GA 326

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Vorwort des Herausgebers

#G326-1969-SE003 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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Vorwort des Herausgebers

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Die Naturforschung braucht heute vor allem anderen eines: Selbsterkenntnis. Die Bedeutung der täglichen quanti­tativen Vermehrung des Wissensschatzes tritt zurück vor der Frage nach der Schicksalslinie. Die Naturforschung ist in ein Entwicklungsalter eingetreten, wo die Frage nach dem woher und wohin maßgebend ist. man fühlt die Notwendigkeit der Klärung des Problems, ob der Mensch nur noch Objekt einer Entwicklungsströmung ist, in der er mitschwimmt, ob er nur die Planung vergangener Epochen ausführt, oder ob der Zu­kunftsplan schon ins Bewußtsein tritt. Die Antwort auf diese im höchsten Sinne des Menschen würdige Frage ergibt sich aus einer vorurteilsiosen Anschauung der Geschichte der Na­turwissenschaft. Für eine neue Zielsetzung, die heutige Mängel und Schwierigkeiten überwinden und vermeiden will, genügt es nicht, diese festzustellen. Man muß wissen, wie es dazu kam. Das ist kein nur philosophisches oder historisches Problem, das der Naturforscher heute etwa auf andere Fa­kultäten abschieben konnte, um sich ungestort wieder seinem Laboratoriumstisch zuzuwenden. Diese Einsicht spricht heute aus allen grundlegenden Werken der produktiven und sich verantwortlich Wissenden unter ihnen. Der echte Natur-forscher will wissen, ob und wie seine Erkenntnis organisch im historischen Werdegang der Entwickelung darinnen steht, ob der Ausgangspunkt richtig war, ob die heutige Arbeits­weise diesem noch dient, inwieweit wir Frucht oder Keim sind, und ob wir überhaupt die weiteren Wachstumsgesetze dieser unserer Aufgabe kennen.

Der nachfolgende Vortragszyklus Rudolf Steiners hebt die Frage ins Bewußtsein und beantwortet sie: wie es dazu kam daß heute Selbsterkenntnis der Naturforschung auch in Labo-ratorium und Technik das ist, worauf es ankommt. ,,Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft" und unser Ver­hältnis zu ihm charakterisiert unsere Position und Aufgabe. Rudolf Steiner betont, daß seine Ausführungen nicht Kritik, sondern Charakteristik geben wollen.

Die Diskussion um Aufgaben und Ziele der Naturwissen­schaft spielt sich in unserer Zeit oft ab in der Sphäre von

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Angriff und Verteidigung. Darum handelt es sich aber nicht. Wenn beispielsweise der Architekt oder Künstler seine schöp­ferischen Kräfte schwinden fühlt, wenn er sich sorgt, nur noch Epigone, Nachahmer und Ausführender vergangener Epochen zu sein, die geistig produktiver waren, so hilft ihm nur die Einsicht, wo und wann er sich von den geistig-schöp­ferischen Kräften isolierte. Auch der Naturforscher, der, wo er schöpferisch wirkt und nicht nur ausübend, in der Sphäre des Künstlers steht, kann sich fragen - ohne dabei irgendwie falsch moralisierend zu denken - ob er etwa einem ,,Sündenfall" des Erkennens zum Opfer fiel, ob die Vertreibung des Geistes aus der Naturerkenntnis wohl die Ursache des Nachlassens seiner Schöpferkraft ist; ob das Allzu-abstrakt oder Allzu-körperlich-werden des mensch­lichen Denkens, der Verlust der Urbilder-Schau und des Wesenhaft-Wesentlichen aus der Betrachtungs-Methode ihn nicht doch aus der Sphäre produktiven Erkennens und Er­findens weitgehend herausisoliert hat. Es hilft dann nicht weiter, das Problem ad acta zu legen, ob Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft getrennte Wege gehen können. Die Situation, in der wir heute leben, hat diese Frage bereits beantwortet. Die willkürliche Trennung der beiden Gebiete ist Erbe eines nicht mehr fruchtbaren vergangenen Jahrhun­derts, nur ihr Zusammenwirken kann auch heute zum ,,Ent-stehungsmoment einer zukünftigen Naturwissenschaft füh­ren. Wer die folgenden Vorträge Rudolf Steiners liest und vor allem den Appell und die Perspektiven der let ten Sei­ten innerlich miterlebt, tritt seinem Arbeitspensum in neuer Weise gegenüber, er hat Menschheitsschicksal in sein Be­wußtsein gehoben und aus der sich hieraus ergebenden Selbst-erkenntnis einen neuen Ausgangspunkt und stärksten Impuls erhalten, an Methodik und Inhalt einer wiederum produktiv werdenden Welterkenntnis intensiv mitzuarbeiten.

Es sei gestattet, gerade bei dem hier veröffentlichten Vortrags-Zyklus daran zu erinnern, daß auch die Tatsache, wann und wie er gehalten wurde, ein geschichtliches Phäno­men unbeirrter menschlicher Schöpferkraft ist. Inmitten dieser Reihe von Vorträgen, die zu Weihnachten 1922 in Dornach

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gehalten wurden, ereignete sich in der Silvesternacht -zwischen dem 5. und 6. Vortrag - der Brand und die Zer­störung des ,,Goetheanum"-Baues. Eines der bedeutendsten Lebenswerke, das Rudolf Steiner in jahrelanger Arbeit selbst entworfen. und bis in alle künstlerischen und praktischen Einzelheiten geschaffen hatte, wurde in dieser einen Nacht zerstört. Am folgenden Tage, unmittelbar nach diesem schwersten Schicksalsschlag, belastet mit einer gewaltigen Fülle geistiger und praktischer Verantwortungen, die dieses Ereignis ihm auferlegte, trat Rudolf Steiner vor uns auf das Rednerpult und hielt - eine alle Anwesenden aufs tiefste ergreifendes Vorbild unerschütterlicher menschlicher Konzen­tration - den nächsten Kursvortrag in dieser Tagung. Wer dies miterlebte, oder wer als Leser des folgenden Buches den Uebergang vom 5. zum 6. Vortrag auch einmal unter diesem Aspekt betrachtet, kann schon daran die Größe der Persönlichkeit und die Erhabenheit reinen menschlichen Den­kens und Wollens auch über die erschütterndsten irdischen Schicksalsschläge ermessen. Von irgendeiner Zäsur im geist­igen Wirken und Geben, auch nur vom leisesten Erlahmen oder Sich-Beugen gegenüber dem so plötlichen Hereinbruch einer Welt von Sorgen und Schwierigkeiten oder der gering­sten Aeußerung einer Klage über den Verlust eines wichtig­sten Lebenswerkes war in diesem Augenblick nichts zu spüren. Ununterbrochen und unversieglich floß der Strom des Schen­kens von Geistig-Erarbeitetem und des Aufrufens und Schaf­fens zu seiner Verwirklichung. Gerade auch deshalb liegt in dem Appell der letten Seiten dieses Kurses, wo zu dem ,,an die Arbeit gehen" aufgefordert und gesagt wird, daß diese Vorträge nicht als Schilderung von Historie entgegengenom­men werden wollen, sondern als ,,eine Beschreibung dessen, wie gearbeitet werden soll", für alle diejenigen, welche mit den Erkenntnisfragen und Aufgaben einer geistig orientier­ten Naturforschung ringen, eine besonders eindringliche Ver­pflichtung.

Für die Naturwissenschaftliche Sektion am Goetheanum:

Dornach, 1937. Dr. Guenther Wachsmuth.

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In der vorliegenden deutschen Lizenzausgabe 1948 konnten durch Vermittlung von Herrn Georg Hartmann, Engelberg verschie­dene Textänderungen an Hand eines Stenogrammes der verstorbenen Waldorfschul-Lehrerin Clara Michels durchgeführt werden. Dieses Stenogramm hatte bei der Bearbeitung des Textes der ersten Auf-lage nicht vorgelegen. Es sind dadurch in dieser Auflage wichtige Textergänzungen und Verbesserungen ermöglicht worden.

Stuttgart, 1948. Dr. Hans Heinze.

Weihnachtskurs im Goetheanum Dornach vom 24. Dezember 1922 bis 6. Januar 1923 I. Vortrag, 24. Dezember 1922

#G326-1969-SE007 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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Weihnachtskurs im Goetheanum Dornach

vom 24. Dezember 1922 bis 6. Januar 1923

I. Vortrag, 24. Dezember 1922

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Meine sehr verehrten Anwesenden und lieben Freunde!

Sie haben sich auch von auswärtigen Orten hier zu diesem Weihnachten zusammengefunden, um innerhalb des Goethe­anum einiges zu arbeiten und zu verarbeiten, das auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft liegt, und ich möchte Ihnen beim Ausgangspunkte unserer betrachtenden Arbeiten, ins­besondere den von auswärts hergekommenen Freunden oder Interessenten unserer Sache einen herzlichsten Gruß, einen herzlichsten Weihnachtsgruß entgegenbringen. Dasjenige, was ich selbst, durch die mannigfaltigsten Arbeiten in An­spruch genommen, gerade in der gegenwärtigen Zeit werde bieten können, werden ja nur Anregungen nach der einen oder anderen Richtung sein können. Allein dasjenige, was sich neben solchen Anregungen, die durch meine und anderer Vorträge kommen sollen, ergeben möchte, das ist ja ein zu­sammenstimmendes Fühlen und Denken derjenigen Persön­lichkeiten, die sich innerhalb unseres Goetheanum finden. Und so darf ich wohl hoffen, daß diejenigen Freunde, die immer oder wenigstens längere Zeit hier am Goetheanum ver­weilen, und mit demselben in irgendeiner Weise dauernd ver­bunden sind, in Herzlichkeit entgegenkommen denjenigen, welche von auswärts hergekommen sind; denn in diesem harmonischen Zusammenarbeiten, Zusammendenken und Zu­sammenfühlen soll sich ja dasjenige entwickeln, was gewis­sermaßen als die Seele aller Arbeit am Goetheanum da­stehen soll, das Erkennen, das Erfühlen des geistigen We­bens und Wesens der Welt, das Wirken aus diesem geistigen

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Wesen und Weben der Welt heraus. Und je mehr das Realität wird, was uns als Ideal voranleuchten muß, daß das Nebeneinandergehen der einzelnen Interessenten der anthro­posophischen Weltanschauung auch ein wirkliches gesell­schaftliches Zusammen- und Ineinanderwirken wird, desto mehr kann das wirklich zutßge treten, was hier zutage treten soll. Im Hinblicke auf diese Hoffnungen, meine sehr ver­ehrten Anwesenden, heiße ich alle diejenigen, die von aus­wärts herbeigekommen sind, diejenigen, die hier dauernder mit dem Goetheanum verbunden sind, auf das Allerherz­lichste willkommen.

Dasjenige, was ich in diesen Kursvorträgen an einzelnen Anregungen werde zu geben versuchen, hängt scheinbar zu-nächst nicht mit dem Weihnachtsgedanken und den Weih­nachtsempfindungen zusammen; aber innerlich meine ich doch, hängt es zusammen. Streben wir ja doch innerhalb alles desjenigen, was aus dem Goetheanum heraus erarbeitet werden soll, zu einer gewissen Neugeburt einer geistigen Erkenntnis, eines dem Geiste geweihten Fühlens, eines aus dem Geiste heraus getragenen Wollens. Und das ist, wenn auch in einem späteren Abglanz, ja auch im gewissen Sinne die Ge­burt eines Übergeistigen und symbolisiert im realen Sinne den Weihnachtsgedanken die Geburt jenes Geistwesens, das eine Neubefruchtung aller Menschheitsentwicklung auf Erden hervorgebracht hat. Und so möchte ich dennoch diese Be­trachtungen als mit dem Charakter einer Weihnachtsbetrach­tung ausgestattet sehen.

Wenn das Thema gerade den Entwickelungsmoment herausarbeiten soll, in dem die naturwissenschaftliche Den­kungsart in die moderne Menschheitsentwickelung eingetre­ten ist, so widerspricht das nicht der Intention, die ich eben geäußert habe, denn derjenige, der sich erinnert an das­jenige, was ich vor jetzt schon vielen Jahren dargestellt habe in meinem Buche: ,,Die Mystik im Aufgange des neuzeit­lichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur naturwissenschaft­lichen Vorstellungsart", der wird sich schon sagen können, daß für mich dasjenige gilt, was ich nennen möchte, das Schauen des Embryonallebens einer neuen Geistigkeit in

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der Hülle naturwissenschaftlicher Vorstellungsarten. Meine Meinung muß sein aus der sachlichen Betrachtung heraus, daß der naturwissenschaftliche Weg, den die neuere Mensch­heit gegangen ist, wenn er richtig verstanden ist, kein irr­tümlicher ist, sondern ein richtiger, daß er aber, wenn er richtig angesehen wird, den Keim einer neuen Geisterkennt­nis und einer neuen geistigen Willenstätigkeit in sich trägt. Und von diesem Gesichtspunkte aus möchte ich auch diese Vorträge halten.

Sie sollen nicht gehalten werden etwa, um eine Gegner-schaft gegenüber der Naturwissenschaft zu betonen, sie sollen gehalten werden gerade zu dem Ziel und aus der Intention heraus, aus der fruchtbaren naturwissenschaftlichen Forsch­ungsart der neueren Zeit Keime zu einem Geistesleben zu finden. Es wurde dies ja von mir zu den verschiedensten Zeiten auf die verschiedenste Weise gesagt. Und einzelne Vorträge, die ich auf verschiedenen Gebieten des naturwis­senschaftlichen Denkens gehalten habe, zeigen auch in Einzel­heiten den Weg, den ich mehr im großen durch diese Vor­träge charakterisieren will.

Wer den eigentlichen Sinn der naturwissenschaftlichen Forschungen der neueren Zeit mit der dahinterstehenden oder wenigstens dahinter möglichen menschlichen Denkweise kennen lernen will, der muß schon um einige Jahrhunderte zurückgehen. Denn man kann leicht das innere Wesen der naturwissenschaftlichen Vorstellung verkennen, wenn man es nur in der unmittelbaren Gegenwart auffassen will. Man lernt dieses wirkliche Wesen der naturwissenschaftlichen Forschung nur kennen, wenn man das Werden derselben durch einige Jahrhunderte verfolgt. Und wir werden, wenn wir ein solches Verfolgen suchen, zurückgewiesen zu einem Zeitpunkte, der von mir oftmals als ein wichtiger in der ganzen neueren Entwicklung der Menschheit gekennzeichnet worden ist, wir werden zurückgewiesen in das 14., 15. Jahr­hundert, zurückgewiesen in jene Zeit, in welcher ein ganz anders geartetes menschliches Vorstellen, das noch das Mit­telalter hindurch tätig ist, abgelöst wird durch die erste Mor­gendämmerung desjenigen Denkens, in dem wir heute voll

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drinnen stehen. Und es begegnet uns in dieser Morgendäm­merung der neueren Zeit beim Rückblick eine Persönlichkeit, an der wir gewissermaßen alles sehen können, was Ueber­gang ist aus einer früheren Denkweise in eine spätere, es begegnet uns in dieser Morgendämmerung, in der aber noch vieles lebt von Erinnerungen an dasjenige, was vorange­gangen ist, Xicolaus Cusanus' der auf der einen Seite der große Kirchenmann war, der auf der anderen Seite einer der größten Denker aller Zeiten war. Und es begegnet uns in diesem Kardinal Nicolaus Cusanus, der als der Sohn eines Schiffers und Winzers im westlichen Deutschland 1401 ge­boren ist, der 1464 als ein verfolgter Kirchenmann gestorben ist, es begegnet uns in ihm eine Persönlichkeit, die wahr­scheinlich sich selbst außerordentlich gut verständlich war, die aber in einer gewissen Beziehung dem nachherigen Be­obachter für das Verständnis außerordentliche Schwierig­keiten macht.

Der spätere Kardinal Nicolaüs Cusanus ist also als der Sohn eines Winzers und Schiffers in der Rheingegend im westlichen Deutschland geboren. Er erhielt seine erste Er­ziehung in jener Gemeinschaft, die den Namen erhalten hat ,,Die Brüder vom gemeinsamen Leben". Da nimmt er seine ersten Jugendeindrücke auf. Diese Jugendeindrücke sind sonderbarer Art. Gewiß lebte wohl schon in dem Knaben Nikolaus etwas von einem menschlichen Ehrgeiz, der aber gemildert war durch eine außerordentlich geniale Begabung im Ueberschauen desjenigen, was in der Wirklichkeit des sozialen Lebens, also der sozialen Gegenwart des Nikolaus Cusanus notwendig war. Die Brüder des gemeinsamen Lebens waren eine Gemeinschaft, in der sich zusammenge-funden haben solche Leute, die aus dem Innersten ihres Ge­mütes heraus unzufrieden waren sowohl mit den Kirchen-institutionen, wie auch mit demjenigen, was ja damals mehr oder weniger in der Kirche in Opposition gegen dieselbe darinnen stand, welche unzufrieden waren mit Mönchtum und Ordenswesen.

Die Brüder vom gemeinsamen Leben waren in einer ge­wissen Weise mystische Revolutionäre. Sie wollten alles dasjenige,

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was sie als ihr Ideal ansahen, eigentlich nur erreichen durch die Verinnerlichung eines friedvollen und in mensch­licher Brüderlichkeit vollbrachten Lebens. Sie wollten nicht eine auf Gewalt begründete Herrschaft, wie sie die äußere Kirche hatte und damals in wahrlich keiner sympathischen Gestalt verwirklichte. Sie wollten aber auch nicht weltfremd werden wie die Angehörigen des Mönchtums. Sie hielten sehr auf äußere Sauberkeit; sie hielten darauf, daß ein jeg­licher von ihnen seine Pflicht im äußeren Leben, in der Einzelheit des Berufes, innerhalb welchem er stand, erfüllte, treu und fleißig erfüllte. Sie wollten sich nicht von der Welt zurückziehen, sie wollten sich nur in einem der wirklichen Arbeit gewidmeten Leben jeweilig zurückziehen in die Tiefen ihrer Seelen, um neben der äußeren Lebenswirklichkeit, die sie als volle Lebenspraxis anerkannten, Tiefe und Innerlich­keit eines religiös-geistigen Empfindens finden zu können.

Und so war diese Gemeinschaft eine solche, welche vor allen Dingen menschliche Eigenschaften wie die Atmosphäre ausbildete, in welcher eine gewisse Gottinnigkeit und Geist-innigkeit leben sollte. In Deventer in Holland innerhalb dieser Gemeinschaft wurde Nikolaus Cusanus erzogen. Die anderen Angehörigen, wenigstens die meisten dieser Ge­meinschaft der Brüder des gemeinsamen Lebens waren zu­meist solche Leute, welche eben in engumschränkten Kreisen ihre Pflichten vollführten und dann - man möchte sagen -im stillen Kämmerlein ihren Weg zu Gott und zu der geistigen Welt suchten

Nikolaus war eine Natur, welche veranlagt war dazu, sich hinzustellen und Organisation unter den Menschen im sozialen Leben durch die Kraft seiner Erkenntnis, durch die Kraft seines aus der Erkenntnis herausquillenden Willens zu verwirklichen. Und so fügte bald der innere Drang, der in Nikolaus von Cues veranlagt war, zu der Innigkeit des Bru­derlebens das Bestreben, in einem größeren Maße, in einem stärkeren Maße in die Welt hinaustreten zu können.

Das wurde ihm zunächst dadurch, daß er die Rechtswis­senschaft studierte. Nur muß bedacht werden, daß in der damaligen Zeit, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts,

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die einzelnen Wissenschaften viel nähere Berührungspunkte hatten, als das später oder gar in unserer Zeit der Fall war und ist.

Dann übte Nikolaus Cusanus eine Zeitlang die Rechts­praxis aus. Allein gerade die Zeit, in der er lebte, war ja eine solche, in der ein Chaotisches im sozialen Leben sich in alle Kreise hinein erstreckte. Und so wurde er bald der Rechtspraxis überdrüssig und ließ sich als Priester der ka­tholischen Kirche einkleiden.

Er war dasjenige, was er jeweilig geworden war, ganz. Und so war er auch jetzt ganz Priester der damaligen Papst-kirche. Er wirkte so auf den verschiedenen geistlichen Stel­len, die ihm anvertraut wurden, er wirkte aber insbesondere so auf dem Konzil zu Basel. Da stellte er sich dazumal an die Spitze der Minorität, jener Minorität, welche eigentlich zuletzt das Bestreben hatte, die absolute Macht des päpst­lichen Stuhles aufrecht zu erhalten. Die Majorität, die zum größten Teil aus Bischöfen und Kardinälen des Westens be­stand, die Majorität, sie strebte - ich möchte sagen - eine mehr demokratische Art der Kirchenverwaltung an. Der Papst sollte den Konzilien unterstellt werden. Es führte das ja zu der Spaltung des Konzils. Diejenigen, die An­hänger des Nikolaus Cusanus waren, verlegten den Kon­zilsitz nach dem Süden; die anderen blieben in Basel, stell­ten einen Gegenpapst auf. Aber Nikolaus blieb fest in seiner Verteidigung des absoluten Papsttums.

Man kann sich, wenn man genügend Einsicht hat, wohl vorstellen, welche Empfindungen Nikolaus Cusanus dazu drängten, man kann sich vorstellen, wie er sich sagte: Das­jenige, was heute aus einer Mehrheit herauskommen kann, das kann doch nur gewissermaßen eine etwas sublimierte Art des allgemeinen Chaos werden, das wir schon haben. Dasjenige, was er wollte, war eine feste Hand, um Organi­sation und Ordnung herbeizuführen. Er wollte allerdings die Taten dieser festen Hand durchdrungen haben von Einsicht, aber er wollte doch diese feste Hand. Und diese Forderung machte er auch geltend, als er später nach Mittel-Europa ge­schickt, für die Befestigung der Papstkirche eintrat. So ward

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er eigentlich - man möchte sagen - mit Selbstverständlich­keit dazu bestimmt, ein Kardinal der damaligen Papstkirche zu werden.

Ich sagte vorher, es ist etwas Merkwürdiges, daß wahr­scheinlich Nikolaus sich selber sehr gut verstanden hat, daß aber der nachherige Beobachter Schwierigkeiten hat im Ver­ständnis dieser Persönlichkeit. Das wird uns besonders klar, wenn wir nun den Verteidiger des absoluten Papsttums überall herumziehen sehen und in ihm finden - wenigstens wenn wir die Worte unmittelbar nehmen, die er gesprochen hat - in ihm finden einen fanatischen Verteidiger dieser päpstlich gefärbten Christenheit des Abendlandes, zum Bei­spiel gegen die hereinbrechende Türkengefahr der da­maligen Zeit. Und es waren flammende Worte auf der einen Seite, die der dazumal schon im Heimlichen wahrscheinlich zum Kardinal ernannte Nikolaus Cusanus sprach gegen die Ungläubigen, flammende Worte, mit denen er aufforderte die europäische Zivilisation, Front zu machen gegen das­jenige, was von Asien herüberkam aJs Türken.

Aber es wirkt wieder merkwürdig, wenn wir auf der anderen Seite eine Schrift von Nikolaus Cusanus in die Hand nehmen, die wahrscheinlich mitten in diesen fanatischen Kämpfen, die er gegen die Türken führte, mitten drinnen entstanden ist; so daß wir uns vorstellen können: Da predigt Nikolaus Cusanus in der flammendsten Weise gegen die herandrängende Türkengefahr und stachelt die Gemüter auf, gegen diese Türkengefahr sich zu richten, Europas Zivilisa­tion zu retten. Dann setzt er sich an den Schreibtisch hin und schreibt nieder eine Abhandlung darüber, wie im Grunde genommen Christen und Juden und Heiden und Moham­medaner alle, wenn man sie nur richtig versteht, erzogen werden können zu friedvollem Zusammenwirken, zu der Ver­ehrung und Erkenntnis des einen alimenschlichen Gottes, wie im Grunde genommen im Christen, Juden, Mohammedaner und Heiden ein Gemeinsames lebt, das nur herausgefunden zu werden braucht, um Friede unter allen Menschen zu stif­ten. Und so sehen wir ausfließen in der stillen Kammer dieser Persönlichkeit die friedvollste Stimmung gegenüber

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allen Religionen und Konfessionen, und wir sehen oder hören, wenn sie spricht öffentlich, die fanatischen Worte, die zum Kampf auffordern.

Das sind solche Dinge, die schwierig machen, eine Per-.sönlichkeit wie Nikolaus Cusanus zu verstehen. Allein der­jenige muß sie verstehen, der wirklich mit einsichtigem Blicke in die Zeit hineinschaut. Und man wird sie am leich­testen verstehen, wenn man sie heraus versteht, diese Per­sönlichkeit, aus dem ganzen Gang der inneren Geistesent­wickelung ihres Zeitalters.

Wir wollen nicht kritisieren, wir wollen zunächst diesen äußeren, in sprudelnder Tätigkeit begriffenen Mann, der also wirkte, wie ich es geschildert habe, anschauen nach der einen Seite, und wollen jetzt einmal anschauen, was in seiner Seele lebte, wollen die zwei Seiten einfach nebeneinander stellen.

Was in der Seele des Nikolaus Cusanus vorging, man kann es am besten beobachten, wenn man die Stimmung dieser Persönlichkeit studiert, in der sie war, als er zurück-kehrte von einer Mission, die er im Auftrage des Papsttums in Konstantinopel auszuführen hatte, wo er zu wirken hatte für die Versöhnung der abendländischen und morgenländ­ischen Kirche. Auf der Rückfahrt, als er auf dem Schiffe ist, im Anblicke des gestirnten Himmels, geht ihm auf der Grund­gedanke, man könnte auch sagen, das Grundgefühl jener Schrift, die er dann 1440 veröffentlichte unter dem Titel:

De docta ignorantia, von der gelehrten Unwissenheit.

Welche Stimmung lebt sich in dieser ,,docta ignorantia" aus? Nün, der Kardinal Nikolaus Cusanus hat natürlich längst aufgenommen in seiner Seele alles dasjenige, was durch das Mittelalter hindurch an Geisterkenntnis getrieben worden ist. Der Kardinal Nikolaus Cusanus war wohl be­wandert in alledem, was der wiedererstandene Platonismus und auch der wiedererstandene Aristotelismus im Mittel­alter erarbeitet hat. Der Kardinal Nikolaus Cusanus war natürlich tief bekannt mit all dem, wie zum Beispiel Thomas Aquinas gesprochen hat über geistige Welten, ebenso, wie wenn es den Menschenbegriffen das Natürlichste wäre, von

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der Sinneserkenntnis zur Geisterkenntnis aufzusteigen. Der Kardinal Nikolaus Cusanus verband mit all dem, was mit­telalterliche Theologie war, eine gründliche Kenntnis des­jenigen, was in der damaligen Zeit an mathematischen Er­kenntnissen den Menschen zugänglich war. Nikolaus war ein außerordentlich guter Mathematiker, so daß sich das Gefüge seiner Seele zusammensetzte auf der einen Seite aus dem Bestreben, durch die theologischen Grundbegriffe sich zu erheben zu einer Geistwelt, die als göttliche sich dem Menschen offenbart. Auf der anderen Seite lebte in dieser Seele alles dasjenige, was an innerer Denkdisziplin, an in­nerer Denkstrenge und auch an innerer Denksicherheit dem Menschen wird, wenn er sich in das mathematische Gebiet vertieft.

So war auf der einen Seite Nikolaus ein inniger, und auf der anderen Seite ein sicherer Denker. Im Anblick des gestirnten Himmels, als er von Konstantinopel herüberfuhr nach dein mehr westlichen Europa, da löste sich dasjenige, was bisher in der charakterisierten Zweiheit dahinfloß, das­jenige, was bisher in seiner Seele als Stimmung gelebt hatte, in das Folgende. Er empfand von dieser Fahrt an die Gott­heit als etwas außerhalb des menschlichen Begriffs- und Ideenwissens Liegendes. Er sagte sich: Mit unserem Begriffs-und Ideenwissen können wir hier auf Erden leben; wir können uns mit unserer Erkenntnis durch diese Begriffe und Ideen ausbreiten über dasjenige, was uns in den Reichen der Natur umgibt. Aber diese Begriffe werden lahmer und immer lahmer, wenn wir den Blick hinaufwenden wollen zu demjenigen, was sich als Göttliches offenbart. Und dasjenige, was in der Scholastik zwischen der menschlichen Erkenntnis und der Offenbarung als ein Abgrund sich aufgetan hatte aus einem ganz anderen Gesichtspunkte heraus, das wurde bei Nikolaus innerste Seelenstimmung, persönlichste Herzens­angelegenheit. Er hat wohl oftmals in seiner Seele diesen Ausblick getan und in Gedanken den Weg gemacht, wie der Gedanke sich zuerst erstreckt über dasjenige, was uns in dem Reiche der Natur umgibt, wie der Gedanke dann sich er­heben will von diesem Reiche der Natur, zur Göttlichkeit der

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Gedanken, wie er da immer dünner und dünner wird und endlich vollständig in Nichts zerflattert und nun weiß, jen­seits dieses Nichts, iß das er als Gedanke zerflattert ist, liegt nun erst die Gottheit. Und nur wenn der Mensch in inniger Liebe, die er abseits von gedanklichem Leben entwickelt, den Weg, den im Blicke dieser Gedanke durchmacht, noch ein wenig weiter machen kann, wenn die Liebe einen Vorsprung gewinnt über den Gedanken, dann kann diese Liebe sich hineinerstrecken in dasjenige Gebiet, wohin das Gedanken-wissen nicht reicht.

Und so wurde es Nikolaus Cusanus eine Herzensange­legenheit, hinzuweisen auf das eigentlich göttliche Gebiet als dasjenige, vor dem der menschliche Gedanke erlahmt, vor dem das menschliche Wissen in Nichts zerflattert: docta ignorantia - gelehrte Unwissenheit.

Und wenn die Gelehrsamkeit, wenn das Wissen - so sagte sich Nikolaus Cusanus - im edelsten Sinne die Ge­stalt annimmt, daß es sich selber aufgibt in dem Momente, wo es den Geist erreichen will, dann wird dieses Wissen das Beste, dann wird es docta ignorantia. Und aus dieser Stimmung heraus veröffentlichte Nikolaus Cusanus 1440 eben seine: docta ignorantia.

Wenden wir jetzt den Blick ein wenig von Nikolaus Cusanus ab und gehen wir in das einsame Kämmerlein eines dem Nikolaus Cusanus vorangehenden mittelalterlichen My­stikers. Ich habe ihn in meinem Buche über Mystik geschil­dert, soweit er für Geisteswissenschaft eben wichtig ist. Gehen wir in das Kämmerlein des Meisters Eckhart hinein. Wir stehen dann vor derjenigen Persönlichkeit, welche von der äußeren Kirche als Ketzer erklärt worden ist. Man kann die Schriften des Meister Eckhart in der mannigfaltigsten Art durchlesen und sich an der Innigkeit dieser Eckhart­schen Mystik erfreuen. Aber man wird vielleicht am tief­sten ergriffen, wenn man öfter wiederkehrend zu einer Grundstimmung der Seele bei dem Meister Eckhart kommt. Ich möchte diese Grundstimmung also charakterisieren. Auch der Meister Eckhart, früher als Nikolaus Cusanus, ist durchdrungen

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von dem, was christliche Theologie des Mittelalters als Aufstieg zur Gottheit, zur geistigen Welt sucht. Wir können, wenn wir die Schriften des Meisters Eckhart stu­dieren, in vielen Wendungen die Thomistischen Wendungen wieder erkennen. Aber immer verfällt - indem sich die Seele dieses Meisters hingibt solchem Aufschwung aus dem theologischen Denken heraus nach der eigentlichen Geistes­welt, mit der aber diese Seele sich verbunden fühlt - immer verfällt diese Seele darauf, sich zu sagen: An dasjenige, was mein Innerstes ist, der göttliche Funke in meinem Innersten, an das komme ich mit all diesem Denken, mit all dieser Theologie nicht heran. Dieses Denken, diese Theologie gibt mir da ein Etwas und da ein Etwas und da ein Etwas, überall dieses oder jenes Etwas gibt mir diese Theologie, geben mir diese Ideen. Aber nichts von allediesem Etwas ist etwas, das ähnlich ist dem, was in meinem eigenen In­neren als der geistgöttliche Funke ist. Und so bin ich heraus­geworfen aus alledem, was meine Seele mit Gedanken, was meine Seele zunächst auch mit Gefühlen und Erinnerungen erfüllt, aus allem Weltwissen' das ich bis in die höchsten Stufen aufnehmen kann. So bin ich herausgeworfen äus alle­dem, was meine Seele mit Gedanken, Ideen und Erinnerungen erfüllt, wenn ich das tiefste Wesen meiner Eigenheit suchen will. Ich habe gesucht und gesucht. Ich bin sie durchgegangen, diese Wege, die mir Ideen, die mir aus der Welt herausge-holte Empfindungen zuführen, und ich suchte auf diesen Wegen, auf denen ich ja vieles fand, mein Ich. Und auf dieser Suche nach dem Ich bin ich, ehe ich dieses Ich ge­funden habe, welches zu suchen mich alles in den Reichien der Natur anleitete, ehe ich dieses Ich gefunden habe, bin ich in das ,,Nichts" gefallen.

Und so fühlte sich der Meister Eckhart bei seinem Suchen nach dem Ich in das Nichts hineingefallen. Und aus diesem Gefühle heraus tönt ein Wort dieses mittelalterlichen My­stikers, das das Herz, das Seele tief, berührt. Es ist

das: Und ich versenke mich in das Nichts der Gottheit und bin ewiglich durch dieses Nichts, durch dieses Nichts ein Ich. Ich versenke mich in das Nichts der Gottheit und werde in

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dem Nicht ein Icht, ein Ich. Ich muß mir in Ewigkeit aus dem ,,Nicht" der Gottheit das Ich holen.

In alher Stille tritt uns bei diesem Mystiker ein gewal­tiges Wort entgegen. Und warum ertönte in der innersten Herzenskammer dieses Mystikers dann, wenn er aus dem Weltsuchen heraus in das Ichsuchen hineinkommen wollte, dieser Drang nach dem Nicht, in dem Nicht das Ich zu finden, warum? Ja, gehen wir zurück in frühere Zeiten, dann finden wir, daß in aller Erkenntnis der früheren Zeiten beim hineinschauen in die Seele lebte die Möglichkeit, daß dieser Innenschau von innen entgegenleuchte Geist. Das war noch die Erbschaft aus uralter Pneumatologie, von der hier noch zu sprechen sein wird, daß zum Beispiel - sagen wir -Thomas Aquinas' daß er, wenn er hineinschaute in die Seele. innerhalb dieser Seehe fand Geistiges webend und lebend. Nicht in der Seehe, aber in dem, was als Geistiges in der Seele webt und lebt, suchte Thomas von Aquino, suchten seine Vorgänger das eigentliche Ich. Sie blickten durch die Seele zum Geist, und im Geiste fanden sie das Ich als das ihnen gottgegebene Ich. Und sie sagten, wenigstens hätten sie es immer sagen können, wenn sie es auch nicht immer ausgesprochen haben, sie sagten: Ich dringe in das Innere meiner Seele, schaue in den Geist und finde in dem Geist das Ich. Aber das war in der Menschheitsentwickelung ge­schehen, daß die Menschheitsentwickelung bei ihrem Fort­schritt hin nach dem Reiche der Freiheit diese Fähigkeit ver­loren hatte, beim Nachinnenschauen den Geist zu finden.

Noch nicht so wie der Meister Eckhart hätte etwa Jo­hannes Scotus Erigena sprechen können. Johannes Scotus Erigena hätte eben gesagt: Ich blicke in mein Inneres. Wenn ich die Wege durchmessen habe, die mich durch die Reiche der Außenwelt geführt haben, entdecke ich in meinem In­neren, in meiner Seele den Geist und finde dadurch das die Seele durchwebende und durchlebende Ich. In die Gott­heit als Geist versenke ich mich und finde Ich.

Es war einfach Menschenschicksal, daß derselbe Weg, der in früheren Jahrhunderten noch für die Menschheit gangbar war, eben nicht mehr gangbar war zur Zeit des Meisters

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Eckhart; indem der Meister Eckhart dieselben Wege ging wie Johannes Scotus Erigena, oder auch nur dieselben Wege wie Thomas von Aquino, dann versenkte er sich nicht in . Gott den Geist, dann versenkte er sich in das Nicht der Gottheit und mußte aus dem Nicht das Ich herausholen. Das aber heißt nichts Geringeres, als: Die Menschheit hat bei der Innenschau den Ausblick nach dem Geist verloren. Und der Meister Eckhart holt aus der tiefen Innigkeit seines Her­zens heraus aus dem Nicht das Ich. Und sein Nachfolger, Nikolaus Cusanus, gesteht mit aller Bestimmtheit ein: Alles dasjenige, was uns die Wege leitet bei dem vorherigen Suchen an Gedanken und Ideen, es erlahmt, es wird zu nichte, wenn man das Geistgebiet betreten will. Die Seele hat die Möglichkeit verloren, in ihrem Inneren das Geist-gebiet zu finden; Und Nikolaus Cusanus sagt sich: Wenn ich empfinde all dasjenige, was mir Theologie geben kann, so werde ich hineingebracht in dieses Nichts des menschlichen Denkens, und ich muß mich vereinigen mit dem, was in diesem Nichts lebt, um in der docta ignorantia das Erleben des Geistes erst haben zu können.

Dann aber läßt sich dieses Wissen, dieses Erkennen ja nicht aussprechen. Dann muß der Mensch ja verstummen, wenn er auf dem Punkte angelangt ist, in dem sich durch docta ignorantia das Erleben des Geistigen ergibt zunächst.

Nikolaus Cusanus ist derjenige, der also die Theologie des Mittelalters in ihrer eigenen persönlichen Entwickelung an ihrem Ende empfindet und einläuft in die docta ignoran­tia. Aber er ist zugleich ein sicherer Mathematiker. Er hat die innere Denkstrenge in sich aufgenommen, welche aus der Beschäftigung mit dem Mathematischen herkommt. Aber ich möchte sagen: er ist innerlich scheu davor geworden, das­lenige, was er an solcher mathematischen Sicherheit in seine Seele aufgenommen hat, anzuwenden da, wo sich ihm die docta ignorantia ergeben hatte. Er versucht mit allerlei mathema­tischen Symbolen und Formeln sich zaghaft symbolisierend zu nähern dem Gebiete, in das er durch seine docta igno­rantia geführt wird. Aber er ist immer bewußt: das sind

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Symbole, die mir die Mathematik liefert. Diese Mathe­matik habe ich mir in meiner Seele errungen. Sie ist mir als das Letzte geblieben aus dem alten Wissen. Ihre Sicher­heit kann ich nicht so bezweifeln wie die Sicherheit der Theo­logie, denn ich erlebe die mathematische Sicherheit, indem ich Mathematik in mir aufnehme. Aber zu gleicher Zeit ist die andere Last in ihm so schwer geworden, die sich ihm aus der Nullität der Theologie ergeben hatte, daß er sich nicht getraut, die mathematische Sicherheit anders als in Sym­bolen auf dem Gebiet der docta ignorantia anzuwenden. Damit schließt eine Epoche der menschlichen Denktätigkeit.

Nikolaus Cusanus ist fast schon so in seiner inneren See­lenstimmung Mathematiker, wie später Cartesius; aber er wagt es nicht, dasjenige, was sich ihm so charakterisiert hatte, wie er es in seiner docta ignorantia dargestellt hat, in mathe­matischer Sicherheit zu ergreifen. Er empfand gewissermaßen, wie sich das Geistgebiet von der Menschheit zurückgezogen hatte, wie es immer mehr und mehr in Fernen hin entschwun­den ist, wie es nicht zu erlangen ist mit dem menschlichen Wissen, wie man unwissend werden muß im allerinnersten Sinne, um in Liebe sich zu vereinigen mit diesem Geistgebiete.

Diese Stimmung strömt aus von demjenigen, was man herauslesen kann aus der 1440 erschienenen ,,docta igno­rantia" von Nikolaus Cusanus. Die Menschheit der abend­ländischen Zivilisation hatte sich gewissermaßen so ent­wickelt, daß sie einstmals glaubte, das Geistgebiet in naher Perspektive vor sich zu haben. Dann entfernte sich den be­trachtenden und beobachtenden Menschen dieses Geistgebiet immer weiter und weiter und entschwand. Und die docta ignorantia von 1440 ist das offene Eingeständnis, daß der gewöhnliche menschliche Erkenntnisblick der damaligen Zeit nicht mehr hinreicht in jene perspektivischen Fernen, in die sich das Geistgebiet von dem Menschen zurückgezogen hat. Die sicherste Wissenschaft, die Mathematik, wagt es nur noch, an dasjenige, was man nicht mehr sieht innerlich seelisch, mit symbolischen Formeln heranzutreten. Und es ist nun so, als ob eben dieses Geistgebiet, immer weiter und weiter perspektivisch

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sich entfernend, der europäischen Zivilisation in unmittelbarer Art entschwunden wäre, aber rückwärts nach­gekommen wäre ein anderes Gebiet, dasjenige Gebiet was jetzt europäische Zivilisation in ihre Neigungen, in ihre Beobachtungsgabe aufnimmt, das Gebiet der sinnlichen Welt Und was 1440 Ä(ikolaus Cusanus schüchtern symbolisch ge­tan hat mit der Mathematik in bezug auf das Geistgebiet das ihm entschwindet, das wendet kühn und trotzig Nikolaus Kopernikus auf die äußere Sinneswelt an, das mathematische Denken, das mathematische Wissen. Und indem 1440 er­schienen ist die docta ignorantia mit dem Eingeständnis selbst mit der sicheren Mathematik erblickst du nicht mehr das Geistgebiet, erscheint 1543 ,,De Revolutionibus orbium celestium" von Nikolaus Kopernikus, wo mit schroffer Kühn­heit das Welteriall so vorgestellt wird, daß es sich der sicheren Mathematik ergeben muß.

Denken wir das Geistgebiet so weit ferne von der mensch­lichen Erkenntnis, daß selbst die Mathematik nur in stam-melnden Symbolen sich ihm nähern kann, - so sprach es 1440 Nikolaus Cusanus aus -, denken wir das Mathe­matische so stark und so sicher, daß es das Sinnliche bezwingt und in mathematischen Formeln die Sinneswelt wissenschaft­lich und erkennend zum Ausdrucke gebracht werden kann so sprach 1543 Nikolaus Kopernikus zu der europäischen Zivilisation. Ein Jahrhundert liegt dazwischen.

In diesem Jahrhunderte ist die abendländische Natur-wissenschaft geboren worden. Vorher war sie im Embryonal-zustand. Und wer verstehen will, was zur Geburt dieser abendländischen Naturwissenschaft geführt hat der muß seinen Blick einsichtig lenken auf jenes Jahrhu'ndert, das zwischen der ,,docta ignorantia" und ,,De Revolutionibus or­bium celestium" liegt. Welche Befruchtungen da für das menschliche Seelenleben geschehen, welchen Entsagungen sich das menschliche Seelenleben hingeben muß, das muß stu­diert werden, wenn man den Sinn der Naturwissenschaft auch heute noch verstehen will. So weit muß zurückgegangen werden. Da muß begonnen werden, und zurückgeschaut ein

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wenig werden auf den Embryonalzustand' der allerdings dem Nikolaus Cusanus voranging, wenn man heute noch in der richtigen Weise drinnen stehen will in naturwissenschaft­licher Gesinnung, und wenn man richtig sehen will, was Na­turwissenschaft der Menschheit leisten kann, wie auch aus Naturwissenschaft ein neues geistiges Leben erblühen kann. Davon, meine sehr verehrten Anwesenden, werde ich dann morgen sprechen.

II. Vortrag, 25. Dezember 1922

#G326-1969-SE023 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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II. Vortrag, 25. Dezember 1922

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Meine sehr verehrten Anwesenden, liebe Freunde!

