GA 325

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Das europäische Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert mit Beziehung auf seinen Ausgangspunkt im vierten Jahrhundert

ERSTER VORTRAG Dornach, Pfingstsonntag, 15. Mai 1921

#G325-1969-SE009 Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum

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ERSTER VORTRAG

Dornach, Pfingstsonntag, 15. Mai 1921

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Während der letzten Vortragskurse am Goetheanum wurde es immer wieder betont, daß Geisteswissenschaft, wie sie hier gepflegt wird, befruchtend wirken soll auf den ganzen wissenschaftlichen Geist der Gegenwart und auf die einzelnen Fachwissenschaften. Vielleicht am anschaulichsten zunächst kann das erfaßt werden, wenn Geisteswissenschaft ihre Versuche macht, die geschichtlichen Rätsel, soweit es dem Menschen möglich ist, zu lösen; und insofern es zwei kurze Vorträge erlauben, soll diesmal für ein geschichtliches Thema ein dahingehender Versuch gemacht werden.

Man kann heute schon von verschiedenen Seiten hören, daß die Geschichtswissenschaft in einer Art von Krise begriffen sei. Es ist noch nicht lange her, da hatten gewisse Kreise etwas wie ein Ideal von Geschichtswissenschaft im Sinne. Es war die Zeit, in der zum Beispiel der Geschichtsschreiber Ranke gewirkt hat. Man hatte das Ideal im Sinne, Geschichte zu einer Art exakter Wissenschaft zu machen, exakt in dem Sinne, wie dieser Ausdruck allmählich gebraucht worden ist aus der Gewohnheit naturwissenschaftlicher Forschung heraus. Heute wird vielfach behauptet, indem man diesem Begriff exakter Forschung auch nichts anderes zugrunde legt als nur das, was an der äußeren gebräuchlichen Naturwissenschaft gewonnen ist, daß Geschichte als eine solche exakte Wissenschaft gar nicht mög­lich sei, daß alles, was als Geschichte auftritt, gefärbt sein muß durch das Temperament, die Nationalität, die sonstigen subjektiven Gesichtspunkte der Geschichtsschreiber, daß es gefärbt sein müsse sogar durch das Element der die Tatsachen zusammenfassenden Phantasie, gefärbt sein müsse durch die vorhandenen intuitiven Fähigkeiten und so weiter. Und wenn man in der Tat auf dasjenige, was die Geschichtsschreibung gerade in der neuesten Zeit geleistet hat, hinsieht, so wird man zur Genüge bemerken, daß tatsächlich das, was für die Darstellung der objektiven historischen Tatsachen gefor­dert wird, sich ganz anders ausnimmt, je nachdem der Geschichtsschreiber

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der einen oder der anderen Nationalität angehört, ob er in einem geringeren oder in einem höheren Sinne eine synthetische Phantasie hat und was dergleichen an subjektiven Momenten mehr ist, die dem Geschichtsschreiber eigen sind.

Geisteswissenschaft, sie wird, wie vielleicht durch ein Beispiel innerhalb dieser beiden Vorträge wird gezeigt werden können, in einem gewissen Sinne doch zu einer Art Objektivität in der Geschichtsbetrachtung führen können. Gewiß, den Grad der Fähigkeit, den der einzelne Geschichtsschreiber, der einzelne Geschichtsbetrachter hat, den wird man ja immer in Betracht ziehen müssen. Aber gerade dieser geschichtlichen Betrachtung gegenüber düffte eines sehr stark Geltung haben, was Geisteswissenschaft für sich in Anspruch nehmen muß, was ihr ja allerdings von ihren Gegnern heute im weitesten Um­fange abgestritten wird. Geisteswissenschaft muß allerdings ausgehen von einer Entwickelung des subjektiven menschlichen Inneren. Kräfte, die in der Seele sonst nur latent sind, sie müssen erweckt werden, sie müssen zu eigentlichen Forschungskräften umgestaltet werden. Es muß also aus dem Subjektiven heraus gearbeitet werden. Aber dabei kommt eben diese Geistesforschung dazu, das Subjektive allmählich ganz zu überwinden und solche Tiefen in der mensch­lichen Seele aufzusuchen, in denen sich innerlich nicht mehr ein Sub­jektives ausspricht, trotzdem es subjektiv zum Vorschein kommt, sondern ein Objektives, ebenso wie ja in der Mathematik ein Objek­tives zum Vorschein kommt, trotzdem die Wahrheiten und die Er­kenntnisse der Mathematik auf subjektive Art gefunden werden. Von diesem Gesichtspunkte aus möchte ich vor Ihnen betrachten ein Kapitel geschichtlichen Werdens, das uns allerdings als Menschen der Gegenwart im allernächsten Sinne interessieren muß. Ich möchte aus dem universellen Gebiet geschichtlicher Tatsachen die mehr geistigen Erlebnisse des 19. Jahrhunderts und ihren Ursprung herausheben und sie in dem Sinne, wie das durch Geisteswissenschaft geschehen kann, eben geschichtlich betrachten. Ich möchte die Sache so ein­richten, daß ich - wenn ich mich dieser älteren Ausdrücke bedienen darf - heute gewissermaßen das Exoterische, das mehr Äußerliche der Tatsachen, die für unsere Betrachtungen ins Auge gefaßt werden

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müssen, vor Sie hinstelle, daß ich morgen mehr ins Esoterische ein­treten werde, also den inneren Zusammenhang und die tieferen Ur­sachen ins Auge fassen werde, welche den Tatsachen des geistigen Lebens, die uns hier interessieren sollen, zugrunde liegen.

Wenn wir heute auf das 19. Jahrhundert zurückblicken, mit dem wir ja noch eng verbunden sind - es sind seither erst zwei Jahrzehnte, die dem allgemeinen Charakter des 19. Jahrhunderts noch sehr ähnlich sind, verlaufen -, wenn wir auf die Tatsachen des 19. Jahrhunderts, des ersten Anfangs zurückblicken, so haben wir gewöhnlich ein Gefühl derart, als ob dieses Geistesleben des 19. Jahrhunderts sich wie als gleichmäßiger kontinuierlicher Fortschritt abgespielt habe. Das ist aber durchaus nicht der Fall, wie sich herausstellt für den, der etwas tiefer auf das eigentliche Gefüge der Tatsachen sich einläßt. Man kann sagen: Gerade die Entwickelung des geistigen Lebens im 19. Jahrhundert zeigt, wie ungefähr in der Mitte dieses 19. Jahrhun­derts ein radikaler Wendepunkt der Entwickelung liegt. Die Denk­weise, die Seelenverfassung der Menschen werden in der Mitte des 19. Jahrhunderts einer Metamorphose unterworfen. Was früher die Impulse für das menschliche Zusammenleben abgegeben hat, wird vielfach in Frage gestellt. Andere Arten des Fühlens treten auf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sie in der ersten da waren, andere Denkgewohnheiten treten auf. Wir können ja heute allerdings nur, ich möchte sagen, mit emigen charakteristischen Strichen auf diese Dinge hinweisen. Das aber wollen wir tun.

Wenn man auf die führenden geistigen Persönlichkeiten in der er­sten Hälfte des 19. Jahrhunderts sieht, so haben sie alle in ihrem We­sen noch einen Zug von, man möchte sagen, Hinstreben zum Gei­stigen, zum Idealistischen, auch wenn sie durchaus schon heraufwachsen in die naturwissenschaftlichen Denkgewohnheiten der neue­ren Zeit. Sie fühlen sich dennoch gewissermaßen abhängig von demjenigen, was ihnen ihre Seele als Richtung eingibt. Das wird durchaus anders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wir brauchen ja nur auf konkrete Beispiele zu sehen, dann wird sich uns das sogleich klarstellen. Allerdings, Wissenschafter im engeren Sinne oder auch vielleicht Künstler werden wir nicht mit ins Auge fassen

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können, wenn wir gerade diese Entwickelungslinie betrachten, son­dern wir werden diejenigen repräsentativen Geister der Menschheit mehr ins Auge fassen müssen, welche, fußend auf dem wissenschaft­lichen Denken, auf dem künstlerischen Empfinden der neueren Zeit, sich größere Weltaufgaben stellen, vor allen Dingen solche Weltaufgaben stellen, welche auch das Soziale einschließen sollen. Denn das soziale Problem, die sozialen Rätsel kommen immer intensiver und intensiver im Verlaufe des Lebens des 19. Jahrhunderts herauf, und die führenden Geister sind genötigt, dasjenige, was die Wissenschaften hervorgebracht haben, was sich dem allgemeinen Menschheitsbewußtsein als eine Art seelischer Niederschlag ergeben hat, geltend zu machen, um damit die großen sozialen Probleme und Rätsel zu erfassen.

Wir finden eine solche repräsentative Persönlichkeit, wenn wir in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückblicken, zunächst in einem Sohne, möchte ich sagen, der Französischen Revolution, in Saint­-Simon, einem Geiste, der allerdings die wissenschaftliche Denkweise seiner Zeit aufgenommen hat, der durchaus in seiner Seele am Beginne des 19., am Ende des 18.Jahrhunderts noch diejenige See­lenverfassung trägt, welche als Ergebnis des wissenschaftlichen Gei­stes eben von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert da sein kann. Aber auch im allgemeinen Weltbewußtsein, in den sozialen Lebens­formen und Lebensforderungen steht Saint-Simon um diese Zeit dar­innen. Er hat miterlebt die Wirkungen der Französischen Revolu­tion, jenen aus den Tiefen der menschlichen Seele hervorgegangenen Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Er hat alles das­jenige aber auch erleben müssen, was dann an Enttäuschungen im europäischen Leben auf die Revolution gefolgt ist. Er sieht aber schon heraufkommen, was dann später immer mehr und mehr zu der brennenden sozialen Frage geworden ist. Und indem man sein ganzes Seelengefüge ins Auge faßt, merkt man: Saint-Simon steht durchaus auf dem Standpunkte eines Menschen, welcher den festen Glauben hat, man kann durch menschliches Wissensstreben zu Ideen sich auf­schwingen, die dann das soziale Leben befruchten können. Man müsse nur, was heraufgekommen ist durch den wissenschaftlichen

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Geist der neueren Zeit, in der richtigen Weise verstehen, man musse es in der richtigen Art mit den ganzen Forderungen der Zeit in Zusammenhang bringen, dann würde man, etwa durch Nach­denken, durch Wissen, durch Erkenntnis und durch ein liebewarmes Herz für die sozialen Aufgaben etwas finden können, das man den Menschen mitzuteilen hat, und Menschen werden dann da sein, die ein Verständnis haben werden für das, was man ihnen so aus einem zeitgemäßen Wissen und aus einem liebewarmen, sozial fühlenden Herzen zu sagen hat. Und aus dem Zusammenwirken solcher Men­schen, welche Verständnis dafür haben und einen diesem Verständ­nis angemessenen Willen entwickeln, wird sich eine Besserung, eine Fortentwickelung der sozialen Lage Europas und was dazu gehört, finden lassen. In Saint-Simon lebt die Kraft des Gedankens, lebt die Kraft des Glaubens, daß überzeugend gewirkt werden könne unter den Menschen, wenn man in seiner eigenen Seele das Richtige erfaßt und dieses Richtige in der rechten Weise wissenschaftlich schriftstellerisch lehrend vor sie hinträgt.

Und mit einer solchen Gesinnung versucht Salnt-Simon aus dem ganzen geistigen Duktus der Zeit heraus zu wirken. Er sieht von die­ser Gesinnung heraus zurück auf jene Zeiten, die für ihn nun schon ihre Aufgabe erfüllt haben, in der tonangebend waren die Kräfte, die aus der Welt des Adels und aus der Welt des Militärs gekommen sind. Saint-Simon sagt sich: In älteren Zeiten haben Militär und Adel einen Sinn gehabt. Der Adel hat die militärischen Kräfte gelie­fert, welche die Verteidigung geführt haben auch für solche Men­schen, die sich den sogenannten Künsten des Friedens hingeben wollten. Aber auch noch ein anderer Stand hat in früheren Zeiten seine Bedeutung gehabt: der Priesterstand. Durch lange Zeiten - so sagt sich Saint-Simon - war der Priesterstand der eigentlich leh­rende Stand, der Träger des geistigen Lebens, der Träger der Bil­dung. Das ist er längst nicht mehr. Ebensowenig wie der Adels- und Militärstand ihre Bedeutung in der neueren Zeit haben, ebenso­wenig hat der Priesterstand seine frühere Bedeutung. Dagegen ist ein völlig neues Element in die Entwickelung eingetreten. - Saint-Simon hatte einen feinen Blick dafür, was die heraufkommende Industrie

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und die mit ihr zusammenhängende Naturwissenschaft für die Ent­wickelung der modernen Menschheit bedeuten. Er sagte sich: Wenn man diese Entwickelung der Industrie betrachtet, so erzieht sie auf der einen Seite ein Geistesleben, das sich schon entwickelt hat in der Naturwissenschaft, das eine gewisse Denkweise gepflanzt hat, die sich in Physik, in Chemie, sogar in Biologie schon auslebt, eine Denk­weise, die ergreifen muß die anderen, die höheren Wissenschafts­glieder des gesamten menschlichen Geisteslebens. Zwar bisher - so sagte sich Saint-Simon von seiner eigenen Zeit - haben nur Astrono­mie, Chemie, Physik und die Physiologie den Charakter der neueren Zeit angenommen. Aber wir müssen auch begründen eine mensch­liche Wissenschaft, eine menschliche Seelenkunde, wir müssen eine Soziologie begründen, und wir müssen uns erheben bis zu einer Art politischer Physik; dann können wir uns wirkend und handelnd hin­einstellen in das soziale Leben. Wir brauchen - so sagt Saint-Simon - eine politische Physik -, und er wollte eine Art von Wis­senschaft aufbauen über das menschliche soziale Handeln nach dem Muster derjenigen Wissenschaftlichkeit, die sich ausgebildet hatte in Chemie, Physik und Physiologie. Daß der ganze Geist der Zeit getra­gen werde von einer Gesinnung, die auf solches hin will, das eben entnahm Saint-Simon dem Umstande, daß die industrielle Betätigung ein solches Übergewicht in der neueren Zeit erhalten hatte. In der Zeit, in der so intensiv gewirkt wird von alledem, was im weitesten Sinne industriell genannt werden kann, kann das Vergangene un­möglich seine Fortsetzung finden in der alten militärisch-priester­lichen Lebensform.

Und gleichzeitig wies Saint- Simon darauf hin, daß alle diese Dinge eigentlich im Zeitenverlaufe nur relativ sein könnten. Für die alten Zeiten haben ihre Bedeutung gehabt die Priester und die adeligen Militärs, für die gegenwärtige Zeit, seine Zeit, haben die gegen­wärtigen Gelehrten und die Industriellen die gleiche Bedeutung. Und während, so sagt sich Saint-Simon, für die Priester und die Milltärs, die Art der Militärs der alten Zeiten, eine gewisse Weltanschauung, eine gewisse geistige Verfassung das Richtige war, ist eine andere geistige Verfassung das Richtige für die neuere Zeit. Aber es bleibt

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immer von der älteren Zeit etwas zurück. Die alte übersinnliche Priesterkultur, die ja auch zugrunde liegend war den genannten militärischen Einrichtungen, diese Priesterkultur lehnte Saint-Simon im Sinne dessen, was die industrielle Gesinnung seines Zeitalters heraufgebracht hatte, ab. Er nannte das eine wesenlose, unmögliche Meta­physik, während die neuere Zeit zustreben müsse, bis zur Politik hin, einer positiven Philosophie, welche sich an Tatsachen ebenso hält, wie sich die industrielle Betätigung an die äußeren Tatsachen hält. Nur zurückgeblieben ist, so sagte Saint-Simon, aus jenen alten Zeiten, was wie eine traditionelle Metaphysik erscheint, die sich ausnimmt wie eine Metaphysik, die nicht mehr wirkliches Leben hat, die sich nur noch fortpflanzt. Und diese Metaphysik ist diejenige, die man namentlich findet, so meint Saint-Simon, in der neueren Juris­prudenz und in alledem, was sich auf dem Umwege durch die Jurispru­denz in das staatliche Leben hineingeschlichen hat. Im Grunde genom­men ist für Saint-Simon Jurisprudenz und die ihr zugrunde liegende Begrifflichkeit etwas, was nur wie ein Rest, wie ein Schatten zurück­geblieben ist aus jenen Zeiten, in denen Priesterherrschaft und Mili­tärherrschaft ihre Bedeutung gehabt haben.

Man sieht, was eigentlich da vorliegt, wenn ein Geist mit einer solchen Seelenverfassung auftreten kann. Es ist auf der einen Seite das, was schon aus dem 18. Jahrhundert und schon früher her ge­wirkt hat, die naturwissenschaftliche Denkungsweise, die alle mensch­liche Seelenbetrachtung hinweisen will auf das äußerlich sinnlich Tatsächliche und davon die Denkgewohnheiten angenommen hat. Allein, noch etwas anderes ist es, was da wirkt auf einen solchen Geist wie Saint-Simon. Es ist zu gleicher Zeit die aus der Tiefe des Menschenwesens heraufkommende Forderung nach der Freiheit der mensch­lichen Individualität. Naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit überall finden, nichts als wissenschaftlich gelten lassen, was nicht naturwis­senschaftliche Gesetzmäßigkeit sein kann, das steht auf der einen Seite, auf der anderen Seite steht die Forderung: Der Mensch muß als Einzelindividualität sein eigener Herr werden können, er muß in Freiheit seine Menschenwürde suchen können. - Im Grunde genom­men stehen die beiden Forderungen einander diametral gegenüber.

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Und wenn man eben tiefer eingeht auf das Gefüge des Geisteslebens des 19. Jahrhunderts, so sieht man, daß ein solcher Geist wie Saint-Simon gerade vor diesen großen Lebensproblemen stand: Wie komme ich zurecht mit der allgemeinen Naturgesetzlichkeit, der auch der Mensch angehören soll, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite mit der Forderung der Betätigung menschlicher Individualität, menschlicher Freiheit?

In der Französischen Revolution hat zusammengewirkt die materialistische Betrachtung des Weitganzen mit den Forderungen der individuellen menschlichen Freiheit, und die Stimme der französischen Revolution war es, die ins 19. Jahrhundert herübergeklungen hat und die solche Menschen wie Saint-Simon vor diesen inneren Erkenntnis-konflikt gestellt hat, vor das, was in solcher Weise tragisch zum Vor­schein kommt, was mehr und mehr wie eine soziale Forderung, als ein Ergebnis der Französischen Revolution heraufrückt. Da stellt sich ferner heraus, daß die naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit gilt, daß sie daher ausgedehnt werden sollte auf alles, also auch auf den Men­schen, daß aber der Mensch nicht eigentlich da hinein will, weil er innerhalb dieser naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit seine Frei­heit nicht finden kann.

Und so steht eigentlich die Geistesverfassung der neueren Zeit, des Beginnes des 19. Jahrhunderts, gerade in solchen repräsentativen Geistern, wie Saint-Simon einer ist, man möchte sagen, 9hne festen Boden vor zwei Forderungen, die schlechterdings nicht in dem, was sie aussagen, in Harmonie zu bringen sind. Und mit diesem Zwie­spalt soll man nun eintreten in eine Betrachtung des sozialen Lebens. Wissenschaftlich soll man sein auf der einen Seite, ein soziales Gefüge soll man finden, in dem der Mensch seine freie Menschenwürde finden kann, auf der anderen Seite.

Saint-Simon, er hat nach allen möglichen Begriffen gesucht, um Institutionen, Einrichtungen des industriellen Lebens, des allgemei­nen Menschenlebens überhaupt hinzeichnen zu können, die ihn hätten befriedigen können. Aber man sieht, er scheitert überall an der Unvereinbarkeit dieser zwei Forderungen der neueren Geschichte. Aber nicht nur in der Menschenbrust stehen diese zwei Forderungen des

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neueren Geisteslebens da. Nicht nur dann, wenn der Mensch gewissermaßen als einzelner Betrachter in sich hineinschaut, wird er ge­wahr, daß da ein Zwiespalt sich ergibt, sondern das ganze Geistes­leben und in dessen Folge das staatliche und wirtschaftliche Leben im Beginne des 19. Jahrhunderts, stehen im Grunde genommen im Zeichen dieses Zwiespaltes. In demjenigen, was sich als historische Ereignisse abspielt, lebt auf diese Weise die Sehnsucht nach festen Gesetzen auch im sozialen Leben und auf der anderen Seite der Ruf nach individueller Freiheit. Man soll ein soziales Gefüge finden, einen sozialen Organismus gewissermaßen, der erstens gesetzmäßig ist, wie die Natur gesetzmäßig ist, der auf der anderen Seite aber den Men­schen die Möglichkeit eines freien Lebens bietet. Der Zwiespalt, er wird insbesondere dadurch hervorgerufen, daß die besten Geister, und Saint-Simon gehört zweifellos dazu, in diesem Geistesleben nichts finden können, was ihnen positive Gedanken geben könnte für eine soziale Ordnung im menschlichen Zusammenleben. So zeichnet Saint-Simon nach den Denkgewohnheiten der Naturwissenschaft ein sozia­les System; aber die andere Forderung ist nicht erfüllbar: Erlangung freier Menschenwürde. Und das wird zur Kardinalforderung, die da auftritt im modernen Leben und die sich spiegelt in allem Zwiespältigen des Geisteslebens. Die tritt auf, weil man sich nun gar nicht zu helfen weiß, weil gewissermaßen diejenigen Geister im modernen Leben, welche, wie einst Goethe, nach einem Ausgleich dieser Gegen­sätze streben, sich doch im hohen Alter wiederum zum einsamen, rein innerlichen Leben verurteilt finden.

Da trat etwas auf im Beginne des 19. Jahrhunderts für das große soziale Leben, was man nennen könnte eine Art Verzweiflungstat gegenüber der Tatsache, daß man, wie sich auch dieses menschliche Denken anstrengen mag, wie es auch alles zusammenzunehmen sucht, was im menschlichen Inneren dessen Erfindungsgabe an Gedanken entnommen werden kann, daß man dennoch auf diese Art nicht zum Anschauen eines möglichen sozialen Organismus gelangt. Da kommt es dazu, daß diejenigen Geister im Grunde genommen tiefen Ein­druck machen, allerdings nicht bei jenen, die aus naturwissenschaft­lichem Denken heraus stammen, auch nicht bei solchen, die die abstrakten

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Forderungen der Französischen Revolution geltend machen, wohl aber bei Menschen, die da in dem durch die Revolution und durch Napoleon erschütterten Europa eine soziale Ordnung, etwas Bleibendes schaffen wollen. Bei diesen findet ein Geist Anklang, der, wie de Maistre, in früheste menschliche Zeitalter zurückweist, in die ersten Jahrhunderte der christlichen Entwickelung Europas.

De Maistre, der den südromanischen Gegenden entstammt, der in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts schon seinen Aufruf erlas­sen hat an die französische Nation, der dann sein bedeutendes Werk über die Päpste schrieb, der dann die eindrucksvollen «Abendstunden in St. Petersburg» geschrieben hat, er ist, ich möchte sagen, der uni­versalste Geist der europäischen Reaktion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er ist ein scharfer Denker, ein geniallscher Kopf, dieser de Maistre. Er verweist diejenigen, die es hören wollen, auf das Chaos, das allmählich entstehen muß, wenn man nicht zu Gedan­ken über den Aufbau eines sozialen Organismus sollte kommen kön­nen. Er prüft von diesem Gesichtspunkte aus scharf diejenigen Gei­ster, die die neuere Zeit, wie er meint, eben gerade in das Chaos ge­bracht haben, die das soziale Chaos bewirkenden Geister, die so die neuere Zeit eingeleitet haben. Er kritisiert scharf zum Beispiel den Philosophen Locke, und er stellt es geradezu wie eine unwider­legliche Wahrheit hin, daß eine soziale Ordnung nicht zustande kom­men könne, wenn man nicht im alten christkatholischen Sinne das­jenige, was religiöser Geist der ersten christlichen Jahrhunderte in Europa war, wiederum über die europäische Zivilisation ausgießt.

Man muß sich schon, wenn man solchen Erscheinungen gerecht werden will, ein wenig Objektivität aneignen, man muß sich hinein-versetzen können in eine Persönlichkeit, wie de Maistre es war, und wie diejenigen es waren und es heute noch sind, die sich zu diesem Geiste bekennen. Man muß sich hineinversetzen können in einen Geist, der da sieht, wie aus all dem modernen naturwissenschaftlichen Denken eben keine Soziologie entstehen kann, wie das Chaos immer größer und größer werden muß, wenn nicht ein geistiger Impuls in die soziale Ordnung hineinkommt. Einen solchen neuen geisti­gen Impuls sah natürlich de Maistre nicht, sahen alle diejenigen nicht,

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die hinnahmen, was er mit eindringlichen Worten schrieb. Aber er wies zurück auf alte Zeiten, in denen eben die Menschen die Möglich­keit und Macht hatten, ein soziales Gefüge zu bilden. Heute ist für jene Menschen, die gewöhnlich sich mit Wissenschaft beschäftigen, die Stimme des de Maistre fast verhallt. Aber sie ist nur oberflächlich verhallt. Wer heute sieht, was eigentlich unter der Oberfläche unseres Zivilisationsiebens vorgeht, wie die traditionellen Religionsgesell­schaften wiederum ihre Fangarme ausstrecken, wie sie danach streben, sich zu modernisieren, der weiß, wie viel von dem Geiste des Joseph de Maistre gerade in Kreisen lebt, die nun allerdings als reaktio­näre Kreise immer weiter und weiter Verbreitung gewinnen, und die immer auch, wenn ihnen nicht ein Gegenpol geschaffen wird, mehr und mehr tonangebend werden müßten in der niedergehenden neue­ren Zivillsation. Wenn man objektiv auf de Maistre hinzuschauen vermag, dann sagt man sich: Kein Funke eines neuen Geistes, aber ein genialer Bearbeiter der alten römisch-katholischen Ideen, ein genialer Bearbeiter eines sozialen Organismus, der durch Einprägung der kirchlich-christlichen Impulse in die Gemüter aus dem Chaos eine, allerdings für die heutigen Zeiten nicht wünschenswerte, aber an sich mögliche soziale Ordnung hervorrufen kann. Und damit steht eine merkwürdige Tatsache im neueren geistigen Leben nun vor uns.

In einem gewissen Sinne ist ein Mann, der wiederum repräsentativ ist für das neuere Geistesleben, ein Schüler de Maistres geworden, der allerdings de Maistres Ideen in ganz anderem Sinne ausgebildet hat. Aber ein anderes ist der Inhalt des Denkens, ein anderes die ganze Art des Denkens, und man möchte sagen: de Maistres reaktionäre Gesinnung, reaktionäre Seelenverfassung, sie lebt auf einem Gebiete weiter, auf dem man sie nicht suchen würde, wie ein illegitimes Kind der modernen Zivilisation. Denn nicht im Inhalte, aber in bezug auf die Gedankenkonfiguration ist ein wahrer Schüler de Mai­stres einer derjenigen, der ihn geistig auch entsprechend verehrt hat, der Soziologe Auguste Gomte; Auguste Comte, der geradezu als der Vater der neueren Soziologie hingestellt wird. Er ist auf der einen Seite Schüler Saint-Simons, auf der anderen Seite ist er durchaus auch Schüler de Maistres. Das werden diejenigen nicht leicht einsehen, die

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im geistigen Leben nur auf den Inhalt gehen, nicht auf den ganzen Duktus, nicht auf die ganze Führung der Gedanken, auf die ganze Führung des Seelenlebens. Man sieht bei Comte, wie er verweist auf drei Stadien der Menschheitsentwickelung. Er zeigt auf die alte Zeit der Mythenbildung, auf die Zeit, in der priesterliche Herrschaft war. Sie betrachtet er als eine vergangene Zeit, und sie wurde abgelöst nach seiner Ansicht von der metaphysischen Zeit, von der Zeit, in der man Gedankensysteme über das Übersinnliche ausgebildet hat. Auch die ist vorüber. Im Sinne Saint-Simons muß übergegangen werden zu einer Art politischer Physik. Es darf nur geltend gelassen werden, was Wissenschaft der positiven Tatsachen ist. Also muß man auf­steigen von demjenigen, was die Physik, Chemie, Physiologie ist, zu einer soziologischen Betrachtungsweise, um eben mit den gleichen Methoden zu einer Art politischer Physik zu gelangen.

Nun zeichnet Comte eine Art Menschheitsgemeinschaft, eine Art Sozietät, in der nur herrscht die positive, die an die äußeren sinn­lichen Tatsachen sich anlehnende Denkungsweise, und die nur das­jenige in der Wirklichkeit hervorruft, was aus einer solchen Den­kungsweise kommen kann. Es ist natürlich nicht eine Spur von Gläubigkeit des Katholizismus in dieser Sozietät, in diesem sozialen Organismus zu finden. Aber die Art, wie Comte konstruiert, wie er eine Art, man möchte sagen, Sinneskirche an die Stelle der übersinn­lichen Kirche setzt, wie er zum Beispiel die ganze Menschheit an die Stelle Gottes setzt, wie er das Wort prägt: Der Mensch handelt, aber die Menschheit lenkt ihn, führt ihn - es ist dies ja nur eine Umprägung des Wortes: Der Mensch denkt und Gott lenkt. - Alles das zeigt, daß der Geist de Maistres, der urreaktionäre, katholische Geist de Maistres in dem positivistischen, nur auf das Sinnliche gerich­teten Geiste Auguste Comtes lebt. Und man möchte sagen: Katholizi­tät lebte damit fort, in alledem, was in diese Soziologie übergegangen ist. Dennoch, wenn wir hinschauen auf Auguste Comte, so müssen wir sagen: es lebt auch in ihm in dem Sinne noch ein idealistischer Zug, als auch er meint, er könne ergründen, wenn er nur im richtigen Geiste der Zeit denkt, was den Menschen zum Heile sein müsse im sozialen Gefüge, und man könne das dann den Menschen mitteilen, sie

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könnten überzeugt werden, und durch dieses Mitteilen und durch dieses Überzeugtwerden könne ein wünschenswertes Zusammenleben entstehen. Und es ist im Grunde genommen in allem, in der ganzen Konfiguration des Denkens der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch ein gewisses Vertrauen zu der menschlichen Idee zu finden, mit der man seine Mitmenschen überzeugen kann, aus dem etwas her­vorgehen kann an menschlichen Taten, an menschlichen Einrichtun­gen durch den vom Intellekt geleiteten Willen der überzeugten Menschen. Das spricht sich dann in der verschiedensten Weise aus. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachten im Grunde genommen alle Geister in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Welt. Die Art, wie sie betrachten, das hängt zum Teil von ihren nationalen Stellun­gen ab, das hängt von anderen Umständen ab, aber von diesem Gesichtspunkte aus betrachten sie die Welt.

Sehen wir einmal, wie die soziale Ordnung von Saint-Simon, von Auguste Comte betrachtet wird, oder dann von Quételet, wie da der systematisierende, der sich an das Rechnen, an das Mathematische haltende bloße Verstand, bloße Intellekt wirkt, der immerdar statis­tisch wirken will, der alles geordnet haben will, der mit einer gewissen Eleganz Systeme bauen will. Sehen wir wie ein eminent in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehender Geist, wie etwa, sagen wir, Herbert Spencer> in England wirkt. Er trägt durchaus die englische Seelenverfassung in sich. Er wirkt nicht etwa in dem­selben Sinne wie Saint-Simon, wie Auguste Comte systematisierend, er wirkt auch nicht durch die Statistik, sondern man sieht: Was er an ökonomischem Denken, an wirtschaftlichem Denken darüber ge­lernt hat, wie sich die einzelnen Wirtschaftsprobleme verketten, das macht er für die Soziologie geltend. Es wird von Herbert Spencer auf Grundlage naturwissenschaftlichen und ökonomischen Denkens eine Art Überorganismus ausgedacht. Nicht er, aber immerhin andere haben diesen Ausdruck gebraucht. Es ist ja im 19. Jahrhundert über­haupt Sitte geworden, dem, was man nicht konkret erfassen konnte, das Wort «Über» voranzusetzen. Aber sehen Sie, solange das lyrisch bleibt wie später bei Nietzsches «Übermenschen», mag es ja gelten; wenn es aber das Konkrete aus der Welt schaffen soll dadurch, daß

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man einfach ein Konkretes, das man vor sich hat, dadurch aufheben will, daß man das Wort «Über» davorsetzt, wie es vielfach gemacht worden ist, indem man zum Beispiel das Wort «Überorganismus» erfunden hat, dann plätschert man und panscht man eben in kon­fusen Begriffen, in nichts weiter. Aber wie gesagt, in einer Art Ideall­tät, in einer Art Vertrauen dazu, durch den Geist die rechte Richtung finden zu können, leben diese tonangebenden Geister in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts.

