerste Überzeugung hervorquillt aus den Resultaten, aus den Ergebnissen der modernen Wissenschaft, man kann meinetwillen ein Naturforscher wie Vogt, ein naturwissenschaft­lich populärer Forscher wie Büchner sein, dennoch steht man der wissen­schaftlich orientierten Weltanschauung anders gegenüber als der moderne Proletarier.

Derjenige, der aus den leitenden Kreisen und ihren Vorurteilen, namentlich ihrem Vorgefühl und ihrer Vorempfindung heraus, sich theoretisch bekennt zu der modernen Bildung über den Menschen und über die Natur, der bleibt deshalb doch stecken innerhalb einer Gesell­schaftsordnung, die sich streng abschließt von dem modernen Proleta­riat, und deren Struktur, deren ganze Organisation nicht herrührt von dem, was moderne Wissenschaft erzählt, sondern herrührt von demjeni­gen, was vor dieser modernen Wissenschaft die Menschengemüter an religiösen, an rechtlichen und sonstigen Vorstellungen über die Men­schenwürde erfüllt hat. Das konnte ich einmal, ich möchte sagen, im un­mittelbaren Erlebnis empfinden.

Es war in dem Augenblicke, als ich, zusammen mit der jüngst tragisch untergegangenen Rosa Luxemburg in Spandau stand vor einer Arbeiterversammlung,

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vor der wir beide sprachen über den modernen Arbeiter und die moderne Wissenschaft. Da mußte man sehen, wie dasjenige, was diese moderne Wissenschaft in die moderne Proletarierseele hineingie­ßen kann, ganz anders wirkt auf den Proletarier als selbst auf den Über­zeugtesten der bisher leitenden Menschenklasse, als Rosa Luxemburg den Leuten klarmachte: Da ist nichts, was hinweist auf einen engelglei­chen Ursprung der Menschen, nichts, was hinweist auf die hohen Aus­gangspunkte, von denen die bürgerliche Weltanschauung noch gern er­zählen möchte; da ist von dieser modernen bürgerlichen Weltanschau­ung selbst behauptet, wie der Mensch als Klettertier einmal begonnen hat, wie er sich hinaufentwickelt hat aus diesen Zuständen. Wer das überdenkt - so sprach dazumal die für ihre Sache begeisterte Arbeiter-führerin - wer das durchdenkt, der kann nicht in den Vorurteilen, die die heutigen führenden Kreise haben, verharren in den Vorurteilen von Rangunterschieden, von der Möglichkeit, so abzustufen zwischen den Menschen, die alle einen solchen gleichen Ursprung haben, wie man das innerhalb der führenden Kreise heute tut. - Das schlug anders ein, als bei den Leuten der führenden Kreise. Und das ergänzte dasjenige, was ver­ständnisvoll als Wirtschaftswissenschaft der moderne Proletarier auf­nahm.

Dasjenige, was da in die Seelen aufgenommen worden ist, das ist einer Fortentwickelung fähig, und von dieser Fortentwickelung möchte ich Ihnen heute einiges erzählen.

Derjenige, der alles das überblickt, was in Betracht kommt für die Frage gerade: Wie ist die Arbeitskraft des modernen Proletariers zu dem Sinn einer Ware gekommen? - der sieht sich nach und nach gedrängt, seine Beobachtungen über das Wirtschaftsleben zu dem Punkte zu füh­ren, wo er sich sagen muß: Gerade dadurch, daß der moderne Arbeiter hineingespannt worden ist in dieses bloße Wirtschaftsleben, dadurch ist innerhalb des Wirtschaftslebens auch die Arbeitskraft des modernen Proletariers zur Ware geworden. In dieser Richtung haben wir nur die Fortsetzung dessen, was im Altertum die Skiavenfrage war. Da war der ganze Mensch Ware. Heute ist geblieben von diesem ganzen Menschen nur noch die Arbeitskraft. Aber dieser Arbeitskraft muß der ganze Mensch folgen.

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In den Empfindungen der modernen Proletarierseele liegt es, daß das in Zukunft nicht so sein dürfe, daß das der letzte Rest der alten Barbaren-zeit ist, der überwunden werden muß. Überwunden aber wird dies nicht anders werden können, als wenn man nun mit derselben klaren Geistes-kraft, mit der das moderne Proletariat die Wirtschafts- und die Men­schennatur ergriffen hat, damit auch die Wissenschaft von dem gesun­den sozialen Organismus ergreift. Und von dieser Wissenschaft lassen Sie mich Ihnen einige Worte sagen.

Da tritt vor allen Dingen das deutlich auf: Man muß sich fragen: Was macht denn innerhalb des Kreislaufes des modernen Wirtschaftslebens die Arbeitskraft des modernen Proletariers zur Ware? Das macht die wirtschaftliche Gewalt des Kapitalistischen

In diesem Worte von der Gewalt des Kapitalistischen liegt schon eine Hinweisung auf die gesunde Antwort. Denn: wem ist Gewalt diametral entgegengesetzt? Gewalt ist diametral entgegengesetzt dem Rechte. Das aber weist daraufhin, daß eine Gesundung mit Bezug auf die Ver­wertung der menschlichen Arbeitskraft im sozialen Organismus nur dann eintreten kann, wenn die Arbeitskraft herausgehoben wird, wenn uberhaupt die Frage nach der Arbeitskraft herausgehoben wird aus dem Wirtschaftsprozeß und wenn sie wird zu einer reinen und lauteren Rechtsfrage.

Damit aber kommen wir dazu, des breiteren nachzudenken, ob denn ein tieferer Unterschied ist zwischen Wirtschaftsfrage und Rechtsfrage. Dieser Unterschied besteht; nur ist man heute noch nicht geneigt, diesen Unterschied tiefgehend genug zu nehmen. Man ist nicht geneigt, tiefge­hend genug zu nehmen, was auf der einen Seite die wirksamen Kräfte in allem Wirtschaftsleben sein müssen und auf der anderen Seite die wirk­samen Kräfte sein müssen in dem eigentlichen Rechtsleben.

Was wirkt im Wirtschaftsprozesse? Im Wirtschaftsprozesse wirkt das menschliche Bedürfnis, wirkt die Möglichkeit der Befriedigung dieses menschlichen Bedürfnisses durch die Produktion. Beides ist gegründet auf die Naturgrundlage; das menschliche Bedürfen auf die Naturgrund­lage des Menschen, die Produktion auf die klimatischen, geographi­schen und sonstigen Naturgrundlagen. Dieses Wirtschaftsleben hat un­ter dem Einflusse der modernen Arbeitsteilung eben geführt zu dem,

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was der moderne Warenaustausch ist und sein muß, jener Warenaus­tausch, in dem sich nach dem Bedürfnisse der Menschen die Waren ge­genseitig bewerten, und nach ihrer gegenseitigen Bewertung - ich kann das nicht im einzelnen beschreiben, es würde zu lange dauern - auf dem Markte erscheinen und auf dem Markte in den Kreislauf des Wirt­schaftsprozesses einziehen.

Innerhalb dieses Kreislaufes des Wirtschaftslebens kann sich als in einem abgeschlossenen Kreislauf nicht zu gleicher Zeit das Rechtsleben entwickeln. Die menschliche Natur läßt ebensowenig zu, daß sich im sozialen Organismus innerhalb des Wirtschaftslebens selbst das Rechts-leben entwickelt, wie sie zuläßt, daß im menschlichen, im natürlichen Menschenorganismus nur ein einziges, in sich zentralisiertes System da ist. Ich will wahrhaftig heute abend nicht spielen mit irgendwelchen Vergleichen aus der Naturwissenschaft; allein ich glaube, daß gerade da ein Punkt ist, wo auch die Naturwissenschaft über dasjenige hinausge­hen muß, zu dem sie heute gekommen ist. Ich habe in meinem letzten Buche: «Von Seelenrätseln» hingewiesen, worauf es da ankommt, was Naturwissenschaft heute nicht ordentlich erkannt hat: daß im gesunden menschlichen Organismus drei Systeme vorhanden sind, daß das Sin­nes-Nervensystem vorhanden ist, das als Träger des Seelenlebens da ist, das Atmungs- und Herzsystem als Träger des rhythmischen Lebens, das Stoffwechselsystem als Träger des Stoffwechsels, und daß das Ganze den menschlichen Organismus ausmacht. Aber jedes System ist für sich zentralisiert; jedes hat seinen eigenen Ausgang nach der Außenwelt. In diesem Menschenorganismus wird Ordnung und Harmonie dadurch hervorgerufen, daß diese drei Systeme nicht wüst durcheinanderwirken, sondern nebeneinander sich entfalten, und dadurch gerade recht die Kraft des einen in das andere hineinfließen kann.

So muß im gesunden sozialen Organismus eine solche Dreigliederung eintreten. Man muß einsehen, daß, wenn der Mensch im Wirtschaftsor­ganismus sich betätigt, er dann innerhalb dieses Wirtschaftsprozesses bloß wirtschaften muß. Dann handelt es sich darum, daß die Verwal­tung, die Gesetzgebung dieses Wirtschaftsprozesses darauf ausgeht, die gegenseitige Bewertung der Ware in der wirtschaftlichen Wirklichkeit auf den Weg zu bringen, in der zweckmäßigsten Weise die Warenzirku­lation

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einzuleiten, die Warenproduktion einzuleiten, die Warenkonsum­tion einzuleiten. Aus diesem bloßen Wirtschaftsprozesse muß aber her-ausgeholt werden alles dasjenige, was sich nun bezieht nicht auf die Be­friedigung des Bedürfnisses des einen Menschen mit dem anderen, son­dern was sich bezieht auf das Verhältnis eines jeden Menschen zu jedem anderen Menschen. Dasjenige, worinnen alle Menschen gleich sein müs­sen, ist etwas radikal Verschiedenes von demjenigen, was sich im Wirt­schaftsleben allein entwickeln kann. Daher ist notwendig zur Gesun­dung des sozialen Organismus, daß herausgeholt werde aus dem bloßen Wirtschaftsleben das Rechtsleben, das eigentliche Rechtsleben. Dieser Entwickelung hat eben gerade die neuere Zeit entgegengestrebt.

Die bisher führenden Klassen- was haben sie getan? Auf denjenigen Gebieten, auf denen es ihnen bequem war, auf denen es ihnen für ihre Interessen richtig erschien, da haben sie die alte Verschmelzung, die ja schon gewiß auf vielen Gebieten bestanden hat zwischen dem Wirt­schaftsleben und dem politischen Staatsleben, weiter durchgeführt. Und so sehen wir, daß in dieser neueren Zeit, gerade unter dem Einflusse der leitenden Kreise der Menschheit, heraufkommt die sogenannte Ver­staatlichung für gewisse Wirtschaftszweige. Post-, Telegraphenwesen und ähnliches zu verstaatlichen ist ja gefunden worden als im modernen Fortschritt gelegen und von diesem modernen Fortschritt verlangt.

In gerade entgegengesetzter Richtung muß derjenige denken, der nun nicht auf die Interessen der bisher führenden Kreise sieht, sondern der frägt: Welches sind die Grundlagen eines gesunden sozialen Organis­mus? - Der muß anstreben, daß immer mehr und mehr gelöst werde aus dem bloßen Wirtschaftsleben das Leben des eigentlich politischen Staa­tes, desjenigen Staates, der zu sorgen hat für Recht und für Ordnung; der zu sorgen hat vor allen Dingen aber dafür, daß von diesem Gebiete aus in das Wirtschaftsleben das entsprechende Rechtsleben hineinfließt. Derjenige unterscheidet im menschlichen Leben nicht richtig, der kein Auge, kein geistiges Auge dafür hat, wie radikal verschieden Wirt­schaftsleben und das Leben des eigentlichen politischen Staates ist.

Sehen wir einmal die Dinge an, wie sie sich heute entwickelt haben. Gewisse Menschen sprechen aus dem heutigen sozialen Zustand heraus so, sie sagen, innerhalb dieses sozialen Zustandes haben wir als erstes:

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Tausch von Waren gegen Waren. - Gut, das muß sein im Wirtschaftsle­ben. Davon ist ja gerade eben gesprochen worden. Dann haben wir als zweites, sagen sie und sie sehen das als berechtigt an: Tausch von Waren, beziehungsweise des Repräsentanten von Ware, des Geldes, ge­gen Arbeitskraft. Und als drittes: Tausch von Waren gegen Rechte.

Was ist das letztere? Über das zweite habe ich ja schon gesprochen. Nun, wir brauchen nur hinzusehen auf das Grundbesitzerverhältnis in der modernen Wirtschaftsordnung, und uns wird sogleich klar werden, was klar sein sollte auf diesem Gebiete für die Zukunft. Wie man sonst auch über das Besitzverhältnis in bezug auf Grund und Boden denken mag - alles andere hat für den realen Vorgang im sozialen Organismus nicht eigentlich eine Bedeutung; eine Bedeutung hat lediglich das, daß der Besitzer von Grund und Boden das Recht hat, ein Stück Grund und Boden allein zu benützen und bei dieser Benützung sein persönliches In­teresse geltend zu machen.

Das hat nicht das geringste in seinem Ursprunge mit dem Wirtschafts­prozesse als solchem zu tun. Mit dem Wirtschaftsprozesse hat einzig und allein - dagegen kann nur eine verkehrte Nationalökonomie etwas ein­wenden - dasjenige zu tun, was auf dem Grund und Boden als Ware oder mit Warenwert erzeugt wird. Benützung des Grund und Bodens beruht auf einem Rechte.

Dieses Recht allerdings verwandelt sich innerhalb der modernen kapi­talistischen Wirtschaftsordnung, namentlich durch die Verquickung des Kapitalismus mit den Grundrenten, wiederum in eine Gewalt. Und so haben wir auf der einen Seite die Gewalt, welche ausschließt von sol­chen Rechten; auf der anderen Seite jene wirtschaftliche Gewalt, welche die menschliche Arbeitskraft zwingen kann, zur Ware zu werden.

Von beiden Seiten her wird nichts anderes, als eine Lebenslüge ver­wirklicht, wenn nicht angestrebt wird - angestrebt wird aus wirklicher sozialer Einsicht heraus - die Gliederung des sozialen Organismils in einen Wirtschaftsorganismus und in einen Organismus des im engeren Sinne politischen Staates.

Der Wirtschaftsorganismus wird begründet werden müssen auf asso­ziativer Grundlage, aus den Bedürfnissen der Konsumtion in ihrem Verhältnisse zur Produktion. Aus den verschiedenen Interessen der

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mannigfaltigsten Berufskreise werden die mannigfaltigsten Genossen­schaften - man könnte sie mit einem alten Wort auch Bruderschaften der Menschheit nennen - entwickelt werden müssen, in denen verwaltet werden die Bedürfnisse und ihre Befriedigung.

Was sich innerhalb dieser Assoziationsgrundlage des wirtschaftlichen Organismus herausbildet, das wird immer zu tun haben mit der Befriedi­gung des einen Kreises von Menschen durch einen anderen Kreis. Auf diesem Gebiete wird maßgebend sein müssen die sachverständige Ver­wertung erstens der Naturgrundlage, dann aber auch die sachverstän­dige Ausgestaltung der Warenproduktion, -zirkulation und -konsum­tion. Da wird geltend sein müssen das menschliche Bedürfnis, das menschliche Interesse.

Dem wird immer gegenüberstehen als etwas radikal Verschiedenes dasjenige, worinnen Mensch und Mensch wesentlich gleich sich gegen-überstehen, wo sie gleich sein müssen, wie man mit einem heute schon trivial gewordenen Worte sagt: Wo sie gleich sein müssen vor jenem Gesetze, das sie sich als gleiche Menschen selber geben.

Auf assoziativer Grundlage wird beruhen müssen der Kreislauf des Wirtschaftsprozesses; auf rein demokratischer Grundlage, auf dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen in ihrem Verhältnis zueinander wird ruhen müssen im engeren Sinne die eigentliche politische Organi­sation. Aus dieser politischen Örganisation wird entspringen etwas ganz anderes als die wirtschaftliche Gewalt, welche die Arbeitskraft zur Ware macht. Aus dem vom Wirtschaftsleben getrennten politischen Leben wird entspringen das wahre Arbeitsrecht, wo einzig und allein nach dem, was über Arbeitskraft zwischen Mensch und Mensch als Menschen verhandelt werden kann, Maß und Arbeit und anderes über die Arbeits­kraft festgesetzt werden kann.