Die Gesdiichtsbetraditung, welche diesen Vorträgen zu-grunde liegt, ist eine symptomatologische, wie ich sie nennen möchte, das heißt, es soll versucht werden, durch eine solche Geschichtsbetrachtung dasjenige, was in den Tiefen der Menschheitsentwiekelung vor sich geht, gewissermaßen durch die aus diesem Strome der Menschheitsentwickelung aufge­worfenen Wellen, welche die Symptome sind, zu charak­terisieren. Das muß eigentlich bei jeder wahren Geschichts-betrachtung aus dem Grunde geschehen, weil das Gesche­hen, die Summe der Vorgänge, die in den Tiefen der Mensch­heitsentwickelung eigentlich in jedem Zeitpunkte liegen, so mannigfaltig, so intensiv bedeutsam sind, daß man immer nur eben hindeuten kann auf dasjenige, was in den Tiefen liegt, durch die Schilderung der aufgeworfenen Wellen, welche eben symptomatisch andeuten dasjenige, was vorgeht.

Ich erwähne dies aus dem Grunde heute, weil ich gestern zur Charakterisierung der Geburt naturwissenschaftlicher Denk- und Forschungsweisen geschildert habe die beiden Persönlichkeiten, den Meister Eckhart und namentlich Niko­laus den Cusaner. Auch wenn solche Persönlichkeiten hier geschildert werden, so geschieht es aus dem Grunde, weil das­jenige, was in der Seele und im ganzen Auftreten solcher Persönlichkeiten geschichtlich zu beobachten ist, eben auch von mir als Symptome angesehen wird für dasjenige, was in den Tiefen des allgemeinen Menschheitswerdens vorgeht.

Es sind ja immer nur - ich möchte sagen - ein paar an die Oberfläche getriebene Bilder, die man dadurch auf­fangen kann, daß man in die eine oder in die andere Men­schenseele hineinblickt. Dann schildert man aber dadurch das Grundwesen der einzelnen Zeitabläufe.

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So war es gemeint, wenn ich gestern Nikolaus den Cu­saner schilderte, um anzudeuten, wie in seiner Seele sich symptomatisch offenbart alles dasjenige, was eigentlich in der geistigen Menschheitsentwickelung zur naturwissenschaft­lichen Betrachtungsweise hindrängend, im Beginne des 15. Jahrhunderts sich abspielt. Daß alles dasjenige Wissen, das man gewissermaßen in der Seele ansammeln kann dadurch, daß man auf der einen Seite sich hingibt dem, was die Er­kenntnis auf dem theologischen Boden bis dahin hervorge­bracht hat, und daß auch die sichere mathematische Anschau­ungsweise nicht hinführen könne bis zum Ergreifen der geistigen Welt, so daß man Halt machen muß mit der gan­zen menschlichen Begriffs- und Ideenerkenntnis vor dieser geistigen Welt, und gegenüber dieser geistigen Welt nur eine docta ignorantia schreiben könne, das ist dasjenige, was in Nikolaus dem Cusaner auf eine so großartige Weise zum Ausdruck kommt.

Damit aber hat er gewissermaßen abgeschlossen mit der Art von Welterkenntnis, die bis zu ihm herauf in der Mensch­heitsentwickelung gekommen ist. Und ich konnte hinweisen darauf, wie jene Seelenstimmung schon vorhanden ist bei dem Meister Eckhart, der gründlich bewandert ist in der theologisierenden Erkenntnis des Mittelalters, und der mit dieser theologisierenden Erkenntnis hineinblicken will in die eigene Menschenseele, um in dieser Menschenseele den Weg zu finden zu den göttlich-geistigen Weltengründen. Und er, dieser Meister Eckhart, kommt zu einer Seelenstimmung, die ich gestern mit einem seiner Sätze Ihnen andeutete. Er sagte - und er sagte Aehnliches wiederholt: Ich versenke mich in das Nichts der Gottheit und werde aus dem Nicht in Ewigkeit ein Ich. Er fühlt sich angekommen bei dem Nicht mit der alten Erkenntnis und muß aus diesem Nicht, das heißt aus dem Versiegen aller überzeugenden Kräfte des alten Wissens durch einen - ich möchte sagen - Urspruch aus der Seele herausholen die Gewißheit des eigenen Ich.

Wenn man näher auf eine solche Sache hinschaut, dann kommt man darauf, wie so jemand wie damals der Meister Eckhart hindeutet auf eine ältere Seelenerkenntnis, die bis

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zu ihm herauf in der Menschheitsentwickelung gekommen ist, die noch dem Menschen etwas gegeben hat, von dem er sagen konnte: Das lebt in mir, - noch etwas gegeben hat, von dem er sagen konnte: Das ist ein Göttliches in mir, das ist Etwas.

Jetzt aber waren die tiefsten Geister des Zeitalters bei dem Bekenntnis angekommen: wenn ich das Etwas da, wenn ich das Etwas dort aufsuche, dann reicht alle Erkenntnis dieses Etwas nicht aus, um eine Gewißheit zu finden über das eigene Sein. Und ich muß von dem Etwas zu dem Nichts gehen, um eben mit einem Urspruch gewissermaßen in mir aufleben zu lassen aus dem Nichts heraus das Be­wußtsein vom Ich.

Und nun möchte ich gegenüberstellen diesen beiden Per­sönlichkeiten eine andere, welche etwa zweitausend Jahre vorher gelebt hat, eine Persönlichkeit, die eben so charak­teristisch ist für ihr Zeitalter, wie charakterisüsch ist etwa der Cusaner, fußend auf dem Meister Eckhart, für den Beginn des 15. Jahrhunderts. Wir werden dieses Zurück­gehen in ältere Zeiten brauchen, um besser verstehen zu können dasjenige, was dann aus den Untergründen des menschlichen Seelenlebens an Erkenntnisstreben im 15. Jahr­hunderte aufgetaucht ist.

Die Persönlichkeit, von der ich Ihnen da heute reden will, von der meldet allerdings kein Geschichtsbuch, kein histor­isches Dokument, denn die gehen in solchen Sachen nicht zu­rück bis etwa ins 8. vorchristliche Jahrhundert. Dennoch können wir uns nur Kunde über dasjenige, was den eigent­lichen Ursprung der Naturwissenschaft charakterisiert, holen, wenn wir durch Geisteswissenschaft, durch die rein geistige Beobachtung weiter zurückgehen, als äußere historische Dokumente uns verkünden. Eine Persönlichkeit, wie gesagt, die ja nur durch Geistesschau gefunden werden kann, über 2000 Jahre vor diesem Zeitalter, dessen Anfangspunkt ich gestern als den der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts be­zeichnet habe. Das ist eine Persönlichkeit des vorchristlichen Lebens, welche aufgenommen wurde in eine der südeuro-päischen so genannten Mysterienschulen, da gehört hatte alles

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dasjenige, was die Mysterienlehrer ihren Schülern zu sagen hatten, diese geistig-kosmischen Weistümer, geistig-kosmischen Wahrheiten, Wahrheiten über die geistigen Wesenheiten, welche im Kosmos lebten und leben. Aber diese Persönlich­keit, die ich meine, die hörte von den Mysterienlehrern schon dazumal eine Weisheit, die mehr oder weniger nur tradi­tionell war, die die Wiedergabe war von viel, viel älteren Schauungen der Menschheit, die Wiedergabe war des­jenigen, was viel ältere erkennende Weise geschaut haben, wenn sie den damals hellseherischen Blick hinausgcrichtet haben immer wieder und wiederum in die Weltenweiten, und wenn aus diesen Weltenweiten, wie es ja war, zu ihnen gesprochen haben die Bewegungen der Sterne, die Konstel­lationen der Sterne; auch gesprochen haben manche anderen Vorgänge in den Weltenweiten. Diesen alten Weisen war das Weltenall nicht jene Maschine oder jenes maschinen-ähnliche Gebilde, das es den heutigen Menschen ist, wenn sie hinausblicken in den Weltenraum, sondern es waren die Weltenweiten etwas, in dem sich diese Weisen vorkamen wie in einem all-lebendigen, alldurchwebenden, alldurchgeistig­ten Wesen, und das zu ihnen eine kosmische Sprache redete.

Sie fühlten sich in dem Weltenwesen des Geistes selber darinnen, und sie fühlten, wie dasjenige, in dem sie lebten und webten, zu ihnen sprach, wie sie gewissermaßen an die Welt selber die Fragen stellen konnten, welche die Rätsel der Welt bedeuten, und wie ihnen die Erscheinungen aus den Weiten antworteten.

Das wurde als dasjenige empfunden, was wir etwa ganz abgeschwächt und abstrakt in unserer Sprache den Geist nennen. Und der Geist wurde eigentlich als dasjenige empfunden, was überall ist, aber auch aus überallher wahr­genommen werden kann. Man blickte in Welteninhalte, von denen schon die Griechen nichts mehr mit dem Seelenblicke sahen, die schon für die Griechen ein Nichts geworden waren. Und man nannte dieses Nichts der Griechen, das aber noch ein vollinhaltliches Etwas für die ältesten Weisen der nach-atlantischen Zeit war, man nannte das eben mit jenen Worten,

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die damals üblich waren, und die eben in unserer Sprache abgeschwächt und abstrakt Geist heißen würden.

Also das später Unbekannte, den später verborgenen Gott nannte man, als er bekannt war, Geist. Das war das Erste für jene älteren Zeiten.

Das Zweite war, daß der Mensch, wenn er in sich selber hineinsah, seine Seele sah mit dem Seelenblicke, mit dem nach inwärts gerichteten Geistesblicke. Und diese Seele empfand er als dasjenige was herkam von dem Geiste, der später der unbekannte (Ott geworden ist, und er empfand seine eigene Seele so dieser älteste Weise, und mit ihm die Menschheit. die sich zu diesem ältesten Weisen bekannte, daß man die Bezeichnung, die damals aus diesen Anschau­ungen heraus dem menschlichen Seelenwesen hat gegeben werden können, umgewandelt in unsere Sprache, Geistbote oder schlechthin Bote nennen könnte. So daß man also sagen kann, wenn man schematisch darstellen will, was für diese ältesten Zeiten als Anschauung galt, als Weltumf assendes, außer dem nichts anderes ist; in dem alles Andere zu finden ist, galt damals der Geist (siehe Schem. S. 38). Und der Geist, der in seiner Urgestalt unmittelbar wahrnehmbar war, wurde wieder gesucht in der menschlichen Seele (siehe

S. 38), und er wurde gefunden, indem diese menschliche Seele sich selber als den Boten dieses Geistes erkannte. So daß man sagen kann Die Seele wurde angesehen als Bote.

Und als Drittes hatte man um sich herum die äußere Natur mit demjenigen, was wir heute das Wesen, das Kör­perwesen nennen.

Ich sagte, außer dem Geiste gab es kein Etwas, denn der Geist ward überall geschaut, er ward erkannt in seiner Urgestalt durch unmittelbares Schauen. Er ward erkannt in der menschlichen Seele, die die Botschaft von ihm in ihrem eigenen Leben verwirklichte. Er ward aber auch erkannt in demjenigen was wir heute die Natur nennen, die Körperwelt. Und diese Körperwelt, sie wurde angesehen als Abbild des Geistes (siehe Seite 38).

So hatte man in jenen alten Zeiten nicht diejenigen Vorstellungen von der Körperwelt, die man heute hat; wo

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immer man hinschaute auf irgendein Naturgebilde, schaute man, weil man eben den Geist überall schauen konnte, in jedem Naturgebilde ein Abbild des Geistes.

Dasjenige Abbild des Geistes, das einem am nächsten stand, das war der Menschenleib, der Körper des Menschen, dieses Stück Natur; aber indem alle anderen Naturgebilde Abbilder des Geistes waren, war auch dieser Menschenleib Abbild des Geistes.

Schaute daher dieser ältere Mensch auf sich selbst zurück, so erkannte er sich als ein dreifaches Wesen. Erstens wohnte der Geist ,in seiner Urgestalt, wie in einem seiner Häuser, in ihm. Der Mensch erkannte sich als Geist.

Zweitens fühlte sich innerhalb der Welt der Mensch als Bote dieses Geistes, und insofern als Seelenwesen.

Drittens fühlte sich der Mensch als Leib, und als Leib als Abbild des Geistes.

So daß wir sagen können: Wenn der Mensch auf sich selbst zurückblickte, so erkannte er sich in der Dreiheit seines Wesens nach Geist, Seele, Leib; nach Geist als in seiner Urgestalt, nach der Seele als dem Gottesboten, nach dem Leibe als dem Abbild des Geistes (siehe S. .38).

Man kann sagen: In dieser älteren Weisheit der Men­schen gab es keinen Widerspruch zwischen Leib und Seele, keinen Widerspruch zwischen Natur und Geist, denn man wußte, Geist ist in seiner Urgestalt im Menschen; dasjenige, was die Seele ist, ist nichts anderes als der weitergetragene, der als Botschaft weitergetragene Geist. Der Leib ist das Abbild des Geistes.

Aber man fühlte auch keinen Gegensatz zwischen dem Menschen und der umliegenden Natur, denn man trug in dem eigenen Leib das Abbild des Geistes in sich. Man sah in jedem Körper draußen Abbild des Geistes. So war der eigene Leib in der Verwandtschaft empfunden mit allen Naturkörpern. Man erkannte ein innerlich Verwandtes, wenn man hinausschaute in die Körperwelt, und wenn man hinein-schaute auf den Menschenleib. Man fühlte die Natur nicht als etwas anderes. Als eine Einheit, ein Monon fühlte sich der Mensch - mit der ganzen übrigen Welt.

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Das fühlte er dadurch, daß er eben die Urgestalt des Geistes wahrnehmen konnte, daß die Weltenweiten zu ihm sprachen. Und die Folge dieses Sprechens der Weltenweiten zu dem Menschen war, daß es eigentlich keine Naturwissen­schaft geben konnte; geradeso, wie wir keine Wissenschaft der äußeren Natur begründen können von demjenigen, was in unserer Erinnerung lebt, so konnte dieser ältere Ange­hörige der Menschheit keine äußere Naturwissenschaft be­gründen, denn er sah das Bild des Geistes, wenn er in sich selber hineinschaute, und er erkannte wiederum dieses Bild des Geistes, wenn er in die äußere Natur hinausschaute. Ein Gegensatz zwischen sich selber als Mensch und Natur war nicht da; ebensowenig ein Gegensatz zwischen Seele und Leib, denn Seele und Leib entsprachen einander so, daß der Leib

- ich möchte sagen - nur die Schale, das Abbild, das künstlerische Abbild der geistigen Urgestalt war, und die Seele der vermittelnde Bote zwischen den beiden. Alles war in inniger Einheit. Von einem Begreifen konnte gar nicht die Rede sein, denn man begreift dasjenige, was außerhalb des eigenen Lebens liegt; während man dasjenige, was man in sich selbst trägt, unmittelbar erlebt, nicht erst begreift.

Solche Weisheit in unmittelbarer Anschauung lebte in den ältesten Mysterien der Menschheit noch vor der Grie­chen- und Römerzeit. Von solcher Weisheit hörte jene Per­sönlichkeit, die ich heute meine. Von solcher Weisheit hörte sie, und sie sah, daß die Lehrer ihres Mysteriums eigentlich im Grunde genommen nur noch als Ueberlieferung aus älteren Zeiten das hatten, was sie zu ihm sprechen konnten. Sie hörten nichts Ursprüngliches mehr. Aus dem Hinhorchen auf die Geheimnisse des Kosmos erkannte sie es. Und diese Persönlichkeit Ihachte sich auf weite Reisen, besuchte andere Mysterien, und im Grunde genommen erfuhr sie überall in diesem 8. Jahrhunderte der vorchristlichen Zeit schon ein Aehnliches. Ueberall waren nur noch die Ueberlieferungen alter Weisheit vorhanden. Die Schüler lernten sie von den Lehrern, die selber nicht mehr schauen konnten, wenigstens nicht in der Lebhaftigkeit der alten Zeiten.

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Aber die Persönlichkeit, die ich meine, hatte aus den Tiefen der Menschennatur heraus den ungeheuren Drang nach Gewißheit, nach Wissen. Sie hörte aus den Mitteilungen, daß man einmal eine Sphärenharmonie wirklich hören konn­te, daß aus dieser Sphärenharmonie der Logos heraustönte, der Logos, der identisch war mit der geistigen Urgestalt alTer Dinge; aber eben nur Ueberlieferungen hörte sie. Und eben­so, wie sich später, 2000 Jahre später aus den Ueberlieferun­gen seines Zeitalters heraus etwa der Meister Eckhart in sein stilles Kämmerchen gesetzt hat auf der Suche nach' der inneren Kraft der Seele und des Ich und zu dem Ausspruche gekommen ist: Ich versenke mich in das Nichts der Gottheit und erlebe in Ewigkeit im Nicht das Ich - so sagte sich jener alte, einsame Schüler der Spätmysterien: Ich horche hin auf das stumme Weltenall und aus der Stummheit hole ich mir die logostragende Seele. Ich liebe den Logos, denn der Logos kündet von einem unbekannten Gotte.

Das war das ältere Parallelbekenntnis gegenüber dem­jenigen des Meisters Eckhart. Wie der Meister Eckhart sich mit den Kräften seiner Seele hineinversenkt hat in das Nicht der Gottheit, von dem ihm die Theologie des Mittelalters sprach, wie er aus diesem Nicht heraus das Ich geholt hat, so horchte hin jener alte Weise auf eine stumme Welt, denn dasjenige, wovon ihm die überlieferte Weisheit sprach, das hörte er nicht mehr. Er konnte nur hinhorchen in ein stum­mes Weltenall. Und er holte sich, wie früher die geistdurch-tränkte Seele sich die alte Weisheit geholt hat, er holte sich aus dem stummen Weltenall die logostragende Seele. Und er liebte den Logos, der nicht mehr die Gottheit selber der alten Zeit war, sondern nur noch ein Bild der Göttheit der alten Zeiten.

Mit anderen Worten: Der Geist war bereits in jenen Zeiten der Seele entschwunden, und die Seele mußte in der entgeisterten Welt, wie später der Meister Eckhart in der ernichteten Welt das Ich suchen mußte, mußte in der ent­geisteten Welt die Seele gesucht werden.

Oh, in früheren Zeiten hatten die Seelen gewissermaßen die innere Festigkeit, die sie brauchten, um sich sagen zu

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köninen: Ich bin selbst ein Göttliches in dem inneren Wahr-nehmen des Geistes, der in mir west. Jetzt aber wohnte der Geist für die unmittelbare Anschauung nicht mehr in ihr; jetzt fühlte sich die Seele nicht mehr als den Boten des Gei­stes. Denn um Bote von etwas zu sein, muß man es kennen. Jetzt fühlte sich die Seele als Logosträger, als Träger des Geistesbildes, wenn auch dieses Geistesbild ganz lebendig war in ihr, wenn auch dieses Geistesbild sich ausdrückte in der Liebe zu dem Gotte, der sich so noch in seinem Bilde in der Seele auslebte. Aber die Seele empfand sich nicht mehr als Bote, die Seele empfand sich als Träger (siehe S. 38), Träger des Bildes des göttlichen Geistes.

Und so kann man sagen, wenn man wieder schematisch darstellen will: Jetzt entstand eine andere Menschenkenntnis, wenn der Mensch in sein Inneres blickte: Seele = Träger. Die Seele ward vom Boten zum Träger.

Dadurch aber, daß man gewissermaßen aus der Anschau­ung den einstmals lebendigen Geist verloren hatte, dadurch war auch der Leib nicht mehr Abbild dieses Geistes. Um ihn als Abbild zu erkennen, hätte man die Urgestalt erkennen müssen. Der Leib wurde für diese spätere Anschauung etwas anderes. Er wurde dasjenige, was ich nennen möchte: die Kraft. Der Kraftbegriff trat jetzt ein (siehe S. 38). Er wurde als Kraftzusammenhang vorgestellt, nicht mehr ein Bild, das das Wesen des Abgebildeten in sich trägt, nicht mehr ein Abbild - eine Kraft, die nicht das Wesen des­jenigen, aus dem sie entspringt, in sich trägt, das wurde der Menschenleib. Und vom Menschenleib aus mußte man auch in der Natur überall Kräfte vorstellen. War die Natur frü­her überall Abbild des Geistes, jetzt war sie die aus dem Geigte fließenden Kräfte (siehe S. 38).

Damit aber fing die Natur an, dem Menschen mehr oder weniger ein Fremdes zu sein. Man möchte sagen: Die Seele hat etwas verloren, denn sie hat das unmittelbare Geistbe­wußtsein nicht mehr in sich. Wenn ich mich grob ausdrücken sollte, müßte ich sagen: die Seele ist in sich dünner gewor­den; der Körper, die äußere Körperwelt hat an Robustheit gewonnen. Sie hatte früher das noch Geistähnliche des Abbildes.

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Jetzt wurde sie durchsetzt von dem Kraftmäßigen. Der Kraftzusammenhang ist robuster als das Bild, dem der geistige Inhält noch anzusehen ist.

Soll ich mich wieder grob ausdrücken, müßte ich sagen:

Die Körperwelt ist dichter geworden, während die Seele dünner geworden ist. Das war dasjenige, was in das Be­wußtsein derjenigen Menschen überging, zu deren Ersten jener alte Weise gehörte, der hinhorchte auf das stumme Weltenall, und aus der Stummheit des Weltenalls sich das Bewußtsein herausholte, daß seine Seele wenigstens Logos-träger ist.

Und jetzt entstand zwischen der ,,dünner" gewordenen Seele und dem dichter Gewordenen der Körperwelt der Ge­gensatz, der früher nicht da war. Früher hat man die Ein­heit des Geistes in allem gesehen. Jetzt entstand der Gegen­sa4 zwischen Leib und Seele, Mensch und Natur. So daß jetzt auftrat der Abgrund zwischen Leib und Seele, der früher gar nicht vorhanden war, bevor jener alte Weise, von dem ich Ihnen heute erzählt habe, gesprochen hat, daß aber der Mensch sich auch fühlte abgegrenzt von . der Natur, was ebenfalls in der alten Zeit nicht gefühlt wurde. Und dieser Gegensatz, er bildet im Grunde genommen den Kerninhalt alles Denkens in der Zeit zwischen jenem alten Weisen, von dem ich Ihnen heute erzählt habe, und zwischen Nikolaus Cusanus.

#Bild s. 32

Da ringt die Menschheit, zu begreifen den Zusammen-hang auf der einen Seite zwischen Seele und Leib, der Seele, welcher Geistwirklichkeit fehlt, dem Leib, der dicht geworden ist, zur Kraft, zum Kraftzusammenhang geworden ist. Und es ringt die Menschheit nach Empfinden eines Verhältnisses

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zwischen Mensch und Natur. Aber die Natur ist überall Kraft. Eine Vorstellung von dem, was wir heute Naturgesetze nennen, ist eigentlich in diesem Zeitalter, da, wo seine besonders charakteristischen Epochen liegen, gar nicht vorhanden. Man redete nicht in Gedanken von Na­turgesetzen, man fühlte überall Naturkräfte. Aus allem heraus erlebte man Naturkräfte. Und wenn man- in sich hineinschaute, so fühlte man nicht eine Seele, die ein dumpfes Wollen, fast ebenso dumpfes Fühlen und abstraktes Denken in sich trägt, sondern man fühlte eine Seele, welche Träger des lebendigen Logos ist, von dem man zwar weiß, er ist nicht tot, aber er ist ein echtes, lebendiges Abbild des Gottes.

Man muß sich hineinversetzen können in diesen Gegen­satz, der bis ins 11., 12. Jahrhundert vorhanden war in aller Schärfe, und der ein ganz anderer ist als diejenigen Gegen­sätze, die heute von der Menschheit gefühlt werden. Wenn man sich nicht mit lebendigem Bewußtsein in diesen ganz andersartigen Gegensatz einer älteren Menschheitsepoche hineinversetzen kann, dann passiert einem das, was allen Geschichtsschreibern der Philosophie passiert, daß sie den alten griechischen Demokritus aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert so beschreiben, als ob er im modernen Sinne ein Atomist gewesen wäre, weil er Atome angenommen hat. Wenn Worte einen kleinen Schein von Aehnlichkeit an­deuten, dann ist die Aehnlichkeit noch nicht vorhanden; zwischen dem modernen Atomisten und dem Demokritus ist ein gewaltiger Unterschied, weil Demokritus überhaupt aus jenem Gegensatze, den ich eben charakterisiert habe, von Mensch und Natur, Seele und Leib heraus redet, so daß seine Atome durchaus noch Kraftzusammenhänge sind, und daß dasjenige, was solche Kraftzusammenhänge sind, von ihm entgegengestellt wird in einer Weise dem Raume, wie der moderne Atomist seine Atome nicht dem Raum gegen­überstellen kann. Wie sollte der moderne Atomist sagen, was Demokritus gesagt hat: Das Sein ist nicht mehr als das Nichts, das Völle ist nicht mehr als das Leere. Das heißt, Demokritus nimmt an, daß der leere Raum eine Verwandt-schaft hat mit dem mit Atomen erfüllten Raum. Das hat nur

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einen Sinn innerhalb eines Bewußtseins, das überhaupt den modernen Körperbegriff noch gar nicht kennt, also auch nicht von Atomen dieses modernen Körpers sprechen kann, son­dern selbstverständlich nur von Kraftpunkten spricht, die eine innerliche Verwandtschaft dann haben mit demjenigen, was außer einem ist. Der heutige Atomist kann das Leere nicht dem Vollen gleichsetzen. Denn wenn Demokritus das Leere so vorstellt, wie wir heute vom Leeren sprechen, so könnte er es nicht dem Sein gleichsetzen. Er kann es gleich­setzen, weil er in diesem Leeren drinnen sucht dasjenige, was Seelenträger ist, Seele, welche Träger des Logos ist. Wenn er diesen Logos auch mit einer Art von Notwendigkeit vor­stellt, so ist es die griechische Notwendigkeit, nicht unsere heutige Naturnotwendigkeit. Darauf kommt es an, wenn man verstehen will, was heute ist, wenn man in der richtigen Weise in die Vorstellungs- und Empfindungsnuance der äl­teren Zeiten hineinschauen kann.

Und nun kam die Zeit, die ich eben gestern charakteri­siert habe, die Zeit des Meisters Eckhart, die Zeit des Niko­laus Cusanus, in der auch das Bewußtsein von dem in der Seele lebenden Logos verloren ward. Der Meister Eckhart und der Cusaner fanden da, wo der alte Meister beim Hin-horchen in das Weltenall nur über die Stummheit zu klagen hatte, da fanden sie das Nichts, und mußten aus dem Nicht das Ich suchen.

Damit aber beginnt überhaupt erst die neuere Zeit des menschlichen Denkens. Jetzt hat die Seele nicht mehr den lebendigen Logos in sich, jetzt hat sie die Ideen und Begriffe in sich, wenn sie in sich hineinschaut, die Vorstellungen, das­jenige, was zuletzt zu den Abstraktionen führt. Jetzt ist sie noch dünner geworden. Die dritte Phase der menschlichen Anschauung beginnt. Einstmals in der ersten Phase hat die Seele in sich des Geistes Urgestalt erlebt. Sie war sich Geistes-Bote. Die zweite Phase: Die Seele erlebt in sich das lebendigen Logosbild des Geistes, sie wird sich Logosträger, Jetzt wird sie gewissermaßen Behältnis von Ideen und Be­griffen, die in der Sicherheit der Mathematik zwar zum Vorschein

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kommen, die aber Begriffe und Ideen sind. Sie fühlt sich innerlich am verdünntesten, möchte man sagen.

Und wiederum wächst der Körperwelt Robustheit zu (siehe Schema). Es entsteht die dritte Art, wie sich der

Mensch fühlt. Er kann sein Seelisches noch nicht ganz auf­geben, aber er fühlt dieses Seelische als den Behälter des Ideellen, und er fühlt den Leib nun nicht mehr bloß als Kraft, sondern als ausgedehnten Körper.

Seele: ideell,

Leib: ausgedehnter Körper.

Der Körper ist noch robuster geworden. Er ist in der An­schauung zu dem geworden, was den Geist nunmehr völlig verleugnet. Hier begegnet uns erst der Körper, von dem dann Hobbes, Bacon sprachen, Locke sprach; hier be­gegnet uns der Körper, der am dichtesten geworden ist, und zu dem das Innere des Menschen keine Verwandtschaft mehr fühlen kann, nur noch eine abstrakte Beziehung, die sich immer mehr und mehr herausbildet in der Entwickelung des menschlichen Anschauens. An die Stelle des früher konkre­ten Gegensatzes Seele und Leib, Mensch und Natur, tritt jetzt ein anderer Gegensatz, der immer mehr und mehr in die Abstraktion hineinkommt.

Dasjenige, das sich früher noch, weil es in sich das Logos-bild der Gottheit fühlte, in sich konkret vorkam, das ver­wandelte sich allmählich bloß zum Gefäß des Ideellen, das wurde sich Subjekt, und stellte sich dasjenige, mit dem es gar keine Verwandtschaft mehr fühlte - während es alle Verwandtschaft in der alten Geistzeit gefühlt hat - stellte sich das als Objekt gegenüber.

#Bild s. 35

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Der frühere menschliche Gegensatz von Seele und Leib, von Mensch und Natur, wurde der immer mehr und mehr bloß erkenntnistheoretische Gegensatz zwischen dem Subjekt, das in einem ist, und dem Objekt, das draußen ist. Die Natur verwandelte sich in das Objekt des Erkennens. Kein Wun­der, daß die Erkenntnis aus dem eigenen Bedürfnisse heraus nach dem Objektiven schlechthin strebte.

Was aber ist dieses Objektive? Dieses Objektive ist nicht mehr dasjenige, was dem Griechen die Natur war; dieses Objektive ist dasjenige von äußerer Körperlichkeit, in dem kein Geistiges mehr geschaut wird. Es ist die Natur, die geistlos geworden ist, die von außen, vom Subjekt aus be­griffen werden soll. Weil der Mensch erst aus seinem Wesen heraus verloren hat den Zusammenhang mit der Natur, suchte er eine Naturwissenschaft von außen.

Da sind wir wiederum auf dem Punkte, mit dem ich gestern den Schluß machen konnte, indem ich sagte: der Cu­saner sah auf das, was ihm die göttliche Welt sein sollte, und er sagte: Man muß vorher Halt machen mit der Er­kenntnis, man muß schreiben, wenn man von der göttlichen Welt schreibt, von einer docta ignorantia. Und leise nur wollte er in den Symbolen, die aus der Mathematik genom­men sind, etwas festhalten von dem, was so als das Geistige ihm erschien. Aber er war sich bewußt, das kann man nicht, das Geistige in mathematischen Symbolen festhalten.

Und ich sagte, etwa 100 Jahre darnach - 1440 ist die docta ignorantia erschienen - 1543 ,,De Revolutionibus orbium coelestium", etwa ein Jahrhundert später bemäch­tigt sich mit mathematischem Geiste Kopernikus gewisser­maßen der anderen, der äußeren Seite desjenigen, was der Cusaner nicht in der Mathematik, nicht einmal symbolisch mit ihr voll erfassen konnte. Und wir sehen heute, wie tat­sächlich die Anwendung dieses mathematischen Geistes auf die Natur in dem Momente entsteht, wo dem Menschen aus dem unmittelbaren Erleben die Natur entfällt. Das kann man bis in die Sprachgeschichte hinein nachweisen, denn ,,Natur" deutet noch hin auf etwas, was mit dem Geboren-werden verwandt ist; während. dasjenige, was heute als die

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Natur angesehen wird, bloß die Körperwelt ist, die aber in sich bloß das Tote enthält, - ich meine für das menschliche Anschauen natürlich, denn die Natur enthält heute noch immer selbstverständlich das Lehen und den Geist, aber für das menschliche Anschauen ist sie ein Totes, ein' Totes ge­worden, zu dessen Erfassung vor allen Dingen zunächst das sicherste Begriffswissen gelten soll, das mathematische.

So sehen wir eine mit innerer Gesetzmäßigkeit ablaufende Entwickelung der Menschheit vor uns: erste Epoche, wo der Mensch Gott und Welt gesehen hat, aber Gott in der Welt, die Welt in Gott, das Monon - die Einheit. Zweite Epoche, wo der Mensch gesehen hat in der Tat Seele und Leib, Mensch und Natur; Seele - Träger des lebendigen Logos dessen, was nicht entsteht und nicht vergeht; Natur - das­jenige was entsteht und stirbt. Dritte Phase, wo der Mensch aufgestiegen ist zu dem abstrakten Gegensatz: Subjekt, das er selber ist, Objekt, das die Außenwelt ist. Das Objekt ist das Robusteste, in das gar nicht mehr versucht wird, mit den Begriffen hineinzuleuchten, das empfunden wird als das dem Menschen Fremde, das von außen untersucht wird mit der Mathematik, welche kein Talent dazu hat, in das Innere als solches zu dringen, daher sie auch der Cusaner nur sym­bolisch auf das Innere, und das schüchtern, anwandte.

So muß man sich aus älteren Anlagen der Menschheit das Bestreben denken, Naturwissenschaft zu entwickeln. Es mußte die Epoche einmal herankommen an die Menschen, wo diese Naturwissenschaft entstehen mußte. Sie mußte auch so werden, wie sie ist. Das sehen wir gerade, wenn wir scharf die Phasen ins Auge fassen, wie die erste Phase, die ich charakterisiert habe in der geistigen Menschheitsentwicke­lung, hingeht bis zu jenem alten, südlichen Weisen des 8. vorchristlichen Jahrhunderts, den ich Ihnen heute charak­terisiert habe, die zweite von ihm bis zu Nikolaus von Cu-es, die dritte, in der stehen wir drinnen.

Die erste ist pneumatologisch' nach dem Geist in seiner Urgestalt gerichtet; die zweite ist myslisch, wenn man das Wort mystisch im weitesten Sinne nimmt; die dritte ist mathematisch. So, wenn wir die eigentlichen charakteristischen

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Merkmäle nehmen, zählen wir die erste Phase bis zu dem alten südlichen Weisen, den ich Ihnen heute geschildert habe; bis zu ihm zählen wir die alte Pneumatologie; von ihm bis zu dem Meister Eckhart und dem Nikolaus Cusanus zählen wir die magische Mystik; von dem Kardinal Niko­laus Cusanus bis in unsere Zeit und weiter zählen wir die Zeit der mathematisierenden Naturwissenschaft.

Darauf wollen wir dann morgen weiter bauen.

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III. Vortrag, 26. Dezember 1922.

#G326-1969-SE039 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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III. Vortrag, 26. Dezember 1922.

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Meine sehr verehrten Anwesenden und lieben Freunde!

Es ist von mir versucht worden, in den beiden letzten Betrachtungen den Zeitpunkt anzudeuten, in dem innerhalb der neueren Menschheitsentwickelung naturwissenschaftliche Anschauung und naturwissenschaftliches Denken, wie wir es heute verstehen, entstanden ist, und ich konnte gestern daraüf hinweisen, daß der ganze Charakter dieses naturwissenschaftlichen Denkens, wie er zuerst am deutlichsten hervortritt in der Auffassung der Astronomie durch Koper­nikus, daß dieser ganze Charakter des naturwissenschaft­lichen Denkens abhängig ist von der Art, wie man allmäh­lich im Laufe der Menschheitsentwickelung die Mathematik, das mathematische Denken in ein Verhältnis brachte zur äußeren Weltwirklichkeit.

In der Tat hängt außerordentlich viel für die wissen­schaftliche Entwickelung der neueren Zeit davon ab, daß auch in Bezug auf das mathematische Denken selber ein Um­schwung - man möchte fast sagen - eine Revolution der menschlichen Anschauung eingetreten ist. In der Gegen­wart ist man ja so sehr enei t die Art und Weise, wie man selber denkt in dieser Gegenwart, gewissermaßen als etwas absolut Geltendes hinzustellen, und gar nicht das Augen-merk darauf zu richten, wie sich die Dinge verändert haben.

Man hat heute eine gewisse Stellung zur Mathematik, und wiederum eine gewisse Anschauung über das Verhält­nis des Mathematischen zu dem Weltwirklichen. Und man denkt, das sei eben einmal das Gegebene, das richtige Ver­hältnis. Gewiß, man diskutiert darüber, aber innerhalb ge­wisser Grenzen betrachtet man das als das richtige Verhält­nis und denkt nicht daran, in welch einer uns eigentlich gar nicht so besonders ferne liegenden Vergangenheit über die Mathematik selber von der Menschheit anders empfunden Worden ist. Man brauchte sich nur einmal mit einer ge­nügenden Schärfe daran zu erinnern, wie auch nicht lange

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nach jenem Zeitpunkt, den ich als den bedeutungsvollsten des neueren Geisteslebens bezeichnet habe, bald nach diesem Zeitpunkt, in dem der Cusaner seine bedeutungsvollen Aus-einandersetzungen der Welt gegeben hat, wie bald nach diesem Zeitpunkte nicht nur Kopernikus mit einem mathe­matisch orientierten Denken die Bewegungen des Sonnen-systems erklären wollte, mit einem schon so mathematisch orientierten Denken, wie wir es auch heute gewöhnt sind, sondern wie auch Philosophen, Cartesius, Spinoza, geradezu ihr Ideal darinnen gesehen haben, die Art und Weise, wie man in der Mathematik denkt, auf' das umfassendste Dar­stellen des ganzen physischen und geistigen Weltengebäudes anzuwenden.

Spinoza, der Philosoph, legte einen besonderen Wert darauf, seine philosophischen Grundsätze und Forderungen selbst in einem solchen Buche, wie in seiner ,,Ethik" so dar­zustellen, daß, wenn auch nicht mathematische Formeln, wenn auch nicht Rechnungen in diesem Buche eben eine be­sondere Rolle spielen, doch die Art des Schließens, die Art, spätere Gesetze aus früheren herzuleiten, nach dem Muster des Mathematischen geschehe. Das war nach und nach den Zeitgenossen wie etwas Selbstverständliches erschienen, daß man in der Mathematik ein Musterbild für die Erlangung innerer Gewißheit in sich selber trage, und daß, wenn es gelinge, den Weltenverlauf durch Gedanken so auszudrücken, daß diese Gedanken in der haarscharfen Architektonik an­einandergegliedert sind, wie die Gedanken des mathema­tischen, des geometrischen Systems, daß man dadurch eben etwas erreiche, was der Wirklichkeit entsprechen muß.

Aber die besondere Art, wie man sich zur Mathematik und zum Verhältnis der Mathematik zur Wirklichkeit stellt, die muß. auch wenn man den Charakter naturwissenschaft­lichen Denkens richtig erfassen will, durchaus verstanden werden. Die Mathematik war in jener Zeit allmählich das geworden, was man nennen könnte im Verhältnis zu etwas Früherem, das ich gleich nachher charakterisieren werde, was man nennen könnte: ein sich selbst genügsames inneres Denk­vermögen. Was meine ich nun?

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Man kann schon sagen, daß man die Mathematik für die Zeit des Descartes, des Cartesius, für die Zeit des Koper­nikus so charakterisieren kann, wie man das annähernd auch noch heute kann. Nehmen wir zum Beispiel einmal den heutigen Mathematiker, der Geometrie darstellt, der inner­halb der geometrischen Vorstellungswelt ja auch seine ana­lytischen Formeln sucht; um diese oder jene physikalischen Vorgänge zu begreifen, nehmen wir diesen Mathematiker. Er geht als Geometer - zunächst in der Auffas­sung der euklidischen Geometrie - , von dem dreidimen­sionalen Raume aus, oder überhaupt von dem dimensionalen Raum, wenn man etwa auch auf die nicht-euklidische Geo­metrie Rücksicht nehmen wollte, und er unterscheidet im dreidimensionalen Raum drei aufeinander senkrecht stehende, aber im Uebrigen gleichartige Richtungen. Es ist der Raum

- ich möchte sagen - ein sich selbst genügendes Gebilde, das einfach so, wie ich es jetzt beschrieben habe, vor das Be­wußtsein hingestellt wird, ohne daß viel gefragt wird: wo­her kommt dieses Gebilde, woher kommt überhaupt das ganze geometrische Vorstellen?

Bei der Aeußerlichkeit, welche in der neueren Zeit das psychologische Denken allmählich angenommen hat, war es auch natürlich, daß der Mensch nicht in jene Seelentiefen, überhaupt nicht in jene inneren Tiefen hinuntersteigen konnte, aus denen die Grundlagen zum Beispiel des geo­metrischen Denkens heraufkommen. Der Mensch nimmt ein­fach sein gewöhnliches Bewußtsein hin und erfüllt dieses gewöhnliche Bewußtsein mit der erdachten, aber nicht er­lebten Mathematik. Nehmen wir es im speziellen FaJl mit den erdachten, nicht erlebten, drei aufeinander senkrecht stehenden Dimensionen des euklidischen Raumes. Aber nie­mals wäre der Mensch zu jenem Erdenken der drei aufein­ander senkrecht stehenden Dimensionen des euklidischen Raumes gekommen, wenn er nicht in sich erlebte eine drei­fache Orientierung. Die eine Orientierung, die der Mensch in sich erlebt, ist von vorne nach rückwärts.

Wir brauchen nur daran zu denken, wie sich der äußer­lichen heutigen anatomisch-physiologischen Betrachtungsweise

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für den Menschen, - ich spreche dabei nur von den Men­schen, nicht von den Tieren, das ist in diesem Zusammen­hange nicht notwendig - wie sich für den Menschen, sagen wir zum Beispiel die Nahrungsaufnahme und das Absondern, und auch sonstige Vorgänge des Organismus in der Richtung von vorn nach hinten abspielen, und wie diese Orientierung ganz bestimmter Vorgänge im Innern des Menschen ver­schieden ist von dem, wenn ich zum Beispiel irgend etwas ausführe mit meinem rechten Arm, und dazu symmetrisch etwas ausführe mit meinem linken Arm. Da sind die Vor­gänge orientiert nach Rechts und Links. Und endlich, wir brauchen uns nur zu erinnern, wie mit Bezug auf eine andere Orientierung der Mensch eigentlich erst während seines Er­dendaseins in diese Orientierung hineinwächst. Er kriecht im Anfange und richtet sich allmählich erst so auf, daß eine Orientierungslinie in ihm selber von oben nach unten oder von unten nach oben fließt.

So wie die Dinge heute stehen, so nimmt man diese drei Orientierungen des Menschen recht äußerlich hin, indem man ja nicht innerlich erlebt, sondern von außen anschaut, was Vorgänge im menschlichen Organismus sind, die sich im We­sentlichen von vorn nach hinten, oder solche, die sich von rechts nach links oder von links nach rechts, oder solche, die sich von oben nach unten abspielen. Könnte man seelenbetrach­tend in frühere Zeitalter zurückgehen mit einer wirklichen Psychologie, so würde man eben wissen, daß für eine ältere Menschenempfindung, ein älteres Menschenerleben diese drei Orientierungen innere Erlebnisse waren; so wie wir heute als innere Erlebnisse - ich möchte sagen - halbwegs noch an­erkennen das Gedanken-haben, Gefühle-haben, so hatte der Mensch einer früheren Zeit ein richtiges inneres Erlebnis -sagen wir - von dem von Vorn nach Hinten. Für ihn war noch nicht verloren gegangen - sagen wir - die Ablähmung des vorne in der Mundhöhle sich intensiv entwickelnden Ge­schmacks gegen hinten zu. Das Qualitative, das darinnen lag, daß man den Geschmack intensiv vorne auf der Zunge fühlte, und dann ihn immer schwächer und schwächer empfand, in­dem er sich zurückzog in der Orientierung von vorn nach

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hinten, und endlich sich ganz verlor, dieses Erleben war einmal für das innere menschliche Erleben etwas ganz Reales, Konkretes. Man verfolgte mit solchen Qualitätserleb­nissen die Orientierung von vorne nach hinten. Der Mensch ist eben nicht mehr so innerlich, wie er einmal war. Daher hat er solche Erlebnisse, wie ich sie eben charakterisiert habe, heute nicht mehr. Ebenso wenig hat der Mensch heute eine lebendige Empfindung von der Einstellung der Augenachse,, um irgendeinen Punkt durch das Uebergreifen der rechten Augenachse mit der linken zu fixieren. Ebenso wenig hat der Mensch heute eine voll konkrete Empfindung von dem, was ihm wird als Mensch, wenn er in der Orientierung rechts-links zuordnet, - sagen wir - den rechten Arm und die rechte Hand, den linken Arm und die linke Hand. Und erst so etwas, wie, daß man sich sagen kann: Im Haupte durch­leuchtet mich der Gedanke, er schlägt ein, indem er sich in der Orientierung von oben nach unten bewegt in mein Herz - eine solche Empfindung, ein solches Erlebnis ist eben mit der Innerlichkeit des Welterlebens für den Menschen verloren gegangen. Aber ein solches Erleben war da. Der Mensch hat zunächst in sich die drei aufeinander senkrecht stehenden Raumorientierungen erlebt. Und diese drei Raum-Orientierungen, sein Rechts-Links, sein Vorne-Hinten, sein Oben-Unten, die sind die Grundlage des dreidimen'sionalen Raumschemas. Das dreidimensionale Raumschema ist erst eine Abstraktion dieses Ihnen eben charakterisierten un­mittelbaren Erlebens.