Das wird anders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In vieler Beziehung kann man Karl Marx zum Beispiel als einen ton-angebenden Geist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrach­ten. Auch er faßt in seiner Art die Wissenschaftlichkeit der neueren Zeit zusammen und sucht daraus eine soziale Richtung zu geben. Aber wie anders steht Karl Marx da als Saint-Simon oder als Auguste Comte oder Herbert Spencer! Karl Marx steht so da, daß man sagen kann: Er hat im Grunde genommen keinen Glauben mehr, daß man irgend etwas erkennen könne, daß man in jemand anderem die Über­zeugung hervorrufen könne, und wenn das wahr ist, dann werde das, was in dieser neueren Welt geschieht, sich auch vollziehen las­sen durch den überzeugten Willen des Menschen. Nein, Saint-Simon, Auguste Comte, Herbert Spencer, Buckle, alle diejenigen, die man da nennen will, und wir könnten da ganz große Reihen von Persönlich­keiten anführen, alle diese Geister der ersten Jahrhunderthälfte, sie haben noch diese innerliche Überzeugung. Die Geister hingegen in der zweiten Jahrhunderthälfte haben sie nicht mehr und können sie nicht mehr haben. Marx ist nur der radikalste in einer Beziehung; bei allen anderen ist es ebenso: sie alle habe nicht mehr jenes Ver­trauen in den Geist.

Was tut Karl Marx? Karl Marx wirkt nicht mit dem Bewußtsein, etwas lehren zu können, Überzeugung hervorrufen zu können. Nein, er sagt: Da ist die große Masse des Proletariats, die haben diese Instinkte, die sich als Klasseninstinkte ausleben. Wenn ich die zu­sammenrufe, die schon diese Klasseninstinkte haben, wenn ich die organisiere und ihnen sage, was sich ausspricht in diesen Klassen-instinkten, dann kann ich mit ihnen etwas machen; dann kann ich sie

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so führen, daß eine neue Zeit heraufkommt. Man möchte sagen, Saint-Simon, Comte wirken wie ins Neuzeitliche übersetzte Priester, die da wenigstens glauben, den menschlichen Herzen Überzeugung beibringen zu können; sie konnten das tun in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Karl Marx wirkt wie ein Stratege, wie ein Feldherr, der gar nicht auf Überzeugung reflektiert, sondern der Massen organi­siert. Es ist ganz gleichgültig, ob man Soldaten erst drillt und dann mit Hilfe des Drills die Massen organisiert hat, um dann mit ihnen ins Feld zu ziehen, oder ob man auf die schon vorhandenen Instinkte, auf die Kiasseninstinkte rechnet und das schon Daseiende ins Feld führt. Man möchte sagen: Der priesterliche Duktus lebt in solchen Leuten fort wie Saint-Simon und Auguste Comte, auch in Herbert Spencer und ähnlichen Geistern; der militärische Duktus herrscht in Geistern wie Karl Marx, der Geist strategischer Übungen, der Geist, der nicht mehr daran glaubt, daß man irgend etwas finden und dieses so zum Ausdrucke bringen könne, so daß es den anderen überzeugt und um der Überzeugung willen dann daraus hervorgehe, was nun auch wirken will, sondern der Geist wirkt, der da sagt: Ich nehme diejenigen, die ich organisieren kann; die nehme ich, wie sie sind, denn überzeugen kann ich die Menschen doch nicht. Ich organisiere die Kiasseninstinkte und dann wird werden, was werden soll. - Man muß nur fühlen, wie radikal diese Wendung ist. Und derjenige, der hineinblickt in den Umschwung bei den tonangebenden Geistern im Laufe des 19.Jahrhunderts, der wird überall fühlen, daß sich dieser radikale Umschwung eigentlich im Grunde genommen verhältnis­mäßig rasch vollzieht. Und er vollzieht sich noch auf einem anderen Gebiete.

Die naturwissenschaftliche Denkweise ist heraufgekommen im Laufe der neueren Zeit, in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Man sehe insbesondere auf Fichte, Schelling, Hegel hin. Da hatte man noch Vertrauen zum Geist; man glaubte, aus dem Geiste heraus über die Natur etwas ausmachen zu können, was auch über die Natur zu entscheiden habe. Geradeso wie auf dem Gebiete der sozialen Denk­weise im neueren Leben aufgehört hat das Vertrauen zu dem sie schaffenden Geiste, so geschah es auch in bezug auf das äußere Erkennen.

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Man verläßt sich jetzt nur noch auf Beobachtung und Experiment. Der schaffende Geist traut sich nichts mehr zu; das, was gelten gelassen wird, ist die Beobachtung, das Experiment. Dem schaffenden Geist, ihm wird nur die Fähigkeit zugeschrieben, zu registrieren, was Beobachtung und Experiment sagen. Und wenn man nun gerade von diesem Gesichtspunkte aus das soziale Leben begrei­fen will, dann wendet man die naturwissenschaftliche Beobachtung etwa des Darwinismus auf die menschliche Entwickelung an. Für diese Denkart sind dann Benjamin Kidd, Huxley, Russell, Wallace und so weiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rnaßgebend. Wir finden da überall die Verphysischung des Geistes, die Anlehnung des Geistes an etwas Äußeres im praktischen Sozialen wie im Erkenntnis-leben.

Ein Merkwürdiges ist es mit diesem 19. Jahrhundert, wie sich der menschliche Geist allmählich selber eine Art von innerem Agnostizis­mus vorkonstruiert, wie er selber innerlich das Vertrauen zu sich ver­liert. Und in dieser Beziehung ist eine radikale Wendung ebenfalls in der Mitte des 19.Jahrhunderts. Wer nun beobachten will, wie diese Stimmungen sich entwickelt haben, die ich angeführt habe - und diese Stimmungen sind viel wichtiger als der Inhalt des Geisteslebens, für den, der die Zusammenhänge historisch betrachten will -, dieser wird tatsächlich eine Art gerades Hervorgehen dessen finden, was dann das 19. Jahrhundert ausgebildet hat, aus dem, was schon im 18.Jahrhun-dert da war. Man wird auch noch weiter zurückgehen können in das 17. Jahrhundert, man wird weiter zurückgehen können in das 16., in das 15.Jahrhundert. Man wird da zwar noch nicht auf dasjenige stoßen, was dann im 19. Jahrhundert hinstrebt nach dem Erfassen einer neuen sozialen Ordnung, aber man wird gewahr, wie eine soziale Ordnung nicht erfaßt werden kann, so daß man es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz aufgibt. Aber man wird doch fin­den, daß das, was geschieht in der Mitte des 19.Jahrhunderts, daß dieser Umschwung in der Mitte des 19.Jahrhunderts sich langsam entwickelt schon seit dem 15. Jahrhundert. Wenn man das geistige Leben rückläufig bis zum 15.Jahrhundert hin betrachtet, so kann man das immerhin erfühlen in denjenigen Begriffen, die man verstehen

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kann, mit denen man mitgehen kann als ein Mensch des 19. oder 20. Jahrhunderts.

Diese Möglichkeit hört auf, sobald man hinter das 15. Jahrhundert zurückkommt nach dem weiter zurückliegenden Mittelalter. Und da könnte ich zahlreiche einzelne Begriffe und Vörstellungen anführen, welche Ihnen den Beweis dafür liefern würden, wie es da in diesen Zeiten anders war mit der ganzen menschlichen Seelenverfassung. Ich will nur eines herausgreifen. Wer heute aufrichtig verstehen will, was, sagen wir, in einer Schrift, die der Beschreibung der Natur gewidmet ist, vor dem 15. Jahrhundert steht, der muß seine Seele in eine ganz andere Verfassung bringen, als wenn er irgend etwas aus der späteren Zeit, namentlich aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, liest. Wenn wir über die Natur lesen, so finden wir in diesen Schriften, auch in den­jenigen, die als nachgeahmte Schriften, aber mit derselben Gesinnung, mit derselben Erkenntnisgesinnung, wie sie vor dem 15. Jahrhundert war, dann in späterer Zeit geschrieben sind, wir finden überall, da lebt noch etwas auch bei den Naturbetrachtungen, was einem sagt: Wenn du dieses oder jenes Experiment machst, wenn du dich dem oder jenem in der Behandiung der Natur hingibst, dann mußt du zu­gleich eine gewisse innerliche Gesinnung in dir ausbilden. Du darfst zum Beispiel nicht gewisse Verrichtungen machen mit Mineralien, die zu dem oder jenem führen sollen, wenn du dich nicht in eine Stim­mung versetzest, die gewissen göttlichen Geistern wohlgefällig ist. Du mußt gewisse Naturverrichtungen in einer gewissen moralischen Verfassung machen.

Man soll sich denken in der heutigen Zeit, daß von irgend jeman­dem, der eine chemische Reaktion im Laboratorium machen soll, verlangt würde, er solle erst irgendeine religiöse, moralische Stim­mung in seiner Seele erzeugen! Man würde selbstverständlich eine solche Anforderung verlachen. Es war aber das durchaus selbstver­ständlich, daß man damals, vor dem 15.Jahrhundert, solche Anfor­derungen stellte an jeden, der mit den Vorgängen der Natur hantierte, und dies immer mehr, je weiter man zurückgeht. Gerade ein solcher Geist wie de Maistre, der hat wiederum etwas lebendig machen wollen, was eigentlich in der neueren Zeit gar nicht mehr lebendig

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war. Er wollte nämlich eine klare linterscheidung für das lebendige menschliche Verständnis zwischen dem Begriffe der Sünde und des Verbrechens hervorrufen. De Maistre sagte, die Menschen seiner Zeit - er meint den Anfang des 19. Jahrhunderts - haben ja gar keinen Begriff mehr von dem Unterschied zwischen Sünde und Verbrechen. Das ist ihnen im Grunde genommen nach und nach eins geworden. Insbesondere haben die Menschen keinen richtigen Begriff mehr von der Erbsünde.

Nun möchte ich Ihnen einen solchen Begriff geben, wie er von den Menschen vor dem 15. Jahrhundert gefühlt wurde in bezug auf die Erbsünde. Sehen Sie, es gibt in unserer heutigen Weltanschauung gar nicht die Antezedenzien dafür, solche Begriffe noch mit aller Leben­digkeit zu entwickeln. Aber für eine historische Betrachtung des Geisteslebens muß man sie eben entwickeln. Wenn ein solcher Begriff entwickelt werden soll, so muß man allerdings heute ursprüngliche Begriffe des geistigen Forschens zugrunde legen. Ursprünglich meine ich in dem Sinne, wie die heutige geistige Forschung solche ältere Begriffe zutage fördern kann. Denn nur dadurch, daß man wiederum ganz selbständig auf diese Dinge kommt, nur dadurch kann man die ältere Art der Vorstellung begreifen. Wenn man sie ohne das liest, so liest man eben Worte, und nur wenn man unehrlich ist in bezug auf die Worte, glaubt man, mit den Worten auch einen Sinn verbinden zu können. Was die Theologie heute als Erbsünde definiert nach den verschiedenen Dogmatikern, das glaubte man in der damaligen Zeit, vor dem 15.Jahrhundert, in aufgeklärten Kreisen allerdings nicht. Was man sich damals sagte, wiederum herauszufinden, ist, wie gesagt, erst heute geisteswissenschaftlich mit aller Kiarheit wiederum möglich. Man sagte sich etwa folgendes: Der Mensch macht von seiner Geburt an, also sagen wir, seit er den ersten Atemzug gemacht hat, bis zum Tode durch sein inneres Leben gewisse organi­sche innere Vorgänge durch. Diese organischen inneren Vorgänge sind andere als jene, die sich in der außermenschlichen Natur voll­ziehen. Es ist nur ein heutiger naturwissenschaftlicher Aberglaube, daß man meint, alles das, was im Menschen wirksam ist, könne man auch im Tier nachweisen. Es ist ein Aberglaube, denn im Grunde

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genommen sind die Gesetzmäßigkeiten innerhalb der tierischen Or­ganisation doch andere als die Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Men­schen. Der Mensch kann also hinsehen auf dasjenige, wie sein Or­ganismus von den inneren Seelenkräften gesetzmäßig durchsetzt wird von der Geburt bis zum Tode. Und im Grunde genommen, wenn er wirklich erkennt, was da in ihm gesetzmäßig wirkt, so findet er von seiner eigenen Gesetzmäßigkeit in der äußeren Natur nichts. Aber er findet in der äußeren Natur etwas, was in einer gewissen Weise der­jenigen Gesetzmäßigkeit entspricht, die sich beim Menschen zwischen Konzeption und Geburt, also in der Embryonalentwickelung voll­zieht. Man kann den Menschen in seinen Vorgängen zwischen Geburt und Tod nicht verstehen nur mit dem, was man an der äußeren Natur lernen kann. Aber mit dem, was man an der äußeren Natur lernen kann, kann man, wenn man es nur richtig verwendet, in einem gewissen Sinne verstehen, was sich in der Embryonalzeit des Men­schen vollzieht. - Es ist heute nicht viel Empfänglichkeit da für eine solche Idee, aber ich muß eben andeuten, wie man aus der neueren Geisteswissenschaft heraus wiederum auf Begriffe der früheren Zeit-epochen zurückkommen kann. Ein heutiger Mensch sagt sich das nicht, aber der Naturforscher vor dem 15. Jahrhundert sagte sich, und zwar nicht als äußerlich fühlender Mensch und nicht bei klarem Bewußtsein, sondern aus dunklem Gefühl heraus: Wenn ich die äußere Natur überblicke, so darf ich als Mensch mir selber die Gesetzmäßigkeit der äußeren Natur nur zuschreiben, wenn ich auf dasjenige hinblicke, was mit meinem physischen Leibe vor meiner Geburt geschehen ist. Es verbirgt sich in ein Inneres des Menschen in seiner Entwickelung, was bei der äußeren Natur offen daliegt. Der Mensch darf sich nicht offen am Tage bloß natürlich entwickeln. Er würde ein böses Wesen, wenn er sich so entwickeln würde, wie die Pflanze sich in ihren Blüten offenbar, draußen im Raume ent­wickelt.

So fühlte man in einem älteren Zeitabschnitte. Und der Mensch wird sündhaft, wenn er sich denjenigen Kräften überläßt, die im Leibe der Mutter seine Entwickelung befördert haben, denn sie wir­ken so, wie die außermenschliche Natur wirkt. Diese außermenschliche

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Natur, sie hat ihre volle Berechtigung als Natur. Gibt sich der Mensch dem aber nach der Geburt noch hin, wird er nicht dazu er­zogen, sich in eine übersinnliche Gesetzmäßigkeit einzugliedern, dann wird er sündig. Das führt zum Begriff der Erbsünde, das führt zu dem Bedürfnis, auch das Natürliche einer moralischen Welt­ordnung einzugliedern. Es wird gewissermaßen das, was sich noch natürlich abspielt, hineinverflochten in die moralische Ordnung, und so kommt man zu einem solchen Begriff wie dem der Erbsünde, der durchaus noch ein naturwissenschaftlicher Begriff war vor dem 15.Jahrhundert. Diesen Begriff der Erbsünde will de Maistre wieder einführen. Er will wiederum N2turwissenschaft mit Moralität ver­binden. Dieser Begriff der Erbsünde, wodurch allein nur konnte er denn im 19.Jahrhundert gerettet werden? Nur dadurch, daß sich in einem noch strengeren Sinne, als das früher der Fall war, Religion abtrennte von wissenschaftlicher Erkenntnis. Es kommt immer mehr und mehr herauf die Betonung einer Trennung zwischen Glauben und Erkenntnis. Gehen wir in ältere Zeiten zurück, so hatte damals diese Trennung von Glaube und Wissen überhaupt keinen Sinn. Sie kommt erst in der neueren Zeit, allerdings schon einige Jahrhunderte vor dem 15.Jahrhundert, mehr und mehr herauf. Und was entsteht da im 19.Jahrhundert in bezug auf diese besonderen Vorstellungswelten? Wir sehen, wie Religion immer entschiedener sagt: Wissenschaft möge auf das Exakte gehen, sie möge es treiben, wie sie es nach ihren Methoden treiben will, aber wir, die wir das Religiöse vertreten, machen gar nicht Anspruch auf diese Methode. Wir behalten uns ein gesichertes Gebiet vor, in dem wir nicht wissenschaftliche Erkennt­nis, sondern nur Glaube, nur subjektive Überzeugung haben wollen. -Man tritt gewissermaßen das wissenschaftliche Wissen an die Wissen­schaft ab und sichert sich das Glaubensgebiet, weil man zu schwach geworden ist, um die beiden miteinander zu verbinden. Und so ver­lieren allmählich Begriffe, welche das Moralische und das Naturgesetz­liche in eins verschlingen wie der Begriff der Erbsünde, ihre Bedeu­tung. So hat denn eigentlich für den modernen Menschen nur noch der Begriff Verbrechen, meint de Maistre, einen Sinn, nicht mehr der Begriff der Sünde, denn der Begriff der Sünde hat nur einen Sinn, wenn

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ein Zusammenwirken des Naturgesetzlichen und des Moralischen ins Auge gefaßt werden kann. So kommen wir in der Tat zu völlig an-deren Begriffen, wenn wir hinter das 15. Jahrhundert zurückgehen.

Dann aber ist ein langer Zeitraum, ein Zeitraum - er wird ge­wöhnlich als das dunkle, finstere Mittelalter angesehen -, in dem ein eigentlicher geistiger Fortschritt in derselben Art, wie dann vom 15. Jahrhundert ab, nicht stattfindet. Was sich seit der Galilei-Zeit, seit der Kopernikus-Zeit entwickelt, was seitdem für die Menschheit geschieht und weiter wirkt bis zu den großen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, das betrachtet man so, daß man einen werdenden Fortschritt deduziert, daß man sagt: Die Menschen kommen weiter und weiter. - Geht man aber hinter das 15. Jahrhundert zurück, so kann man mit diesem Begriff des Fortschrittes einfach nichts mehr anfangen. Man kann da von Jahrhundert zu Jahrhundert zurückgehen, man findet im Zeitenverlauf zwar nicht überall denselben Geist, man findet schon, daß er sich wandelt, wie wir das morgen genauer charakterisieren werden, wenn man die verschiedenen Geschichts-epochen des 12., 11., 10., 9., 8., 7., 6.Jahrhunderts durchgeht. Man sieht, wie sich die christliche Lehre allmählich ausbreitet; aber in demselben Sinne einen Fortschritt, wie er dann von der Mitte des 15. Jahrhunderts beginnt und wie er dann im 19. Jahrhundert zu dem radikalen Umschwung, zu der radikalen Wende führt, wie wir gesehen haben, einen solchen Fortschritt findet man nicht, und indem man, ich möchte sagen, jenen mehr stationären Zustand ins Auge faßt, wird man zurückgeführt bis zu einem wichtigen Zeitpunkte in der europäischen Entwickelung. Man wird zurückgeführt bis in das 4. nachchristliche Jahrhundert. Und dabei bekommt man allmählich das Gefühl: Man kann durch kontinuierliche Betrachtung verfolgen, was einsetzt mit der Mitte des 15. Jahrhunderts etwa mit Nikolaus Gusanus, was sich dann ausdrückt in der galileisch-kopernikanischen Denkweise, was Schritt für Schritt vorwärtsrückt bis zu der radikalen Wendung im 19.Jahrhundert; man kann aber nicht in derselben Weise frühere Jahrhunderte betrachten, in denen man zu einem stationären Verlauf kommt. Wir werden das morgen genauer betrach­ten, wenn wir, wie gesagt, mehr in das Esoterische eintauchen.

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Aber wenn wir zurückkommen in das 4. nachchristliche Jahrhun­dert, wird es plötzlich noch ganz anders. Da finden wir wiederum einen ungeheuer bedeutsamen Einschnitt in der europäischen Ent­wickelung. Und wir werden die Bedeutung dieses Einschnitts um so höher einschätzen, wenn wir sehen, daß dasjenige, was wir nach der Wende im 15. Jahrhundert finden als die Renalssance, als die Refor­rnation, wie das eine Art Zurückgehen ist in die Zeiten, in die wir da geführt werden, wenn wir durch die stationären Entwickelungszu-stände hindurchgehen und in das 4. nachchristllche Jahrhundert getrie­ben werden. Auch in bezug auf dieses 4. nachchrtstliche Jahrhundert wollen wir heute nur auf die äußere Tatsache gewissermaßen exote­risch hinschauen. Wir sehen, wie es das entscheidende Jahrhundert ist für den allmählichen Verfall des alten Römischen Reiches. Wir sehen, wie in diesem 4. nachchristlichen Jahrhundert das Christentum so weit ist, daß Konstantin die Religionsfreiheit nun für die Christen verkündigen muß, so daß das Christentum gleichberechtigt wird mit den alten heidnischen Religionen. Wir sehen aber auch, wie ein letzter Versuch gemacht wird, dasjenige, was aus dem alten Heidentum als eine Weltanschauung und Lebensauffassung hervorgegangen ist, noch einmal der europäischen und der zivilisierten Menschheit überhaupt einzupflanzen, durch Julian Apostata. Mit seinem Tode fällt 363 die­jenige Persönlichkeit, die noch einmal mit aller Kraft in das euro­päische Zivillsationsleben hat hineinbringen wollen, was durch Jahr­hunderte geherrscht hat, was dann das Christentum aufgenommen hat, was aber im 4. nachchristlichen Jahrhundert seinem Untergange entgegengeht. Und wir sehen die Kräfte hereinwirken, welche dann an die Stelle dieses Römischen Reiches treten. Wir sehen, wie Europa in Bewegung kommt, die Goten, die Vandalen und Langobarden in Bewegung kommen. Wir sehen, wie sich vollzieht im 4. Jahrhundert die entscheidende Schlacht von Adrianopel, wodurch die Goten ein­dringen, zunächst in das oströmische Reich, wie sie dann weiter-dringen, wie das, was in dem Blute der sogenannten Barbaren lebt, vordringt gegen dasjenige, was an hinsterbender alter Kultur im Süden von Europa vorhanden ist. Wir sehen das Merkwürdige in jener Zeit, von der wir hier sprechen, im 4. nachchristlichen Jahrhunderte,

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wie da das, was als die Oberschichte der Kultur lebte, zum Beispiel diejenige Oberschichte, die in Griechenland den Glauben an die griechischen Götter hatte, die dann entwickelte die griechische Weltanschauung, wie diese Oberschichte allmählich aus den Angeln gehoben wird, wie sie von selber allmählich als ein maßgebender Faktor verschwindet. Und wir sehen, wie sich dasjenige, was von ihr an Gedankenkonfigurationen bleibt, sich auf die römisch-katholische Kirche überträgt, die auch in ihren äußeren Institutionen die Kon­stitution des Römischen Reiches aufnimmt. Wir sehen, wie die ge­samte geistige Führung auf die römische Priesterherrschaft übergeht, wie gewissermaßen alles das aufhört, was weltliche Geistigkeit war. Erst wiederum durch die Renaissance wird es hervorgeholt. Es wirkt auch in späterer Zeit noch so, daß Goethe, nachdem er seine Jugend-bildung durchgemacht hat, seine ersten Werke geschaffen hat, sich, wie bekannt, mit solcher Kraft zurücksehnt nach dem, was alte euro­päische, asiatische Zivillsation gewesen war.

Und was ist davon denn eigentlich übriggeblieben? Es ist ja auch die Geldwirtschaft zurückgegangen, und zwar im 4. nachchristlichen Jahrhundert schon so weit zurückgegangen, daß eigentlich die Bil­dungsentwickelung in den Städten hingeschwunden ist. Übrig blieb im Grunde genommen das bäuerliche Element, das mit dem groß­grundbesitzerlichen Elemente die weiten Gegenden bevölkerte, und dieses übriggebliebene bäuerliche Element der südeuropäischen Be­wohner wurde verschmolzen mit dem, was von nördlichen Völker­schaften da vorgedrängt wurde.

So sehen wir, wie allmählich hinabglimmt, was, aus dem alten Oriente herüberkommend an geistigem Leben, sich dann in einer gewissen Weise umgebildet, metamorphosiert hat in der griechischen Bildung, in der römischen Bildung, was aber jetzt abglimmt, so daß es im Grunde genommen hinschwindet. Und nur diejenige Bevölke­rung bleibt, die nicht teilgenommen hat an dieser Bildung, die bäuer­liche und grundbesitzerliche Bevölkerung und was mit ihr verschmilzt aus jener Bevölkerung, die nun durch die sogenannte Völkerwan­derung in die römisch-griechischen Gebiete einzieht. Wir sehen, wie innerhalb dieses, die europäische Welt - ich spreche etwas radikal -

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allein bevölkernden Bauernrums, die römische Priesterwelt in den fol­genden Jahrhunderten das Christentum in der bekannten Weise aus­breitet. Wir sehen da, wie ja zunächst dieses Priestertum nichts zu tun hat mit dem widerstrebenden griechischen Elemente. Das glimmt ab, das trägt keine weiteren Zukunftsmöglichkeiten in sich. Diejenigen, die gebildet waren, sterben aus. Die bürgerliche Bevölkerung tritt zurück. Naturalwirtschaft tritt an die Stelle der alten Gemeinden und wächst zusammen mit der Naturalwirtschaft der heranschwirrenden barbarisch-germanischen Völkerschaften. Und wir sehen aus diesem im 4. nachchristlichen Jahrhundert sich herausentwickeln eine allmäh­liche Verbreitung des christlichen Elementes, wobei aber das eigent­liche Geistesleben selber nicht vorrückt, sondern das, was eben da im 4. Jahrhundert übernommen worden ist an altem Geistesleben durch die Priesterschaft und durch sie umgestaltet worden ist, das wird von ihr im Grunde genommen der ungebildeten bäuerlichen euro­päischen Bevölkerung eingepflanzt. Dann erst, nachdem es ein­geflanzt ist, wirkt das Blut, das durch Jahrhunderte hindurch in den europäischen Völkern entstanden ist, den Geist aufweckend, der dann im 15.Jahrhundert heraufkommt.

Und so müssen wir schon, wenn wir jenen großen bedeutsamen Zeitpunkt ins Auge fassen wollen, bis auf dieses 4. Jahrhundert zurück­gehen. Wir finden ja auch in diesem 4.nachchristiichen Jahrhundert wiederum solche repräsentativen Persönlichkeiten, die in ihrer eigenen Seelenverfassung gerade das ausdrücken, was da eigentlich wirkt und lebt. Stellen Sie sich die Zahlen zusammen, die da in Betracht kom­men, so werden Sie sehen, wie ungeheuer bedeutsam gerade dieser Zeitraum des 4. nachchristlichen Jahrhunderts ist: 313 verkündet der Kaiser Konstantin die Religionsfreiheit. 363 wird Julian Apostata getötet; damit ist die letzte Hoffnung der alten Weltanschauung unter­drückt. Im Jahre 378 fällt unter dem Ansturm der Goten Adrianopel. 400 schreibt Augustinus seine «Konfessionen». Also mit dem Ende des

4. Jahrhunderts hatAugustinus abgeschlossen, was sich in derwesteuro­päischen Zivilisation an inneren Seelenkämpfen durchinkämpfen hatte.

Wenn man drinnenstand in der untergehenden antiken Kultur, so erlebte man, was da langsam hinabglomm an orientalischer Weltanschauung.

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Augustinus hat es erlebt in derjenigen Weltanschauung, die er selber in seiner Jugend gläubig, hingebungsvoll aufgenom­men hat, im Manichäertum. Er hat es erlebt an der neuplatonischen Philosophie. Und erst nachdem er durch unsäglich starke Seelen-kämpfe durchgegangen ist, durch den Manichäismus, durch die Lehre des Mani, durch den Neuplatonismus, sogar durch den griechischen Skeptizismus, hat er sich hindurchgerungen zu der römisch-katholi­schen Art der christlichen Weltanschauung. Das sehen wir in einer so monumentalen Weise in seinen um 400 niedergeschriebenen « Kon­fessionen» zum Ausdruck kommen. Und sehen wir ihn an, diesen Augustinus, so recht einen repräsentativen Geist aus dem 4. nach­christlichen Jahrhunderte, aufgewachsen in manichäischen Vorstellun­gen, aber schon in einem Zeitalter, das die alte orientalische Weis­heit so weit umromanisiert, so weit umdogmatisiert hatte, daß man das Manichäertum nicht mehr richtig verstehen konnte.

Was ist denn das Wesen des Manichäertums? Aus dem, was in überlieferten Lehren übriggeblieben ist, kann man das Manichäertum allerdings nicht begreifen. Dieses Manichäertum muß man begreifen, indem man geisteswissenschaftlich auf seine eigenartige innere Wesen­heit hinschaut. Es war schon die orientalische Weltanschauung in der Dekadenz, aber es ist durch die Lehre Manis noch etwas hinzu­gekommen, was uns durchaus als etwas Bekanntes, als etwas Bedeu­tungsvolles anmuten sollte. Das ist ja zu erkennen, daß im Manichäis­mus noch angestrebt ward ein Erleben des lebendigen Ineinander-wirkens von geistiger und sinnlicher Welt. Derjenige, der der Lehre Manis anhing, der wollte noch durchaus die sinnliche Welt so an-sehen, daß in jeder sinnlichen Tatsache, in jedem sinnlichen Ding auch ein Geistiges zu sehen ist, das heißt, in dem Lichte wollte er zugleich die Weisheit und die Güte finden, weil er nicht abtrennen wollte die Natur von der bloßen Geistigkeit. Geist und Natur sollte als eins an­gesehen werden. Das nannte man später Dualismus - Dualismus, weil man die zwei, Geist und Natur, die man getrennt hatte, nicht wieder vereinigen konnte, während sie vormals als lebendige Einheit ange­sehen wurden. Einen großen Eindruck hat diese Anschauungsweise noch auf den jugendlichen Augustinus gemacht, aber er konnte sich

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nicht mehr zu ihr durchringen; die Zeit war nicht mehr fähig, sich zu den Vorstellungen aufzuschwingen, die durch eine ältere, instinktive Erkenntnis errungen waren, aus Erkenntnisvorgängen, über die die Menschheit eben schon hinausgewachsen war. Und so sehen wir denn ein inneres tragisches Ringen bei Augustinus. Er möchte die Wahr­heit finden, möchte die göttlichen Weitenkräfte finden in dem, was in den Wolken, in den Bergen, in den Pflanzen, in den Tieren, in allem Dasein lebt. Aber er flüchtet sich zuletzt dennoch zu der neu-platonischen Philosophie, die schon zeigt, daß sie kein Verständnis mehr hat für dieses Ineinandergewobensein von Geist und Materie, die schon in ein abstraktes, reines, bloßes Geistige mystisch nebelhaft hinaufstreben will, trotzdem sie noch großartig und gewaltig und genialisch ist. Und indem er sich so allmählich loslöst von der Mög­lichkeit eines Verständnisses der durchgeistigten Natur, der durch­geistigten Außenwelt, indem er sich hindurchtingt schon zu der Natur-verachtung und der Anbetung der reinen Geistigkeit im Neuplatohis­mus, kommt Augustinus dann durch ein Ereignis, das tief sympto­matisch bedeutsam ist, auf seine Art, zu seiner katholisch-christlichen Lebensauffassung. Man muß das, was da weltgeschichtlich geschieht, in der richtigen Weise fühlen. Wie steht Augustinus da? Er steht da in einer Welt, in der die ganze alte Zivillsation lebt, die aber schon verfallen und dekadent ist, so daß er nicht mehr zu ihr durch kann, obwohl er tragisch ringt mit dem letzten Rest, dem Manichäertum, mit dem allerletzten Rest, mit dem Neuplatonismus. Er kann hicht durch. Er kann aber, weil er gesattigt ist mit dem, was noch aus einer solchen Weisheit, wenn auch in Dekadenz, zu ihm herüber-leuchtet, doch noch nicht das Christentum annehmen. Da ist er in seinen tiefen Zweifeln drinnen, da ist er, schon ein berühmter Rhetoriker, Neuplatoniker, in seinen tiefen, tiefen Zweifeln drinnen. Und was spielt sich ab? Gerade in einem Moment, wo er daran ist, an der Wahrheit zu verzweifeln, wo er sich nicht mehr auskennt in den mannigfaltig verschlungenen Wegen, die sich da herausgebildet haben im 4. Jahrhundert in der verfallenden alten Kultur, da Fragen und Zweifel sein Gemüt durchrütteln, glaubt er, aus dem Nachbar-garten etwas zu vernehmen wie die Stimme eines Kindes: Nimm und

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lies 1 Nimm und lies! - und er greift zum Neuen Testamente, zu den Briefen des Paulus, und er wird durch die Stimme des Kindes gelei­tet in den römischen Katholizismus hinein.