Wie man auch glauben mag, daß die Dinge in der neueren Zeit schon etwas besser geworden seien: dasjenige, worauf es fundamental an­kommt, ist nicht besser geworden. Durch die Art, wie die Arbeitskraft des Proletariers im Wirtschaftsprozesse drinnensteht, wird der Preis der zur Ware gemachten Arbeitskraft von den Preisen der anderen Wirt­schaftsprodukte, von den Warenpreisen abhängen. Das sieht jeder, der wirklich tiefer hineinschaut in den Wirtschaftsprozeß. Anders wird die

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Sache sein, wenn unabhängig von dem Gesetze des Wirtschaftslebens und seiner Verwaltung, aus dem politischen Staate heraus, aus der rein demokratischen Verwaltung und Gesetzgebung des politischen Staates heraus ein Arbeitsrecht existieren wird. Was wird dann eintreten?

Dann wird eintreten, daß dasjenige, was der Mensch durch seine Arbeitskraft dem sozialen Organismus leistet, in einem ebenso lebendi­gen, durch sich bestimmten Verhältnis steht wie heute die Naturgrund­lagen. Man kann innerhalb gewisser Grenzen die technische Fruchtbar­machung des Bodens und dergleichen etwas verschieben, die festen Grenzen der Naturgrundlage etwas verschieben; allein diese Natur-grundlagen bestimmen das Wirtschaftsleben dennoch in ausgiebigstem Maße von der einen Seite her. Ebenso wie von dieser Seite her das Wirt­schaftsleben von außerhalb bestimmt wird, so muß von der anderen Seite her das Wirtschaftsleben von außen bestimmt werden, indem es nicht mehr die Arbeitskraft von sich abhängig macht, sondern die aus rein menschlichen Untergründen heraus bestimmte Arbeitskraft dem Wirtschaftsleben dargeboten werden kann. Dann macht die Arbeit den Preis der Ware, dann bestimmt nicht mehr die Ware den Preis der Arbeit!

Dann kann nur höchstens das eintreten, daß, wenn aus irgendwel­chem Grunde die Arbeitskraft nicht genügend geleistet werden kann, das Wirtschaftsleben verarmt. Dem muß aber abgeholfen werden dadurch, daß auf rechtlichem Boden die Abhilfe gesucht wird, und nicht aus dem bloßen Wirtschaftsleben.

Zugrunde liegt beim Wirtschaftsleben nur dasjenige, was nach Ange­bot und Nachfrage frägt. Mit dem Arbeitsrecht, das gestellt wird auf die Grundlage des selbständigen politischen Staates, werden aber notwen­dig auch alle übrigen Rechte auf diese selben Grundlagen gestellt wer­den. Kurz, man wird ich kann das nur andeuten wegen der Kürze der Zeit - notwendigerweise sehen müssen gerade in der Auseinanderschä­lung der beiden Gebiete: des Rechtslebens und des Wirtschaftslebens. das Ideal eines gesunden sozialen Organismus in der Zukunft.

Und als drittes muß sich angliedern diesem selbständigen Wirtschafts­leben, diesem selbständigen Rechtslehen dasjenige, was man das geistige Leben der Menschheit nennen kann.

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Darinnen wird man, indem man von dieser wahren Fortsetzung der proletarischen Weltanschauung spricht, am meisten auf Widerstand sto­ßen. Denn es ist in die menschlichen Denkgewohnheiten auf diesem Ge­biete, mehr noch gerade als in anderes, eingegangen die Meinung, daß nur durch das Aufsaugen des gesamten geistigen Lebens vom Staate das Heil der Menschheit abhängen könne; und man durchschaut noch nicht, wie die Abhängigkeit, in die das geistige Leben vom Staate gekommen ist gerade in der neueren Zeit, aus dem hervorgegangen ist, was man nennen kann das Interesse der bisher führenden Kreise an dem Staate, der eben diese führenden Kreise so recht befriedigt hat. Diese führenden Kreise, sie haben ihre Interessen in diesem Staate befriedigt gefunden; sie haben dasjenige, was sie geistiges Leben nennen, immer mehr und mehr von diesem Staate aufsaugen lassen. Wie der politische Staat durch Zwangssteuergesetze genötigt ist, dasjenige herbeizuschaffen, was die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetze begründen kann, und wie der Staat genötigt ist, durch die Zwangssteuer seine Bedürfnisse zu be­friedigen, so muß auf der anderen Seite das geistige Leben wirklich emanzipiert werden von den beiden anderen Gebieten des sozialen Organismus.

Gerade was man auf diesem Gebiete angestrebt hat: die Verquickung des Geisteslebens mit dem Staats- und Wirtschaftsleben, das ist es, was zum Unheil der neueren Zeit ausgeschlagen hat. Denn dasjenige, was im Geistigen leben soll, das kann sich nur entwickeln, wenn es im Lichte der wahren Freiheit sich entwickeln kann. Alles dasjenige, was nicht im Lichte der wahren Freiheit sich entwickeln kann, das verkümmert und lähmt das wirkliche Geistesleben und bringt es außerdem auch aufAb­wege, die man in der neueren gesellschaftlichen Ordnung nur leider all­zugut bemerken kann. Was aber notwendig ist auf diesem Gebiete, ist:

zu durchschauen, welcher innere Zusammenhang besteht zwischen dem Geistesleben im engsten Sinne, und dem religiösen Leben, dem wissen­schaftlichen Leben, dem künstlerischen Leben, dem Leben in einer ge­wissen Sittlichkeit, welcher Zusammenhang ist zwischen diesem Leben und alledem, was überhaupt hervorgeht aus den individuellen mensch­lichen Fähigkeiten und Geschicklichkeiten.

Daher muß jetzt, wo über diese Dinge hier in ernstem Sinne gespro­chen

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wird, in ernstem Sinne eines gesunden sozialen Organismus ge­sprochen wird, gesprochen werden so, daß unter das geistige Leben ge­zählt wird alles dasjenige, was überhaupt mit der Entfaltung, der Ent­wickelung der individuellen Fähigkeiten etwas zu tun hat, alles dasje­nige, was damit zu tun hat, vom Schulwesen angefangen bis hinauf zum Universitätswesen, bis hinein in das künstlerische, bis in das sittliche Leben, ja, bis auf diej enigen Geisteszweige, die die Grundlage des prak­tischen, auch des Wirtschaftslebens ausmachen. Auf allen diesen Gebie­ten muß angestrebt werden Emanzipation des geistigen Lebens. So daß dieses geistige Leben gestellt werden kann in die freie Initiative desjeni­gen, der die individuellen Fähigkeiten des Menschen hat, und daß dieses freie Geistesleben nur da sein kann dann in entsprechender Weise im ge­sunden sozialen Organismus, wenn es auch in seiner Geltung beruht auf der freien Anerkennung, auf dem freien Verständnisse derjenigen, die es entgegenzunehmen nötig haben. Das heißt, es darf in Zukunft nicht mehr irgendwie aus der Summe desjenigen, was man in der Tasche hat oder im Geldschrank, oder aus der Bürokratie des Staates heraus das Geistesleben verwaltet werden.

Nicht allein dadurch, daß dieses Geistesleben verwaltet worden ist vom Staate, hat es einen gewissen Charakter angenommen in bezug auf die Persönlichkeiten, die drinnenstehen, in bezug auf die Persönlichkei­ten, die es verwalten, sondern dieses geistige Leben, wie wir es heute haben, wie es mit Recht der moderne Proletarier als eine Ideologie emp­findet, dieses geistige Leben, das ist doch zu einem Spiegelbilde desjeni­gen geworden, was sich an Interessen, an Bedürfnissen der führenden, leitenden Kreise für und durch den modernen Staat, den sie sich selbst ihrer eigenen Bequemlichkeit nach gebildet haben, nach diesem Bedürf­nisse herausgestaltet hat. Ist es im letzten Grunde richtig, daß alles gei­stige Leben nur ein Spiegelbild gewissermaßen, nur ein Überbau des wirtschaftlichen oder des staatlichen Lebens ist? Das moderne geistige Leben der führenden Kreise ist nur ein solcher Überbau. Gewiß, Che­mie, Mathematik, sie werden nicht leicht ihrem Inhalte nach den Cha­rakter annehmen können, der sich aus den Interessen der führenden Kreise ergibt. Allein schon der Umfang, in dem sie betrieben werden, aber namentlich das Licht, das von den anderen Zweigen des Geistesle­bens

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auf sie fällt, das ist bestimmt durch die Tatsache, daß mit den Inter­essen der leitenden, der bisher leitenden Kreise der Menschen die Inter­essen des modernen Staatslebens und darnit die Interessen des modernen Geisteslebens im Staate zusammenwachsen.

Ja, dieses moderne Geistesleben, es ist gerade auf den wichtigsten Ge­bieten, da, wo es eingreifen soll in Menschenseelen, wenn es sich seinen Platz bestimmen soll in der sozialen Ordnung, ein Spielball des Wirt­schaftslebens und des politischen Lebens geworden. Man kann es sehen an der Art, wie bis in diese furchtbare kriegerische Katastrophe herein diejenigen Träger des geistigen Lebens, die auf dem Umwege des Kapi­talismus verbunden waren mit dem modernen Staatsleben, im Grunde genommen gerade auf den wichtigsten Lebensgebieten des Geistes das­jenige hervorgebracht haben, was in den Dienst des modernen Staates hat gestellt werden können.

Man könnte da nicht hundertfach, sondern tausend- und abertausend­fach die Beweise finden. Sie brauchen nur das eine zu bedenken: Neh­men Sie die deutschen Geschichtsprofessoren, die Träger der geschicht­lichen Wissenschaft. Versuchen Sie sich ein Bild zu machen von alledem, was sie produziert haben mit Bezug auf die Geschichte der Hohenzol­lern, und fragen Sie sich, ob nun jetzt nach diesem weitgeschichtlichen Ereignisse die Geschichte der Hohenzollern ebenso aussehen wird, wie sie vorher ausgesehen hat? Daran kann man ersehen, wie das geistige Lehen durch die Verhältnisse ein bloßes Spiel geworden ist desjenigen, von dem es eben nicht frei gewesen ist.

Frei werden muß das Geistesleben von den beiden anderen Gebieten. Dann aber kann das Geistesleben in seine ihm eigene Gesetzgebung und Verwaltung aufnehmen dasjenige - so sonderbar es klingt und so über­raschend es für manchen sein wird, es muß gesagt werden -, was heute einzig und allein aus den kapitalistischen Vorurteilen hervorgehen kann: dann kann das Geistesleben der Überwinder des bloßen wirt­schaftlichen proletarischen Interesses wirklich werden. Denn das gei­stige Leben ist ein einheitliches. Das geistige Leben geht von dem höch­sten Zweige des Geisteslebens herunter bis in jene Verzweigungen, die dadurch entstehen, daß irgend jemand aus seinen individuellen Fähig­keiten heraus irgendeine Unternehmung zu leiten hat. So wie er sie heute

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leitete, so leitete er sie aus dem Wirtschaftsleben heraus unter der Wir­kung der Gewalt, der wirtschaftlichen Gewalt. So wie er sie zu leiten hat im gesunden sozialen Organismus, so ist das aus dem Geistesleben her­aus. Das Geistesleben hat im gesunden sozialen Organismus seine eigene Gesetzgebung und Verwaltung in bezug auf die höchsten Zweige dieses geistigen Lebens, aber auch mit Bezug auf alles dasjenige, was geistig in den Wirtschaftsprozeß gerade dann hineinwirken wird, wenn das geistige Leben als solches selbständig ist.

Dann wird auftreten in diesem Wirtschaftsprozeß in der richtigen Weise der Einfluß des emanzipierten, des selbständigen Geisteslebens. Dann wird dasjenige, was eben durch das Kapital geleistet werden wird, nicht mehr im Sinne des modernen Kapitalismus geleistet werden kön­nen. Dann wird es geleistet werden können allein nach den Impulsen, die das geistige Leben selber gibt.

Nur, man muß sich von diesen Impulsen die richtigen Vorstellungen machen. Wie wird zum Beispiel ein Betrieb unter diesen Impulsen eigentlich ausschauen?

Wer das Geistesleben in seinem Fundament kennt - ich weiß das ganz gut-, der wird mir nicht widersprechen, wenn ich die folgende Schilde­rung gebe von einem Betrieb, der seine Impulse nicht von der wirt­schaftlichen Gewalt, sondern von der Gewalt des Geisteslebens erhält:

Da wird derjenige durch das freie Verständnis der mit ihm Mitarbeiten­den in die Lage versetzt werden, aus einem gewissen Kapitalfonds her­aus dasjenige zu unternehmen, was nun nicht zu seinem Nutzen, son­dern wegen des sozialen Verständnisses, das er sich im richtigen Geistes­leben angeeignet haben wird, unternommen wird. Dann wird in einem solchen Betriebe gegenüberstehen derjenige, der durch das freie Ver­ständnis seiner Mitarbeiter bis zum letzten Arbeiter herunter, durch das freie Verständnis an seinen Posten gestellt ist, dann wird, weil dann ein Verhältnis des freien Verständnisses eintreten wird zwischen diesem Leiter eines Betriebes und denjenigen, die arbeiten, sich ganz notwendig dasjenige herausbilden, was da macht, daß neben den Arbeitsstunden eingeführt wird innerhalb eines jeden Betriebes und innerhalb der Ge­nossenschaften von Betrieben, die Möglichkeit eines freien Ausspre­chens über die ganze Art, wie der Wirtschaftsprozeß im sozialen Ge­samtorganismus

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drinnensteht. Dann wird unter dem Einflusse eines sol­chen Geisteslebens derjenige, der an der Stelle stehen wird, wo heute der kapitalistische Unternehmer steht, sich zu offenbaren haben in bezug auf alles dasjenige, was seine Ware hineinstellt in den gesamten Gesell­schaftsprozeß der Menschheit. Dann wird jeder einzelne einsehen, wel­chen Weg das Produkt nimmt, zu dem er seine Arbeit beisteuert, das Produkt des handwerklichen Arbeiters und desjenigen, der diese hand­arbeitliche Arbeit durch seine besonderen individuellen Fähigkeiten zu leiten hat. Dann wird allein aber auch dasjenige eintreten können, was dem Arbeiter die Möglichkeit gibt, einen wirklichen Arbeitsvertrag zu schließen. Denn ein wirklicher Arbeitsvertrag kann nicht geschlossen werden, wenn er geschlossen wird auf Grundlage der Voraussetzung, daß Arbeitskraft Ware ist. Ein wahrer Arbeitsvertrag darf gar nicht auf diesen Grundlagen aufgebaut werden; sondern einzig und allein kann ein wirklicher Arbeitsvertrag nur aufgebaut werden auf der Grundlage, daß die Arbeit, die notwendig ist zur Herstellung eines Produktes, auf Grundlage des Rechtes geleistet wird, daß aber mit Bezug auf das Wirt­schaftliche das gehörige Zusammenarbeiten zwischen handwerklichem undgeistigemArbeiterentsteht, daßmitBezugaufdasWirtschaftlicheje­ner Teilungsvorgang zwischen dem handwerklich und geistig Arbei­tenden stattfinden muß, der allein aus der freien Einsicht auch des hand-werklichen Arbeitershervorgehen kann, weil dieser handwerklich Arbei­tende dann wissen wird aus dem geistigen Zusammenleben mit dem Leitenden, in welchem Grade seine Arbeit dadurch, daß die Leitung da ist, zu seinem eigenen Vorteil einfließt in den sozialen Organismus.

Nur in einem solchen Zusammenarbeiten hört die Möglichkeit auf, daß die Unternehmungen, die auf Kapitalgrundlage gebaut werden müssen, auf den Vorteil, auf den egoistischen Vorteil aufgebaut werden. Dann allein, wenn in dieser Weise der soziale Organismus gesundet, dann allein kann das heutige Profitinteresse ersetzt werden durch das rein sachliche Interesse. Und heraufziehen wird in einem größeren Um­fange, als das in früheren Zeiten der Fall war, wiederum der Zusammen­hang zwischen dem Menschen und seiner Arbeit.