Wie können wir also sprechen etwa, wenn wir auf ältere Zeiten hinschauen zu der Geometrie, zu diesem Teil der Mathematik? Wir können so sprechen, daß wir sagen: Der ältere Mensch war sich klar darüber, daß er sich sagen konnte: durch meine Menschlichkeit offenbart sich mir in meinem eigenen Leben das Mathematische, das Geometrische, und indem ich verlängere mein Oben-Unten, mein Rechts-Links, mein Vorne-Hinten, umfasse ich von mir aus die Welt.

Man muß nur einmal empfinden, was für ein gewaltiger Untersehied besteht zwischen dieser an das menschliche Er-leben gebundenen mathematischen Empfindung, und dem

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kahlen, öden mathematischen Raumschema der analytischen Geometrie, die irgendwohin in einen abstrakten Raum einen Punkt stellt, drei aufeinander senkrechte Koordinaten-Achsen zieht und abgesondert von allem Erleben das erdachte Raum-schema hat.

Aber dieses erdachte Raumschema hat sich der Mensch erst aus seinem eigenen Innenleben herausgerissen. So daß man tatsächlich die Entstehung der späteren mathematischen Anschauungsweise, die dann die Naturwissenschaft ergriffen hat, daß man tatsächlich diese Anschauungsweise, wenn man sie richtig verstehen will, in ihrem selbstgenugsamen Hin-stellen ihrer Gebilde, daß man sie, um sie richtig zu ver­stehen, ableiten muß aus der erlebten Mathematik einer frü­heren Zeit. Die Mathematik einer früheren Zeit war eben etwas ganz anderes. Und dasjenige, was einmal vorhanden war in einem - ich möchte sagen - träumhaften Erleben der inneren Dreidimensionalität, und was sich dann verab­strahiert hat, das ist heute völlig im Unbewußten vorhanden. In der Tat ist es auch heute beim Menschen noch so, daß er sich die Mathematik aus seiner eigenen inneren Dreidimen­sionalität herausholt; aber dieses Herausholen des Raum-schemas aus demjenigen, was der Mensch an innerer Orien­tierung erlebt, geschieht auf völlig unbewußte Weise. Davon kommt nichts ins Bewußtsein herauf. Ins Bewußtsein kommt herauf zum Beispiel das fertige Raumschema, wie überhaupt alle fertigen, von ihrer Wurzel abgelösten mathematischen Gebilde.

Ich habe das Beispiel des Raumschemas gewählt. Ich könnte ebensogut irgendeine andere mathematische Kategorie anführen, auch noch mathematische Kategorien aus der Al­gebra' aus der Analysis, aus der Arithmetik; sie sind nichts anderes, als aus unmittelbarem menschlichem Erleben ins Abstrakte heraufgeholte Schemata.

Sehen Sie, wenn man weiter zurückgeht auf' die Art und Weise, wie die Menschen über das Mathematische gedacht haben, zurückgeht etwa um ein paar Jahrhunderte vor dem 15., 16. oder 17. Jahrhundert, dann findet man, daß die

Menschen wenigstens noch einen Nachklang von Empfindung

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haben bei den Zahlen. Sie hätten ja auch nicht, die Menschen, in der Zeit in der die Zahlen schon jenes Ab­strakte geworden waren, was sie heute sind, sie hätten ja auch nicht Namen für die Zahlen finden können. Die Namen für die Zahlen sind oftmals so außerordentlich charakterist­isch.

Denken Sie doch nur an das ,,Zwei", das deutlich noch einen konkreten Vorgang ausdrückt: entzweien' ja das sogar zusammenhängt mit zweifeln. Aber es ist nicht die Nachbil­dung eines Aeußeren' wenn die Zahl Zwei bezeichnet wird durch das Entzweien, sondern es ist tatsächlich ein im Inneren Erlebtes, das zum Schema gemacht wird, ein aus dem Innern Heraufgeholtes, geradeso' wie das abstrakte dreidimensio­nale Raumschema aus dem Innern herausgeholt ist. Und da kommen wir zurück zu einer Zeit, die in ihrer vollen geisti­gen Lebendigkeit zum Beispiel vorhanden war noch in den ersten christlichen Jahrhunderten, und deren geistige Eigen­tümlichkeit schon daraus ersehen werden kann, daß Mathe­matik, Mathesis, mit Mystik fast als eins angesehen wird. Mystik, Mathesis, Mathematik sind eines. Sie. sind nur in gewisser Beziehung eines. Für einen Mystiker in den ersten christlichen Jahrhunderten ist die eigentliche Mystik das­jenige, was man mehr seelisch innerlich erlebt; die Mathe­matik ist jene Mystik, die man mehr äußerlich mit dem Körper erlebt, zum Beispiel die Geometrie mit den Orien­tierungen der Körper von vorne-hinten, rechts-links, oben-unten.

Man möchte sagen: die eigentliche Mystik ist eben see­lische Mystik, und die Mathematik, Mathesis, ist körperliche Mystik. Man erlebt innerlich die eigentliche Mystik eben in dem, was man sehr häufig Mystik nennt, und man erlebt die Mathesis, die andere Mystik, indem man ein Innenerleb­nis des Körperlichen hat, indem man dieses Innenerlebnis des Körperlichen noch nicht verloren hat.

Tatsächlich ist auch der Charakter, wie Cartesius und Spinoza von der Mathematik noch fühlen oder - ich möchte sagen - von der mathematischen Methode noch fühlen, ganz

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anders geartet. Man vertiefe sich nur einmal nicht so äus­serlich, wie man das heute tut, wo man immer die jetzigen, uns in den Kopf eingehämmerten Begriffe auch bei den alten Denkern finden will, sondern wo man selbstlos aus sich herausgehen kann, in diese Denker, und man wird finden, daß Spinoza selbst noch etwas von mystischem Empfinden hat, indem er sich der mathematischen Methode hingibt. Schjießlich unterscheidet sich die Philosophie des Spinoza von der Mystik eigentlich gar nicht anders als dadurch, daß ein Mystiker von der Art - sagen wir - eines Meister Eckhart oder des Johannes Tauler eben mehr auf dem Ge­fühlsgrunde seine Weltengeheimnisse zu erleben versuchte während sie ein Spinoza, aber ebenso innerlich, in mathe­matisch-methodischen Linien, die eben nicht gerade geo­metrische Linien sind, aber nach mathematischer Methode innerlich erlebt werden, sich konstruiert. In Bezug auf die Seelenverfassung und Seelenstimmung im Erleben der my­stischen Methode des Meisters Eckhart und der mathe­matischen Methode des Spinoza ist eigentlich kein Unter­schied. Und derjenige, der einen Unterschied macht, der versteht eben eigentlich gar nicht, wie Spinoza richtig mathe­matisch ,,mystisch". seine ,,Ethik" zum Beispiel erlebt hat. Da ist noch ein Nachkiang bei diesem Philosophen aus der­jenigen Zeit, in der Mathematik, Mathesis und Mystik als einerlei Erlebnisse der Seele empfunden worden sind.

Nun werden Sie vielleicht, meine sehr verehrten An­wesenden und lieben Freunde, sich erinnern, wie ich in meinem Buche .über ,,Seelenrätsel" den Versuch gemacht habe, die menschliche Organisation wiederum in einer dem modernen Denken gemäßen Weise zu finden. Und ich habe - ich muß auf die Stelle im Anfang zu diesem Buch ,,Von Seelenrät­seln" verweisen - ich habe dort die menschliche Organi­sation, unter der ich zunächst die physische Organisation ver­stehe, gegliedert in das Nerven-Sinnes-System, in das rhyth­mische System und in das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem Ich brauche hier nicht besonders darauf hinzuweisen, daß damit nicht etwa, wie das von universitärer Seite aus kari­kiert worden ist, daß dadurch eine solche Gliederung des

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Menschen gemeint sei, wo die einzelnen Glieder nebenein­andergestellt werden im Raume; es wird Ihnen ja aus der Darstellung, die ich in meinem Buche ,,Von Seelenrätseln' gegeben habe, klar sein, daß diese Glieder ineinandergreifen, daß das Nerven-Sinnes-System, wenn man es Kopfsystem nennt, eben durchaus nur im Haupte, im Kopfe der Haupt­sache nach lokalisiert ist, daß es aber eben im ganzen Men­schen sich ausbreitet, daß diese drei Systeme ineinander-gehen, daß natürlich auch der Atmungs- und Blutrhythmus von dem mittleren Menschen, von dem Brustmenschen herauf sich erstreckt in die Kopfes-Organisation usw. usw. Die Gliederung ist also eine funktionelle, sie ist nicht eine lokale. Aber man lernt den Menschen doch durchschauen, wenn man ein inneres Verständnis für diese Gliederung hat.

Nun wollen wir uns einmal diese Gliederung heute zu einem bestimmteri Ziele vor Augen stellen. Fassen wir zu­nächst einmal das dritte Glied der menschlichen Organisa­tion, den Stoffwechsel-Gliedmaßenmenschen ins Auge.

Wir können ja zunächst unser Augenmerk auf dasjenige richten, was uns in diesem Gliede der Menschenwesenheit besonders ins Auge fällt. Wir können das Augenmerk da­rauf richten, daß der Mensch sein äußeres Leben, insofern er ein Sinneswesen ist, dadurch vollbringt im Erdendasein, daß er dasjenige, was in seinen Gliedmaßen lebt, anschließt an die inneren Erlebnisse, von denen ich einzelne charakteri­siert habe, namentlich das innere Orientierungserlebnis nach den drei Raumrichtungen, nach den drei Richtungen. Das Gliedmaßensystem des Menschen fügt sich gewissermaßen in seinen äußeren Bewegungen, in seiner Einorientierung in die Welt an dasjenige, was innere Orientierung in den drei genannten Richtungen ist. Wir fügen uns in einer ge­wissen Weise in das Erlebnis des Oben und Unten im Gehei' ein. Wir fügen uns bei manchem, was wir mit unseren Händen ausführen oder mit unseren Armen, in die Orientierungs-richtung rechts-links ein. Ja, wir fügen uns mit unserem Sprechen sogar, insofern das Sprechen eine Bewegung des Luftartigen im Menschen ist, wir fügen uns der Richtung vorne-hinten, hinten-vorne ein. Indem wir uns in der Welt

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bewegen, stellen wir unsere innere ,Orientierung in die äußere Welt hinein.

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Sehen wir jetzt einmal den wahren Vorgang gegenüber dem bloß Illusionären in einem bestimmten mathematischen Fall. Es ist etwas Illusionäres, etwas rein im .Gedankenschema Verlaufendes, wenn ich irgendwo im Welten all finde einen Raum­vorgang und gehe dann als analytischer Mathematiker an diesen' Raumvorgang so heran, daß ich mir aufzeichne oder auch denke die drei Koordinaten des gewöhn­lichen Koordinaten-Achsensystems' und - sagen wir - ich ordne irgendeinen äußeren Vorgang, der dem Raum angehört, nun ein in dieses rein konstruierte Raumschema des Descartes, des Cartesius. Das ist ja nur dasjenige, was sich - ich möchte sagen - da oben durch das Nerven-Sinnes-System des Menschen in dem Gebiete des Gedankenschematischen abspielt. Zu einem Ver­hältnis des Menschen zu einem solchen Vorgang im Raume würde man nicht kommen, wenn nicht zu Grunde läge das, was man mit seinen Gliedmaßen tut, mit seinem ganzen Menschen übrigens auch tut, daß man nach der inneren Orientierung des Oben-Unten, Rechts-Links, Vorne-Hinten sich hineinstellt in die ganze Welt. Ich weiß, wenn ich nach vorwärts gehe, daß ich mich auf der einen Seite in das Oben und Unten einstelle, um aufrecht bleiben zu können. Ich weiß aber auch, daß ich mich in das Hinten und Vorne mit meiner Gangrichtung hineinstelle, und etwa wenn ich schwim­me und die Arme benütze, orientiere ich mich hinein mit dem Rechts-Links in die Welt. Ich habe gar nicht dasjenige, was der Sache zu Grunde liegt, wenn ich das Cartesius'sche Raum-schema nehme, das abstrakte Koordinaten-Achsensystem neh­me. Ich habe dasjenige, was überhaupt dem Menschen den Eindruck der Wirklichkeit gibt, wenn er mit den Raumdingen verkehrt, ich habe das erst, wenn ich mir sage, da oben im Kopf-Nerven-System spielt sich eigentlich das illusionäre Bild ab von etwas, was tief im Unterbewußtsein, nämlich da sich

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abspielt, wo der Mensch eben nicht mit seinem gewöhnlichen Bewußtsein hinkommt, was sich abspielt zwischen seinem Gliedmaßensystem und der Welt. Und die ganze Mathe­matik, die Geometrie ist heraufgeholt aus unserem Bewe­gungssystem.

Wir hätten keine Geometrie, wenn wir nicht nach inner­licher Orientierung uns in die Welt hineinstellten. In Wahr­heit geometrisieren wir, indem wir dasjenige, was sich im Un­bewußten abspielt, in das Illusionäre des Gedankenschemas heraufheben. Dadurch erscheint es uns als etwas so abstrakt Selbständiges. Das ist aber eben erst dasjenige, was in der neueren Zeit eingetreten ist; in der Zeit, in der die Mathe­sis, die Mathematik der Mystik noch nahe empfunden wurde da wurde einem auch das mathematische Verhalten zu den' Dingen etwas Menschliches.

Was ist denn schließlich Menschliches darinnen enthal­ten, wenn ich einen Nullpunkt, den ich irgendwo in den Raum auch nur gedacht hineinstelle, durchkreuzen lasse von drei aufeinander senkrechten Richtungen, und dieses Raum­sd'ema zusammenfallen lasse mit einem Vuigang, den ich im wirklichen Raume wahrnehme? Es ist ja ganz abgeson­dert vom Menschen, es ist ja etwas ganz Unmenschliches. Dieses Unmenschliche, das eben in der neueren Zeit aufge­treten ist im mathematischen Gedankenbau, dieses Unmensch­liche war einmal ein Menschliches. Aber wann war es ein Menschliches?

Nun, die äußere Zeit habe ich Ihnen ja eigentlich ange­geben, aber das Innere ist noch davon zu charakterisieren. wann war es ein Menschliches? Damals war es ein Mensch­liches, als der Mensch hinter seinen Bewegungen, hinter seinen Einordnungen seiner inneren Orientierung in den Raum, nicht nur innerlich noch erlebte: Du gehst von hinten nach vorne und bewegst dich so, daß du dein Gleichgewicht erlebst von oben und unten, und du bildest vielleicht ein anderes Gleichgewicht mit dem Rechts-Links, sondern als der Mensch noch fühlte, daß ja in jedem solchen Gehen, in jeder solcher Geometrie innerlich das Blut tätig ist. Es ist ja immer eine Blutstätigkeit dabei, wenn ich nach vorne gehe.

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Und was war für eine Blutstätigkeit vorhanden, als ich als Kind mich aufrichtete aus der horizontalen Lage in die ver­tikale Lage! Hinter den Bewegungen des Menschen, hinter dem Erleben der Welt durch das Bewegen, das ja auch ein innerliches Erlebnis sein kann und es einmal war, hinter dem steht das Bluterlebnis. Denn in der kleinsten und in der größten Bewegung, die ich erlebe, indem ich sie selber aus-führe, liegt ja das Bluterlebnis, das damit verknüpft ist. Nur, sehen Sie, heute sehen wir eben das Blut als dasjenige an, was sich uns darbietet, wenn wir z. B. in die Haut stechen und da der rote Saft herausfließt, oder wenn wir uns in ähnlicher Weise äußerlich von dem Dasein des Blutes über­zeugen.

Aber die Zeit, wo die Mathematik, die Mathesis, noch angeschlossen war an die Mystik, wo das Bewegungserlebnis innerlich, wenn auch traumhaft, in Verbindung war mit dem Bluterlebnis, diese Zeit erlebte das Blut innerlich. Das heißt, der Mensch wurde etwas anderes , wenn er verfolgte, wie seine Lungenadern das Blut durchpulste, als wenn durch seine Kopfadern das Blut durchrollt. Und er verfolgte das Durchrollen des Blutes beim Aufheben des Knies, beim Auf­heben des Fußes, und er durchfühlte sich, durchlebte sich innerlich in seinem Blut. Das Blut hat eine andere Schat­tierung, wenn ich den Fuß hoch aufhebe, als wenn ich ihn auf den Boden gesetzt habe. Das Blut hat eine andere Schat­tierung, wenn ich blöde dasitze und faul schlafe, als wenn ich Gedanken durch den Kopf schießen lasse.

So kann der ganze Mensch innerlich Gestalt werden, in verschiedenen Nuancierungen Gestalt werden, wenn er das Bluterlebnis hinter dem Bewegungserlebnis hat. Stellen Sie sich lebendig das vor, was ich hier meine. Denken Sie sich, Sie gehen langsam, Schritt vor Schritt; Sie fangen an, schnel­ler zu gehen; Sie fangen an, zu laufen; Sie fangen an, sich zu drehen, in allerlei Weise zu tanzen, und Sie würden nicht mit dem heutigen abstrahierenden Bewußtsein, sondern mit innerlichem Erleben zuerst die ganz langsame Art, sich in den Raum hineinzustellen, in allen drei Orientierungen haben. Sie würden das Schnellerwerden haben, Sie würden

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das Laufen haben, das Drehen, das Tanzen, aber Sie wür­den dabei immer haben das entsprechende Bluterlebnis, zu­erst, jene innere Schattierung, die Sie natürlich nur immer empfindend erleben können; beim Langsamgehen, - beim

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Laufen, beim Drehen, beim Tanzen wäre es je-weils anders -, so daß Sie, wenn Sie recht vom Innern heraus Ihr Bewe­gungserlebnis hinzeichnen wollten, vielleicht Folgen­des hinzeichnen müßten. Aber jetzt würden Sie hinzeichnen für jede La­ge, in der Sie während dieses Bewegungserle­bens waren, ein inner­liches Bluterlebnis:

Das erste Erlebnis, das Bewegungserlebnis, von dem .würden Sie sagen, Sie erleben es gemeinsam mit dem äus­seren Raume, denn Sie gehen. fortwährend aus Ihrem Orte heraus. Das zweite Erlebnis, das ich durch Farben hinge-zeichnet habe, ist ein Zeiterlebnis, ist eine Aufeinanderfolge von inneren intensiven Erlebnissen. Sie können in der Tat auch, wenn Sie nun die Kunst ausführen, im Dreieck zu laufen, Sie können ein innerliches Erlebnis haben, das Blutserlebnis.

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Wenn Sie im Viereck laufen, können Sie ein anderes Blutserlebnis haben. Dasjenige, was äußerlich quantitativ,

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was äußerlich geometrisch ist, ist innerlich im Blutserlebnis intensiv qualitativ.

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Sehen Sie, das ist das Ueberraschende, das ungeheuer Ueberraschende, wenn man darauf kommt, daß eine ältere Mathematik ganz anders redet vom Dreieck und Viereck; wenn darinnen gesehen wird allerlei Geheimnisvolles, so ist das nicht ein Geheimnisvolles, wie es die heutigen nebu­losen Mystiker beschreiben, sondern es ist dasjenige, was einer etwa beim Dreieck erlebt hätte innerlich im Blute, wenn er das Dreieck abgelaufen wäre, was einer innerlich erlebt hätte im Blute, wenn er das Viereck abgelaufen ware. Und gar jenes Blutserlebnis, das für das Pentagramrn gilt! Sie sehen, im Blute wird die ganze Geometrie qualitativ inneres Erlebnis.

Wir kommen in die Zeit zurück, die wahrhaftig sagen durfte: Blut ist ein ganz besonderer Saft. Denn wird er inner­lich erlebt, dieser Saft, so saugt er alle geometrischen Gebilde auf, macht sie zu intensiven inneren Erlebnissen, aber der Mensch lernt ja dadurch auch sich selber kennen. Er lernt kennen, was es heißt, ein Dreieck erleben, was es heißt, ein Viereck erleben, was es heißt, ein Pentagramm erleben, und er lernt die Projektion der Geometrie auf das Blut und seine Erlebnisse kennen. Das war einmal Mystik. Die Mathe­matik, die Mathesis, stand nicht nur nahe der Mystik, son-dern sie war überhaupt die Bewegungsaußenseite, die Glied­maßenseite für das Innenerlebnis, für das Bluterlebnis.

Und die ganze Mathematik verwandelte sich aus einer Summe von Raumesgebilden für den Mystiker einstiger

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Zeiten in dasjenige, was im Blute erlebt wird, in rhyth­misches Innenerlebnis, aber intensives, mystisches, rhyth­misches Innenerlebnis.

Man kann sagen: der Mensch hatte einmal eine Erkennt­nis, - die erlebte er, - bei der er ganz dabei war, und er verlor gerade in dem Zeitpunkte, den ich Ihnen charak­terisiert habe, dieses Dabeisein seiner eigenen Wesenheit mit der Welt, dieses Dabeisein bei den Weltgeheimnissen, er verlor es. Er riß sich die Mathematik aus seinem Inneren heraus. Er hatte nicht mehr das Bewegungserlebnis, kon­struierte sich aber mathematisch die Zusammenhänge der Bewegungen draußen. Er hatte nicht mehr das Bluterlebnis; dadurch wurde ihm überhaupt das Blut in seinem Rhyth­mus etwas ganz Fremdes, er wurde sich selber fremd dabei in seinem Bluterlebnis.

Denken Sie sich, der Mensch reißt die Mathematik von seinem Körper los, sie wird ein Abstraktes. Er verliert das Verständnis für das Bluterlebnis. Die Mathematik geht nicht mehr nach dem Inneren. Und denken Sie sich das einmal, meine sehr verehrten Anwesenden und lieben Freunde, als eine Stimmung der Seele, die einmal auftrat. Denken Sie sich, daß die Seele früher anders gestimmt war, als sie später gestimmt wurde, daß sie früher so gestimmt war, daß sie eben den Zusammenhang zwischen Bluterlebnis und Be­wegungserlebnis suchte, und nachher von diesem das Eine ganz abgesondert hatte, das mathematische und geometrische Erlebnis ganz abgesondert hatte, nicht mehr auf die eigene Bewegung bezog, das Bluterlebnis verlor, denken Sie sich das wirklich als Historie, als Auftreten in den Stimmungen der Menschheitsentwickelung. Ja, ein Mensch, der früher gelebt hat, als Mathesis noch Mystik war, der setzte seinen ganzen Menschen in die Welt hinein; der mußte mit seinem eigenen Bewegungswesen den Kosmos abmessen. Er als Mensch maß den Kosmos ab. Er lebte in der Astronomie darinnen.

Der neuere Mensch stellt ein Koordinaten-Achsensystem hinein in den Kosmos. Er nimmt sich heraus. Der ältere Mensch empfand bei jeder geometrischen Figur ein Blutserlebnis.

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Der neuere Mensch empfindet kein Blutserlehnis, verliert den Zusammenhang zu seinem eigenen Herzen, in dem die Blutserlebnisse zentriert sind. Kann sich irgend je­mand denken, daß etwa im 7., 8. Jahrhundert des Mittelalters, als die Stimmung mit dem Bewegungserlebnis als mathe­matischem Erlebnis und mit dem Blutserlebnis als mystischem Erlebnis noch vorhanden war, daß da jemand eine koper­nikanische Astronomie begründet hätte, mit einem Koordina­ten-Achsensystem, einfach hineinzustellen in die Welt, abge­sondert von dem Menschen? Nein, das wurde möglich erst, als in der Menschheitsentwickelung diese besondere Seelen-verfassung auftrat. Und bald darnach wurde etwas anderes möglich. Das innere Bluterlebnis ist verloren gegangen. Die Zeit war reif, nun die Blutbewegungen am physischen Men­schenkörper äußerlich physiologisch-anatomisch zu ergrün­den. Und Sie haben so jenen Umschwung in der Mensch­heitsentwickelung, auf der einen Seite die Kopernikanische Astronomie und auf der anderen Seite die Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey, den Zeitgenossen des Bacon, des Hobbes, denn jenes In-die-Weltschauen mit abstrakter Mathematik kann nicht mehr geben die alte Ptolomäische Theorie. Die ist im Wesentlichen an den Menschen und seine erlebte Mathematik gebunden. Jetzt erlebt man das abgesonderte, mit einem beliebigen Nullpunkt auftretende Koordinaten-Achsensystem. Jetzt erlebt man nicht mehr in­nerlich das Bluterlebnis, jetzt entdeckt man physisch die Blut­zirkulation mit dem Herzen in der Mitte.

So stellte sich die Geburt der Naturwissenschaft in die ganze Menschheitsentwickelung hinein, in ihre bewußten und unterbewußten Prozesse, und nur so versteht man aus dem wirklichen Menschlichen heraus, was sich eigentlich zuge­tragen hat und was da sein mußte in der neueren Zeit, damit die uns heute so selbstverständliche Naturwissenschaft hat entstehen können überhaupt, damit jemandem einfallen konnte erst, solche Untersuchungen zu machen, die etwa zu der Harvey'schen Entdeckung des Blutkreislaufes führten.

Dies, meine sehr verehrten Anwesenden, werde ich dann morgen fortsetzen,

IV. Vortrag, 27. Dezember 1922

#G326-1969-SE055 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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IV. Vortrag, 27. Dezember 1922

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Meine sehr verehrten Anwesenden, meine lieben Freunde!

Gestern versuchte ich zu zeigen, wie eine ältere mensch­liche, Anschauung, aus der dann die moderne naturwissen-schaftliche Anschauung erst hervorgegangen ist, noch ver­band das Qualitative und, ich möchte sagen, auch das Fi-gurale der Mathematik, auch der Mathematik, insofern sie Geometrie ist, - wie sie verband das Quantitative also mit dem Qualitativen. So daß man zurückblicken kann in eine Weltanschauung, in der Erlebnis war nicht nur - sagen wir

- ein Dreieck oder irgendein anderes geometrisches Gebilde, gleichgültig ob man mit diesem geometrischen Gebilde eine Körperbegrenzung meint oder ob man etwa die Gestalt der Bewegungsbahn eines Körpers meint, also eine Anschauung, welche ein solches geometrisches Gebilde und auch ein arith-metisches Gebilde im innigen Zusammenhange sieht mit etwas auch intensiv qualitativ Erlebtem, sagen wir zum Bei­spiel ein Dreieck hervorgehend aus einem bestimmten Er­lebnis, ein Viereck hervorgehend aus einem bestimmten Er­lebnis.

Diese Anschauung konnte erst in eine andere sich ver­wandeln, als man das Bewußtsein verlor, daß alles Quan­titative, also auch alles Mathematische, ursprünglich dennoch von dem Menschen unmittelbar im Zusammenhange mit der Welt erlebt ist, als man dazu gekommen war, abzulösen dieses Quantitative von dem menschlich Erlebten. Und wir können ja geradezu streng diese Ablösung feststellen da, wo ersetzt wird jede Raumauffassung als etwas, in dem der Mensch selber drinnen steht, durch die heute übliche sche­matische Raumauffassung, wo man den Ausgangspunkt nimmt eben von einem beliebigen Orte aus, durch den man einfach die drei Koordinaten-Achsen zieht. Das Mathematische

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entstand erst in der Form, wie man es heute hat, und wie man durch es die sogenannten Naturerscheinungen beherrschen will, es entstand erst in dieser Form, nachdem man es vom Menschlichen abgelöst hatte.

Wenn ich mich etwas anschaulicher ausdrücken wollte, so müßte ich sagen: In einer älteren Zeit empfand der Mensch das Mathematische als etwas, was er in sich selber mit seinen Göttern oder mit seinem Gotte zusammen erlebte, wodurch der Gott die Welt ordnete, und gegenüber dem man es als kein Wunder anzusehen braucht, daß man die Welt nun auch in dieser Ordnung findet. Dagegen ist das Beziehen eines ganz willkürlichen Raumschemas oder eines anderen Mathe­matischen, trotzdem man es mit Wesentlichem in den soge­nannten Naturerscheinungen identifizieren kann, es ist das Beziehen dieses Abstrakt-Mathematischen auf Naturerschei­nungen etwas, das irgendwie in fester Weise sich mit mensch­lichen Erlebnissen nicht verbinden kann, daher auch im Grunde genommen nicht durchschaut werden kann, sondern höchstens konstatiert werden kann, daher auch in Wirklich­keit nicht Gegenstand eines Erkennens sein kann.

Man kann eigentlich von dieser Anwendung der Mathe­matik auf die Naturerscheinungen immer nur sagen, daß man findet, daß es so ist, daß dasjenige, das man erst mathematisch ausgedacht hat, dann auf die Naturerscheinungen paßt. Aber warum das so ist, kann man innerhalb dieser Anschauungs-welt nicht mehr finden.

Denken wir zurück an jene Anschauungswelt, von der ich Ihnen in diesen Tagen gesprochen habe, wo alles Kör­perliche galt als eine Abbildung des Geistigen. Da schaute man auf den Körper, fand in dem Körper das Abbild eines Geistigen. Man schaute dann zurück auf sich selbst, auf das, was man im Verein mit seinem Göttlichen als Abbild des Mathematischen durch seine eigene Körperkonstitution findet. Und genau ebenso, wie man in dem Kunstwerk eines Künst­lers den Abdruck seiner Ideen findet, ohne daß man dabei. etwas nicht Durchschaubares hätte, so findet man in den Kör­pern die mathematischen Abbilder desjenigen, was man er­lebt hat mit seinem Göttlichen zusammen, weil diese Körper

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draußen in der Natur ja selbst die Abbilder des Göttlich-Geistigen sind.

So ist also schon in demselben Momente, wo die Mathe­matik abgesondert wird von dem Menschen und dann doch auf eine Körperlichkeit bezogen wird, die einem nicht mehr ein Abbild des Geistes ist, so ist schon dadurch etwas A­gnostisches in die ganze Auffassung notwendigerweise hinein-gekommen.

Betrachten wir die Sache an etwas Konkretem, an der ersten Erscheinung, welche uns entgegentritt nach der Geburt der naturwissenschaftlichen Denkweise, betrachten wir die Sache an dem Kopernikanischen System.

Ich habe es heute nicht zu tun, überhaupt in diesen Vor­trägen nicht zu tun mit der Verteidigung des alten Ptole­mäischen Systems oder der Verteidigung des Kopernikani­schen System. Ich trete hier zunächst, indem ich nur historisch darstelle, weder für das eine noch das andere ein, habe es nur zu tun mit der Tatsache, daß das Kopernikanische System das Ptolemäische abgelöst hat. Es sollte also niemand etwa aus demjenigen, was ich heute zu sagen habe, schlies­sen, daß ich für das alte Ptolemäische System eintreten woll­te gegen. das Kopernikanische. Aber in bezug auf das ge­schichtliche Werden ist folgendes zu sagen:

Man versetze sich zurück in diejenige Zeit, in welcher der Mensch seine eigene Orientierung im Raume, - das Oben, Unten, Rechts, Links, Vorne, Hinten erlebt.

Er konnte sie nur erleben im Zusammenhange mit der Erde. Er konnte zum Beispiel das Oben und Unten an sich selber nur erleben im Zusammenhange mit der Schwerkraft-richtung. Und er erlebte das Rechts, Links, das Vorne, Hin­ten im Zusammenhange mit den Weitgegenden, nach denen ja die Erde selber orientiert ist. Aber er erlebte auch diese Orientierung mit der Erde zusammen, indem er sich fest auf der Erde stehend fühlte! Das heißt, der Mensch war sich nicht .nur für seine Gedanken irgend etwas, was bei seinem Kopfe anfing und bei seinen Fußsohlen aufhörte, sondern der Mensch erlebte sich vielmehr als etwas, durch das die Schwerkraft geht, die mit seinem Wesen etwas zu tun hat,

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die aber nicht bei den Schuhsohlen aufhört, so daß er, indem er sich in dem Schwerkraftwesen drinnen fühlte, sich als zu­sammengehörig mit der Erde empfand. Dadurch war für sein konkretes Erleben der Ausgangspunkt seiner ganzen kosmischen Betrachtung durch die Erde gegeben. Damit war aber für ihn die Konstruktion des Ptolemäischen Weltsystems berechtigt.

In dem Augenblicke, wo der Mensch loslöste ,die mathe­matische Konstruktion von sich selber, da war erst die Mög­lichkeit gegeben, sie auch von der Erde loszulösen und ein astronomisches System zu begründen, das seinen Mittelpunkt in der Sonne hat. Der Mensch mußte erst das ältere In-sich-Erleben verlieren, um außerhalb des Irdischen den Mittel­punkt eines Systems anzunehmen. Es hängt also das Herauf-kommen des Kopernikanischen Systems auf das Innigste zu­sammen mit der ganzen Umwandlung in der Seelenstimmung der zivilisierten Menschheit. Es kann gar nicht die Entstehung des modernen naturwissenschaftlichen Denkens herausgeris-sen werden aus der übrigen Gemüts- und Seelenverfassung der Menschen, sondern muß im Zusammenhange damit be­trachtet werden.

Es ist ja ganz natürlich, daß wenn man solche Dinge ausspricht, sie zunächst den Zeitgenossen, die an die gegen­wärtige Naturanschauung glauben mit einer viel größeren Intensität, als jemals alte Religionsbekenner an ihre Dog­men geglaubt haben, daß dasjenige, was man denen zu sagen hat, ihnen absurd erscheint. Aber es muß, um eben die naturwissenschaftliche Denkweise richtig würdigen zu können

- sie wird dadurch gerade, wie wir sehen werden im Ver­laufe dieser Vorträge, wertvoller für die Erkenntnis der Welt, als sie den Agnostikern gilt - um sie richtig würdigen zu können, muß man sie aus der Gesamtheit der menschlichen Seelenverfassung und der Entwickelung derselben heraus­holen.

Es war also einmal gegeben diese kopernikanische Welt-anschauung, dieses Hinausverlegen des kosmischen Mittel-punktes vom Irdischen in die Sonne. Und damit war eigent­lich im Grunde schon gegeben das ganze kosmische Gedankengebäude

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des Giordano Bruno, der 1548 geboren ist, 1600 in Rom verbrannt wurde.

Giordano Bruno erscheint - man möchte sagen - ge­radezu wie der die moderne Naturanschauung, den Koperni-kanismus Glorifizierende. Man muß ganz durchdrungen sein von der Einsicht in die Notwendigkeit der Entstehung dieses Weltenbildes, um überhaupt etwas zu empfinden von der ganzen Art und Weise und namentlich für die Diktion, den Ton, wie Giordano Bruno in seinen Schriften ganz anders redet als irgendwie sowohl die Anhänger wie die Nachzügler der gebräuchlichen naturwissenschaftlichen Darstellungsweise. Man möchte sagen: Giordano Bruno redet eigentlich gar nicht mathematisch, er redet eher lyrisch über das Weltenall. Man möchte etwas Musikalisches finden in der Art und Weise, wie oftmals hinreißend Giordano Bruno die moderne Natur-anschauungsweise in Worte kleidet.

Warum ist das? Das ist aus dem Grunde, weil Giordano Bruno in der Tat eigentlich mit seinem ganzen inneren Wesen in einer älteren Weltempfindung wurzelt und sich mit seinem äußeren Verstande sagt: So wie die Dinge nun einmal in der Menschheitsentwickelung geworden sind, kön­nen wir gar nicht anders, als das Kopernikanische Weltan­schauungsbild akzeptieren. Er verstand eben die Notwendig­keit, die durch die Zeitentwickelung für die Menschen ge­geben war.

Aber - ich möchte sagen - an ihn trat dieses Koperni­kanische Weltbild eigentlich nicht heran als ein Selbsterar­beitetes, sondern als etwas, was ihm gegeben war, was er fand als das den Zeitgenossen Angemessene. Er konnte aber nicht anders, weil er eben mit seinem Inneren einer älteren Weltemp{indung angehörte, als dasjenige, was er erkennen sollte, was er als Erkenntnis akzeptieren sollte, innerlich zu erleben. Er hatte noch das innerliche Erleben. Wissenschaft­liche Formen dieses innerlichen Erlebens hatte er noch nicht.

Und so verfolgt er eigentlich die Gedankengänge des Kopernikanischen Systems, die er so wunderbar darstellt, nicht so, wie sie Kopernikus, wie sie etwa Galilei oder Kepler

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oder andere verfolgt haben, oder gar Newton, sondern er verfolgt sie so, daß er versuchte, ganz nach alter Art, wo man den ganzen Kosmos in sich selber miterlebt hat, das nun auch mitzuerleben; Aber um in der alten Weise den Kosmos mitzuerleben, mußte die Mathematik zugleich My­stik sein, wie ich gestern darstellte, mußte zugleich inner­liches Erlebnis sein. Das konnte es für Giordano Bruno nicht. Dazu war die Zeit vorüber. Und so wurde das Miterleben nicht eigentlich ein wissendes Miterleben, es wurde ein poetisches Miterleben, oder wenigstens ein halbpoetisches Miterleben. Das gibt den Giordanoschen Schriften ihre Dik­tion. Der Atomismus ist noch eine Monadologie, das Atom ist noch etwas Lebendes bei ihm. Die Summe der kosmischen Gesetze hat noch etwas Seelenhaftes; aber nicht, weil er im Sinne eines alten Mystikers das Seelenhafte bis hinein ins Kleinste wirklich menschlich miterlebt hätte oder die mathe­matische Gesetzmäßigkeit des Kosmos als die Intention des Geistes miterlebt hätte, sonderri weil er sich poetisch auf-raffte, um dasjenige, was einmal, weil es äußerlich gewor­den war, auch nur äußerlich gegeben werden konnte, um das zu bewundern und in Bewunderung wissenschaftähnlich zu glorifizieren.

Es ist wirklich in dieser Persönlichkeit des Giordano Bruno etwas wie ein Eckpfeiler der beiden Weltanschau­ungen, derjenigen, von der sich der Mensch kaum heute einen Begriff macht, die bis ins 15. Jahrhundert hineingeht. und in der noch in einer gewissen Weise alles dasjenige vorn Menschen miterlebt wird, was kosmisch ist, so daß der Mensch noch nicht einen Unterschied hat zwischen dem Subjekt in ihm und dem kosmischen Objekt draußen, daß beide eigent­lich noch zusammenkommen, daß der Mensch noch nicht redet von den drei Raumdimensionen, abgesondert von seiner eigenen Orientierung im eigenen Leib nach oben, unten, rechts, links, vorne, hinten.

Bei Kopernikus war es zunächst das Astronomische, das nun mit dem abgesondert Gedachten mathematisch erfaßt zu werden versucht wird. Bei Newton tritt die Mathematik - ich meine jetzt nicht einzelne mathematische Abteilungen, sondern

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das mathematische Denken, aber in Absonderung von dem menschlichen Erleben - das tritt nun ganz für sich auf.

Newton ist eigentlich, - gewiß, man muß immer in der Hauptsache in radikalen Punkten schildern, es kann manches eingewendet werden gegen dasjenige, was ich sozusagen in den Eckpunkten schildere, aber das tut nichts zur Sache -.Newton ist so ziemlich der Erste, der mit der abgesonderten mathematischen Denkweise an die Naturerscheinungen be­trachtend herantritt. Und dadurch wird Newton als eine Art Nachfolger des Kopernikus der eigentliche Gründer der mo­dernen naturwissenschaftlichen Denkweise.

Nun ist es interessant, wie in dieser Newtonschen Zeit und in der Zeit, die darauf folgt, die zivilisierte Menschheit damit beschäftigt ist, zurecht zu kommen mit dem ungeheu­ren Umschwung, der sich in der Seelenverfassung von der älteren mathematisch-mystischen Anschauungsweise zu der neueren mathematisch-naturwissenschaftlichen Anschauungs-weise vollzog. Die Geister können eigentlich schwer fertig werden mit diesem gewaltigen Umschwung. Besonders klar wird einem das, wenn man so in die Einzelheiten hinein-schaut, in die Aufgaben, mit denen die eine oder die andere Persönlichkeit kämpft.

Nehmen wir einmal Newton, wie er darstellt sein Natur-system dadurch, daß er es in Beziehungen zu bringen sucht mit der vom Menschen abgesonderten Mathematik, so finden wir, daß er voraussetzt z. B. Zeit, Ort, Raum, Bewegung. Er sagt in seinen Prinzipien der Naturphilosophie: Ort, Zeit, Raum, Bewegung brauche ich nicht zu erklären, denn. die kennt eigentlich jeder Mensch. Jeder Mensch weiß, was Zeit ist, was Raum ist, was Ort ist, was Bewegung, ist; und so verwende ich innerhalb der mathematischen Welterklärung eben so, wie ich sie aufgreife aus der trivial populären An­schauungsweise, die Begriffe des Raumes, der Zeit, des Ortes, der Bewegung.

Nicht immer ist es so, daß die Menschen mit ihrem Be­wußtsein voll das umfassen, was sie aussprechen. Es ist sogar un Leben höchst selten vorhanden, daß ein Mensch wirklich mit seinem Bewußtsein in all dasjenige eindringt, was er

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ausspricht. Auch bei den größten Geistern ist das nicht der Fall. Und Newton weiß im Grunde genommen nicht, warum er zu Ausgangspunkten nimmt' Ort, Zeit, Raum, Bewegungen und sie nicht irgendwie erklärt, nicht irgendwie definiert, während er bei allen folgenden Ableitungen durchaus darauf sieht, alles zu erklären, alles zu definieren. Warum ist das?

Nun, das ist aus dem Grunde, meine sehr verehrten An­wesenden, weil einem gegenüber Ort, Zeit, Bewegung, Raum alle Gescheitheit und alles Denken nichts hilft. Man wird namlich durch alles Denken über Ort, Zeit, Raum, Be­wegung niemals gescheiter, als man vom Anfange an ist, wo man im gewöhnlichen Erleben eben diese Begriffe, diese Vorstellungen aufnimmt. Die Vorstellungen sind eben so, daß man sie durch seine unmittelbare - ich möchte sagen

- triviale Menschlichkeit erlebt und ,so behalten muß, wenn man sie so hat.

Einem Nachfolger Newtons, der allerdings mehr auf philosophischem Gebiete tätig war, aber der gerade außer­ordentlich charakteristisch ist für die Kämpfe während der Entstehung der naturwissenschaftlichen Denkweise, einem der Nachfolger Newtons, Berkeley, ist das ganz besonders aufgefallen. Er ist sonst nicht zufrieden mit Newton, davon werden wir noch hören, aber das ist ihm besonders aufge­fallen, daß Newton diese Begriffe zugrundelegt, ohne sie zu erklären, daß er sagt: Ich gehe aus von Ort, Zeit, Raum, Bewegung, definiere diese nicht, sondern lege ,sie meinen inathematisch-naturwissenschaftlichen Betrachtungen zugrun­de. Berkeley sagt: Das muß man so machen. Man muß diese Begriffe nehmen, wie sie der einfachste Mensch hat, denn da sind sie immer klar. Unklar werden nämlich die Begriffe von Ort, Zeit, Bewegung und Raum nicht draußen im Er­leben, sondern unklar werden sie in den Köpfen der Meta­physiker und Philosophen. Findet man diese vier Begriffe im Leben, so sind sie klar - so meint Berkeley; findet man sie in den Köpfen der Metaphysiker und Philosophen, so sind sie immer unklar.

Und es ist schon so, daß das Nachdenken über diese Be­griffe, die eben erlebt sein wollen, nichts hilft. Das spüre

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man doch. Deshalb beginnt er erst dann mathematisch zu jonglieren, wenn er diese Begriffe für die Welterklärungen braucht. Da jongliert er dann mit diesen Begriffen. Ich will damit gar nichts Abträgliches sagen, sondern will nur -sagen wir - das lebendige Können des Newton charak­terisieren.