Man sieht, belastet mit alidem, was da nach dem Westen herüber-gezogen ist von orientalischer Bildung in ihrer Dekadenz, das lebt Augustinus. Da ist er der repräsentative Geist. Und er wird nun tonangebend. Dasjenige, wozu er aufgefordert ist durch die Stimme des Kindes, leitet ihn, und so wird er tonangebend für die nächsten Jahrhunderte. Erst im 15. Jahrhundert bricht man damit, und erst das letzte Resultat dieses Bruches in einer gewissen Weise tritt als Wen­dung in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf.

So fällt unser Blick in diesem 4. nachchristlichen Jahrhundert auf den einen Geist, der in alle Kompliziertheiten und in alle Dekadenz seiner westlichen Zivilisation hineinversetzt ist. Aber auch in das­jenige, was Ausgangspunkt nun wird, Ausgangspunkt allerdings für etwas, das sich mit noch etwas anderem vermischt. Und mit etwas Merkwürdigem vermischt es sich. Es vermischt sich mit demjenigen, was vom Osten herüberkommt, mit den äußerlich barbarischen Völ­kerschaften, die gewissermaßen die römische Zivillsation zertreten, die sich an die Stelle der römischen Zivilisation setzen, und die, nachdem sie sich vermischt haben mit der Bauern- und Grund­besitzersbevölkerung, von der römischen Priesterschaft unterwiesen werden. Aber in den Untergründen lebt noch etwas anderes. Aus der rauhen Seele dieser Völkerschaften hebt sich etwas heraus, das nun doch auch ein merkwürdiges geistiges Element in sich hat, wie ein geistiges Frühelement. Und wir verspüren und empfinden dieses gei­stige Frühelement am intensivsten, wenn wir das Buch in die Hand nehmen, das uns als altes gotisches Denkmal geblieben ist: die Bibel-übersetzung des Wulfila. Und wenn wir ein Empfinden dafür haben, den Geist dieser Bibelübersetzung auf unsere Seele wirken zu lassen, erscheint es merkwürdig, wie das Vaterunser zum Beispiel aufgebaut wird in Resten aus all den Wirruissen heraus, für die der Augustinus ein tonangebender Geist ist. Und das Vaterunser tönt uns entgegen aus der Bibelübersetzung des Wulflla, die nun in ihrem Duktus ganz aus einem urelementaren sozialen Leben heraus, aus dem arianischen

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Christentum im Gegensatz zu dem athanasischen Christentum des Augustinus, gefaßt ist.

Ja, vielleicht mehr als an irgend etwas anderem können wir an diesem Duktus der Wulflla-Bibelübersetzung empfinden, welcher Geist, ich möchte sagen, welcher heidnische Geist da lebt, der aber eben vom Christentum ganz intensiv durchsetzt wird, allerdings von dem arianischen Christentum. Wenn man alle Einzelheiten dabei be­rücksichtigt, kommt man darauf, welcher Geist darinnen lebt, in diesem einfachen Goten Wulfila, der die Bibel übersetzte. Man muß nur die Dinge mit Empfindung betrachten. Diesen von Osten her­überziehenden, die römische antike Bildung in ihrem Niedergange ersetzenden barbarischen Massen, tönt etwas nach, was wunderbar lebt, richtig innerlich lebt als Geistesleben, als gotisches Geistesleben, was in dem großen Lehrer der Goten, bei Wulflla etwa lebte in seiner Art, das Vaterunser zu beten:

Atta unsar thu in himinam,

Weihnai namo thein.

Qimai thludinassus theins.

Wairthai wilja theins, swe in himina jah ana airthai.

Hlaif unsarana thana sinteinan gif uns himma daga.

Jah aflet uns thatei skulans sijaima, swaswe jah weis

afletam thaim skulam unsaraim.

Jah ni briggais uns in fraistubnjai, ak lausei uns af thamma ubilin;

Unte theina ist thludangardi jah mahts jah wulthus

in aiwins. Amen.

«Atta unsar thu in himinam, weihnal namo thein. Qimai thludi­nassus theins. Wairthai wilja theins, swe in himina jah ana airthal.» Nun, wenn wir es durchschauen, dieses in der Sprache Wulfilas so wunderbare Gebet, und wenn wir versuchen, es in unsere heutige Sprache zu übersetzen, dürfen wir nicht wörtlich übersetzen, son­dern müssen etwa sagen:

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Wir empfinden Dich droben in geistigen Höhen, Allvater

der Menschen.

Geweihet sei Dein Name.

Zu uns komme Dein Herrschaftsgebiet.

Es walte Dein Wille, so wie im Himmel, also auch auf der Erde.

Und wir müssen richtig fühlen, was darin ausgedrückt ist. Der Mensch, der so das Vaterunser übersetzte, der empfand etwas Ur­sprüngliches, und er empfand im Grunde so, wie diese Heiden alle empfunden haben: in geistigen Höhen den allerhaltenden Mensch­heitsvater, den man sich so vorstellte, wie ihn ein altes Helisehen vorstellen ließ, den man sich im Grunde genommen vorstellte als den König, den unsichtbaren, übersinnlichen König, der die Herrschaft führt wie kein irdischer König. Ihn sprach man als König unter den freien Goten an und bekundete das, indem man sagte: «Atta unsar thu in himinam.» Und nun sprach man zu seiner dreifachen Wesen­heit: «Geweihet sei Dein Name.» Mit dem Namen selbst verstand man -man vergleiche das nur mit den alten Sanskritbedeutungen - die Wesenheit, wie sie sich ausdrückt, wie sie sich offenbart nach außen, so wie sich der Mensch in seinem Leibe offenbart. Unter dem Herrschaftsbereich verstand man dasjenige, was in der Macht lag, gewissermaßen in der Gewalt, die befehligen konnte über ihr Gebiet:

«Weihnai namo thein. Qimai thiudinassus theins. Wairthal wilja theins, swe in himina, jah ana airthai.»

Unter dem Willen verstand man nämlich dasjenige, was als Geist die Macht und den Namen durchglänzte. Und so sah man hinauf und sah im Geist der übersinnlichen Welten die dreifach waltende Geistig­keit. Zu ihr erhob man sich, und dann sagte man: «Jah ana airthai. Hlaif unsarana thana sinteinan gif uns himma daga.» Geradeso sei es auf der Erde, nämlich: Wie sei es auf der Erde? So wie Dein Name, das, wodurch Du Dich nach außen offenbaren willst, wie der geweiht sein soll, so möge das, was sich in uns nach außen offenbart, das, was alltäglich sich erneuern muß, das möge so durchleuchtet sein. - Man muß nur verstehen, was in dem alten gotischen Wort «Hlaif» liegt. Aus dem ist Laib geworden, Laib, Brotlaib. Man hat gar nicht mehr

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das Gefühl dafür, wie dies war, wenn man heute sagt: «Gib uns heute unser tägliches Brot», während hier das « FIlaif» heißt: Lasse, wie wir Deinen Namen als den Leib gelten lassen, lasse so unseren Leib werden, daß er täglich so sein kann durch seine Nahrung, durch das, was er im Stoffwechsel aufnimmt.

Und wie dann übergegangen wird zu dem Herrschaftsbereich, der da walten soll von übersinnlichen Welten, so wird übergegangen zu demjenigen, was unter den Menschen in der sozialen Ordnung waltet. Da sind die Menschen einander so gegenüberstehend, daß nicht der eine des anderen Schuldner ist. Dieses Wort Schuld lebt unter den Goten so, daß es das reale Schuldigwerden bedeutet, sowohl im Moralischen wie im Physischen, im sozialen Leben gegenüber dem anderen Menschen, das ihm Schuldigsein bedeutet.

Damit war man also übergegangen, wie man vom Namen über­gegangen war in den Herrschaftsbereich, also vom Körperlichen zum Geiste - im Übersinnlichen bedeutet der Name ungefähr das Körperliche -, wie man übergegangen war von dem Seelischen zu dem Herrschaftsbereich, so ging man über von dem Äußerlich-Leib­lichen zu dem, was seelisch ist im sozialen Leben, und dann zu dem eigentlich Geistigen: «Laß uns nicht verfallen» - «Jah aflet uns thatei skulans sijaima, swaswe jah weis afletam thaim skulam unsaraim.» Das heißt: « Laß uns nicht verfallen in dasjenige, was aus unserem Leibe heraus unseren Geist in Finsternis bringt, sondern er­löse uns von den Übeln, die unseren Geist in Finsternis bringen»:

«Jah ni briggais uns in fraistubnjai, ak lausei uns äf thama uhilin» -«Erlöse uns aus den Übeln» - die aber entstehen, wenn man zu stark mit dem Geiste in das Leibliche hinein verfallen würde.

Also im zweiten Teile wird im Grunde genommen ausgedrückt: es soll auf Erden im sozialen Leben solche Ordnung sein, wie oben im Himmel in der geistigen Höhe. Und dann wird noch einmal bekräf­tigt: Wir wollen eine solche geistige Ordnung hier auf Erden an­erkennen: «Unte theina ist thiudangardi jah mahts jah wulthus in aiwins. Amen.»

Alivater, dessen Name die äußere Leiblichkeit des Geistes bildet, dessen Herrschaftsbereich wir anerkennen wollen, dessen Wille walten

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soll, Du, Du sollst auch das Irdische durchdringen, so daß wir unseren Leib täglich werden sehen, neu entstehen sehen gewissermaßen durch die irdische Ernährung. Daß wir im sozialen Leben nicht einer Schuldner des anderen werden, daß wir uns als gleiche Menschen gegenüberstehen. Daß wir nicht mit dem Geistig-Leiblichen verfal­len, daß wir die Trinität des irdischen sozialen Lebens anknüpfen an das Überirdische; denn das Übersinnliche soll herrschen, soll Kaiser und König sein. Nicht ein Sinnliches, nicht ein Persönliches auf Erden, das Übersinnliche soll herrschen.

«Unte theina ist thiudangardi jah mahts jah wulthus in aiwins. Amen.» Denn nicht ein Ding, nicht ein Wesen hier auf Erden, son­dern Dein ist der Herrschaftsanspruch, Dein ist das Machtrecht, Dein ist die Offenbarung als Licht, als Glanz, als aliwaltende soziale Liebe.

Das ist in einer dreifachen Art ausgedrückt diese Trimtät im Über­sinnlichen, wie sie eindringen soll in die sinnliche soziale Ordnung. Und noch einmal, zum Schluß, ist das bekräftigt, indem zugespro­chen wird: Ja, wir wollen es so im sozialen Leben haben, daß da die dreifache Ordnung sei wie oben bei Dir: denn Dein ist der Herrschaftsanspruch, Dein ist das Machtrecht, Dein ist die Offen­barung: «theina ist thiudangardi, jah mahts, jah wuithus in aiwins. Amen.»

Das ist es, was da diesen Goten nachklang, das ist es, was im Hintergrunde waltete, was wie ein Naturhaftes jetzt heraufkam, nach­dem die alte Kultur zu Ende gegangen war. Und aus dem, was da als Naturhaftes heraufgekommen ist, was dann heruntergezogen ist, sich vermischt hat mit dem Bäuerlichen, von dessen Vorstellungen die Geschichte eigentlich so gut wie nichts verzeichnet, was da sich her­ausbildete, nachdem im 4.nachchristlichen Jahrhunderte abgeglom­men ist die alte antike Kultur, an dem, was sich historisch dem Blicke bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts entzieht, an dem hat sich dann entzündet, was sich erst langsam, dann aber im 19. Jahrhundert immer schneller so entwickelte, daß es zu dem großen geistigen Um­schwung führte, den wir heute charakterisiert haben.

So gehören die Dinge zusammen. Es sollte nur ein Beispiel sein, wie man die Tatsachen, ohne sie irgendwie zu vergewaltigen, indem

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man sie in der richtigen Weise zusammensieht, wie man in die geschichtliche Betrachtung hineinbringen kann eine Gesetzmäßigkeit, die dann allerdings nicht eine bloße Naturgesetzmäßigkeit sein kann. Ich wollte Ihnen heute zunächst die Tatsachen, wie gesagt, exoterisch hinstellen; morgen wollen wir dann esoterisch den inneren Zusam­menhang betrachten, um zu sehen, wie eigentlich dieser ganze Zeit­raum europäischer Entwickelung vom 4. nachchristlichen Jahrhun­derte bis in unsere Zeit sich gestaltet, wie er in uns lebt, und wir wollen dann sehen, wie wir durch solches Verständnis erst eine ganz sichere Urteilsgrundlage für unser Wissen und Wirken in der Gegen­wart gewinnen können.

ZWEITER VORTRAG Dornach, Pfingstmontag, 16. Mai 1921

#G325-1969-SE041 Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum

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ZWEITER VORTRAG

Dornach, Pfingstmontag, 16. Mai 1921

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Gestern versuchte ich darzustellen, wie in das verflossene Jahrhundert, unge£ähr in die Mitte, ein radikaler Umschwung des Geisteslebens fällt, und ich versuchte dann weiter zu zeigen, wie die besondere Konfiguration des Denkens, des Geisteslebens überhaupt, die da im 19. Jahrhundert zu beobachten ist und die diesen Umschwung erlebt, zurückführt zu einer anderen radikalen abendländischen Wendung, die wir im 4. nachchristlichen Jahrhundert zu suchen haben. Nun könnte es zunächst scheinen, als ob da sehr weit auseinanderliegende Zeiträume miteinander in ein zu nahes Verhältnis gebracht würden. Allein, gerade diese Betrachtung wird uns auf gewisse innere Zusam­menhänge der Menschheitsgeschichte führen können. Wir werden heute von dem ausgehen, bei dem wir gestern in gewissem Sinne gelandet sind. Bei dem Untergange der antiken Bildung und des Römischen Reiches waren wir gestern angekommen und haben eini­ges, das gerade für jenen Zeitpunkt charakteristisch ist, hervorgehoben.

Wir haben zwei repräsentative Persönlichkeiten vor unsere Seele gestellt, eine Persönlichkeit, die sich ganz herausentwickelt aus dem Südwesten, Augustinus, und wir haben sie verglichen mit einer ande­ren Persönlichkeit und mit der geistigen Strömung, aus der diese her­auswuchs, mit Wulfila> dem gotischen Bibelübersetzer.

Bei Augustinus muß man vor allen Dingen sich darüber klar sein, daß er durchaus ein Kind derjenigen Verhältnisse ist, die sich im Südwesten der europäisch-afrikanischen Zivilisation der damaligen Zeit entwickelt haben. Diejenigen Menschen, die dazumal überhaupt nach einer höheren Bildung strebten, sie fanden diese Bildung nicht anders als dadurch, daß sie zusammengebracht wurden mit dem, was sich seinem Wesen nach in einer gewissen Oberschichte der mensch­lichen Bevölkerung nun seit langer Zeit als eine Weltanschauung und in gewissem Sinne als eine Literatur, eine Kunst, eine Wissen-schaft herausgebildet hatte. Schon dasjenige, was uns bekannt ist als griechische Bildung, ist ja nur dadurch denkbar, daß es das Eigentum

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war einer menschlichen Oberschichte, die ihre gröbere Arbeit, die gröberen Verrichtungen den Sklaven überließ. Und erst recht die römische Bildung ist ohne die weitausgebreitete Sklaverei nicht denk­bar. Es war diese Bildung dadurch lebendig, daß den Menschen, die sie hatten, vor allen Dingen auch das entzogen war, was als Gedanken- und Empfindungsweise waltete in der ganzen breiten Masse der Bevölkerung. Aber man darf sich deshalb nicht vorstellen, daß in dieser breiten Masse der Bevölkerung etwa kein geistiges Leben vorhanden gewesen wäre. Das war durchaus vorhanden. Es war sogar ein außerordentlich starkes geistiges Leben vorhanden, ein geistiges Leben, das sich allerdings mehr wie der Mutterboden, der auf einer früheren Stufe der Entwickelung zurückgebliebene Mutterboden eines geistigen Lebens ausnahm, im Vergleich zu der anderen, der oberschichtigen Bildung, aber eben durchaus als ein Geistesleben.

Dieses Geistesleben ist nun historisch wenig bekannt geworden; es ist aber sehr ähnlich demjenigen, das durch die sogenannten barbari­schen Völker, die durch das Vordringen der asiatischen Bevölkerung ins Wandern gekommen sind, nun in die südlichen Gegenden Euro­pas hineingetragen wird. Man muß versuchen, sich möglichst kon­krete Vorstellungen zu machen von diesem Geistesleben. Wir wollen es einmal versuchen bei den nach dem Römischen Reich vordrin­genden Völkern.

Wenn wir die Völker betrachten, welche als Goten, Vandalen, Lan­gobarden, Heruler und so weiter ins Wandern gekommen waren, so können wir von ihnen sagen: In der Zeit, bevor die Völkerwande­rung begonnen hat, also in der Zeit, die vorangeht dem 4. nach­christlichen Jahrhundert, das für uns einen so wichtigen Wendepunkt bezeichnet, hatten diese Menschen im Osten drüben ein Geistesleben, das in gewissen religiösen Anschauungen gipfelte, die alles durch-drangen, die sich in ihren Verzweigungen, in ihren Empfindungs­folgen bis in die alltäglichen Verrichtungen erstreckten. In gewissen religiösen Vorstellungen, sage ich. Die Völker, die da ins Wandern gekommen waren, waren ja auch, bevor die Völkerwanderung be­gann, schon einmal längere Zeit seßhaft. Während dieses ihres seßhaften

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Zustandes - das kann man nicht nur durch Geisteswissenschaft konstatieren, sondern auch durch die Nachklänge der Sagen und Mythen, die in diesen Völkern lebten - machten sie eben das erst durch, was die orientalischen Völker, die südorientalischen Völker, aus denen dann die indische und die persische Kultur und so weiter hervorgegangen sind, längst in früheren Zeiten durchgemacht hatten, ja, was auch die südeuropäischen und die nordafrikanischen Völker in viel älterer Zeit durchgemacht hatten. Es lebten diese Völker in dem, was man eine Religion nennen kann, die eng zusammenhing mit ihren ganzen Blutsverhältnissen. Was sie verehrten, das waren gewisse Fa­milienahnen. Aber diese Ahnen kamen erst zur Verehrung viele Jahre, nachdem sie hingegangen waren, nachdem sie tot waren; und diese Verehrung gründete sich keineswegs auf irgendwelche abstrakte Vor­stellungen, sondern diese Verehrung gründete sich auf dasjenige, was man instinktiv traumhaft erlebte - wenn man den Ausdruck nicht miliverstehen will -, als traumhaft hellseherische Vorstellungen. Denn es waren gewisse Vorstellungen, die auf ganz andere Weise zustande kamen, als heute unsere Vorstellungen sich bilden. Indem wir heute Vorstellungen hegen, spielt sich unser seelisches Leben unabhängig von unserer Leibeskonstitution ab. Wir spüren dabei nicht mehr das Brodeln und Kochen der Leibeskonstitution. Diese Völker, sie hatten ein gewisses intensiv nach innen gerichtetes Empfinden für das, was sich in ihrem Leibe abspielte, in das naturhaft hineinwirkten alle mög­lichen Weltengeheimnisse. Denn nicht nur in der chemischen Retorte wirken die Weltenvorgänge gesetzmäßig, sondern eben auch im menschlichen Leibe. Und wie heute der Chemiker durch seinen ab­strakten Verstand aus den Vorgängen in der Retorte zu erkennen versucht die Weltengesetze, so versuchten diese Menschen durch das, was sie innerlich erlebten, durch ihren eigenen Organismus, des­sen innere Vorgänge sie empfanden, in die Weltengeheirntüsse einzu­dringen. Es war durchaus ein inneres Erleben, aber ein inneres Erle­ben, das eng noch mit den körperlichen Vorstellungen zusammen-hing. Und aus diesen durch das innere Kochen des Organismus her­vorgerufenen Vorstellungen entwickelten sich heraus die Anschauun­gen, die Bilder, die bezogen wurden von diesen Menschen auf die

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Ahnen. Die Ahnen waren gewissermaßen diejenigen, deren Stimmen durch die Traumgebilde noch jahrhundertelang gehört wurden. Die Ahnen waren die Herrscher der durchweg in kleinen Gemeinden, in Dorfgemeinden lebenden Völkerschaften. Diese Art der Ahnenver­ehrung, einer Ahnenverehrung, die lebendig war durch traumhaftes Vorstellen, hatten diese Völkerschaften noch, als sie herüberzogen von dem Osten Europas nach dem Westen. Und wenn wir auf die Lehrer hinschauen, auf die Priesterschaft dieser Völker, wodurch sich uns eine weitere Eigentümlichkeit ihres Geisteslebens kundgeben kann, so finden wir diese Priesterschaft vor allen Dingen durch den fort­geschrittenen Geist, den einzelne hatten, die eben solche Priester oder Lehrer wurden, dazu berufen, auszulegen, was den einzelnen Men­schen in ihren Traumbildern erschien, die aber durchaus das wache Tagesbewußtsein durchzogen. Deuter, Interpreten desjenigen, was der einzelne erlebte, das waren diese Priester.

Nun kamen diese Völker ins Wandern. Während ihrer Wander­schaft war das ihre große geistige Wohltat, daß sie in dieser Weise ein innerlich hellseherisches Geistesleben hatten, das ihnen von ihren Priestern interpretiert wurde. Dieses Leben hat sich niedergeschlagen in Sagen, die namentlich in der slawischen Welt noch vorhanden sind, die gewissermaßen in der slawischen Welt sich überliefert haben, und denen man es noch ansieht, daß sie enthalten, was ich jetzt kurz, allerdings skizzenhaft, dargestellt habe.

Nun kamen aber bald nach dem 4. Jahrhunderte diese Völkerschaf­ten wiederum zur Seßhaftigkeit. Einzelne verschwinden in der Be­völkerung, die unten im Süden, auf den südlichen Halbinseln längst seßhaft war, in dem Teile der Völkerschaften, die die Unterschichte bildeten. Denn die Oberschichte wurde ja gerade in der Augustini­schen Zeit sozusagen weggefegt. Aber sie verschwanden dort. Goten unter anderem verschwanden dort. Diejenigen aber, die namentlich die mitteleuropäischen Länder, die den Westen bevölkerten, diejenigen, die dann im nördlichen Teil des südlichen Europas sich ansiedelten, die verblieben, die bekamen wiederum feste Wohnsitze.

Und so sehen wir, daß nach dem 4. Jahrhunderte dieses Feste-Wohnsitze-Bekommen eine wesentliche Eigentümlichkeit dieser eingewanderten

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Bevölkerung ist. Und nun ändert sich das ganze Geistes­leben dieser Bevölkerung dadurch, daß eben feste Wohnsitze auf-geschlagen waren. Es ist sehr merkwürdig, wie radikal sich dadurch das geistige Leben ändert, allerdings auch durch die besondere Ver­anlagung, welche diese Menschen hatten. Diese Menschen hatten ja eine besondere Rassen-, eine besondere Volksveranlagung in sich, sie hatten in sich noch in einer viel größeren Frische dasjenige Emp­finden, das in Träumen leben und in Träumen geistige Wirklichkeit erleben wollte, etwas, was in den südlichen Gegenden längst in andere Formen des geistigen Lebens sich verwandelt harte. Aber seßhaft wur­den sie, und auch durch ihre besondere Veranlagung bildete sich jetzt als geistiges Leben etwas anderes bei ihnen aus. Was sich früher aus­gelebt hatte im Heraufschauen zu den Ahnen, was ihnen die Bilder verehrter Vorfahren vor die Seele zauberte, das heftete sich jetzt an die Orte.

Da, wo irgendein besonderes Waldesdickicht war, wo Berge waren, die meinetwillen besondere Metallschätze enthielten, wo irgendwelche Orte waren, von denen aus man die Stürme besonders beobachten konnte und dergleichen, da fühlten und empfanden diese Menschen mit jenem tiefen Fühlen und Empfinden, das ihnen von ihren alten Ahnenvorstellungen an Träumereien geblieben war, etwas Heiliges gegenüber gewissen Orten. Und dasjenige, was Ahnengöttey waren, das wurden Lokalgötter, Ortsgötter. Es heftete sich dasjenige, was Ortsgötter waren, an die Empfindungen, an die ganze innere Seelen-verfassung, die sie mitgebracht hatten von der Verehrung der Ahnen her. Ich möchte sagen, die religiösen Vorstellungen verloren den Zeitcharakter und nahmen einen Raumescharakter an. Diejenigen, die früher Interpreten waren der Träume, die Interpreten waren der inneren Erlebnisse des Seelenwesens, die wurden jetzt die Pfleger dessen, was man nennen könnte die Zeichen. Das besondere Sich­Spiegeln der Sonne in diesem oder jenem Quellsturz, in sonstigen Naturerscheinungen, Erscheinungen des Wolkenganges in bestimm­ten Talgegenden und so weiter - ich brauche diese Dinge ja nur an­zudeuten -, die wurden jetzt der Gegenstand der Interpretation, etwas, was sich dann direkt umsetzte in das Runenwesen. Dazu nahm man

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an besonderen Orten Stäbe vom Holz gewisser Bäume, und indem man sie hinwarf und dadurch besondere Figuren entstanden, konnten die Pfleger die Zeichen deuten, die da entstanden waren. Die ganze Zeitenreligion verwandelte sich in eine Raumesreligion. Das ganze Geistesleben wurde ein lokales Geistesleben. Dadurch aber wurden diese Völkerschaften immer mehr und mehr fähig, in derselben Weise behandelt zu werden, wie die römisch-katholische Kirche, seit sie im 4. Jahrhunderte Staatskirche geworden war, sich angewöhnt hatte, die untere Schlchte der südlichen Völkerschaften zu behandeln, die übrig­geblieben waren, nachdem die obere Schlchte hinweggefegt war.

Und was hat die Kirche getan? In diesen südlichen Gegenden war längst die Zeit vorbei, die die von Norden einwandernden Völker durchmachten. Da war schon in alten Zeiten der Übergang von der Zeitenweltanschauung in die Raumesweltanschauung vollzogen wor­den. Und immer geschieht eines, wenn die Zeitenweltanschauung sich in die Raumesweltanschauung umwandelt. Da geschieht eines, was von außerordentlicher Bedeutung ist. Dabei geschieht es, daß übergeht ein gewisses lebendiges Erleben in ein symbolisch-kultisches Erleben. Das hatte sich schon für die untere Schichte der Bevölke­rung in südlicheren Gegenden im Verhältnis zu der in nördlichen Gegenden längst vollzogen. Solange die Menschen in ihren Zeiten-vorstellungen leben, sind die Priester, sind diejenigen, die man im alten Sinne Gelehrte nennen kann, Interpreten des entsprechenden Seelenlebens. Da befassen sich die Priester damit, den Menschen aus­zulegen, was diese Menschen erleben. Sie konnten das, weil die Men­schen eigentlich nur in kleinen Dorfgemeinden lebten und derjenige, der in gewissem Sinne der Ausleger war, der Leiter des ganzen Geisteslebens überhaupt war, sich an die einzelnen oder an kleine Gruppen wenden konnte. In dem Zeitpunkte aber, wo dann diese Zeitenweltanschauung übergeht in die Raumesweltanschauung, da wird dieses lebendige Element mehr zurückgedrängt. Der Priester kann nicht mehr hinweisen auf dasjenige, was der einzelne erlebt hat, auf das, was ihm der einzelne erzählt und ihm das deuten. Es ver­wandelt sich, was auf diese Weise lebendig ist, in dasjenige, was an den Ort und die Lokalität angeschlossen werden kann. Und dadurch

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entsteht allmählich die symbolische Ausbildung, die bildhafte Aus­gestaltung dessen, was von den übersinnlichen Welten früher lebendig erlebt worden war. Das also verwandelt sich in etwas, das sich nun­mehr in Kultbandlungen, in symbolischen Handiungen vollziehen sollte.

Und dann wiederum beginnt die Entwickelung von der anderen Seite. Jetzt sieht der Mensch die Symbolik, und er deutet wiederum die Symbolik aus. Was die römisch-katholische Kirche als Kultus aus­gebildet hat, ist mit einer genauen Kenntnis dieses welthistorischen Ganges der Menschheitsentwickelung ausgebildet worden. Der Über­gang der alten Abendmahlsfeste in das Meßopfer ist dadurch entstan­den, daß dasjenige, was lebendiges Abendmahl war, sich in die symbolische Handiung, in das Meßopfer umgestaltet hat. In dieses Meßopfer waren zwar uralt heilige Mysterienbräuche aufgenommen worden, die sich fortgepflanzt hatten, und die nun auch in die Unter­schichten der Bevölkerung hinunterflossen. Sie waren jedoch durch­setzt mit demjenigen, was das Christentum an neuen Anschauungen gebracht hatte. Sie wurden gewissermaßen durchchristet. Die Unter­schichte der römischen Bevölkerung gab ein gutes Material ab für ein solches Herausholen der Kulthandlungen, die nun symbolisch die übersinnliche Welt darstellen sollten. Und als die nördlichen Völker­schaften übergegangen waren zum lokalen geistigen Leben, da konn­ten diese Kulthandlungen auch unter sie verpflanzt werden, da fingen sie an, ihnen Verständnis entgegenzubringen. Darauf beruht zunächst die eine Strömung, die von diesem 4. nachchristlichen Jahrhunderte ausgegangen ist.

Die zweite Strömung, die mit der ersten lange Zeit parallel lief, die muß in anderer Art charakterisiert werden. Wir erleben gewisser­maßen in dem, was ich Ihnen geschildert habe, was sich da vom Osten gegen das untergehende Römische Reich herüberwälzte, noch durchaus bemerkbar, wie darinnen dieser alte Ahnenkultus forlebte. In dem Vaterunser, wie ich es Ihnen gestern dargelegt habe, da zeigt sich das. Da ist bei diesen wandernder Völkerschaften das Christentum durchaus noch in die Ahnen- und in die Lokalreligion hinein aufgenommen worden. Und das ist gerade das Wesen des

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arianischen Christentums. Der dahinterstehende Dogmenstreit ist we­niger wichtig. Wichtig für dieses arianische Christentum, das mit den Goten, mit den anderen gerraanischen Völkerschaften vom Osten nach Westen zog, ist, daß da das Christentum auf einem Wege, der noch nicht über Rom ging, eingetaucht worden ist in ein solches lebendiges, noch nicht bis zum Kult gekommenes Leben, in ein lebendiges Geistesleben, das, wie gesagt, anknüpfte an die Traum-erlebnisse, an die heliseherischen Erlebnisse, wenn der Ausdruck nicht mißverstanden wird.