Sehen wir uns heute diesen Zusammenhang zwischen dem Menschen und seiner Arbeit an. Da ist auf der einen Seite der Unternehmer, der da

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leistet dasjenige, was er auch als Arbeit ansieht, aber er macht sich so schnell als möglich weg von dieser Arbeit. Er drückt das sogar dadurch aus, daß er, wenn er sich weggedrückt hat von seiner Arbeit, er das Reden über diese Arbeit als «Fachsimpelei» bezeichnet. Er macht sich weg, und er sucht durch allerlei anderes dann zu dem zu kommen, was er als Mensch anstrebt. Gerade durch ein solches Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit drückt sich aus, wie wenig der Mensch mit seiner Arbeit verwachsen ist.

Das aber ist ein ungesundes Verhältnis. Das ist ein ungesundes Ver­hältnis, welches das andere nach sich ziehen mußte, daß, indem das moderne Proletariat hinweggerissen ist von dem Boden des alten Hand-werkes, wo der Mensch mit seinem Beruf verwachsen war, aus seinem Berufe seine Ehre, seine Menschenwürde gezogen hat, und wo er hinge-stellt worden ist zu der Maschine, eingespannt worden ist in der Fabrik; da wird in ihm jenes Ungesunde erzeugt, daß er kein Verhältnis gewin­nen kann zu seiner Arbeit.

Aber derjenige, der das Geistesleben in seiner wahren Grundlage er­kennt, der weiß, daß solch ein ungesundes Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Arbeit nur eben unter ungesunden Voraussetzun­gen auch entstehen kann. Es gibt nichts in einem gesunden Geistesle­ben, das frei ist vom politischen und frei ist vom Wirtschaftsleben und auf diese nur zurückwirkt, es gibt nichts innerhalb eines solchen Geistes­lebens, das nicht unmittelbar interessant ist, und was, wenn es nur rich­tig gehandhabt wird, den Menschen knüpft an seine Arbeit, weil er weiß: dasjenige, was er arbeitet, wird ein Glied in dem Kreislauf des sozialen Organismus. Das ist nicht etwas, was nur beurteilt werden darf als so, daß es nicht anders sein könne, daß der Mensch auch Uninteres­santes tun müsse. Nein, das muß so beurteilt werden, daß gerade jene Grundlage des Geisteslebens aufgesucht wird, welche einzig und allein Interesse, Zusammenhang des Menschen mit seiner Arbeit und Inter­esse für diese Arbeit auf allen Gebieten, bei jeglicher Arbeit hervorrufen kann.

Da wird sich zeigen, daß, wenn das emanzipierte freie Geistesleben aus geistigen Impulsen heraus bis in die einzelnsten Verzweigungen hin­ein das staatliche und das Wirtschaftsleben in seinen Verwaltern versorgt,

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daß dann allein dasjenige eintreten kann, was ein wirkliches, sach­liches Interesse an allem wird und nicht ein bloßes kaufmännisches, nicht ein bloß äußeres Wirtschafts- und Vorteilsverhältnis begründet.

Allerdings muß einem solchen Geistesleben die Grundlage geschaffen werden. Diese Grundlage kann nur geschaffen werden, wenn alles Schulwesen in die Verwaltung des geistigen Lebens selbst gestellt wird, wenn der unterste Lehrer nicht mehr zu fragen hat: Was verlangt der politische Staat von mir? -, sondern wenn er hinaufzuschauen hat zu denjenigen, zu denen er Vertrauen hat, wenn er hinschaut zu dem das Geistesleben nach ihren eigenen Grundsätzen verwaltenden Gebiete des sozialen Organismus.

So wirkt in vieler Beziehung dasjenige, wovon ich glaube, daß es sich naturgemäß ergibt. Gerade aus einer wahren Fortsetzung der proletari­schen Weltanschauung wirkt es den Denkgewohnheiten entgegen. Denn während man es als Erbgut übernommen hat gerade von der bür­gerlichen Wissenschaft: Geistesleben, Staat, Wirtschaftsleben miteinan­der zu verschmelzen, handelt es sich darum, daß zur Gesundung des sozialen Organismus angestrebt werden muß die Verselbständigung der angeführten drei Gebiete. Nur dadurch, daß gewissermaßen jedes dieser Gebiete- wenn ich mich jetzt gangbarer Ausdrücke bedienen darf- sein eigenes Parlament und seine eigene Verwaltung hat, die zueinander ste­hen wie die Regierungen souveräner Staaten, nur durch Delegationen miteinander verhandeln, nur ihre gemeinsamen Bedürfnisse im Ver­kehre austauschen, dann allein kann der soziale Organismus gesunden. Und die Frage ist heute die Grundfrage, die aus allen Tatsachen hervor­geht: Wie kann der soziale Organismus gesunden? Das ist mit Händen zu greifen: er ist krank, dieser soziale Organismus!

Diejenigen, die aus ihrem Klassenbewußtsein heraus die berechtigte Forderung aufstellen müssen, daß dieser soziale Organismus gesunde, die haben gerade nötig, die proletarische Weltanschauung zu verfolgen auf ihre fruchtbaren Keime hin und sie in entsprechender Weise weiter-zu bilden.

Ich gebe zu, daß es zunächst manchem gegen dasjenige sprechen kann, was er als das Richtige heute anschaut, wenn gesagt wird: Es muß die Richtung genommen werden nach dieser sozialen Dreigliederung,

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dieser Dreigliederung des sozialen Organismus. -Aber so sehr dies den Denkgewohnheiten von manchem in der Gegenwart widerspricht, die Wirklichkeit darf sich nicht nach unserer Bequemlichkeit richten, nicht nach dem, was die glauben, die sich bisher für Lebenspraktiker gehalten haben. Die Wirklichkeit muß sich nach dem richten, was man aus einem ehrlichen, gesunden Wahrheitssinn heraus für das Richtige erkennen kann.

Das, was ich auseinandergesetzt habe, bezieht sich nicht auf irgendein Wolkenkuckucksheim. Oh, die Zeiten sind da, wo mancher, der sich, weil er nur das Finfache überschauen konnte und danach sich seine Denkgewohnheiten bildete, der sich dadurch für einen Lebenspraktiker hielt, wird zugeben müssen, daß die verpönten, so sehr verpönten Idea­listen, die aus Entwickelungsnotwendigkeiten der Menschheit heraus denken, die wahren Lebenspraktiker sind. Dasjenige, was ich Ihnen an-gegeben habe, ist nicht ein Wolkenkuckucksheim; es ist entnommen ge­rade aus dem, was die unmittelbarsten, alltäglichsten Lebensbedürfnisse der Menschheit sind.

Ich kann natürlich nicht auf alle einzelnen Gebiete mich einlassen; ich will zum Schlusse ein einziges Gebiet berühren, ein Gebiet, an dem sich, wenn ich es auch nur flüchtig berühren kann, zeigen wird, wie dasjenige, was ich scheinbar von dem Urgedanken des sozialen Lebens hergeleitet habe, in das Allerärgste eingreift. Was ist im Leben das Allerärgste? Das Allerallerärgste ist, daß wir etwas, was wir Geld nennen, in unserer Tasche haben müssen. Aber Sie wissen auch, was an diesem Gelde hängt. Sie wissen, wie dieses Geld eingreift in alles Leben. Wenn man die Entwickelung des gesunden sozialen Organismus ins Auge faßt: wel­chem Gliede kommt denn die Verwaltung des Geldes zu? Diese Verwal­tung des Geldes hat bisher aus gewissen Entwickelungskräften, die sehr alt sind, der Staat besorgt. Das Geld aber ist ebensowahr in einem gesun­den Organismus Ware, wie die Arbeitskraft nicht Ware ist. Und alles Ungesunde, das von der Seite des Geldes aus eingreift in den sozialen Organismus, besteht darinnen, daß das Geld des Warencharakters dadurch entkleidet wird, daß es heute mehr beruht auf der Abstempe­lung von irgendeiner Marke durch den politischen Staat, als auf dem, worauf es ja noch, weil es da nicht anders geht im internationalen Ver­kehr,

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beruhen muß: auf seinem Warenwert. Die Nationalökonomen haben heute einen komischen Streit, einen Streit, der auf den Einsichti­gen wirklich komisch wirkt. Sie fragen, ob das Geld eine Ware ist, nur eine beliebte Ware, für die man immer andere Waren eintauschen kann, während man sonst, wenn man zum Beispiel gerade das Unglück hat, nur Tische und Stühle zu fabrizieren, umherziehen müßte mit Tischen und Stühlen und warten, ob einer einem dafür Gemüse gibt, kann man, indem man zuerst Tische und Stühle für Geld eintauscht, für die Ware Geld Dinge bekommen, die einem gerade recht sind, nach denen man gerade Bedarf hat. Während die einen sagen: Dieses Geld ist eine Ware oder wenigstens der Repräsentant der Ware, für das da sein muß, auch wenn es Papiergeld ist, der entsprechende Gegenwert in Waren, sagen die anderen: Das Geld ist überhaupt nur dasjenige, was entsteht, indem der Staat durch ein Gesetz eine gewisse Marke abstempelt. Und nun for­schen sie nach, diese nationalökonomischen Gelehrten, sie forschen nach: Was ist das Richtige? Ist das Geld Ware, oder etwas, was durch eine bloße Abstempelung entsteht? Ist es eine bloße Anweisung auf die Ware?

Die Antwort auf diese Fragen ist einfach diese: daß das Geld weder das eine noch das andere ist, sondern heute beides ist. Das eine ist es dadurch, daß der Staat eben gewisse Marken abstempelt; das andere ist, daß im internationalen Verkehre oder in gewisser Beziehung auch im nationalen Verkehre das Geld nur als Ware in der Warenzirkulation mit­zirkulieren kann.

Der gesunde soziale Organismus wird das Geld jedes Rechtscharak­ters entkleiden; er wird es derjenigen Verwaltung und Gesetzgebung zuweisen, durch seinen eigenen, natürlichen Prozeß, auch die Hinein-stellung des Geldes, Prägung des Geldes, Werthestimmung des Geldes innerhalb des Wirtschaftskreislaufes, diesem selben Parlament, dieser selben Verwaltung, die den übrigen Wirtschaftsorganismus verwaltet.

Erst dann kann, wenn so etwas eintritt, dasjenige, was vom modernen Proletariat erstrebt werden muß, auf eine gesunde Basis gestellt werden. Jenes merkwürdige Verhältnis, das da besteht zwischen dem Arbeits­lohn und der Warennatur, dieses Verhältnis, es beruht ebenfalls eigent­lich auf einer Lebenslüge. Während auf der einen Seite der Arbeiter

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glaubt, durch seine Forderung nach höherem Lohn, wenn er diese be­friedigt erhält, dann gesündere Lebensverhältnisse zu erlangen, steigt immer auf der anderen Seite der Preis der Waren, solange nicht emanzi­piert wird der Wirtschaftskreislauf von dem Rechtskreislauf des politi­schen Staates. Diese Dinge werden alle erst auf eine gesunde Basis ge­stellt werden können, wenn diese Dreigliederung eintreten wird.

Ebenso wird man, wenn man die notwendige Selbständigkeit des Gei­steslebens einsehen wird, einsehen, daß keine Notwendigkeit besteht, die kapitalistischen Betriebe als solche hervorzurufen, sondern die Art und Weise, wie im Laufe der neueren Zeit das Kapital verwaltet worden ist, wie es verwendet worden ist dadurch, daß es allein im Wirtschafts­prozeß drinnensteht, das ist es, was das Kapital in seiner Wirksamkeit zu den Schäden gebracht hat, mit denen soviel Elend verknüpft ist.

Man wird einsehen müssen: Solange nicht der Arbeitsvertrag auf die Teilung desjenigen sich bezieht, was gemeinsam der Handarbeiter mit dem Geistesarbeiter hervorbringt, sondern solange sich der Arbeitsver­trag auf die Entlohnung der Arbeit bezieht, so lange ist es unmöglich, daß dies auf eine gesunde Basis gestellt wird.

Einzig und allein dadurch, daß dem Geistesleben seine gesunde Wirk­lichkeit gegeben wird, wird aufgedeckt werden in jedem Falle, in dem es notwendig ist in dem Verhältnis zwischen Arbeiter und geistigem Len­ker, daß da, wo der Arbeiter übervorteilt ist, er nicht durch die Wirt­schaft bloß übervorteilt ist, sondern dadurch übervorteilt ist, daß derje­nige, der der Unternehmer ist, seine individuellen Eigenschaften, seine geistigen Eigenschaften in einer nicht richtigen Weise, in einer nicht rechtlichen, in einer nicht menschenwürdigen Weise verwertet. Der Arbeiter wird nicht durch das Wirtschaftsleben ausgebeutet, der Arbei­ter wird durch jene Lebenslüge ausgebeutet, die dadurch entsteht, daß im heutigen gesellschaftlichen Organismus die individuellen Fähigkei­ten gerade verwendet werden können zur Übervorteilung des Arbeiters, weil sie innerhalb des Wirtschaftsprozesses nicht gesehen werden kön­nen von beiden Seiten; innerhalb des gesunden Geisteslebens werden sie von beiden Seiten gesehen und kontrolliert werden.

Wie gesagt, ich kann es gut einsehen, daß dasjenige, was ich hier ange­führt habe gerade zur Gesundung des sozialen Organismus, heute auch

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noch manchem Proletariergemüte widerstreben kann. Ich kann es einse­hen. Ich habe seit Jahren unter Arbeitern, mit Arbeitern über diese Dinge gesprochen. Ich habe ja nicht nur einzelne Zweige des Unter­richts innerhalb der Arbeiterbildungsschule verwaltet, ich habe mit den Arbeitern auch Redeübungen getrieben. In den Übungen, die zur Rede­übung getrieben wurden, wurde mancherlei auch von seiten der Arbei­ter vorgebracht in dieser Gemeinschaft, was so recht zeigte, welche be­sondere Färbung, welche besondere Artung die Forderungen des modernen Proletariats haben. Da bekommt man schon die Fähigkeit, nicht nur so, wie die Angehörigen der heutigen leitenden Kreise oder der bisher leitenden Kreise es tun, nur über den Proletarier denken -nein, man erlangt die Fähigkeit, mit dem Proletarier zu denken. Das ist es, was ich Ihnen heute sagen wollte: mit dem Proletarier zu denken, nicht nur über ihn zu denken!

Meinem Wollen nach gedacht, ist es so - das möchte ich, daß Sie das verstanden haben -, daß man vielleicht mit Bezug auf den Inhalt der Meinungen da oder dort voneinander abweichen könne, daß es aber zu­nächst im heutigen weltgeschichtlichen Augenblicke nicht darauf an­kommt, ob man in der einen oder in der anderen Meinung abweicht, sondern ob man zusammenstimmt in jener ehrlichen Forderung, die sein muß die Forderung des modernen Proletariats. Allein dadurch, daß man sich zu dieser Übereinstimmung bequemt, zu der Übereinstimmung in dem ehrlichen Wollen, einzig und allein dadurch können die Keime ge­funden werden, die in der proletarischen Weltanschauung zur Weiter­bildung liegen. Denn der Zeitpunkt ist vorüber, wo bloß diskutiert wer­den kann; der Zeitpunkt ist vorüber, wo Leute, die nur ihrem Interesse dienen wollen, von Verständigung sprechen durften. Der Zeitpunkt ist gekommen, wo die jahrzehntelangen, bloß aus den Unterströmungen hervorgehenden Forderungen des modernen Proletariers auf den welt-geschichtlichen Plan treten, wo sie wirklich zu dem allerwichtigsten, allerbedeutungsvollsten Ereignis der neueren Zeit werden.