Nun, einer von diesen Begriffen, den Newton so ver­wendet, ist der Raum. Er manipuliert wirklich mit dem Raum zunächst so, wie der - nun, brauchen wir den philiströsen Ausdruck -, wie der gemeine Mann den Raum eben sich vorstellt. Und da drinnen liegt noch immer etwas von dem Erlebten. Denn, den Raum der Cartesiusschen Mathematik sich vorzustellen, das bringt einen, wenn man sich nicht selber Illusionen vormacht mit seinem Denken, das bringt einen nämlich mit dem Denken in eine Art Wirbel hinein, in eine .Art von Drehkrankheit, denn dieser Raum, der beliebig irgendwo seinen Mittelpunkt hat, seinen Koordinaten-An­fangspunkt, dieser Raum, der hat etwas so Unbestimmtes. Man kann zum Beispiel in der geistreichsten Weise, ohne daß dabei irgend etwas herauskommt, darüber spekulieren, ob dieser Raum endlich oder unendlich ist, während das ge­wöhnliche Raumempfinden, das noch mit dem Menschlichen zusammenhängt, sich eigentlich nun wirklich um die End­lichkeit oder Unendlichkeit nicht kümmert. Es kümmert sich nicht darum. Es ist ja auch höchst uninteressant für eine lebensvolle Weltauffassung, ob der Raum nun endlich oder unendlich vorgestellt werden kann. So daß man also sagen kann: Newton nimmt den trivialen Raum, wie er ihn findet. Aber nun fängt er an zu mathematisieren. Er hat aber schon wegen der besonderen Eigentümlichkeit des Denkens in seinem Zeitalter die abgesonderte Mathematik, auch die ab-gesonderte Geometrie, und indem er die räumlichen Natur­erscheinungen und Naturvorgänge mit der Mathematik durch­dringt, durchdringt er sie mit einer abgesonderten Mathe­matik. Dadurch reißt er die Naturerscheinungen selber ganz von dem Menschen los. Und wir treffen un der Tat in dieser Newtonschen Physik zum ersten Mal eigentlich vollständig vom Menschen losgerissene Naturvorstellungen. Wir brau­chen

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nur in frühere Zeiten zurückzugehen, so werden wir finden, daß nirgends die Vorstellungen über die Natur so vom Menschen losgerissen sind, wie sie in der Newtonschen Physik losgerissen sind.

Wenn ,wir uns zurückwenden würden zu einem Denker,

- man kann diese Leute kaum Denker nennen, weil sie noch viel lebendigeres Innenleben haben als das bloße Gedanken-leben - aber sagen wir, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, wir wenden uns zurück zu einem Denker des

4., 5. nachchristlichen Jahrhunderts, so würden wir findeh, daß er durchaus der Anschauung ist: Ich lebe, ich erlebe den Raum mit meinem Gotte zusammen. Ich richte mich in meinem Oben-Unten, Rechts-Links, Vorne-Hinten im Raum, aber ich lebe in dem Raum zusammen mit meinem Gotte. Der zeichnet die Richtungen hin, und ich erlebe diese Rich­tungen. So war es bei solch einem Denker des dritten, vierten nachchristlichen Jahrhunderts und auch noch etwas später, -es wird eigentlich erst im 14. Jahrhundert anders, - so daß der Mensch, indem er über den Raum dachte, geometrisch über den Raum dachte, er eigentlich nicht ein Dreieck bloß hinzeichnete, sondern sich bewußt war: Das zeichnest du als Mensch, aber un dir lebt der Gott; der zeichnet mit. So daß er zugleich das eigene Qualitative und das von Gott in ihn gesetzte Qualitative hinzeichnete. So daß überall draußen, wenn Mathematik gesehen wurde, die Intentionen Gottes gesehen wurden.

Jetzt ist die Mathematik abgetrennt. Man hat vergessen, daß die Mathematik eigentlich als von Gott eininspiriert an-gesehen wurde. Und Newton wendet die Mathematik ganz in dieser abgesonderten Weise auf die Raumbetrachtung an; als ,er seine Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft schreibt, da geht er einfach darauf los, da wendet er diese abgesonderte Mathematik auf einen konstruierten Raum an, den er nicht definiert, weil ein dunkles Gefühl davon vor­handen ist, wenn man anfängt, den Raum zu definieren, da wird nichts draus. Er nimmt also den trivialen Begriff des Raumes, aber er behandelt ihn mit abgesonderter Mathe­matik, reißt ihn aus den inneren Erlebnissen heraus. So

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spricht er über die Naturprinzipien. Dann später vertieft sich nun bei Newton das etwas; das ist interessant. Da wird, man kann das ganz gut bemerken, wenn man bewandert ist un den Newtonschen Schriften, da wird ihm - ich möchte sagen

- nicht wohl dabei, wenn er seine eigene Raumbetrachtung ins Auge faßt. Er kann diesen vom Menschen herausgeris­senen Raum, diesen ganz vom Geiste entfremdeten Raum, den kann er später nicht recht vertragen. Und da definiert er später: Der Raum ist das Sensorium Gottes.

Das ist ein ungeheuer interessantes Faktum, daß derjenige Mann im Ausgangspunkte der neueren Naturwissenschaft, der zuerst den Raum ganz mathematisiert hat, ganz abgesondert hat vom Menschen, daß er dann diesen Raum doch noch de­finiert als das Sensorium Gottes, also eine Art Gehirnwahr­nehmungsorgan Gottes. Auseinandergerissen hatte New­ton die Natur im Raume und den Menschen, der den Raum erlebt; auseinandergerissen hatte er es einmal. Aber schwül wurde ihm innerlich, wenn er nun den ja vom Menschen losgerissenen Raum betrachtet, den der Mensch früher mit seinem Gotte zusammenerlebt hatte, so daß er sich sagen konnte: Was mein menschliches Sensorium im Raume erlebt, das erlebe ich mit meinem Gotte zusammen, - schwül wurde . cs Newton, wenn er jetzt so den R'aum aus dem menschlichen

Sensorium herausgerissen hatte. Er hatte dadurch sich selber losgerissen von dem Durchdrungensein mit dem Göttlich-Geistigen. Der Raum war nun mit der Mathematik draus­sen. Und nun spricht er ihn später an als das Sensorium Gottes. Zwar hat er zuerst das Ganze herausgerissen. Es ist dadurch ungeistig und ungöttlich geworden. Aber es steckt noch so viel Empfindung un Newton, daß er den Raum, der nun draußen ist, doch nicht ungöttlich lassen kann, und so vergöttlicht er ihn wieder.

So hat sich der Mensch wissenschaftlich von se inem Gotte losgerissen, damit vom Geiste losgerissen, und äußerlich den­noch wiederum zu der Annahme dieses Geistes gegriffen.

Sehen Sie, un dem, was dadurch geschehen war, liegt auch die Erklärung dafür, daß eine Persönlichkeit wie Goethe eigentlich in gar keinem Punkte mit Newton mitgehen konnte.

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In der Farbenlehre zeigt sich das nur an einem besonders charakteristischen Punkte. Aber diese ganze Art, das Geistige erst aus dem Menschen herauszuwerfen, es erst abzusondern, das widersprach dem ganzen Goetheschen Wesen.

Goethe hatte von vornherein ein Gefühl davon, daß der Mensch alles erleben muß, was auch im Menschen kosmisch

ist, und daß das Kosmische gewissermaßen selbst für die drei Dimensionen nur Fortsetzung des im Inneren des Menschen Erlebten ist. Und so war Goethe innerlichst Widersacher

Newtons.

Berkeley, der ja allerdings später lebte, aber der durch­aus der Zeit der Kämpfe noch angehört, die sich um das Heraufkommen der naturwissenschaftlichen Denkweise ab­spielen, Berkeley war, wie ich sagte, mit dern Hereinnehmen von Ort, Raum, Zeit, Bewegung aus der Trivial-Anschauung Newtons zufrieden, aber im übrigen war er mit der ganzen heraufkommenden Naturwissenschaft nicht zufrieden, vor allen Dingen nicht mit der Ausdeutung der Naturerschei­nungen. Denn er war sich klar darüber: Eine solche Natur, die ganz vom Menschen abgesondert ist, die kann ja eigent­lich gar nicht erlebt werden. Man täuscht sich nur, wenn man meint, sie werde erlebt.

Daher machte Berkeley geltend, daß es eigentlich Körper, die außen den Sinneswahrnehmungen zugrunde liegen, gar nicht gibt, sondern daß die Wirklichkeit durch und durch geistig ist, und daß die Welt, wie sie uns erscheint, auch da, wo sie uns körperlich erscheint, eben die Offenbarung eines Allgeistigen ist. Bei Berkeley traten diese Dinge sehr stark in Form von Behauptungen auf, denn er hat eigentlich nichts mehr von der alten Mystik, noch weniger von der alten Pneu­matologie; er hat eigentlich keine Gründe, um diese All-geistigkeit zu behaupten. Er behauptet sie mehr aus dern Dogma seiner Religion heraus, aber er behauptet sie eben, und er behauptet sie so stark, daß für ihn alles Körperliche nur eine Offenbarung des Geistigen wird. So daß es für ihn, für Berkeley, keine Möglichkeit etwa gibt zu sagen: l)a nehme ich irgendwo eine Farbe wahr, und hinter dieser Farbe ist schwingende Bewegung, die ich nicht wahrnehme,

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wie es die moderne Naturanschauung ganz rechtmäßig tut, sondern Berkeley sagte sich: Irgend etwas, was auch nur irgendeine körperliche Eigenschaft hat, wie schwingende Materie, darf ich nicht als Hypothese annehmen. Dasjenige, was der physischen Erscheinungswelt zugrunde liegt, das muß ich geistig erleben, so daß hinter einer Farbwahrneh­mung eben als Ursache dieser Farbenwahrnehmung Geistiges ist, das ich eben in mir auch, wenn ich mich als Geist weiß, erlebe.

Spiritualist in dem Sinne, wie das Wort innerhalb' der deutschen Philosophie gebraucht wird, ist Berkeley durchaus. So daß also Berkeley eigentlich, ich möchte sagen, zwar aus dogmatischen Gründen, aber mit einem gewissen Recht, un­zählige Einwendungen macht gegen die Annahme einer Natur, über die man mathematisieren dürfe mit einer Mathe­matik, die man losgerissen hat von dem unmittelbaren Er­leben. Denn indem er, Berkeley, den ganzen Kosmos eigent­lich als geistig betrachtete, betrachtete er auch die Mathe­matik als etwas, was mit dem Geist des Kosmos zusammen-geformt wird, gebildet wird, so daß man also eigentlich die Absichten des Kosmos-Geistes, insofern sie mathematisch ge­staltet sind, erlebt, aber nicht in äußerlicher Weise ein Mathe­matisches auf eine Körperlichkeit anwendet.

Von diesem Gesichtspunkte aus wird nun Berkeley auch Gegner desjenigen, was für Newton und gleichzeitig für Leibnitz das Mathematische geworden war, die Differential-und Integralrechnung.

Bitte, mißverstehen Sie mich auch in diesem Punkte nicht. Der heutige Vortrag muß innerhalb dieser Vortragsserie schon einmal so gestaltet werden, daß er an vielen Punkten, wenn man in den Anschauungen der Gegenwart drinnen steht, einem Angriffspunkte geben wird; aber durch die folgenden Vorträge werden diese Angriffspunkte für den­jenigen, der unbefangen sein will, schon verschwinden. Ich möchte aber gerade heute die Themen, die uns beschäftigen Werden, in einer ziemlich radikalen Weise darstellen.

Berkeley wird ein Gegner der ganzen Infinitesimairech­nung, soweit sie eben damals bekannt war. Gewiß, er ist ein

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Gegner desjenigen, was nicht erlebbar da ist, und in diese Beziehung hat Berkeley manchmal ein feineres Gefühl fü die Dinge, als er etwa feine Gedanken hat. Seine Gefühle seine Empfindungen sind feiner, als seine Gedanken sind. Er empfindet, wie das Heraufkommen der Infinitesimalrech nung zu den im Geist erfaßbaren Größen solche hinzubringt, eben Differentiale, die eine gewisse Bestimmtheit erst in den Differentialquotienten erreichen, die Differentiale, die eigent­lich so konzipiert werden müssen, daß sie dem Denken ge­wissermaßen immer entfallen, daß das Denken sich nicht einläßt auf ihre vollständige Durchdringung.

Das ist für Berkeley etwas, womit er zugleich die Wirk­lichkeit verliert, denn da er auf das Erlebbare hält im alten Erkennen, so kann er sich nicht entschlüpfen lassen die mathe­matischen Vorstellungen in das Unbestimmte der Differen­tiale hinein.

Was tun wir denn eigentlich, wenn wir - sagen wir -Differentialgleichungen suchen für Naturerscheinungen? Wir deuten überall hin auf dasjenige, was uns eigentlich im Er­lebbaren entschwindet. Nun weiß ich natürlich, daß eine große Zahl der verehrten Zuhörer, indem ich dieses charak­terisiere, nicht ganz mitgehen kann, aber ich kann auf der anderen Seite auch nicht die ganze Natur der Infinitesimal­rechnung hier charakterisieren. Ich möchte Sie aber doch auf einiges aufmerksam machen, weil eben das einig'e durchaus hineinführt in eine Betrachtung der Geburt der modernen Naturwissenschaft.

Diese moderne Naturwissenschaft, indem sie diesen Weg gemacht hatte, mit der Mathematik die Naturerscheinungen beherrschen zu wollen, aber mit einer abgesonderten, mit einer vom Menschen abgesonderten, nicht mehr mit einer in­nerlich erlebten Mathematik, diese Betrachtungsweise, die kommt eben, indem sie zu ihrer abgesonderten mathe­matischen Anschauung übergeht, mit ihren aus dem Men­schen herausgerissenen Begriffen dazu, nur noch das Tote betrachten zu können; indem man die Mathematik aus dern Erleben herausgenommen hat, kann man die Mathematik auch nur auf das Tote anwenden. Es ist unmöglich, die Mathematik

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auf etwas anderes anzuwenden, als auf das Tote, nach­dem man sie aus dem Erlebbaren herausgerissen hat. Und so wird gerade durch die mathematische Betrachtungsweise die neuere Naturwissenschaft ausschließlich auf das Tote ver­wiesen.

Aber im Weltenall äußert sich das Totc im Zerfallenden, im Sich-Atomisierenden, in dem Hineingleiten in mikro­skopisch kleinste Teile, grob ausgedrückt, in dem Zerfall in Staub. Diesen Weg nimmt auch die moderne naturwissen­schaftliche Anschauungsweise. Sie ergreift in einer aus dern Erlebbaren herausgerissenen Mathematik das im Kosmos Verstaubende, sich Atomisierende. Von diesem Zeitpunkte an beginnt auch die Möglichkeit, das Mathematische zu zer-stäuben ins Differentiale, so daß man mit jeder Art von Dif­ferentialgleichung, mit jeder differentiellen Betrachtung, wenn man damit das lebendigste Gebilde durchsetzen will, es in der Vorstellung tötet. Differenzieren heißt töten, und integrieren heißt, das Tote wiederum zu einem Schema zu­zammenflicken, die Differentiale wiederum zu einem Ganzen zusammenfügen. Dadurch werden sie . nicht lebendig, wenn man sie erst getötet hat, dadurch bekommt man nur tote Ge­spenster, nichts Lebendes mehr.

So etwa erschien Berkeley die ganze Perspektive, was da' werden sollte durch die Infinitesimairechnung die moderne Naturanschauung. Hätte er sich konkret anschaulich ausge­sprochen, so hätte er wohl gesagt: Ihr tötet erst die ganze Welt, indem ihr sie differenziert; dann fügt ihr wiederum ihre Differentiale zusammen in Integralen, habt aber keine Welt mehr, sondern nur das Nachbild einer Welt, die Illu­sinn einer Welt. Jedes Integral ist eigentlich eine Illusion in bezug auf seinen Inhalt - das hat Berkeley schon gefühlt

- so daß eigentlich Differenzieren Töten heißt und Inte­grieren das Zusammensuchen der Knochen und des Staubes, um aus den getöteten Wesen die alten Gestalten wiederum zusammenzufügen, die aber jetzt deshalb nicht leben, sondern eben tote Schemata sind.

Man kann sagen: Solch eine Empfindung bei Berkeley ist unzeitgemäß. Das war sie auch ganz sicher; denn die Anschauungsweise,

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die so vorgeht, mußte kommen; und der­jenige, der etwa sagen wollte, es hätte keine Infinitesimal­rechnung kommen sollen, der wäre natürlich nicht ein wis­senschaftlicher Denker, sondern ein Narr. Aber auf der an­deren Seite muß man sich auch wiederum klar sein, daß im Ausgangspunkte dieser ganzen Weltenströmung dennoch so etwas begreiflich ist, wie die Empfindung des Berkeley. Ihn schauderte vor dem, was er ahnte aus dem Heraufkommen der Infinitesimalbetrachtung der Natur, und damit eigenl lich der Betrachtung nicht dessen, was früher Natur war , was mit Geborenwerden zusammenhing, sondern der Be trachtung desjenigen, was immer in der Natur erstirbt.

Das hatte man ja früher gar nicht einmal betrachtet; das hatte einen gar nicht interessiert früher. Früher hat man das Werdende, das Sprossende betrachtet; jetzt betrachtet ,an das Welkende und das zuletzt Zerstäubende. Jetzt arbeitet die Anschauung auf den Atomismus hin. Vorher hatte sie nach dem Kontinuierlichen in den Wesen getrachtet.

Da natürlich das Lebendige in der Welt, die uns zu . nächst gegeben ist, nicht ohne Sterben sein kann - das Lebendige muß sterben - so müssen wir auch in d'er Welt das Tote finden, müssen das Tote auch begreifen. Das heißt. es mußte eine Wissenschaft vom Toten kommen. Sie war schon notwendig. Und das Zeitalter, von dem wir hier reden, das ist eben das Zeitalter, in dem die Menschheit reif war für die Betrachtung dieses Toten. Aber man muß sich eben vorstellen, wie es gegen alle Empfindungen einem ging, der wie Berkeley noch ganz im altene lebte.

Nun stehen wir ja heute durchaus noch in den Nach-wirkungen desjenigen, was dazumal geboren worden ist, drinnen. Wir haben geradezu die Triumphe desjenigen na­turwissenschaftlichen Arbeitens erlebt, vor dern so jeman­dem wie Berkeley geschaudert hat. Wir haben die Triumphe erlebt; bis in der modernen Relativitätstheorie die Newton­schen Vorstellungen etwas modifiziert worden sind, haben wir die Alleinherrschaft dieser Newtonschen Vorstellungen erlebt. Denn die Goethesche Reaktion dagegen ist ja eigent­lich nicht aufgekommen, und man muß, um richtig zu verstehen,

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was da heraufgekommen ist, eben doch auch zu den Ausgangspunkten zurückschauen und bemerken, wie den Geistern, die noch ein lebendiges Empfinden hatten von dem Früheren, doch schauderte, oder wie sie andere Empfind­ungen, die den älteren ähnlich sind, noch aufrechterhielten.

Giordano Bruno schauderte davor, das Tote, das jetzt betrachtet werden soll, als Totes wirklich zu betrachten mit rein mathematischer Anschauungsweise. Er belebt die Atome zu Monaden, er poetisiert die mathematische Anschauungs-weise, um sie am Persönlichen zu halten.

Newton geht ganz mathematisch vor im Beginn. Es wird ihm schwül, möchte ich sagen - und indem er erst den Raum gänzlich mit der äußeren Mathematik aus dem Menschen herausgerissen hat, machte er ihn zum Sensorium Gottes.

Berkeley lehnt die ganze Anschauungsweise, die da heraufkommt, ab, und er lehnt damit als ein radikaler Geist zugleich die ganze Tendenz des Infinitesimalen ab.

Wir stehen aber heute drinnen in demjenigen, was Gior­dano Bruno erst poetisierend schildern wollte, in demjenigen, bei dem Newton selber etwas unbehaglich geworden ist, in dem darinnen, was Berkeley ganz abgelehnt hat. Nehmen wir etwa, wenn wir naturwissenschaftlich im heutigen Sinne denken, ernst, was Newton gesagt hat, der Raum sei ein Sen­sorium Gottes? So gestattet man sich ja heute immer, daß man die Geister, bei denen man das oder jenes festhalten will, eben als große Geister betrachtet, und wenn. einem etwas nicht paßt, nun, da fühlt man sich ungeheuer erhaben da­rüber und denkt: nun ja, in diesem Punkte, da war er halt noch nicht so gescheit wie ich selber. So machen es auch die­jenigen, die Lessing für eine außerordentlich geniale Per­sönlichkeit halten, aber mit einer gewissen Nachsicht nachher das betrachten, daß er am Ende seines Lebens die wieder­holten Erdenleben des Menschen zu seiner Ueberzeugung ge­macht hat.

Gerade aber, weil wir in der Gegenwart gar nicht an­ders können, als uns auseinanderzusetzen mit den Vorstellun­gen, die da heraufgekommen sind, müssen wir zu ihrem Aus­gangspunkte zurück. Denn es handelt sich wirklich darum

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nachdem nun einmal die Mathematik aus dem Menschen herausgerissen worden ist, und dadurch, indem die Natur durch diese herausgerissene Mathematik ergriffen worden ist, selber allmählich die ganze Natur vom Menschen abgeson­dert worden ist, es . handelt sich darum, daß wir wieder zu­recht kommen damit, uns in dieser Natur zu finden, in irgendeiner Art zu finden. Denn eher kommen wir nicht zu einer widerspruchslosen Erfassung des Geistigen, ehe wir nicht wiederum auch den Geist in der Natur gefunden haben.

Und so, wie es selbstverständlich ist, daß der lebende Mensch als physischer Erdenmensch einmal ein Toter wird, ebenso war es selbstverständlich, daß einmal in der Mensch­heitsenwickelung aus der früheren lebendigen Betrachtung eine Betrachtung des Toten eintreten mußte. Und nicht der­jenige kann gewisse Dinge, die man eben nur am Leichnam erkennen kann, erkennen, der den Leichnam nicht unter­suchen will, sondern nur derjenige, der ihn untersucht. Und so können nur gewisse Weltengeheimnisse gefunden wer­den, wenn man die naturwissenschaftliche Denkweise der neueren Zeit ernst zu nehmen vermag.

Gestatten Sie mir am Schlusse eine halb persönliche Be­merkung. Aus diesem Grunde, weil diese naturwissenschaft­liche Betrachtungsweise der neueren Zeit ernst zu nehmen ist, war ich niemals ein Gegner dieser naturwissenschaftlichen Denkweise, sondern betrachte sie als etwas, was notwendig in unsere Zeit hereingehört. Und oftmals habe ich mich aber gerade dagegen aussprechen müssen, was der oder jener Wissenschafter oder sogenannte Wissenschafter aus dem ge­macht haben, was sich ergeben kann, wenn man in der rich­tigen Weise das betrachtet, was gefunden hat werden können dadurch, daß man an das Tote vorurteilslos ging; man hat es aber dann mißdeutet. Gegen die Mißdeutungen des Na-turwissenschaftlichen habe ich mich gewendet. Und ich möchte es gerade bei dieser Gelegenheit scharf betonen, daß ich durchaus nicht als ein Gegner irgendwie der naturwissen­schaftlichen Richtung aufgefaßt werden möchte, und daß ich . es als abträglich dem ganzen anthroposophischen Streben empfinden würde, wenn ein unrichtiger Gegensatz eintreten

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würde zwischen dem, was Anthroposophie auf dem Geistes-wege sucht, und demjenigen, was Naturwissenschaft aus dem Geiste - möchte ich sagen - der neueren Zeit heraus, wenn ich das Wort Geist anwenden darf, auf ihrem Gebiet not­wendig suchen muß.

Ich erwähne dieses ausdrücklich, meine sehr verehrten Anwesenden und lieben Freunde, weil innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung eine gesunde Auseinander­setzung unbedingt Platz greifen muß über die Beziehung von Anthroposophie und Naturwissenschaft. Alles dasjenige, was in dieser Beziehung fehl geht, kann der Anthroposophie nur in sehr erheblichem Maße schaden. Das sollte eigentlich ver­mieden werden.

Ich muß das hier erwähnen, meine sehr verehirten An-.wesenden, lieben Freunde, weil doch in der letzten Zeit, wie ich in der Vorbereitung für diese Vorträge gesehen habe, in der anthroposophischen Zeitung ,,Die Drei" der Atomis­musstreit auf ein vollständig totes Geleise getrieben wor­den ist, von dem er wiederum wegkommen muß. Denn wir kommen nicht weiter, wenn wir in dieser Weise fortfahren, die Dinge alle auf ein totes Geleise zu bringen. Deshalb, meine sehr verehrten Anwesenden und lieben Freunde, möchte ich auch gar nicht zurückhalten damit, sondern es ganz dezidiert aussprechen, daß ich die Polemik in der ,,Drei" hin und her über den Atomismus als etwas auffassen muß, wodurch die ganze Beziehung von Anthroposophie und Natur­wissenschaft tendiert, auf ein totes Geleise gebracht zu werden.

Meine Aufgabe ist es, die Anthroposophie am Leben zu erhalten, und ich würde auch jederzeit, wenn ich selbst allein stehen müßte, für dieses Leben und nicht für das Bringen auf tote Geleise in der Anthroposophie eintreteri müssen. Deshalb darf ich auch nicht zurückhaltend sein, wo sich mir dergleichen Aperçus aufdrängen, und deshalb werde ich auch versuchen, gerade in diesen Vorträgen dasjenige, was schon wiederum droht, auf ein totes Gleis gebracht zu wer­den, ins Leben einzuführen, nämlich die Betrachtungen über die Beziehungen von Anthroposophie und naturwissenschaft- älicher Denkweise. - Davon dann morgen weiter.

V. Vortrag, 28. Dezember 1922

#G326-1969-SE074 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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V. Vortrag, 28. Dezember 1922

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Meine sehr verehrten Anwesenden, meine lieben Freunde!

Es hat sich als das hervorragendste Kennzeichen der­jenigen geistigen Entwickelung, aus welcher die naturwissen­schaftliche Denkweise der neueren Zeit hervorgegangen ist, herausgestellt die Absonderung der menschlichen Ideen, namentlich - nach den bisherigen Ausführungen - der mathematischen Ideen vom unmittelbaren menschlichen Er­leben. Stellen wir uns nur noch einmal vor das Seelenauge, wie das gewesen ist.

Wir haben in ältere Zeiten zurückblicken können, in denen der Mensch gewissermaßen dasjenige, was er erken­nend mit der Welt auszumachen hatte, gemeinsam mit ihr erlebt, Zeiten, in denen der Mensch innerlich seine dreifache Orientierung erlebte nach Oben - Unten, Rechts - Links, Vorne - Hinten, in denen er aber diese Orientierung nicht so erlebte, daß er sich sie allein zuschrieb, sondern daß er sich innerhalb des Weltganzen fühlte, sodaß sein Vorne - Hin­ten die eine, sein Oben - Unten die zweite, sein Rechts -Links die dritte Raumdimension zugleich war. Er erlebte dasjenige, was er in der Erkenntnis sich vorstellte, gemein­sam mit der Welt. Daher war auch keine Unsicherheit in seinem Wesen, wie er seine Begriffe, seine Ideen auf die Welt anwenden solle.

Diese Unsicherheit war eben erst mit der neueren Zivili­sation heraufgekommen, und wir sehen diese Unsicherheit langsam in das ganze moderne Denken einziehen, und sehen die Naturwissenschaft sich unter dieser Unsicherheit ent­wickeln. Man muß sich über diesen Tatbestand nur völlig klar sein.

Veranschaulichen wir uns das, was da vorliegt, durch einzelne konkrete Beispiele. Nehmen wir einen solchen Denker,

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wie John Locke, der vom 17. ins 18. Jahrhundert her-überlebte, und der ja dasjenige in seinen Schriften darstellte, was ein moderner Denker seiner Zeit über die naturwissen­schaftliche Anschauung von der Welt zu sagen hat.

John Locke trennt alles dasjenige, was der Mensch in seiner physischen Umgebung wahrnimmt, in zwei Teile. Er trennt die Merkmale der Körper in sogenannte primäre Merkmale und in sekundäre. Die primären Merkmale sind diejenigen, welche er nicht anders kann als den Dingen sel­ber zuschreiben, Gestaltung, Lage, Bewegung. Die sekun-dären Merkmale sind diejenigen, von denen er die An­schauung hat, daß sie nicht eigentlich den körperlichen Din-gen draußen angehören, sondern nur eine Wirkung darstel­len dieser körperlichen Dinge auf den Menschen. Zu diesen Merkmalen der Dinge gehört zum Beispiel die Farbe, der Ton, die Wärme, als Wärme-Wahrnehmbares, Wärme-Erlebnis.

John Locke sagt: Wenn ich einen Ton höre, so ist außer mir die schwingende Luft. Ich kann diese Bewegungen in der Luft, die vom Ton-erregten Körper kommen und bis an mein Ohr sich fortpflanzen, durch meinetwillen eine Zeich­nung darstellen. Die Gestalt, welche - wie man. sagt -die Wellen in der schwingenden Luft haben, die kann ich durch räumliche Figuren darstellen, kann sie mir vergegen­wärtigen in ihrem Verlauf in der Zeit, also als Bewegung. Dasjenige, was da im Raume vorgeht, was an den Dingen Gestalt, Bewegung, Ortsbestimmung ist, das ist sicher draus­sen in der Welt. Aber alles dasjenige, was da draußen in der Welt ist, was zu den primären Merkmalen gehört, das ist stumm, das ist tonlos. Die Qualität des Tones, die sekun­däre Qualität entsteht erst, wenn die Luftwelle auf mein Ohr anschlägt und jenes eigentümliche innere Erlebnis da ist, das ich eben als den Ton in mir trage.

So auch ist es mit der Farbe, die nun einfach zusammen­geworfen wird mit dem Lichte: Da muß irgend etwas draus­sen in der Welt sein, was irgendwie körperlich ist, was irgendwie Gestalt, Bewegung hat, und was eine Wirkung durch mein Auge auf mich ausübt und dann zu dem Licht- bzw. Farberlebnis

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wird. Ebenso ist es bei den anderen Din­gen, die uns vorliegen für unsere Sinne.

Die ganze körperliche Welt muß so angesehen werden, daß wir in ihr unterscheiden die primären Qualitäten, die objektiv sind, die sekundären Qualitäten, die subjektiv sind, die Wirkungen darstellen der primären Qualitäten auf den Menschen.

So also könnte man, wenn man etwas radikal schildert, sagen: Im Sinne des John Locke ist die Welt draußen aus­ser dem Menschen Gestalt, Lage, Bewegung; und alles das­ienige, was eigentlich der Inhalt der Sinneswelt ist, das ist in Wahrheit irgendwie im Menschen, das webt eigentlich innerhalb der menschlichen Wesenheit. Der wirkliche Inhalt der Farbe als menschliches Erlebnis ist nirgends da draus­sen; der webt in mir. Der wirkliche Inhalt des Tones ist nirgends da draußen, webt in mir. Der wirkliche Inhalt des Wärme-Erlebnisses oder Kälte-Erlebnisses ist nirgends da draußen, webt in mir.

In älteren Zeiten, in denen man mit der Welt gemein­sam dasjenige erlebte, was Erkenntnisinhalt geworden ist, konnte man nicht dieser Anschauung sein, denn man erlebte, wie ich dargestellt habe, durch das Mitmachen der eigenen Körperorientierung und des Hineinstellens dieser Orien­tierung in die eigene Bewegung, darinnen erlebte man die mathematischen Inhalte. Aber man erlebte das zusammen mit der Welt. Man hatte also auch in seinem Erleben zu gleicher Zeit den Grund, warum man Lage, Ort, Bewegung als objektiv annahm. Aber man hatte, - nur für einen anderen Teil des inneren menschlichen Lebens, - auch das Zusammenleben mit der Welt für Farbe, Ton usw. Gerade so wie man zu der Vorstellung der Bewegung kam aus dem Erlebnis des eigenen Bewegens als Mensch heraus, so kam man zu der Vorstellung der Farbe, indem man in seiner Blutorganisation ein entsprechendes inneres Erlebnis hatte, und dieses innere Erlebnis zusammenbrachte mit dem­jenigen, was da draußen in der Welt Wärme, Farbe, Ton usw. ist. Man unterschied zwar auch in früherer Zeit Lage, Ort, Bewegung, Zeitenverlauf und Farbe, Ton, Wärme-Erlebnis,

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aber man unterschied sie eben als verschiedene Er­lebnisarten, die auch zusammen durchgemacht wurden mit verschiedenen Arten des Seins in der objektiven Welt. Jetzt war man dazu gekommen, in dem naturwissenschaftlichen Zeitalter nicht mehr die Ortsbestimmung, die Bewegung, die Lage, die Gestalt usw. als Selbsterlebnis zu haben, sondern nur als etwas Ausgedachtes, das man identifizierte mit dem­jenigen, was draußen war, draußen ist. Und da es doch nicht ganz gut geht, daß wenn man sich die Gestalt einer Kanone vorstellt, man sagt: Diese Gestalt der Kanone ist eigentlich irgendwie in mir, so identifizierte man da nach außen eben. Man bezog die ausgedachte Gestalt der Kanone auf ein Ob­jektives. Da man schließlich auch nicht geräde zugeben konnte, daß, wenn irgendwo eine Flintenkugel fliegt, die eigentlich im eigenen Gehirn fliege, so identifizierte man die ausgedachten Bewegungen eben mit dem Objektiven.

Aber dasjenige, was man an der hinfliegenden Flinten­kugel sah, das Farbig-Leuchtende, wodurch man's sah, das Tonliche, das man wahrnahm, das schob man in die eigene rnenschliche Wesenheit hinein, weil man sonst keinen Ort hatte, wo man es unterbrachte; wie man es mit den Dingen zusammen erlebt, das wußte man nicht mehr; also schob man es in die menschliche Wesenheit hinein.

Es hat eigentlich ziemlich lange gebraucht, bis die im Sinne des naturwissenschaftlichen Zeitalters denkenden Men­schen auf das Unmögliche dieser Vorstellung gekommen sind; denn was war denn eigentlich da geschehen? Die sekundären Qualitäten: Ton, Farbe, Wärme-Erlebnis waren umgekehrt -ich möchte sagen - vogelfrei geworden, in der Welt vogel-frei geworden, und sie mußten sich für die Erkenntnis hin-ein in den Menschen flüchten. Wie sie da drinnen wohnen, nun, darüber machte man sich allmählich überhaupt keine Vorstellungen mehr. Das Erlebnis, das Selbsterlebnis war nicht mehr da. Ein Zusammenhang mit der äußeren Natur ergab sich nicht mehr, weil man ihn nicht mehr erlebte. So schob man sie in sich selber hinein. Nun, und da waren sie sozusagen im Inneren des Menschen für die Erkenntnis eben verschwunden.

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So halb bewußt, halb klar, halb unklar stellte man sich vor, daß - sagen wir - draußen im Raurne eine Aether-bewegung ist, die man durch Gestalt, Bewegung, eben dar­stellen kann, daß die eine Wirkung ausübe auf das Auge und von da aus auf den Sehnerv. Da gehts irgendwie ins Gehirn hinein. Und im Innern suchte man nun zunächst in Gedanken dasjenige, was da als eine Wirkung von den primären Qualitäten sich als sekundäre Qualitäten im Men­schen selbst ausleben soll.

Es hat lange gebraucht, sage ich, bis einzelne Menschen mit einer gewissen Dezidiertheit auf das Sonderbare dieser Vorstellung hinwiesen, und es ist eigentlich etwas außer­ordentlich Schlagendes, was der österreichische Philosoph Richard Wahle in seinem ,,Mechanismus des Denkens" hin­geschrieben hat, obwohl er durchaus nicht dazu kommt, diesen seinen eigenen Satz voll auszunützen: ,,Nihil est in cerebro' quod non est in nervis .

,,Nichts ist im Gehirn, was nicht in den Nerven ist".

Nun kann man die Nerven selbstverständlich, auch wenn's heute noch nicht möglich ist, mit unseren Mitteln, aber man könnte sie nach allen Richtungen und nach allen Seiten absuchen, man würde in den Nerven den Ton, die Farbe, das Wärme-Erlebnis nicht finden. Also sind sie nicht im Gehirn.

Eigentlich müßte man sich nun gestehen, daß sie einem für die Erkenntnis überhaupt verschwinden. Man untersucht das Verhältnis des Menschen zur Welt. Man behält Gestalt, Lage, Ort, Zeit usw. als objektiv; Ton, Wärme-Erlebnis, Farbe, sie verschwinden, sie entfallen einem.*)

Das hat ja schließlich im 18. Jahrhundert dazu geführt, daß Kant gesagt hat, auch die räumlichen und zeitlichen Qualitäten der Dinge können nicht draußen irgendwie sein außer dem Menschen. Da aber doch ein Verhältnis da sein sollte, - denn dieses Verhältnis kann nicht weggeleugnet werden, wenn man überhaupt sich eine Vorstellung davon

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*) Siehe hierzu auch Rudolf Steiners Ausführungen in seinen Ein leitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, in seinem Werk ,,Goethes Weltanschauung" u. a. O.

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machen will, daß man mit der Welt lebt, aber das Zusam­menleben der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse des Menschen mit der Welt war eben nicht mehr da, - so ent­stand denn der Kant'sche Gedanke: Wenn der Mensch nun doch die Mathematik auf die Welt zum Beispiel anwenden soll, so muß es ihm zukommen, daß er erst selber die Welt zum Mathematischen macht, daß er das Ganze hinüberdrängt über die ,, Dinge an sich", die völlig unbekannt bleiben.

An diesem Problem hat ja auch dann furchtbar die Na­turwissenschaft des 19. Jahrhundert herumgenagt. Wenn man sich den Grundcharakter des eben dargestellten Ver­hältens des Menschen im Erkennen vor Augen stellt, so ist es der, daß eine Unsicherheit hinein gekommen ist in sein Verhältnis zur Welt. Er weiß nicht, wie er dasjenige, was er erlebt, eigentlich in der Welt sehen soll. Und diese Un­sicherheit, sie kam allmählich immer mehr und mehr in dieses ganze moderne Denken hinein. Wir sehen Stück für Stück diese Unsicherheit in das neuere Geistesleben einziehen.

Und es ist interessant, wenn man sich zu dieser älteren Phase des John Locke'schen Denkens ein Beispiel aus der neueren Zeit hinzustellt.

Ein Biologe des 19. Jahrhundert, Weismann, er hat den Gedanken gefaßt, daß man eigentlich, wenn man biologisch den Organismus irgend eines Lebewesens erfaßt, man die Wechselwirkung der Organe, oder bei niederen Organismen die Wechselwirkung der Teile als das Wesentliche annehmen muß, daß man dadurch zu einer Erfassung desjenigen kommt, wie der Organismus ,,lebt", daß aber bei der Untersuchung des Organismus selber, bei dem Erkennen des Organismus in der Wechselwirkung seiner Teile sich kein Charakteristikon dafür findet, daß der Organismus auch ,,sterben" muß. Wenn man nur auf den Organismus hinschaut, sagte sich Weis­mann, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ge­wirkt hat, danirfindet man nichts, was das Sterben anschau­lich machen kann. Daher, sagte er, gibt es innerhalb des lebendigen Organismus überhaupt nichts, was einen dazu bringen könnte, aus der Wesenheit des Organismus heraus die Idee zu fassen, daß der Organismus sterben müßte. Das

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einzige, was einem zeigen kann, daß der Organismus ster­ben muß, ist für Weismann das Vorhandensein der Leiche. Das heißt, man bildet sich den Begriff für das Sterben nicht aus an dem lebendigen Organismus. Man findet kein Merk­mal, kein Charakteristikon im lebendigen Organismus, aus dem heraus man erkennen könnte, das Sterbende gehört hin-zu zu dem Organismus, sondern man muß erst die Leiche haben. Und wenn dieses Ereignis auch eintritt, daß für einen lebenden Organismus eine Leiche da ist, dann ist diese Leiche dasjenige, das einem zeigt: Der Organismus hat auch das Sterben für sich.

Nun sagt aber Weismann, es gibt eine Organismenwelt, bei der man niemals Leichen entdecken kann. Das sind die einzelligen Lebewesen; die teilen sich bloß, da kann man keine Leiche entdecken.

Nehmen Sie an: ein einzelliges Lebewesen in seiner Ver­mehrung. Das Schema stellt sich in folgender Weise dar. Solch ein einzelliges Lebewesen teile sich in zwei, jedes wieder in zwei und so weiter. So geht die Entwickelung vorwärts,

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niemals ist eine Leiche da. Also - sagt sich Weismann - sind eben die einzelligen Wesen unsterblich. Das ist die be­rühmte Unsterb­lichkeit der Einzel­ligen für die Bio­logie des 19. Jahr­hunderts. Und wa­rum werden sie als unsterblich angesehen? Nun, weil sie eben nirgends eine Leiche zeigen, und weil man den Begriff des Sterbens im Organischen nicht unterbringt, wenn es einem nicht die Leiche zeigt. Wo sich einem also die Leiche nicht zeigt, hat man auch den Begriff des Sterbens nicht unterzu­bringen. Folglich sind diejenigen Lebewesen, die keine Leiche zeigen, unsterblich.

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Sehen Sie, gerade an einem solchen Beispiel zeigt sich, wie weit man in der neueren Zeit von dem Zusammenleben seiner Vorstellungen und inneren Erlebnisse überhaupt mit der Welt sich entfernt hat. Der Begriff des Organismus ist nicht so, daß man ihm noch anmerken kann, er muß auch sterben. Man muß es aus dem Außenbestand des Leichen-haften sehen, daß der Organismus sterben kann.

Gewiß, wenn man einen'lebendigen Organismus nur so anschaut, daß man ihn außen hat, wenn man nicht dasjenige, was in ihm ist, miterleben kann, wenn man also nicht sich in ihn hineinleben kann, dann findet man auch nicht das Ster­ben im Organismus und braucht ein äußeres Merkmal dazu. Das aber bezeugt, daß man sich mit seiner Vorstellung über-haupt von den Dingen getrennt fühlt.

Aber blicken wir jetzt von der Unsicherheit, die in alles Denken über die Körperwelt hineingekommen war durch diese Absonderung der Begriffswelt von dem Selbsterlebnis' blicken wir in jene Zeit zurück, in welcher dieses Selbst-erlebnis eben noch da war. Da gab es in der Tat ebenso, wie es nicht nur einen äußerlich gedachten Begriff eines Dreiecks oder Vierecks oder Pentagramms gab, sondern einen innerlich erlebten Begriff, so gab es einen innerlich erlebten Begriff des Entstehens und Vergehens, des Geborenwerdens und Sterbens. Und dieses innere Erlebnis des Geborenwer­dens und Sterbens hatte in sich Gradation. Wenn man das Kind von innen nach außen belebter und belebter fand, wenn seine zuerst unbestimmten physiognomischen Züge innere Beseelung annahmen, und man sich hineinlebte in dieses Heranleben des ganz kleinen Kindes, so erschien einem das als eine Fortsetzung des Geborenwerdens, gewissermaßen als ein schwächeres, weniger intensives, fortdauerndes Geboren-werden. Man hatte Grade im Erleben des Entstehens.

Und wenn der Mensch anfing Runzeln zu kriegen, graue Haare zu kriegen, klapperig zu werden, so hatte man den geringeren Grad des Sterbens, ein weniger intensives Ster­ben, ein partielles Sterben. Und der Tod war nun die Zu­sammenfassung von vielen weniger intensiven Sterbe-Er­lebnissen, wenn ich das paradoxe Wort gebrauchen darf. Der

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Begriff war innerlich belebt, der Begriff des Entstehens so-wohl wie der Begriff des Vergehens, der Begriff des Ge­borenwerdens und der Begriff des Sterbens.