Dagegen dasjenige Christentum, das Augustinus erlebte, das war durchgegangen durch die Bildung der Oberschichte der südländischen Bevölkerung. Und diesem Christentum, dem standen gegenüber alle möglichen orientalischen Kulte, alle möglichen orientalischen Reli­gionsvorstellungen, welche im großen Rom zusammenfiossen. Aus diesen Religionsvorstellungen heraus war Augustinus als Heide er­wachsen, und er hatte sich von ihnen aus in der Art, wie ich das gestern charakterisiert habe, dem Christentum zugewendet. Er steht in einer Geistesströmung drinnen, welche in einer ganz anderen Art erlebt wurde von den einzelnen Persönlichkeiten als die Art, die ich eben charakterisiert habe als eine gewissermaßen volkstümliche, die aus den elementarsten Kräften des Volksseeleniebens heraufkam. Die Geistesströmung, die Augustinus erlebte, war eine vielfach filtrierte und als solche in die obere Schichte hinaufgestiegen. Sie wurde nun vom römisch-katholischen Priestertum übernommen und konserviert. Wiederum ist deren Inhalt für den Fortgang der Weltgeschichte viel weniger wichtig als die Konfiguration dieser ganzen Seelenverfassung, die zuerst die römisch-griechische Bildung war, dann durch Auf­nahme des Christentums die Bildung des christkatholischen Klerus, der christkatholischen Priesterschaft geworden ist. Man muß sie sich ansehen, diese Bildung, wie sie war, und wie sie dann fortgelebt hat durch die Jahrhunderte. Wenn wir auf unser heutiges Bildungswesen schauen, so ist das eben etwas Zurückgebliebenes von dem, was dazumal eigentlich Bildung war. Nachdem man damals die ersten elementarsten Kenntnisse, was wir heute den allerersten Volksschul­unterricht nennen, absolviert hatte, kam man in die sogenannten

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Grammatikklassen. Diese Gramrnatiklllassen, die überlieferten einem zunächst den Bau der Sprache. Man lernte in ihnen die Sprache in der richtigen Weise gebrauchen, so wie sie die Dichter, wie sie die Schriftsteller gebraucht hatten. Man eignete sich dann alles andere an, was an Wissenschaften nicht geheimgehalten wurde, denn vieles wurde eben in jenen Zeiten von gewissen Geheimschulen an Wissen­schaft noch geheimgehalten. Was nicht geheimgehalten wurde, wurde durch die Gramatikklassen überliefert, aber durch Vermittlung des sprachlichen Elementes. Und wenn jemand zu einer höheren Bil­dungsstufe kam, wie zum Beispiel Augustinus, dann trat er über aus dem grammatischen Lernen in das rhetorische Lernen. Da kam es darauf an, daß man vor allen Dingen zu einer gefälligen symboli­schen Ausdrucksweise kam, daß man lernte, Perioden in der richtigen Weise zu bilden, daß man namentlich lernte, Perioden zu einem ge­wissen Ziele zu bringen. Darinnen bestand die Fähigkeit, die sich anzueignen hatte, wer dazumal eben überhaupt nach Bildung strebte.

Man muß einen Sinn dafür haben, was gerade eine solche Bildung im Menschen heranentwickelt. Der Mensch wird durch die bloße grammatische und rhetorische Bildung in einer gewissen Beziehung an die Oberfläche seines Wesens gebracht; viel mehr, als daß er etwa dem Denken obliegen wurde, legt er sich hinein in dasjenige, was durch seinen Mund ertönt. Er richtet sein Augenmerk viel mehr auf den Bau der Sprache als auf das Gefüge der Gedanken. Und das war durchaus das Charakteristikon dieser alten Bildung, daß nicht auf das innere Seelenerleben als solches gesehen wurde, sondern auf den Bau der Sprache, auf die Gestaltung der Sprache, auf das Wohlgefällige, das sich ausdrückt in der Sprache. Kurz, der Mensch veräußerlichte sich in dieser Bildung. Und im 4. Jahrhundert, während Augustinus, wie wir heute sagen würden, studierte, kann man durchaus merken dieses Veräußerlichen, dieses Leben im Worte, in der Wortwendung, in der Ausdrucksform. Grammatik und Rhetorik war dasjenige, was man zu lernen hatte. Und das hatte seinen guten Grund. Denn, sehen Sie, das, was wir heute unter intelligentem Denken verstehen, das gab es dazumal nicht. Es ist ein Aberglaube, der in der Historie der Menschheit wuchert, der darin besteht, daß man meint, es sei von den

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Menschen immer so gedacht worden, wie heute gedacht wird. Nein, das ist nicht der Fall. Das Denken, noch bis ins 4. Jahrhundert, das ganze Denken der griechischen Zeit war anders geartet. Gewisse Intimitäten der Sache habe ich in meinen «Rätseln der Philosophie» dargestellt. Der Gedanke wurde nicht durch aktive innere Seelentätig­keit ausgeheckt, wie das bei uns heute der Fall ist, sondern der Gedanke kam selber wie ein Traum über die Menschen. Insbesondere im Oriente war das der Fall, und was als orientalisches Geistesleben auch noch Griechenland angeregt hat, auch noch Rom angeregt hat, das war nicht durch Denken erobert; das war so gekommen, auch wenn es Gedanke war, wie Traumbilder kommen. Und eigentlich unterschieden sich die gelehrten Menschen der orientalischen und südeuropäischen Gegenden von den nördlichen Menschen, die ich Ihnen vorhin geschildert habe, nur dadurch, daß den nördlicheren Menschen diejenigen Bilder kamen, die ich charakterisiert habe, die zuerst Ahnenvorstellungen hervorriefen, dann sich an gewisse Lokali­täten angliederten und mehr oder weniger dann kultisch bildhaft wur­den. Diejenigen Vorstellungen, die sich in Asien, in Südeuropa bilde­ten, waren schon gedankenhaft, aber sie waren nicht Gedanken, durch innere Seelenarbeit, durch innere Intelligenz errungen, sondern innerlich geoffenbarte Gedanken. Man erlebte dasjenige, was man Erkenntnis nannte, und erarbeitete sich nur das Wort, den Satz, die Rede. Man arbeitete nicht in Logik. Logik kam erst durch Aristoteles herauf, als das Griechentum schon im Untergange war. Und was da in der Schönheit der Sprache, in der Rhetorik sich auslebte, das war im wesentlichen römische Bildung, und diese war auch die Bildung des christkatholischen Christentums geworden.

Diese Art, gewissermaßen nicht in sich zu leben, sondern in einem äußerlichen Element, die drückte sich schon aus in der Bildung, die man sich aneignete. Und man kann ganz genau sehen, wie gerade Augustinus auch nach dieser Richtung eine repräsentative Persönlich­keit wird. Charakteristisch in dieser Beziehung sind die Briefe, die sich Hieronymus und Augustinus geschrieben haben, aus denen man sieht, wie diese Leute im 4. nachchristlichen Jahrhundert oder am Beginne des 5. eigentlich anders miteinander diskutierten, als wir heute diskutieren.

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Wenn wir heute diskutieren, dann haben wir das Gefühl, daß wir aus einer gewissen Aktivität des Denkens heraus arbeiten. Wenn die Leute des 4., 5. Jahrhunderts miteinander diskutieren, dann hat der eine das Gefühl: Ja, ich habe mir eine Ansicht gebil­det über einen gewissen Punkt, aber vielleicht gibt mein Organis­mus nicht das Richtige her. Ich will den anderen hören; aus seinem Organismus kann vielleicht etwas anderes aufsteigen. -Es ist ein viel realeres Element inneren Erlebens, in dem diese Menschen drinnenstehen. Aber was so nach der einen Seite eine Folge hat, das zeigt sich wiederum in dem Verhalten des Augu­stinus bei seiner Verurteilung der Häretiker der verschiedensten Sor­ten. Da sehen wir, wie aus dem alten, noch lebendigen Elemente, namentlich aus dem lebendigen Volkstum aufsteigend, sich Leute heraufentwickeln wie die Priester der Donatisten, wie Pela&ius> die Pelagianer, wie einige andere noch. Wir sehen, wie diese Leute, trotz­dem sie glauben, absolut Christen zu sein, geltend machen, daß es ja aus dem Menschen heraus kommen müsse, was sein Verhältnis zur Gerechtigkeit, zur Sünde und so weiter sei. Und so sehen wir eine ganze Reihe von Leuten, welche zum Beispiel nicht glauben können, daß es einen Sinn habe, die Kinder zu taufen und ihnen damit Ver­gebung der Erbsünde zu erwirken. Wir sehen, wie das gegenüber dem von Rom ausgehenden Christentum eingewendet wird; wir sehen, wie der Pelagianismus Ausbreitung gewinnt, wie Augustinus aber durch­aus als ein richtiger Vertreter des christlich-katholischen Elementes sich gegen solche Anschauungen wendet. Er wendet sich gegen eine solche Auffassung der Erbsünde, die etwas zu tun hat mit der menschlichen Subjektivität. Er wendet sich dagegen, daß überhaupt aus den individuellen menschlichen Impulsen heraus die Zugehörig­keit zur geistigen Welt oder zum Christus kommen könne. Er arbeitet darauf hin, daß die Kirche allmählich aufgehe in der äußeren Insti­tution. Es kommt nicht darauf an, was da in dem Kinde steckt, sondern es kommt darauf an, daß die Kirche besteht als äußere Ein­richtung. Nicht darauf kommt es an, daß die Taufe etwas bedeutet für die Seele, für das Erlebnis der Seele, sondern darauf kommt es an, daß eine äußere Kircheneinrichtung da ist, durch welche die

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Taufe vollzogen wird. Was der Mensch seelisch wert ist, der da drinnensteckt im Leibe, darauf kommt es weniger an, als daß sich der allgemeine Geist ausbreitet, der in dem Sakramente lebt, das sich gewissermaßen als ein abstraktes Sakrament ergießt über die Menschheit. Der einzelne Mensch spielt keine Rolle, sondern das­jenige, was sich als eine Summe, ein System, ein Gewebe von ab­strakten Dogmen und Vorstellungen über den Menschen erstreckt. Außerordentlich gefährlich erscheint es auch Augustinus, wenn ge­glaubt wird, daß etwa der Mensch erst vorbereitet, daß seine Seele reif gemacht werden müsse und er dann erst die Taufe empfangen solle. Denn darum handelt es sich nicht, was der Mensch in seinem Inneren will, sondern darum handelt es sich, daß der Mensch ein­gefügt werde dem Reiche Gottes, das, abgesehen vom Menschen, objektiv existiert. Und das ist im wesentlichen das Milieu, in dem athanasianisches Christentum lebt, im Gegensatz zu dem anderen, das vom Nordosten her kommt und das in gewissen volkstümlichen Elementen lebt. Aber die Kirche hat es verstanden, dasjenige, was da abstraktes Element war, in die Kultformen zu kleiden, die wiederum von unten aufstiegen. Damit hat sich die Kirche die Mög­lichkeit geschaffen, in diesem europäischen Elemente, aus dem die antike Bildung zunächst weggefegt war, ihre Ausbreitung zu gewrn­nen. Und namentlich hat sie diese Ausbreitung gewinnen können da­durch, daß sie die breiten Kreise des Volkes im Grunde genommen aus der eigentlichen religiösen Substantialität und aus der Bildungs­substantialität ausgeschlossen hat. Eine ungeheure Bedeutung hat es auch, daß die Substantialität des Christentums durch die folgenden Jahrhunderte so fortgepflanat wird, daß dazu die lateinische Sprache dient, und dies gerade vom 4. nachchristlichen Jahrhundert ab. Wir sehen gewissermaßen eine Strömung hinfluten über den Köpfrn der Menschen im Grunde genommen bis ins 15. Jahrhundert hinein. Denn, was die Geschichte gewöhnlich erzählt, sind ja nur die äußeren Aus-gestaltungen dessen, was sich da in den Seelen der Menschen voll­zogen hat. Man kann sagen: In einem viel höheren Sinne, als jemals Geheimiehren in antiken Geheimschulen geheimgehalten worden sind, ist das Christentum geheimgehalten worden, namentlich bis in das 11.,

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12. Jahrhundert, von denen, die es ausgebreitet haben. Denn nur die äußere Kultussymbolik, die drang hinunter in das Volk. Und das, was sich fortpflanzt, was aber auch gleichzeitig alle Wissenschaft, die von der Antike heraufkam, für sich in Anspruch nahm und sie in das lateinische Sprachgewand kleidete, das war die Kirche, die Kirche als etwas, was über der eigentlichen Menschheitsentwickelung schwebte. Und alle Jahrhunderte, vom 4. bis zum 14., stehen eigentlich in dem Zeichen dieser beiden Parallelströmungen. Die äußere Geschichte, auch die Geistesgeschichte, sie verzeichnen traditionell im Grunde genommen nur das, was, ich möchte sagen, mehr in die Öffentlich­keit heraussickert aus der lateinisch-kirchlichen Strömung. Daher be­kommen die Menschen aus der heutigen Geschichtsschreibung kaum eine Vorstellung von dem, was sich in den breiten Massen abgespielt hat.

Was sich in diesen breiten Massen abgespielt hat, das ist etwa so vorzustellen: Zunächst hatten sich wirklich nur Dorfgemeinden gebil­det, und das ganze mittlere Europa, westliche Europa und auch das südliche Europa war so besiedelt, daß die Städte zunächst eine ge­ringe Rolle spielten. In kleinen Gemeinden, in Dorfgemeinden ent­wickelte sich das hauptsächlichste Leben. Und während sich dieses Leben in Dorfgemeinden bildete - was damals an Städten bestand, waren ja im Grunde genommen nur größere Dorfgemeinden -, da breitete sich in den größeren Dorfgemeinden, wie ich geschildert habe, über die Köpfe der Menschen hinweg, aber durch den Kultus suggestiv auf die Menschen wirkend, die christkatholische Kirche aus; die Menschen aber, die nur die symbolischen Handlungen sahen, die Menschen, die am Kultus teilnahmen, die aufblicken konnten zu dem, was sie nicht verstanden, die entwickelten für sich dennoch ein geistiges Leben. Ein reiches Geistesleben entwickelte sich dazumal durch Europa, ein Geistesleben, das vor allen Dingen unter dem Einflusse der Natur der Menschen selber stand. Im Grunde genommen etwas ganz anderes war die Teilnahme dieser Dorf­gemeindemenschen an der Ausbreitung der christkatholischen Lehre. Alle die Dinge sind in einem falschen Lichte dargestellt worden, wie sie etwa an die Person des Bornfatius angeknüpft werden oder dergleichen. Das aber, was sich in diesen Dorfgemeinden abspielte,

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das war ein inneres Seelenieben, ganz durchzogen von den Nachklän­gen der Deutungen des Lokalgöttlichen oder des Lokalgeistigen. Überall sah man Andeutungen von dem oder jenem. Ein zauberi­sches Leben entwickelte sich in den Menschen. Überall lebte der Mensch ahnungsvoll und erzählte seinen Mitmenschen von seinen Ahnungen. Die Ahnungen lebten sich aus in Sagen oder in geheim­nisvollen Andeutungen von dem, was der eine da oder dort geistig erlebt hatte während seiner Arbeit und dergleichen mehr.

Aber ein merkwürdiges Element durchzieht diese Überreste des alten Ahnens und heliseherischen Traumiebens, das sich durchaus in den Dorfgemeinden fortpflanzte, während die katholische Lehre über den Köpfen hinüberzog, ein Merkwürdiges lebte sich da aus, aus dem man erkennen kann, wie eigentlich die menschliche Organisation über Europa hin an diesem eigentümlichen Geistesleben beteiligt war. Es lebte sich da etwas aus, das nach zwei Richtungen hin die innere Seelenverfassung in einer ganz besonderen Art zeigt. Erstens, wenn die Leute die wichtigsten ihrer Ahnungen, die wichtigsten ihrer Träume, die aber immer an Lokalitäten anknüpften, aussprachen, wenn sie schilderten, was sie da im halbwachen oder im schlafenden Zustande erlebt hatten, dann hing das immer mit Erlebnissen zusam­men, mit Fragen, die ihnen aus der geistigen Welt heraus gestellt wurden, oder auch mit Aufgaben, die ihnen gegeben wurden, oder mit Dingen, wo ihre Klugheit eine Rolle spielte. Man sieht aus der ganzen Art, wie die Erzählungen sind, die auf dem Grunde des Volkes noch im 19. Jahrhundert zu eruieren waren, wie die Men­schen, wenn sie ins Sinnen und Träumen kamen und ihre legenden-haften Sagen und ihre mythenhaften Dinge ausbildeten, wie da von den drei Gliedern des Menschen eigentlich noch nicht so stark das Nerven-Sinnessystem wirkte, das mehr der Außenwelt zugekehrt ist, sondern es wirkte das rhythmische System. Und indem das rhyth­mische System aus der Organisation der Leute heraus besonders an­gespornt war, entstand in diesen hellseherischen Träumen, die im Dorfe von Mensch zu Mensch erzählt wurden, das, womit sich die Leute Schauer oder auch Freude und Genuß und Schönheit gegen­seitig mitteilten. In alledem lebte immer etwas von dem Feineren der

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Fragestellungen, die aus der geistigen Welt heraus kamen. Die Leute mußten Rätsel lösen im Halbtraume, kluge Handlungen ausführen, mußten etwas überwinden und dergleichen. Immer ist etwas Rätsel­haftes da drinnen in diesem Traumesleben, das sich da entwickelte.

Das ist die physiologische Grundlage des sich weiter ausdehnen­den geistigen Erlebens dieser Menschen, die noch in Dorfgemeinden lebten, in deren Erleben sich allerdings auch hineinerstreckten die Taten, die ihnen die Geschichte erzählt, von Karl dem Großen und anderen. Aber das sind Dinge, die sich ja nur an der Oberfläche des Eriebens abspielen, die allerdings tief eingreifen in die einzelnen Schicksale, die aber nicht die Hauptsache sind. Die Hauptsache spielt sich in Dorfgemeinden ab, und da entwickelte sich neben dem wirt­schaftlichen Leben bei den Menschen ein Geistesleben, wie ich das heute andeutete. Und dieses Geistesleben geht im Grunde fort bis ins 9., 10., 11.Jahrhundert. Allerdings ffießt allmählich einiges von dem, was sich in den Köpfen der Menschen der Oberschichte entwickelt hat, auch in die Unterschichten hinunter, indem sich zusammen-gestaltet, was da in gespenstisch-zauberisch anmutender Weise aus den Erzählungen der Menschen herauskommt und zusammenffießt mit dem Christus und den Taten des Christus, und es wird auch zuweilen übertönt, was von den Menschen selber kommt, von dem, was aus der Bibel, aus den Evangelien kommt. Dann aber sehen wir, wie zu­nächst in das soziale Denken aufgenommen wird, was das christliche Element ist. Wir sehen es am «Heliand» und an anderen Dichtun­gen, die aus dem Christentum heraus entstanden sind, die aber immer eigentlich von Geistlichen in das Volk hineingetragen werden, wäh­rend das Volk den Geistlichen entgegenträgt das eigene Geistesleben, von dem ich gesprochen habe.

Nun, wenn wir dann ins 10., 11. Jahrhundert kommen, dann aller­dings sehen wir das äußere Leben verändert. Wir sehen, wie schon früher, aber in dieser Zeit besonders stark sich das Leben in den Städten konzentriert. Das Leben, das ich geschildert habe, dieses bild­hafte wache Träumen, das ist etwas, was durchaus an das Land ge­bunden ist. Als sich dann so im 9., 10., 11., 12.Jahrhundert all­mählich die größeren Städte über das ganze Gebiet, das ich in dieser

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Weise charakterisiert habe, hinerstreckten, da konzentrierte sich in den Städten auch eine andere Art des Denkens. Die Menschen in den Städten dachten anders. Sie waren entfernt von den Orten, in denen sich die Lokalreligionen entwickelt hatten. Sie waren wiederum mehr auf das Menschliche angewiesen. Allein, dieses Menschliche, das in den Städten sich entwickelte, das war ja dennoch in einer gewis­sen Weise unter dem Einflusse des eben Geschilderten, denn in den Städten siedelten sich ja gewisse Menschen aus den früheren Dorf-gemeinschaften an, und solche, die besondere Geistesaniagen hatten, sie brachten immerhin noch einiges mit. Und was sie mitbrachten, war ein inneres Leben der Persönlichkeit, das einen Nachklang dar­stellte dessen, was auf dem Lande erlebt wurde, das aber jetzt mehr in einer abstrakten Form zum Vorscheine kam. Die Menschen, die ab­geschlossen waren von dem Naturdasein und daher nicht mehr in lebendiger Weise dieses Naturdasein mitmachten, die hatten zwar noch die Gedankenformen aus diesem Naturdasein, aber sie ent­wickelten schon mehr jene Art des Denkens, die nach und nach auf Intelligenz hinausläuft. In den Städten, zunächst im 11., 12., 13. Jahr­hunderte, entwickelten sich vorerst Spuren derjenigen Intelligenz, die wir dann im 15.Jahrhundert bei der tonangebenden europäischen Bevölkerung herauskommen sehen. Aber in den Städten vermischte sich wiederum, weil das Leben abstrakter wurde, in einer innigen Weise das, was da herauswuchs aus dem Volkstum, mit dem abstrak­ten, in die lateinische Sprache gekleideten Elemente der Kirche.

Und so sehen wir, wie in den Städten sich dieses lateinische Wesen in immer stärkerer und immer abstrakterer Form ausbildete. Wir sehen dann, wie die großen, ich möchte sagen, Explosionen des Volkstums von unten heraufschlagen in den verschiedensten Gegen­den. Ein großer, gewaltiger Sturm ist das Eintreten Dantes von dem Volkstume aus, auf dem Umwege durch seinen Lehrer, in die Welt der Bildung hinauf. Aber auch das ist im Grunde genommen etwas, was neben vielen anderen Erscheinungen aus dem Volkstum herauf-steigt, und was nur durch die besondere Art und Weise, wie sich lateinisch-romanische Bildung in den Städten zusammengefunden hat mit dem Volkstum, so wurde, wie es heraufkam.

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Wir dürfen nun nicht vergessen, daß in dasjenige, was sich da abspielte, noch andere Strömungen hineinkamen. Das ist ja richtig, daß die hauptsächlichste Strömung des geistigen Lebens, von der das übrige geistige Leben sozusagen getragen wurde, die Fortsetzung war der Geistesrichtung, in der Augustinus gelehrt hat. Diese be­herrschte schließlich alles in den Städten, nicht nur die Bischöfe, die das geistige Leben, wenn auch in abstrakter Form und über dem Volkstum stehend, doch ihrerseits beherrschten, sondern diese Gei­stesrichtung, die ja auf ihrem Wege auch alles mitnahm, was aus der Konstitution des Römischen Reiches stammte, beherrschte schließlich auch die Verwaltung. In der Folge bildete sich der Bund heraus zwischen Verwaltungsbeamten und Priesterschaft, die ja im 11. und 12. Jahrhundert besonders mächtig war. Wir sehen, wie andere Ereig­nisse herausleuchten aus diesem Strome, wie die Kreuzzüge ent­stehen, die ich Ihnen nicht zu schildern brauche, weil ich ja haupt­sächlich auf das Wert legen möchte, was in der äußeren Geschichte verfälscht wird. Aber viel zu wenig gewürdigt werden andere Strö­mungen, die auch vorhanden waren.

Sehen Sie, da ist zunächst eine Strömung, die eigentlich getragen wird vom Handel, der doch im Grunde genommen immer lebendig war in Europa, zeitweise auch die Donau entlang nach dem Oriente hinüber. Menschen kamen dadurch immer handelnd hin und her, namentlich in der Mitte des Mittelalters. Da wurden orientalische Vorstellungen, allerdings in stark dekadentem Zustande, nach Europa herübergebracht. Und derjenige, der ja vielieicht selber gar nicht im Oriente war, sondern nur mit Leuten vom Oriente gehandelt hatte, der brachte den Leuten nicht nur Spezereien und Gewürze ins Haus, sondern auch geistiges Leben. Das war aber in der Regel etwas, was nuanciert war von dem Orientalischen Durch ganz Europa ging dieser Zug durch. Er dehnte seine Wirkungen weniger auf die­jenigen aus, die in der lateinischen Sprachform die Bildung verbrei­teten, weit mehr aber auf alle, die vom Lateinischen nichts verstan­den, die unten in den breiten Massen des Volkes waren. In den Städtern und in den draußen gebliebenen Dörflern, da nistete sich ein, was lebendiger Geistverkehr mit dem Oriente war. Und das waren

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nicht etwa bloß abenteuerliche Erzählungen, die sich da einnisteten, das war ein durchaus die Menschen tief ergreifendes geistiges Leben. Und wollen Sie solche Gestalten wie später Jakob Böhme, wie Para­celsus, wie zahlreiche andere sind, verstehen, dann müssen Sie darauf Rücksicht nehmen, daß diese auftauchen noch aus denjenigen Volks­massen, die sich entwickelt hatten ohne das Verständnis für die über die Köpfe hinweggehende lateinische Bildung, die aber durchdrun­gen wurden in einer gewissen Weise vom Orientalischen Alles das, was sich da als volkstümliche Alchimie, Astrologie, Deutung des Lebens überhaupt ausgebildet hatte, das war zusammengeflossen aus dem, was ich früher geschildert habe als innere Erlebnisse der Men­schen, der Rätsel, die sie erzählten in wachen Träumen, und aus dem­jenigen, was herübergetragen war an dekadentem orientalischem Geistesleben.

Innerhalb des lateinischen Wesens hatte sich ebensowenig irgend etwas geltend machen können, das denken wollte. Man möchte sagen, wie ein Meteor war die Logik des Aristoteles aufgetreten. Wir sehen noch Augustinus wenig von dieser Logik berührt. Vom Griechischen wendete man sich überhaupt ab mit dem 4. Jahrhundert; und später hat der Kaiser Justinian ja die Philosophenschule in Athen schließen lassen, hat dazu beigetragen, daß Orig enes, der noch vieles mit in das Christentum gebracht hat, was orientalische Bildung war, was ehe­maliges Geistesleben war, unter die Ketzer versetzt worden ist. Und die griechischen Philosophen wurden vertrieben. Was sie von Aristo­teles hatten, wurde nach Asien hinüber verschleppt. Die griechischen Philosophen fanden eine Stätte in Persien und führten dort in Asien die Akademie von Gondishapur, welche vor allen Dingen damit be­schäftigt war, die alte orientalische, schon in Dekadenz gekommene geistige Kultur mit dem Aristotelismus zu durchdringen, sie in einer ganz neuen Form zu gestalten. Was wiederum durch diese Akademie von Gondishapur, die sich mit riesiger Schnelligkeit in eine logische Gedankenform hineinentwickelte, gerettet worden ist, ist der Aristote­lismus; der ist da erst wiederum in seiner eigenen Gestalt erstanden. Die Christen hatten ihn ja nicht fortgepflanzt. In seiner eigenen Gestalt kam er auf dem Umwege durch Afrika, Spanien, Westeuropa

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in das lateinisch-kirchliche Leben hinein. Und so sehen wir im Westen namentlich auch von dieser Gondishapur-Strömung, von die­sem Arabismus in einer durchaus philosophischen Form, in einer Form, die eine lebendige Weltanschauung trägt, aber eine ganz ab­strakte, beeinflußt das, was, wie gesagt, über den Köpfen dahin-strömt.

Ich habe Ihnen die beiden Strömungen nunmehr charakterisiert, die eine, die sich über den Köpfen abspielte, die andere, die sich in den Herzen, in den Seelen abspielte. Die wirkten zusammen, und es ist außerordentlich charakteristisch, daß eine im Absterben begriffene Sprache die Bildung aus dem Altertum fortpflanzt. Allerdings ffießt dann hinein, was durch die Renaissance gekommen ist. Aber ich kann

ja heute nicht alles darstellen. Im wesentlichen möchte ich mich an einige der Hauptlinien halten, die uns gerade interessieren müssen. Das bestand nebeneinander bis ins 15.Jahrhundert hinein.

Dann geschieht etwas, was außerordentlich bedeutsam ist. Man möchte sagen, das, was antiker Gedanke war, ein noch eingegebener Gedanke, ein Gedanke, der halb Vision war, das wurde allmählich in abstrakte Sprachformen gekleidet in demjenigen, was dann als christ­liche Philosophie entstand, als christliches Geistesleben, als Weltan­schauung, durch die Schulen getragen, aus denen weiterhin sogar das Universitätswesen herausgewachsen ist. In diesem Elemente lebte durchaus auf grammatikalisch-rhetorische Weise fort der Romanis­mus, die Antike. Es lebte fort nicht ein gedankliches Element, son­dern das Kleid eines gedanklichen Elementes.

In dem, was die volkstümiiche Strömung war, wurde aber gebo­ren, und zwar zum ersten Male in der ganzen Menschheitsent­wickelung, der durch subjektive Aktivität erarbeitete Gedanke. Aus diesem gespenstisch-zauberischen, ahnenden Wesen, vermischt mit Orientalismus, aus diesem Wesen heraus, das namentlich darinnen sich auslebte, daß es Naturtatsachen deutete, wurde der Gedanke geboren, der aktive Gedanke. Und diese Geburt des Gedankens, ich möchte sagen, aus träumerisch-mystischem Wesen heraus, die vollzieht sich dann gegen das 15.Jahrhundert hin. Aber bis dahin ist schon etwas anderes erstarkt, das sich nun neben dem römischen Priesterwesen in

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lateinische Bildung gekleidet hat, nämlich das römisch-juristische Wesen.

In einer ganz besonders gut ausgebildeten Methode hat sich das­jenige, was als Strömung über die Köpfr der Menschen gegangen ist, überall ausbreiten können, zuerst in den Dorfgemeinden, dann in den Städten, und jetzt verbündete es sich in dem neu angebrochenen Zeitalter nach dem 15.Jahrhundert mit einer ganz andersartigen Strö­mung, die jetzt entstand. Städte waren bereits entstanden. In den Städten war man stolz auf die Individualität, auf die Freiheit. Man sieht das den Porträtbildern an, die aus dieser Zeit geblieben sind, und an vielem anderem. Aber die Dorfgemeinden sind draußen geblie­ben. Das Territorialfürstentum macht sich geltend. Diejenigen, die in den Dörfern draußen allmählich in Opposition gegen die Städte gekommen sind, die fanden in den Menschen, die sich ihrer gegen die Städte annehmen wollten oder anzunehmen vorgaben, ihre Führer. Und vom Lande herein, vom Dorf herein wurden die Städte in größere Gefüge, in größere Administrationsgefüge eingegliedert, in die hineinkam dann das römisch-juristische Wesen. Es entstand der moderne Staat, dieser moderne Staat, der von den Landgemeinden herein gebildet worden ist, indem das, was von dem Land aus wiederum die Städte eroberte, durchzogen worden ist von dem, was jetzt auf dem Boden des Lateinischen als römisch-juristisches Wesen heraufkam. Nun war dieses Element schon so stark, daß keine Gel­tung mehr haben konnte, was jetzt noch aus der volkstümlichen Strömung an die Oberfläche wollte, was in den aufgerüttelten Zeiten, wie man es nannte, unter der Landbevölkerung zum Beispiel Eng­lands und Böhmens auftauchte, was im Hussitismus, im Wyeliffismus, was in der böhmischen Brüderschaft auftauchte. Das alles konnte nicht aufkommen. Es konnte nur aufkommen dasjenige Wesen, das eben zusammenfloß mit dem römischen Wesen, mit dem römisch-administrativen Wesen.