Was aus dem Chaos des modernen Wirtschaftskrieges, des modernen Weltkrieges sich herausgebildet hat, was lange Zeit, ja was vielleicht für die Zukunft immer mehr die Zukunft erfüllen wird, das wird die soziale Frage sein. Nicht eine unwirkliche, nicht eine theoretische Lösung oder

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den Versuch einer solchen wollte ich Ihnen heute vorführen; auf das wollte ich aufmerksam machen, daß nun einmal die Zeit angebrochen ist, wo die soziale Frage da ist, wo die Menschen in ihrem sozialen Zu­sammenwirken so gegliedert werden müssen in Staats-, Wirtschafts-und geistige Organe, daß aus dieser gesunden Gliederung eine fort­dauernde Lösung der sozialen Frage hervorgehen kann.

Diese soziale Frage wird nicht von heute auf morgen gelöst werden, nachdem sie einmal da ist; sondern weil sie immer da sein wird, wie das Leben seine Konflikte immer neu erzeugt, so wird immerzu auch jene Gliederung der Menschheit da sein müssen, welche nach der Lösung der im sozialen Leben aufgehenden Konflikte in ehrlicher Weise strebt. Ob man versuchen wird, in weitesten Kreisen darauf aufmerksam zu wer­den, daß in einer solchen Fortentwickelung der proletarischen Weltan­schauung die Gesundung in die Zukunft hinein liegen wird, davon wird es abhängen, wohin der Ausgangspunkt der modernen proletarischen Bewegung führen wird. Und er muß eigentlich dahin führen, aus all den berechtigten Forderungen der Lohnfrage, der Brotfrage heraus sich zu erheben zu jener mächtigen, weltgeschichtlichen Umwälzung, die aus dem Bewußtsein des modernen Arbeiters heraus übergehen wird in das allgemeine Menschheits bewußtsein, die aus der Würde, aus der empfin­dungsgemäßen Würde des modernen Proletariers heraus begründen wird die wahre Menschenwürde für alle Menschen, die die anderen bis­her nicht begründen konnten.

Inder sich anschließenden Diskussion äußerten sich mehrere Redner. Den Abschluß bildete das folgende Schlußwort Rudolf Steiners:

Rudolf Steiner: Ja, ich muß zunächst einmal mit Bezug auf den verehr­ten ersten Einredner etwas wie eine prinzipielle Bemerkung machen. Man ist sehr häufig, wenn man redet, in der Lage, sagen zu müssen, daß man eigentlich nicht recht versteht, warum Dinge, wie sie von dem er­sten Redner gesagt worden sind, just in der Form gesagt werden müs­sen, als wenn es eine Widerlegung dessen wäre, was man selbst gesagt hat. Der erste Redner hat so gesprochen, als wenn er in die Notwendig­keit versetzt wäre, mich gewissermaßen in allen Stücken - wenn er auch manches anerkannt hat, so wenigstens in bezug auf die ganze Haltung - eigentlich

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bekämpfen zu müssen. Ich bin nicht in der Lage, ihn bekämp­fen zu müssen, sondern ich muß sagen, daß ich eigentlich meine, daß derjenige, der mir recht zugehört hat, gar nicht soviel haben wird gegen dasjenige, was der erste Redner gesagt hat. Ich bin in der Lage, in vielem mehr anerkennen zu können, auch in bezug auf das Inhaltliche, das, was er ausgesprochen hat, als er dasjenige irgendwie ins Auge zu fassen scheint, was ich eigentlich gewollt habe.

Nun, eines scheint mir wichtig zu sein in den Einzelheiten. Es ist merkwürdig, daß der erste Herr Redner glaubte, hervorheben zu müs­sen, daß dasjenige, was ich gesagt habe, entstanden sei dadurch, daß ich nur mit Arbeitern gesprochen habe, nicht mit Arbeitern mitgewirkt habe. ja, nun, natürlich kann jeder nur auf seinem Gebiet wirken; aber die Art und Weise, wie ich mit Arbeitern zusammengewirkt habe, war schon so, daß man nicht sagen kann, daß es bloß mit Arbeitern gespro­chen war. Ich glaube auch, daß derjenige, der vielleicht mehr eingeht auf das, was auch den heutigen Vortrag durchsetzte, auf das ganze Wollen es begreiflich finden wird, daß ich jahrelang nicht so angesprochen worden bin, obwohl ich es begreife, daß ich heute so angesprochen werde. Ich bin nicht immer so angesprochen worden, allein das glaube ich, aus dem einfachen Grunde, weil dazumal die Arbeiter schon gefühlt haben, daß dasjenige, was ich zu sagen habe, nicht heraus gesprochen ist aus dem bloßen Reden mit den Arbeitern.

Wenn es mir möglich geworden ist, in einer solchen Weise zu reden, wie ich auch heute wieder reden mußte, so ist das wahrhaftig nichts An-gelerntes. Denn, werfen wir einmal die Frage auf: Wer darf sich denn eigentlich zu den Proletariern rechnen? Derjenige der mit den Proleta­riern, zu den Proletariern reden darf dadurch, daß er durch sein Schick­sal und durch eigene Kraft sich dazu durchgerungen hat, so zu reden, wie ich es heute aber auch nur als freier Redner kann. Denn in den Krei­sen, mit denen mir vorgeworfen worden ist, Gemeinschaft zu haben, ja, da bin ich vielleicht schon genau ebenso, vielleicht noch viel übler be­handelt worden, als ich heute abend hier behandelt worden bin. Es ist doch etwas anderes, wenn man sich, wie ich, ja auch entsprechend durchgerungen hat; ich werde es auch weiter in dem kurzen Leben, das mir noch zur Verfügung steht. Ich habe mich aber jahrelang durchgerungen

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dadurch, daß ich mit den Proletariern gesprochen, mit den Pro­letariern gearbeitet, mit dem Proletariat mitgehungert habe. Ich habe nicht «Postbeamte gefragt, wieviel sie haben, um dabei verhungern zu können», sondern ich habe selbst mithungern müssen. Denn diejenige Familie, aus der ich herausgewachsen bin, war in einer viel übleren Lage, als vielleicht jene «Postbeamten» alle, die man heute fragen kann. Ich habe nicht allein gelernt, den Proletarier zu verstehen dadurch, daß ich über ihn denken lernte, sondern ich habe gelernt, den Proletarier dadurch zu verstehen, daß ich selber mit ihnen, mit den Proletariern ge­lebt habe, daß ich herausgewachsen bin aus dem Proletariat, mit dem Proletariat auch hungern lernte und mußte. Aus diesen Untergründen heraus spürte man schon dazumal, als ich jahrelang mit Arbeitern zu­sammenarbeiten konnte, daß ich nicht aus der Theorie, sondern aus einer ganz gehörigen Praxis heraus zu sprechen in der Lage bin. Ich glaube, das kann auch eine Grundlage dazu abgeben, ob man ein gewis­ses Recht hat, zu Proletariern zu sprechen oder nicht.

Das ist es, was ich zu der einen Sache sagen möchte.

Dann bezog sich ein großer Teil dessen, was der erste Redner vorge­bracht hat, ja eigentlich gar nicht auf mich, es bezog sich auf die Intellek­tuellen. Ja, da hat bereits der Vorsitzende gesagt: Wenn irgendeiner davon reden kann, daß er mit Schmutz beworfen worden ist, von den Intellektuellen mit Schmutz beworfen worden ist, dann daif ich es. Denn wahrhaft, wenn Sie nachgehen würden der Art und Weise, wie ich mit Schmutz beworfen worden bin, und namentlich der Art und Weise, wie dieser Schmutz ausschaut, dann würden Sie mich wahrscheinlich um den Umgang, wie ich ihn genossen habe mit den Intellektuellen, nicht beneiden.

Das ist eine persönliche Bemerkung; es sind überhaupt dies persön­liche Bemerkungen. Aber dasjenige, was mir erwidert worden ist, geht ja auch im Grunde auf das Persönliche, und deshalb mußte schon diese Bemerkung gemacht werden.

Nun, ein großer Teil bezog sich selbstverständlich überhaupt nicht auf mich, bezog sich auf die Studentenschaft. In bezug auf das letztere:

Glauben Sie, daß ich es durchaus nicht verkenne, daß ein großer Teil der heutigen Studentenschaft von dem Vorwurf mit Recht getroffen wird,

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daß nun sein Ideal das des untersten Lohnarbeiters nicht erreicht! Da könnte man selbstverständlich über dieses Kapitel sehr viel reden. Aber gerade der moderne Arbeiter sollte auf der anderen Seite verstehen, daß schließlich so, wie aus den Verhältnissen heraus die anderen Menschen-klassen sich gebildet haben, so schließlich auch der moderne Student sich aus den Verhältnissen heraus gebildet hat. Wer unbefangen verglei­chen kann das Streben innerhalb der modernen Studentenschaft, als Streben, mit demjenigen, was zum Beispiel innerhalb der Studenten­schaft angetroffen worden ist, als ich selbst - es ist lange her - unter die­ser Studentenschaft noch war, der wird sagen, daß allerdings mit Bezug auf die Gründlichkeit, in der gerade in den Niedergangserscheinungen des Bürgertums die moderne Professorenschaft drinnensteckte, von der die Studentenschaft selbstverständlich abhängig sein muß - mit Bezug auf dasjenige, was da als Beispiel voranleuchtete der modernen Studen­tenschaft, kann man doch für alle die Blüten, die immerhin gerade in der modernen Studentenschaft aufgehen nach dem Besseren hin, auch eine gewisse Befriedigung haben. Es werden ganz gewiß - wenn auch die Sache heute so ausschaut, als ob die Studentenschaft den Arbeitern in den Rücken fällt - gerade aus der Studentenschaft Mitarbeiter für die sozialen Ideale, ich glaube sogar in sehr reicher Zahl, hervorgehen. Der Student hat heute mancherlei zu überwinden. Man muß nicht vergessen, wie eisern die Klammern sind, mit denen man festgehalten ist. Ich habe gerade in letzter Zeit mannigfaltige Gelegenheit gehabt, auch mit jun­gen Studenten über Dinge zu sprechen, die vielleicht deren unmittelba­ren Ideal ferner liegen, aber die naheliegen demjenigen, was sich als ein gesundes Geistesleben im allgemeinen aus dem kranken Geistesleben heute herausentwickeln muß. Ich weiß, welche Empfänglichkeit in der Jugend für eine Erneuerung des Geisteslebens ist. Ich weiß aber auch, wie groß die Versuchung ist, wenn man die Begeisterung der Jugend hinter sich hat, die das Diplom erreicht hat und notwendig hat, inner­halb der modernen bürgerlichen Gesellschaft eine Stelle zu suchen, wie nahe da die Versuchung liegt, dann wiederum hinein zu versumpfen in das Philistertum, in das Spießertum.

Wir kommen natürlich nicht von heute auf morgen zu einer endgülti­gen Lösung desjenigen, was wir erhoffen und ersehnen. Aber das müßte

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doch erkannt werden, daß überall dort, wo eine solche Sehnsucht, ein solches verständiges Ersehnen desjenigen, was mit Recht der moderne Proletarier fordert, Platz greift, man es nicht niederdrücken sollte dadurch, daß man in einer gewissen fanatischen, dogmatischen Weise das eine mit dem anderen zusammenwirft. Ich glaube doch, daß dieses Dogmatische wenigstens bis zu einem gewissen Grade - wenn auch im modernen Kampfe die Mittel nicht allzu glimpflich gewählt werden können - weichen müßte der Gesinnung, von der ich in meinem Vor-trage gesprochen habe: daß es weniger ankommen sollte auf die Ver­schiedenheit der Gedanken, sondern auf die Gleichheit des ehrlichen Wollens.

Nun, fragen Sie einmal, wie viele von denjenigen, von denen Sie sagen, daß sie einem in den Rücken fallen, abhängig von den Verhältnis­sen sind, in die der moderne Student hineingestellt ist, und fragen Sie auf der anderen Seite aber auch, wieviel ehrliches Wollen gerade in der heu­tigen Jugend sich geltend macht. Pflegen Sie es lieber, statt daß Sie es dadurch, daß Sie ins Dogmatische fallen, geradezu lähmen.

Nun, was dann der zweite Redner zunächst vorgebracht hat, da kann ich ja sagen: Ich bin einverstanden mit dem Rufe, der da links gefallen ist, daß ja im Grunde genommen das nicht so sehr verschieden ist von demjenigen, was ich selber gesagt habe; und ich versteife mich nicht so sehr darauf, daß die Dinge gerade so gesagt werden, wie ich sie gesagt habe. Wenn irgend etwas, sagen wir, heute zur Besserung helfen kann, so bin ich erfreut darüber. Und ich will deshalb auch nicht mit etwas an­derem so scharf ins Gericht gehen, was vom zweiten Redner gesagt wor­den ist; ich möchte nur aber etwas richtigstellen, was immerhin darauf hinweisen kann, daß dieser Redner doch die Sache nicht so ganz genau genommen hat. Er hat zum Beispiel meinen Hinweis darauf, daß ich jah­relang in der Arbeiterbildungsschule gelehrt habe in Berlin, dahin ver­dächtigt, daß er sagte: Das wird wohl nur ein liberaler Bildungsverein gewesen sein. - Ich habe ausdrücklich gesagt, es war die von dem alten Liebknecht, von Wilhelm Liebknecht begründete Arbeiterbildungs­schule! Nun glaube ich nicht, daß Sie zuschieben dem alten Liebknecht, daß er einen x-heliebi gen Bildungsverein für die Arbeiterschaft begrün­dete,

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wie ihn die Arbeiterschaft in der damaligen Zeit auch gar nicht ent­gegengenommen hätte. Die Zuhörer waren nicht Menschen aus den «gewöhnlichen bürgerlichen Liberalen», sondern lediglich Arbeiter, lediglich aus den Kreisen der Proletarier und durch die Bank organi­sierte Sozialdemokraten!

So glaube ich, daß auch manche andere von mir gesprochenen Worte gerade von diesem Herrn Redner nicht in der richtigen Weise aufgefaßt worden sind, wie ich es eigentlich gewollt habe, und wie man es doch auch auffassen kann, wenn man nicht von vornherein mit einem Vorur­teil nicht nur dann kommt, wenn der andere eine andere Meinung hat, sondern sogar, wenn er das, was man selber meint, nur in einer etwas anderen Form ausspricht, weil er glaubt, daß es eben notwendig ist, daß heute in diesem weltgeschichtlichen Augenblick die Dinge umfassender genommen werden müssen, und weil er glaubt, daß nicht jeder heute ein Praktiker genannt werden könnte, der nur nach dem Allernächsten ur­teilt, sondern derjenige der wahre Praktiker ist, der größere Verhältnisse überschaut.

Was die Auffassung der Frage des «Aufrufes» betrifft, wo daraufhin-gewiesen worden ist, daß das fast wörtlich übereinstimme mit dem, was ich Ihnen heute Abend gesagt habe - Sie werden sich nicht wundern dar­uber, da Sie ja gehört haben, daß der «Aufruf» von mir selber verfaßt worden ist, und Sie werden nicht von mir verlangen, daß ich, wenn ich da oder dort etwas spreche, wenn ich also etwa spreche zu Bürgerlichen, daß das anders lauten soll als das, was ich hier sage vom Podium aus.

Einwurf: Entweder überall gleich, oder...

Das sage ich ja gerade: Ich sage: in dem «Aufruf» steht dasselbe, was ich hier gesagt habe. In jenem «Aufruf» steht nirgendwo etwas anderes, als was ich hier gesagt habe.

Mir kommt es daraufan, daß dasjenige, was ich sage, in meinem Sinne die Wahrheit ist, und ich werde die Wahrheit an jedem Orte sagen, wo es mir gestattet ist, die Wahrheit zu sagen. Ich spreche nur die Wahrheit aus, darauf kommt es mir an. Das ist es, was ich in dieser Beziehung zu sagen habe. Ich werde niemanden ausschließen von irgend etwas, wenn

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er es mit seiner Überzeugung vereinen kann und zu dem Ja sagt, was ich selber sage. Denn ich glaube, dadurch kommen wir allein auf einen grü­nen Zweig, daß wir die Wahrheit aussprechen, unbekümmert darüber, welchen Eindruck sie auf die Menschen macht, ob sie unterschreiben oder nicht. Das ist es, was ich dazu sagen wollte.