Aber indem man so diesen Begriff erlebte, erlebte zusam­men mit der Körperwelt, sodaß man eigentlich keine Grenze zog zwischen dem Seibsterlehnis und dem Naturgeschehen, sodaß gewissermaßen ohne Ufer das innere menschliche Land überging in das große Meer der Welt, indem man das so erlebte, lebte man sich auch in die Körperwelt selber hinein. Und da haben diejenigen Persönlichkeiten früherer Zeiten, deren charakteristischste Gedanken und Vorstellungen eigentlich gar nicht in der äußeren Wissenschaft mit Auf-merksamkeit verfolgt werden, daher eigentlich gar nicht richtig verzeichnet werden, die haben sich ganz andere Ideen machen müssen über so etwas, wie Weismann hier seine - ... ich sage das jetzt in Gänsefüßchen - ,,Unsterblichkeit der Einzelligen" konstruiert. Denn was hätte solch ein älterer Denker, wenn er nun schon durch ein etwa auch damals vor­handenes Mikroskop etwas gewußt hätte von der Teilung der Einzelligen, was hätte er sich für eine Vorstellung ge­macht aus dem Zusammenleben mit der Welt? Er hätte ge­sagt: Ich habe zuerst das einzellige Wesen; das teilt sich in zwei. Mit einer ungenauen Redeweise würde er vielleicht gesagt haben: Es atomisiert sich, es teilt sich; und für eine gewisse Zeit sind die zwei Teile wiederum als Organismen unteilbar; dann teilen sie sich weiter. Und wenn das Teilen beginnt, wenn das Atomisieren beginnt, dann tritt das Ster­ben ein. Er würde also nicht aus der Leiche das Sterben entnommen haben, sondern aus dem Atomisieren, aus dem Zerfälltwerden in Teile. Denn er stellte sich etwa vor, da ßdasjenige, was lebensfähig ist, im mehr entstehenden We den ist, daß das unatomisiert ist, und wenn die Tendem zum Atomisieren auftritt, dann stirbt das Betreffende an Bei den Einzellern würde er nur gedacht haben, es sind eben gleich für die zunächst im Momente als tot von einem Em zeller abgestoßenen zwei Wesen für die zerfallenden Teile die Bedingungen da, daß sie gleich wiederum lebendig ge­macht werden, und so fort. Das wäre sein Gedankengang

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gewesen; aber mit dem Atomisieren, mit dem Zerklüftet-werden hätte er den Gedanken des Sterbens betont, und in seinem Sinne würde er, wenn der Fall so gewesen wäre, daß man den Einzeller gehabt hätte, und durch die Zerteilung nun nicht zwei neue Einzeller entstanden wären, sondern durch Mangel an Bedingungen des Lebens diese Einzeller sofort übergegangen wären in unorganische Teile, dann würde er gesagt haben: Aus der lebendigen Monade sind zwei Atome entstanden. Und er würde weiter gesagt haben:

Ueberall da, wo man Leben hat, hat man es nicht, wenn man das Leben anschaut, mit Atomen zu tun. Findet man irgendwo in einem Lebendigen Atome, so ist soviel, als Atome drinnen sind, tot drinnen. Und überall, wo man Atome findet, ist der Tod, ist das Unorganische. So würde aus dem lebendigen inneren Erfahren der Weltempfindung, Weltwahrnehmung' Weltbegriffe, in einer älteren Zeit ge­urteilt worden sein.

Daß das nicht so deutlich in unseren Darstellungen des Geisteslebens früherer Zeiten steht - für denjenigen, der richtig lesen kann, ist jedoch eigentlich nicht zu zweifeln da­ran - aber daß es nicht so steht, namentlich nicht so steht in den modernen Darstellungen etwa der früheren Naturphilo­sophie oder der früheren Philosophie, davon ist nur der Grund, daß die Denkformen schon dieser älteren Philosophie, dieser Naturphilosophie dem heutigen Denken so unähnlich sind, daß ein jeder, der zum Beispiel Geschichte schreibt, eben ,,Der Herren eignen Geist" in die früheren Köpfe hinein-phantasiert.

Aber so kann man nicht einmal über den Spinoza schrei­ben, denn der Spinoza stellt dar in seinem Buch, das er mit Recht eine Ethik nennt, stellt dar nach mathematischer Me­thode, nicht indem er Mathematik im heutigen Sinne treibt, sondern indem er die mathematische Art, Idee an Idee zu reihen, für seine Philosophie anwendet. Damit gibt er aber den Beweis, daß in ihm noch etwas ist von dem früheren qualitativen Erleben der quantitativen mathematischen Be­griffe. Sodaß man auch bei Ausdehnung der Betrachtung auf das Qualitative des Innenerlebens des Menschen vom Mathematischen

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sprechen kann. Heute, mit unseren Begriffen, das Mathematische auf das Psychologische anwenden zu wollen, oder gar auf das Ethische, wäre natürlich der reinste Unsinn.

Sie sehen also, wollen wir einen wichtigen Punkt erfas­sen in dem modernen Denken, so müssen wir auf diese Unsicherheit gegenüber einer früher allerdings vorhandenen größeren Sicherheit, wenn sie auch für unsere heutige An­schauungsweise nicht mehr geeignet ist, hinweisen.

Aber diese Unsicherheit, sie hat ja endlich dazu geführt, daß in der gegenwärtigen Phase naturwissenschaftlichenn Denkens sogar - ich möchte sagen - schon theoretisch Rechtfertigungen dieser Unsicherheiten aufgetreten sind. In dieser Beziehung ist außerordentlich interessant ein Vor­trag, den der französische Denker und Forscher Henri Poin­caré 1918 über die neueren Gedanken über die Materie ge­halten hat. Da spricht er davon, wie Streit herrscht oder Diskussion darüber, ob man sich das Materielle mehr kon­tinuierlich denken soll, oder ob man es mehr diskret denken soll, ob man es so sich denken soll, daß gewissermaßen durch den Raum ausfüllende substantielle Wesenhaftigkeit geht, die nirgends wirklich voneinander getrennt ist, oder ob man das Substantielle, das Materielle atomistisch denken soll, das heißt: mehr oder weniger den leeren Raum und darinnen kleinste Teilchen, die durch ihre besondere Aneinander-lagerung Atome, Moleküle usw. bilden.

Und wenn man von einigen - ich möchte sagen - deko­rativen Ausmalungen dieser Rechtfertigung der Unsicherheit absieht, so enthält der Vortrag Poincarés eigentlich dieses, daß er sagt: Die Forschung, die Wissenschaft geht eben durch verschiedene Zeitalter hindurch. In dem einen Zeitalter lie­gen Erscheinungen vor, welche den Denker veranlassen, die Materie kontinuierlich zu denken. Es ist bequem, gerade gegenüber den Erscheinungen dieses Zeitalters, die Materie kontinuierlich zu denken und bei dem stehen zu bleiben, was nun auch in Kontinuität sich zeigt bei dem äußeren Zusam­menhang des Sinnlich-Gegebenen. In einem anderen Zeit­alter treten mehr Forschungsresultate auf, denen gegenüber es bequem ist, die Materie zu zerklüften in Atome, diese wieder

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aneinanderlagern zu lassen, also nicht ein Kontinuier­liches sich vorzustellen, sondern ein Diskretes, eiri Atomisti­sches.

Und nun meint Poincaré, es würde eben immer so sein, je nachdem die Forschungsresultate nach der einen oder nach der anderen Richtung hin tendieren, wird es Zeitalter geben, die kontinuistisch denken, und Zeitalter, die atomistisch den­ken. Er redet sogar von einer Oszillation im Laufe der wis­senschaftlichen Entwickelung zwischen Kontinuismus und Atomismus; und so wird es immer sein, denn - sagt er -der menschliche Geist hat eben das Bedürfnis, in der ihm bequemsten Weise über die Erscheinungen sich Theorien zu bilden. Wenn er sich eine Zeitlang eine kontinuistische Theorie gebildet hat, dann - nun, das sind nicht seine Worte, aber man kann das, was er eigentlich meint, mit diesen Worten charakterisieren - wenn der menschliche Geist eine Zeitlang kontinuistisch gedacht hat, dann wird er das müde; andere Forschungsresultate ergeben sich ihm -man möchte sagen - auf unbewußte Art, und er beginnt atomistisch zu denken, - so wie man eingeatmet hat, so wieder ausatmet. Und so soll Oszillation fortwährend sein, wechseln Kontinuismus - Atomismus; Kontinuismus -Atomismus usw. usw. Das geht bloß aus einem Bedürfnis des menschlichen Geistes selber hervor. Und eigentlich sagen wir gar nichts über die Dinge aus. Es entscheidet gar nichts über die Dinge, ob wir kontinuistisch denken oder atomistisch denken, sondern das ist bloß der Versuch des menschlichen Geistes, mit der körperlichen Welt draußen zurecht zu kom­men.

Es ist kein Wunder, daß das Zeitalter, das eben die Selbsterlebnisse nicht mehr im Zusammenhang findet mit dem Weltgeschehen, sondern die Selbsterlebnisse nur als etwas im Innern des Menschen selber Vorhandenes ansieht, daß das eben in Unsicherheit kommt. Erlebt man sein Zu­sammensein mit der Welt nicht mehr, so kann man auch nicht Kontinuismus, Atomismus erleben, sondern eben nur hinüberstülpen über die Erscheinungen den vorher ausgedachten

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Kontinuismus oder den vorher ausgedachten Ato­mismus.

Sodaß eigentlich man auf diese Art allmählich zu der Vorstellung kommen würde, der Mensch bildet sich seine Theorien eben nach seinen wechselnden Bedürfnissen. So wie er einatmen muß und dann ausatmen, so muß er eine Zeitlang kontinuistisch denken und eine Zeitlang atomistisch denken. Und eigentlich kann er geistig nicht Luft schnappen, wenn er immer kontinuistisch denkt. Er muß wiederum atomistisch denken, damit er geistig Luft kriegt.

Es ist also lediglich dadurch konstatiert und gerechtfertigt die Unsicherheit, die sogar umgedeutet ist in eine Willkür halb und halb. Das sehen wir hier. Man lebt überhaupt nicht mehr mitn der Welt zusammen, sondern sagt, daß man so und so mit ihr zusammenleben kann, je nachdem eben das eigene subjektive Bedürfnis ist.

Aber was würde eine ältere Denkweise, eben diejenige, die ich öfter schon angeführt habe, in einem solchen Falle gesagt haben? Sie würde gesagt haben: Nun ja, in einem Zeitalter, in dem die tonangebenden Denker konlinuistisch denken, da denken sie vorzugsweise an das Leben. In dem­jenigen Zeitalter, in dem die tonangebenden Denker atomist­isch denken, da denken sie vorzugsweise all das Tote, an die unorganische Natur, und konstruieren auch in das Organische das Unorganische hinein.

Sehen Sie, das ist nicht mehr ungerechtfertigte Willkür, sondern das beruht auf einem objektiven Verhältnis zu den Dingen.

Natürlich kann ich mich einmal mit einem Lebendigen, ein anderes Mal mit einem Toten beschäftigen, kann sagen aus dem inneren Wesen des Lebendigen folgt, daß ich es kon­tinuistisch denken muß; ich muß sagen aus dem inneren We­sen des Toten: Ich muß es atomistisch denken. Aber ich kann nicht sagen: das entspricht bloß einer Willkür des mensch­lichen Geistes. Es entspricht einem objektiven Inbeziehung­setzen zur Welt, nicht einem bloßen subjektiven Bedürfnis des menschlichen Geistes. Das Subjektive bleibt dabei eigent­lich für die Erkenntnis ganz unberücksichtigt. Denn man

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erkennt das Lebendige in der Natur auf kontinuistische sche Art. Und wenn einer wirklich nötig hat, oszillatorisch Art, man erkennt das Tote in der Natur auf atomisti­abzuwechseln eben zwischen dem atomistischen Denken und dem kontinuistischen Denken, dann muß das eben auch ins Objektive gewendet werden, dann muß man eben sagen:

Da mußt du einmal an das Lebendige, das andere Mal an das Tote denken. Aber es ist keine Berechtigung, daß das in einer solchen Weise durch eine Anschauungsart' wie etwa die Poincarés, ins Subjektive hineingepfercht wird, und daß etwa für eine solche Anschauungsweise, wie ich sie jetzt für ältere Phasen der Menschheitsentwicklung auseinandergesetzt habe; das Sujektive in derselben Weise Geltung hätte.

Nun, sehen Sie, liegt die Sache so, daß in der Tat da sich die Sache auf eine innerliche Weise zeigt, daß in ,der zunächst hinter uns liegenden Phase naturwissenschaftlichen Denkens eine Hinwegwendung geschehen ist vom Lebendigen zum Toten, daher auch vom Kontinuismus zum Atomismus der ja in bezug auf das Unorganische, in bezug auf das Tote' wenn er richtig verstanden wird, selbstverständlich gerecht:

fertigt ist, aber wenn der Mensch sich einmal wiederum ob­jektiv wird wahrhaftig selbst in der Welt finden wollen dann muß er den Weg suchen, wie er von der großartig ent-wickelten, atomistisch gedachten, aber doch toten Welt zu seinem eigenen Wesen zurückkommt, und sich schon als Orga­nismusn lebendig erfaßt. Denn bisher gipfelte die Entwicke­lung darin, die Richtung zum Toten, das heißt zum Atom­istischen zu nehmen. Und als diese ganz furchtbare Zellen-theorie Schleidens und Schwanns in der ersten Hälfte des

19. Jahrhunderts auftritt, da wurdo snie nicht der Weg zum Kontinuismus, sondern sie wurde der Weg zum Atomis­mus. Und zwar, ohne daß man es wirklich gewahr wurde und ohne daß es einem einfiel bis heute, daß man es eigent­lich zugeben mußte, weil es dem ganzen methodischen Gang der Anschauung entspricht; ohne daß man gewahr würde, daß so wie man den Organismus zerklüftet sich dachte ii; Zellen, man eigentlich in Gedanken den Organismus atom-isierte, das heißt eigentlich sich in Gedanken den Organismus

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tötete,. Sodaß wirklich die, Sadie so ist, daß dadurch der Begriff des Organismus für die atomistische Betrach­tungsweise überhaupt verloren gegangen ist.

Da ist ja das Bedeutsame in dem Bilde, das man be­kommt, wenn man gegenüberstellt die Goethe'sche Organik etwa der eines Schleiden oder der späteren Botaniker, daßn man also bei Goethe überall lebendige, erlebte Ideen hat, während nun auf der anderen Seite, trotzdem die Zelle ein Lebendiges ist, und man also eigentlich in Wirklichkeit auf ein Lebendiges hingewiesen wird, die Art, wie man denkt, noch so ist, als wenn die Zellen gar nicht lebten, sondern ein Atom wären. Natürlich geht da die empirische Forschung ja nicht immer mit dem Rationalen der Sache mit, weil man ja das auch gar nicht kann gegenüber dem Lebendigen. Auf der anderen Seite wird auch das Erfassen des Organischen nicht angepaßt demjenigen, was die wirkliche Beobachtung auch über die Zellenlehre gibt. Es nistet sich nur, weil man eben nicht anders kann, wenn man die lebendige Zelle studiert, als sie als ein Lebendiges zu charakterisieren, es nistet sich ja natürlich Unatomistisches ein. Aber das ist ja gerade das Charakteristische für viele heutige Darstellungen, daß man die Dinge durcheinanderwirft' und die, Klarheit nicht eigent­lich liebt.

Darüber dann, meine sehr verehrten Anwesenden, meine lieben Freunde, werde ich in der nächsten Kursstunde, die also am Montag sein wird, weiter sprechen.

VI. Vortrag, 1. Januar 1923

#G326-1969-SE089 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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VI. Vortrag, 1. Januar 1923

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Meine sehr verehrten Anwesenden, meine lieben Freunde!

Ich habe gesagt in einem Teile des letzten Kursvortrages, wie die naturwissenschaftliche Weltanschauung eine ihrer Wurzeln darinnen hat, daß in jener Zeit, die vergangen ist, seit - ich möchte sagen - dem Geburtsmomente dieser naturwissenschaftlichen Anschauungsweise im 15 Jahrhundert, daß in dieser Zeit John Locke und ähnliche Geister unter­schieden haben in dem, was uns sinnesgemäß umgibt, die sogenannten primären Qualitäten der Dinge, der Körperwelt. Primäre Qualitäten nannte Locke zum Beispiel alles das­jenige, was sich auf die Gestalt der Körper, auf deren geo­metrische Eigentümlichkeit, auf das Zahlenmäßige bezieht, auf die Bewegung bezieht, auf die Größe bezieht usw. Da­von unterschied er dann alles dasjenige, was er die sekun­dären Qualitäten nennt, Farbe, Ton, Wärmeempfindung usw. Und während er die primären Qualitäten in die Dinge selbst hinein verlegt, so daß er annimmt, es seien räumliche, körperliche Dinge da, welche Gestalt haben, geometrische Eigentümlichkeiten haben, Bewegungen haben, nimmt er an, daß alles dasjenige, was sekundäre Qualitäten sind, Farbe, Ton usw., nur Wirkungen auf den Menschen seien. Draußen in der Welt seien nur primäre Qualitäten in den Körpern. Irgend etwas, dem Größe, Gestalt, Bewegung zukommt, das aber finster, stumm und kalt ist, irgend etwas übt eine Wir­kung aus, und diese Wirkung drückt sich eben aus darinnen, daß der Mensch einen Ton, eine Farbe, eine Wärmequalität erlebt usw.

Nun wies ich ja auch in diesen Vorträgen darauf hin, wie das Räumliche schon in bezug auf die Dimensionen in diesem naturwissenschaftlichen Zeitalter ein Abstraktes ge-worden ist. Der Mensch wußte nichts mehr davon, daß von

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ihm selbst erlebt wurden konkret die drei Dimensionen oben-unten, rechts-links, vorne-hinten. Er nahm auf diese Kon­kretheit der drei Dimensionen im naturwissenschaftlichen Zeitalter keine Rücksicht. Für ihn entstanden die drei Dimen­sionen des Raumes in völliger Abstraktheit. Er suchte den

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Schnittpunkt der drei Dimensio­nen nicht mehr da, wo er real erlebt wird, im menschlichen In­nern, er suchte ihn irgendwo, -und da kann er dann wo immer sein - irgendwo im Raume und konstruierte sich seine drei Dimensionen. Jetzt hatte dieses Raumschema der drei Dimen­sionen ein selbständiges, aber nur gedachtes. abstraktes Dasein. Und das Gedachte wurde eben nicht erlebt als sowohl der Außenwelt wie dem Menschen angehörig.

Eine frühere Zeit, sagte ich, hat die drei Raumdimen­sionen so erlebt, daß der Mensch wußte, er erlebt sie in sich mit der Natur der physischen Körperlichkeit zusammen. Es waren also gewissermaßen schon die Raumdimensionen von dem Menschen abgesondert worden und nach außen gewor­fen worden, und sie hatten dadurch einen völlig abstrakten, unlebendigen Charakter angenommen. Der Mensch wußte nicht mehr, daß er die Raumdimensionen - und solches kann ja audi gesagt werden von allem anderen, das geo­metrisch ist, das zahlenmäßig ist, das gewichtmäßig ist usw.,

- daß er alles das in seinem Innern erlebt mit der Außen­welt zusammen, daß er aber eigentlich, um es in seiner Kon­kretheit, in seiner vollen, lebendigen Wirklichkeit zu erleben, in sein Inneres eigentlich blicken müsse, um es da gerechtfertigt zu finden. Und eigentlich ist es so, daß eine Persönlichkeit wie John Locke nur deshalb die primären Qualitäten, die von der Art sind, wie die drei Raumdimensionen, - denn die drei Raumdimensionen sind eine Art Gestaltung, -also eine Persönlichkeit, wie John Locke, diese primären Qualitäten nur in die Außenwelt verlegte, weil nicht mehr

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gewußt wurde der Zusammenhang dieser Qualitäten mit dem menschlichen Inneren.

Die anderen, die sekundären Qualitäten, die als Sinnes­inhalt eigentlich qualitativ erlebt werden, wie Farbe, Ton, Wärmequalität, Geruch, Geschmack usw., die wurden nur als die Wirkungen der Dinge auf den Menschen, als innere Erlebnisse nunmehr angesehen. Aber ich habe ja darauf hin­gewiesen, wie im Inneren des physischen Menschen, auch im Inneren des ätherischen Menschen, ja diese sekundären Quali­täten nicht mehr gefunden werden können, wie sie daher in gewisser Beziehung gegen das Innere des Menschen zu vogel-frei geworden sind. Man suchte sie nicht mehr in der Außen­welt, man verlegte sie in das menschliche Innere. Man sagte:

Wenn der Mensch nicht zuhört der Welt, wenn der Mensch nicht hinschaut auf die Welt, wenn der Mensch nicht seinen Wärmesinn der Welt offenbart, dann ist die Welt stumm usw . . sie hat primäre Qualitäten, bestimmt gestaltete Luft-wellen, aber sie hat keinen Ton. Sie hat irgendwie Vorgänge im Aether, aber sie hat keine Farbe. Sie hat irgendwelche Vorgänge in der ponderablen Materie, in der Materie, die ein Gewicht hat, aber sie hat nicht dasjenige, was Wärme-qualität ist usw., usw. Eigentlich war damit in diesem natur-wissenschaftlichen Zeitalter für diese erlebten Sinnesquali-täten nichts anderes gesagt, als: man weiß sie eigentlich nicht unterzubringen. In der Welt wollte man sie nicht suchen. Man gestand sich, daß man keine Macht habe, sie in der Welt zu finden. Im Inneren suchte man sie zwar, aber nur, weil man gedankenlos war oder ist. Gedankenlos war oder ist man in dem Sinne, daß man ja keine Rücksicht darauf nimmt, daß, wenn man nun dieses Innere des Menschen, so­weit man es nun gelten läßt, wirklich durchforscht: d. h. wenn man es durchforscht, soweit dies natürlich möglich ist,

- aber das geschieht ja nur als ein Ideal, so daß man eigent­lich nicht von einer vollendeten Tatsache dieses Durchfor­schens reden kann, - wenn man dieses Innere durchforscht, so findet man nirgends diese sekundären Qualitäten. Man weiß sie eigentlich also in der Welt nicht unterzubringen. Woher kommt dieses?

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Nun, erinnern wir uns noch einmal: Will man in rechter Weise irgend etwas, was sich auf Gestaltliches, Räumliches, Geometrisches oder auch Arithmetisches bezieht, will man solches wirklich richtig anschauen, so inuß man die innere Tätigkeit ins Auge fassen, diese lebensvolle Tätigkeit, wo­durch der Mensch in seinem eigenen Organismus das Räum­liche sich konstruiert, wie im Oben und Unten, Vorne und Hinten, Rechts und Links. Man muß also in diesem Falle sagen: Willst du finden das Wesen des Geometrisch-Räum­lichen, - man könnte aber auch ganz sinngemäß sagen:

Willst du finden das Wesen der Locke'schen primären Quali-täten der körperlichen Dinge, so mußt du in dich selber hin­einschauen, sonst kommst du nur auf Abstraktionen.

Nun ist es mit den sekundären Qualitäten, Ton, Farbe, Wärme-Qualität, Gerüche, Geschmack usw., usw. so, daß der Mensch etwas wissen muß davon, - es kann ja dieses Wissen sehr instinktiv nur sein -, etwas wissen muß davon, daß er ja nicht bloß mit seinem geistig-seelischen Wesen in seinem physischen und ätherischen Leib lebt, sondern daß er auch außerhalb des physischen und ätherischen Leibes sein kann mit seinem geistig-seelischen Wesen, mit seinem Ich und seinem astralischen Leib*). Außerhalb ist er im Schlafzustande. Aber ebenso, wie der Mensch bei einem vollen, intensiv empfun­denen Wachzustande nicht außer sich, sondern in sich die primären Qualitäten erlebt, wie im speziellen Fall die drei Dimensionen, so erlebt der Mensch, - wenn es ihm ent­weder durch Instinkte oder durch eine instinktive Selbst­erkenntnis, oder auch durch geisteswissenschaftliche Schu -lung gelingt, das auch wirklich innerlich zu erleben, was aus­serhalb vom physischen und Aetherleib vom Einschlafen bis zum Aufwachen ist, - wenn es dem Menschen gelingt, das innerlich zu erleben, dann weiß er, daß er das wahre Wesen von Ton, Farbe, Geruch, Geschmack, Wärmequalität, wirk­lich dann in der Außenwelt erlebt außerhalb seines Leibes, wenn er in dieser Außenwelt ist; so daß, wenn der Mensch bloß in seinem Innern ist, im Wachzustande, er nichts anderes

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*) Siehe hierzu die grundlegenden Werke Dr. Rudolf Steiners.

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erleben kann, als die Bilder der wahren Realitäten von Ton. Farbe, Wärmequalität, Geruch, Geschmack. Aber diese Bil­der sind entsprechend geistig-seelischen Realitäten, nicht physisch-ätherischen Realitäten. Trotzdem dasjenige, was wir als Ton erleben, so stark zusammenzuhängen scheint - es tut es auch, aber in einer ganz anderen Hinsicht - mit be­stimmt gestalteten Luftwellen, wie Farbe zusammenhängt mit gewissen Vorgängen in der farblosen Außenwelt, so muß eben anerkannt werden, daß Ton, Farbe usw. Bilder sind, nicht vom Körperlichen, sondern vom Geistigen, Geistig-Seelischen, das in der Außenwelt ist.

Wir müssen also nun sagen können: Wenn wir einen Ton, eine Farbe, eine Wärmeaualität erleben, dann erleben

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wir sie im' Bilde. Aber wir erle­ben sie real, wenn wir außerhalb unseres Leibes sind. Und so kön­nen wir etwa schematisch den Tatbestand in der folgenden Weise darstellen: (s. Zeichnung). Die primären Qualitäten erlebt der Mensch wachend, voll wa­chend in sich, und schaut sie in die Außenwelt hinein in Bildern; wenn er sie nur in der Außenwelt weiß, so hat er diese primären Qualitäten nur in Bildern (Pfeil). Diese Bilder sind das Mathema­tische, das Geometrische, das Arithmetische an den Dingen.

Mit den sekundären Qualitä­ten ist es anders. Die erlebt der Mensch, - wenn ich den phy­sischen und Aetherleib des Men­schen mit diesen wagerechten Strichen bezeichne (siehe Schema), und das Geistig-Seelische, das Ich und das Astralische mit dem Roten, - so erlebt der Mensch die sekundären Qualitäten außerhalb seines physi-schen und Aetherl eibes, und er projiziert in sich herein nur

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die Bilder. Weil das nicht mehr durchschaut wurde im natur­wissenschaftlichen Zeitalter, wurden gewissermaßen die ma­tliematischen Formen, die Zahlen audi, sie wurden etwas, was der Mensch nur in der Außenwelt abstrakt suchte. Die sekundären Qualitäten, sie wurden etwas, was der Mensch nur in sich suchte; aber weil sie da bloße Bilder sind, verlor er sie eben für die Wirklichkeit vollständig.

Es war ja so, daß einzelne Persönlichkeiten, die noch Traditionen aus älteren Anschauungen über die Außenwelt hatten, damit rangen, sich Vorstellungen zu machen, welche wirklichkeitsgemäßer waren als diejenigen, die als die -ich möchte sagen - offiziellen im Laufe des naturwissen­schaftlichen Zeitalters allmählich heraufkamen. So zum Bei­spiel, außer Paracelsus, van Helmont, der sich durchaus be­wußt war, daß, wenn Farbe, Ton usw. erlebt werden, das Geistige des Menschen in Tätigkeit ist. Aber weil dieses Geistige im Wachzustande nur mit Hilfe des physischen Lei­bes sich betätigt, erzeugt es in sich bloß ein Bild von dem, was als Ton, Farbe usw. in den Wesen enthalten ist, und man kommt dann zu einer unzutreffenden äußerlichen Wirklich­keit, nämlich zu der reinen mathematisch-mechanischen Be­wegungsform, Bewegungsgestaltung usw. für dasjenige, was als sekundäre Qualitäten im Menscheninnern erlebt werden soll; während es in Wahrheit seiner Realität, seiner Wirklich­keit gemäß außerhalb des Menschenleibes allein erlebt werden kann. Man muß zu dem Menschen nicht sagen: Wenn du das wahre Wesen zum Beispiel des Tones erkennen willst, so mußt du physikalische Experimente machen über dasjenige, was, wenn du einen Ton hörst, innerlich in der Luft sich abspielt, die den Ton zu dir bringt, sondern dann mußt du dem Menschen sagen: Wenn du das wahre Wesen des Tones kennen lernen willst, so mußt du dir eine Vorstellung davon bilden, wie du eigentlich den Ton außer deinem physischen und ätherischen Leibe erlebst. Das sind aber Gedanken, welche von den Menschen des naturwissenschaftlichen Zeitalters eben nicht gemacht wurden, weil diese Menschen eben nicht wollten auf die vollständige. Menschennatur eingehen, weil sie keine Neigung entwickelten, die wahre Wesenheit des

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Menschen zu kennen. Und so fanden sie eben in der ihnen unbekannten Menschennatur nicht die Mathematik oder auch die primären Qualitäten; und so fanden sie in der Außen­welt, - weil sie nicht wußten, daß der Mensch ja der Aus­senwelt auch angehört, - nicht die sekundären Qualitäten.

Ich sage nicht, daß man hellsichtig sein müsse, um in diesen Dingen die richtige Einsicht zu bekommen, sondern ich muß betonen, daß zwar die hellsichtige Weltenerklärung tiefere intensive Erkenntnisse gerade auf diesem Gebiete auch geben kann, daß aber eine gesunde Selbstschau durch­aus dahin führt, das Mathematische, die primären Quali-täten, das Mathematisch-Mechanische auch in das Innere des Menschen zu verlegen, . sekundären Qualitäten auch in die Außenwelt des Menschen zu verlegen. Man kannte die Men­schennatur nicht mehr. Man wußte nicht in Wirklichkeit, wie die Körperlichkeit des Menschen erfüllt ist von der Geistig­keit, wie die Geistigkeit, indem sie wachend im Menschen ist, sich vergessen muß, sich ganz hingeben muß dem Kör­per, damit sie das Mathematische begreift. Denn man wußte nicht das andere, daß die Geistigkeit sich ganz in sich zu­sammenfassen muß und abhängig, das heißt außerhalb des Körpers, leben muß, um zu den sekundären Qualitäten zu kommen. Ueber alle diese Dinge - sage ich - kann die hellseherische Anschauung intensivere Einsichten geben, aber sie ist nicht nötig. Eine Selbstschau, eine wirkliche, gesunde Selbstschau kann fühlen, in richtigem Gefühl erkennen, daß Mathematik auch etwas innerlich Menschliches ist, Ton, Farbe usw. auch etwas Aeußerliches sind.

Und ich habe das, was einfach ein gesundes Empfinden, das aber zu wirklichen Erkenntnissen führt, nach dieser Rich­tung haben kann, in den 80er Jahren in meinen Einleitungen zu ,,Goethes naturwissenschaftlichen Schriften" dargestellt. Da ist auf keine hellseherische Erkenntnis Rücksicht genom­men, aber es ist gezeigt, inwieweit der Mensch ohne hell­seherische Erkenntnis zur Anerkennung der Realität von Farbe, Ton usw. kommen kann.

Dies hat man noch nicht verstanden. Das naturwissen­schaftliche Zeitalter ist in der Locke'schen Denkungsweise

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noch zu sehr befangen. Dies konnte man nicht verstehen, konnte es auch nicht verstehen, als ich es - ich möchte sagen - philosophisch geschürzt, 1911 deutlich ausführte am Philosophischen Kongreß in Bologna; da versuchte ich, zu zeigen, wie das Geistig-Seelische des Menschen beim Wach-zustande zwar im physischen und Aetherleib ist, aber seiner Qualität nach, gewissermaßen indem es den physischen und Aetherleib erfüllt, doch innerlich selbständig bleibt. Fühlt man diese innerliche Selbständigkeit des Geistig-Seelischen des Menschen, dann hat man auch eine Nachempfindung von dem, was das Geistig-Seelische im Schlafen von den Reali­täten des Grünen und Gelben, des G und Cis, des Warmen und Kalten, des Sauren und Süßen usw. hat. Aber eben auf eine wirkliche Menschenerkenntnis wollte zunächst das na­turwissenschaftliche Zeitalter nicht eingehen.

Wir sehen an dieser Charakteristik des Verhältnisses des Menschen zur Welt nach den primären und sekundären Qualitäten ganz deutlich, wie der Mensch abkommt davon, über sich und sein Verhältnis zur Welt eine richtige Empfind­ung zu haben.

Aber dasselbe steckte auch in anderen Anschauungen, die man über den Menschen gewann, darinnen; weil man keine Anschauung gewinnen konnte davon, wie das Mathematische mit seinen drei Dimensionen im Innern des Menschen lebt, konnte man auch nicht das Wesentliche des Mensche n in be­zug auf seine Geistigkeit durchschauen. Denn dieses Wesent­liche hätte darinnen bestanden, daß man sich gesagt hätte:

Der Mensch ist in der Lage, das Rechts-Links durch die sym­metrische Bewegung seiner Arme und Hände, durch die an­deren symmetrisch durch ihn vollbrachten Bewegungen zu erfassen. Er ist, indem er zum Beispiel den Gang seiner Nahrungsmittel fühlt, in der Lage, zu erleben das Vorne und Hinten. Er erlebt das Oben und Unten, weil er sich ja wäh­rend seines Lebens erst in dieses Oben und Unten hinein-ordnet.

Durchschaut man dieses, dann sieht man ja wie der Mensch innerlich die Tätigkeit entfaltet, die in der Erzeu­gung der drei Raumdimensionen liegt, und m in wird, wenn

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man vom Menschen spricht, in seinem Verhältnis zur Tier­welt, wird man auf das Charakteristische hinweisen, daß ja das Tier nicht in derselben Weise zum Beispiel das Oben und Unten hat, weil es seine wesentliche Körperachse in der Horizontale hat, also in demjenigen, was der Mensch als vorne und hinten empfinden kann.

Das abstrakte Raumschema genügte nicht mehr, um etwas anderes als mathematisch-mechanisch-abstrakte Verhältnisse in der unorganischen Natur zu ergründen. Es genügte zum Beispiel nicht, um über das innere Erleben des Raumes, auf der einen Seite beim Tier, auf der anderen Seite beim Menschen, eine Anschauung zu entwickeln.

Und so konnte zunächst in diesem naturwissenschaftlichen Zeitalter nicht entstehen eine richtige Meinung über die Frage: Wie verhält sich eigentlich der Mensch zum Tier, das Tier zum Menschen? Wodurch unterscheiden sie sich? Da man aber doch noch fühlte in einer gewissen Weise: Es ist ein Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tiere, so suchte man ihn in allerlei Merkmalen, die nicht durdigreifend charakteristisch sein können, weder für den Menschen noch für die Tiere.

Und davon ist ein sehr bedeutsames Beispiel das, daß man mit Bezug auf die obere Kinnlade des Menschen, in der die Oberzähne sitzen, gesagt hat: Dieser Kinnladeknochen ist beim Menschen ein einziger; beim Tier ist er so, daß die vorderen Schneidezähne in einem abgesonderten Zwischen-kiefer drinnen sitzen, und erst zu beiden Seiten dieses Zwi­schenkiefers ist der eigentliche Oberkiefer. Der Mensch habe diesen Zwischenkiefer nicht.

Nachdem man also keine Fähigkeit hatte, durch innerlich Geistig-Seelisches das Verhältnis des Tieres zum Menschen zu finden, sah man es in etwas so Aeußerlichem' daß man sagt: Das Tier hat den Zwischenkiefer, der Mensch hat ihn nicht.

Goethe war derjenige, der zwar solche Erkenntnisse, wie diese, die ich heute ausgesprochen habe über primäre und sekundäre Qualitäten, nicht in Worte fassen konnte, auch keine äußerlichen Gedanken mit völliger Klarheit sich darüber

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erringen konnte, aber Goethe hatte ein gesundes Ge­fühl von all diesen Dingen. Vor allen Dingen wußte Goethe instinktiv, man muß in der ganzen Bildung des Menschen seinen Unterschied von den Tieren finden und nieht in etwas Einzelnem. Deshalb wurde Goethe zum Bekämpfer der Idee von dem fehlenden Zwischenkieferknochen am Menschen. Und er schrieb als junger Mann seine bedeutungsvolle Ab­handlung, die dem Menschen wie dem Tier einen Zwischen-kiefer in der oberen Kinnlade zuschreibt. Und es gelang ihm, den vollgiltigen Tatsachenbeweis für diese Behauptung zu finden, indem er eben zeigte, wie noch im embryonalen Zu­stande beim Menschen durchaus zu sehen ist der Zwischen-kiefer, wie er aber, indem der Mensch sich entwickelt, also schon beim kleinen Kinde, mit dem Oberkiefer verwächst, während er bei dem Tier getrennt bleibt. Goethe hat das alles aus einem gewissen richtigen Erkenntnisinstinkte heraus behandelt, und aus diesem Erkenntnisinstinkte heraus ist er zunächst dazu gekommen, zu sagen: Man darf nicht in sol­chen Einzelheiten den Unterschied des Menschen von den Tieren finden, man muß ihn in dem ganzen Verhältnis seiner Gestaltung, seines Seelischen, seines Geistigen zur Welt suchen. Deshalb bedeutet die Bekämpfung der Natur-forscher, die dem Menschen den Zwischenkiefer absprechen, die Bekämpfung der Naturforscher durch Goethe, sie be­deutet auf der einen Seite das, daß Goethe in bezug auf die Aeußerlichkeiten den Menschen nahe gebracht hat an die Tiere, um ihn gerade in bezug auf sein eigentliches Wesen in seinem wahren Unterschiede hinstellen zu können.

Diese Anschauungsweise, die Goethe aus einem Erkennt­nisinstinkt heraus der Form der Naturwissenschaft entgegen-gesetzt hat, die diese bis zu ihm angenommen hatte, die sie auch heute noch hat, diese Anschauungsweise Goethes fand ja eigentlich keine Nachfolge innerhalb der naturwissen­schaftlichen Kreise. Dagegen trat gerade im 19. Jahrhundert immer mehr als Konsequenz alles desjenigen, was sich auf naturwissenschaftlichem Felde herausgebildet hatte seit dem 15. Jahrhundert, die Tendenz auf, den Menschen dem Tier anzunähern, nicht um seinen Unterschied von ihm in Aeusserlichkeiten

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zu suchen, sondern um sein Wesen ganz nahe an die Tiere heranzutragen. Und diese Tendenz, sie ist dann enthalten in dem, was als darwinistischer Entwickelungsge-danke usw. auftrat. Das hat Nachfolge gefunden. Goethes Anschauung hat keine Nachfolge gefunden. Ja, sogar haben manche Goethe als eine Art Darwinisten behandelt, weil sie nur gerade das sehen an Goethe, daß er durch so etwas, wie es der Zwischenkiefer ist, den Menschen dem Tiere nahe­gebracht hat; aber sie sehen nicht, daß er dies getan hat, um gewissermaßen darauf hinzuweisen, - er hat nicht selber mit ausdrücklichen Worten darauf hingewiesen, aber es liegt in seiner Weltanschauung - darauf hinzuweisen, daß in etwas ganz anderem als in diesen Aeußerlichkeiten der Un­terschied des Menschen von den Tieren gefunden werden müßte.

Weil man nichts mehr vom Menschen wußte, suchte man seine eigenen wesentlichen Merkmale bei dem Tier und sagte sich: Da sind die tierischen Merkmale, die sind nur etwas höher entwickelt beim Menschen. Daß der Mensch schon räumlich eine ganz andere Lage zur Welt erhalten müsse in der Anschauung, davon hatte man immer weniger und weniger eine Ahnung. Und im Grunde genommen sind alle Anschauungen über die Entwickelung des Lebendigen im naturwissenschaftlichen Zeitalter eben so entstanden, daß sie Systeme bildeten mit Ausschluß einer wirklichen Erkennt­nis des Menschen. Man wußte mit der Wesenheit des Men­schen nichts anzufangen. Daher stellte man ihn nur wie den Schlußpunkt der Tierreihe dar. Gewissermaßen, da sind die Tiere, sagte man, dann bringen's die Tiere noch zu einem letzten Grade der Vollkommenheit, zu einem vollkommen­sten Tier, und dieses vollkommenste Tier, das ist eben der Mensch.

Ich wollte, meine sehr verehrten Anwesenden und lieben Freunde, Sie mit diesen Auseinandersetzungen darauf auf­merksam machen, wie sogar mit einer gewissen innerlichen Konsequenz in den verschiedenen Gebieten des naturwissen­schaftlichen Denkens von der ersten Phase dieses Denkens vom 15. Jahrhundert bis heute, vorgegangen worden ist, wie

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der Mensch sich auf dem Gebiete der Physik, der Physiolo­gie sein Verhältnis zur Welt ausmalt, indem er sagt: Da draußen ist eine stumme, eine farblose Welt; die wirkt auf dich; du bildest die Farbe aus, du bildest die Töne aus in dir als Erlebnis der Wirkungen der Außenwelt. Wie der Mensch sich dieses sagte, und sich sagte: es gibt in der Außen­welt ohne dich die drei Raumdimensionen, wie sich der Mensch das sagte, weil er die Fähigkeit verloren hatte, auf das Wesen des Menschen einzugehen, so bildete er sich auch in seinen Anschauungen über die tierische und menschliche Gestaltung solche Vorstellungen aus, welche nicht eingingen auf das wirkliche Wesen des Menschen.

Und so kann man eigentlich, trotz dieser großen, gewal­tigen Fortschritte, die von einem gewissen Gesichtspunkte aus mit Recht als menschliche Fortschritte allerersten Ranges geschildert werden, man kann sagen: Die naturwissenschaft-liche Weltanschauung ist gerade dadurch groß geworden, daß sie vom Menschen und seinem Wesen völlig abgesehen hat, und man bekam eigentlich keine rechte Ahnung davon, wie sehr man von dem wirklichen Menschen absieht, indem man ihn naturwissenschaftlich betrachtet. Man kann zum Beispiel bei besonders enthusiastischen, materialistischen Den­kern des 19. Jahrhunderts geschildert finden, wie der Mensch gar nichts besonderes Seelisch-Geistiges in Anspruch nehmen dürfe, denn dasjenige, was als Seelisch-Geistiges erscheint, das ist ja nur die Wirkung desjenigen, was äußerlich räum­lich, zeitlich sich vollzieht. Und das beschrieben solche enthu­siastischen Naturdenker, wie das Licht auf den Menschen wirkt, also das Aetherische nach einer Anschauungsweise, wie das sich in seinen Nerven nach innen vibrierend fortsetzt, wie aber auch in der Atmung sich die äußere Luft in ihm fortsetzt usw., usw. Und dann sagten sie etwa zusammenfassend: Oh, der Mensch ist ja von jeder Temperaturerhöhung, von jeder Temperaturerniedrigung abhängig. Der Mensch ist abhängig von alledem, was zum Beispiel auftritt als Deformation seines Nerven-Systems. Man spitzte etwa eine solche Aus-einandersetzung zu, indem man sagte: Der Mensch ist ein Ge­schöpf, abhängig von jedem Zug oder Druck der Luft usw.

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Derjenige, der unbefangen solche Beschreibungen nimmt, der kann merken, daß da nicht das eigentliche Wesen des Menschen beschrieben ist, sondern daß beschrieben ist, wo­durch dieses Menschenwesen ein Neurastheniker wird. Denn zum Beispiel kann man durchaus, wenn man die Betrach­tungen, welche materialistische Denker des 19. Jahrhunderts vom Menschen gaben, sagen: Ja das sind nicht Menschen, das sind spezifische Neurastheniker' wenn der Mensch so von jedem Luftzug abhängig wäre, wie da diese materialistischen Denker ihn schildern. Von diesem - als Menschen - Neur­astheniker sprach man, ließ dasjenige, was das eigentliche Wesen ist, aus, und wußte nur noch zu beschreiben das, wo­durch dieses wahre Wesen, das unbekannt blieb, ein Neur-astheniker wird. Ueberall fällt nach und nach durch den beson­deren Charakter, den das Denken über die Natur angenom­men hat, aus diesem Denken das wahre Wesen des Men­schen heraus. Man verliert für die Anschauung das wahre Wesen des Menschen.

Das ist dasjenige, wogegen eigentlich Goethe revoltiert hat, trotzdem er nicht imstande war, durch klar formulierte Sätze dasjenige auszusprechen, was er als seine Anschauungen richtig erkannt hatte.