Und so sehen wir, wie zunächst glimmend blieb unter der Ober­fläche, was volkstümiiches Element ist, was sich den Gedanken eigent­lich als Realität eroberte, was sich wie im Widerstande geltend machte gegen das römisch-lateinische Wesen. Man sieht, wie das Geistesleben

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da von zwei Seiten aufeinanderplatzt. Aus dem römisch-lateinischen Wesen entwickelt sich der Nominalismus, für den allgemeine Begriffe nur Namen sind, wie man aus der Grammatik und Rhetorik heraus denken mußte. Wie man da nur zum Nominalismus kommen konnte, so entwickelte sich bei denen, die doch einen Funken Volkstum in sich hatten, wie Albertus Magnus und Thomas t>on Aquino, ein Realis­mus, der das gedankliche Element wie etwas ausgesprochen Reales empfand. Aber zunächst siegte in einer gewissen Weise der Nomi­nalismus. In der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit ist ja alles in 4ner gewissen Beziehung auch notwendig, und wir sehen, daß das abstrakte Element um so abstrakter geworden ist, als es durch das tote Element des Lateinischen heraufgetragen worden ist bis in das 15., 16. Jahrhundert, daß das sieh zwar dann befruchten läßt von dem, was als Gedanken geboren worden ist, daß es rechnet mit der Geburt des Gedankens, daß es aber den Gedanken kleidet in abstrakte Formeln, in Abstraktionen. Und unter diesem Einflusse stehen zu-nächst die folgenden Jahrhunderte, das 15., 16., 17., 18.Jahrhundert, unter dem Einflusse nämlich des aus dem uralten, gotisch-germani­sehen Wesen heraus geborenen Gedankens, der aber gekleidet war in römische logische Formeln, eigentlich grammatisch-rhetorische For­meln, die sieh aber jetzt, nachdem sie vom Gedanken befruchtet worden waren, logische Formeln nennen konnten. Das wurde jetzt innerliches menschliches Denken. Mit diesem Denken dachte man nun zunächst, aber es hatte an sich selber keinen Inhalt. Alle alten Weltanschauungen brachten zu dem, was innerlich erlebt wurde, zu­gleich Weltengeheinmisse in ihrem Inhalt mit. Sogar die Gedan­ken waren noch inhaltsvolle bis zum 4. nachchristlichen Jahrhun­dert.

Dann kam die Zeit, die gewissermaßen das Spätere im Schoße trug, in der sieh in einer toten Sprache immer mehr und mehr das entwickelte, was schon im Ausgangspunkte, in Rhetorik und Gram­matik, höchstens in Dialektik gegeben war. Das entwickelte sich, das wurde dann befruchtet von der Gedankenkraft, die von unten her­aufkam, und das ist es, dessen sieh der Mensch nun zunächst be­mächtigte, das aber durch sieh selber jetzt keinen Inhalt hatte. Man

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tradierte sozusagen den Realismus, meinte aber den Nominalismus und glaubte an den Nominalismus, und mit diesem Nominalismus eroberte man sieh zunächst die Natur.

Durch das, was das eigentliche Europa auf die geschilderte Weise hat hervorbringen können, war der Gedanke als solcher, als inneres Seelenieben, als Denkkraft geboren, brachte aber seinerseits auch kei­nen Inhalt mit. Es muß dieser Inhalt außen gesucht werden. Mit diesem inhaltsleeren Denken eroberte man sieh vom 15. Jahrhunderte an die Natur, die äußere Naturgesetzlichkeit. Aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts, da fing man an, gewahr zu werden: Ja, mit deinem Denken eroberst du dir dasjenige, was Naturgesetze sind, das, was außer dir ist, aber das Denken selber, das darf nicht aus sieh zu irgend etwas kommen. - Und so lebte man sich allmählich in die Stimmung hinein, die alles aus dem Denken aussonderte, was nicht von außen aufgenommen wurde. Andererseits lebte man sieh in den religiösen Glauben hinein, der nichts zu tun haben sollte mit wis­senschaftlicher Erkenntnis, weil das leer gewordene Denken sieh nur mit den äußeren Naturtatsachen und Wesenheiten erfüllen durfte. Der Glaube mußte geschützt sein in seinem Inhalte, weil er sieh auf das Übersinnliche beziehen sollte. Dieses leere Denken, das konnte sich aber eben deshalb auf das Sinnliche beziehen, weil es selber keinen Inhalt hervorbrachte. Der Glaube wiederum konnte sich nur anfüllen mit den alten Traditionen, mit dem Inhalte der vergangenen orien­talischen Kultur, die sieh fortpflanzte.

Ebenso war es mit der Kunst. In den älteren Zeiten sieht man Kunst innig verwandt mit der Religion; es leben sich die religiösen Vorstellungen in den Kunstwerken aus. Man sehe, wie die Vorstel­lungen von den griechischen Göttern sich in den griechischen Dra­matikern und Plastikern ausleben. Die Kunst ist etwas, was im gan­zen Gefüge der Weltanschauung, des Geisteslebens drinnensteht. Die Renaissance faßt die Kunst schon als ein Äußerliches au£

Im 19. Jahrhundert sehen wir immer mehr und mehr, wie die Menschen froh sind, wenn ihnen in der Kunst auch mal etwas gebo­ten wird, das bloße Phantasie ist, an das sie nicht wie an der Realität festzuhalten haben, etwas, das sie auf keine Wirklichkeit verweist.

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Wie einzelne moderne Einsiedler, möchte ich sagen, stehen dann sol­che Menschen da wie Goethe, der da sagt: «Wem die Natur ihr offen­bares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwider­stehliche Sehnsucht nach ihrer wurdigsten Auslegerin, der Kunst.» « Das Schöne», sagt Goethe, «ist eine Manifestation geheimer Natur­gesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen ge­blieben.» Und merkwürdig ist es, wie Goethe in anderer Art als die anderen in die Vergangenheit zurück will, um zu einem Inhalte zu kommen in der Zeit des leeren, sich nur mit der äußeren Sinneswelt aufüllenden Verstandes. Er sehnt sich zurück nach Griechenland, nach der griechischen Welt. Und als er in Rom einen Nachklang empfindet von dem, was die griechische Kunst noch aus der ganzen Tiefe der Weltanschauung heraus geleistet hatte, da schrieb er die Worte nieder: «Da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.» - Aus der Kunst heraus enthüllte sieh für ihn, was er als die Geistigkeit der Welt empfinden wollte.

Aber immer mehr und mehr bekam man doch die dunkle, unbe­stimmte Empfindung: Dieses Denken, das man hat, das ist geeignet für die Außenwelt, aber es ist nicht dafür geeignet, aus sich selbst zu einem inneren geistigen Inhalte zu kommen. Und so sehen wir denn die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ablaufen. Ich möchte sagen, wie wir gestern andeuten konnten: die Geister der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - man braucht nur auf Hegel oder Saint-Simon oder selbst Spencer hinzublieken -, die glaubten noch aus dem­jenigen, was sie seelisch erleben konnten, etwas herausholen zu können als Weltanschauung, oder auch als soziale Lebensanschauung. Das vermeinten die Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts nicht mehr. Aber es wirkte etwas nach von dem, was aus dem Unbewußten heraus den Gedanken geboren hatte. Warum hat in den ahnenden Träumen der Dorfbewohner über ganz Europa bis ins 12. Jahrhundert hin etwas gewirkt von innerem Rätsellösen, von innerer Klugheit, die angewendet worden ist auf Erlebnisse an allerlei verschmitzten Rätselfragen? Weil sich in dieser Zeit der Gedanke, das Nachdenken, das denkende Arbeiten gebar. Das wurde damals angebahnt. Und jetzt sehen wir, wie man in der zweiten Hälfte des

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19. Jahrhunderts zuletzt ganz verzweifelt am Denken. Wir sehen über-all die Deklamationen über die Grenzen des Naturerkennens auf­tauchen. Und mit derselben Starrheit und Dogmatik, mit der einst die Scholastiker davon geredet haben, daß die Vernunft nicht hinein­kommen könne in das Übersinnliche, so sprach zum Beispiel Du Bois-Reymond davon, daß die wissenschaftliche Forschung nicht zum Wesen der Materie und des Bewußtseins vordringen könne. Ich möchte sagen, früher hat sich die Art der Grenzfestsetzung auf das Übersinnliche bezogen, jetzt bezog sie sieh auf das, was hinter dem Sinnlichen stecken sollte. Aber auf allen möglichen anderen Gebieten sehen wir dieselbe Erscheinung auftreten.

Ranke> der Geschichtsschreiber in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts, ist ja in dieser Weise besonders charakteristisch. Er drückt sieh einmal so aus, daß er sagt: Die Geschichte hat zu erforschen die äußeren Ereignisse, auch in de4enigen Zeit, in der sich das Christen­tum auszubreiten beginnt. Man hat auf dasjenige zu sehen, was sich da im Äußeren an politischen, an sozialen Ereignissen und an Er­eignissen des äußeren Kulturlebens abspielt. Dasjenige aber, was sich davor im Verlauf der Menschheitsentwickelung durch Christus ab­gespielt hat, das rechnet Ranke zu der Urwelt, nicht im zeitlichen Sinne, sondern zu der Welt, die hinter dem Erforsehbaren steht. Wir sehen, der Naturforscher Du Bois-Reymond sagt Ignorabimus gegen­über Materie und Bewußtsein. Die Naturforschung kann in die Weite gehen; aber was da ist, wo Materie spukt, was da ist, wo Bewußt­sein entsteht, da setzt Du Bois-Reymond seine sieben Weiträtsel hin, da spricht er sein Ignorabimus. Und derjenige, der aus demselben Geiste heraus als Historiker wirkt, Leopold von Ranke, der sagt:

In alles das, was an Dokumenten existiere und erreichbar sei, könne historische Forschung hineinleuchten, aber hinter dem, was da als äußere historische Tatsache wirkt, stehen solche Ereignisse, die wie die Urwelt erscheinen. - Was dem Historischen so zugrunde liegt, wie für Du Bois-Reymond dasjenige, was jenseits der Grenzen des Natur­erkennens liegt, das nennt Ranke die Urwelt. Da drinnen liegen die Christus-Geheimnisse, da liegen die Religionsgeheimnisse aller Völker. Da sagt der Historiker Ignorabimus. Ignorabimus der Naturforseher,

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Ignorabimus der Historiker, das ist die Stimmung des ganzen geisti­gen Lebens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Sehen Sie überall hin, wo Sie dieses geistige Leben wahrnehmen, bis in die Wagnersche Musik hinein, bis in Nietzsehes Priestertum, überall erscheint diese Stimmung. Der eine glaubt sieh in gewisse musikalische Träume hinein flüchten zu müssen, der andere leidet an demjenigen, was sieh da abspielt in der Ignorabimuswelt. Der Agno­stizismus wird tonangebend, der Agnostizismus wird Politik, wird staatsgestaltend. Und wenn da einer etwas Positives machen will, stützt er sich nicht auf irgendeinen Gnostizismus, sondern auf den Agnosti­zismus. Der Marxismus stützt sieh, sagte ich schon gestern, wie ein Stratege auf dasjenige, was er an Instinkten vorfindet, nicht auf das, was er an Überirdisehem hereinbringen will. Wir sehen, wie überall die Geistigkeit zurückgedrängt wird, wie der Agnostizismus Wirklichkei­ten gestaltend wird.

So muß man verstehen das neuzeitliche Geistesleben. Man wird es nur im richtigen Sinne deuten, wenn man es herleitet aus seiner Ent­stehung von dem 4. nachchristlichen Jahrhundert her, wenn man weiß:

da kommt die Form herauf, das, was dann später als Norninalismus lebt, was als bloßes juristisches und logisches Formenwesen herauf-kommt, und der Gedanke wird geboren auf die Art, wie ich es gezeigt habe. Dieser Gedanke ist aber noch immer im Grunde genommen nur so weit geboren, als ihn der Formalismus, als ihn das leere Denken gebrauchen kann. Er sehlummert in den Untergründen der zivilisierten Menschheit. Er muß auf die Höhe herau£

Das ist es, was uns eine wirkliche Gesehiehtsbetrachtung lehrt, wenn wir mit dem Lichte der Geistesforschung in das hineinleuchten, was seit dem 4. Jahrhunderte bis zu unserer Gegenwart der Menschheit vorgeschwebt hat. Da können wir wissen, was obenauf ist. Allerdings ist der Gedanke fruchtbar geworden in der Naturwissenschaft, weil er befruchtet worden ist als der aus der Gedankenkraft der Menschen-natur auf die geschilderte Weise herausgeborene Gedanke. Aber jetzt in der Zeit des Elendes, in der Zeit der Not muß die Menschheit sich erinnern, daß der Gedanke, der zunächst nur befruchten durfte den Formalismus, der nur befruchten durfte als Kraft das leere Denken,

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das von außen die Naturerkenntnis aufnimmt, dieser Gedanke, der ausgemündet ist in den naturwissenschaftlichen, in den historischen Agnostizismus, dieser Gedanke muß sich in sich selbst erkraften, muß wiederum zum Schauen werden, muß sich in übersinnliche Welten erheben. Daß dieser Gedanke da ist, daß dieser Gedanke schon ge­schaffen hat an dem naturwissenschaftlichen Erkennen, daß aber seine eigentliche Kraft noch tief unten im Bewußtsein der Menschheits-entwickelung liegt, das muß man als historisches Faktum erkennen, dann wird man Vertrauen fassen zu der inneren Kraft der Geistigkeit, dann wird man sieh zur Geistigkeit hinwenden; dann wird man nicht aus nebuloser Mystik, sondern aus der Klarheit des Gedankens eine Geisteswissenschaft begründen, die auch im Gedanken tätig sein kann, die in die sozialen, in die sonstigen menschlichen Institutionen hin-einwirken kann. Man sagt immerzu, die Geschichte soll Lehrmei­sterin werden. Nicht dadurch kann sie Lehrmeisterin werden, daß sie uns das alte Vergangene vor Augen führt, sondern daß sie uns befähigt, aus den Untergründen des Daseins Neues herauszufinden. Nach einem solchen Neuen sucht, nach einem solchen Schauen sucht dasjenige, was von dieser Stätte ausgehen will. Und das kann sieh rechtfertigen nicht nur aus dem Verkünden der geisteswissenschaft-liehen Methode, sondern auch aus einer richtigen historischen Betrachtungsweise.

Mit einigen Linien wollte ich das zunächst andeuten. Ich hoffe, daß diese Dinge später genauer ausgeführt werden können.

Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum

ERSTER VORTRAG Stuttgart, 21. Mai 1921

#G325-1969-SE069 Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum

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Die Naturwissenschaft und die

weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit

seit dem Altertum

ERSTER VORTRAG

Stuttgart, 21. Mai 1921

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Ich möchte in diesen Vorträgen einiges auseinandersetzen über Zusammenhänge des geistigen Lebens der Völker und der sogenann­ten geschichtlichen Schicksale dieser Völker. Und da ja für den mo­dernen Menschen, der ganzen Seelenverfassung nach, die ihn heute beherrscht, die Naturwissenschaft ein besonders wichtiges Element in der gesamten Zivilisation ist, so möchte ich aus den verschiedenen Gesichtspunkten, von denen aus sich das genannte Thema behandeln läßt, insbesondere den naturwissenschaftlichen herausheben und zei­gen, inwiefern die Hinwendung der Menschheit in der neueren Zeit zu naturwissenschaftlichen Anschauungen auf tiefere Grundiagen im ganzen geschichtiichen Werdegang der Völker hinweist. Dazu wird es notwendig sein, heute eine Einleitung zu geben und in den folgenden Vorträgen dann das eigentliche Thema auf Grundlage des heute Betrachteten zu entwickeln.

Wenn wir den Blick, den Seelenblick zunächst richten auf die geistigen Anschauungen der Völker - wir wollen dabei stehenbleiben bei den geschichtlichen Völkern -, so drängen sich uns ja neben den äußeren politischen, wirtschaftlichen Schicksalen die geistigen Bega­bungen, geistigen Errungenschaften, geistigen Ergebnisse dieser Völ­ker auf. Und Sie wissen ja, daß in der Gegenwart sich noch zwei Denkweisen schroff gegenüberstehen. Ich habe in einem früheren Vortrage, den ich hier in Sturtgart gehalten habe, schon auf diese einander gegenüberstehenden Denkrichtungen hingewiesen. Es gibt zunächst die Anschauung, welche mehr von dem geistig Ideellen, so wie sie es gerade verstehen kann, ausgeht, und welche der Meinung ist, daß unmittelbar Geistig-Wesenhaftes in der Völkerentwickelung walte. In ihrem Sinne werden die äußeren Ereignisse hervorgerufen aus solchem innerlichem Geistig-Wesenhaften. Man spricht wohi auch davon, daß in der Geschichte Ideen walten, die sich von Epoche zu Epoche ausleben, wobei man gewöhnlich sich nicht klar darüber ist, in welch einem schattenhaften Verhältnis zum wirklich Geistig-Wesenhaften

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eine solche sich durch die Geschichte hinziehende Folge von wirksam sein sollenden Ideen ist.

Die andere Denkrichtung, welche in der Gegenwart eine große Wirkung ausübt, meint, daß alle geistigen Erscheinungen, einschließ­lich der Sitten, des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion und so weiter, daß alle diese geistigen Tatsachen nur eine Folge seien der materiellen, oder, wie wohi ein großer Teil der Menschheit heute sagt, der ökonomisch-wirtschaftlichen Tatsachen. Man stellt sich da vor, daß gewisse dunkle Kräfte, über die man sich nicht weiter ergeht, in den aufeinanderfolgenden geschichtlichen Zeitepochen her­vorgerufen hätten dieses oder jenes besondere Wirtschaftssystem, diese oder jene Art des menschlichen Zusammenarbeitens, und dann sei durch dieses Zusammenarbeiten, also durch rein ökonomisch-mate­rielle Vorgänge, dasjenige entstanden, was die Menschen als Ideen an­erkennen, was sie als Sitte, als Recht und so weiter auslegen.

Man kann, wenn man will, durchaus für die eine und für die andere Anschauung, man möchte sagen, zwingende Gründe vorbrin­gen. Beweisen in dem Sinne, wie man heute vielfach von Beweisen spricht, läßt sich beides, und ob sich der eine oder der andere Mensch dann für die eine oder für die andere Denkart entscheidet, das hängt davon ab, wie er geartet ist nach seinen allgemeinen In­stinkten, wie er hineingestellt ist in die Welt, was er durch dieses sein Hineingestelitsein in die Welt von dem Leben erfährt und so weiter. Aber die beiden Behauptungen, die eine, das materielle Leben sei eine Folge des geistigen Lebens - ich will jetzt die allgemeinste Formel gebrauchen -, und die andere Behauptung, alles Geistige sei eine Folge der materiell-ökonomischen Vorgänge, diese beiden Be­hauptungen, sie verhalten sich so zueinander wie die Alternativen der Frage: Ist das Ei zuerst gewesen oder die Henne? - Es ist im ganzen Umkreise der zunächst gegebenen sinnenfälligen Welt durch­aus so, daß man nicht entscheiden kann durch irgendwelche Lebens­anschauungsgründe, ob zuerst das Ei oder die Henne gewesen ist, denn in dem einen Sinne ist ganz gewiß das eine als erstes not­wendig, in dem anderen Sinne das zweite. Und tatsächlich, wenn man zunächst nur auf das rein Logische sieht, ist es so, daß man mit den

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beiden Behauptungen, die ich ausgesprochen habe, so jonglieren kann wie mit Ei und Henne. Dasjenige, was über solche Dinge etwas aus­machen kann, liegt eben durchaus nicht in dem Gebiete, in dem gewöhnlich die Vorbedingungen für Weltanschauungsfragen in der neuesten Zeit gewonnen werden, sondern es liegt in tieferen Unter­gründen des Erkennens. Ehe man aber auf diese eingehen kann, ist es notwendig, sich vor allen Dingen einmal klarzumachen, wie es sich überhaupt verhält in bezug auf das, was uns zunächst auf dem einen Gebiete, auf dem geistigen Gebiete, in den aufeinanderfolgenden Epochen der Menschheit entgegentritt.

Der Mensch unserer Gegenwart ist durchaus geneigt, zwei, auch für seine Anschauung sehr weit auseinanderliegende Weltepochen zusam­menzudenken. Zunächst fühit sich der Mensch in seiner Zeit darinnen mit seinen Anschauungen. Er versucht seine eigene Anschauung mög­lichst nach der allgemein geltenden Anschauung zu formen. In dieser Beziehung ist ja ein allgemeines unbewußtes Bestreben vorhanden, Anschauungen zu nivellieren. Man nennt heute dasjenige das Richtige, was getragen ist durch die allgemein oder durch sonstige Umstände anerkannten Autoritäten. Man sagt daher: dies oder jenes ist wahr, und man meint eigentlich, dies oder jenes wird durch die gangbaren Autoritäten als wahr anerkannt, und dann fühlt man dasjenige, was so anerkannt wird, als das, was eben eines aufgeklärten, eines wirk­lich zivilisierten Menschen würdig ist. Man sieht höchstens auf die geschichtlichen Epochen, die noch nicht diese Anschauungen gehabt haben, zurück als auf kindliche Vorspiele desjenigen, was heute bis zu einem gewissen Grade vollkommen geworden ist im wissenschaft­lichen Erkennen und dergleichen. Aber rnan meint im allgemeinen, so wie man heute denken muß, hätten eigentlich die Menschen der geschichtlichen Zeit immer denken müssen. Sie seien eigentlich nur nicht gleich daraufgekommen; sie mußten sich erst durch allerlei Mythen und so weiter durcharbeiten bis zu dem, was heute strenge wissenschaftliche Methode ist. Und dann knüpft man an das, was man so über das menschliche Denken sich vorstellt, Vorstellungen über sehr primitive Kulturzustände an, in denen Menschen mehr gelebt haben wie höhere Tiere, bloß instinktiv und so weiter. Viele Skrupel

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macht man sich nicht darüber, wie der Übergang des einen in den anderen Zustand erfolgt ist. Über beide Zustände der Mensch­heitsentwickelung will man sich klar sein. Aber wenn man dann im einzelnen frägt, wie diese beiden Anschauungen, die über den primi­tiven Menschen und die über den Menschen, den man heute eben als solchen betrachtet, sich aneinanderfügen, dann können einem doch schließlich Bedenken kommen; denn es klafft wirklich zwischen diesen beiden Anschauungen ein bedenklicher Abgrund. Sie können zum Beispiel eine moderne Geschichte der Philosophie, die in einer großen Sammlung erschienen ist, in die Hand nehmen und lesen darin als erstes Kapitel etwas über die Philosophie der Urvölker, also derjeni­gen Völker, die heute der Zivilisationswelt nicht angehören, die man als Nachkommen derjenigen Menschen betrachtet, von denen ich eben sagte, man habe sie sich als so etwas wie höhere, sprechende, vor-stellende Tiere gedacht, die vorzugsweise ein instinktives Dasein ge­führt hätten. Dieses Kapitel über die Philosophie der Urvölker, hübsch eingeteilt nach den heutigen Kategorien, die man zugrunde legt, nach Logik, Erkenntnistheorie, Naturphilosophie, Ethik, ist von dem bekannten und berühmten Wundt verfaßt. Dann, nachdem dieses Kapitel geschlossen ist und eben auf eine Art instinktiver Welt­anschauung primitivster Art hingewiesen worden ist, blättert man um, schlägt unmittelbar die folgenden Seiten auf und findet dort eine Auseinandersetzung über die Philosophie der Inder, über die Philosophie der Chinesen und sieht da: es ist wirklich ein Abgrund zwischen dieser Philosophie der Urvölker und der Philosophie der Inder, der Chinesen. Nichts überbrückt diesen Abgrund. Wir sehen gewissermaßen schon bei den Indern eine hochausgebildete Welt­anschauung, und manche Menschen sind ja in der Gegenwart der Meinung, daß man von dieser Weltanschauung vieles herübernehmen könnte in unsere Tage, weil es eigentlich viel bedeutsamer wäre als das, was in unseren Tagen gelehrt wird.

De4enige, der sich nun ansieht das Kapitel, das Wilhelm Wundt ge­schrieben hat über die Philosophie der Urvölker, der fühlt sich wirklich in einem merkwürdigen Element, wenn er unbefangen genug ist, die Dinge nicht durch irgendeine Brille zu sehen, die ihm eben

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durch die philosophische Denkungsart der Gegenwart vor das Seelen­auge gesetzt ist. Man müßte eigentlich das Gefühl bekommen, in diesen Wundtschen Auseinandersetzungen ist alles konstruiert. Da werden einige Aperçus gemacht über die Art, wie heute unzivilisierte Völker durch den Ausdruck ihrer Sprache ihre Denkweise kundgeben. Dann wird die Hypothese verfolgt, als ob die Urbevölkerung der Erde so gewesen wäre wie solche Urvölker, die den früheren Zustand, nur vielleicht etwas dekadent, beibehalten haben. Man sieht es den Begriffen, die sich da finden, an, wie sie entstanden sind. Man sieht, diese Begriffe sind aus keiner Erfahrung gewonnen, sondern derjenige, der sie ausgestaltet hat, der geht aus von dem, was man heute über Kausalität, über Erkenntnis, über Naturursache und so weiter als Begriffe hat, und dann sinnt er darüber nach, wie es in primitiveren Zuständen sich hätte ausnehmen können. Dann überträgt er das auf die Urvölker.

Es ist ja im ganzen heute wenig Möglichkeit vorhanden, in das Seelengefüge eines anderen Menschen hineinzuschauen. Und so ist denn eigentlich auch durchaus nichts von dem, was da abgehandelt wird, so, daß man sagen könnte, die Dinge sind aus dem Hinein-fühlen in den Seelenzustand auch nur der heutigen Urvölker irgend­wie entstanden. Nein, der berühmte Wundt dreht sich lediglich um seine eigenen Vorstellungen, die er nur etwas vereinfacht und die er dann den betrachteten Menschen zuschreibt.

Und weil es heute eigentlich nichts Rechtes gibt zwischen diesen Urvölkern, die da übriggeblieben sein sollen, und den Völkern mit im Grunde genommen schon recht ausgebildeten Weltanschauungen, so treffen wir auch historisch die Dinge nebeneinandergestellt ohne Rück­sicht darauf, daß es ja wirklich, ich möchte sagen, logisch beleidi­gend ist, nach einer solchen Schilderung der Urmenschheit, wie sie Wundt in seinem Buche gibt, nun unmittelbar die hochausgebildete, von wunderbaren Anschauungen getragene Weltanschauung der Inder oder der Chinesen zu finden. Was eben gar nicht vorhanden ist heute, das ist dieses Sich-Hineinfühien in andere Denkweisen. Man geht heute ja zurück von dem, was man zu denken gewohnt worden ist im 19. und 20. Jahrhundert, sagen wir zunächst zu dem 15. und dem

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16. Jahrhundert und dann in das Mittelalter. Dem fühlt man sich nicht verwandt, das kann man nicht verstehen; also sagt man, das ist eine dunkle, finstere Zeit; da hat die menschliche Zivilisation ausgesetzt rn einer gewissen Weise. Dann geht man zurück zu dem, was neuer­dings in die moderne Zivilisation durch die Renaissance heraufgekom­men ist, zu dem Griechentum. Aber man hat durchaus dem Griechen­tum gegenüber das Gefühl, man müsse ihm beikommen, indem man dieselben Begriffe beibehält, die man innerhalb der heutigen Kultur-gemeinschaft gewonnen hat. Höchstens feiner empfindende Menschen wie Herman Grimm> die sagen anders. Herman Grimm hat es betont, daß man eigentlich mit den heutigen Begriffen, die man sich so an-eignet, nur bis zu den Römern zurückgehen könne. Die Römer könne man im allgemeinen noch verstehen; man könne dasjenige, was da bei den Römern als Geschichte vorgeht, mit den heutigen Be­griffen verstehen. Will man aber zu den Griechen zurückgehen, Her-man Grimm meint, man solle nur ehrlich sein, dann würde man schon sehen: so ein Perikks, Alkibiades, gar ein Sokrates oder Plato oder Äschylos, die sind eigentlich der modernen Auffassung gegenüber wie Schatten, wie etwas, das einem fremd gegenübersteht, wenn man mit modernen Begriffen an sie herangeht. Sie sprechen zu uns herüber wie aus einer anderen Welt. Sie sprechen so, wie wenn die Geschichte selbst bei ihnen schon anfinge, eine Märchenwelt zu werden. Dem, wie sich Herman Grimm über diese Dinge ausgesprochen hat, müßte man hinzufügen, wenn man von einem anderen Gesichtspunkte ausgehen würde als Herman Grimm, von einem solchen, der sich nun ganz - was eben bei Herman Grimm nicht der Fall ist - in die moderne natur­wissenschaftliche Weltanschauung eingelebt hat: man könne auch zu den Römern nicht mehr zurückgehen, so daß sie einem wirklich ge­genständlich werden. Herman Grimm, der eine naturwissenschaftliche Bildung nicht hatte, der nur das hatte, was im Grunde genommen ja kontinuierlich von der Römerzeit bis in die moderne Zeit fortgelebt hat, er kann sich noch in die römische Zeit einieben, nicht mehr in die griechische. Und jemand, der nun nichts wüßte von unseren Rechts-begriffen, unseren Staatsbegriffen, die den römischen nachgebildet sind, der nichts wüßte von jenem eigentümlichen Kunstempfinden,

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das durch die Renaissance wieder heraufgekommen ist, in das sich Herman Grimm ganz eingelebt hat, sondern der ohne Wissen von all diesem in rein naturwissenschaftlichem Vorstellen lebt, der könnte sich wahrlich ebensowenig in die römische Welt hineinfinden, auch schon nicht in die mittelalterliche Welt, wie Herman Grimm sich in die griechische Welt nicht hineinieben konnte. Das ist das eine, das man hinzufügen muß. Das andere ist, daß Herman Grimm auch nicht Rück­sicht genommen hat auf die Welt des Orients. Er geht mit seiner ganzen Weltbetrachtung nur bis zu den Griechen zurück. Daher kommt er nicht bis zu dem, wozu er nach seinen Voraussetzungen hätte kommen müssen, wenn er, sagen wir, zu den Veden, zu der Vedantaphilosophie sich gewandt hätte. Da hätte er sagen müssen: Stehen uns die Griechen wie Schatten gegenüber, so stehen uns die­jenigen Menschen, deren Geistesverfassung in den Veden, im Ve­danta ihren Ausdruck gefunden hat, so gegenüber, daß wir sie nicht einmal mehr wie Schatten, sondern - wenn wir uns nur in die Welt Europas, in die gegenwärtige Welt eingelebt haben - wie Stimmen aus einer ganz anderen Welt vernehmen müssen, aus einer Welt, die nicht einmal mit ihren Schattenbildern mehr der unsrigen ähnlich ist. Aber es gilt das alles nur dann, wenn wir uns eingelebt haben in das­jenige, was gegenwärtige Denkweise, was gegenwärtige Geistesver­fassung ist.

Anders ist es, wenn man zu demjenigen Mittel greift, welches heute allein zielvoll ist. Man ist gegenwärtig durch ein gewisses Ein­gesponnensein gerade in der naturwissenschaftlichen Bildung in einem schier absolut und exakt erscheinenden Begriffssystem befangen. In dieser Zeit ist es nur durch geisteswissenschaftliche Studien, durch geisteswissenschaftliches Leben möglich, sich einzufühien und einzu­ieben in vergangene Zeitepochen. Und deshalb erscheinen vom gei­steswissenschaftlichen Standpunkte aus die einzelnen Epochen der Menschheitsentwickelung durchaus voneinander verschieden; ja, wir holen erst aus den geisteswissenschaftlichen Anschauungen heraus die Möglichkeit, uns einzufühien in das, was Menschen vergangener Zeitepochen im geschichtlichen Werden als ihre Seelenverfassung ge­habt haben. Und wodurch ist das möglich?