Und dann möchte ich nur noch zum Schlusse das eine bemerken, das sich bezieht auf das, was der nächste Redner gesagt hat: Ich hätte nichts über die Kampfesweise gesagt. - Aber aus meinen Worten konnten Sie uberall entnehmen, wie ich über diese Kampfesweise eigentlich denke. Ich glaube es genugsam angedeutet zu haben, daß es nicht meine Mei­nung ist, daß es heute auf eine oberflächliche Verständigung, oder wie die schönen Dinge alle heißen, ankommen kann. Heute sind wir einge­rückt in ein Tatsachenstadium, wo in der Tat nichts anderes möglich ist, als daß wir nicht bloß zu leeren Anschauungen kommen, wie die Dinge gewandelt werden müssen, sondern dadurch, daß wir zur Anschauung kommen, welche neuen Gedanken wirklich möglich sind, in die Seelen der Menschen hineinzubringen. Denn die alten Gedanken haben eben gezeigt, was für eine soziale Ordnung sie zustande bringen können, und diesen alten Gedanken ist damit der Beweis geliefert, daß sie unbrauch­bar sind. Deshalb glaube ich, daß es sich zunächst, zu allernächst, für das allernächst Praktische darauf ankommt, daß diejenigen, die ehrliches soziales Wollen haben, sich vor allen Dingen einmal verständigen über dasjenige, was geschehen kann.

Wir stehen heute in der Schweiz - ich weiß nicht, ob man da sagen soll «Gott sei Dank» oder «leider» - noch in Verhältnissen drinnen, die nicht so sind, wie in mittel- und osteuropäischen Verhältnissen es ist. Mittel-und Osteuropa steht ja in Verhältnissen drinnen, die wirklich nur bewäl­tigt werden können durch Anknüpfen an die Urgedanken des sozialen Organismus. Und wenn da nicht der Versuch gemacht wird, daß zu­nächst unter dem Proletariat selber die fundamentalen Fragen bespro­chen werden, wie nun aus diesem Chaos heraus durch die einfachsten Organisationen, die aber alle den Charakter tragen müssen, meiner Ansicht nach, jener Dreigliederung des sozialen Organismus - wenn nicht unter dem Proletariate selbst die Gesundung dadurch herbei­geführt wird, daß Organisationen neu geschaffen werden, nach neuen

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Gedanken, so sehe ich überhaupt zunächst für Jahrzehnte hinaus kein Heil.

Beginnen wird man müssen zunächst vor allen Dingen mit dem, was Ihnen vielleicht als unwesentlicher Punkt erscheint: Zuerst müssen wir einsehen, daß wir nicht nur gegenüberstehen bürgerlichen Einrichtun­gen, bürgerlichen Zuständen, sondern daß wir gegenüberstehen einer bürgerlichen Wissenschaft.

Das habe ich im Berliner Gewerkschaftshaus vor sechzehn Jahren ge­sagt, und das wurde selbst innerhalb des Proletariats richtig verstanden. Das Proletariat hat noch die Aufgabe, dasjenige, was in seinem Denken von bürgerlicher Wissenschaft ist, zunächst auszutreiben, und nicht im Sinne der bürgerlichen Wissenschaft irgendwelche Einrichtungen zu treffen, sondern im Sinne gerade jener Art neuer Gedanken, die viel­leicht nur von dem Proletariat eben gefunden werden können, weil das Proletariat emanzipiert ist von allen übrigen menschlichen Zusammen­hängen, in denen leider die bürgerlichen Menschen drinnenstehen.

Daher handelt es sich heute vor allen Dingen darum, daß das, was Ihnen vielleicht als das Unwesentlichste erscheint, die Emanzipation des geistigen Lebens, die Freiheitsentwickelung des geistigen Lebens, durchgeführt werde. Kommen wir dazu, ein wirklich freies Geistesle­ben zu haben, kommen wir dazu, daß nicht mehr eine Wissenschaft, die dem Kapitalismus tributpflichtig ist, den Ton angeben kann, bis in die Kreise des Proletariats hinein den Ton angeben kann, dann erst gehen wir einer Gesundung entgegen. Nicht eine Verengerung im bürger­lichen Sinne, nicht eine Verengerung will ich, sondern gerade eine Er­weiterung der proletarischen Aufgaben.

Und ich habe den festen Glauben - mögen Menschen, die von dem Gesichtspunkte aus, den ich ganz gut verstehen kann, reden, wie der zweite Redner, noch soviel dagegen einwenden, daß man nicht versteht Satz für Satz, was ich gesagt habe -, ich habe den festen Glauben, den ich mir durch ein langes Leben unter dem Proletariat erworben habe, daß dasjenige, was ich gesagt habe, zunächst nicht von den anderen Klassen, sondern gerade vom Proletariat verstanden werden wird. Und es muß leider gewartet werden, bis es vom Proletariat verstanden werden wird. Ich glaube aber, da wird es verstanden werden können.

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Und in diesem Gedanken, möchte ich sagen, kann ich auch mit einer gewissen Zufriedenheit zurückblicken auf dasjenige, was heute abend von mir erreicht werden wollte. Ich habe Sie wahrhaftig nicht bis ins Wort hinein in allen Einzelheiten überzeugen wollen. Dazu achte ich zu sehr Ihre freie Persönlichkeit; dazu achte ich zu sehr eines jeden freies Einverständnis. Aber ich habe den Glauben, daß unter Ihnen viele sind, die noch anders denken werden über dasjenige, was ich gesagt habe, als Sie schon heute gedacht haben. Und dieser Glaube ist es eben, wovon ich annehme, daß er dazugehört zur Gesundung des sozialen Organis­mus.

AUFZEICHNUNGEN ZU DEN ZÜRCHER VORTRÄGEN ÜBER «DIE SOZIALE FRAGE»

#G328-1977-SE174 Die soziale Frage

#TI

AUFZEICHNUNGEN

ZU DEN ZÜRCHER VORTRÄGEN ÜBER

«DIE SOZIALE FRAGE»

#TX

Zu den nachstehenden Aufzeichnungen: Mit Ausnahme der Materialien für den vierten Vor­trag vom 12. Februar 1919 sind die auf diese Vorträge bezüglichen Notizbucheintra­gungen (Nb 97 und 130) nicht von Rudolf Steiner selbst datiert. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß sie die gedankliche Grundlage für eine Reihe von Vorträ­gen mit gleicher Themenstellung an verschiedenen Orten innerhalb kurzer Zeitab­stände bildeten, von denen in dem vorliegenden Band jedoch nur die in Zürich gehalte­nen abgedruckt sind. Die zur leichteren Orientierung eingefügten Daten sind, wie es grundsätzlich bei allen Zusätzen des Herausgebers geschieht, in eckige Klammern ge­setzt.

In den Aufzeichnungen zum zweiten Vortrag vom 5. Februar ist unter Punkt 13 ein Zitat aus dem sechsten Vortrag des Wiener Zyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», Bibl.-Nr. 153, angeführt. Dieses Zitat findet sich nicht in der Nachschrift der Zürcher Vorträge, ist jedoch in der Schrift «Die Kern­punkte der sozialen Frage» Kap. IV sowie in einer Reihe von Vorträgen der folgenden Wochen und Monate enthalten. In den Aufzeichnungen zum Vortrag vom 10. Februar beziehen sich die drei letzten Absätze auf die Schrift von Woodrow Wilson «Die neue Freiheit», deutsch München 1914.

Das Konzept für den Vortrag vom 8. März befindet sich im Archiv unter der Nr.5462/63.

I. Die wirkliche Gestalt der sozialen Fragen, erfaßt aus den Lebens-notwendigkeiten der gegenwärtigen Menschheit (auf Grund gei­steswissenschaftlicher Untersuchung).

II. Die vom Leben geforderten wirklichkeitsgemäßen Lösungsversu­che für die sozialen Fragen und Notwendigkeiten (auf Grund gei­steswissenschaftlicher Lebensauffassung).

III. Schwarmgeisterei und reale Lebensanschauung im sozialen Denken und Wollen.

IV. Die Entwicklung des sozialen Denkens und Wollens und die Lebensfrage der gegenwärtigen Menschheit.

Diese Vorträge wollen von einem Gesichtspunkte, welcher der vollen Lebenswirklichkeit durch geisteswissenschaftliche Denkungsart und Forschung

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Rechnung trägt, und durch eine nach Worurteitslosigkeit stre­bende allseitzge Erfassung der wahren gegenwärtigen Menschheitsbedürfnisse die sozialen Fragen und Notwendigkeiten erörtern. Sie wollen als Tatsa­che geltend machen und ins Auge fassen, daß nur eine solche Erörterung Verständnis der wirklichen Lebensforderungen auf diesem Gebiete an die Stelle von Mißverständnis auf demselben; fruchtbare Arbeit an Stelle von unfruchtbaren, unpraktischen und die Entwicklung hem­menden Debatten und Bestrebungen treten lassen kann; daß auch nur in solcher Betrachtungsart das im Menschen wesenhaft begründete Frei­heitsbewußtsein mit den Notwendigkeiten des sozialen Zusammenle­bens vereinigt gedacht und durch sie verwirklicht werden kann.

[Zürich, 3. Februar 1919]

Die wirkliche Gestats der sozialen Fragen, erfaßt aus den Lebensnotwendig keiten der gegenwärtigen Menschheit.

I. Die Katastrophe hat die in den sozialen Tiefen vorhandenen Kräfte an die Oberfläche geworfen. In die Kriegsursachen haben sie hineinge-spielt.

2. Man redet von der «sozialen Frage»; man isoliert sie und uriversali­siert sie. Aber sie steht im wirklichen Leben nicht isoliert da. Sie wurde nur isoliert, weil die anderen beiden Glieder im gesellschaft-lichen Organismus, mit denen sie verknüpft ist, verkümmert sind. Nirgends tritt die wahre Gestalt der sozialen Fragen auf. Die Forde­rungen treten auf. Aber die schöpferischen Kräfte zur Lösung sind nicht da.

3. Die auftretenden Forderungen steigen aus verschiedenen Gebieten auf: aus dem Wirtschaftsleben = ob die Produktion im Einklang ist mit dem Bedarf. Aus dem Gefühle der Menschenwürde = ob die menschliche Arbeitskraft Ware sein darf? Aus dem Verständnis für soziale Gemeinschaft: Die Brücken sind abgeschlagen. Man versteht über die Klassen hinweg einander nicht. Man hat nur Vertrauen zum Klassenkampf. Die naturwissenschaftliche Denkungsart hat nur Ver­ständnis für das bloße Wirtschaftsleben. Das geistige Leben ist für das Proletariat zur bloßen «Ideologie» geworden.

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Herrschaft des Kapitals. Abhängigkeit. Die Krisen. Produziert, damit profitiert werde. Sozialismus wie eine Religion.

Der Sozialismus als Lehre wegen der mangelnden sozialen Impulse des Lebens. - Die letzteren waren (auf ihre Art) früher besser vorhanden als jetzt.

Der Sozialismus hält sich für eine «wissenschaftliche Lehre» und eine Weltanschauung.

1. Die Wirtschaft bestimmt den geschichtlichen Zustand. Alles Übrige, Recht, Sitte, Sittlichkeit, ideologischer Überbau.

Sklaverei, Feudalität, Privatkapitalismus. 2. Der Arbeiter erzeugt den Profit.

3. Alle Geschichte ist Geschichte von Klassenkämpfen.

Als die früher von der Bildung ausgeschlossene Klasse in die Bildungs-sphäre einrückte, hatte die Bildung ihre Stoßkraft verloren: man nahm die religiöse Nuance der Bildung nicht mehr auf. Weil vorher diese reli­giöse Nuance keine Wirkung auf den naturwissenschaftlichen Gedan­ken zu üben vermochte.

I. Die kriegerische Katastrophe hat nach den verschiedensten Seiten hin das Drängende der sozialen Frage geoffenbart. Sie war vorhanden im Bewußtsein der proletarischen Bevölkerung. Aber sie hat dazu ge­führt, auf eine Lösung zu verzichten. Man muß in der Lage sein, psy­chologisch zu beobachten, was in der Seele der prolet. Bevölkerung lebt.

2. Der «wissenschaftliche» Charakter des modernen prolet. Klassenbe­wußtseins. Das bezeugt, daß mit dem Aufsteigen der prolet. Bewe­gung die Art zusammenhängt, wie der Proletarier denken lernte. Er lernte «naturwissenschaftlich» denken. Das brachte ihn dazu, auf die bloße wirtschaftliche Entwicklung zu sehen. Er lernt das Wesen der Warenproduktion kennen.

3. Nun vermeint er, auch seine Grundforschung gehe aus wirtschaft­lichen Impulsen hervor. Doch besteht sie darin, daß die Arbeitskraft als Ware in den kapitalistischen Produktionsprozeß verschlungen worden ist.

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4. Das geistige Leben ist der prolet. Persönlichkeit zur «Ideologie» ge­worden.

5. Dadurch wird verdunkelt, was aus den Lebensnotwendigkeiten folgt: Das Wesen der Weiterentwicklung der Menschheit. Das Wesen des sozialen Organismus. -Spiel Beschäftigung nach freier Wahl; Arbeit durch Notwendigkeit, Pflicht, Willen eines Anderen.

Verkürzung der Arbeitszeit: man strebt sie an, während man die Befrei­ung von langandauernder Abhängigkeit meint.

Wenn das. geistige Leben mit den beiden andern Gliedern des sozialen Organismus vermengt wird, so fehlt diesem die Zuströmung dessen, was ihn belebend im Werden erhält.

Das wirtschaftliche Leben steht unter Gesetzen, die fortwährend den sozialen Organismus stagrierend machen.

Die wirkliche Gestats der sozialen Fragen, erfaßt aus den Lebensnotwendig keiten der gegenwärtigen Menschheit.

i. Wie die soziale Frage am Ausgangspunkte und im Verlauf wie ein Faktor da stand, mit dem man rechnete.

2. Nun lastet etwas auf einem Teile Europas wie ein tragischer Zug:

man steht vor der Notwendigkeit, ein Urteil zu gewinnen, das in die

Tat übergehen kann = man kann wohl doch kaum zugeben, daß ein

solches Urteil sich zeigt.

3. Eines tritt in der prolet. Bewegung zu Tage: sie verleugnet den Ge­danken und doch: sie ist im eminentesten Sinne eine Gedankenbe­wegung.

[Auf der gegenüberstehenden Seite:]

Nur derjenige wird gewachsen sein der Zeit, der imstande ist, sein Urteil umzuwandeln -Die alten Programme sind noch da; aber die Tatsachen haben sich so gründlich geändert, daß man sich innerhalb dieser Tatsachen wie mumi­fiziert ausnimmt -

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Das Leben stellt überall neue Forderungen -Die Kriegskatastrophe ist wie der letzte Akt, in den die menschlichen

Impulse ausgelaufen sind; was sie zurückgelassen haben, das wird ein neues Verständnis der Dinge notwendig machen.

[Fortlaufcndcr Tcxt:]

4. Doch sie weist auf ganz andere Impulse als die in den Gedanken aus­gesprochenen.

Im Mittelpunkte steht für den, der das Leben beobachten kann und der mit dem Proletariat gelebt hat: der proletarische Mensch mit sei­nem «Klassenbewußtsein».

5. Aber dieses «Klassenbewußtsein» ist doch nur eine Maskierung. Es ist in Wahrheit das Menschheitsbewußtsein erwacht an der Maschine und innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

6. Und es ist letzten Endes doch nicht der Wirtschaftsgegensatz zwi­schen dem Bürgertum und dem Proletariat, sondern ein Nichtver­stehen, das andere Grundlagen hat. Der Bürger sieht Hauptmanns Weber an. Was er dabei wahrnimmt, ist sein Mißverständnis.

7. Der von der Welt an der Maschine isolierte und in den Kapitalismus isoliert eingespannte proletarische Mensch ringt sich zu dem moder­nen Denken (z.B. Marx) auf.

8. Dieses Denken hat die Stoßkraft verloren, um in seinem Erkennen eine Menschheitsempfindung zu zeitigen. Mit diesem Denken kann man nur die ökonomische Ordnung verstehen.

9. Dieses Denken ist noch nirgends als selbständige Macht aufgetreten. Es ist untergetaucht in die Staatsgebilde.

10. Daher innerhalb des prolet. Denkens die «Ideologie».

11. Die Meinung von der Grundforderung - Arbeitskraft soll nicht Ware sein. Diese Frage an die Politik. So wird die Unglekhheit empfunden.