Man muß solches, was ich Ihnen jetzt vorgeführt habe, verfolgen in dem inneren Umschwung der Entwickelung des naturwissenschaftlichen Denkens seit dem 15. Jahrliun­dert, und man wird finden, daß man gerade dadurch das, worauf es ankommt in dieser Entwickelung, im richtigen Lichte ansieht. Ich möchte sagen: Goethe interessierte sich intensiv in seiner Jugend für dasjenige, was die Naturwis­senschaft auf ihren verschiedenen Gebieten hervorgebracht hat. Er studierte es, ließ sich von der Naturwissenschaft an­regen, war aber nicht mit allem einverstanden, was da an ihn herantrat, weil er in allem fühlte, daß der Mensch aus diesen Anschauungen herausgeworfen war. Goethe aber fühlte intensiv den vollen Menschen. Daher revoltierte er auf den mannigfaltigsten Gebieten gegen die naturwissen­schaftliche Anschauung, die er um sich herum sah. Und es

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kommt schon darauf an, daß man diese naturwissenschaft­liche Entwickelung seit dem 15. Jahrhundert auch dadurch begreift, daß man sie auf dem Hintergrunde des Goethe­schen Weltanschauungssystems anschaut. Da kommt man am besten darauf, wenn man rein historisch vorgehen will, wie dieser Betrachtung das eigentliche Wesen des Menschen fehlt, fehlt schon in den physikalischen Wissenschaften, fehlt auch in den biologischeri Wissenschaften.

Das soll keine Kritik sein der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, sondern nur eine Charakteristik. Denn ist es dann eine Kritik, wenn jemand sagt: Hier habe ich Wasser, das kann ich so nicht brauchen. Ich sondere den Sauerstoff vom Wasserstoff ab, weil ich den Wasserstoff brauche. Er son-dert den Wasserstoff vom Sauerstoff ab. Wenn ich das Er­gebnis dann feststelle, so ist das keine Kritik seines Verhal­tens. Ich habe ihm nicht zu sagen: Du machst etwas Unrich­tiges, denn du mußt das Wasser sein lassen. Das Wasser ist kein Wasserstoff. Ebenso wenig ist es eine Kritik, wenn ich sage: Die naturwissenschaftliche Entwickelung seit dem

15. Jahrhundert nahm die Welt der Lebewesen, sonderte, wie - sagen wir - der Chemiker vom Wasser den Sauer­stoff absondert, sonderte den Menschen in seinem eigent-lichen Wesen ab, warf ihn weg und behielt das zurück, was die damalige Zeit brauchte, wie der andere den Wasserstoff braucht, und führte die ,,menschlose" Naturwissenschaft zu den Triumphen, zu denen sie eben führte. Es handelt sich nicht um eine Kritik, wenn man so etwas ausspricht, sondern um eine Charakteristik. Der neuere Naturforscher brauchte gewissermaßen die Natur ,,menschlos", so wie irgend ein Chemiker brauchen kann den Wasserstoff sauerstofflos und daher nötig hat, zu teilen das Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff. Aber man muß verstehen, um was es sich handelt, daß man nicht immerfort wieder in den Fehler verfällt, doch irgendwo durch die Naturwissenschaften das Wesen des Men­schen zu suchen. Das wäre gerade so unmöglich, wie wenn man bei dem, der einem nun den Wasserstoff daherbringt, auch den Sauerstoff suchen würde, den er aus dem Wasser ausgeschieden hat.

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So müssen diese Dinge betrachtet werden gerade dann, wenn man in richtiger Weise übeY sie diese historischen An­schauungen gewinnen will.

Morgen, meine lieben Freunde, werde ich weiter fort-fahren in der Schilderung der Geburt und Entwickelung der Naturwissenschaft in der neueren Zeit.

VII. Vortrag, 2. Januar 1923

#G326-1969-SE104 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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VII. Vortrag, 2. Januar 1923

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Meine sehr verehrten Anwesenden, meine lieben Freunde!

(Es sind von vielen Seiten von unseren Freunden und den Freunden unserer Sadie Kundgebungen ihrer Anteil-nahme und ihres Verbundenseins mit unserem Schmerze über den . Verlust des Goetheanums eingelaufen. Ich werde mir dann erlauben, morgen oder übermorgen über die einzelnen Kundgebungen Ihnen Bericht zu erstatten.)*)

Nun möchte ich heute in Fortsetzung der gestern gepflo-genen Auseinandersetzungen über - man könnte sagen -das Unvermögen der naturwissenschaftlichen Weltanschau­ung, die seit dem 15. Jahrhunderte heraufgekommen ist, den Menschen in seinem Wesen erkennend zu erfassen, sagen:

Es fehlt eben an dem auf allen Gebieten der Weltanschau­ung, an dem es im Mathematisch-Mechanischen fehlt. Man hat das Mathematisch-Mechanische abgesondert vom Men­schen. Man betrachtet es so, als ob beim Erleben des Mathe­matischen der Mensch nicht mehr dabei wäre. Dieser Gang der menschlichen Vorstellungen für das Mathematische, er hat zur Folge auf der einen Seite, daß das Bestreben ent­steht, auch anderes im Weltengebiete vor sich gehende Ge­schehen vom Menschen abzusondern und es in keine Verbin­dung mehr zu bringen mit der menschlichen Wesenheit. Da­durch entsteht auf der anderen Seite das Unvermögen, eine wirkliche Brücke zu schaffen erkennend zwischen dem Men­schen und der Welt.

Ueber eine andere Folge dieses Unvermögens werde ich dann noch später sprechen. Betrachten wir aber zunächst einmal - ich möchte sagen - die Grundursache, warum die naturwissenschaftliche Entwickelung diesen Gang genommen hat. Sie hat verloren die Möglichkeit, innerlich zu erleben

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*) Siehe Vorwort des Herausgebers.

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dasjenige, wovon heute in der Anthroposophie gesprochen wird, und was in älteren Zeiten der Menschheitsentwicke­lung Gegenstand einer instinktiven Anschauung - wenn das Wort nicht mißverstanden wird, eines instiktiven Hellsehens war. Das Hineinschauen in den Menschen und ihn aus ver­schiedenen Elementen zusammengesetzt finden, das geht der naturwissenschaftlichen Anschauung verloren.

Erinnern wir uns doch, wie wir gliedern den Menschen, um seinem Wesen nahe zu kommen, innerhalb unserer an­throposophischen Anschauung*). Wir reden von dem phy­sischen Leib des Menschen, von dem ätherischen Leib des Menschen, von dem astralischen Leib und von der Ich-Or­ganisation. Wollen wir uns das einmal heute zum Verständ­nis der Entwickelung naturwissenschaftlicher Weltanschau­ung recht vor Augen halten: Physischer Leib, ätherischer Leib, astralischer Leib, Ich-Organisation.

Ich brauche diese Gliederung des Menschen heute nicht des Näheren auseinandersetzen, da ja jeder zum Beispiel in meinem Buche: ,,Theosophie" das Nötige darüber finden kann. Aber wir wollen uns doch nun einmal an dieser Glie­derung des Menschen orientieren. Wir wollen uns zunächst fragen, wenn wir auf den physischen Leib des Menschen hinschauen und ins Auge fassen die Möglichkeit der inneren Orientierung, also die Möglichkeit, seinen physischen Leib innerlich zu erleben, was erlebt man denn dann an diesem physischen Leibe?

Man erlebt eben gerade an dem physischen Leib das­jenige, wovon ich ja jetzt öfter gesprochen habe, das Rechts- Links, das Oben - Unten, das Vorne - Hinten. Man erlebt an dem physischen Leib die Anschauung der Bewe­gung als Ortsveränderung dieses eigenen physischen Leibes. Man erlebt an diesem physischen Leib aber auch, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, variiert, zum Beispiel das Ge­wicht. Aber man erlebt das Gewicht eben in einer durchaus modifizierten Art. Als diese Dinge noch erlebt wurden in den verschiedenen Gliedern der Menschheitsorganisation, da

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*) Siehe. hierzu die grundlegenden Werke Dr. Rudolf Steiners.

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dachte man eben über Dinge nach, über die nachzudenken man keine Neigung mehr hatte im naturwissenschaftlichen Zeitalter. Tatsachen, die für das Weltverständnis von fun­damentaler Bedeutung sind, ließ man völlig unbeachtet. Neh­men Sie einmal die Tatsache, daß Sie etwa einen mit Ihnen selbst gleich schweren Menschen, das heißt einen Menschen, der, wenn Sie ihn auf die Waage setzen, gleich schwer ist mit Ihnen, nehmen Sie an, Sie tragen diesen Menschen, S e gehen mit diesem Menschen irgend eine Strecke, indem Si ihn tragen; Sie werden ein Erlebnis von seinem Gewichte haben. Ich sage, er ist gleich schwer mit Ihnen; das heißt mit anderen Worten: Indem Sie selber durch die gleich Raumstrecke gehen, tragen Sie sich auch; aber das erleben Sie nicht in derselben Weise. Es ist tatsächlich so, daß Sie ja Ihr Gewicht durch den Raum tragen, aber es nicht er­leben. Ins Erleben wird das Gewicht ganz anders hereinge-nommen. Wenn man alt wird, so fühlt man in einem ge­wissen Sinne an seinen Gliedern so, daß man sagt, man fühle ihre Schwere. Das hängt auch in einem gewissen Sinne mit der Schwere, mit dem Gewichte zusammen, weil Alt­werden eben ein gewisses Zerfallen des Organismus bedeu­tet, wodurch seine einzelnen Teile mehr herausgerissen wer­den aus dem inneren Erleben, selbständig werden - ich möchte sagen - atomisiert werden, und in der Atomisierung der Schwere verfallen. Aber wir könnten natürlich in keinem Momente unseres Lebens das bis zur Tatsächlichkeit bringen. Vielleicht werden wir sogar sagen, wir können ja den Aus­druck, daß wir die Schwere unserer Glieder fühlen, nur ver­gleichsweise brauchen. Eine genauere Wissenschaft zeigt allerdings, daß es nicht bloß vergleichsweise ist, sondern daß es etwas Bedeutsames an sich hat. Aber jedenfalls das Er­leben unseres eigenen Gewichtes zeigt sich eigentlich für un­ser Bewußtsein als eine Art Auslöschen unseres eigenen Ge­wichtes.

Nun, da haben wir also die im Menschenwesen liegende Notwendigkeit, Wirkungen, die zweifellos innerhalb dieser Menschenwesenheit sind, im Menschen auszulöschen, auszu­löschen durch entgegengesetzte Wirkungen, derart entgegengesetzt,

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wie ich das für die Totalität des Mensdien ausein-andergesetzt habe, als ich die Analogie zwischen dem Men­schen und dem Jahreslauf in den anderen Vorträgen, in den anthroposophisdien Vorträgen zur Darstellung brachte.*) Aber wir haben immerhin, ob wir nun die mehr deutlich erlebbaren Vorgänge, wie die drei Raumdimensionen, die Bewegung, oder die weniger deutlichen Vorgänge des Ge­wichtes erleben, wir haben Vorgänge, die erlebt werden können in dem physischen Leibe des Menschen.

Dasjenige, was da in früheren Zeiten erlebt wurde ein­mal, das wurde seither völlig abgesondert vom Menschen. Das wurde gewissermaßen aus ihm herausgestellt. Bei der Mathematik ist es uns ja ganz anschaulich geworden. Bei anderen Erlebnissen des physischen Leibes wird es eben aus dem Grunde weniger anschaulich, weil im Leibe die entspre­chenden Vorgänge, so wie das Gewicht, wie die Schwere, eben für das Bewußtsein, wie es heute ist, wie es sich ent­wickelt hat, ganz ausgelöscht werden. Aber sie waren eben nicht immer ganz ausgelöscht. Man hat eben heute, beein­flußt durch dasjenige, was der naturwissenschaftlichen Vor­stellung als Menschenseelenstimmung zu Grunde liegt, keine idee mehr davon, wie das innere Erleben des Menschen doch anders war. Gewiß, sein eigenes Gewicht trug der Mensch nicht in früheren Zeiten bewußt durch den Raum. Aber er hatte dafür das Gefühl, daß dieses Gewicht zwar vorhanden ist, aber auch ein Gegengewicht vorhanden ist. Und wenn er etwas lernte, wie es zum Beispiel bei den Schülern der Mysterien der Fall war, dann lernte er erkennen, wie er zwar seine eigene Schwere in sich und immer mit sich trägt, wie aber in dem Lichte die Gegenwirkung auch fortwährend tätig ist. So daß der Mensch in gewisser Beziehung - es kann das schon so ausgedrückt werden - fühlte, er müsse jener Geistigkeit, die im Lichte ist, dankbar sein, daß sie in ihm entgegenwirkt derjenigen Geistigkeit und Seelenhaftig­keit, die in der Schwere wirkt. Kurz, man könnte überall nachweisen, eine Anschauung von etwas, was wie von dem

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*) Bezugnahme auf damals gleichzeitig gehaltene andere Vorträge.

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Menschen ganz abgetrennt ist, gab eg eigentlich in älteren Zeiten nicht. Der Mensch erlebte die Vorgänge in sich ge­meinsam mit demjenigen, was solche Vorgänge in der Na­tur sind. Der Mensch erlebte zum Beispiel, wenn er in der Natur abgesondert von sich, der Tatsächlichkeit nach abge­sondert von sich, den Fall eines Steines erlebte, das Wesen der Bewegung. Dies erlebte er an dem Vergleich, was in ihm selber eine solche Bewegung sein würde. Wenn er also einen fallenden Stein sah, so erlebte er etwa dieses: Wenn ich in derselben Weise mich bewegen wollte, dann müßte ich mir eine gewisse Geschwindigkeit geben, und diese Ge­schwindigkeit, die ist beim fallenden Steine anders, als wenn ich zum Beispiel eine ganz langsame, kriechende Wesenheit vor mir sehe. Es eÄebte der Mensch die Geschwindigkeit des fallenden Steines dadurch, daß er sein Bewegungserlebnis anwendete auf die Anschauung des fallenden Steines.

So wurden tatsächlich diejenigen Vorgänge der Außen­welt, die wir heute zur Physik zählen, von jenen älteren Menschen allerdings auch objektiv angesehen, aber ihr Er­kennen wurde durchaus so betrieben, daß man das eigene Erleben zu diesem Erkennen zu Hilfe nahm, um das, was in einem vorgeht, wieder zu schauen in demjenigen, was draußen in der Welt vorgeht.

Und so liegt eigentlich in der ganzen physikalischen An­schauungsweise bist zum Beginn des 15. Jahrhunderts etwas, wovon man sagen kann: Diese physikalische Anschauungsre­weise brachte die Objekte der Natur selbst in ihrem phy-sischen Geschehen dem inneren Erleben des Menschen nahe. Der Mensch erlebte auch da mit der Natur. Und mit dem 15. Jahrhundert beginnt die Absonderung der Anschauung sol­cher Vorgänge vom Menschen. Und mit ihr die Absonderung des Mathematischen, eine Denkweise, die sich ja dann mit der ganzen Naturwissenschaft verbindet. Jetzt erst war eigent­lich völlig verloren das Innenleben im physischen Leibe. Jetzt war völlig verloren dasjenige, was innere Physik des Men­schen ist. Die äußere Physik wurde ebenso vom Menschen abgesondert, wie die Mathematik selbst. Der Fortschritt, der

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dadurch geschehen ist, besteht in der - ich möchte sagen -Verobjektivierung des Physikalischen.

Sehen Sie, man kann in zweifacher Weise ein eminent Physikalisches anschauen. Bleiben wir bei dem fallenden Stein. Man kann diesen fallenden Stein verfolgen mit seiner äußeren Anschauung und kann ihn zusammenbringen mit dem Erlebnis jener Geschwindigkeit, in die man sich ver­setzen müßte, wenn man selber so rasch laufen wollte, wie der Stein fällt, ein Verständnis durch den ganzen Menschen, nicht bloß ein Verständnis, das zusammenhängt mit der Ge-s ichtswahrnehmung.

Betrachten wir jetzt dasjenige, was aus einer solchen älteren Anschauung mit dem Beginne des 15. Jahrhunderts wird. Gehen wir von diesem Ausgangspunkte zu jener Per­sönlichkeit, an der man ganz besonders diesen Uebergang, den ich auf diese Weise charakterisiert habe, sehen kann, gehen wir zu Galilei.

Galilei ist ja gewissermaßen der Entdecker der Fallgere­setze, wie man sie nennt. Und das wichtigste Objektive an diesem Fallgesetze Galilei s ist, daß er bestimmt hat, einen wie großen Weg ein fallender Körper in der ersten Sekunde

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zurücklegt. Sodaß also eine ältere Anschauung neben das Sehen des fallenden Steines das innere Erlebnis hingestellt hat von der Geschwindigkeit, in die man sich versetzen muß, wenn man es dem fallenden Steine gleich machen will. Neben den fallenden Stein setzt man das innere Erlebnis (rot). Galilei betrachtete auch den fallenden Stein. Aber er setzt hinzu nicht das innere Erlebnis, sondern er mißt die Länge des Weges im äußerlich gewordenen Raume, die der Stein in der ersten Sekunde. wenn er anfängt zu fallen, bis zum Ende der ersten Sekunde durch­mißt. Da der Stein mit beschleunigter Geschwindigkeit fällt, so mißt er dann auch die nächsten Wege. Also er stellt da-neben kein inneres Erlebnis, sondern etwas, was man äußer­lich abmißt, ein Vorgang, der gar nichts zu tun hat mit dem Menschen, er wird vollständig von dem Menschen ge-trennt. Das Physikalische wird in der Anschauung, in der

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Erkenntnis so vom Menschen herausgeworfen, daß man gar kein Bewußtsein mehr sich davon verschafft, daß man's eigentlich auch innerlich hat.

Es entsteht ja in dieser Zeit vom Beginne des 17. Jahr­hunderts eine Gegnerschaft gegen Aristoteles, der durch das ganze Mittelalter hindurch als die große Autorität der Wis-senschaft angesehen worden ist, - der sie ja aber auch auf-gehalten hat, diese Wissenschaft, - es entsteht eine Geg­nerschaft bei all denjenigen Geistern, die vorwärts wollen, gegen Aristoteles.

Wenn man die heute vielfach mißverstandenen Er-klärungen des Aristoteles über so etwas wie den fallenden Stein sachgemäß ins Auge faßt, so laufen sie eben auf das hinaus, daß er überall angibt, wenn man draußen in der Welt etwas sieht, wie das wäre, wenn man es selbst durchmachen würde. Für ihn handelt es sich also nicht da-rum, die Geschwindigkeit festzusetzen durch Abmessen, son-dern die Geschwindigkeit so vorzustellen, daß der Vorgang mit einem Erlebnis des Menschen in Beziehung gebracht wird.

Natürlich, wenn der Mensch sich sagt, er muß sich in diese Geschwindigkeit versetzen, dann fühlt er gewissermaßen hinter diesem Sichversetzen in diese Geschwindigkeit auch etwas Lebendiges, in sich Kraftvolles, wodurch er sich in diese Geschwindigkeit versetzt. Er fühlt in einer gewissen Be­ziehung den eigenen inneren Anstoß, und es liegt ihm na­türlich ganz ferne, zu denken, da zieht ihn etwas hin in die Richtung, in die er geht. Er denkt viel eher darüber nach, wie er stößt, als daß er denkt, es zieht ihn etwas. Daher wird Anziehungskraft, Gravitation, eigentlich erst in diesem Zeitalter etwas, was für die menschliche Anschauung eine Bedeutung hat.

In radikaler Weise ändern sich die Vorstellungen, die der Mensch sich über die Natur macht. Und so wie ich es beim Fallgesetz gezeigt habe, so ist es für alle physikalischen Vorstellungen. Eine von diesen Vorstellungen ist zum Bei­spiel diese, die man heute in der Physik das Trägheitsgesetz nennt; Beharrungsvermögen sagt man auch. Aber Trägheitsre­gesetz ist ja etwas sehr allgemein so Benanntes. Es verrät

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noch dieses Trägheitstgestetz seinen Ursprung vom Menschen. ich brauche Ihnen nicht zu schildern, was Trägheit beim Menschen bedeutet, denn davon hat ja wohl jeder eine Er­fahrung. Es ist jedenfalls etwas, was innerlich erlebt werden kann.

Was ist das Trägheitsgesetz unter dem Einflusse des Galileismust in der Physik geworden? In der Physik ist es das geworden, daß man sagt: Ein Körper, - oder ein Punkt eigentlich muß man sageri - ein Punkt, auf den kein äußerer Einfluß ausgeübt wird, der sich selbst überlassen ist, be­wegt sich im Raume mit gleichförmiger Geschwindigkeit. Das heißt, er legt durch alle Zeiträume hindurch in jeder Sekunde dieselbe Raumsttrecke zurück usw.; wenn kein äus­serer Einfluß da ist und der Körper einmal in der Geschwin­digkeit ist, daß er sich in der Sekunde so weit bewegt, bere­wegt er sich auch in jeder folgenden Sekunde so. Er ist träge. Er hat kein Bestreben, wenn kein äußerer Einfluß ausgeübt wird auf ihn, sich zu ändern in dieser Beziehung. Er läuft immer so fort, daß er in jeder Sekunde dieselbe Wegstrecke zurücklegt. Es wird nur noch gemessen, gemes­sen die Wegstrecke in Sekunden. Ja, man nennt dann einen Körper träge; wenn er so sich zeigt, daß er in jeder Sekunde dieselbe Wegstrecke zurücklegt. Einstmals hat man das an­ders empfunden. Einstmals hat man gesagt: Wie erlebt man einen solchen bewegten Körper, der in jeder Sekunde die­selbe Wegstrecke zurütklegt? Man erlebt ihn so, daß man in dem Zustand, in dem man einmal ist, beharrt, daß man gar niemals eingreift in sein eigenes Verhalten. Man kann das als Mensch natürlich höchstens als ein Ideal betrachten. Der Mensch erreicht dieses Ideal der Trägheit nur in sehr geringem Maße. Aber man wird merken, wenn man das hat, was man ,,Trägheit" im gewöhnlichen Leben nennt, man wird merken, daß das immerhin eine Annäherung an dieses ist, immerfort in jeder Sekunde des Lebens dasselbe zu machen.

Es wurde die ganze Vorsttellungsre-Orientierung des Men­schen in eine Richtung gelenkt vom 15. Jahrhunderte ab, die damit bezeichnet ist: Der Mensch vergißt sein inneres

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Erleben. Zunächst haben wir es hier mit dem inneren Er-leben des physischen Organismus zu tun. Der Mensch ver­gißt es. Und dasjenige, was Galilei - ich möchte sagen -für solche dem Menschen naheliegende Dinge, wie das Fall­gesetz, das Trägheitsgesetz, ersonnen hat - denn es ist ja ein Ersinnen, ein Ersinnen, das allerdings sich beschäftigt mit dem, was in der Natur beobachtet werden kann -, das­jenige, was Galilei auf Naheliegendes angewendet hat, es wurde auch in einem weiteren Umfange nun angewendet.

Wir wissen, wie Kopernikus ein neues Weltsystem im physischen Sinne heraufgebracht hat dadurch, daß er die Sonne in den Mittelpunkt rückte, nicht mehr die Erde, daß er die Planeten in Kreisten um diese Sonne sich herumbewere-gen ließ, und darijach dann beurteilte den Ort irgend eines planetarischen Körpers am Himmel, wenn dieser Planet an diesem Orte erscheint. Das war ein Bild, das Kopernikus entworfen hat von unserem Planetensystem, Sonnensystem, ein Bild, das man ja auch aufzeichnen kann.

Ja, dieses Bild strebt noch nicht ganz radikal nach jener mathematischen Gesinnung hin, welche die Außenwelt ganz absondert vom Menschen. Wer die Schriften des Kopernikus liest, der bekommt durchaus die Anschauung, daß Koperre­nikus noch fühlt, die ältere Astronomie, die hat nicht nur in den komplizierten Linien, durch welche sie das Sonnen­system zum Beispiel hat begreifen wollen, nicht nur die auf­einanderfolgenden optischen Orte -. sagen wir - der Pla­neten zusammengefaßt, sondern diese ältere Astronomie, die bat auch eine Empfindung gehabt von dem, was erlebt würde, wenn der Mensch drinnen stecken würde in diesen Bewegungen des Planetensystems.

Man möchte sagen: In älteren Zeiten hatten die Leute eine sehr deutliche VQrstellung von den Epizyklen usw., welche gewisse Sterne beschreiben, von denen man sich dachte, daß die Sterne sie beschreiben. Da war aber überall noch - ich möchte sagen - wenigstens ein Schatten von menschlichem Empfinden darinnen. So wie man, sagen wir, wenn Jemand einen Menschen malt mit einer bestimmten Armsttellung, wie man diese Armstellung begreift, weil man

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selbst erleben kann, wie es einem ist, wenn man diese Arm-stellung macht, so war noch etwas Lebendiges im Nacher-leben eines solchen Herumgehens eines Planeten um seinen Fixstern. Ja, selbst bei Kepler, bei diesem sogar besonders stark, ist noch etwas durchaus Menschliches in den Berech­nungen der Planetenbahnen. Das absolute Galilei'sche Prin­zip, das wendet nun an auf die Himmeiskörper Newton, in­dem er so etwas wie das Kopernikanische System hinnimmt in der Anschauung, indem er solche Vorstellungen konstrure­iert wie etwa diese: Ein Zentralkörper, also eine Sonne -

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sagen wir - zieht einen Planeten so an, daß die Kraft dieser Anziehung abnimmt mit dem Quadrat der Entfernung, im­mer kleiner und kleiner wird, aber im Quadrat kleiner, und zunimmt mit der Masse der Körper. Also wenn der anziehen­de Körper größere Massen hat, ist die Anziehungskraft grösre­ser. Wenn die Entfernung größer wird, wird die Anziehungs­kraft immer kleiner, aber so, daß sie, wenn die Entfernung zweimal so groß ist, viermal kleiner, dreimal so groß ist, neunmal kleiner ist usw.

Wiederum wird jetzt in das Bild ein reines Messen verre­legt, das wiederum ganz abgesondert gedacht wird vom Menschen. Bei Kopernikus und bei Kepler ist es noch nicht so; bei Newton wird ein sogenanntes objektives Etwas konre­struiert, wobei gar nichts mehr von einem Erleben bemerkt wird, sondern wo nur konstruiert wird; gewissermaßen es werden konstruiert Linien in der Richtung, in der man sieht, und da werden ,,Kräfte" hineingeträumt; denn das, was man sieht, ist ja keine Kraft. Die Kraft muß dazu geträumt wer­den. Man sagt natürlich: dazu gedacht, so lange man an die Sache glaubt; und wenn man nicht mehr glaubt daran, so

sagt man: hinzugeträumt.

So daß man sagen kann: Durch Newton wird die abgere­sonderte physikalische Anschauungstweise nun so weit gene­ralisiert, daß sie auf den ganzen Weltenraum angewendet

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wird. Kurz, es ist das Bestreben vorhanden, ganz und gar zu vergessen das Erleben innerhalb des physikalischen Lei­bes des Menschen; und dasjenige, was man früher eng ver­bunden gedacht hat mit dem Erleben des physischen Leibes, das verobjektiviert unabhängig von diesem physischen Leibe im ,,Raume" draußen zu sehen, den man selbst erst aus dem physischen Leib herausgerissen hat, und Mittel und Wege zu finden, um davon zu reden, ohne überhaupt auch nur an den Menschen zu denken.

So daß man sagen kann: Durch die Absonderung vom physischen Leibe, durch die Absonderung des in der Natur Angeschauten vom Erlebnis im physischen Leibe des Menre­schen entsteht die neuere Physik (siehe Schema), die eigentlich erst da ist mit dieser Absonderung gewisser Naturvorgänge vom selbständigen Erleben im menschlichen physischen Leibe.

Nun hatte man auf der einen Seite vergessen das Selbst-erleben im physischen Leibe. Aber indem man nun alles da draußen mit dem abgesonderten Mathematisieren, mit der abgesonderten physikalischen Anschauungsweise durchtränk­te, konnte man nicht wieder zurück mit dieser Physik in den Menschen herein. Man kam nicht wieder zurück. Was man erst abgesondert hatte, das konnte man nicht wieder auf den Menschen anwenden. Kurz, es entsteht die andere Seite der Sache, das Unvermögen, wiederum zum Menschen zurückzukommen mit dem Wissenschaftlichen.

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Nun, beim Physikalischen bemerkt man das nicht so; aber man bemerkt es sehr stark, wenn man sich jetzt frägt: Wie ist es mit dem Selbsterleben des Menschen im ätheri­schen Leibe, in diesem feineren Organismus? Da erlebt ja der Mensch auch allerlei. Aber dieses Erleben, das ist noch früher und mit einem stärkeren Radikalismus vom Menschen abgesondert worden. Nur war man nicht so glücklich beim Absondern, wie man es in der Physik war. Denn gehen wir einmal, sagen wir, zurück auf einen naturwissenschaftlichen Menschen der ersten christlichen Jahrhunderte, auf den Arzt Galen, da finden

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wir, daß Galen, indem er ins Auge faßt, was in der äußeren Natur lebt, im Sinne seines Zeitalters, die vier Ele- . mente unterscheidet: ,,Erde", ,,Wasser", ,,Luft" und ,,Feuer", wir würden sagen: Wärme. Das nimmt man wahr, wenn man den Blick nach außen richtet.

Richtet man aber den Blick nach innen, richtet man den Blick auf das Seibsterleben des ätherischen Leibes und frägt man sich: Wie erlebt man diese Elemente, das feste Erdige, das Wässerige, das Luftförmige' das Wärmende, Feurige in sich? Da sagte man sich eben damals: Man erlebt es mit dem ätherischen Leibe. Dann erlebt man es als innerlich erfühlte Säftebewegung, und zwar die Erde als ,,schwarze Galle", das Wasser als ,,Schleim", die Luft eben als ,,Pneuma"' als dasjenige, was durch den Atmungsprozeß aufgenommen wird, die Wärme als ,,Blut". Man erlebt also in den Säfre­ten, in demjenigen, was überhaupt im menschlichen Organis­mus zirkuliert, erlebt man innerlich dasselbe, was man äus­serlich anschaut. So wie man die Bewegung des fallenden Steines im physischen Leibe miterlebt, so erlebt man die Elemente mit, die in den äußerlichen Vorgängen auftreten; wie im Stoffwechselprozeß Galle, Schleim, wie man sich dachte, Blut, durcheinanderwirken, das empfand man als das innere Erlebnis des eigenen Leibes, aber als diejenige Form des inneren Erlebnisses, der die äußeren Vorgänge ent­sprechen, diejenigen Vorgänge, die sich zwischen Luft, Was­ser, Feuer, Erde abspielen (siehe Schema 5. 119). .

Nun~ gelang es einem nicht so entschieden und radikal das innere Leben zu vergessen und noch genügend mitzu­bringen für die äußere Anschauung. Den Fall konnte man messen, den Bewegungsraum in der ersten Sekunde. Ein Trägheitsgestetz bekam man, indem man sich dachte, daß es eben bewegte Punkte geben kann, die ihren Bewegungszu-stand nicht ändern, sondern ihre Geschwindigkeit beibehal­ten. Aber indem man das, was so spezifisch eigentümlich als Innenerlebnis in älteren Zeiten empfunden wurde, aus diesem Innenerlebnis hinauswerfen wollte, die Elemente, konnte man zwar das Innere vergessen, aber man brachte in die Außenwelt nicht so etwas Aehnliches mit, wie es das

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Messen usw. war oder ist. Und so gelang es einem nicht, in derselben Weise das hierauf Bezügliche zu objektivieren, wie das Physikalische. Und so ist es im Grunde bis heute noch geblieben. Und daher ist bis heute die Chemie, - die dadurch hätte entstehen können, daß ~man in derselben Weise so viel hätte heraustragen können aus sich in die Außenwelt für den ätherischen Leib, wie es für den physischen gelungen ist, die dadurch hätte etwas werden können, was sich der Physik an die Seite stellen läßt, - diese Chemie ist daher nicht so etwas geworden, sondern heute noch immer so, daß sie, wenn sie von ihren Gesetzen sprechen will, von etwas zietrilich Unbestimmtem und Vagem spricht; denn in der Tat will die Chemie dasselbe in Bezug auf den ätherischen Leib,

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was man mit der Phy­sik gemacht hat in Be­zug auf den physischen Leib. Aber die Chemie sagt zwar: Wenn sich Körper chemisch ver­binden, wobei sie ja ihre Eigenschaften vollständig ändern können bis auf den

Aggregatszustand' dann geschieht natürlich etwas. Aber wenn man nicht einfach zu Vorstellungen greifen will, die ja die einfachsten und bequemsten sind, so weiß man nicht viel über dieses Geschehen. Wasserstoff und Sauerstoff, - ja, die beiden muß man sich irgendwie ineinander denken; aber wie das ineinander gedacht werden soll, darüber wird keine in­nerlich erlebbare Vorstellung gebildet. Man erklärt es dann eben durch etwas Aeußerliches, aber recht Aeußerliches: Der Wasserstoff besteht eben aus Atomen oder Molekülen meinet­willen, der Sauerstoff auch; die fahren ineinander, prallen aufeinander und bleiben aufeinander haften usw. - Das heißt, man war genötigt, indem man das Erlebnis vergaß, nun nicht wie bei der Physik, wo man messen konnte, - denn immer mehr kam es der Physik auf das Messen, Zählen und Wägen an, - man war nicht in derselben Lage wie in der

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Physik, wo man messen konnte, sondern man mußte sich den inneren Vorgang rein ausdenken. Und so ist es in einer gewissen Beziehung mit der Chemie bis heute geblieben. Denn dasjenige, was für das Innere solcher chemischen Vor­gänge heute noch vorgestellt wird, das ist im Grunde genom­men etwas zu den Vorgängen Hinzugedachtest.

Eine der Physik gewachsene Chemie wird man erst haben, wenn man mit voller Einsicht des heute Dargestellten eben daran gehen wird, - wenn man auch nicht das unmittelbare Erlebnis des Menschen hat, wie ein früheres instinktives Hell-sehen, - doch die Chemie wiederum mit dem Menschen zu­sammenzubringen.

Es wird natürlich nicht früher gelingen, bis man eine Einsicht darinnen hat, daß man ja eigentlich in Bezug auf das Physikalische auch wird, - wenigstens zur Vervoll­ständigung der einzelnen Kenntnis zur Weltanschauung, -die Gedanken über die einzelnen Erscheinungen mit dem Menschen zusammenbringen müssten. Denn was einem auf der einen Seite dadurch geschieht, daß man das innere Erleben vergißt und an das Aeußere dann herangeht und äußerlich messen will, im Aeußeren sogen. Objektiven stehen bleiben will, das rächt sich auf der anderen Seite. Denn man kann ja leicht sagen: Trägheit drückt sich aus in der Bewegung eines Punktes, der in jeder Zeitsekunde denselben Weg zu­rücklegt. Aber solch einen Punkt gibt's nicht; diese gleich­förmige Bewegung kommt nirgend vor da, wo man be­obachtet mit den menschlichen Mitteln. Es kommt nir­gends vor; denn irgend ein Bewegliches ist immer in einem Zusammenhang, wird da oder dort beeinträchtigt in seiner Geschwindigkeit. Kurz, das, was man als träge Masse schil­dern könnte, oder was man auf das Trägheitsgesetz bringen könnte, das gibt es nicht. Aber wenn man von Bewegung spricht und nicht zurückgehen kann auf das innere Miter­leben der Bewegung, also auf das Zusammenerleben mit der Natur, auf das Erfassen - sagen wir - der Fallgeschwin­digkeit durch die Art, wie man selbst erleben würde in dieser Geschwindigkeit, dann muß man eben sagen, ja, da bin ich ganz heraußen aus der Bewegung. Ich muß mich an der Aussenwelt

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orientieren, Wenn ich also einen Körper hier sich bewegen sehe (siehe Abb.), uhd das seine aufeinanderfol­genden Orte sind, so muß ich irgendwie wahrnehmen, daß sich dieser Körper bewegt. Wenn hinten eine Wand ist, so sehe ich in dieser Richtung, sehe diese Richtung, (siehe Abb.). Wenn ich mir die hintere Wand ruhig denke, dann sage ich: Der Körper bewegt sich in dieser Richtung fort. Aber es würde ja dazu noch notwendig sein, daß ich von hier aus die Anschauung leite, also ein inneres Erleb­nis noch gewahr werde.

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Orientiere ich mich nur da draußen, lasse ich den Men­schen ganz weg, sondere ich völlig ab, dann kommt dasselbe heraus, ob hier ein Gegenstand sich weiter bewegt, oder ob er ruht und die Wand sich so bewegt. Ich kann schlechter­dings nicht mehr unterscheiden, ob die dahinterliegende Wand sich nach der entgegengesetzten Richtung bewegt, oder der Körper nach der einen Richtung bewegt. Und berechnen kann ich im Grunde genommen alles unter der einen und unter der anderen Voraussetzung.

Also ich verliere die Möglichkeit, innerlich die Bewegung überhaupt zu erfassen, dadurch, daß ich sie nicht miterlebe. Und das gilt auch für andere physikalische Ingredienzien, wenn ich so sagen darf. Indem man das Miterleben herausgewor­fen hat, ist man verhindert, irgend eine Brücke noch hinüber zu schaffen zum objektiven Geschehen. Wenn ich selbst laufe, so wird's mir nicht gelingen, zu sagen, es ist gleichgültig, ob ich laufe oder der Boden sich in der entgegengesetzten

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Richtung bewegt; aber wenn ich äußerlich bloß selbst einen anderen Menschen in Aeußerlichkeit betrachte, der sich über einen Boden bewegt, so ist es für diese Anschauung ganz gleichgültig, ob der Mensch dahinläuft' oder ob der Boden unter ihm nach der anderen Richtung geht. Und die Gegen­wart hat tatsächlich das gebracht, daß sie - ich möchte sagen

- die Rache des Weltengeistest für dieses Absondern des Physikalischen erlebt.

Während Newton noch ganz sicher ist, er kann absolute Bewegungen annehmen, sehen wir heute zahlreiche Leute sich bemühen, zu konstatieren, wie die Bewegung, die Er­kenntnis der Bewegung zugleich mit dem inneren Erleben verloren geht. Das ist ja das Wesen der Relativitätstheorie, die den Newtonismus heute aus den Angeln heben will. Diese Relativitätstheorie ergibt sich auf eine ganz historische Weise. Sie muß da sein heute, denn man kommt über sie nicht hinaus, wenn man eben nur innerhalb derjenigen Vor­stellungen bleibt, die ganz vom Menschen abgesondert wer­den. Denn will man Ruhe oder Bewegung erkennen, dann muß man sie miterleben. Erlebt man sie nicht mit, dann sind selbst Ruhe und Bewegung zueinander nur relativ.

Wärme - Blut Ich=Org.

Luft - Pneuma Astral=Leib

Wasser - Schleim Aether=Leib - Chemie

Erde - Schwarze Galle Phys. Leib - Physik.

VIII. Vortrag, 3. Januar 1923

#G326-1969-SE120 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

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VIII. Vortrag, 3. Januar 1923

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Meine sehr verehrten Anwesenden, liebe Freunde!

(In fortdauernder Weise kommen Kundgebungen an des Verbundenseins und des Schmerzteilens. Ich werde mir er­lauben, morgen oder übermorgen die betreffenden Kund­gebungen hier mitzuteilen.)*)

Ich habe versucht, zu zeigen, wie einzelne Gebiete des naturwissenschaftlichen Denkens in der neueren Zeit ent­stehen. Ich möchte eine Ausführung einschalten, welche be­stimmt sein soll, ein wenig zu beleuchten dasjenige, was sich da vollzogen hat in dieser Bildung naturwissenschaftlicher Anschauungen, weil man besser verstehen kann, um was es sich da eigentlich im Gesamtfortgange der Menschheitsent­faltung handelt, wenn man von einem gewissen Gesichts­punkte aus auf die Dinge Licht wirft. Man muß ja sich durchaus klar darüber sein, daß dasjenige, was in der äus­seren Kultur und Zivilisation der Menschheit auftritt, inner-lid' - ich möchte sagen - wie von einer Art von Pulsschlag durchströmt ist, durchzuckt ist, einem Pulsschlag, der von tieferen Einsichten herrührt, die nicht gerade immer als Ein­sichten wirken müssen, die gelehrt werden, sondern die auf eine Weise tatsächlich der Entwickelung zugrunde liegen, auf eine Weise, die ich nun auch in den nächsten Tagen noch andeuten werde. Jetzt möchte ich nur sagen, daß man ja besser versteht, um was es sich nach dieser Richtung han­delt, wenn man zu Hilfe nimmt dasjenige, was in bestimm-ten Zeiten Initiationswissenschaft ist, Wissenschaft von den tieferen Grundlagen des Lebens und des Weltgeschehens.

Wir wissen ja, daß je weiter wir in der Menschheitsent­wickelung zurückgehen, desto mehr treffen wir auf ein in­stinktives geisteswissenschaftliches Erkennen, auf instink­tives heilsichtiges Anschauen desjenigen, was gewissermas­sen hinter den Kulissen des Daseins vorgeht! Und wir wis­sen ferner, daß in der Gegenwart es möglich ist, zu einem

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*) Siehe Vorwort des Herausgebers.

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tieferen Wissen zu kommen, weil - wenn ich mich populär ausdrücken will, weil seit dem letzten Drittel (,es 19. Jahr­hunderts nach der Entwickelung der Hochflut materiali­stischer Anschauungen und materialistischer Empfindungen, die im 19. Jahrhundert eingetreten sind, - sich eben einfach durch das Verhältnis der geistigen Welt zur physischen Welt die Möglichkeit ergeben hat, daß geistige Erkenntnisse un­mittelbar wiederum aus der übersinnlichen Welt herausge-holt werden. Es ist eben möglich seit dem letzten Drittel des

19. Jahrhunderts, die menschliche Erkenntnis so zu vertie­fen, daß es dazu kommt, geistig in seinen Grundlagen das-jenige anzuschauen, was sich im äußeren Naturgeschehen ab­spielt.

Sodaß man etwa sagen kann: Eine ältere instinktive Ini­tiationswissenschaft macht einer exoterischen Menschheits­zivilisation Platz, einer Zivilisation, in der von einem un­mittelbaren Geistwissen wenig zu spüren ist in der Welt. Und dann kommt wiederum eine neue Morgenröte von Geistwissen, jetzt vollbewußtem, nicht instinktivem Geistes-wissen.

Wir stehen im Anfange dieser Entwickelung eines neuen Geisteswissens. Es wird das aber in die Zukunft weiter sich entfalten. Wenn man nun Einblicke hat in dasjenige, was de'r Mensch als seine Erkenntnis ansah während der Zeit der alten instinktiven Initiationswissenschaft, dann ergibt sich einem auf dem Hintergrunde dieser Einsichten, daß bis zum Beginne des 14. Jahrhunderts in der zivilisierten Welt An­sichten vorhanden waren, die nicht zu vergleichen sind un­mittelbar mit unseren heutigen Naturerkenntnissen, weil sie von ganz anderer Art waren, die noch weniger zu vergleichen sind mit demjenigen, was etwa die heutige Wissenschaft Seelenkunde oder Psychologie nennt. Auch da muß man sagen, daß sie anderer Art war. Man hat sowohl das Geistig-Seelische des Menschen, wie auch das Physisch-Natürliche in einer gewissen Weise in Vorstellungen gefaßt, die heute gar nicht mehr von den Menschen, die nicht ausdrücklich sich mit Initiationswissenschaft befassen, verstanden werden. Es war eine ganz andere Art zu denken, zu empfinden.

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Wenn wir nun mit dem, was alte Initiationswissenschaft war, diese auch durch die Geschichte teilweise wenigstens be­kannten Einsichten des früheren Zeitalters vergleichen, so finden wir, trotz der mangelhaften Ueberlieferung, daß vor­handen waren tiefe Einsichten, tiefe Vorstellungen über den Menschen, über das Verhältnis des Menschen zur Welt usw. Man läßt sich heute nicht gern ein darauf, etwa so etwas zu würdigen, wie das Werk über die Einteilung der Natur von Johannes Scotus Erigena im 9. Jahrhundert. Man läßt sich nicht darauf ein, weil man nicht solch ein Werk als ein historisches Denkmal nimmt aus einer Zeit, in der eben ganz anders gedacht wurde als heute, so gedacht wurde, wie man es gar nicht mehr versteht; wenn man solch ein Werk heute liest, und wenn gewöhnliche Philosophen in ihrer Geschichts­schreibung solche Dinge darstellen, so hat man es eigentlich nur mit Worten zu tun. Ein Eingehen auf den eigentlichen Geist eines solchen Werkes, wie das von Johannes Scotus Erigena über die Einteilung der Natur, wobei Natur etwas ganz anderes bedeutet als das Wort Natur in der späteren Naturwissenschaft, ein Eingehen auf den Geist ist eigent-lid' nicht mehr da. Kann man bei geisteswissenschaftlicher Vertiefung doch eingehen, so muß man sich merkwürdiger-weise folgendes sagen: Dieser Scotus Erigena hat Ideen ent­wickelt, die auf einen den Eindruck machen, daß sie außer­ordentlich tief hineingehen in das Wesen der Welt; aber er hat diese Ideen ganz zweifellos in einer nicht zulänglichen, nicht eindringlichen Form in seinem Werke dargestellt. Wenn man nicht der Gefahr sich aussetzen würde, gegenüber einem immerhin überragenden Werke der Menschheitsentwicke­lung respektlos zu sprechen, so würde man im Grunde eigent­lich sagen müssen, daß schon Johannes Scotus Erigena selbst nicht mehr völlig gewußt hat, was er schreibt. Man sieht seiner Darstellung an, er hat nicht mehr völlig gewußt, was er schreibt. Für ihn selber waren schon, nicht in dem Grade, wie es für die heutigen Geschichtsschreiber der Philosophie der Fall ist, aber für ihn selber waren schon die Worte, die er aus der Tradition entnommen hat, mehr oder weniger nur Worte, deren tiefen Inhalt er selber nicht einsieht.