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Nun, das ist in der folgenden Weise möglich. Ich habe es oftmals hier in Stuttgart in Vorträgen auseinandergesetzt, daß Geisteswissen­schaft auf einer gewissen Ausbildung der menschlichen Seelenfähigkeit beruht. Dasjenige Erkennen, das wir in der Naturwissenschaft und im gewöhnlichen Leben anwenden, das wir in der neuesten Zeit auch auf die Geschichte und Sozialwissenschaft, ja sogar auf die Religions­wissenschaft übertragen haben, habe ich in meinen Büchern das gegen­ständliche Erkennen genannt. Es ist eine Anschauungsweise, die ja jeder Mensch, der dem heutigen Zivilisationsleben irgendwie nur an­gehört, kennt. Man betrachtet die äußere Welt durch die Sinne und kombiniert die Sinneswahrnehmungen durch den Verstand. Dabei bekommt man entweder brauchbare Lebensregeln und Lebenszusam­menfassungen, oder man bekommt Naturgesetze und so weiter. Darin besteht ja das, was man gegenständliches Erkennen nennt. Diesem gegenständlichen Erkennen ist es eigentümlich, daß man ein deut­liches Unterscheiden hat zwischen sich und der Umwelt. Man weiß -wir wollen jetzt absehen von den verschiedenen Erkenntnistheorien, die zustande gekommen sind, von den verschiedenen psychologischen und physiologischen Voraussetzungen und Hypothesen -, man sieht um sich sinnenfällige Wahrnehmung. Man bekommt durch seinen Verstand, von dem man genau weiß, man lebt aktiv in ihm, eine Art Zusammenfassung des sinnlich Gegebenen. Man unterscheidet da­durch die aktive Verstandestätigkeit von dem passiven Wahrnehmen. Man fühit sich als ein Ich in der Umgebung, die sich einem durch die Sinneserfahrung offenbart. Mit anderen Worten, man unterscheidet sich als denkender, fühiender, wollender Mensch - denn sein Fühlen, Wollen nimmt man ja zunächst auch durch die Denkvorstellungen wahr - von der Umgebung, die sich durch die Sinnesoffenbarung dem Menschen eben mitteilt. Daß über diese Erkenntuisweise hinaus andere Erkenntnisweisen entwickelt werden können, darauf habe ich immer wieder hingewiesen; und ich habe auch zum Beispiel in mei­nem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» darauf hingewiesen, wie zu solchen Erkenntnisweisen aufgestiegen wird. Ich habe auf das­jenige hingewiesen, was ich heute nicht auseinandersetzen kann, der

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Kürze der Zeit wegen, was aber in diesen Büchern, namentlich aber in meiner « Geheimwissenschaft»im zweiten Teil nachgelesen werden kann.

Die erste Stufe einer solchen Erkenntnis, ob man sie nun «höhere» nennt oder wie immer, darauf kommt es nicht an, nenne ich die imaginative Erkenntnis. Diese imaginative Erkenntnis unterscheidet sich im wesentlichen von der gegenständlichen Erkenntnis dadurch, daß sie nicht mit abstrakten Begriffen, sondern innerlich mit Bildern arbeitet, die ebenso gesättigt, so anschaulich sind wie die Vorstel­lungsbilder, bevor diese in abstrakte Gedanken, in abstrakte Vorstel­hingen verwandelt sind. Zu den Bildern verhält man sich aber so, daß man sie, wie ich öfter betont habe, sowohl hervorbringt und be­herrscht in einer ähnlichen Art, wie man die mathematischen Vor­stellungen hervorbringt und beherrscht.

Diese Art und Weise, sich zur imaginativen Erkenntnis zu erheben, hat nun auch eine ganz bestimmte Folge für die Seelenverfassung des Menschen. Ich erwähne ausdrücklich, daß diese Folge nur eintritt, so­lange der Mensch sich in imaginativer Erkenntnis befindet. Wie der Mensch sich in dem gewöhnlichen Leben der gewöhnlichen Erkenntnis, der gegenständlichen Erkenntnis gegenüber befindet, ist auch der geisteswissenschaftliche Forscher in derselben Seelenverfas­sung, in der der andere Mensch ist, der nicht Geistesforscher ist. Während des Geistesforschens, innerhalb des Zustandes, durch den man hineinsieht in die geistige Welt, lebt der Geistesforscher in sei­ner Welt der Imaginationen. Nur sind diese Imaginationen nicht Träume, sondern diese Imaginationen sind durchsetzt von einem sol­chen klaren Bewußtsein wie die mathematischen Vorstellungen. Also in bezug auf dieses Besonnen-Sein ist der Seelenzustand zunächst nicht geändert, wohl aber ist in bezug auf das Erleben der Welt dieser Seelenzustand während des imaginativen Erlebens ein anderer als wäh­rend des gewöhnlichen Erlebens. Dieser Seelenzustand während des imaginativen Erlebens ist so, daß sich der Mensch wie eins fühlt mit alldem, was abläuft wie sein eigenes Seelenieben, nämlich in der Zeit, so daß der Raum nicht in Betracht kommt, sondern allein die Zeit. Ich habe daher früher schon gesagt, daß mit dem Eintreten in das imaginative

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Vorstellen die bisherigen Erlebnisse, zunächst seit der Geburt oder von einem bestimmten Zeitpunkt nach der Geburt an, wie ein zeitliches Panorama, aber so, daß die einzelnen Bilder auf einmal da sind, vor dem Menschen dastehen als ein Gemälde. Nur wird für das gewöhnliche Vorstellen die Sache deshalb schwer begreiflich, weil man es mit einem Gemälde zu tun hat, das nicht räumlich ist, das durchaus nur zeitlich vorgestellt wird und dem dennoch in gewisser Beziehung die Gleichzeitigkeit innewohnt. Im Bewußtsein des ge­wöhnlichen Lebens haben wir es ja immer mit einem Augenblick zu tun. Von dem sehen wir zurück in die Vergangenheit. Während dieses Augenblicks sehen wir im Raume die Welt um uns herum, und wir unterscheiden uns, in einem bestimmten Zeitpunkte lebend und in einem bestimmten Raumpunkte seiend, von dieser Umwelt. Das wird anders bei dem imaginativen Vorstellen. Da hat es keinen Sinn, zu sagen, ich lebe in dem bestimmten Zeitpunkte des Jetzt, sondern, wenn ich zunächst das Gemälde des Lebens nebme, ffieße ich, wie er­wähnt, zusammen mit meinem Leben. Ich bin ebensogut in dem Zeitpunkte vor zehn, zwanzig Jahren wie in dem gegenwärtigen Zeitpunkte. Das Werden, das da überschaut wird, absorbiert gewis­sermaßen das Ich; man wächst zusammen mit seiner zeitlichen An­schauung, zusammen mit dem Werden. Es ist so, wie wenn sich das Ich, das sonst nur im gegenwartigen Augenblick erfaßt und erlebt wird, ausdehnte zunächst über die Vergangenheit. Das ist natür­lich, wie Sie sich denken können, verknüpft mit einer Anderung der ganzen Seelenverfassung für die Augenblicke, in denen man so er­lebt. Man hat es mit einer Welt von Bildern zu tun, aber durchaus mit einer Welt von Bildern, in denen man selbst darinnen lebt. Man fühit sich gewissermaßen selbst Bild im Bilde. Wer mit gutem Wil­len das erfaßt, der wird nicht mehr davon faseln, daß der Geistes-forscher irgendwie Suggestionen oder einer Hypnose unterliegen könne, denn er ist sich absolut klar über den Bildcharakter seines imaginativen Vorstellens, aber auch darüber vollständig klar, daß er zum Bild unter Bildern wird. Aber gerade weil er das ist, weiß er auch, daß er zunächst im Bewußtsein zwar Bilder hat, daß diese Bil­der aber, ebenso wie die gewöhnlichen Vorstellungen, Abbilder einer

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Wirklichkeit sind, die er zunächst noch nicht als Wirklichkeit wahr­nimmt, deren Bilder er aber doch innerlich erschaut.

Nur dann ist man im Zustande einer Suggestion oder einer Hypnose, wenn man Bilder hat und glaubt, diese Bilder seien Wirk­lichkeit wie die äußere, durch die Sinne wahrnehmbare Wirklichkeit. Sobald man sich über den Charakter desjenigen, was man in seinem Bewußtsein erlebt, klar ist, kann es sich um nichts anderes handeln als um das Innehaben solcher Vorstellungen, wie man sie auch wie­der, eben auf einem anderen Gebiete, dem des mathematischen Vor­stellens hat. Das Wesentliche aber, das ich heute besonders hervor­heben will, ist dieses Aufgehen in dem Zeitlich-Objektiven, in dem Werden, dieses Einswerden mit dem Werden, so daß man sich nicht mehr, ich möchte sagen, immer an dem Jetzt festhält, sondern daß man sich fühit als im Strome des Geschehens selbst darinnen seiend.

Die nächste Stufe, welche durch Übungen erlangt wird, die ich auch in den genannten Büchern beschrieben habe, ist dann die Stufe der Inspiration. Diese unterscheidet sich zunächst von der vorhergehen­den imaginativen Stufe dadurch, daß das Bildhafte, das man während des imaginativen Vorstellens vor sich hat, mehr oder weniger aufhört. Man muß es zuerst haben, wenn man zu regelrechten geisteswissen­schaftlichen Vorstellungen kommen will, aber man muß es auch wie­derum aus dem Bewußtsein auslöschen können; man muß es gewis­sermaßen willkürlich aus dem Bewußtsein falleniassen können. Dann muß aber etwas zurückbleiben können, und das Zurückbleibende ist eben ein Herüber-sich-Offenbaren aus einer geistigen Welt. Ich nenne es in den genannten Schriften das inspirierte Vorstellen einer geisti­gen Welt. Man ist dadurch mit dem eigenen Erleben immer noch nicht darinnen in einer geistigen Welt. Vorher hatte man Bilder, jetzt gewissermaßen die Offenbarung in dem, was einem die geistige Welt zuschickt, aber man ist diesem Zugeschickten durchaus gegenüber und erkennt es in seiner Realität.

Für heute ist insbesondere wiederum wichtig der Seelenzustand, in den man kommt, wenn man eine solche Inspiration willkürlich in sich hervorruft. Dabei zeigt sich, daß man jene Art des Subjektivseins, jene Art des Sich-Unterscheidens von der Welt, die man hat im gewöhnlichen

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gegenständlichen Erkennen, aufgibt. Man weiß jetzt, was es heißt, außerhalb seines Leibes die geistige Welt in ihren Offen­barungen zu haben. Mit anderen Worten, man fließt zusammen jetzt nicht nur mit dem Zeitlichen, sondern mit alldem, was außerhalb des Menschen selber ist, was außerhalb des Subjektiven ist. Man fließt zusammen mit dem Objektiven. Man fühit nicht mehr den Unter­schied zwischen Welulasein und Ich-Dasein in der Weise, wie man ihn beim gegenständlichen Erkennen fühlt, sondern man fühlt das fch und in dem Ich die Welt, allerdings in ihrer konkreten Unterschied­lichkeit und Mannigfaltigkeit, und fühlt nun darinnen das Ich. Im Grunde ist es für diese Erkenntnisstufe einerlei, ob ich sage: Ich bin in der Welt -, oder: Die Welt ist in mir. - Die Ausdrucksweise des gewöhnlichen Darstellens der Welt hört auf, ihre Gültigkeit zu haben. Präpositionen wie «in» oder «außer» kann man nur noch gebrauchen, wenn man sich bewußt ist, daß man mit ihnen einen anderen Sinn verbinden muß. Man fühlt sich in die ganze Welt ausgegossen, nicht nur in das Werden, sondern in alles, was man jetzt als außerräum­lich betrachten muß. Man fühlt nicht mehr dieses «außer dir» und «in dir». Das ist die Seelenverfassung, die während der Inspiration den Menschen erfaßt. Es ist nicht, als ob sein Ich untergegangen wäre, nicht, als ob ein Ausfließen des Ich identisch mit einem Unterdrücktsein des Ich wäre, sondern das Ich selbst in aller Aktivi­tät fühlt sich eins geworden mit der konkreten, mannigfaltigen, viel­fältigen Welt, die es jetzt erlebt. Geradeso wie man sich sonst unter­schieden von seinen Vorstellungen, von seinen Wollungen, seinen Fühiungen weiß, trotzdem diese in einem sind, so fühlt man die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit durch die Inspiration, trotzdem man weiß, daß man eigentlich mit dieser Welt zusammengeflossen ist.

Nun, im gegenwärtigen Zeitpunkt der Menschheitsentwickelung müssen durch solche Übungen, wie ich sie beschrieben habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft», solche Erkenntniszu­stände herbeigeführt werden. Der Mensch muß bewußt in solche Erkenntniszustände aufsteigen. Aber wir können von dem, was wir da bewußt hervorrufen, unterscheiden, was davon Seelenempfindung

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ist. Man kann von diesem, was man sich da erarbeitet, was man zu­letzt erkennt, die Art unterscheiden, wie man sich im Imaginieren, im Inspiriertwerden fühlt.

Nun möchte ich nicht durch Charakteristiken abstrakter Art diese Seelenverfassung andeuten, sondern ich möchte sie aus dem Kon­kreten heraus schildern. Sehen Sie, Goethe, nachdem er Herder kennengelernt hatte, vertiefte sich mit Herder zusammen in die Werke Spinozas, und derjenige von Ihnen, der etwas von Herders Biographie kennengelernt hat, der weiß, wie Herder ungeheuer en­thusiastisch sich verhalten hat zu Spinoza. Wenn man aber wiederum ein solches Werk wie zum Beispiel Herders «Gott» liest, worin er auseinandersetzt, wie er gegenüber Spinozas Werken empfindet, da muß man sagen, Herder redet über den Spinozismus und aus dem Spinozismus heraus ganz anders als Spinoza, der Philosoph, selber. Aber eines hat Herder sehr ähnlich mit Spinoza: die Seelenverfas­sung, aus der heraus er den Spinoza liest und wiederum aus dem Spinoza heraus schreibt. Die Herdersche Seelenverfassung hat etwas sehr Ähnliches mit der Seelenverfassung, aus der heraus zum Bei­spiel Spinozas «Ethik» geschrieben ist. Diese Seelenstimmung, diese Seelenverfassung, die ist tatsächlich etwas, was auf Herder übergegan­gen ist und die in einer gewissen Beziehung auch auf Goethe über­geht, indem er mit Herder zusammen sich in das Studium des Spinoza vertieft. Während aber Herder eine gewisse Befriedigung in dieser Seelenverfassung hat, hat sie Goethe nicht. Goethe empfindet ebenso tief dieses Aufgehen in den Objekten, dieses HinüberHießen des Ich in die Außenwelt, was ja bei Spinoza so grandios berührt, wenn er, man möchte sagen, in der völlig leidenschaftslosen Kontemplation so redet, wie wenn das Weltall selber reden würde, wie wenn er sich ver­gessen würde und seine Worte bloß das Mittel wären, durch welche das Weltall selber redet. Auch Goethe kann das, was da der Mensch an Objektivität erleben kann, durchaus nacherieben, und er empfindet in bezug auf das zunächst, was Herder empfindet, gleich, durchaus gleich; aber er ist nicht befriedigt, er fühlt eine Sehnsucht nach noch etwas anderem, und es erscheint ihm trotz aller Tiefe der Empfindung,

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die er sich dadurch erworben hat, der Spinozismus noch immer wie etwas, was den ganzen Menschen keineswegs ausfüllen kann.

Im Grunde genommen ist dasjenige, was Goethe sofühit gegenüber Spinoza, nur eine andere, tiefere Nuance desjenigen, was er gegen­über dem ganzen Fühien innerhalb der mehr nordischen Welt hat. Er fühlt sich nicht befriedigt durch das, was die ihm zunächst durch Weimar zugängliche Zivilisation geben kann. Und Sie wissen ja, wie sich aus dieser Stimmung bei Goethe zuletzt das herausverdichtet, was ihn hinunter nach dem Süden, was ihn nach Italien treibt. Und in Italien sieht er ja zunächst nur das, was die Italiener auf Grundlage der griechischen Kunst geschaffen haben. Aber in seiner Seele entsteht etwas wie eine Rekonstruktion der griechischen Kunstrichtung und der griechischen Kunstweise, und man kann tief die ganze Goe­thesche Eigenart jener Zeit mitempfinden, wenn man die Worte liest, die er dann, stehend vor denjenigen Kunstwerken, die ihm das künst­lerische Schaffen der Griechen vor die Seele zauberten, an seine weimarischen Freunde schreibt: «Da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.» «Ich habe die Vermutung», schreibt er, «daß die Griechen nach denselben Gesetzen verfuhren bei Schöpfung ihrer Kunstwerke, nach denen die Natur selbst verfährt, und denen ich auf der Spur bin». «Da ist die Notwendigkeit, da ist Gott», mit Anspielung auf Herders aus Spinoza geschöpftes Werk «Gott».

Also gegenüber dem, was ihn aus Spinoza heraus anwehen konnte, empfand Goethe nicht diejenige Notwendigkeit, die er empfinden wollte; er empfand sie gegenüber dem, was wie eine Erneuerung des griechischen Kunstschaffens vor seiner Seele stand während seiner italienischen Reise. Und wiederum bei dem, was sich da in ihm bil­dete, entstand dann die Möglichkeit, seine besondere Art des Natur­anschauens auszubilden. Wir sehen, wie Goethe seine Sehnsucht ge­genüber einer Naturerscheinung in abstrakt lyrischen Worten in einem Prosahymnus zum Ausdruck gebracht hatte, bevor er nach dem Süden gegangen ist; und wir sehen, wie das, was in abstrakt lyrischen Strömungen sich in diesen Prosahymnus «Die Natur» ergossen hatte, in Italien konkrete Anschauung wird, wie zum Beispiel das Pflanzen-wesen in geistig übersinnlich-sinnlichen Bildern vor seiner Seele steht,

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wie er die Urpflanze jetzt findet unter den mannigfaltigen Pflanzen-gestalten. Diese ist eine ideal-reale Gestalt, die man nur im Geiste an­schauen kann, die aber dann als eine reale allen einzelnen Pflanzen zugrunde liegt. Und wir sehen, wie es von jetzt ab der Gegenstand seines Suchens wird, für die ganze Natur diese Urbilder, die zugleich eins und vieles sind, indem sie aufeinander wirken, vor seine Seele zu rücken. Wir sehen, wie die einzelne Pflanze in der Aufeinanderfolge ihrer Blätter, bis zu den Blüten, bis zu der Frucht herauf eine Stufenfolge von sich verwandelnden Bildern wird, wie er das Wer­dende in Bildern festhalten will. Aus Spinozas «Ethik», indem er sie mit Herder las, strömte Goethe so etwas zu wie ein Unanschau­liches, aber aus einer anderen Welt heraus Tönendes, aus der Welt heraus tönend, in die man sich versetzen kann mit seiner Gemüts­stimmung, wenn man zum leidenschaftslosen Kontemplieren kommt. Aber es war bei Spinoza nicht anschaulich. Die Sehnsucht nach An­schaulichkeit lebte aber in seiner Seele, und sie wurde in einer gewis­sen Weise erfüllt, als er sich anregen ließ von jenen Bildern, die ihm in ähnlicher Art auftauchten wie das wiedererstandene griechische Kunstschaffen, und die er auch erfühlte, als er die Urgestalten, die Urgewalten der Natur bildhaft werdend vor seine Seele zaubern konnte.

Was war das, was Goethe da nacheinander erlebte? Es war das, was die Seelenstimmung ist - jetzt nicht der Seeleninhalt, nicht das, was man erforscht, sondern was die Seelenstimmung ist auf der einen Seite bei der Inspiration, auf der anderen Seite bei der Imagination. Weder Goethe noch Herder hatten in ihrer Zeit schon die Möglich­keit, in die geistige Welt hineinzuschauen, wie das heute durch Gei­steswissenschaft geschehen soll, aber wie ein Vorahnen dieser Geistes­wissenschaft war in ihnen die Stimmung vorhanden, die in besonderer Verstärkung, in besonderer Intensität beim Inspirieren und Imaginie­ren auftritt. Herder und Goethe fühlten sich in Inspirationsstim­mung, indem sie Spinoza lasen, und Goethe fühlte sich in Imagina­tionsstimmung, als er sich durch die italienischen Kunstwerke zu seiner Naturanschauung hindurcharbeitete. Goethe empfand aus der Inspirationsstimmung des Spinozismus heraus die Sehnsucht nach der

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Imaginationsstimmung, und was Goethe als Urbilder der Pflanze, des Tieres fand, es war imaginativ, wenn auch noch nicht wirkliche Imagi­nation. Die Methode, wirkliche Imagination zu erwerben, hatte Goethe nicht. Aber dasjenige, was er hatte, war die Stimmung, die man beim Imaginieren hat. Diese Stimmung konnte er in sich an­fachen, indem er zwar nicht zu wirklichen, reinen, frei innerlich geschaffenen Imaginationen aufrückte, sondern indem er, sich an­lehnend an dasjenige, was Pflanze, Tier, was die Wolkenwelt darleben, in sich dergestalt verwandelte, daß er sich aniehnte an das, was in der äußeren Welt als Werden vor sich geht und es nachbildete in sinn­lich-übersinnlichen Bildern. Er konnte sich in diese beim Imaginieren verlaufende Stimmung finden, wie er sich beim Lesen des Spinoza gefunden hat in die Stimmung des Inspiriertwerdens, in das Auf­hören des sich in seiner Subjektivität Fühlens, des sich Fühlens in der Welt, so daß das, was ausgesprochen wird, sich der Worte nur als Mittel bedient, um gewissermaßen die Geheimnisse des Weltenalls von der Welt selber aussprechen zu lassen.

Wer jemals wirklich jenen Übergang empfunden hat, der da in der Seele auftreten kann, wenn man anfängt, zunächst Spinozas «Ethik» wie eine mathematische Abhandlung zu lesen und wenn man sich dann hineinfindet in die Begriffe wie in mathematische Begriffe, und dann immer weiter aufsteigt bis zu der « scientia intuitiva», wo Spinoza so redet, bewußt so redet, als wenn er darinnen stünde in der Welt und sich selbst voll erfassen würde, als wenn die Welt sich durch ihn als durch ihr Mundstück zum Ausdruck brächte, wer dieses Übergehen in die reine Kontemplation Spinozas fühlt, der fühlt auch, was Goethe und Herder an Spinoza empfunden haben. Er fühit, wie der eine mehr selbstbefriedigt wie Herder, der andere mehr mit Sehn­sucht in dieser Inspirationsstimmung lebte. Und so können wir sagen, es gehen aus dem, was heute die geisteswissenschaftliche For­schung uns bietet an Methoden, um die Imagination zu erringen, die Inspiration zu erringen, gewisse Seelenstimmungen hervor, in denen man sich im imaginativen, im inspirierten Leben befindet. Man kann aber auch geschichtlich verfolgen, wie zum Beispiel Goethe, ohne noch die Inspiration, ohne die Imagination zu haben, nach diesen

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Stimmungen hintendierte. Und nun gehe man weiter, man sehe sich Spinoza an. Wenn man sich Spinoza ansieht, wenn man nun wirklich innerlich Geschichte treibt, nicht so, wie es vielfach heute von den Philosophiehistorikern gemacht wird, so wird man von Spinoza ge-führt zu denjenigen, die seine Anreger waren. Und die Anreger Spi­nozas waren die im Südwesten Europas lebenden Nachzügler des Arabismus, der arabisch-semitischen Weltanschauung. Derjenige, der solche Dinge versteht, wird noch nacherleben können, wie das, was dekadent in der Kabbala hervorgetreten ist, sich in den reinen Vor-stellungen des Spinoza wiederfindet. Und so wird man dann weiter zu­rückgeführt über den Arabismus nach dem Orient, und man lernt er­kennen, wie das, was da bei Spinoza auftritt, in Begriffe, in intellektua­listische Vorstellungen gebrachte Weltansicht der Vorzeit ist. In der Welt des alten Orients tritt dasselbe auf wie bei Spinoza, nur nicht in intellektualistischen Formen, sondern als alte orientalische Inspiration, aber als eine Inspiration, die nicht so erworben war wie die unsrige heute, sondern eine Inspiration, die wie eine Naturgabe bei gewissen orientalischen Völkern vorhanden war, dann herübergewandert ist nach Ägypten und da eine besonders tiefe Ausbildung erfahren hat. Gehen wir zurück in das Ägypten, aus dessen Quellen Moses seine Anschauungen geschöpft hat, zurück in das Ägypten, von dem auch die Griechen gelernt haben, dann finden wir da schon auf einer hohen Stufe das ausgebildet, was aus dem asiatischen Orient auch nach Ägypten herübergekommen ist. Wir finden da auf einer hohen Stufe ausgebildet, was als Inspiration gelebt hat, nicht als bewußte Inspi­ration, sondern als unbewußte, atavistische, als Inspiration, die wie eine instinktive Naturgabe vorhanden war. Wie instinktiv haben die Ägypter vor dem 10., 9. und 8.vorchristlichen Jahrhundert in der Umwelt so gelebt, daß sie sich mit dieser eins fühlten, daß sie das, was sie von dieser Umwelt erkannten, innerlich kontemplativ er-lebten, indem der Mensch sich seiner Umwelt überließ, so überließ, daß er instinktiv eins wurde mit der Natur. Das haben die Ägypter aus der Natur herausgeholt.

Und nun gehen wir an das heran, wonach Goethe sich sehnte, als er die Stimmung der Inspiration erlebt hatte, an das Imaginative. Er sah

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es gewissermaßen zuerst als eine bedeutsame Anregung in der Kunst der Griechen. Da empfand er in Anschauung, wie Herder sie emp­funden hatte in der Begriffs-, in der Vorstellungswelt, wie sie kon­templativ bei Spinoza auftrat. Und was Goethe da empfunden hat, das vertiefte er bis zur Naturanschauung, so daß er später aus seinem Geiste heraus ein so tiefes Wort sprechen konnte: «Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.» Durch die Kunst hindurch sah Goethe auf den Grund der Imagination. Und er suchte, sich anlehnend an das Naturwerden, die­jenige Seelenstimmung, die der Mensch hat, wenn er mit dem Wer­den eins wird, zwar noch nicht aus sich herausgeht, sondern mit dem eins wird, was in ihm selber abläuft, wo er sich in Bildern aus-lebt und unter Bildern selber zum Bilde wird. Dieses Sich-selber-Überwinden und doch Erhalten in der Imagination, es offenbarte sich Goethe durch die Kunst der Griechen, aber er suchte es nicht bloß in der Kunst, er suchte es in seinen Urgründen als Naturan­schauung. Und verfolgen wir dieses besondere Element weiter, das Goethe ausbildete, so erreichen wir es heute in ganz bewußter Weise, wenn wir die imaginative Anschauung ausbilden. Versuchen wir nun es zurückzuverfolgen nach seinen Ursprüngen, wie wir den Spinozis­mus zurückverfolgt haben nach dem alten Ägypten, so werden wir zu den Griechen geführt und von da weiter nach dem Orient. Wir kom­men vom Griechentum aus hinüber nach der im Werden lebenden Weltanschauung der Chaldäer, die ihrerseits wiederum aus der persi­schen Welt und aus der ganzen asiatischen Welt, die eine besondere Stufe auch im Chinesischen hat, geschöpft haben. Geradeso wie wir, ich möchte sagen, hindurchschauen durch die Seelenstimmung Spino­zas auf das alte Ägyptertum, so schauen wir durch Goethes An­schauung griechischer Kunst hindurch auf die so merkwürdige Werde-anschauung, die im alten Chaldäa gelebt hat. Bis in die Einzelheiten hinein kann man diesen Gegensatz des Chaldäertums und Ägyptertums verfolgen, wenn man sich nur in der richtigen Weise vorbereitet hat. Aber Sie sehen eins: Man kann also fühiend als Mensch zurück­gehen in frühere Zeitepochen, wenn man sich nicht einspinnt in dasjenige,

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was man heute wie ein absolut Richtiges, einzig Exaktes an­sieht, sondern wenn man versucht, zu anderen Vorstellungsarten, zu der Imagination, zu der Inspiration aufzurücken. Mit den Seelenstim­mungen, die man bei der Imagination und Inspiration hat, kann man erkennend zurückgehen in frühere Zeiten. Wer den Spinoza heute liest nur mit der Vorstellung von dem, wie wir es so herrlich weit gebracht haben und wie alles Frühere im Grunde genommen nur kindliche Vor­stellungen sind, der empfindet nicht aus dem vollen Menschentum her­aus, wie im Spinozismus als Stimmung fortlebt, als Stimmungsgehalt fortlebt, was schöpferisch, instinktiv, produktiv war als höchste Blüte im alten ägyptischen Kulturleben. Der empfindet auch nicht, wie die Seelenstimmung war in dem, was Goethe beseelte, als er die Worte aussprach: «Da ist die Notwendigkeit, da ist Gott», oder «Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst». Wer nur den abstrakten Gedankeninhalt von heute zu­grunde legt, der kommt nicht zurück in die früheren geschicht­lichen Epochen; daher ergibt sich ihm auch der Abgrund, auf den ich am Eingang meiner heutigen Betrachtungen hingewiesen hatte. Allein der kommt in alte Menschheitsepochen zurück, der in diese Grund-stimmung sich hineinversetzen kann, denn diese Grundstimmung, wie ich sie bei Spinoza in Goethescher Färbung geschildert habe, die findet man im alten ägyptischen Leben, und kein ägyptischer Mythos, insbesondere nicht der Osiris-Isis-Mythos, wird irgendwie wirklich erlebt werden können in seinem Gehalte, wenn man nicht diese Stim­mung zugrunde legt. Die Leute mögen noch so gescheit sein, noch so viele allegorische, symbolische Ausdeutungen geben - darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß man als ganzer Mensch mitemp-findet, wie in alten Zeiten empfunden worden ist. Dann mag man bei den alten Vorstellungen dies oder jenes denken, gescheite oder un­gescheite Symbolik wählen, auf diese Wahl kommt es nicht an, sondern auf das Erleben der Grundstimmung. Dadurch kommt man hinein in dasjenige, was lebendig war in einer früheren Menschheitsepoche. Ebensowenig kann man dasjenige, was im alten Chaldäer gelebt hat, auf die heutige Art der Forschung finden, sondern allein dadurch, daß

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man sich wirklich in jene Imaginationsstlmmung hineinversetzen kann, die dazumal bei den Chaldäern gewissermaßen als Weltanschau­ungsstrmm.ung instinktiver Art auftrat, die in einem Werden lebte. Und jetzt erst, mit diesen Stimmungen, begreift man, welcher Gegensatz zum Beispiel zwischen den als Zeitgenossen lebenden Völkern, den Chaldäern und Ägyptern, damals doch vorhanden war. Die Handels­beziehungen gingen von Ägypten nach Chaldär, von Chaldäa nach Ägypten. Ihre Kulturverhältnisse waren so geartet, daß sie sich Briefe schreiben konnten; alles dasjenige, was äußerliches Leben war, stand in einem regelmäßigen Wechselverhältnis. Die innere Seelenver­fassung aber war dennoch bei ihnen ganz verschieden. Bei den Chaldäern lebte ein imaginatives Element, bei den Ägyptern ein inspi­riertes Element. Bei den Chaldäern lebte äußerliche Anschauung, wie sie erhöht bei Goethe wieder erschien, bei den Ägyptern lebte etwas, das ganz aus dem Inneren, Seelischen hervorgeht, so wie es dann auf einer hohen Stufe aus dem Inneren von Spinozas Seele hervorgegan­gen ist. Das kann man bis in die Einzelheiten verfolgen. Ich will eine solche Einzelheit angeben, und Sie werden sehen, wie solche Einzel­heiten erst auf Grundlage solcher allgemeinen Stimmungen zu ver­stehen sind.

Die Chaldäer hatten im Grunde genommen eine weit ausgebildete Astronomie. Sie bildeten sie aus durch sinnvoll angelegte Werkzeuge, aber vor allen Dingen durch eine ganz bestimmte Art von Anschau­ung, die eben instinktive Imagination war. Dadurch kamen die Chal­däer dazu, den Zeitenlauf in Tag und Nacht so zu teilen, daß sie beide zu je zwölf Stunden zählten. Aber wie teilten sie? Sie teilten den langen Tag im Sommer in zwölf Stunden, die kurze Nacht im Sommer auch in zwölf Stunden. Im Winter teilten sie den kurzen Tag ebenso in zwölf Stunden, die lange Nacht auch in zwölf Stunden, so daß die Stunden des Winters bei Tag kurz waren, die Stunden des Tages im Sommer lang. Also in den verschiedenen Jahreszeiten hat­ten bei den Chaldäern die Stunden ganz verschiedene Zeidängen, das heißt, die Chaldäer lebten in der Anschauung des Werdens so, daß sie das Werden in die Zeit hineintrugen. Sie konnten nicht da, wo sie in der Außenwelt so lebten, wie man im Sommer lebt, die Stunden so

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verlaufen lassen, wie sie sie im Winter verlaufen ließen. Also sie tru­gen das Werden in den Zeitverlauf hinein. Es laam ihnen im Som­mer der Zeitverlauf, das Werden selber auseinandergezogen vor. Das Werden war innerlich beweglich, nicht innerlich starr, wie es in unse­rer Zeit starr ist, sondern die Zeit war bei ihnen elastisch.