12. Das Kapital verfälscht die Beziehung des Menschen zum Wirt-schaftsprozeß. Es ist der Wirtschaftsprozeß, welcher die Kapitalver-mehrung bewirkt - der Mensch steht ihm machtlos gegenüber. Es ist die Verleugnung der menschlichen Brüderlichkeit.

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1) Geistig = die Liebe zur Sache

2) politisch = der Wille zum Recht

3) wirtschaftlich = das Begehren nach dem Nutzen (Zweck). (Das

Interesse am Nutzen, Nutzwert)

[Auf der gegenüberstehenden Seite zu Punkt 12]

Der Kapitalismus geht auf Mehrwert-Profit; das ist die Wurzel des Glaubens an einen andern Effekt. -Das Elend, das Übel ist nicht im Wesen des Menschenlebens begründet

- es kann nur aus den Einrichtungen kommen -: das weiß der Proleta­rier (vielleicht unbewußt) - Man kann sich über seinen Organismus nicht freuen; aber man erleidet Schmerz, wenn er in Unordnung ist -Jeder, der behauptet: das Elend sei notwendig, wird von dem Proleta­rier nicht ernst genommen. Gesund hindert der soziale Organismus nicht die Entfaltung von Glück und Freude. Der Wirtschafts-Körper kann gestört nur von den andern Körpern werden.

[Zürich, 5. Februar 1919]

Die vom Leben gefo rderten wirkllchkeitsgemäßen Lösungsversuche für die sozia­len Fragen und Notwendigkeiten.

i. Man hat im sozialen Denken den Blick gerichtet auf die wirtschaft­liche und technische Entwicklung der neueren Zeit. Man hat aber nicht beachtet, daß innerhalb dieser Entwicklung eine Lebensform und Lebensnotwendigkeit erwacht sind, welche richt durch eine bloße Ordnung des Wirtschaftslebens in die rechten Bahnen gelenkt werden können.

[Auf dcr gegenüberstehenden Scite:]

Es sollen nicht die aus einseitigen Lebensverhältnissen hervorgehenden Impulse geltend gemacht werden, sondern die wirklichen Lebensnotwen­digkeiten. Was nützt es, wenn Eine Klasse dem sozialen Organismus das Gepräge gibt und sie eben dadurch die Gegenwirkung hervorruft, daß eine andere Klasse sich bildet, die störend wirkt.

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[Fortlaufender Text :]

2. Die kapitalistische Wirtschaftsform hat aus sich herausgetrieben jeden Impuls, der aus anderen Lebensgrundlagen kommt als aus dem Wirtschaftsleben selbst.

3. Die sozialistische Denkart des Proletariats hat allen Glauben daran verloren, daß eine Erreichung des menschenwürdigen Daseins für es auf eine andre Art als durch eine Ordnung der rein wirtschaft­lichen Verhältnisse erreicht werden könne.

4. Allein das wirtschaftliche Leben umfaßt nur ein Glied des gesamten sozialen Organismus. Und wird der Mensch in ein bloß nach wirt­schaftlichen Grundlagen geordnetes Leben hineingestellt, so muß seine Gesamtwesenheit verkümmern.

5. Es wird gerade übersehen, daß die neuere Zeit in dem privatwirt­schaftlichen Kapitalismus die beiden anderen Glieder des sozialen Organismus unterjocht hat.

6. Man muß diese beiden andern Glieder wieder befreien. Man muß lernen an der Betrachtung des natürlichen Organismus auch die Lebensnotwendigkeiten des sozialen richtig anzuschauen. Wenn man einfach die Gesetze, die man glaubt für den natürlichen Orga­nismus erkannt zu haben, auf den sozialen übertragen zu können [glaubt], so beweist man nur, daß man nicht in der Lage ist, den sozialen Organismus aus seinen eigenen Lebensnotwendigkeiten heraus anzuschauen.

7. Wie man den natürlichen Menschenorganismus betrachten soll.

8. Wie man den sozialen Organismus betrachten soll: bei ihm ist die mit den Naturgrundlagen zusammenhängende Produktion ähn­lichen Gesetzen unterworfen wie beim Menschenorganismus die natürlichen Begabungen. Man kann nicht die natürlichen Begabun­gen unmittelbar durch Lernen hervorbringen; man kann nicht durch eine soziale Einrichtung ändern, daß die Produktion des Bananenlebensmittels mit Bezug auf das Erträgnis der Arbeit zu der Produktion des Weizenlebensmittels [sich] wie 400:3 verhält. Man kann nicht ändern durch eine soziale Ordnung, daß in Deutschland der Weizen das Sieben- bis Achtfache der Aussaat ergibt, in Chile das l2fache, in Nordmexiko das l7fache; in Peru das 20 fache, in Südme­xiko

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das 25-35 fache. Aber wenn der soziale Organismus nach seinen eigenen Gesetzen in Ordnung ist, dann wird die Produktivität eines Gebietes daraus ebenso folgen, wie die Begabungen des natürlichen Menschenorganismus richtig hervortreten, wenn das Erziehungssy­stem richtig wirkt.

9. Gesund ist der soziale Organismus nur, wenn er in die selbständigen Glieder zerfällt:

1) das wirtschaftliche Glied, das den Menschen mit der Naturgrund­lage zusammen läßt. Es muß ein halbpersönliches Verhältnis des Menschen sein zu den Urfaktoren der Produktion.

2) das rechtliche Hier ist das Gebiet, wo gesundes demo­

Glied, das alle kratisches Empfinden seine Fruchtbarkeit

Menschen gleich erweisen könnte. Der jetzt schon alte

vor dem Gesetz Liberalismus hat es nicht verstanden. Die-

behandelt, in dem ses Glied kann eben nicht solche Gesetze

ein völlig unper- liefern, welche das geistige und das Wirt­

söniiches Verhält- schaftsleben regeln.

nis walten muß.

3) das geistige Gebiet, Vergiftet worden der Inhalt durch das Be­

das jeden einzel- gehren dessen, was nicht zum Inhalt ge­

nen Menschen frei hört: Position - oder durch das Durchset­

läßt mit Bezug auf zenwollen einer Tendenz = Partei: kon­

seine persönliche servativ, liberal etc.

Entwicklung. Da Wer hat denn eine Barrikade vor die gei­

muß das persön- stige Welt gestellt, so daß diese nicht mehr

lichste Element gesehen werden kann?

walten können.

10. Diese Glieder müssen im Leben zusammenwirken, nicht durch eine abstrakte Einheit. Die Vertretungen der einzelnen Glieder müssen sorgsam wachen können über ihre Selbständigkeit. Es wird nicht können konfundiert werden die menschliche Regelung der Arbeits­verhältnisse dadurch, daß durch die Hereinnahme des wirtschaft­lichen Lebenselementes in das zweite Glied die menschliche Arbeits­kraft

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zur Ware und ihr Wert zum Warenwert wird. Es wird das Wirt­schaftsglied nur mit Warenerzeugung, Warenzirkulation und Warenkonsum zu tun haben; das politische Gebiet wird nur zu tun haben mit alledem, worinnen alle Menschen gleich sind. Das Geist­gebiet wird es zu tun haben mit alledem, worinnen alle Menschen gleich sind. Das Geistgebiet wird es zu tun haben mit der Sphäre der Freiheit, mit dem, was nur unter der freien Entfaltung der individu­ellen Impulse gedeihen kann.

11. Erfahrungen, welche während der Kriegs katastrophe mit diesen Anschauungen gemacht worden sind. Wie über sie gesprochen wor­den ist. Wie man nicht die Brücke gefunden hat vom theoretischen Verständnis zum praktischen Wollen. Man hat darauf gerechnet, daß die bitteren Erfahrungen diese Impulse bringen könnten.

12. Man schreckt zurück, indem man dasjenige, was die Wirklichkeit fordert, entweder für radikal hält: man möchte den Organismus hei­len vor den Erscheinungen z.B. der Geschlechtreife. Oder man hält diese Dinge für Ausflüsse eines unpraktischen Idealismus.

13. Man hat die Erfahrung gemacht, daß diese Dinge immer nur für in­nere Angelegenheiten gehalten werden. Sie sind aber die Grundla­gen für die äußeren Verhältnisse der Staatsgebiete. Diese müssen einander durch die selbständigen Glieder des sozialen Organismus gegenübertreten. Dann korrigieren sich die Nachteile des einen Ge­bietes durch die Eigenheiten des anderen. Während das Konfundie-ren zu den Konflikten und Katastrophen führen muß, deren größte im Jahre 1914 ihren Anfang genommen hat.

In Wien: «Diese Tendenz wird immer größer und größer werden, bis sie sich in sich selber vernichten wird. Da schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt, überall, wie furchtbare Anlagen zu geistigen Geschwürbildungen aufsprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für denjenigen, der das Dasein durchschaüt; das ist das Furcht­bare, was bedrückend wirkt und was selbst dann, wenn man allen Enthusiasmus sonst für Geisteswissenschaft unterdrücken könnte, wenn man unterdrücken könnte, was sonst den Mund öffnet für Gei­steswissenschaft, was einen auch dann dahin bringen müßte, das Heilmittel

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der Welt gleichsam entgegenzuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker werden wird. Wenn der soziale Organismus so sich weiter entwickelt, wie dies bisher geschehen ist, so entstehen Schäden der Kultur, die für den sozialen Organismus dasselbe sind, was die Krebsbildungen für den mensch­lichen natürlichen Organismus sind.»

[Zürich, 10. Februar 1919]

III. Schwarmgeisterei und reale Lebensanschauung im sozialen Denken und Wollen.

Materialien.

1. Die Freiheit kann nur sich entwickeln auf Grund eines in voller Selb­ständigkeit sich entwickelnden geistigen Lebens. Denn das freie Ent­falten der Kräfte beruht auf den Denkimpulsen, die sich ergeben, wenn das geistige Leben seine Eigenregulierung hat. -

2. Alle besonderen Verhältnisse ergeben sich aus der naturgemäßen Gliederung des sozialen Organismus: die assoziative Organisation der Wirtschaftssphäre. Das Verhältnis des Menschen zur Natur-grundlage ergibt Koalitionen und Assoziationen, die miteinander in sachgemäße Verbindung treten. Hier ist bestimmend die Wertbildung. Hier wird maßgebend der Vertrag.

das Rechtsverhältnis: Es liegt zu Grunde das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Bestimmend wirkt das Recht. Es ergibt sich dadurch, daß derjenige ein Recht «mit Recht» hat, der in den sozialen Organismus zum Gedeihen der andern eingreift. Nicht die Macht entscheidet, son­dern das Maß, in dem die Betätigung eines Menschen in den sozialen Organismus eingreift.

das geistig-individuelle Leben. Bestimmend wirkt die Freiheit, mit der sich die seelische und geistige Begabung entfalten kann.

so ergibt sich in Wirklichkeitslogik: Steuersystem, Geldbedeutung, Beziehung von Kapital zu Geld etc.

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Bestimmend werden:

I. Auf dem Wirtschaftsgebiet: das System der aus Opportunität hervor­gegangenen Verträge.

2. Auf dem politischen Gebiete: das System der öffentlichen Rechte.

3. Auf dem geistigen Gebiete die freie Konkurrenz der Begabungen und entwickelten Kräfte und Betätigungen.

Grund und Boden: er wird in einem Realverhältnis stehen müssen zu dem Bearbeiter; aber dieses Verhältnis wird nicht ein solches sein dür­fen, das den allgemeinen sozialen Organismus schädigt.

Alles, was die Erhöhung des Ertrages des Bodens niedriger stellt als das Recht auf diesen Ertrag, wird ausgeschaltet: Hypothekenrecht die Prio­rität-Das Kapital kann nicht liegen in Werten (Pfandbriefen und Hypothe­ken), denen die hohen Bodenpreise als Deckung dienen.

Vermögenbildung ohne die Zusammenbindung des Vermögens mit dem sozialen Prozeß muß zum Unheil ausschlagen. Wenn jemand seine Erfindergabe in eine Maschine gesteckt hat, so stecken in ihr doch nicht bloß seine, sondern die Impulse der Allgemeinheit.

In die Wirtschaft darf die Arbeitskraft erst einfließen, nachdem sie ihre Grenzen gefunden hat aus dem Rechtsverhältnis heraus. Ein Produk­tionszweig, der eine unmögliche Arbeitsleistung erfordert, darf ebenso­wenig als statthaft gelten wie einer, dessen Rohprodukte zu teuer zu ste­hen kommen.

Woher rührt die Schwarmgeisterei? Von der Loslösung des einen Zwei-ges des Denkens von dem andern.

Der Merkantilismus hat kein Bewußtsein davon, wie in das Wirtschaftsle­ben eingreift, wenn man die Staaten zu Handelszentren macht - (Colbert 1619-1687; Cromwell, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große). Ab­schließen der Länder gegeneinander.

Die Physiokraten: das wirtschaftliche Leben ganz von Naturgesetzen be­herrscht, die frei walten sollen.

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Quesnay: 1. Produktivität des Bodens

2. Unproduktivität des Handels und der Industrie. einzige Steuer: landwirtschaftliche Ertrags teuer.

3. Ohne Nutzen ist die künstliche Geldvermehrung.

4. Laisser faire, laisser aller.

Es scheint an dieser Anschauung sehr vieles richtig - Woran liegt ihr Ungenügendes? -

I. Man wird die Steuer nur richtig orientieren, wenn man davon aus­geht: in dem Augenblicke, in dem ich in den sozialen Organismus mit meiner Tätigkeit eingreife, stelle ich auf den Markt, was ich der Allge­meinheit verdanke: also muß ich steuern. Bezahle ich ein Industriepro­dukt, eine Handelsleistung, so muß ich steuern für die Möglichkeit, mich in den sozialen Organismus hineinzustellen. In jedem Falle muß der Genießer die Steuer bezahlen. Führt das nicht zum Drücken der Preise? Doch nur dann, wenn der Produzent sich drücken lassen kann -nicht aber, wenn das nicht der Fall ist.

III. Schwarmgeisterei und reale Lebensanschauung im sozialen Denken und Wollen.

i. Man muß immer wieder darauf zurückkommen: das gegenseitige Sich-nicht-Verstehen der alten führenden Klassen und der neu auf­strebenden ist eines der größten Hemmnisse des gegenwärtigen sozia­len Lebens. Man versteht in den ersteren Kreisen das «proletarische Denken» gar nicht. Man hat, aus seinen Denkgewohnheiten heraus, kein Mittel, zu verstehen, wie dieses Denken zur Kritik geworden ist des vom Bürgertum Entwickelten. Aber eben nur «Kritik», nicht die Vertretung eines Impulses, der sich verwirklichen will. «Was kom­men wird, muß sich zeigen, wenn das Proletariat die Herrschaft er­rungen haben wird.»

2. Man muß zu der Erkenntnis kommen: die Denkgewohnheiten der neuen Zeit erzeugen nicht Gedanken, welche eingreifen können in das Gewebe der tatsächlichen wirtschaftlichen Faktoren und Kräfte -

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in den meisten Fällen versumpft das Denken gegenüber diesen Kräf­ten in Schwarmgeisterei -

3. Diese Schwarmgeisterei erzeugt die einzelnen Utopien; aber schlim­mer als das Aufstellen von Utopien ist die utopistische Denkungsart. Gerade die sogenannten «Praktiker» haben in der neuesten Zeit die utopistische Denkungsart zu der ihrigen gemacht. - Vor allen Dingen kommt das Streben nach dem Glück in Betracht. -

4. Das moderne Denken hat die Fähigkeit verloren, unterzutauchen in die Wirklichkeit. Es handelt sich darum, in dem Seelenleben die «in­neren Kräfte» zu lösen, denen sich dann die volle Wirklichkeit ergibt.

5. Dazu muß das «geistige Leben» auf die volle Freiheit auch im Leben gestellt sein. Diese Freiheit kann nie erreicht werden, wenn Aufsicht oder Verwaltung von seiten des politischen Gliedes des sozialen Organismus da ist.