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Man ist eigentlich immer mehr genötigt, wenn man diese Dinge liest, in der Geschichte zurückzugehen. Und von Scotus Erigena wird man ja, das ist leicht ersichtlich aus seinen Schriften, unmittelbar geführt auf die Schriften des soge­nannten Pseudo-Dionysius des Areopagiten.

Ich will jetzt auf diese Entwickelungsprobleme nicht ein­gehen, wann der gelebt hat usw. Und von diesem Dionysius dem Areopagiten wird man wiederum weiter zurückgeführt. Da muß man dann schon wirklich ausgerüstet mit Geistes-wissenschaft weiterforschen, und man kommt endlich etwa, wenn man in das zweite, dritte Jahrtausend vorchristlicher Zeit zurückgeht, zu tiefen Einsichten, die eben der Mensch­heit verloren gegangen sind, die eben nur in einem schwa­chen Nachklange vorhanden sind in solchen Schriften, wie denen von Johannes Scotus Erigena.

Aber auch noch wenn wir uns richtig vertiefen können in die Werke selbst der Scholastiker, dann werden wir fin­den, daß hinter der unglaublich pedantisch schulmäßig zu­gerichteten Darstellung tiefe Ideen liegen über die Art, wie der Mensch auffaßt die äußere Welt, die ihm entgegentritt; wie in diesem Auffassen auf der einen Seite lebt das Ueber­sinnliche, auf der anderen Seite lebt das Sinnliche usw. Und wenn man die fortlaufende Tradition nimmt, die sich auf Aristoteles wiederum begründet, der in einer logisch-pe­dantischen Weise ein altes Wissen, das ihm überliefert war, selbst wieder zusammengefaßt hat, so stößt man auf das­selbe: Tiefe Einsichten, die ins Mittelalter hineinreichen, die wiederholt werden in den aufeinanderfolgenden Zeitepochen, und die immer wieder weniger verstanden werden.

Das ist das Charakteristische: Tiefe Einsichten, die einmal in alten Zeiten gut verstanden worden sind, die wiederholt werden und die dann nicht mehr verstandep werden. Und im

13., 14. Jahrhundert verschwindet dann das Verständnis fast vollständig, und es tritt ein ganz neuer Geist auf, eben der Kopernikanisch-Galilei'sche Geist, den ich Ihnen ja in den letzten Vorträgen seinem Wesen nach zu charakterisieren ver­suchte.

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Ueberall, wo man solche Nachforschungen, deren Geist ich eben jetzt angedeutet habe, anstellt, findet man, daß dieses alte Wissen, das so von Epoche zu Epoche, immer weniger verstanden, fortgepflanzt wird bis ins 14. Jahr­hundert herein, daß dieses alte Wissen im wesentlichen be­stand in einem innerlichen Erleben, - es wird das sehr ver­ständlich sein nach den Auseinandersetzungen der letzten Tage - in dem Erleben des Mathematisch-Mechanischen beim menschlichen Sichbewegen, in dem Erleben eines ge­wissen Chemischen, wie wir heute sagen würden, bei der inneren Säftebewegung des Menschen, die vom ätherischen .Leib durchzogen ist.

Sodaß wir wirklich das Schema, das ich Ihnen gestern auf die Tafel geschrieben habe, auch gewissermaßen geschicht­lich betrachten können. Wir können es nämlich so betrachten:

Sehen wir heute wiederum mit unserer Initiationswissen­schaft das Wesen des Menschen an, so haben wir den phy­sischen Leib, den ätherischen Leib oder Bildekräfteleib, den astralischen Leib, das innerlich Seelische, und die Ich-Or­ganisation. Ich habe nun schon gestern gesagt, es bestand eben, als aus der alten Initiationswissenschaft hervorgehend, ein innerliches Erleben des physischen Leibes, ein innerliches Erleben desjenigen, was Bewegung ist, ein innerliches Er­leben der Dimensionalitäten des Raumes, Erleben aber auch von anderen physisch-mechanischen Yorgängen, und wir können dieses innerliche Erleben das Erleben des Phisikali­schen im Menschen nennen. Zugleich ist dieses Erleben des Physikalischen im Menschen eben das Erkennen von physi­kalisch-mechanischen Gesetzen; eine Physik des menschlichen Wesens nach dem physikalischen Leibe hin gibt es (siehe S. 114 und 119).

Niemandem wäre es eingefallen damals, Physik anders zu suchen, als durch das Erleben im Menschen. Im Galilei­Kopernikanischen Zeitalter wird nun mit der Mathematik zugleich, die ja dann auf die Physik angewendet wird, das­jenige, was so innerlich erlebt wird, herausgeworfen aus dem Menschen und nur abstrakt erfaßt. Sodaß wir also sagen

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können: Die Physik rückt aus dem Menschen heraus, wäh­rend sie vorher im Menschen selbst beschlossen war.

Einen ganz ähnlichen Prozeß erlebt man mit dem, was innerlich im Menschen erfahren wurde als 5 aftevorgange, Vorgänge der wässerigen, der flüssigen Bestandteile des menschlichen Organismus. Ich wies gestern auf Galen in den ersten christlichen Jahrhunderten hin, der den Menschen in­nerlich so beschrieb, daß er sagte: Im Mensch lebt ,,schware Galle", die in den Säftestromen zirkuliert, ,, , ,, , und die gewöhnliche Galle, die ,,weiße Galle", ,,gelbe Gal­le". Durch das Ineinanderströmen, durch das sich gegen­seitige Beeinflussen dieser Säfteströmungen entwickelt sich das menschliche Wesen in der physikalischen Welt. Aber dasjenige, was da Galen behatiptete, das hatte er nicht durch Methoden, die unseren heutigen physiologischen Methoden ganz ähnlich sind, sondern das beruhte im wesentlichen noch auf innerem Erleben. Galen hatte es auch schon traditionell. Aber was er traditionell hatte, was er einfach der Ueber­lieferung entnahm, das erlebte man einstmals innerlich im flüssigen Teile des menschlichen (>rganismus, der vom ätherischen oder Bildekräfteleib durchzogen ist.

Aus dieser Tatsache heraus schilderte ich auch im Beginne meiner ,,Rätsel der Philosophie" die griechischen Philosophen nicht so, wie man sie gewöhnlich schildert. Wenn Sie in den gewöhnlichen Geschichten der Philosophie nachlesen, so fin­den Sie ja überall die Sache so verzeichnet: Thales dachte nach über den Ursprung desjenigen, was in der Sinneswelt ist, und er suchte den Ausgangspunkt im Feuer; andere in der Luft, andere im Festen, zum Beispiel in einer Art Atome usw. Daß so etwas gesagt werden kann, ohne daß man sich Rechenschaft darüber gibt, daß es im Grunde unerklärlich ist, warum der Thales gerade das Wasser, der Heraklit das Feuer als den Ursprung der Dinge erklärte, das fällt ja heute den Menschen nicht weiter auf.

Sie brauchen nur nachzulesen in meinem Buche: ,,Die Rätsel der Philosophie" und Sie werden sehen, wie einfach die Ansicht des Thales' die sich ausdrückte in dem Satze:

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,,Alles ist aus dem Wasser entsprungen", auf einem inneren Erlebnis beruhte.

Er fühlte die Tätigkeit dessen, was man dazumal eben das ,,Wässerige" nannte, und mit dieser innerlichen Tätig keit fühlte er verwandt dasjenige, was dem äußeren Natur-vorgang zugrunde liegt, und er schilderte also aus inneren Erlebnissen heraus das Aeußere. Ebenso Heraklit, der -möchte ich sagen - von anderem Temperament war. Thales war - wie wir heute sagen würden - eben Phlegmatiker, der in dem innerlichen ,,Wasser" lebte, oder ,,Schleim" lebte:

er schilderte also die Welt als ein Phlegmatiker. ,,Alles ist aus dem Wasser entsprungen."

Heraklit war der Choleriker, der das innerliche ,,Feuer" erlebte. Er schilderte die Welt so, wie er sie erlebte. Und daneben gab es, nicht mehr verzeichnet heute in der äußeren Ueberlieferung, noch eindringlichere Geister; die wußten noch mehr über die Dinge. Dasjenige, was sie wußten, ging dann weiter und war als Ueberlieferung vorhanden in den ersten christlichen Jahrhunderten, so daß Galen eben von seinen vier Bestandteilen des inneren Säftewesens des Men­schen sprechen konnte.

Das, was man da wußte über das innere Säftewesen, wie diese vier Gattungen von Säften: Gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim ineinandergehen, sich mischen, -was man heute für eine Kinderei ansieht, nun, das ist ja be­greiflich - das ist eigentlich dasjenige, was innere mensch­liche Chemie ist. Eine andere Chemie gab es eben damals nicht. Denn dasjenige, was man äußerlich als Erscheinungen ansah, die heute in das Gebiet der Chemie gehören, die be­urteilte man nach diesen inneren Erlebnissen. Sodaß wir von einer inneren Chemie reden können, die auf Erlebnissen des vom Aetherleib durchzogenen Säftemenschen, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, beruht.

Und so haben wir in der älteren Zeit diese Chemie an den Menschen gebunden. Sie tritt später heraus ebenso wie die Mathematik und wie die Physik und wird äußerliche Chemie (siehe Schema S. 139).

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Denken Sie nur einmal, wie diese Physik und diese Che­mie der älteren Zeiten von den Menschen empfunden worden sind! Sie sind empfunden worden als etwas, was gewisser­maßen ein Stück von ihnen selbst war, nicht als etwas, was bloß Beschreibung einer äußeren Natur mit ihren Vorgängen ist. Das war das Wesentliche. Es war erlebte Physik, erlebte Chemie.

In einer solchen Zeit, in der man die äußere Natur in seinem physischen, in seinem Aetherleib fühlte, erlebte man auch dasjenige, was nun im astralischen Leib ist und was in der Ich-Organisation ist, anders als später. Wir haben heute eine Psychologie. Aber diese Psychologie, sie ist ja - man sollte sich's gestehen, man tut's nicht - diese Psychologie, sie ist ja tatsächlich ein Inventar von lauter Abstraktionen. Denken, Fühlen, Wollen finden Sie da drinnen und Ge­dächtnis, Phantasie usw. eigentlich nur als Abstraktionen an­geführt. Das entstand allmählich aus dem, was man da nun als seinen eigenen Inhalt noch gelten ließ, - die Chemie und die Physik hatte man herausgeworfen, - Denken, Füh­len und Wollen, das warf man nicht heraus, das behielt man; aber es verdünnte sich allmählich so, daß es eigentlich nur noch ein Inventar wurde von den wesenlosesten Abstrak­tionen.

Das läßt sich auf die leichteste Weise beweisen, daß das wesenlose Abstraktionen wurden; denn, nehmen wir zum Beispiel die Leute, die etwa im 15., 16. Jahrhundert noch vom Denken, Wollen sprachen, so wie sie sprachen, - bitte, nehmen Sie ältere Schriften über diese Dinge - so wie sie sprachen, so hat das alles noch den Charakter des Konkre­teren. Man hat das Gefühl, wenn so ein Mensch über das Denken redet, dann redet er noch so, als ob dieses Denken wirklich noch eine Summe von inneren Vorgängen in ihm wäre, als ob die Gedanken sich stoßen würden, sich tragen würden. Es ist auch noch ein Erleben von Gedanken. Die Sache ist noch nicht so abstrakt geworden, wie sie später ge-worden ist.

Später ist sie so etwas geworden, daß dann, als das 19. Jahrhundert gekommen ist, und das Ende des 19. Jahrhunderts

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gekommen ist, es den Philosophen leicht geworden ist. diesen Abstraktionen überhaupt alle Realität abzusprechen und nur noch davon zu sprechen, daß es innere Spiegelbilden sind usw., was ja in besonders geistreicher Weise eben der öfter angeführte Richard Wahle gemacht hat, der nun das Ich, das Denken, Fühlen und Wollen, ja nur noch für Illu­sionen erklärt. Aus Abstraktionen werden sie dann Illusionen, die inneren Seeleninhalte.

Eben in derjenigen Zeit, in der der Mensch sein Gehen als einen Vorgang gefühlt hat, der sich mit ihm und der Welt zugleich abspielt, in der er seine Säftebewegung gespürt hat, sodaß er wußte, wenn er sich - sagen wir - im heißen Sonnenscheine bewegt, also äußere Wirkungen da sind, so bewegt sich Blut und Schleim in ihm anders, als wenn er im kalten Winter da ist. Er erlebte die Blut-Schleim-Bewegungen in sich, aber er erlebte sie zusammen mit dem Sonnenschein oder der Abwesenheit des Sonnenscheins. So wie er ja das Physische und Chemische mit der Welt zusammenerlebte, so erlebte er auch Denken, Fühlen, Wollen mit der Welt zu­sammen. Er versetzte sie nicht bloß in sein Inneres, in der Art wie spätere Zeiten, wo sie allmählich zu vollständigen Abstraktionen verdufteten, sondern in dem Erfahren dessen, was da vor sich geht im Menschen, - und jetzt nicht in dem, was Säftebewegung ist, oder was physische Bewegungen, physische Kräfteentfaltungen sind, sondern in dem, was der astralischen Wesenheit des Menschen, dem Seelischen ange­hört, - in diesem Erleben war das enthalten, was für die damalige Zeit Gegenstand einer Psychologie war (siehe Schema S. 139). Die wurde nun ganz an den Menschen ge­bunden.

Mit dem heraufkommenden naturwissenschaftlichen Zeit­alter stieß also der Mensch die Physik hinaus in die Welt, die Chemie hinaus in die Welt; die Psychologie stieß er in sich selber hinein. Man kann diesen Prozeß bei Baco von Verulam, bei John Locke namentlich, verfolgen; alles das­jenige, was erfahren wird als Seeleninhalt an der Außen­welt: Ton, Farbe, Wärmequalität, wird hineingestoßen in den Menschen.

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Noch mehr spielt sich dieser Prozeß ab in bezug auf die Ich-Organisation. Die Ich-Organisation wurde allmählich wirklich ein recht dünnes Erlebnis. Etwas Punktartiges, wenn man da in sich hineinschaut, ist das Ich allmählich geworden; daher es wiederum für die Philosophen sehr leicht gewor­den ist, es wegzudisputieren. Nicht das Ich-Bewußtsein, aber das Erlebnis des Ich war für ältere Zeiten ein innerlich Er­lebtes, Vollgeltendes. Und das Erleben des Ich drückte sich aus in dem, was nun eine Wissenschaft war, höher als die Psychologie, was eine Wissenschaft war, die man Pneumato­/ogie nennen kann. Auch diese nahm der Mensch in sich herein und verdünnte sie zu seiner wirklich recht dünnen Ich-empfindung (siehe Schema S. 139). .

Wenn der Mensch das Innenerlebnis seines physischen Leibes hatte, hatte er das Physik-Erlebnis, zu gkicher Zeit dasjenige, was in der äußeren Natur als gleichartig mit den Vorgängen in seinem physischen Leibe vor sich geht. Und so ähnlich ist es mit dem Aetherleib.

Beim Aetherleib ist nun nicht nur das Aetherische, son­dern die physische Säftewelt, aber beherrscht von dem Aetheri­schen, innerlich erlebt. Was ist denn erlebt innerlich, indem der Mensch das Psychologische wahrnimmt, indem er die Vorgänge seines astralischen Leibes erlebt? Da ist innerlich erlebt dasjenige, was - wenn ich mich so ausdrücken darf

- der Luftmensch ist. Wir sind ja nicht nur feste organische Gebilde, säftehaltige organische Gebilde, also wässerige Ge­bilde, sondern wir sind ja fortwährend auch innerlich gasig­luftig. Wir atmen die Luft ein, atmen sie wieder aus.

In innigem Vereine mit der innerlichen Luftverarbeitung erlebte der Mensch den Inhalt der Psychologie. Daher war sie konkreter. Als man das Luft-Erlebnis herausgeworfen hatte, dasjenige, was man auch äußerlich verfolgen kann, herausgeworfen hatte aus dem Denkinhalte, da wurde der Denkinhalt eben immer mehr abstrakter bloßer Gedanke.

Denken Sie, wie der indische Philosoph in seinen Uebungen gestrebt hat, sich so recht bewußt zu werden, daß im Atmen, im Atmungsprozeß etwas Verwandtes mit dem Denkprozeß vor sich ging. Er machte einen geregelten Atmungsprozeß,

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um in seinem Denken vorwärts zu kommen. Er wußte, Den ken, Fühlen, Wollen ist etwas, was nicht solch luftiges Zeug ist, wie wir es heute anschauen, sondern was immerhin mit der äußeren Natur und namentlich mit der inneren Natur nach dem Atmen hin zusammenhing, was also zusammenhing mit der Luft Kann man also sagen: Das Physische, das Chemische, warf der Mensch aus seiner Organisation heraus. so kann man sagen: Das Psychologische sog er ein; aber er warf das äußere Element, nämlich das Luft-Atem-Erlebnis heraus. Aus dem Physischen und Chemischen warf er sidn heraus und beobachtete nur mehr als Physik und Chemie die äußere Welt. Aus dem Psychologischen warf er die äußere Welt, die Luft heraus; und ebenso warf er aus dem Pneu­matologischen das Wärmehaltige heraus. Dadurch wurde es zu der Dünnheit des Ichs gemacht.

Also wenn ich dies, physischen Leib und Aetherleib' den unteren Menschen nenne (siehe S. 139), astralischen Leib und Ich-Organisation den oberen Menschen nenne, so kann ich sagen: Die geschichtliche Entwickelung beim Uebergange von einem älteren Zeitalter zu dem naturwissenschaftlichen zeigt, daß der Mensch das Physische, das Chemische aus sich heraus warf, und in seine physischen und chemischen Begriffe nur die äußere Natur mehr aufnahm. In der Psychologie und Pneumatologie entwickelte der Mensch Vorstellungen, aus denen er die äußere Natur herauswarf und nur noch das erlebte, was noch davon im Inneren in seinen Vorstellungen übrig blieb. In der Psychologie blieb ihm so viel übrig, daß er wenigstens noch Worte hatte für Seeleninhalte. Für das Ich blieb ihm so wenig übrig, daß die Pneumatologie, teil­weise vorbereitet ja durch die Dogmatik allerdings, aber auch sonst vollständig verschwand. Es schrumpfte alles zu dem Punkte des Ichs zusammen. Das trat an Stelle desjenigen, was rein einheitlich erlebt worden ist einst, wenn man sagte:

Man hat vier Elemente, Erde, Wasser, Luft, Feuer; die Erde erlebt man in sich selber, wenn man den physischen Leib er­lebt. Das Wasser erlebt man in sich selber, wenn man den Aetherleib erlebt als Säftebeweger und Säftemischer und Entmischer. Die Luft erlebt man, wenn man den astralischen

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Leib erlebt in Denken, Fühlen und Wollen; denn das Den­ken, Fühlen und Wollen erlebte man als wogend auf dem innerlichen Atmungsvorgang. Und die Wärme oder das Feuer, wie man es damals nannte, erlebte man in der Ich-empfindung.

So können wir also sagen: In einer Umwandelung des ganzen Verhältnisses des Menschen zu sich selber entwickelte sich die naturwissenschaftliche Anschauung der neueren Zeit. Und wenn man mit diesen Einsichten eben die geschichtliche Entwickelung verfolgt, so findet man erstens das, was ich Ihnen früher gesagt habe, und in jeder neuen Epoche neue Darstellungen, die alten Ueberlieferungen aber immer weniger verstanden. Und merkwürdige Zeugnisse solcher alten Ueberlieferungen sind dann die Anschauungen etwa eines Paracelsus, van Helmonts' Jacob Böhmes.

Bei Jakob Böhme hat derjenige, der sich Einsichten in solche Dinge verschaffen kann, unmittelbar die Erfahrung, daß da ein außerordentlich einfacher Mensch spricht, der aus Quellen seine Erkenntnis hat, die heute zu besprechen ja nicht möglich sind, die zu weit führen würden, daß aber eigentlich in einer Weise, die wirklich deshalb schwer ver­ständlich ist, weil sie sehr ungeschickt dargestellt ist, Jakob Böhme in dieser ungeschickten Darstellung tiefe alte Ein­sichten, die sich einfach volksmäßig fortgepflanzt haben, auf­nimmt. In welcher Lage war denn so jemand wie Jakob Böhme? Während derjenige, der demselben Zeitalter ange­hört, Giordano Bruno, man möchte sagen, in der für ihn neuesten Phase der Entwickelung der Menschheit so drinnen steht, wie ich das in einem früheren Vortrage dieses Kurses dargestellt habe, sehen wir bei Jakob Böhme, daß er ganz offenbar zur Hand bekommt allerlei Werke, die heute natür­lich verschollen sind; und durch eine innere Anlage geht ihm in Werken, die buntestes Zeug in der äußeren Darstellung repräsentieren, geht ihm auf, daß das auf einen Ursinn zu­rückgeht, und er stellt wiederum - ich möchte sagen - unter ungeheuren inneren Hemmnissen' wodurch die Sache eben ungeschickt wird, diese Urweisheit, die er sich noch von un­geschickteren, unzulänglichen Ueberlieferungen übernommen

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hatte, dar. Er konnte aber zurückgehen zu einer früheren Stufe infolge seiner inneren Erleuchtung.

Und geht man nun in das 15., 16. Jahrhundert, und namentlich ins 17. und 18. Jahrhundert, und betrachtet man solche einzelnen Erscheinungen, wie Paracelsus und Jakob Böhme, die eigentlich nur da sind wie Denkmäler einer alten Zeit, wenn man an diese herangeht und das nimmt, was im fortlaufenden exoterischen Strom der Menschheitsentwicke­lung vorhanden ist, dann bekommt man den Eindruck: Legt man eigentlich, da weiß keiner mehr irgendwie von den tet man die Sache mit der Initiationswissenschaft' so sieht man eigentlich, da weiß keiner mehr irgendwie von den tieferen Grundlagen des Weltenwesens. Da ist schon das eingetreten, daß Physik herausgeworfen ist aus dem Men­schen, daß Chemismus herausgeworfen ist aus dem Menschen, da tritt schon der Spott ein über Alchemie. Man hatte ja natürlich recht mit diesem Spott, denn dasjenige, was noch erhalten war von den alten Traditionen als mittelalterliche Alchemie, darüber konnte man spotten. Man hatte die ins Innere des Menschen genommene Psychologie und eine sehr dünne Pneumatologie. Also man hatte gebrochen mit dem­jenigen, was man früher vom Menschen gewußt hat, und man erlebte auf der einen Seite das vom Menschen Getrennte, auf der anderen Seite das in den Menschen chaotisch Hirjein­geworfene. Und man möchte sagen, überall zeigte sich in dem, was man nun als Menschenerkenntnis anstrebt, diese eben charakterisierte Tatsache.

Da tritt zum Beispiel im 17. Jahrhunderte eine Anschau­ung auf, die, wenn man sie als einzelne Anschauung ins Auge faßt, eigentlich ziemlich unverständlich bleibt, die aber in die Historie hineingestellt ganz verständlich wird, da taucht die Ansicht auf, daß die ganze Summe der Vorgänge, die ein Mensch in seinem Inneren als Ernährungsvorgänge hat, daß die auf einer Art von Gärung beruhen. Dasjenige, was der Mensch als Nahrungsmittel aufnimmt, das speichelt er ein, durchdringt es mit Säften, z. B. der Pankreas usw. und da vollziehen sich verschiedene Grade von Gärungsprozessen' wie man 5 etwa nannte. Wenn man vom heutigen Anschauen,

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das ja wieder nur ein Vorübergehendes natürlich ist, diese Dinge betrachtet, so kann man ja natürlich höhnen darüber; aber dann strebt man nicht nach Einsicht, sondern höchstens nach einer professoralen Darstellung. Wenn man darauf ein­geht, so sieht man, woher solche allerdings merkwürdigen Ansichten über den Menschen kommen. Ganz im Verglim­men sind die alten Traditionen, die noch bei Galen und noch früher auf inneren Erlebnissen beruhten, einen guten Sinn hatten; aber dasjenige, was jetzt äußerlich als abgestoßene Chemie da sein sollte, das ist nur in dem allerersten Element da. Das Innere hat man nicht mehr; das Aeußere hat sich noch nicht entwickelt. Und so ist man nur in der Lage, in außerordentlich schwachen neuchemischen Vorstellungen, wie etwa einer unbestimmt gedachten Gärung, von den inner­lichen Ernährungsvorgängen zu sprechen.

Und es waren die Nachzügler der Galenlehre, welche zwar nicht mehr recht fühlten, daß man ausgehen muß, wenn man den Menschen verstehen will, von seiner Säftebewegung, also von dem Flüssigen in ihm, welche aber zu gleicher Zeit schon anfingen, das Chemische nur an den äußeren Vorgängen zu betrachten, und welche also die äußerlich betrachteten Gä­rungsvorgänge nun auf den Menschen anwendeten. Der Mensch war ein leerer Sack geworden, weil er nichts mehr erlebte in sich.

Und in diesen leeren Sack füllte man dasjenige jetzt hinein, was äußere Wissenschaft geworden war. Nun, damals im 17. Jahrhundert war's noch weniger. Da hatte man unbestimmte Vorstellungen über Gärungen und ähnliche Prozesse. Die schob man jetzt in den Menschen hinein. Das war im 17. Jahrhundert die sogenannte Jatrochemische Schule.

Wenn man die Jatrochemiker in Betracht zieht, so sagt man sich, die haben noch in ihren Vorstellungen so kleine Schatten der alten Säftelehre, die auf innerem Erleben be-ruhte. Andere aber, die mehr oder weniger Zeitgenossen dieser Jatrochemiker waren, die hatten solche schattenhaften Vorstellungen gar nicht mehr, und die fingen nun an, den Menschen so zu betrachten, wie er sich etwa ausnimmt, wenn wir heute ein Anatomiebuch aufschlagen. Wenn wir heute

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ein Anatomiebuch aufschlagen, da wird der Mensch so dar-gestellt: meinetwillen ein Knochensystem dargestellt, den Magen dargestellt, das Herz dargestellt, die Leber darge-stellt, und unwillkürlich bekommt dann derjenige, der das verfolgt, den Eindruck, als ob das der ganze Mensch wäre, und der aus mehr oder weniger festen Organen bestünde mit scharfen Konturen. Sie sind ja auch da in gewisser Be­ziehung. Aber das Feste, das ,,Erdige"" - im alten Sinne gesprochen - ist ja höchstens ein Zehntel vom Menschen; im übrigen ist der Mensch eine Flüssigkeitsäule.

Natürlich nicht in der Mitteilung, aber in der betrachten­den Methode wurde das ja allmählich ganz vergessen, daß der Mensch eine Flüssigkeitssäule ist, und daß in dieser Flüs­sigkeitssäule drinnen sich bilden diese Organe mit den festen Konturen, die darinnen nur schwimmen, die man heute eben einfach aufzeichnet, und dadurch insbesondere bei Laien die Vorstellung hervorruft, als ob man damit den Menschen ver­standen hätte. Wenn Sie die heutigen Bilder des anatomischen Atlas anschauen, - der heutige anatomische Atlas gibt ja falsche Bilder - da häben Sie das ja entwickelt, es ist ja aber nur 1/10 vom Menschen; den anderen Menschen müßte man darstellen, indem man hineinzeichnet in diese Gebilde, Ma­gen, Leber usw., hineinzeichnet einen fortwährenden Säfte-strom in der mannigfaltigsten Weise, ein Ineinanderwirken von Säften, eind Wechselwirkung von Säften.

Wie das eigentlich ist, darüber hat man ganz falsche Vor­stellungen bekommen, weil man eben gewissermaßen nur die festbegrenzten Organe des Menschen mehr betrachtete.

Und so kam es zum Beispiel, daß im 19. Jahrhundert dann die Leute außerordentlich frappiert waren, daß, wenn der Mensch das erste Glas Wasser trinkt - ich will jetzt vom Wasser sprechen - wenn der Mensch das erste Glas Wasser trinkt, daß das den Eindruck macht, es wird von seinen Or­ganen überall verarbeitet, es geht durch den Menschen in der Weise, wie es aufgefaßt wird; wenn er aber das Zweite, wenn er das dritte Glas Wasser trinkt, so macht das gar nicht den Eindruck, als ob das in derselben Weise verarbeitet würde! Diese Dinge hat man dann bemerkt, aber man kann

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sie nicht mehr erklären, weil man eine ganz falsche Anschau­ung - wenn ich mich so ausdrücken darf - vom Flüssig­keitsmenschen gewonnen hat, in dem der Aetherleib die treibende Wesenheit gewesen ist, die die Flüssigkeit mischt und entmischt, die organische Chemie im Menschen bewirkt.

Nun, im 17. Jahrhundert hat man wirklich angefangen, diesen Flüsigkeitsmenschen nach und nach ganz zu ignorieren und nur die fest begrenzten Teile ins Auge zu fassen. Da­durch kam allmählich das heraus, daß man den Menschen ansah wie einen Zusammenhang von festen Teilen; da, in­nerhalb von fast begrenzten Teilen in der Welt spielt sich alles in mechanischer Ordnung ab. Da stößt eins das an­dere; das bewegt sich; da werden Dinge gepumpt, da wirken die Dinge in der Art von Saugpumpen oder Druckpumpen. Mechanisch also betrachtet man den Menschenleib wie einen nur durch Zusammenhang von festbegrenzten Organen exi­stierenden Leib.

Und allmählich wurde aus Jatrochemischer Ansicht, ei­gentlich gleichzeitig schon mit ihr, wurde die Jatromecha-nische, oder gar Jatromathematische Anschauung. Da florier­te natürlich eine solche Anschauung ganz besonders stark, daß das Herz eigentlich eine Pumpe ist, die das Blut durch den Körper pumpt, nicht wahr, also richtig mechanisch, weil man nicht mehr wußte, daß die innerlichen Säfte des Men­schen innerliches Leben haben, daß also die Säfte sich selbst bewegen, daß das Herz nur ein Sinnesorgan ist, um diese Säftebewegung in seiner Art wahrzunehmen. So kehrte man die ganze Sache um, sah nicht mehr hin auf die Säftebewe­gung, auf die innere Lebendigkeit der Säftebewegung, auf den Aetherleib' der da drinnen wirkt, und das Herz wurde ein mechanischer Apparat, ist's im Grunde genommen heute noch für die meisten sogenannten Physiologen, Mediziner.

Also die Jatrochemiker, die haben noch einen Schatten vom Wissen über den Aetherleib. In demjenigen, was der Galen vortrug, war durchaus ein volles Bewußtsein des Aetherleibes vorhanden. In demjenigen, was der van Hel­mont vortrug zum Beispiel, oder Paracelsus vortrug, ist ein schattenhaftes Bewußtsein vorhanden von dem Aetherleib,

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ein noch schattenhafteres bei den offiziellen Jatrochemikern, die die Schule versorgten; gar kein Bewußtsein mehr von diesem Aetherleib war vorhanden bei den Jatro-Mechanikern. Da war alle Vorstellung vom Aetherleib verduftet, und man stellte den Menschen nur als physischen Leib vor, da aber nur nach seinen festen Bestandteilen, die man aber jetzt be­handelte mit der Physik, die man nun auch schon heraus­geworfen hat aus dem Menschen, die man also äußerlich an-wendete auf den nicht mehr verstandenen Menschen. Man hatte zuerst den Menschen zu einem leeren Sack gemacht

- ich möchte das Beispiel noch einmal gebrauchen, - draus­sen die Physik in abstrakter Weise begründet, und nun diese Physik zurück in den Menschen geworfen. Sodaß man nicht die lebendige Wesenheit des Menschen hatte, sondern einen leeren Sack, ausgefüllt mit Theorien.

So ist es heute noch. Denn dasjenige, was uns heute etwa die Physiologie ,oder die Anatomie vom Menschen erzählt, das ist ja nicht der Mensch, es ist die aus dem Menschen herausgeworfene Physik, die nun umgeändert ist, indem man sie wiederum in den Menschen hineingestopft hat.

Gerade wenn man so recht innerlich die Entwickelung betrachtet, so sieht man, wie das Schicksal da ging. Die Jatro­chemiker hatten noch ein Schatten-Bewußtsein vom Aether­leib' die Jatro-Mechaniker gar nichts mehr davon. Dann kam einer, Stahl, er war eigentlich, wenn man sein Zeitalter be­rücksichtigt, ein außerordentlich gescheiter Mensch. Er hatte offenbar bei den Jatrochemikern sich umgesehen; diese inner­lichen Gärungsprozesse, die erschienen ihm unzulänglich, weil sie ja auch nur die schon nach außen geworfene Chemie wie­derum in den Menschensack zurückversetzen. Die Jatrome­chaniker erst recht. Denn die versetzen ja nur die äußere mechanische Physik in den Menschensack zurück. Aber vom Aetherleib als der treibenden Kraft der Säftebewegung war nichts mehr da, keine Tradition. Es ist keine Möglichkeit, sich darüber zu informieren.

Was tat Stahl im 17., 18. Jahrhundert? Er erfand sich etwas, weil in der Tradition nichts mehr da war, er erfand sich etwas. Er sagte sich: Das, was im Menschen vor sich geht

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an physikalischen, an chemischen Vorgängen, das kann doch wirklich nicht auf diese Physik und Chemie gebaut sein, die man da nun für die Außenwelt findet. Aber er hatte nichts anderes, um es in den Menschen hereinzubringen. So erfand er sich dasjenige, was er ,,Lebenskraft"" nannte. Dadurch be­gründete er die dynamische Schule, - etwas, was er Lebens­kraft nannte. Es war also eine nachträgliche Erfindung für etwas, was man verloren hatte. Stahl war eigentlich tatsäch­lich noch von einem gewissen Instinkt beseelt. Ihm fehlte etwas. Weil er es nicht hatte, so erfand er's wenigstens: Le­benskraft.

Das 19. Jahrhundert hatte wieder alle Mühe, diese Le­benskraft loszukriegen. Sie war ja auch in Wirklichkeit nichts weiter als eine Erfindung, und man hatte also wieder alle Mühe sich gegeben, diese Lebenskraft loszukriegen!

Es ist also tatsächlich so, daß man ringt, in diesen leeren Sack ,,Mensch" wiederum etwas hineinzubringen, was irgend­wie hineinpaßt. So kam man drauf, wiederum auf der an-deren Seite sich zu sagen: Das Maschinelle haben wir. Wie eine Maschine sich bewegt und regiert wird, das weiß man. Und so steckte man in den leeren Menschensack die Maschine hinein. ,,L'homme machine" de La Mettrie, der Mensch ist eine Maschine. Der Materialismus oder eigentlich Mechanis­mus des 18. Jahrhunderts, oder das ,,Systeme de la nature" von Holbach, das Goethe in seiner Jugend so furchtbar ge­haßt hat, es ist die Ohnmacht, an das Wesen des Menschen heranzukommen mit demjenigen, was in der äußeren Natur in der damaligen Zeit schon und später so wirksam geworden ist. Und noch das 19. Jahrhundert nagte an diesem Unver­mögen. An den Menschen konnte man nicht herankommen.

Nun aber, man wollte doch mit irgend etwas den Men­schen vorstellen. Also verfiel man darauf, ihn eben als höher entwickeltes Tier vorzustellen. Das Tier verstand man zwar auch nicht, denn mit Ausnahme der Pneumatologie brauchte man für das Verständnis des Tieres nun auch im alten Sinne Physik, Chemie, Psychologie. Aber daß man für das Tier so etwas auch braucht, wenn man es verstehen will, das merkte man zunächst nicht. Man ging halt von etwas aus,

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nicht wahr. Un4 so führte man den Menschen früher im 18. Jahrhundert auf die Maschine, im 19. Jahrhundert auf das Tier zurück. Das alles ist historisch gut zu begreifen. Im gan­zen Fortgang der Menschheitsentwickelung hat das seinen guten Sinn, denn unter'dem Einflusse dieser Unkenntnis vom Menschenwesen entstanden die neuzeitlichen Empfindungen über den Menschen. Wären die alten Ansichten geblieben von der innerlichen Physik, von der innerlichen Chemie, der vom Menschen außerhalb seiner selbst erlebten Psychologie und Pneumatologie' - so wäre zum Beispiel die Freiheits-entwickelung niemals in der Menschheitsentwickelung er­wacht. Der Mensch mußte sich als elementares Wesen ver­lieren, um sich als freies Wesen zu finden. Das konnte er nur, wenn er gewissermaßen eine Weile zurücktrat von sich, sich nicht mehr beachtete, sich mit dem Aeußeren befaßte, und wenn er Theorien über sich wollte, das in sich herein-nahm, was nun zum Verständnis der äußeren Welt sehr gut paßte. In dieser Zwischenzeit, in der der Mensch sich mit sich Zeit ließ, um so etwas wie Freiheitsempfindung zu entwik-keln, in dieser Zwischenzeit entwickelte der Mensch die na­turwissenschaftliche Vorstellung, jene Vorstellungen, die -ich möchte sagen - so robust waren, daß sie die äußere Na­tur begreifen können, aber zu grob sind für das Wesen des Menschen, weil sie sich nicht die Mühe machen müssen, sich so zu verfeinern, daß sie auch den Menschen mitbegreifen.

Und so entstanden die naturwissenschaftlichen Begriffe, die auf die Natur gut anwendbar sind, ihre großen Triumphe feiern, die aber unbrauchbar sind, um das Wesen des Men-schen in sich aufzunehmen.

Hieraus sehen Sie auch, daß ich wirklich nicht eine Kritik liefere über das Naturwissenschaftliche, sondern daß ich nur Charakteristik liefern will. Gerade dadurch erlangt ja der Mensch sein ganzes Freiheitsbewußtsein' daß er nicht mehr belastet war mit alledem, wovon er eigentlich belastet sein mußte, als er so eigentlich die ganze Sache noch in sich trug. Dieses Freiheitserlehnis für den Menschen kam, als der Mensch sich eine Wissenschaft zimmerte, die in ihrer Robust­heit nur für die äußere Natur paßte, und da sie ja doch

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nun eben nicht eine Totalität ist, natürlich auch wiederum Kritik erfahren kann, nicht anwendbar ist, anwendbar ist eigentlich nur am bequemsten als Physik, in der Physiologie fängt's schon an zu hapern, die Psychologie wird eigentlich ein vollständiges Abstraktum, usw. Aber die Menschen muß­ten durch ein Zeitalter so in diesem Verlaufe hindurchgehen, um eben nach einer ganz anderen Seite, nach der Seite des Freiheitsbewußtseins, nach der Seite der individuellen Moral-auffassung von der Welt usw. zu kommen. Man kann die Entstehung der Naturwissenschaft im neueren Zeitalter nicht verstehen, wenn man sie nur einseitig betrachtet, wenn man sie nicht betrachtet so, daß sie eine Parallelerscheinung ist des nun in demselben Zeitalter heraufkommenden Freiheits-bewußtseins des Menschen und alles dessen, was moralisch und religiös mit diesem Freiheitsbewußtsein zusammenhängt.

#Bild s. 139

Daher sehen wir, wie solche Leute, die, wie Hobbes oder Bacon begründen die Ideen der Naturwissenschaft, wie denen

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entfällt - lesen Sie sich das nach bei Hobbes - wie denen entfällt die Möglichkeit, den Menschen anzugliedern an das­jenige, was Geist und Seele im Weltenall ist. Und es kommt bei Hobbes das heraus, daß er auf der einen Seite schon -ich möchte sagen - in radikalster Weise die naturwissen­schaftlichen Vorstellungen im Keime bildet, daß er auf der anderen Seite aus dem menschlichen sozialen Leben auch alles Geistige herauswirft, den Krieg aller gegen alle statuiert, also nichts Bindendes anerkennt, das von irgend einem Uebersinnlichen kommt im sozialen Leben, daher in einer etwas karikierten Form eigentlich zum ersten Mal theoretisch das Freiheitsbewußtsein bespricht.

Ja, geradlinig ist eben durchaus die Entwickelung der Menschheit nicht. Man muß die nebeneinander hergehenden Strömungen betrachten, dann erst kommt man dazu, den Sinn der geschichtlichen Entwickelung des Menschen zu be­greifen.

IX. Vortrag, 6. Januar 1923

#G326-1969-SE141 Das Entstehungsmoment in der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung

#TI

IX. Vortrag, 6. Januar 1923.

Meine verehrten Anwesenden, meine lieben Freunde!

Es liegt ja in der Natur der Sache, daß der Gegenstand eines solchen Vortragszyklus, wie es dieser ist, eigentlich un-erschöpflich ist, daß die Dinge erweitert und vor allem ver­tieft werden können. Aber da doch einmal leider ein Ab­schluß mit den Sachen gemacht werden muß, so muß man sich eben damit begnügen, Richtlinien und Andeutungen zu geben. Daher werde ich natürlich auch heute nur die schon gegebenen spärlichen Richtlinien und Andeutungen so er­gänzen können, daß das Bild wenigstens in einem gewissen Sinne einen Abschluß bietet.

Gehen wir noch einmal aus von der Wesenheit des Men­schen, wie sie uns gegeben werden kann durch die Forsch­ungen der Geisteswissenschaft, dann müssen wir ja sagen:

Wir gliedern den Menschen in seinen physischen Leib, in seinen ätherischen oder Bildekräfteleib, in seinen astralischen Leib, welcher im wesentlichen ja das Seelisch-Innere dar­stellt, und in seine Ich-Organisation. Seien wir uns klar da­rüber, daß im eigentlichen Sinne der physische Leib lebt in dem geringeren Teile der Menschenorganisation, die als Festes, scharf Konturiertes bezeichnet werden kann, daß da­gegen alles dasjenige, was Saft Säfteartiges ist, was Flüssiges ist im menschlichen Organismus, daß das schon so er­griffen wird von dem ätherischen oder Bildekräfteleib, daß es in einer fortwährenden Mischung, Entmischung, chemischen Verbindung, chemischen Lösung, in einer fortwährenden Strömung ist, aber in Strömungen, die auch gerade wieder durch Mischung, Entmischung, Lösung, Verbindung herbei­geführt werden.

Seien wir uns dann klar darüber, daß innerhalb dieser Menschheitsorganisation Gasiges, Luftförmiges ist, wie das­jenige, was in der Tätigkeit zum Beispiel des Sauerstoffes

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und anderer für sich gasartiger Körper liegt; darinnen wirkt aber die astralische Organisation. Und endlich wirkt in alle­dem, was wärmehaft ist im Menschen, die Ich-Organisation. Das ist aber nicht so, daß man jetzt das schematisch nehmen darf, was ich eben in diesem Moment gesagt habe, sondern man muß sich klar sein darüber, daß dadurch, daß zum Beispiel alles Saftartige und Flüssige von dem Bildkräfte­leib durchpulst ist, daß es dadurch auch mitreißt dasjenige, was fest ist, daß alles in inniger Wechselwirkung im Durch­einanderspiel in der menschlichen Organisation ist. Dessen muß man sich immer bewußt sein. Aber seien wir uns jetzt weiter darüber klar, daß diese menschliche Organisation im Laufe der Menschheitsentwickelung in verschiedener Art er­lebt worden ist. Wir haben ja gerade das als eine Haupt­sache während dieser Vorträge uns vor Augen geführt, daß die menschliche Organisation in der verschiedensten Weise durchlebt wurde.