Wie war das bei den Ägyptern? Die Ägypter nahmen Jahre an zu 365 Tagen. Dadurch waren sie genötigt, immer Ergänzungstage zu bestimmten Zeiten einzufügen; aber sie konnten sich nicht ent­schließen, irgendwie von diesen 365 Tagen abzugehen. Sie wissen, in Wirklichkeit ist das Jahr länger als 365 Tage. Die Ägypter hatten für jedes Jahr 365 Tage. Starr blieb diese Länge des Jahres bis in das dritte vorchristliche Jahrhundert bei ihnen, und dadurch wuchs ihnen die anschauliche Außenwelt über den Kopf. Dadurch veränderten sich die Feste; zum Beispiel nach gewissen Zeiten war ein Fest, das im Spätherbste war, in den Frühherbst gewandert und so weiter. Also die Ägypter lebten sich in den Zeitenlauf so ein, daß sie eine Zeit-vorstellung hatten, die in ihrem vollen Umfang gar nicht anwendbar war auf dasjenige, was äußerlich anschaulich ist. Das ist ein bedeut­samer Gegensatz. Die Chaldäer lebten sich so sehr in das äußerlich Anschauliche ein, daß sie für den Sommer und Winter die Zeit elastisch machten. Die Ägypter machten die Zeit so starr, erlebten dasjenige, was sich subjektiv, ganz von innen heraus erleben laßt, so, daß sie es nicht einmal korrigierten durch Schalttage, damit wiederum die Feste des Jahres übereinstimmten mit den Jahreszeiten, sondern sie ließen zu, daß die Feste, also sagen wir dasjenige, was einst im Frühling war, in ganz andere Monatsdaten hineinfiel, wodurch die Zugehörigkeit von Festen zu ihrer Jahreszeit ganz verschwand. Sie fanden sich nicht hinein in die äußere Welt, sie blieben bei ihrer inneren Welt. Das ist die Stimmung der Inspiration, die man auch haben muß, wenn man zur wirklichen Erkenntnis kommen will. Die Ägypter hatten sie als instinktive Inspiration.

Man muß als ein die höhere Welt erkennender Mensch wirklich so beweglich sein können, wie auf der einen Seite die Chaldäer beweg­lich waren, und man muß auf der anderen Seite so tief in sein Inneres hineingehen können wie die Ägypter, da sie ihrem ganzen Leben ein

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starres Zeitsystem zugrunde legen konnten, sogar ihrem sozialen, geschichtlichen Leben. Dieser ganze Gegensatz, dieser Unterschied zwischen naiver Inspirationsstimmung und Imaginationsstimmung kommt so weithistorisch zur Offenbarung.

Goethe hat als Vollmensch zuerst das innerliche Erleben Spinozas nacherlebt, sozusagen als Fortsetzung des Orientalismus und Ägypter­tums. Und aus diesem innerlichen Fühien, wo alles unanschaulich ist, wo man hinausschaut in die Welt und die Dinge nicht wiedererkennt, weil man sich nach dem richtet, was das Innere gibt, so daß die Dinge einem über den Kopf wachsen, erlebte Goethe Sehnsucht nach dem völligen Sich-Anpassen an die Außenwelt. Er wollte, indem er die Ägypterstimmung empfand, die Chaldäerstimmung als die des anderen Poles in sich erleben. Wenn nun solch ein Mensch die historischen Stimmungen aus seiner eigenen Natur heraus wieder erschafit, dann sieht man die Fäden sich ziehen von der neueren Zeit zur alten Zeit hin und man fängt an, die verschiedenen Zeitepochen sich durch solche Betrachtung beleben zu lassen.

Und das ist es, worauf es ankommt: daß man nicht nur aus den Dokumenten ermittelt, was in dem einen oder anderen Zeitraum geschehen ist, sondern sich als ganzer Mensch hineinzuversetzen lernt in die verschiedenen Zeiträume, in das, was in den verschiedenen Zeiträumen Menschen und Völker gefühlt und innerlich erlebt haben, in welcher Seelenverfassung sie waren. Denn aus diesem innerlichen Erleben, aus dieser besonderen Art der Seelenverfassung gingen dann auch ihre äußeren Schicksale hervor.

Das wird der Weg sein, welcher uns über solch scharlatanhafte Fragen wie die: Ist das Ei zuerst oder die Henne zuerst? - hinweg-führen und hineinführen kann in die tieferen Gebiete der Wirklichkeit. Der Weg, der uns aber zugleich zeigt, wie man jedesmal, wenn man die Wirklichkeit betrachtet, weiter vordringen muß gegenüber dem in der heutigen äußeren, gegenständlichen Erkenntnis Gegebenen.

Und wenn heute oft betont wird, man soll von der Geschichte lernen für das Tun in der Gegenwart und Zukunft, dann muß schon sehr stark hingedeutet werden auf die Art, wie man wirklich lernen soll, so lernen, daß lebendig wird, worin der Mensch mit

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seiner Seele gestanden hat in abgelebten Epochen. Durch diese Betrachtung wird jener Abgrund, von dem ich gesprochen habe, aus-gefüllt. Durch diese Betrachtung werden wir zurückblicken können in die Metamorphose der Seelenverfassungen der Menschen verschie­dener Zeitepochen. Und dann wird zugleich Feuer und Besonnenheit ergossen werden können in unsere gegenwärtige Seelenverfassung, so daß wir die nötige Besonnenheit finden, um die Ideen auszubil­den, die notwendig sind zu einer Gesundung auch der heutigen sozia­len Verhältnisse. Aber es wird auch das nötige Feuer ausgebildet, das notwendig ist, um die Kräfte zu haben, die Imagination, die Inspi­ration, die einst nur instinktiv ausgebildet werden konnten, heute in voller Besonnenheit zu erreichen und durch Ideen auszudrücken. Das braucht man heute, und wenigstens der Versuch, der schwache Ver­such soll unternommen werden in den nächsten Tagen, eine solche geschichtliche Betrachtungsweise vor unsere Seelen hinzustellen.

ZWEITER VORTRAG Stuttgart, 22.Mai 1921

#G325-1969-SE092 Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum

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ZWEITER VORTRAG

Stuttgart, 22.Mai 1921

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Wenn man sich eine Überzeugung darüber verschaffen will, was Na­turwissenschaft in dem neueren Sinn des Wortes für die ganze Mensch­heitsentwickelung bedeutet, muß man bis zu den Quellen der gegen­wärtigen Zivilisation zurückgehen. Diese muß man, wie man wohl schon aus der gebräuchlichen geschichtlichen und naturwissenschaft­lichen Betrachtung heraus ersehen kann, in der Zeit sehr weit zurück-liegend denken. Aber erst dann, wenn man die Entwickelung des Menschen, das allmähliche Heraufkommen seiner besonderen Fähig­keiten in dem ganzen neueren Zeitalter ins Auge faßt, kann man sehen, wie die Fähigkeiten aus den Tiefen der menschiichen Seele sich heraufringen, die zur gegenwärtigen Naturbetrachtung und zur An­wendung dieser Naturbetrachtung in der Technik und im Leben führen. Nun liegt, wenn man zunächst sich in die gegenwärtige Wissen­schaftsart eingefühlt hat, eine gewisse Schwierigkeit vor, sich die ganze neuere weltgeschichtliche Epoche in ihrem Wesen vor die Seele zu führen.

Wir haben gestern versucht, einleitungsweise auszugehen von der Gegenwart - natürlich im weiteren Sinne, indem mm Herder, Goethe zu dieser Gegenwart dazurechnet - und gewisse Strömungen aufzu­suchen, welche in ältere Zeiten zurückführen. Wir haben gesehen, wie die eine der beiden Geistesströmungen, die in Goethe so charakteri­stisch vorhanden sind, zurückführte in die ägyptische, die andere in die chaldäische Anschauung. Wir haben uns zurückversetzt in vor-christliche Zeiten, und wir haben charakteristische Unterschiede her­vorgehoben zwischen der ganzen Art der Seelenverfassung der in Vorderasien lebenden chaldaischen Völker, die man zurückverfolgen kann bis etwa in den Beginn des 3. vorchristlichen Jahrtausends, und derjenigen der Ägypter, die noch weiter zurück, auch äußer­lich historisch, betrachtet werden können.

Wir haben gesehen, wie bei den Chaldäern eine Anschauung vot­handen ist, die mehr in der Außenwelt lebt, bei der sich der menschliche

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Sinn sozusagen an die Außenwelt so weit verliert, daß selbst die Zeit elastisch wird. Diese Seelenverfassung macht notwendig, die Ta­gesstunden im Sommer als länger anzusehen als im Winter, während bei den Ägyptern durch Jahrhunderte hindurch die Jahreseinteilung streng so festgehalten wird, wie es sich gewissermaßen aus einer Art von Rechnung heraus, nicht aus der Erfassung der äußeren Ereignisse, ergibt. Man nimmt das Jahr zu 365 Tagen an, setzt also stets zu 365 Tagen 365 weitere hinzu, und merkt nicht, daß man eigentlich da­durch nicht mehr zusammentrifft mit dem draußen in der Sinneswelt sich darstellenden Jahresverlauf, sondern indem man das Jahr kür­zer nimmt, als es ist, und einfach rechnet, man in Widerspruch kommt mit demjenigen, was man eigentlich in der Außenwelt wahr­nimmt.

Das zeigte einen bedeutsamen Unterschied in der Seelenverfassung zweier Völker, die miteinander in Handels- und geistigem Verkehr gestanden haben, also sich äußerlich nahestanden. Richtig würdigen wird man einen solchen Unterschied aber nur, wenn man sich weiter beobachtend auf die Ursprünge der menschlichen Zivilisation einläßt. Das wird dadurch erschwert, daß die Kulturen, die sich zeitlich nach­einander entwickelt haben, heute räumlich nebeneinander in verschie­denen Entwickelungsphasen durcheinandergemischt sind. Wenn heute der Europäer oder der Amerikaner, der aus seinem Materialismus heraus zu geistigeren Vorstellungen von dem Menschenwesen kom­men will, sich zu der heutigen indischen Kultur hinwendet, so findet er innerhalb dieser indischen Kultur eine hochentwickelte Geistigkeit, einen von scharfsinnigen Verstandesbegriffen durchzogenen Mystizis­mus. Er findet innerhalb der Weltanschauung, die ihm da entgegen­tritt, durchaus nichts von dem, was er innerhalb der abendländi­schen oder amerikanischen Zivilisation als naturwissenschaftliche Weltanschauung kennengelernt hat. Wenn er die Sehnsucht empfin­det, über den Menschen selbst etwas zu erfahren, was ihm die heutige Wissenschaft nicht geben kann, und wenn er sich nicht darauf ein-läßt, dasjenige in Berücksichtigung zu ziehen, was eine neuere Geistes­wissenschaft über diesen Menschen zu geben weiß, so wird er sich vertiefen wollen in die geistige Weltanschauung des heutigen Indien,

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oder wenigstens desjenigen, das aus verhältnismäßig nicht langver­gangener Vorzeit sich erhalten hat.

Wer aber etwas ausgerüstet mit den Erkenntnissen der hier ge­meinten Geisteswissenschaft ist, und so an diese indische Weltan­schauung herangeht, der wird finden, daß aus demjenigen, was in ihr heute vorhanden ist und das aus einer mehr oder weniger weit zurückliegenden Vergangenheit sich historisch erhalten hat, etwas spricht, was nicht mehr ganz offenbar ist, sondern wie ein Unter­grund sich ausnimmt, wie etwas, das aus dunklen Tiefen heraufkom­mend, darinnen spielt. Es spielt darinnen selbst in der Sprache, aber namentlich in der Vorstellungs- und Bilderwelt und muß als etwas beurteilt werden, das viele Umgestaltungen durchgemacht haben muß, bevor es die heutige Gestalt angenommen hat. Was im heutigen Indien vorhanden ist, hat erst in den allerletzten Zeiten seine Aus­gestaltung erhalten, es trägt aber Elemente in sich, die uralt sind, die Jahrtausende gebraucht haben, um so zu dem zu erwachsen, zu dem sie ausgewachsen sind.

Geht man an andere Kulturen, sagen wir mehr vorderasiatische oder die chinesische heran, dann findet man, daß da ein Ähnliches der Fall ist, aber man bekommt das Gefühl, so weit brauche man da nicht zurückzugehen, um das Gegenwärtige zu verstehen, wie in In­dien. Und betrachtet man das ägyptische Leben, wie es sich ab­spielt etwa seit dem Beginne des 3. vorchristlichen Jahrtausends, dann hat man das Gefühl, dasjenige, was historisch in den Dokumenten enthalten ist, das nimmt sich so aus, daß man nötig hat, sich gefühls­mäßig in älteste Zeiten hineinzuversetzen, wie wir das gestern zum Beispiel versucht haben; aber man findet auch, daß da mit einer Art von Treue sich das Alte erhalten hat, so daß sein Tiefgründigstes auch im Späteren sichtbar ist, während in Indien das Tiefste im An­fange seiner Entwickelung gesucht werden muß.

In einer ähnlichen Weise verhält es sich dann bei der griechischen und bei unserer eigenen Kultur, die, wie wir sehen werden, etwa mit dem 15. Jahrhundert beginnt. Da nimmt sich ja die Sache so aus, daß zwar für den Tieferblickenden durchaus uralte Elemente sich fort-gepflanzt haben, daß diese aber für das gewöhnliche Bewußtsein kaum

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bemerkbar sind. Wir werden in den folgenden Betrachtungen sehen, wie innerhalb der europäischen und amerikanischen Kultur diese alten Elemente zu entdecken sind.

Man möchte sagen, das naturwissenschaftliche Element, das in die neuere Zivilisation eingezogen ist, hat scheinbar so gründlich auf­geräumt mit dem, was alt war, daß dieses Alte eben nur mehr durch ganz bestimmte Methoden zu ergründen ist. Es ist aber doch noch da. So sind auf der Erde nebeneinander Kulturen verschiedenen Alters vorhanden. Man muß sehr, sehr weit zurückgehen, wenn man die heutige indische Kultur verstehen will; man braucht nur weniger weit zurückzugehen, um die vorderasiatische Kultur und deren Literaturen zu verstehen, weniger weit, um die ägyptische, noch weniger, um die griechisch-römische Kultur und so weiter zu verstehen. Man kann fast ganz in der Gegenwart bleiben, will man die europäische und amerikanische Gegenwartskultur verstehen.

Dasjenige, was sich im Laufe der Zeiten nacheinander entwickelt hat, das steht nebeneinander für uns da; und dasjenige, was so neben­einander dasteht, hat in Wirklichkeit verschiedenes Alter, wenigstens zunächst für den äußeren Anschein, so daß sich das Räumliche mit dem Zeitlichen vermischt, und man erst, ich möchte sagen, vom Gegenwartsstandpunkte aus die Methoden finden muß, um zu sehen, von welchen gegenwärtigen Kulturen man in die uralten Zeiten zu­rückgehen kann, von welchen man den Zugang zu diesen schwer und höchstens auf Umwegen findet.

Nun schließt sich ja, wie Sie wissen - und wir haben gestern ge­sehen, in welch äußerlicher Weise das oftmals der Fall ist -, die natur­wissenschaftliche Betrachtung, die sogenannte anthropologische oder geologische Betrachtung an dasjenige nach vorne an, was die Historie bietet. Wir werden heute schon von der äußeren anthropologischen Forschung zurückgeführt in sehr frühe europäische Zeiten. Allerdings, wie sich das für die asiatischen Menschen ausnimmt, davon ist noch wenig die Rede, aber für die europäische Entwickelung werden wir zurückgeführt in alte Zeiten. Sie wissen ja, daß die durch die Geologie bereicherte Anthropologie und Geschichte heute davon sprechen, daß die älteste Bevölkerung Europas, deren wahrhaft

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künstlerische Überreste sich in gewissen Höhienfunden Spaniens und Südfrankreichs gefunden haben, um Jahrtausende zurückliegen muß; daß wir in den merkwürdigen Malereien, die sich durch diese Höhien­funde gezeigt haben, darauf aufmerksam werden, wie in ururalten Zeiten Menschen in Europa mit einer gewissen Kultur schon gelebt haben müssen, sogar vor jenen bedeutsamen Ereignissen, von denen Anthropologie und Geologie sprechen als von der europäischen Eis-zeit, innerhalb welcher ein großer Teil des europäischen Kontinents mit Eis bedeckt war, so daß er unbewohnbar war. Solche Gegenden wie diejenigen, in denen sich die Höhienfunde Südfrankreichs und Spaniens gefunden haben, sie müssen Oasen gewesen sein. In der weiten Vereisung, da müssen Menschen gewohnt haben, da muß eine verhältnismäßig reiche Natur gewesen sein und sich eine Kultur ent­wickelt haben.

So werden wir heute schon zurückgeführt in sehr alte Zeiten des europäischen Zivilisationslebens. Und hier schließt sich gewisser­maßen zusammen dasjenige, was äußere Forschung bieten kann, mit demjenigen, was Geisteswissenschaft zu sagen hat. Geisteswissenschaft kann ja nur ausgehen von demjenigen, was die entwickelten Seelen-fähigkeiten des Menschen ergründen können, was sich durch Imagi­nation, Inspiration ergeben kann; sie kann von demjenigen sprechen, was innerlich bewußt geschaut werden kann. Da kann man sagen, in bezug auf dasjenige, was durch die äußere Geschichte erforscht wer­den kann, kann eigentlich durch Geistesforschung nur der geistige Teil der Entwickelung mehr oder weniger ergründet werden, weni­ger dasjenige, was sich in der äußeren Natur zugetragen hat. Durch diese Geistesforschung aber kann zurückgegangen werden bis zu den­jenigen Zeiten, welche den Menschen und seine Umwelt noch in ganz anderen Verhältnissen gesehen haben als denjenigen zur Zeit der europäischen Vereisung.

Es wird weniger die Aufgabe gerade dieser Vorträge sein, zurück-zuweisen in solche alten Zeiten, in denen der Mensch unter ganz anderen Verhältnissen und in ganz anderen Erdgebieten gelebt hat als später; aber es soll ein Gefühi davon hervorgerufen werden, wie berechtigt es ist, auf solche übersinnlichen Erkenntnisse hinzuweisen,

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die auch das Historische der Menschheitsentwickelung bis in frühe Zeiten zurückverfolgen können.

Jedenfalls aber, wenn wir vertieft mit jenem Blick und mit jener Empfindung, die aus Geisteswissenschaft gewonnen werden können, herantreten an dasjenige, was die äußere Geschichte gibt, so können wir etwas erfahren über den Entwickelungsgang der zivilisierten Menschheit. Das kann man vom Gesichtspunkte der äußeren Anthro­pologie und äußeren Geologie und Geschichte zugeben, daß, wenn man etwa um zehn bis fünfzehn Jahrtausende zurückgeht, eben eine ganz andere Art von Leben bestand als im heutigen zivilisierten Europa. Man kann zugeben, daß in diese Zeit, etwa in die letzten zehn- bis fünfzehntausend Jahre, die Entwickelung der europäischen, der asiatischen und im wesentlichen auch der alten amerikanischen Menschheit fällt.

Aber dasjenige, was an Dokumenten vorliegt, es muß eben in einer ganz besonderen, durch die Geisteswissenschaft zu gewinnenden Weise beleuchtet werden. Da muß man allerdings sagen: Hat man sich aus solchen Betrachtungen, wie ich sie gestern einleitungsweise gemacht habe, die Möglichkeit angeeignet, zurückzugehen von der Gegenwart in frühere Seelenverfassungen, dann kann man in einer gewissen Weise dasjenige, was jetzt nebeneinander lebt, in der richti­gen Art anschauen in bezug auf seine Vorzeitlichkeit. Dann wird allerdings der Blick zuerst auf die indischen Gebiete gelenkt.

Dasjenige, was heute da noch lebt in einer merkwürdig scharf­sinnigen Art, die Welt zu interpretieren, das führt zurück in die­jenigen Zeiten, in denen die große, gewaltige indische Philosophie und in denen die Vedendichtungen entstanden sind. Aber auch wenn man die Vedendichtungen, die Vedantaphilosophie, die Jogaphilo­sophie der Inder auf sich wirken läßt, so empfindet man, daßman das­jenige, was da in seinen Nachwirkungen noch neben uns auf der Erde ist, um es zu verstehen, in sehr frühe Zeiten zurückverfolgen muß. Und vergleicht man es dann mit demjenigen, was sonst an Kul­tur vorhanden ist, sagen wir zum Beispiel mit unserer europäischen Art, logisch zu denken, oder mit der griechischen Art, die Gedan­ken auszubilden, dann findet man überall, daß die europäische Zivilisation

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von heute sich gegenüber der indischen ausnimmt wie ein Urenkelkind, ein Enkelkind, ein Kind, die neben dem Vater gleich­zeitig leben. Es steht da das Indische wie in sehr frühe Zeiten zurück­weisend, aber alt geworden. In dem Zustand, wie es sich als alt gewor­den darstellt, ergründet man noch dasjenige, was einmal in alten Zei­ten als höchste Geistigkeit sich geoffenbart hat. Aber man sieht es eben in seiner Dekadenz, in seiner Greisenhaftigkeit, man sieht es so, wie man an dem Kinde sieht, wie es gewisse Zustände des Vaters auf einer früheren Stufe dieses Vaters darstellt, aber anders, weil es diese Zustände in späterer Zeit durchlebt. Denken Sie zum Beispiel an einen Menschen, der Kind war in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, und blicken Sie von ihm zum Vater oder gar zum Großvater auf. Gewiß, der Großvater war Kind in den vierziger, fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts; aber er hat die Kindheit in an­deren Verhältnissen durchgemacht, als das Kind der neunziger Jahre; das wußte im Grunde schon ganz andere Dinge, als der Großvater mit seiner naiven Kindlichkeit in den vierziger Jahren. Eignet man sich für so etwas im Völkerwerden einen Blick an, dann erscheinen eben gegenwärtige europäische Zivilisationen oder auch die griechi­sche Zivilisation, soweit wir sie durchdringen können, wie spät ge­boren gegenüber dem, was früh geboren ist als Indisches, was aber uns heute schon in Greisenhaftigkeit entgegentritt. Können wir uns hineinfühien in dieses heute greisenhaft gewordene Indische, in das im Grunde schon alt gewesene zur Zeit der Vedendichtungen, der Vedantaphilosophie? Haben wir aber eine durch Geisteswissenschaft anerzogene Seelenverfassung, um aus dem Späteren das Frühere zu erschauen, wie man aus dem alt gewordenen Menschen, weil man da­für einen Blick hat, auf die Kindheit schauen kann, dann kommt man allerdings zu einer Anschauung auch über das Urindische. Aber man sagt sich dann auch, dieses Urindische, es ist ganz zweifellos eine Art von Kultur gewesen, welche grundverschieden von der unsrigen ist. Diese Kultur muß ganz durch und durch geistig gewesen sein und muß den Menschen ganz besonders als Geistiges aufgefaßt haben. Und man sagt sich dann, wenn man die Mannigfaltigkeit desjenigen betrachtet, was gerade im Indischen einem entgegentritt, gegenüber

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der Vedendichtung mit ihrer Bildlichkeit, die aber im lyrischen Element bleibt, der scharfsinnigen Vedantaphilosophie, der inbrünsti­gen Jogaphilosophie: Da muß sich im Laufe der Zeit Kultur mit Kultur gemischt haben; da muß einfach einmal eine Urkultur da­gewesen sem ganz geistiger Art. Dann aber muß darüber dasjenige gezogen sem, was schon weniger geistig war, und was dann seinen Niederschiag in der Vedendichtung gefunden hat. Dann muß sich niedergeschlagen haben dasjenige, was in der inbrünstigen Jogaphilo­sophie aufgetaucht ist. Unmöglich kann das alles aus einem Volk herausgekommen sein. Da haben sich Völker durcheinandergeschoben mit verschiedenen Anlagen. Das eine hat die Jogalehre, das andere die Vedendichtung gebracht. Diese Völkerschaften haben ein Urindi­sches schon vorgefunden, mit dem sie sich dann durchdrungen haben, dem sie dasjenige entnommen haben, was reif und alt war, aber in den Menschen abgestorben. Die eindringenden Völker kamen mit frischem Blute dazu; sie gestalteten dasjenige, was die Menschen, die in der Dekadenz waren, nicht weiter ausbilden konnten. Und so ging es weiter. So kam allmählich der gegenwärtige Zustand zustande; und man wird dann nicht mehr sehr weit davon sein, die uralte indische Kultur mit dem zu vergleichen, was als Überreste vorhanden ist in den Gegenden, in denen sich die heutige Zivilisation entwickelt hat. Man wird mit den Menschen Urindiens diejenigen Menschen vergleichen, die die merkwürdigen Bilder gemalt haben könnten, die sich da zei­gen in Westeuropa, diese eigentümlichen Bilder in ihrer, ich möchte sagen, tiefen Eindruck machenden Linienführung. Wenn man diese Bilder sieht, wenn man sich in dasjenige hineinversetzen kann, was eine Menschenseele durchlebt, indem sie gerade solche Bilder aus­führt, dann kommt man dazu, sich zu sagen: Ja, gewiß, in diesen Bildern ist etwas sehr Primitives enthalten, manchmal etwas, wie es begabte heutige Kinder malen; aber doch noch etwas anderes. Man sieht diesen Bildern an, wie die Menschen in einer gewissen Liebe zur äußeren Natur, die sie umgibt, gelebt haben; und man sieht, daß diese Bilder aus tiefen inneren Impulsen heraus gemalt sind; man sieht, ich möchte sagen, daß sie von Menschen gemalt sind, die nicht erst mit den Augen austüftelten, wie sie Linien zu führen haben, Farben zu

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setzen haben, sondern die aus ihren inneren Erlebnissen heraus das­jenige bilden, malen, was tief, ich möchte sagen, in ihrem Leibe saß.

Vergleicht man dieses mit dem, was sich abgesetzt hat in der urindi­schen Kultur, dann findet man dennoch eine Verwandtschaft. Im Westen Europas tritt die Sache primitiv auf, und es bleibt beim Primitiven zunächst; drüben in Asien, in Südasien, entwickelt sich es weiter und weiter, weil es immer befruchtet wird von anderen Volks­stämmen; und es entwickelt sich herauf bis zu der Vedantaphilosophie. Würde ich diese Dinge geisteswissenschaftlich, wie ich es öfters getan habe, vortragen, so würden Sie sehen, daß man da noch mit einer ganz anderen Konkretheit an die Sache herantreten kann. Ich will aber zunächst heute die Sache so fassen, wie sie sich dem Geistes-wissenschafter ergibt, wenn er auch Rücksicht nimmt auf die äußeren Dokumente. Aber so, wie man heute gewohnt ist, mit weitmaschigen Begriffen, die man sich anerzogen hat an der groben, naturwissen­schaftlichen Betrachtung, an diese Dinge heranzugehen, kommt man an sie nicht heran. Man muß, um das zu erreichen, ich möchte sagen, seine Begriffe so beweglich machen, so plastisch, wie Sie das sehen wer­den an den Betrachtungen, die ich heute vor Ihnen anstellen will. Man kann natürlich nicht, wie man die Ähnlichkeit von Dreiecken beweist, den Zusammenhang zwischen der Höhlenkultur Westeuropas und der indischen Kultur zeigen, aber die Gewißheit ist darum nicht eine kleinere, wenn man nur sich einiassen will auf diese Dinge, und wenn man eben auf die Seelenverfassung zurückgeht, auf die gestern aufmerksam gemacht worden ist.

Derjenige, der von diesem Gesichtspunkte aus sich in die Begriffe, in die wunderbaren Begriffe der Vedantaphilosophie vertieft, der sieht in ihnen gewissermaßen, ganz ins Abstrakt-Geistige umgesetzt, durch­aus die Linienführung der Malereien in den Höhlen von Spanien und Südfrankreich. Und nicht auffällig wird es ihm daher sein, selbst aus der äußeren Forschung heraus, daß ihm die Geisteswissenschaft vor­trägt, wie eine gemeinsame Urbevölkerung, die etwa gesucht werden muß im Anfange des 8. vorchristlichen Jahrtausends, die sich allmäh­lich ausgebreitet hat über die bewohnbaren Gegenden Europas, Afrikas und Asiens, und die je nach den verschiedenen Lebensverhältnissen

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diese alte Kultur, innerhalb welcher man ganz in der äußeren Natur noch drinnen lebte, ausgebildet hat, sich als am be­gabtesten erwiesen hat im alten Indien. Dort offenbart sich dasjenige, was sonst nur primitiv zum Ausdruck kommt. Dort hat sich das dann weiterentwickelt, was zum Beispiel als die Kultur von Kreta die Leute in solches Erstaunen gebracht hat. Diese entstand im Süden Europas. Drüben in Asien aber hat es sich als urindische Kultur entwickelt, ist immer weiter und weiter geschritten, ist sozusagen lebensfähig ge­blieben bis ins höchste Alter, hat aber eine Blüte durchgemacht in der Zeit, als die Veden, die Vedantaphilosophie entstanden sind, und dann die Jogaphilosophie und andere philosophische Denkarten. Es ist sehr viel in diesem Indischen durcheinandergemischt, was zu verschie­denen Zeiten sich ausgebildet hat und was heute nebeneinanderlebt.

Sieht man auf dasjenige, was sich in der urindischen Kultur an­kündigt, genauer hin, dann muß man sagen, es weist das alles auf einen Menschen mit einer Seelenverfas sung, auf die man nicht durch äußere Mittel heute kommt.

Ich habe gestern davon gesprochen, daß man vordringen kann zum imaginativen Vorstellen, und wenn man dies bewußt tut, dann be­kommt man auch einen Begriff von dem, was noch nicht bewußt, aber instinktiv solche Menschen erlebt haben wie die alten Chaldäer oder wie die späteren Ägypter. Ihre Seelenverfassung war eben eine durch und durch andere, als die der heutigen Menschen ist.