6. Der Rechtsorganismus kann nicht Wirtschafter sein, und er darf auch nicht mißbraucht von dem Wirtschaftsorganismus sein. Er würde sich als Gesetzgeber notwendig begünstigen müssen. In diesem Organis­mus muß der Mensch als Mensch wirken.

Grundgesetz: der Mensch kann nur «für Andre» arbeiten.

[Auf der gegenüberstehenden Seite :]

Dieser Organismus muß die Wirtschaft begrenzen können; er muß sie beleben können = sie bewegt sich so, daß sie den Menschen verbraucht; sie kann ihn niemals beglücken; er muß ihr entrissen werden können. - Die Grundlage des Rechtes nicht Macht, sondern das Ersprießliche für die All­gemeinheit. - Dem kommt ein Recht zu, der den Willen hat, das mit dem Recht Begründete in den Dienst der Gesamtheit zu stellen.

In Bezug auf die äußere Politik - Der Weltkrieg hat gezeigt, daß man sich auf Grund einer Internationale doch nicht finden kann, wenn sie vorwiegend auf wirtschaftlicher Grundlage ruht.

Es ist davon gesprochen worden, daß nicht Völker können verschachert werden wie Waren; vor allem kommt dies für den Menschen in Be­tracht.

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[Fortlaufender Text :]

7. In dem ökonomischen Organismus muß die Verbindung des Men­schen mit den Bedingungen der Produktion, des Handels, des Kon­sums geltend sein. Da spielt hinein z.B. die Arbeitskraft, die nur aus der Warenzirkulation ausschalten kann, wenn sie ihr von der Einen Seite her zu Grunde liegt und mitbestimmend ist.

Wie durch die elementarischen Weltereignisse die wirtschaftlichen Impulse bestimmt werden: die Türken erscheinen in Konstantinopel, Europas Wirtschaft muß die Richtung nach dem Osten aufgeben.

Witson sagt: mit der Entdeckung Amerikas wurde der europäischen Menschheit möglich: «ein neues geschichtliches Experiment anzustel­len».

Witson: «Die Freiheit des Menschen besteht in dem richtigen Ineinan­dergreifen der menschlichen Interessen, des Handels und der Kräfte.»

Das ökonomische Leben erfordert Anpassung des Menschen an die In­teressenbefriedigung des Ganzen: die Aufhebung der Freiheit; wenn das Schiff sich in der Windrichtung bewegt, bewegt es sichfrei! Wenn es dagegen strebt, ist es gefesselt! Aber so ist es nur frei dadurch, daß es ein Glied in einem Zusammenhang ist - hätte es Bewußtsein, so könnte es nur glauben, frei zu sein, solange als es nicht bemerkt, daß es sich seiner ursprünglichen Freiheit entäußert hat, um im Zusammenhang nicht ge­hemmt zu sein. Der Proletarier könnte glauben, frei zu sein, wenn er sich so betätigt, daß seine Tätigkeit den Interessen des Unternehmers ange­paßt ist - aber er hört auf, in diesem Glauben zu leben, wenn er gewahr wird, daß dies seinen Interessen widerspricht. Das Schiff kann nur «frei» genannt werden, wenn es auch im gegebenen Augenblick nicht dem Wind zu folgen braucht; sondern seine Richtung umkehren kann, so daß der Wind ihm entgegenarbeitet. Der Proletarier muß in der Lage sein, sich so einzustellen, daß der Kapitalist ein Interesse daran hat, seine «Ruhe» ebenso zu benutzen, wie er seinen «Fleiß», seine «Arbeitskraft» benutzt. Das Kapital muß etwas produzieren, das ohne die «Ruhe» des Arbeiters wesenlos wird. Dem widerstrebt es, wenn das Kapital die

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Möglichkeit hat, für sich etwas zu sein, wenn es nicht gezwungen ist, in den sozialen Organismus einzufließen. Man muß veranlaßt sein, sein Kapital auszugeben (zu «kaufen») - das ist man nur, wenn man ohne das Ausgeben am Leben verarmt, wenn einem ohne die Ausgabe die Ein­nahme versiegt; der Unternehmer muß den Arbeiter nicht nur für sein Produzieren, er muß ihn für sein Leben nötig haben - er muß ihn als Konsumenten dessen nötig haben, was er produziert - das aber bedeutet die Assoziation zwischen dem Konsumenten und dem Produzenten, die Gesellschaft, die Brüderschaft, die die Konsumenten für einen Produk­tionszweig vereinigt - und da dies unmittelbar nicht möglich ist inner­halb der Lebensiage der gegenwärtigen Menschheit: bedeutet es das System der Assoziationen -Zürich, 12. Februar 1919

Materialien:

Es handelt sich in der Entwicklung des sozialen Denkens und Wollens nicht um eine wirtschaftliche, sondern um eine Frage des Einflusses der menschlichen Persönlichkeit -Es tritt auf auch auf dem Gebiete des Seelenlebens selbst der Glaube an die Verankerung des Einzelmenschen in der menschlichen Gesell­schaft -: beim Proletariat wird diese Verankerung auf die unpersönli­chen Faktoren des Wirtschaftslebens geschoben - man will nicht auf andere Menschen gestützt sein = Hervorgebracht ist das rein ökonomi­sche Denken innerhalb der bürgerl. intellektuellen Kreise; die proleta­rischen haben dies übernommen,-: sie wollen aber das Wirtschaftsleben weiter politisieren, statt es von der bereits eingetretenen Politisierung zu befreien.

WELCHEN SINN HAT DIE ARBEIT DES MODERNEN PROLETARIERS? Konzept für den öffentlichen Vortrag vom 8. März 1919 in Zürich

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#TI

WELCHEN SINN HAT DIE ARBEIT

DES MODERNEN PROLETARIERS?

Konzept für den öffentlichen Vortrag vom 8. März 1919 in Zürich

#TX

1. Als dieser Vortrag angekündigt wurde, wird mancher gefragt haben:

woher kommt dieser, der da reden will? Und aus der Antwort, die aus verschiedenen Gesichtspunkten darauf gegeben wurde, könnte die Mei­nung entstanden sein: von dieser Seite hat man genug gehört.

2. Ich werde nicht von Verständigung reden. Denn ich bin mit denen einverstanden, die nichts von dem halten, was von vielen Seiten jetzt um der Verständigung willen geredet wird.

3. Durch mehr als ein halbes Jahrhundert konnten die bisher herrschen­den Menschenklassen sehen, wie sich eine Bewegung gestaltete, die in sich Menschen vereinigte, welche ihnen zuriefen: ihr habt im Laufe der neueren Zeit die Führung gehabt, was da ist als soziale Ordnung: ihr habt es gemacht. Doch wir sagen euch: so geht es nicht weiter. Doch die so gerufen haben: sie haben wenig Verständnis gefunden. Und jetzt: der sogenannte Weltkrieg. Er hat diese Bewegung in einem neuen Lichte gezeigt. Er hat aber auch das Unvermögen gezeigt, mit den Gedanken, welche sich die herrschenden Klassen über die Gesellschaft gebildet haben, weiter zu wirtschaften. Die soziale Bewegung während dieser Katastrophe.

4. Es sind Bewegungen innerhalb dieser führenden Klassen entstanden. Unter den verschiedensten Namen. Doch ihnen allen konnten diejeni­gen, welche durch ihre soziale Lage selbst zur Entwickelung einer sozia­len Bewegung gekommen waren, kein Vertrauen entgegenbringen. Sie mußten ihnen sagen: ihr denkt aus eurer Klasse heraus. Was gedacht werden muß zur Gesundung der Zustände, kann nicht von denen gefun­den werden, welche an der Gestaltung dieser Zustände mitgewirkt haben. Nur diejenigen können eine Vorstellung von dem haben, was zu geschehen hat, die nicht von euren Vorurteilen angesteckt sind, die be­lehrt sind durch dasjenige, was ihnen ihre soziale Lage lehren kann.

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5. Wie sich die Verhältnisse gebildet haben. Der moderne Proletarier hat sich eine Wissenschaft ausgebildet. Die leitenden Kreise haben sich nur langsam zu manchem bequemt.

6. Die Frage nach der Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft steht hinter allem. Sie steckt so dahinter, daß sie eine Frage der Menschenwürde ist. Die Arbeitskraft als Ware.

7. Allein da muß die Sache in der richtigen Weise angesehen werden. Es muß gesehen werden, daß die Arbeitskraft niemals eine Ware sein kann. Und weil man sie dazu gemacht hat, steckt man in einer Lebenslüge. - Der Arbeiter sieht sich dem Kapitalbetrieb gegenüber und einem Wirt­schaftsleben, das seine Arbeitskraft zur Ware macht.

8. Es ist, um diese Lebenslüge aufrecht zu erhalten, oft davon gespro­chen worden: Thron und Altar müssen die soziale Ordnung erhalten. Aber wird dem, was bedrückt, abgeholfen, wenn an die Stelle tritt:

Maschine und Kontor?

9. Wird ein Gedeihliches kommen, wenn dem modernen Staate als Rah­men ein anderes Wirtschaftssystem eingefügt wird?

9a. Alles Vertrauen wird der Organisierung des Wirtschaftslebens ent­gegengebracht. Man frägt nur: wie soll dieses sozialisiert werden?

10. Es kann nur helfen: die Gliederung des sozialen Organismus. Nicht die Verschmelzung. Eingesehen muß werden: die Tatsache, daß Gei­stesleben nur gedeihen kann, wenn es befreit ist. Rechtsleben, wenn es nicht von den Interessen des Wirtschaftskreislaufes bestimmt wird. Wirtschaftsleben nur, wenn es nicht Gewalt entwickeln kann, weil es auf sich selbst angewiesen ist.

11. Das Kapital kann nur in einem freien Geistesleben wirken. Denn es ist nicht durch das Wirtschafts- oder das Rechtsleben zu dem geworden, was es ist, sondern durch die individuellen Fähigkeiten der Menschen. Die Arbeitskraft kann nur von dem Rechtsstaate aus geregelt werden, denn sie wird zur Beute der Gewalt, wenn nur das Wirtschaftsleben sie regelt.

12. Es kommt darauf an zu verstehen: umzudenken ist notwendig.

HINWEISE

#G328-1977-SE191 Die soziale Frage

#TI

HINWEISE

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Der hier vorliegende Band enthält neben einem in sich geschlossenen Vortragszyklus, den Rudolf Steiner vom 3. bis 12. Februar 1919 in der Aula des Hirschengrabenschulhauses in Zürich unter dem Thema «Die soziale Frage» gehalten hat, zwei weitere Vorträge. Im enten dieser beiden Vor-träge, die jeweils ein Thema in sich geschlossen zur Darstellung bringen, sprach er zur Zürcher Studentenschaft, während er sich im zweiten Vortrag vom 8. März im großen Saal des Volkahauses in Zürich weitgeeiiend an Arbeiter wandte.

Der zuerst genannte Vortragszyklus bildete die Grundlage für die bald darauf erschienene Schrift Rudolf Steiner) (Bibl. -Nr.23, auch als Taschenbucb erschienen). Über diesen Zusam­menhang schrieb Roman Boos, der unter den Zuhörern dieser Vorträge saß und eine bedeutende Persönlichkeit innerhalb der gesamten sDreigliederungsbewegung» war, in den «Sozialwissen­schaftlichen Texten« (Dornach 1935,2. Aufl. Freiburg 1961): «Der Vortrag vom 3. Februar ist im wesentlichen in das 1. Kapitel der übergegangen. Doch wurde einer etwas anders gelenkten Gedankenführung eine geschlossene Folge von Überlegungen zum Begriff geopfert...>< (2. Aufl., S.64). Stimmt der zweite Vortrag vom 5. Februar weitgehendst mit dem II. Kapitel der «Kernpunktes überein, so ist das III. Kapitel gegenüber dem 3. Zürcher Vortrag vom 10. Februar «fast vollkommen neu gefaßt. Es behandelt hauptsächlich die Frage der Verwaltung und der Zirkulation des Kapitals im dreigliedrigen sozialen Organismus, während der Vortrag gemäß der vor der Zuhörerschaft gestellten Aufgabe von einer neuen Seite her noch ein­mal die Dreigliederung als den zentralen Impuls der objektiven sozialen Entwicklung darstellte... »(S.67). «Der Inhalt des 4. Zürcher Vortrages vom 12. Februar 1919 ist fast in allen Einzelheiten in das III. und IV. Kapitel der hineinverarbeitet.« (S.73).

Die am Schluß des Bandes aufgenommenen Notizhucheintragungen sowie ein ausführliches Konzept zum Vortrag vom 8. März vermitteln zusätzlich einen tieferen Einblick in die Arbeits­weise Rudolf Steiners. Teilweise waren sie bereits abgedruckt in den «Nachrichten der Rudolf Stei­ner-Nachlaßverwaltung». Siehe hierzu das Sonderheft «50 Jahre April 1919-April 1969», Nr.24/25, Dornach Ostern 1969, S.47-54 und Nr.11, Dornach Weihnachten 1963, S.16 u. 17.

Die vier Vorträge «Die soziale Frage« wurden bereits im 5. Jahrgang (1943/44) der Zeitschrift «Gegenwart» (Bern), Nrn. 2-7 (Mai-Okt. 1943) abgedruckt. Die beiden Vorträge vom 25. Februar und vom 8. März1919 werden hier zum ersten Male veröffentlicht.

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10 Arbeiterbildungsschule: Von 1899-1904 war Rudolf Steiner Lehrer an der 1891 von dem

Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht, 1826-1900, begründeten Arbeiterbildungaschule in

Berlin, zuerst in den Fächern Geschichte und Redeübung, später auch in Naturwissenschaft.

Vgl. auch Rudolf Steiner, «Mein Lebenagang«, Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr.28,

Kap. XXVIII, und Rudolf Steiner, «Briefe II 1892-1902», Dornach 1953, sowie Johanna

Mücke/Alwin Rudolph, «Erinnerungen an Rudolf Steiner und seine Tätigkeit an der Arbei­terbildungaschule in Berlin 1899-1904», Basel 1955.

10 Karl Marx, 18181883. Die wesentlichen gedanklichen Grundlagen für die Begründung des «wissenschaftlichen Sozialismus» und des «dialektischen Materialismus» finden sich in seinen

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«Frühschriften», deren Abschluß das «Kommunistische Manifest« (1848) bildet. Vgl. hierzu bes. die «Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie«, 184142, «Die heilige Familie«, 184445, und die «Deutsche Ideologie», 184546.

11 Friedrich Engels, 1820-1895. Mit Karl Marx Begründer des w

12 eine mächtige Revolution in der Entwickelung des menschlichen Organismus: Vgl. Rudolf Steiner, «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» (1907), in: «Luzi­fer-Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus der Zeitschrift und 1903 1908», Gesamtausgabe Dornach 1960, Bibl.-Nr. 34.

16 als man dio Galilei, die Giordsno Bruno verurteilte: Die geistesgeschichtliche Entwickelung am Wendepunkt zur Neuzeit, als deren Repräsentanten neben Galilei, 15641642, und Gior­dano Bruno, 1548-1600, noch Kopernikus, 1473-1543, Kepler, 1571-1630, und Francis Bacon, 1561-1626, zu nennen sind, charakterisiert RudolfSteiner eingehend in seinem Werk «Die Rätsel der Philosophie» (1914), Gesamtausgahe Dornach 1968, Bibl.-Nr. -18.

18 in einzelnen proletarischen Programmen: Gemeint sind hier:

das Eicenacher Programm, aufgestellt im August 1869 anläßlich der Gründung der «Sozialde­mokratischen Arbeiterpartei» durch W.Liebknecht und A.Bebel;

das Gothaer Programm vom Mai 1875 anläßlich des Zusammenschlusses dieser «Arbeiterpar­tei» mit dem etwa gleich starken, bereits im Mai 1863 durch Lassalle begründeten «Allgemei­nen deutschen Arbeiterverein», und

das Erfrrter Programm vom Oktober 1891, durch Kautsky bearbeitet, anläßlich der Neuor­ganisation der «Sozialdemokratischen Partei Deutschlands» als Glied der zwei Jahre zuvor errichteten «Zweiten Internationale».