Dasjenige, was wir zum Beispiel heute als Gegenstand der äußeren Physik oder Mechanik bezeichnen, wurde er­reicht ursprünglich durch inneres Erleben des physischen Lei­bes. So daß wir sagen können: Unsere heutige Physik ent­hält Aussagen, welche entstanden sind dadurch, daß es ur­sprünglich eine innere erlebte Physik des physischen Leibes gab, und daß diese aus dem Menschen, wie ich oft gesagt habe, herausgeworfen worden ist und nunmehr nur als eine beobachtende Physik der äußeren Natur weiterfiguriert.

Ebenso war es einstmals, sogar in der Dekadenz noch wäh­rend der mittelalterlichen Alchemistenzeit mit demjenigen, was innerlich im Menschen lebt durch den ätherischen Leib. Wo der ätherische Leib im Menschen seine Tätigkeit ein-setzt, da findet statt jener Säfteprozeß, jener Flüssigkeits-prozeß, der einstmals erlebt wurde, und jetzt nur noch durch­schimmert durch allerlei phantastisch-alchemistische Angaben, welche die Leute heute finden in älteren Schriften, die aber ursprünglich eine geistvoll ausgearbeitete Wissenschaft waren, aber innerlich erlebt waren innerhalb der ätherischen Or­ganisation des Menschen. Das ist erst auf dem Wege, heraus­geworfen zu werden, denn wir haben eigentlich noch nicht

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eine voll ausgebildete Chemie. Wir haben aber viele che­mische Vorgänge in der Welt, die wir zu begreifen suchen, oder die unsere Wissenschaft zu begreifen sucht, auf eine physisch-mechanische Weise.

Damit aber haben wir dasjenige erschöpft, was der Mensch durch seine Organisation innerlich zunächst erlebt hatte und dann nach außen geworfen hat, in diesem Pro­zesse des Nach-außen-werfens hat sich ja alles entwickelt, von der Astronomie bis zu den spärlichen Anfängen des chemischen Wissens von heute. Dagegen wurde in älteren Zeiten dasjenige, was wir heute als den Inhalt der abstrak­ten Psychologie bezeichnen, was eigentlich nur etwas dar­stellt, was für die Leute nichts Reales mehr ist, Denken, Fühlen, Wollen, das wurde einstmals so erlebt, daß es ei­gentlich gar nicht im Innern des Menschen erlebt wurde, son­dern, daß der Mensch sich fühlte mit der Welt draußen außer sich, wenn er das Seelische erlebte. Also gerade das Körperliche erlebte man einstmals im Innern; das Seelische erlebte man, indem man aus sich herausging und mit der Welt draußen lebte. So daß Psychologie einstmals eine Wis­senschaft war von demjenigen in der Welt, was so auf den Menschen wirkt, daß er als seelisches Wesen in uns sich selber erscheint.

Dadurch, daß dieses mit der Außenwelt Erlebte in den Menschen hineingekommen ist, - während die Physik und die Chemie herausgeworfen werden - wurde die Psycholo­gie und das Nächste, das ich gleich zu besprechen habe, die Pneumatologie in den Menschen hineingestopft und verloren ihre Realität, wurden zu bloßen subjektiven Wahrnehmun­gen usw., aus denen man nicht mehr herauskam.

Dasjenige also, was der Mensch durch seinen astralischen Leib, der ja auch im Schlafe aus ihm herauskann, mit der Welt erlebt, das ist nun Gegenstand der Psychologie. Das­jenige, was der Mensch einstmals als Geist erst recht im vol­len Umfange der Welt mit dieser erlebte, das war Pneumato­logie; heute ist dies - wie ich schon gesagt habe - zusammen-geschrumpft zu der bloßen Ichvorstellung oder eigentlich nur Ich-Empfindung.

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So daß wir heute haben auf der einen Seite als Wissen­schaft von der äußeren Natur dasjenige, was einstmals in­neres Erlebnis war, und daß wir haben als Wissenschaft vom Innern des Menschen dasjenige, was äußeres Erlebnis war Also dasjenige, was heute Gegenstand der äußeren Wissen-schaft ist, war einstmals Innenerlebnis, wenn auch körper-haft, im Körper gefühlt, in der eigenen Bewegung gefühlt, während man heute die Bewegung nur äußerlich beschreibt; nun, ich habe ja das alles angegeben in den Vorträgen. Da­gegen dasjenige, was man heute bloß als Innerliches betrach­tet, Empfindungen, Gedanken, Wahrnehmungen, das .wurde einstmals mit der Außenwelt erlebt. Das ist die Psychologie, die Pneumatologie.

Nun müssen wir uns vor Augen rufen, was eigentlich auf der einen Seite der Physik und Chemie, auf der anderen Seite der Psychologie und Pneumatologie notwendig ist, wenn sie nun in bewußter Weise - denn der Mensch ist heute im Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwickelung -, wenn sie in bewußter Weise weitergeführt werden sollen.

Nehmen wir einmal zum Beispiel die Physik, die ja zum größten Teile in der neueren Zeit eigentlich abstrakt-mechanisch geworden ist, nehmen wir die Physik. Nun, aus meiner Darstellung ist Ihnen hervorgegangen, daß eigentlich die Betrachtungsweise in dem neuen naturwissenschaftlichen Zeitalter immer mehr und mehr sich gedrängt fühlte, die reine angeschaute Mechanik des Raumes zu ihrem Inhalte zu machen im Physikalischen, die angeschaute Mechanik des Raumes.

Erinnern Sie sich nur an das, was ich im letzten Vortrage gesagt habe: Bewegung wurde einstmals innerlich miterlebt, und man beurteilte die Bewegung nach dem, was man in­nerlich als Bewegung erlebte, schaute einen fallenden Stein an und erlebte seinen inneren Bewegungsimpuls im eigenen menschlichen Inneren, nämlich im physischen Leibe. Daraus ist geworden beim Hinauswerfen das Messen des Faliraumes in der ersten Sekunde. Das ist dasjenige, was heute in allen unseren Vorstellungen über die Natur steckt, daß durch dasjenige,

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was angeschaut wird, einfach vergegenwärtigt wird dasjenige, was wirklich ist.

Und was kann angeschaut werden in der äußeren Welt? Angeschaut kann werden die Bewegung. Die Geschwindig­keit lassen wir ja in der Regel verschwinden in einem Dif­lerential-Quotienten, da, wo wir sie recht nett verschwinden lassen können. Aber dasjenige, was wir beobachten können, ist die Bewegung, und die Geschwindigkeit drücken wir ja durch die Bewegung in einer Sekunde aus, also durch Räum­lichkeit. Also dasjenige, was wir beobachten, ist die Be­wegung.

Aber damit sind wir gänzlich mit unserem Erleben aus dem Naturkörper heraus. Wir sind mit nichts drinnen, wenn wir bloß seine Bewcgung, das heißt seine Ortsveränderung im Raume betrachten. Wir kommen nur wieder hinein, wenn wir Mittel und Wege finden, durch Fortsetzung derselben Methode, durch die wir herausgekommen sind, auch den räumlichen Körper , den physischen Korp er innerlich zu er­greifen. Dann müssen wir an Stelle der bloßen Bewegung, der Ortsveränderung im Raume, die Geschwindigkeit inner­halb der Körper als dasjenige betrachten, was den Körpern so eigen ist, daß wir wissen können, wie der Körper innerlich ist, weil wir die Geschwindigkeit auch in uns finden, wenn wir wieder zurückschauen.

Also dasjenige, was notwendig ist, das ist, daß die Ent­wickelungsrichtung der Naturwissenschaft für die äußere physische Welt in dem Sinne fortgesetzt werde, daß man von der Betrachtung der Bewegung, der Ortsveränderung im Raume übergeht zu der Charakteristik der Geschwindigkeit, die der einzelne Körper hat. Also wir müssen von der Be­wegung aufsteigen zu der Geschwindigkeit (siehe Schema S. 152).

Dadurch kommen wir in das Reale, in das Wirkliche hinein. Wenn wir einen Körper im Raume seinen Ort ver­ändern sehen, kommen wir ja nicht in das Reale, in das Wirkliche hinein; wenn wir wissen, der Körper hat einen innerlichen Geschwindigkeitsantrieb, so ist das etwas, was im Wesen dieses Körpers oder Körperteiles usw. liegt. Wir sagen

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gar nichts aus über einen Körper, wenn wir seine Ortsver­änderung angeben; aber wir sagen etwas aus über den Körper, wenn wir sagen: Er hat in sich den Antrieb zur Eigengeschwindigkeit. Das ist eine Eigenschaft von ihm dann, das ist etwas, was zu seinem Wesen gehört. Denn Sie können sich das auf eine triviale Weise klarmachen.

Wenn ich einen Menschen sich bewegen sehe, so weiß ich nichts über ihn. Wenn ich aber weiß, der hat in sich einen starken Antrieb, sich schnell zu bewegen, da weiß ich etwas über ihn. Ebenso weiß ich etwas über ihn, wenn ich weiß, er hat einen Antrieb, sich langsam zu geben. Also ich muß die Möglichkeit haben, in meine Vorstellungen etwas aufzu-nehmen, was im Innern seines Körpers etwas bedeutet. Es ist weniger darum zu tun, ob zum Beispiel die neuere Physik von Atomen redet oder nicht von Atomen redet, sondern darum ist es zu tun, wenn sie von Atomen redet, so muß sie die Atome als Geschwindigkeitsanläufe sehen. Das ist das Wesentliche.

Nun frägt sich aber: Wie kommt man zu einer solchen An­schauung? Man kann das am besten bei der Physik erörtern; die Chemie ist heute viel zu wenig weit dazu. Wie kommt man zu einer solchen Anschauung? Ja, sehen Sie, da muß man sich jetzt klar werden darüber, was man eigentlich tut, indem man in der Richtung denkt des Herauswerfens der innerlich erlebten Mechanik und Physik in den äußeren Raum, was man denn da eigentlich tut. Man tut das, daß man sich sagt: Gleichgültig, was da draußen im Raume ist, seinem Wesen nach, darum kümmere ich mich nicht; ich schaue ja immer nur dasjenige an, was meßbar ist und in mechanische Formeln gebracht werden kann. Das heißt, ich sehe ab von allem Uebrigen, was eben nicht mechanisch ist. Wozu kommt man dann? Da kommt man dazu, in der Er­kenntnis denselben Prozeß zu vollziehen, den ein Mensch . vollzieht, wenn er stirbt, - ich meine jetzt den physischen Menschen. Wenn er stirbt, geht das Leben aus ihm heraus; der tote Organismus bleibt übrig. Wenn ich anfange, mecha­nisch zu denken, geht aus meiner Erkenntnis das Leben heraus, denn ich habe eine Wissenschaft vom Toten. Und

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dessen muß man sich radikal klar bewußt sein: man präpa­riert sich eine Wissenschaft von nur Totem, indem man das Mechanisch-Physikalische allein zum Gegenstand der Wel­tenbetrachtung oder der Naturbetrachtung macht. Man muß dieses Bewußtsein in sich tragen: Ich gehe auf das Tote los. Ja, man muß sich sogar sagen können: Das ist das Große an der neueren Naturwissenschaft, daß sie sich unbewußt dazu entschlossen hat, nicht etwa wie die alten Alchemisten noch einen Rest von Leben in der äußeren Natur zu sehen, sondern geradewegs sich zu sagen: Was auch immer da in den Mine­ralien, Pflanzen, Tieren usw. ist, ich betrachte überhaupt das­jenige, was an ihnen das Tote ist, denn ich wende nur Vor-Stellungen und Begriffe an, die auf das Tote passen. Daher ist die Natur unserer Physik das Tote.

Seien Sie sich klar darüber, daß erst' dann die Natur­wissenschaft auf einem guten Fundament stehen wird, wenn sie sich vollständig darüber aufgeklärt hat, daß sie mit dieser Denkweise das Tote ergreift.

Bei der Chemie ist es ähnlich. Das kann ich heute dcr Kürze der Zeit wegen nicht ausführen. Aber dadurch, daß wir in dieser Weise die Bewegung betrachten, die Geschwin­digkeit, die zunächst verlieren, und darauf eine Physik bauen, betrachten wir das Tote, das heißt den Endzustand des We­senhaften, auf das wir unsere Betrachtung erstrecken (siehe 8.152); denn der Tod kommt am Ende. Also wenn wir die Natur betrachten mit Hilfe der heutigen Mechanik und Physik müssen wir uns unbedingt klar sein, wir betrachten einen Leichnam.

Sie war nicht immer so; sie war einstmals anders. Es ist Torheit, zu glauben, wenn ich einen Leichnam betrachte, der war immer so. Gerade daß ich erkenne, daß er ein Leichnam ist, beweist mir, daß er einstmals ein lebender Organismus war. In dem Augenblicke, wo Sie sich klar sein werden, daß Sie die Natur so betrachten, wie sie ist, - denn es paßt und wird immer mehr passen -, desto mehr werden Sie sich klar sein können: Die gegenwärtige Natur ist ein Leichnam, in­sofern sie in die Begriffe und die Ideen der gegenwärtigen

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Physik eingeschlossen ist. Also da wird ein Leichnam be­trachtet.

Und wo ist die Möglichkeit nun, zum Anfangszustand des Wesenhaften zu kommen? Der Leichnam ist der Endzustand des Wesenhaften. Wo ist die Möglichkeit, zum Anfangszu­stand zu kommen?

Ja, meine sehr verehrten Anwesenden und lieben Freun­de, es gibt keine Möglichkeit, durch die Betrachtung der Be­wegung wiederum die Geschwindigkeit zu entdecken. Da können Sie noch so lange die Differential-Quotienten an-starren, so finden Sie sie njcht, sondern Sie müssen wiederum zum Menschen zurückgehen und müssen den Menschen jetzt, während er sich früher von innen erlebt hat, von außen nach seinem physischen Organismus betrachten und darauf kom­men, daß Sie im Menschen, und vorzugsweise im unteren Menschen, den Anfangszustand des Wes enha ften in der Na­tur haben. Das heißt, Sie müssen hier im physischen und ätherischen Leib, in der physischen und ätherischen Or­ganisation den Anfangszustand der Natur suchen. Anders

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kommt kein Abschluß der Physik und Chemie zustande, als durch wirkliche Menschenkunde.

Aber ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, eine wirkliche Menschenkunde erreichen Sie nicht dadurch, daß Sie die gegenwärtigen physikalischen und chemischen Metho-den nun auf den Menschen anwenden. Dadurch tragen Sie das Tote wiederum in den Menschen zurück, und Sie machen den physischen Leib des Menschen, also seine untere Or­ganisation, von neuem tot. Sie betrachten dann eben nur das Tote am Menschen.

Sie müssen sich klar sein darüber, daß es notwendig ist, das Lebende am Menschen zu betrachten, also nicht wiederum

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rückzuverwandeln die physikalische und chemische Methode in die menschliche Natur hinein, sondern dafür sind gerade die Methoden notwendig, die eben auf dem Wege der gei-steswissenschaftlichen Forschung gefunden werden können. Das heißt, die geisteswissenschaftliche Forschung erfüllt die historische Forderung der Naturwissenschaft.

Die historische Forderung der Naturwissenschaft läßt sich in die Worte fassen: Die Naturwissenschaft ist dazu gekom-men, das Leichnamhafte an der Natur zu betrachten. Die anthroposophische Geisteswissenschaft muß zu diesem Leich­namhaftigen hinzufinden die Anfangszustände, die nur im Menschen selber erhalten sind und einstmals in älteren Epo­chen der Weltentwickelung, der Erdenentwickelung, auch äußerlich reale waren. Einstmals waren ganz andere Prozesse Naturprozesse, Prozesse, die auch ihren Anfang in sich hatten. Heute gehen wir auf den Leichnamen desjenigen herum, was anfangs war. Aber im unteren Menschen sind einem An­fangszustände bewahrt. Da kann man finden bis zum Saturn­zustand hinauf, was einstmals war.*)

Sehen Sie, da ergibt es sich, daß eine historische Betrach­tu ngsweise uns über den gegenwärtigen Zustand der Natur­wissenschaft, eben einfach hinausführt. Warum? Das ist ja ganz klar. Wir stehen ja mitten drinnen in einer Entwicke­lungsepoche; wenn wir - wie es so viele tun - einfach die heutige Art als die höchste ansehen und nicht wissen, wie der wirkliche Hergang etwas ganz anderes erfordert, dann betrachten wir auch historisch falsch; denn man kann zum Beispiel einen Menschen, der 25 Jahre alt geworden ist, nicht bloß so betrachten, daß man seine 25 durchlebten Jahre betrachtet, sondern auch das in ihm, was ihm die Möglichkeit bietet, weiterzuleben. Das ist das Eine.

Das Andere ist, daß unsere Psychologie ganz dünn ge­worden ist, die Pneumatologie fast bis zum Verschwinden. Für diese muß das geschehen, daß man auch bei ihnen wie­derum weiß, wozu sie gekommen sind in der gegenwärtigen Epoche. Nun, wenn heute einer redet von Blau, Rot, von

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*) Siehe hierzu die grundlegenden Werke Dr. Rudolf Steiners.

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cis, von g, von Wärmequalitäten, so sagt er: Das sind sub­jektive Empfindungen. Das ist ja heute schon populäres Be­wußtsein, daß das ,,subjektive Empfindungen" sind. Was ist aber eine bloße subjektive Empfindung? Es ist Erschei­nung, Schein in einem gewissen Sinne, also sagen wir Er­scheinung. Geradeso, wie wir in der äußeren Natur nur die Bewegung betrachten, so betrachten wiil in der Psychologie und Pneumatologie bloß die Erscheinung. Und wie uns in der äußeren Beobachtung für die Bewegung die Geschwin­digkeit fehlt, fehlt uns für die heutige Beobachtung des in­neren Seelenlebens das Wesen, das Wesentliche, - das Wesen.

Damit aber bekommen wir, weil wir die bloße Erschei­nung betrachten, und das Wesen nicht mehr erleben, dadurch bekommen wir, wenn wir unser Inneres erleben, Schein, nicht mehr Sein, sondern Schein. Und so, wie erlebt werden heute Denken, Fühlen und Wollen, so sind sie Schein (siehe Schema

S. 152). Und an diesem Schein nagen ja unsere heutigen Erkenntnistheoretiker in einer entsetzlichen Weise herum. Sie kommen einem wirklich vor, wie der berühmte Held, der sich an seinem eigenen Haarschopf in die Höhe ziehen will' oder wie ein Mensch, der im Innern eines Eisenbahnwagens steht und fortwährend anschiebt im Innern, gar nicht merkt, daß er da nicht weiterkommen kann, wenn er im Innern an-schiebt. So kommen einem die heutigen Erkenntnistheore­tiker vor. Sie reden, aber es ist keine Kraft in ihren Reden, weil sie sich nur innerhalb des Scheins bewegen.

Sehen Sie, diesem Reden habe ich zweimal versucht, ein gewisses Ende zu machen, das erste Mal in meiner ,,Philo­sophie der Freiheit", wo ich gezeigt habe, wie, wenn nun dieser Schein, der im reinen Denken liegt, innerlich vom Menschen im Denken erfaßt wird, wie er gerade der Frei­heitsimpuis ist. Denn wäre in dem, was man subjektiv erlebt, etwas anderes als Schein, so würde man nie frei sein können. Wird aber der Schein reines Denken, dann kann man frei sein, weil dasjenige, was nicht ein Sein ist, einen eben nicht bestimmt; währenddem einen ein jedes Sein bestimmen müß­te. Das war das erste Mal.

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Das zweite Mal war, wie ich auf dem philosophischen Kongreß in Bologna psychologisch die Sache analysiert habe. Da versuchte ich zu zeigen, daß in der Tat die Empfindungen und Gedanken der Menschen nicht innerlich erlebt werden, sondern äußerlich erlebt werden, daß man das auch aus einer jetzt aus dem Geiste der Gegenwart hervorgehenden Betrachtungsweise gewinnen kann.

Diese Anläufe werden eben verstanden werden müssen. Dann wird man wissen, daß es sich darum handelt, in dem Schein wiederum das Sein zu finden, so wie in der Bewe­gung die Geschwindigkeit. Und dann wird man darauf kom­men, was dieser innerlich erlebte Schein ist. Dieser innerlich erlebte Schein wird sich einem enthüllen als dasjenige, was der Anfangszustand des Wesenhaften ist. Denn der Mensch erlebt diesen Schein, lebt sich selbst als Schein in den Schein hinein und macht ihn dadurch zum Keim künftiger Welten; aus unserer, aus der physischen Scheinwelt heraus geborenen Ethik und Moral, ich habe es oft gesagt - werden künftige physische Welten entstehen, wie aus dem Pflanzenkeim heute die Pflanze entsteht. So daß man es da zu tun hat mit dem Anfangszustand des Wesenhaften.

Und erst dadurch, daß man darauf kommt, daß Psycho­logie und Pneumatologie deshalb, daniit wir eine ordentliche Naturwissenschaft haben, darauf hintendieren müssen, das­jenige, was sie durch Beobachtung gewinnen, als einen An­fangszustand zu betrachten, dann werden sie tatsächlich von der anderen Seite jenes Licht werfen, das zur Naturwissen­schaft gehört. Aber was ist denn dieser Anfangszustand?

Es ist ja dieser Anfangszustand im Aeußeren, nicht im Inneren jetzt, - das geht ja aus meiner ganzen Betrachtungs­weise hervor -, es ist der Anfangszustand im Aeußeren, also wenn ich hinausschaue und die grüne Pflanzendecke da ist, die farbige Welt, das Rote und Grüne und Blaue, und wenn da draußen die Töne sind, - was sind denn diese flüchtigen Gebilde, die die heutige Physik und Physiologie und Psychologie nur als etwas Subjektives betrachten will? Das ist dasjenige, woraus sich die Welten der Zukunft draus­sen schaffen. Und Rot ist nicht das von der Materie im Auge

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oder im Gehirn Erzeugte, sondern das Rot ist der allererste noch scheinhafte Keim zukünftiger Welten.

Lernen Sie das aber kennen, dann werden Sie auch ein wenig anschauen wollen, was diesen Welten nun einmal als Leichnam entsprechen wird draußen. Es wird nicht der Leich­nam sein, den wir früher durch unsere Physik und Chemie gefunden haben, sondern es wird ein Zukunftsleichnam sein. Man wird ihn erkennen, wenn man das, was da draußen als Zukunftsleichnam einmal entsteht, heute schon im oberen Menschen entdeckt, in demjenigen Menschen, in dem vor­zugsweise astralischer Leib und Ich tätig sind; indem man da für diesen Anfangszustand den Endzustand erlebt, und endlich ordentlich versteht das Nervensystem und Gehirn, insofern sie tot sind, und nicht insofern sie lebendig sind; sogar toter als ein Leichnam sein können in einem gewissen Sinne, indem sie den Nullpunkt des Toten gerade im be­sonderen für das Nervensystem noch überwinden und toter werden als tot, dadurch aber gerade Träger des sogenannten Geistigen werden; daß in ihnen das Tote lebt, daß in ihnen der Endzustand lebt, den die äußere Natur noch nicht einmal erreicht hat; daß sie über diesen Zustand hinausgehen (siehe S. 148).

Geschwindigkeit - Bewegung - Das Tote (Endzu­stand des Wesenhaften)

W e s e n - Erscheinung - Schein (Anfangszustand des We­senhaften) .

Man wird also, um Psychologie und Pneumatologie in der Welt draußen zu finden, entdecken müssen, wie im mensch­lichen Organismus, und zwar in der Kopforganisation und in der halben rhythmischen Organisation, vorzugsweise der Atmungsorganisation, das Tote west. Wir müssen hinein­schauen in unseren Kopf und von ihm uns sagen: Der stirbt fortwährend; denn wenn er lebte, würde die sprießende und sproßende Lebensmaterie nicht denken können. Weil er aber sich auslebte, weil er fortwährend tot wird, haben die see­lisch-geistig wesenhaften Gedanken in ihm die Möglichkeit,

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über dem Toten sich als der neue lebendige Schein auszu­brei ten.

Sehen Sie, hier liegen die großen Aufgaben, die sich ein­fach aus der historischen Betrachtungsweise, aus der Natur­wissenschaft selbst ergeben. Fassen wir sie nicht, dann gehen wir als Gespenster durch die gegenwärtige Entwickelung der Naturwissenschaft, nicht mit dem Bewußtsein eines Men­schen, der da weiß, daß eine Epoche, die begonnen hat, auch wiederum ihre Fortsetzung erfahren muß. Und Sie können sich denken, daß viel Unbewußtes schon lebt in demjenigen, was heute von der Naturwissenschaft gefunden worden ist, denn die Literatur gibt überall Anhaltspunkte. Aber die Menschen können noch nicht unterscheiden. Daher haben heute gewisse Leute eben am aller-allerliebsten, was mög­lichst chaotisch pendelt. Straff ausgehen auf Physik und Chemie auf der einen Seite, Psychologie und Pneumatologie auf der anderen Seite, das gefällt den Leuten nicht, denn da müßten sie Ernst machen wiederum mit dem Innen und Außen. Das gefällt den Leuten nicht. Daher möchten sie ja im unklaren herumplätschern, so zwischen der Psychologie und der Chemie herumplätschern. Und dadurch entsteht eine Zwitterwissenschaft, die heute das Lieblingskind der Natur­forschung geworden ist, und sogar das Lieblingskind der Philosophen geworden ist: die Physiologie. Sobald man auf die Realität kommen wird, wird die Physiologie zerfallen auf der einen Seite in Psychologie, das heißt Psychologie, welche auch Welterkenntnis ist, auf der anderen Seite in Chemie, das heißt in Chemie, welche auch Menschenerkennt­nis ist (siehe S. 148).

Wird man diese beiden Gebilde haben, so wird jenes Zwischengebilde verschwinden, das Physiologie ist, - weil heute ein wahrer Morast vorhanden ist, weil Sie da drinnen alles finden können, und weil jeder die Möglichkeit hat, je nachdem er nach links oder rechts jongliert, so ein bissel was Seelisches oder ein bissel was Körperliches zu meinen, dadurch kommt er gut weg, - das ist dasjenige, was vor allen Dingen als der letzte Rest des Unklarwerdens älterer Vorstellungen verschwinden muß: die im heutigen Sinne angeordnete, sogenannte

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Physiologie. Denn so unklar sind die physiologischen Begriffe aus dem Grunde, weil immer in ihnen etwas Seeli­sches und etwas Körperliches steckt, was man nicht unter­scheidet. Und es gefällt einem gerade, daß man nicht zu un­terscheiden braucht; denn da kann man herumflunkern mit den Worten und auch in den Tatsachen sogar herumflunkern. Und das Wesentliche ist - wie gesagt - Physiologie endet für den, der klar anschauen und klar denken will' in ein Flunkern mit Worten und Tatsachen. Und ehe man sich das nicht zu gestehen getraut, eher nimmt man es nicht ernst mit der Historie der Naturwissenschaft. Denn die geht nicht bloß von unbestimmten Zeiten bis zur Gegenwart, sondern sie geht von der Gegenwart weiter, und man versteht die Historie nur, wenn man auch den Weiterlauf der Dinge so versteht, nicht etwa im abergläubisch-prophetischen Sinne, sondern so, daß man von jetzt ab anfangen kann, das Rich­tige zu tun; und unendlich viel Richtiges zu tun ist gerade auf dem Gebiete der Naturwissenschaft. Denn die Natur­wissenschaft ist groß geworden. Sie ist - ich möchte sagen

- ein guter Junge, der in seinen Jungen-Jahren, vielleicht heute so ein bißchen in den Flegeljahren gerade ist, aber der eben weiter gepflegt werden muß, damit er erwachsen wird. Und er wird weiterwachsen, wenn solche unklaren Ge­bilde, wie die Physiologie, verschwinden, und Physik, Pneu­matologie in der angedeuteten Weise wiederum erstehen; die schon hervorgehen wird, wenn man im Ernste anthro­posophische Denkweise auf die Wissenschaften anwenden wird, wenn wiederum die Menschen die Meinung haben wer­den, sie lernen etwas, wenn ihnen irgend jemand spricht von einer wirklichen Physik, von einer wirklichen Chemie, von einer wirklichen Psychologie und Pneumatologie, wenn sie nicht mehr den Drang haben, alles durch solche Zwitter-dinge und chaotisierte Wissenschaften, wie die Physiologie, für die Welt und für den Menschen zu begreifen, dann wer­den wir wiederum auf einem gesunden Boden der mensch­lichen Erkenntnisentwickelung stehen.

Insbesondere leidet natürlich die Therapie unter der ge­genwärtigen Physiologie unendlich. Das kann man sich denken;

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weil sie mit lauter Dingen arbeitet, die einem beim klaren Denken überhaupt aus der Hand fallen.

Sehen Sie, mit ein bißchen anthroposophischen Redens­arten geht es wirklich den großen Aufgaben der Zeit gegen-über heute nicht ab; auch nicht damit geht es ab, daß man so ein bißchen an der Grenze zwischen Psychologie und Che­mie physiologisch herumpfuscht. Auch damit geht es nicht ab, sondern allein damit, daß man Ernst macht, die sich aus der geisteswissenschaftlichen Anthroposophie ergebenden Metho­den auch auf Physik und Chemie anzuwenden. Wenn man ein Faulpelz ist - verzeihen Sie den harten Ausdruck, er ist ja vielleicht nicht ganz radikal in diesem Falle gemeint

- sagt man, man kann ja nur, wenn man hellsichtig ist, über diese Dinge sachgemäß urteilen; also bis ich hellsichtig bin, lasse ich mir Zeit, da lasse ich mich nicht darauf ein, die Physik und Chemie oder gar noch die Physiologie irgendwie zu tadeln.

Meine lieben Freunde, meine verehrten Anwesenden, man braucht wahrhaftig nicht Kenntnisse zu haben, die über das rein Anschauliche hinausgehen, wenn man einen Leich­nam betrachtet, um zu wissen, daß er tot ist und daß er vom Leben kommen muß. Ebenso wenig braucht man hellsichtig zu sein, um die heutigen wirklichen Tatsachen der Physik und Chemie sachgemäß zu analysieren und sie zurückzufüh­ren auf dasjenige, was ihnen als Lebendiges zugrunde liegt, wenn hingewiesen wird darauf: Du findest das Lebendige, du brauchst ja nur den unteren Menschen zu betrachten, du brauchst ja nur sachgemäß, ohne Konfusion der heutigen Physiologie, den heutigen Menschen zu betrachten, dann hast du das notwendige Ergänzungsglied für Physik und Chemie. Versuche einmal, im Menschen den Bewegungs­mechanismus wirklich zu studieren, statt fortwährend Koor­dinaten-Achsen zu zeichnen und da hinein, abgesehen vom Menschen, die Bewegungen zu konstruieren. Versuche, statt fortwährend die Differenzialquotienten weiter zu vermehren und die Integration weiter zu vermehren, versuche einmal die Bewegungsmechanik am Menschen zu studieren von außen her, wie man sie einstmals von innen her erlebt hat, dann

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hast du dasjenige, was du brauchst für deine äußere Natur­beobachtung in Physik und Chemie.

In der äußeren Natur werden diejenigen, die den Atomis­mus behaupten, noch immer dir gegenüber Recht haben, so­gar sich zu der sehr spirituellen Behauptung versteigen können, wenn man im Sinne des heutigen Physikers spreche über die Materie, so ist die Materie für ihn ja gewiß nichts Materielles. Das sagen heute Physiker schon, das sagen un­sere Gegner. Sie haben in diesem Falle das Richtige. Wenn wir diesem Richtigen in der Weise nur erwidern, daß wir wiederum dableiben, wo man die halben Wahrheiten hat, nämlich bloß die Endzustände des Wesenhaften, dann wer-den wir niemals gewachsen sein demjenigen, was yon den Gegnern kommt, was in der Gegenwart nötig ist.

Hier liegen die Aufgaben der Spezialisten. Hier liegen die Aufgaben derjenigen, die auf dem einen oder anderen Gebiete der Wissenschaften die nötige Vorbildung haben. Dann aber werden wir nicht eine physizierte Anthroposophie, eine chemisierte Anthroposophie, sondern dann werden wir eine anthroposophische Chemie, eine anthrophosophische Physik wirklich begründen. Dann werden wir nicht eine im Sinne der alten Medizin ein bißchen umgeänderte neuere Me­dizin begründen, sondern dann werden wir eine anthropo­sophische Medizin begründen.

Dic Aufgaben liegen durchaus da, und sie sind überall skizziert. Es handelt sich darum, daß geradeso wie für das einfache Seelengemüt aufgenommen werden können die über­all in den Vorträgen, in den Zyklen zerstreuten Bemerkun­gen, die den Menschen tragen können, so handelt es sich darum, auch überall die einzelnen Winke aufzufassen, die zum notwendigen Fortschritt in den einzelnen Wissenschaf­ten führen müssen. Aber es geht in der Zukunft nicht ab, ohne daß Mensch und Natur wiederum eins werden, daß dasjenige, was in der Natur als Endzustand des Wesenhaf­ten durch Physik und Chemie erforscht wird, durch ein zur Physik und Chemie gehöriges Wesenhaftes im unteren Men­schen ergänzt wird, im Menschen, der abhängig ist vom

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physischen Leib und Aetherleib, - daß dies gesucht werde nicht dadurch, daß man Wertigkeitssysteme in der Chemie, daß man Strukturformeln oder daß man ein periodisches System als besonders Wesenhaftes hervorhebt, denn das ist ja auch nur ein Schema, nicht darauf kommt es allein an, diese Dinge sind als Rechnungsmünzen oder als ganze Rech­nungen ganz nützlich, sondern darauf kommt es an, daß man sich sagt: Studiere ich äußerlich die chemischen Vorgänge, so sind darinnen nicht die chemischen Gesetze, denn die liegen im Entstehen der chemischen Prozesse; die finde ich einzig und allein, wenn ich mich daran mache, in ernstlicher Arbeit die Prozesse im Menschen zu suchen, welche in seinem Säftekreislauf, welche in seiner Säftetätigkeit durch die Tä­tigkeit des ätherischen Leibes stattfinden.

Die Erklärung der chemischen Vorgänge in der Natur liegt in den Vorgängen des ätherischen Leibes. Und diese sind wiederum abgebildet in dem genauen Studium des Säf­tespieles im menschlichen Organismus.

Anthroposophie, meine lieben Freunde und verehrten .Anwesenden, Anthroposophie ist eben nach dieser Richtung hin durchaus eine Aufgabe und eine ernste Aufgabe, und das ist es, warum wir Forschungsinstitute begründet haben, in denen angefangen werden muß, intensiv zu arbeiten, da­mit diejenigen Methoden, die sich aus der Anthroposophie ergeben, eben auch wirklich gepflegt werden.

Das ist es ja, was auch in unserer Therapie das Wesent­liche ist, daß nun endlich die alte konfuse Physiologie aus ihr verschwinde, und an ihre Stelle eine reale Chemie und eine reale Psychologie, in die die Physiologie zerfallen muß, treten. Aber ohne diese reale Chemie und ohne diese reale PsycholQgie wird man eben niemals auch über die Erkran­kungsprozesse und über die Heilprozesse in der menschlichen Natur etwas sagen können, weil einfach jeder Krankheits­prozeß ein abnormer psychologischer Prozeß ist, und jeder Heilungsprozeß ein abnormer chemischer Prozeß ist. Und erst wenn man sehen wird können, inwiefern der chemische Pro­zeß der Heilung zu beeinflussen ist, und inwiefern der

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psychologische Prozeß des Krankwerdens eben in richtiger Psychologie zu begreifen ist, dann wird man haben eine Pathologie und Therapie. Das geht aus dem Geiste anthro­posophischer Betrachtungsweise hervor.

Und wenn man das nicht drinnen sehen will, so will man eben nur auch bloß ein bissel was, nun ja, was eben ein bissel anders ist als die anderen Dinge, aber man will eben doch nicht ernstlich an die Arbeit gehen. Denn alles das­jenige, was ich hier skizziert habe, ist eigentlich nur eine Beschreibung dessen, wie gearbeitet werden soll. Denn eine wirkliche Psychologie in dem Sinne, eine wirkliche Chemie in dem Sinne, kommt durch Arbeit zustande. Und im Grunde genommen sind die Bedingungen dieser Arbeit vorhanden, weil in der Literatur sehr viele Tatsachen stehen, die die Leute, so wie ein blindes Huhn ein Korn, gefunden haben, aber nicht verstehen; wenn diejenigen, die in unserem an­throposophischen Sinne arbeiten, die Tatsachen aufgreifen würden und etwas dazu beitragen würden, daß man's wirk­lich versteht, daß zum Beispiel das verstanden werde, was ich gestern in einem kleineren Kreise betont habe, daß das Wesentliche an der Milz dasjenige ist, daß sie eigentlich ein Ausscheidungsorgan ist, daß sie eine Ausscheidung selber ist von dem, worauf es ankommt, nämlich von dem Funktionie­ren im Aetherleib; - und unermeßlich viele Tatsachen liegen in der medizinischen Literatur da, die nur verarbeitet zu werden brauchen, aber eben verarbeitet zu werden brauchen. Dann kommen die Dinge durchaus zusammen, und es ent­steht das daraus, was entstehen soll.

Ein Einzelner in einem einzelnen physischen Leben könnte ja das vielleicht machen, wenn dieses physische Leben 600 Jahre lang dauern würde. Aber dann würden schon wieder andere Aufgaben da sein, und man wäre längst veraltet mit demjenigen, was da ist. Was für die Menschheit geleistet werden soll, muß auch in menschlichem Zusammenarbeiten und Zusammenwirken geleistet werden. Also müssen Zu­sammenarbeiten und Zusammenwirken entstehen. Das ist dasjenige, was nun die zweite Aufgabe ist. Und ich glaube, am klarsten und radikalsten gehen diese Aufgaben der anthroposophischen

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Gesellschaft gerade aus einer wirklichen realen Betrachtung der Geschichte der Naturwissenschaft aus der neueren Zeit hervor.

Diese Geschichte der Naturwissenschaft der neueren Zeit zeigt uns auf jedem Blatte, daß damit etwas Großartiges heraufgekommen ist, denn man konnte niemals früher das wirkliche Tote betrachten, daher auch aus dem Toten nichts machen. Man konnte nie früher den innerlichen Schein wirk­lich betrachten, daher auch niemals einen innerlichen Schein durch Menschenkraft beleben, also auch nicht zur Freiheit kommen. Heute stehen wir vor einer grandiosen Welt, welche allein möglich geworden ist dadurch, daß die Naturwissen­schaft das Tote betrachtet, das ist die Welt der Technik, die Welt der Technik, die schon dadurch sich in ihrer besonderen Weise verrät, daß das Wort aus dem Griechischen genommen ist, wo es noch die ,,Kunst" bedeutet, daher Kunst verrät, wo die Technik noch Geist enthält. Heute ist sie die Verarbeitung des Geistes nur im Sinne der abstrakten, geistlosen Gedanken, und wir stehen gerade vor dem Technischen heute so, daß wir uns sagen müssen: Wir haben es erreichen können nur dadurch, daß wir eine richtige Erkenntnis von dem Toten erlangt haben. Dieses war notwendig, daß die Menschheits­entwickelung einmal ordentlich hinschaute auf das Reich des Toten. Dadurch ist sie eingetreten in das Reich der Technik. Jetzt steht aber der Mensch da innerhalb dieses Reiches der Technik, das ihn überall umgibt, jetzt steht er da, er blickt in dieses Reich der Technik: Das ist endlich einmal ein Ge­biet, wo gewiß kein Geist im wirklichen Sinne drinnen ist. Daß man in der Technik, in bezug auf das Geistige der Tech­nik auf jedem Gebiete jene innerliche Empfindung hat, die fast der Schmerzempfindung über das Hinsterben eines Men­schen entspricht, darauf kommt es an. Denn wenn man in der Erkenntnis auch Empfindung und Gefühl entwickeln kann, so wird man - wenn auch ein andersgeartetes - Gefühl haben, wie man es hat beim Hinsterben eines Menschen, wo aus dem lebendigen Organismus ein Leichnam wird, wie man es hat, wenn man einen Leichnam anschaut. Ein solches Ge­fühl wird man neben der abstrakten, gleichgültigen, kalten

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Erkenntnis bei der wirklichen Erkenntnis haben, daß die Technik die Verarbeitung des Toten ist. Dann wird dieses

Gefühl der stärkste Antrieb sein, den Geist zu suchen auf neuen Wegen.

Und eigentlich könnte ich mir vorstellen, daß ein Bild der Zukunft dieses ist, daß der Mensch steht über all den Schornsteinen, über all den Fabriken, über all den Telefonen, über all demjenigen, was in wunderbarer Weise die Technik hervorgebracht hat in der neuesten Zeit, wie über einer gros­sen bloß mechanischen Erde, nun über diesem Grab alles Geistigen steht und seinen sehnsuchtvollen Ruf hin erschallen läßt in das Weltall, - - er würde ihm erfüllt. Denn ge­radeso, wie aus dem toten Stein, der ganz gewiß tot ist, durch die richtige Behandlung herausschlägt das lebendige Feuer, so muß aus der toten Technik der lebendige Geist sich ergeben, wenn die richtig die Technik fühlenden Menschen da sind.

Und auf der anderen Seite: man muß sich nur klar sein, was das reine Denken, das heißt jener Schein ist, aus dem herausgeholt werden können die stärksten moralischen An­triebe, die individuellen moralischen Antriebe, wie ich sie in der ,,Philosophie der Freiheit" geschildert habe, dann wird der Mensch in einer neuen Weise vor jener Empfindung stehen, vor der einst Nicolaus der Cusaner' vor der Meister Eckhart gestanden haben.

Sie sagten: Wenij ich mich erhebe über alles dasjenige, was ich zunächst zu beobachten gewohnt bin, komme ich zu dem ,,Nicht" mit allem, was ich gelernt habe; aber in dem ,,Nicht" ersteht mir das ,,Icht", das Ich. - Wenn der Mensch nur ganz richtig zum reinen Denken vordringt, dann findet er in diesem reinen Denken das Nicht, das zum Icht wird, zum Ich wird, aus dem aber die ganze Fülle der ethischen Handlungen hervorgeht, die neu weitschöpferisch sind. Und ich könnte mir einen Menschen vorstellen, der zunächst, in­dem er alle Erkenntnis der Gegenwart, wie sie gerade durch die Naturwissenschaft inauguriert worden ist, auf sich wir­ken läßt, und jetzt in der neueren Zeit, Jahrhunderte nach dem Meister Eckhart und nach Nicolaus Cusanus, den Blick in das Innere richtet und mit der heutigen Denkweise an

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diesem Nicht des Inneren ankommt, und in diesem Nicht entdeckt, wie der Geist erst recht jetzt zu ihm spricht. Und ich könnte mir vorstellen, daß sich diese zwei Dinge ver­.einigen, daß der Mensch auf der einen Seite ginge an den Ort, wo die Technik in öder Weise allen Geist verläßt, und daß er da den Ruf hinaus richtet in die Weltenfernen nach dem Geiste; wenn er sich dann besänne und also in sein Inneres blickte, wie ich es jetzt eben bezeichnet habe, und aus dem Inneren heraus die göttliche Antwort auf seinen in die Weltenfernen hinausgesandten Ruf empfangen würde. Wenn wir lernen, durch eine neue anthroposophierte Naturwissen­schaft die Rufe in die Welt hinaus in unendlicher Sehnsucht nach dem Geistigen in unserem Innern erschallen zu lassen, dann wird das der richtige Ausgangspunkt sein, daß wir auch finden können durch eine anthroposophierte Innenerkenntnis die Antwort auf diesen sehnsuchtsvoll in die Welten hinaus geschrieenen Ruf nach dem Geistigen.

Nicht bloß in einer dokumentarischen Weise wollte ich Ihnen die Entwickelung der Naturwissenschaft darstellen in der neueren Zeit, sondern darstellen wollte ich Ihnen, wie ein Mensch dasteht, der begreift diese naturwissenschaftliche Entwickelung und sich heute in einem schweren Moment der Menschheitsentwickelung für den Fortgang der Menschheit das Richtige zu sagen weiß.

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Zum Verständnis der vorstehenden Vorträge ist das Studium der folgenden Bücher und Vorträge Rudolf Steiners Voraussetzung:

,,Goethes Weltanschauung",

,,Einleitungen zu den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes",

,,Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goethe'schen Weltanschauung",

,,Die Grenzen der Naturerkenntnis",

,,Geheimwissenschaft im Umriß".

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.