Waren die ersten beiden Programme noch stark bestimmt durch Lassalles friedlichen Weg zur Lösung der sozialen Frage mit Staatshilfe, in deren Mitreipunkt Forderungen nach der Abschaffung des bestehenden Lohnverhältnisses und Schaffung politischer Gleichstellung aller Menschen standen, so gewannen zunehmend die klassenkämpferischen Aspekte an Be­deutung. So hat Kautaky für den Erfurter Parteitag ein rein tnarxistisches Programm ent­worfen, über das Rudolf Steiner sagte, es war bestimmt, «den Marxismus zur ofüziellen An­schauung des Proletariats» zu machen. Vgl. dazu Rudolf Steinees Vortrag über die «Ge­schichte der sozialen Bewegung», in: «Neugestaltung des sozialen Organismus», Gesamt­ausgabe Dornach 1963, Bibl.-Nr. 330/331.

21 in meinem Buch « Von Seelenrätseln»: Die grundlegende Darstellung der Dreigliederung uer mensclslichen Organlsation gab Rudolf Steiner in dem Kapitel «Die physischen und die gei­stigen Abhängigkeiten der Menschen-Wesenheit» seines im Jahre 1917 erschienenen Buches «Von Seelenrätseln», Gesamtausgabe Dornach 1976, Bibl.-Nr.21

27 Albert Schäffle, 1831-1903, Nationalökonom und Soziologe, 1862/65 Abgeordneter im württemberg. Landtag, 1871 österr. Handelsminister; verfaßte u.a. «Bau und Leben des sozialen Körpers», 187578,4 Bde.; 2. Aufl. 1896,2 Bde.

27 C. H. Meray, «Weltmutation. Schöpfungsgesetze über Krieg und Frieden und die Geburt einer neuen Zivilisation», Zürich 1918.

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33 Zusammenhang des sozialen Organismus mit der Naturgrundlage: Vgl. hierzu Carl Jentsrh, «Volkswirtschaftslehte. Grundbegriffe und Grundsätze der Volkswirtschaft», 4. Aufl. Leip­zig 1918, S.64.

37 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Vgl. hierzu den Stuttgarter Vortrag RudolfSteiners «Frei­heit für den Geist, Gleichheit für das Recht, Brüderlichkeit für das Wirtschaftslebens (18.Junl 1919) in «Neugestaltung des sozialen Organismus», siehe oben, und den in Berlin am 15.Sept.1919 gehaltenen Vortrag «Die Verwirklichung der Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» in «Gedankenfreiheit und soziale Kräfte», Gesamtausgabe Dornach 1971, Bibl.-Nr. 333.

48 Paris-Bern: Zwischen den Mittel- und den Westmächten kam es nach Abschluß der Waffen­stillstände zu Compiégne usw. zu keiner eigentlichen Friedenskonferenz. Vielmehr war die am 18, Januar1919 in Versailles eröffnete «Friedenskonferenz von Paris» lediglich eine Zu­sammenkunft der delegierten Bevollmächtigten der 27 Entente-Staaten zwecks Einigung über die den Mittelmächten zu stellenden Bedingungen.

In Bern fand vom 3.-10. Februar 1919 die Internationale Sozialistenkonferenz statt.

56 Utopien: Vgl. den im Hinweis zu S.18 genannten Vortrag vom 30. Juli 1919 über die «Ge­schichte der sozialen Bewegung». In diesem Vortrag bezeichnet Rudolf Steiner vor allem die lratszösischen Sozialisten Charles Fourier, 1772-1837, und Louis Blane, 1813-1882, sowie den französischen Philosophen und «religiösen Sozialisten» Claude Henry dc Saint-Simon, 17601825, als «utopische Sozialisten.

56 Erich Ludendsrff 18651937, von 191618 Erster Generalquartiermeister des deutschen Heere«, gewann er auch weitreichenden Einfluß in politischen und wirtschaftlichen Fragen (Sturz Bethmann Hollwegs). Im Jahre 1923 beteiligte sich Ludendorff am Hitlerputseh und begründete mit seiner Frau Mathilde 1926 den «Völkisch-christlichen Tannenbergbund».

57 « Gesellschaftju? ethische Kultur»: Die «Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur» wurde auf Anregung von W. Foerster und Georg von Gizycki im Jahre 1892 in Berlin begründet. Vgl. Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», Kap. XVII, und die beiden Auftärze über diese Gesell­schaft in «Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901», Gesamtaus­gabe Dornach 1966, Bibl.-Nr. 31, S.164 ff. u. 169 ff.

61 Homunkelus: Vgl. J. W. v. Goethe, «Faust», II. Teil, Laboratorium.

64 in meiner « Philesophie der Freiheit», diejetzt ihre Nenaujiage erlebt hat: Mit seinem 1894 etschit­nenen Werk «Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung Seeiische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode» schuf Rudolf Stei­ner die grundlegende Voraussetzung für eine geisteswi«senschaftliche Weltbetrachtung. Die erwähnte Neuauflage erschien. «wesentlich ergänzt und erweitert». 1918. Gesamtausgabe Dornach 1973, Bibl.-Nr. 4.

66 Arbeitskraft alt Ware: Vgl. Karl Marx, «Das Kapital», Bd. 1,2. Abschn., 4. Kap.: «Kauf und Verkauf der Arbeitskraft» u. 3. Abschn., 5. Kap.: «Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß ».

68 Homunkulus: Siehe Hinweis zu S.61.

72 Ich möchte hinweiten aujjenen armen Knaben: Nicht Stephenson, sondern Humphrey Potter hatte etwa im Jahre 1711 die beiden Hähne einer Newcomen-Cawley-Savary-Dampfmaschine zu bedienen. Man kannte damals noch keine separaten Kondensatoren. Die Dampfkondensa­tion

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erfolgte im Zylinder selbst durch Wassereinspritzung Es mußte daher abwechsclnd Dampf und Spritzwasser eingelassen und Kondenswasser abgelassen werden.

87 Ludwig Laistner, 18451896, literarischer Beirat der Cottaschen Verlagsbuchhandlung; vgl. Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», Kap. XV.

89 soziales Grundgesetz: Das von Rudolf Steiner aus geisteswissenschaftlichen Beobachtungen heraus entwickelte soziale Hauptgesetz hat folgenden Wortlaut:

«Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weni­ger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nlcht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.» Zitiert nach dem Aufsatz «Geisteswissenschaft und soziale Frage» in «Luzifer-Gnosis...», S.213; Einzelausgabe dieses Aufsatzes Dornach 1977, S.34.

90 Wenn ich nun aber ein Schneider bin: Zum Schneiderbeispiel vgl. Rudolf Steiner, «Nationalöko­nomischer Kurs», Gesamtausgabe Dornach 1965, Bibl.-Nr. 340, S.44-46 (3. Vortr.), S.51-53 (4.Vortr.), S.10l (7.Vortr.); und «Nationalökonomisches Seminar», Gesamtausgabe Dornach 1973, Bibl.-Nr. 341, S.42/43.

94 die alte platonische Idee von der Dreiteilung des sozialen Körpers in die drei Stände: Nährstand, Wehr­stand, Lehrstand: Geschildert in Platons Schrift «Politeis» (Der Staat).

98 Karl von Clausewitz, 17801831, preußischer Generalmajor und Militärachriftsteller, Verfas­ser des acht Bände umfassenden Werkes «Vom Kriege»; der hier angeführte Satz ist dem ersten Band entnommen.

101 ein Aufruf: Gemeint ist der von Rudolf Steiner verfaßte Aufruf«An das deutsche Volk und an die Kulturwelt><, der im Februar 1919 als Flugblatt gedruckt und verbreitet wurde und die Unterschriften zahlreicher Persönlichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturel­len Lebens trug. Siehe auch Rudolf Steiner, «Die Kernpunkte der sozialen Frage...», S.157-162 und «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung», Heft 24/25, Ostern 1969,

S.21-23.

102 Die Philesophen haben die Welt interpretiert: Vgl. Karl Marx, «Tbesen über Feuerbach», Nr.11.

Wörtlich: «Die Philosophen haben die Welt nur verachieden interpreriert; es kömmt darauf

an, sie zu verändern.» (Nach Karl Marx, «Frühschriften», hg. v. S.Landsbut, Stuttgart 1968,

S.341.)

105 Homunkulus: Siehe Hinweis zu S.61.

110 gemeinsam mit Rosa Luxemburg: Zur Eröffnung der neuen Arbeiterhildungsachule in Span­dau am 12. Januar 1902 hielt Rosa Luxemburg ei nen Vortrag über das Thema «Die Wissen­schaft und der Arbeiterkampf». Daran anschließend referierte Rudolf Steiner zum selben Thema. Vgl. «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Nr.36, Jahreswende 1971/72,

S.21.

118 Schäjfte und Meray: Siehe die Hinweise zu S.26.

118 in meinem letzten Buch « Von Seelenrätseln»: Siehe Hinweis zu S.21.

120 von der Naturgrundlage gegebene Fakteren: Siehe Hinweis zu S.32.

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120 Preitbildung: Vgl. hierzu die Ausführungen Rudolf Steiner« im «Narionalökonomischen Kurs» und im «Nationalökonornischen Seminar».

125 einen ästerreichischen Minister: Karl Giskra, 18201879, von 1867 bis 1870 Minister des Innern.

129 Arbeiterbildungsschule: Siehe Hinweis zu S.10.

129 Ein mirauchpersänüch bekannter russischer Schrsftsteller: Nicolay A. Berdjajev, 1874-1 948; siehe auch Hinweis zu S.130.

130 Richard Avenarius, 1843-1896, Philosoph und Erkenntnistheoretiker, lebte zuletzt in Zürich, begründet in seiner «Kritik der reinen Erfahrung», 2 Bde. 1888-1900, 2. Aufl. 1908, eine positivistische Philosophie, die er «Empiriokritizismus» nennt und die die Erfahrung als Abhängigkeit des Individuums von seiner Umwelt beschreibt. Gegen seinen Empiriokriti­zismus wendet sich Lenin in seiner Schrift «Materialismus und Empiriokritixismuss, in der er gegen eine empiriokritische Auslegung der marxistischen Lehre polemisiert.

130 Friedrich Adler, 1879-1960, Führer der österreichischen Sozialdemokraten, einer der Theo­retiker des Austromarxismus, Anhänger des Empiriokririzismus; er versuchte, den Marxis­mus durch die machistische (vgl. den nachfolgenden Hinweis auf E. Mach) Philosophie» zu ergänzen. Am 21. Oktober 1916 erschoß er den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh, wurde zum Tode verurteilt, 1918 freigelassen. Später war er einer der Führer der »Sozialistischen Arbeiterintemationale».

130 Ernst Mach, 1838-1916, österreichischer Physiker und Philosoph, einer der Begründer des Empiriokritizismus; inder Erkenntnistheorie erneuerte er die Anschauungen Berkeleys und Humes. Seine erkenntnistheoretischcn Ansichten waren von großem Einfluß auf die theore­tische Physik (Machsche Zahl) und wurden vom «Wiener Kreis» ausgebaut. Er schrieb u. a. »Die Mechanik in ihrem Entwicklung», 1883; «Beiträge zum Analyse dem Empfindungen», 1886 (später unter dem Titel «Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physi­schen zum Psychischen»); «Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der For­schung», 1905; «Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre», 1919.

130 dio Amtsphilosophien des Bolschewismus: Rudolf Steiner stützt sich hier auf einen Aufsatz von Nicolay A. Berdjajev über >Auf S.93 der deutschen Ausgabe beißt es u. a.: »Dann ging sie (die russische Intelligenz, Anm. d. Herausg.) sogarzu dem schwer verdaulichen Avenarios über, weil die ahstrakteste, Philosophie von Avenarius ohne dessen Wissen und Schuld plötzlich als eine Philo­sophie des hingestellt wurde.» Vgl. auch Rudolf Steiner, «Die soziale Grundfomderung unserer Zeit. In geändertem Zeitlage», Gesamtausgabe Dornach 1963, Bibl.-Nr. 186, 9. und 10. Vortrag und den 3. Vortrag in «Geisteswissenschaftliche Behand­lung sozialem und pädagogischer Fragen», Gesamtausgabe Dornach 1964, Bibl.-Nr. 192.

130 Rosa Luxemburg, 18701919, sozialistische Politikerin; sie gehörte zu den Vertretern der radikalen Richtung in der deutschen Sozialdemokratie. An der Berliner Parteischule lehrte sie marxistische Nationalökonomie. Während des Ersten Weltkrieges befand sie sich wegen ihrer Aufrufe gegen den Krieg fast ständig in Haft. 1917 gründete sie mit Karl Liebknecht den Spartakusbund und Ende 1918 die Kommunistische Partei. Beim Januaraufstand 1919

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wurden sie und Karl Liebknecht von Regierungstruppen ohne Verfahren erschossen. Siehe auch den Hinweis zu S.110

131 Henri Bergson, 1859-1941, französischer Philosoph, Professor amCollége deFrance in Paris; seine Philosophie entsprang einer Kritik an der Zeitlehre Kants. Nach Bergson ist die Zeit ihrem Wesen nach Dauer. Die Dauer und die Wirklichkeit selbst sind durch die Intuition erfaßbar. Vgl. dazu Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philosophie...», S.56l ff. und «Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben», Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 65, S.438. Henri Bergson schrieb u.a. «Zeit und Freiheit», 1889; «Materie und Gedächtnis», 1896; «Die schöpferische Entwicklung», 1907; «Denken und schöpferisches Werden», 1934

131 Arthur Schopenhauer, 1788-1860, Philosoph. Für Schopenhauer ist die Welt an sich Wille und Vorstellung. Der Leib ist die Objektivation des Willens. Alles erkenntnismäßig Erfaßbsre ist Objekt in Beziehung auf ein Subjekt, ist Anschauung des Anschauenden, ist Vorstellung. Sein Hauptwerk ist «Die Welt als Wille und Vorstellung», 1819, endgültige Fassung 1859, 2 Bde. Siehe such Rudolf Steiners Einleitung zu «Arthur Schopenhauers sämtliche Werke ip zwölf Bänden», «Cottasche Bibliothek der Weltliteratur», Stuttgart 1894.

132 Franz Mehring, 18461919, Politiker und Schriftsteller. Er war eine der führenden Persön. lichkeiten in der deutschen Arbeiterbewegung und trat u. a. als Verteidiger der Sozialdemo­kratie gegen Bismarck auf. Er schrieb: «Geschichte der deutschen Sozialdemokratie», 1877 (freisinnig-bürgerlich); «Geschichte der deutschen Sozialdemokratie», 1897, 4 Bde. (soziali. stisch); »Die Lessing-Legende», 1893; «Karl Marx», 1918.

133 Platen: Siehe Hinweis zu S.94.

141 Arbeiterbildungsschule: Siehe Hinwess zu S.10.

145 Ferdinand Lassalle, 18251864, Gründer der sozialdemokratischen Bewegung in Deutsch­land. In seiner Verteidigungsrede vordem Berliner Kriminalgericht (gegen die Anklage, die besitzlosen Klassen zum Haß und zur Vernichtung gegen die Besitzenden öffentlich ange­reizt zu haben) unter dem Thema «Die Wissenschaft und die Arbeiter» sagte er u. a.: >

146 Carl Vogt, 1817-1895, Naturforscher und engagierter Demokrat, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung. Von Karl Marx in dessen Streitschrift «Herr Vogt» (1860) als bezahl­ter Geheimagent Louis Bonapartes bezeichnet. Er verfaßte u.a. «Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände«, Stuttgart/Tübingen 1857.

146 Ludwig Büchner, 1824-1899, Arzt und Philosoph, Bruder von Georg Büchner. Er gilt als Ver­treter eines uneingeschränkten Materialismus und Darwinismus. Werke: «Kraft und Stoff«, 1855; «Darwinismus und Sozialismus», 1894.

146 zusammen mit Rosa Luxemburg: Siehe Hinweis zu s.110 und 130.

149 in meinem letzten Buche « Von Seelenrätseln»: Siehe Hinweis zu S.21. 167 daß ich herausgewachsen bin aus dem Proletariat: Rudolf Steiners Vater war Telegraphist bei der österreichischen Südbahn. Vgl. hierzu Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», Kap. I.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.