Durch das Aufgehen in diesen imaginativen Vorstellungen wird man selber zum Bilde, man verschmilzt mit der Bildlichkeit und man lebt sich in das Werden ein. So haben zum Beispiel die Chaldäer im Werden gelebt. Aber auf der anderen Seite lernt man auch erkennen, indem man sich zur Inspiration erhebt, die Trennung zwischen dem Subjektiv-Inneren und dem äußeren Objektiven zu überwinden; man fühlt sich gewissermaßen eins mit dem Weltenall, man fühlt sich im Weltenall so drinnen, daß man sich sagt: Dasjenige, was sich durch dich ankündigt, das ist die Stimme, die Sprache des Weltenalls selber; du gibst dich nur dazu her, ein Glied im Weltenall zu sein, und die Welt durch dich sich offenbaren zu lassen. - Heute können wir das bewußt in der Inspiration erreichen. Instinktiv lebten es die Ägypter

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in einem Spätstadium dar. Aber das führt uns weiter in Zeiten zurück, aus denen ein verhältnismäßig gutes Dokument ist dasjenige, was uns als chinesische Kultur entgegentritt. Dasjenige allerdings, was uns gewöhnlich als solche geschildert wird, das ist schon Spätprodukt, aber geradeso wie sich im Indischen alte Stufen, Kindheitsstufen offenbaren, so offenbaren sich im Chinesischen uralte Stufen der Zivili­sation. Und wenn wir auf eine Vorstellung namentlich zurückgehen, fühlen wir so recht, wie in diesem Chinesentum eine instinktive In­spiration lebt. Wir erlangen heute durch geisteswissenschaftliche Methode eine bewußte Inspiration. Im Chinesischen lebt sich eine mehr oder weniger instinktive Inspiration aus, das heißt, deren Er­gebnisse sind als Untergrund vorhanden in dem, was heute als chine­sische Literatur übermittelt ist. Da werden wir zurückgeführt aller­dings in eine menschliche Anschauung, durch die sich der Mensch als ein Glied des ganzen Weltenalis fühlt. Wie wir heute vom drei­gliedrigen Menschen, dem Kopfmenschen, dem Gliedmaßenmenschen und in der Mitte dem rhythmischen Menschen, sprechen und deren Wesen in ihrer vollen Tiefe durch Inspiration ergründen, so lebte der Vorfahre des heutigen Chinesentums einmal in einer instinktiven in­spirierten Erkenntnis von etwas Ähnlichem. Diese bezog sich aber nicht auf den Menschen, sondern, weil der Mensch nur ein Glied des ganzen Weltenalls war, bezog sie sich auf das ganze Weltenall. Wie wir unser Haupt empfinden, so empfand der Chinese dasjenige, was er Jang nannte. Wenn wir nämlich unser Haupt beschauen wollen, kön­nen wir uns ja gewöhnlich nicht sehen, höchstens sehen wir ein wenig die Nasenspitze, wenn wir die Augen darauf wenden. Wie wir die anderen oberflächlichen Teile unseres Organismus sehen können, wenn wir unser Äußeres anblicken, das Haupt aber gewis­sermaßen nur geistig bewußt ist, so war dem Chinesen bewußt etwas, was er Jang nannte. Und unter diesem Jang dachte er das oben Be­findliche, das geistig sich Ausbreitende, das Himmlische, das Leuch­tende, das Zeugende, das Aktive, das Gebende. Und er unterschied sich selbst nicht in bezug auf dasjenige, was in seinem Haupte lebte, von diesem Jang. Wie wir, die wir den Menschen unterscheiden von der Umwelt, den Gliedmaßenmenschen empfinden, den Menschen, der

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uns in Tätigkeit versetzt, uns mit unserer Umgebung zusammenführt, so sprach der Chinese von Jin, und er deutete damit auf alles das­jenige, was finster ist, was erdig ist, was empfangend ist und so weiter. Wir sagen heute, in unseren Stoffwechsel-Gliedmaßenmen­schen nehmen wir die äußeren Stoffe auf; wir verbinden die äußeren Stoffe durch unseren Gliedmaßen-Stoffwechselmenschen mit unserer eigenen Wesenheit, und wir nehmen das sinnenfällige gedankliche Element durch unsere Hauptesorganisation auf. Aber dazwischen steht alles dasjenige, was gewissermaßen diesen Rhythmus zwischen dem Haupte und dem Gliedmaßen-Stoffwechselmenschen herstellt. Der Atmungsrhythmus, der Blutzirkulationsrhythmus bewirkt das. Wie wir so den Menschen empfinden und erkennen, so sah der Chinese einstmals das ganze Weltenall: oben das Zeugende, Hell-Leuchtende, Himmlische, unten das Irdische, Finstere, Empfangende, und den Aus­gleich zwischen den beiden, dasjenige, was einen Rhythmus bildet zwischen Himmel und Erde, das er empfand, wenn ihm die Wolken erschienen am Himmel, wenn der Regen herabträufelte, wenn das zur Erde Herabgekommene wieder verdunstete, wenn die Pflanzen aus der Erde heraus dem Himmel zuwuchsen und so weiter. In diesem allem empfand er den Rhythmus des Oberen und Unteren, und er nannte das Tao. Und so hatte er eine Anschauung von dem, womit er ver­wachsen war. Es stellte sich ihm das in dieser Dreigliederung dar. Aber er unterschied sich selbst nicht von alledem.

Diese Anschauung tritt uns dann verändert in Vorderasien ent­gegen. In allem, was wir namentlich aus der Gegend Persiens als uralte Kultur überliefert haben, das muß, was im Chinesischen sich zeigt, einstmals eine ganz andere Ausbildung gehabt haben, die sich dann zu dem metamorphosiert hat, was überliefert ist in dem Gegen-satze zwischen Ahura Mazdao und Ahriman, dem hellen, dem leuch­tenden, glänzenden Lichtgotte, und dem dunklen, finsteren Ahriman, zwischen denen die Welt als im Rhythmus ablaufend dargestellt wird.

Der Unterschied zwischen dem, was einmal urindisch gewesen sein muß, und dem, was dann ganz metamorphosiert im Chinesentum ent­standen ist, und was man als Untergrund auch in manchen vorder-asiatischen Kulturen empfindet - ich nenne es das Urpersische in

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meinem Buche « Geheimwissenschaft im Umriß» -, ist der gewesen, daß das Urindische noch nicht unterschieden hat zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, daß es noch nicht von einem Subjektiven im Inneren des Menschen und einem Objektiven in der Außenwelt gesprochen hat, und daß es in der Außenwelt noch nicht unterschieden hat dasjenige, was mehr geistig-hell ist, von dem, was mehr finster-körperlich ist, während in einer späteren Zeit, im Urpersi­schen, die beiden unterschieden wurden, und die Wechselwirkungen der beiden durch Tao oder durch irgend etwas, was eben den rhyth­mischen Ausgleich bildet, vermittelt gedacht wurde.

Was ist da geschehen? Wodurch hat der Mensch jene alte Stufe ver­lassen, in der er das Geistig-Helle von dem Physisch-Finsteren noch nicht unterschieden hat, und wodurch ist er übergegangen zu der Auf­fassung eines solchen Gegensatzes,einer solchen Polarität oderDualltät?

Da kommen wir dann, wenn wir dasjenige ins Auge fassen, was in Dokumenten vorhanden ist, wenn wir die Gefühle, die in diesen Dokumenten und in den Überlieferungen leben, auf unsere eigene Seelenverfas sung wirken lassen, dazu, zu erkennen: es war der Mensch in jenen ältesten Zeiten durchaus in einem solchen Verhältnis zur Umwelt, daß er möglichst wenig Hand an diese Umwelt anzulegen hatte. Er lebte da zwar für unsere allerdings richtigen Anschauungen einerseits auf einer hohen geistigen Stufe, aber auf der anderen Seite doch wiederum in tierischer Unschuld. Denn es war ja alles instink­tiv, was er da erlebte an Einheit mit dem Weltenall, was dann später ausgehaucht gedacht wird von Brahma.

Das alles war nur einem Menschen möglich, der nicht Hand anlegte an die äußere Natur, der sich in diese hineinstellte, ich möchte sagen, wie das Tier, wie der Vogel, der da nimmt, was ihm die Natur an Nahrung bietet, der seine Nahrung sich nicht erst erarbeitet, sondern sie sich höchstens holt, wie der Vogel sie sich erffiegt, der also in vollem Frieden mit allen Naturreichen lebt, der auch seine Liebe über alle Naturreiche ausdehnt.

Wenn man so mit vollmenschlicher Erkenntnis sich hineinvertieft in alles dieses, so kommt man unmittelbar dazu, dasjenige, was noch lebt in der indisch-orientalischen Weltanschauung als Tierliebe, als

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Uebe zu den Pflanzen, hervorgehen zu sehen aus der All-Liebe, die noch keinem Wesen etwas tut, die daher noch nicht zu jenem voll erwachten menschlichen Bewußtsein gekommen sein kann, in dem die Menschen später waren, sondern in einer Geistigkeit lebte, die instink­tiv, aber als Geistigkeit eben höher in gewissem Sinne als die grie­chische und die unsrige heute war, die aber in unschuldigem Zu­stand gegenüber der Natur lebte, diese Natur liebte, nichts schlachtete, ja auch die Pflanzen, von denen die Menschen lebten, nur so zu sich nahm, daß sie sie nicht besonders säte, sondern dasjenige, was wild sich bot, zunächst hinnahm. Man blickt mit einer solchen Betrachtung zurück auf die etwa vor acht Jahrtausenden die südlichen asiatischen Gegenden bevölkernden Menschen. Später ist dann etwas aufgetreten, das im Menschen das Bewußtsein hervorgerufen hat des radikalen Unterschiedes des Oben und Unten, des Geistigen, das man nicht verändern kann, an das man nicht heran kann, das oben ist, und des Physischen, das man bearbeiten kann, mit dem man sich abgeben kann. Man kommt etwa in dem Beginn des 6. Jahrtausends an eine Veränderung - in den dekadenten Resten läßt sie sich verfolgen -, durch welche die Menschen dasjenige, mit dem sie umgehen können, das sie verändern können, als etwas anderes ansehen, das unter ihrer Herrschaft steht. Sie beginnen die Tiere zu zähmen, sie machen aus den wilden Tieren Haustiere und werden Ackerbauer.

Das ist offenbar der große, radikale Umschwung vom 7. ins 6. Jahr­tausend der vorchristlichen Zeit, daß die Menschen anfangen, die Natur zu bearbeiten und dadurch die Natur unterscheiden von dem, was sie nicht bearbeiten können, was nur als das Leuchtende, Glän­zende herunterscheint auf das, was bearbeitbar ist und das seine Form empfangen kann vom Menschen. Es ist jedoch nicht nur der Mensch, was so formgebend wirkt; der Mensch macht Werkzeuge, nimmt seine primitive Hacke, das ist ja dasjenige Instrument, das dem Pflug vor-anging - wahrscheinlich waren es zuerst die Frauen, die den Acker­bau betrieben haben -; er pflügt damit den Boden durch Handarbeit und sät; aber er sieht auch, daß, wie die Erde von ihm Form emp­fangen kann, so aber auch, daß sie sich im Frühling, nicht durch ihn, mit Pflanzen bedeckt, daß die Pflanzen im Herbst wieder weggehen.

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Und so, wie die Erde von dem Menschen ihre Form emp­fangen kann, so auch von dem, was ihm herunterleuchtet aus dem Weltenraum; und er kommt auf den Unterschied zwischen Licht und Finsternis, zwischen Geist und Materie.

Alles das entwickelt sich in der Art, daß der Mensch sich zuerst von der Außenwelt unterscheiden gelernt hat, indem er die Natur bearbei­tete, indem er Ackerbauer, Viehzüchter wurde. Man sieht es der persischen Kultur einer späteren Zeit noch an, wie alles auf den Ackerbau eingerichtet ist. Man sieht den Zusammenhang desjenigen, was sich im Avesta äußert, mit diesem Geschilderten, und man sieht den Fortschritt gegenüber der urindischen Kultur.

Das alles aber entwickelt sich so, daß der Mensch anfangs noch nichts von sich als Selbst weiß; er identifiziert sich mit dem Äußeren, er ist gewissermaßen ganz in instinktiver Inspiration; und er schreitet von dieser instinktiven Inspiration zu einer späteren Seelenverfassung in die Zeit hinüber, die in Vorderasien erscheint im Beginne des 3. Jahrtausends als die bildhafte Chaldäerkultur, von der wir sagen können, jetzt ist der Mensch schon so weit, daß er nicht nur das Obere und Untere unterscheidet, sondern auf die Sternbilder eingeht; daß er allerlei Instrumente erfindet, Wasseruhren und so weiter. Aber wenn wir innerhalb des Chaldäischen stehenbleiben, so finden wir überall, wie der Mensch stark in der Außenwelt lebt, wie er sozu­sagen schwer ein inneres Erleben gewinnt.

In Ägypten sehen wir ein anderes. Wir sehen das Chaldäische eigentlich später entstanden als das Ägyptische; das Ägyptische kön­nen wir weit zurückverfolgen, wir können es vor allen Dingen aber zurückverfolgen bis in diejenigen Zeiten, für die wir auch die urper­sische Kultur mit ihrer Metamorphose des Chinesischen ansetzen müssen, wo das Obere und das Untere unterschieden worden sind. Aber wir sehen gerade im Beginne des 3.votchristlichen Jahrtausends einen mächtigen, radikalen Umschwung gerade innerhalb der ägyp­tischen Kultur. Wie wir einen solchen radikalen Umschwung sahen in dem Auftauchen der Vielizähmung und des Ackerbaues, so sehen wir etwa im Beginne des 3. Jahrtausends einen weiteren radikalen Umschwung. Wir kommen auf denselben in der folgenden Art: Wir

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sehen, wie innerhalb Ägyptens sich in der späteren Zeit der Pyrami­denbau entwickelt. Wir können die ägyptische Kultur heute auch historisch weiter zurückverfolgen, als der Pyramidenbau reicht. Der Pyramidenbau tritt gerade im Beginne des 3. Jahrtausends auf, aber wir können das Ä gyptische weiter zur ü ckverfolgen. Diese ägyptische Kultur reicht bis in die Meneszeit vor dem 3. Jahrtausend. Da wer­den nicht die mächtigen Pyramiden gebaut. Wir sehen gleichzeitig mit dem Pyramidenbau in Ägypten etwas entstehen, das in starker Weise darauf hindeutet, daß die Ägypter eine Verinnerlichung des ganzen Bewußtseinszustandes erlebten. Zweifellos mußten mächtige Werk­zeuge zustande kommen, um die Pyramiden aufzubauen. Diese Werk­zeuge konnten nur aus einer Art von Metailverarbeitung hervor-gehen, und diese Metallverarbeitung wieder nur aus gewissen Kennt­nissen des inneren Gefüges der Metalle.

Wir sehen dasjenige, was man später chemische Kenntnisse nennt, in primitiver Form bei den Ägyptern auftreten; wir sehen, mit ande­ren Worten, wie der Mensch anfängt, sein Inneres in eine starke Tätigkeit zu versetzen, und wie er sich doch noch nicht dessen be­wußt ist, daß dieses Innere da ist. Wie der Mensch aber die Kraft dieses Inneren gewahr wird, das tritt uns insbesondere entgegen, wenn wir die von einem gewissen Gesichtspunkte aus hochentwik­kelte ägyptische Arzneikunst ins Auge fassen. Sie ist allerdings etwas ganz anderes als unsere Arzneikunst. Für diejenigen Krankheiten, die in Ägypten vorhanden waren, gab es eigentlich Spezialärzte schon im alten Ägypten, besonders Augenärzte. Die dortige Heilkunde nahm den sogenannten Tempelschlaf zu Hilfe. Die Kranken wurden in die Tempel gebracht und in eine Art Schlaf versetzt, in dem sie in traumähnliche Zustände verfielen. Dasjenige, an das sie sich da er­innerten, wurde in seiner charakteristischen Bildächkeit von den in solchen Dingen unterrichteten Priestergelehrten studiert. Diese fanden zwischen dem Ablaufen der inneren Dramatik der Träume, zwischen der Art der Bilder, ob finstere Bilder auf helle, helle auf finstere folg­ten und so weiter, erstens etwas, was auf die Pathologie des Men­schen hindeutete. Auf der anderen Seite fanden sie aus der beson­deren Konfiguration der Träume eine Andeutung des Heilmittels, das

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zu verwenden war. Aus dieser Betrachtung dessen, was der Mensch innerlich erlebt und was in Traumbildern vor das innere Auge trat, studierten die Menschen in Ägypten den innerlich körperlichen Zu­stand des kranken Menschen.

Das sehen wir zeitlich parallel gehen mit demjenigen, was drüben in Chaldäa sich entwickelte. In Chaldäa lebten die Menschen mehr in einer äußerlichen Anschaulichkeit. Sie erfanden Werkzeuge wie ihre wunderbaren Wasseruhren, die aus der Bildlichkeit ihrer Seelenart kamen. Sie lebten so stark in der Bildlichkeit, daß sie die Zeit in wan­delnden Bildern erblickten. Da war die Bildlichkeit mehr ein äußeres Element, in dem der Mensch lebte. Bei den Ägyptern war die Bild­haftigkeit etwas, was im Innersten des Menschen ergriffen wurde, was so erfaßt wurde, daß es sogar in seinen Traumgestalten studiert wurde, kurz, wir sehen da einen Zeitraum, in dem der Mensch nicht mehr sich bloß als ein Glied der ganzen Welt fühlte, sondern in dem der Mensch sich heraushob aus der Welt, herausindividuallsierte, auf die zwei Weisen, auf die chaldaische und auf die ägyptische. Und wir sehen den Umschwung in dem Auftreten der bildhaften Anschauung des in­stinktiven Imaginativen, das in der zweifachen Weise uns entgegentritt:

in der einen Art drüben in Chaldäa, anders dann in Ägypten herüben. Und wir sehen, wie in dem Beginne des Pyramidenbaues, der ja in

seinen Maßen und geometrischen Verhältnissen auf Anschauung der Maße in der Entwickelung des Menschen, auf der Entwickelung der inneren Kraft und auf dem Erfühlen dieser inneren Kraft beruht, wir sehen, wie da sich eine dritte Kulturepoche ergibt, eine Kultur-epoche, in der das instinktive Imaginieren eine besondere Nuance für die Menschheitsentwickelung abgibt. Und wir sehen, wie in allen die­sen Zeiten die sozialen Zustände sich als eine notwendige Folge des­jenigen ergeben, was da als Seelenverfassung auftritt. Wenn wir die sozialen Zustände des Urindischen studieren, so werden wir finden, wie da die Menschen friedfertig zusammenleben.

Am Urpersischen sehen wir, wie der Mensch, indem er den Kampf mit der Natur aufnimmt, eine Art kriegerisches Element empfängt; und wir sehen, wie dieser Instinkt des Kriegerischen sich in seine Imaginationen hinüberlebt. Und weil der Mensch in seinem Innersten

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ergriffen wird, weil dieses instinktive Ergreifen des Menschen in bezug auf sich selbst nicht anders auftreten kann als im Emotionel­len, im Willensartigen, erzeugen sich im Menschen jene Machtimpulse, die sich in den grotesk großen Pyramidenbauten ausleben, die Toten­stätten sind und die zu gleicher Zeit Zeugnisse sein sollen für die äußere Macht derjenigen, die regieren. Wir sehen, wie das Macht­bewußtsein auftaucht, aber auch, wie jetzt aus anderen Gegenden her sich fremde Völkerschaften einmischen, wie diese anderes Blut hinein­bringen in dasjenige, was da als Imaginatives, Instinktives auch in den sozialen Zuständen sich auslebt; wir sehen, wie solche Völkerschaften mehr aus dem Inneren Asiens herkommen und sich unter die anderen mischen. Dasjenige, was sie hineinbringen, das hängt zusammen mit diesem Sich-mehr-nun-als-Mensch-Fühien, abgesondert von der Um­welt sich als Mensch fühlen.

Bei dem Ägypter steigert sich das in einem bestimmten Zeitalter so, daß er sich als göttlichen Menschen ansah; er fühlte so stark sein Selbstbewußtsein, daß er die anderen alle als Barbaren anschaute und nur diejenigen, die in inneren Bildern leben konnten, als Menschen gelten ließ. Man sieht da heraufkommen ein intensives Geltungs-bewußtsein, und diesem Entstehen des intensiven Geltungsbewußt-seins des Menschen geht parallel ein Ereignis, das an diese Geistes­verfassung gebunden ist.

Wenn wir die Gesetze des Hammurabi studieren, dann finden wir, daß er unter den gezähmten Haustieren noch nicht das Pferd anführt. Es trat im Kulturleben aber gleich nachher auf. Allerdings, Hammu­rabi führt an Esel und Rinder, und etwas nach seiner Zeit wird das Pferd zuerst in den Dokumenten der « Esel des Berglandes » genannt. Das Pferd wird der Esel des Berglandes genannt, weil es von dem gebirgigen Osten herübergebracht worden ist. Völker, die aus Asien sich hineingeschoben haben in das Chaldäische, haben das Pferd mit­gebracht, und damit ist dann das kriegerische Element aufgetreten. Wir sehen zuerst dieses kriegerische Element in einer älteren Zeit geboren; aber wir sehen es weiter ausgebildet, als zu den anderen Tieren auch das Pferd hinzu gezähmt wird. Und auch das hängt mit der Seelenverfassung des damaligen Menschen zusammen. Man kann

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sagen, der Mensch hat sich nicht früher auf das Pferd gesetzt und sich gewissermaßen verstärkt als Individualität, dadurch, daß er ein Tier an sich kettete in seiner eigenen Bewegung, als bis er zu diesem Grade des Selbstbewußtseins erwacht war, wie es sich ausdrückte als das bildhafte Vorstellen der Chaldaer, wie es innerlich in dem traum-haften Leben der Ägypter ausgedrückt war. So innig hängen die äußeren Verhältnisse der Menschheitsentwickelung mit dem, was die Metamorphose der Seelenverfassung in den aufeinanderfolgenden Epochen ist, zusammen, daß man sagen kann: Auf der einen Seite der Bau der Pyramiden, und auf der anderen die Zähmung des Pferdes; sie drücken aus, äußerlich angesehen, die dritte Kultur-epoche, die chaldäisch-ägyptische, und innerlich hängt diese zusam­men mit dem Entstehen des instinktiven imaginativen Erlebens.

In Ägypten geht verhältnismäßig früh dasjenige zugrunde, was während der Pyramidenzeit als eine hohe Kultur auftritt, die sich aber ganz in einer traumhaften imaginativen Weise äußert. Diese Kultur dämmert herauf im Beginne des 3. Jahrtausends und ist eigent­lich nach vier Jahrhunderten im Verfall. Die Seelenverfassung, die dieser Kultur zugrunde liegt, lebt, nachdem sie selbst zu verfallen beginnt, weiter von Asien herüber fortschreitend in Vorderasien, Kleinasien, kommt auf den europäischen Kontinent herüber und ist so, wie sie sich da auslebt, noch deutlich wahrnehmbar auch in dem, was aus Kleinasien, aus der älteren griechischen Kultur kommt. Sie ist noch bemerkbar in den Homerischen Gesängen und ihrer Welt­anschauung. Aber wir nähern uns, indem wir an die Homerischen Gesänge herankommen, bereits einem radikalen Umschwung. Das­jenige, was als Weltanschauung den Homerischen Gesängen zugrunde liegt, zeigt noch durchaus das bildhafte, das imaginative Vorstellen, noch jene Anschauung des Menschen, die auf das Bildhafte geht. In­dem Homer einen Achilles, einen Hektor schildert, zeigt er - abgesehen davon, daß er in Bildern, die äußerlich angesehen sind, das bildhafte Element andeutet, wenn er zum Beispiel sagt: «der schnellfüßige Achilles, Hektor, der Held mit dem wogenden Helmbusch» - das Dar­gestellte so, daß man mit dem inneren Seelenauge plastisch sehen muß, um seine Eigenart zu erfassen.

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Wir sehen auch in der ganzen Gesinnung des Homer noch etwas von dem Chaldäischen. Das wird anders, als sich diejenige griechische Kultur heranbildete, die wir dann bei Äscy/os und Sophokles und in der griechischen Plastik finden, und wir können sie von der älteren unterscheiden dadurch, daß wir gewahr werden, wie stark es im Grie­chen als Impuls lebte, den Menschen in seiner eigentlichen Mensch­lichkeit aufzufassen. Wenn wir dasjenige, was bei den Chaldäern bild­haft war, anschauen, so sehen wir schon, wie da plastisches An­schauen in Bildhaftigkeit aufgetreten ist, und wir sehen das nament­lich bei einem derjenigen Völker, die wenigstens örtlich den Chal­däern nahe waren, bei den Sumerern. Wir sehen aber, wie dieses Volk, ebenso wie das ägyptische, erst auf dem Wege ist, den Menschen äußerlich darzustellen. Wir finden aber dann bei den Griechen, so­wohl in der Dramatik wie auch da, wo die Dramatik übergeführt wird ins Gebiet der Plastik, wie da der Mensch in seiner Außenoffen­barung erfaßt werden soll. Es hat sich, ich möchte sagen, der Mensch des dritten Zeitraumes stark gefühlt, indem er seine tiefen, instinktiven Kräfte ausgelebt hat. In Ägypten geschah das, indem er die Pyrami­den gebaut hat und da gewissermaßen seine Kraft im Pyramidenban ins Riesenhafte hat wachsen lassen, und bei gewissen Stämmen Asiens, die als besonders kriegerische gelebt haben, zeigt es sich, indem er sich aufs Pferd gesetzt hat und sich so mit dem Pferde eins gefühlt hat. Der Grieche geht dann dazu über, zu sagen: Ich brauche äußere Mittel nicht; alle Kraft des Menschen liegt innerhalb meiner Haut selber. - Und er gestaltet plastisch jene in sich schon vollkommenen Menschen in einer Art, die alles dasjenige, was eine vorhergehende Epoche noch durch eine äußere Verkörperung gesucht hat, in den Menschen hineinnimmt. Dieses sich ganz Hineinversetzen, ganz Hin­einieben in das Menschliche und alles Höchste im Menschen selber Suchen, das finden wir dann im griechischen Geiste ausgelebt, und es stellt sich dann später dar in einer anderen, mehr äußerlichen Weise, im Römertum ausgeprägt. Wir sehen gewissermaßen heute noch, wenn wir uns an den über das Forum gehenden Cäsar oder die anderen Gestalten in der römischen Toga erinnern wie sich da in sehr viel abstrakteren Formen als in Griechenland dieses den Menschen

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ganz mit höchster Kraft Ausgestaltende, innerhalb der menschlichen Haut sich Erfühlende darstellte.

Im 6. vorchristlichen Jahrhundert etwa beginnt ein neues Zeitalter. Das homerische Zeitalter liegt noch vorher. Dieses Zeitalter, das da beginnt, sehen wir besonders stark und kräftig sich in Griechenland entwickeln, wo es etwa vier Jahrhunderte lang bis zur Großartigkeit sich steigert und nachher einem Niedergang entgegengeht.

Und nun greift das Christentum ein. Während der Grieche noch etwas voll Lebendiges empfand, wenn er seine Zeusstatue vor sich hatte, sah der Römer im Grunde genommen nur einen abstrakten Begriff, wenn er seine Statuen anblickte. Das wurde immer stärker in bezug auf seine Abstraktheit; und noch im 4. nachchristlichen Jahrhundert wird im römischen Senatssaal, wenn die Senatoren ihn betraten, von jedem in die leuchtende Flamme, welche vor der Bild-säule der Viktoria steht, ein Weihrauchkörnchen gestreut, bevor er sich auf seinen Sitz als Senator begibt. Wir sehen, wie da in abstrakter, bloßer Gedankenform, die aber Realität ist, in einer auch als abstrakt empfundenen Bildsäule dasjenige lebt, was in höchster Daseinsfülle in Griechenland noch bei der Zeus-, Athene-, Apollostatue empfunden worden ist, wo man noch etwas wie das magische Weben der Götterkräfte selber in dem Zeus, in der Athene gefühlt hat. In Rom ist alles zum abstrakten Begriff geworden.

Wir sehen dann, wie der das Christentum einführende Kaiser Kon­stantin diese Säule entfernen läßt aus dem Senatssaal, weil er glaubt, daß sie gegenüber der christlichen Anschauung allen Sinn verloren hat. Wir sehen, wie noch einmal in die vollmenschliche Anschauung des vierten Zeitraumes Julian Apostata sich vertieft, wie dieser noch einmal in den Senatssaal die Viktoriasäule hineintragen läßt, noch einmal die alten Zeremonien sich abspielen läßt mit den Senatoren, wie er aber das Alte nicht mehr erneuern kann, wie er darüber zu­grunde geht. Denn der Pfeil, der ihn getroffen hat, war der Pfeil eines Mörders, der von seinen Gegnern gedungen war.

Und dann entwickelt sich aus dem allem dasjenige Zeitalter, das ich im weiteren nähei; zu charakterisieren haben werde, das Zeitalter, in dem der Mensch sich in innerer Geistigkeit, in Intellektualltät, in

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Verstandesfähigkeiten befindet, das dann in seiner besonderen Eigen­art das Mittelalter hindurch sich entwickelt, wo über den Verstand selber gedacht wird, wie es in der Scholastik geschehen ist, wo über Nomimlismus und Realismus gestritten wurde. Dann kommt das 15. Jahrhundert heran, und in diesem ein ganz anderer Geist, jener Geist, der dann in das Zeitalter der Naturwissenschaft hinübergeführt hat, jener Geist, der in den ersten Zeiten besonders stark entwickelt war in Ga/iki und Kopernikus, der uns die großen Fortschritte in dem Menschheitsbewußtsein gebracht hat, der gegenüber dem griechischen eme Verinnerlichung darstellt - wenn er auch dann in den Materialis­mus ausartet im 18. Jahrhundert -, der im 19. Jahrhundert dann so vieles aus dem Äußeren der Natur enthüllt hat.

Und heute stehen wir an einem wirklichen Wendepunkt. Ich will wahrhaftig nicht Spenglerische Epochenphantasien hinstellen. Aber es ist etwas anderes, was ich sagen will. Wir sehen zurück in den Beginn der ägyptischen Zeit, wie das Zeitalter des Pyramidenbaues beginnt, das sich auch durch andere Symptome ankündigt, wir sehen, wie da die erste Bewußtseinsetappe in der Erfassung des Mensch­lichen auftritt; wir sehen, wie die nächste Etappe im 8. vorchtistlichen Jahrhundert beginnt, wie sich im Griechentum, im Römertum die Seelenverfassung der Menschen dieses Zeitalters ausbildet in dem Er­fassen des « Menschen als solchem»; wie dieses Zeitalter zu Ende geht, und das Verinnerlichen des Verstandes im Beginne des 15. Jahr­hunderts beginnt.

Wir sehen also gewissermaßen auf drei starke Wendepunkte hin:

auf einen Wendepunkt, da das ägyptisch-chaldäische Zeitalter beginnt, wir sehen, wie das vierte Zeitalter beginnt, das griechisch-lateinische, und wir sehen, wie dasjenige Zeitalter heraufkommt, das die Natur­wissenschaft eingeführt hat, womit wiederum so etwas gegeben war wie der Pyramidenbau, so etwas, was eine besondere Durchkfrung mit etwas Neuem in der Menschheitsentwickelung darstellt.

Wir sehen vier Jahrhunderte Blüte des Pyramidenzeitalters, sehen das dann verglimmen, radikal verglimmen und nur dasjenige fort­gehen, was sich in der Bildlichkeit des Chaldäertums geltend gemacht hat, das Sich-Hinüberleben in das Griechische. Wir sehen im 8. Jahrhundert

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ein neues Zeitalter herantreten, vier Jahrhunderte darnach verglimmen im Griechentum. Wir sehen es abstrakt werden im Römertum. Wir sehen, wie dann wieder ein neues Zeitalter beginnt im Beginne des 15. Jahrhunderts, dasjenige Zeitalter, das uns die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise, die Intellektualität, die Verstandesmäßigkeit gebracht hat. Und wir sind heute ungefähr in der Zeit so weit nach diesem radikalen Umschwung, vierhundert bis fünfhundert Jahre, wie die ägyptische Verfallzeit nach dem Be­ginne des 3. Jahrtausends war, wie die griechische Verfallzeit nach dem Beginne des vierten Zeitalters war. Wir haben heute wachsam zu sein, damit es uns nicht ergehe als zivilisierten Menschen, wie es den Ägyptern gegangen ist vierhundert Jahre nach dem Anbruch des dritten geschichtlichen Zeitalters, den Griechen vierhundert bis fünf­hundert Jahre nach dem Anbruch des vierten Zeitalters - damit es uns, die wir ebensoweit hinter dem Anbruch des fünften Zeitalters stehen, nicht ebenso ergehe.

Die Römer haben nicht weiterführen können, was noch bei den Griechen volles Leben war; sie haben nur die Abstraktheit und Intel­lektualltät in das Leben hineintragen können, die dann aber erstarb in der toten lateinischen Sprache. Wir haben heute auf all das zu achten, weil wir bewußter geworden sind, als die Griechen waren; und aus unserer Bewußtheit haben wir darauf zu achten, daß wir von innen heraus verhindern den Verfall, der bei den Griechen eingetre­ten ist und der als ein furchtbares Exempel dasteht. So müssen wir von der Geschichte lernen, daß es uns nicht so ergehe, wie es den Menschen ergehen mußte, die schwach werden mußten, weil sie an dem Äußerlichen gehangen hatten. Wir müssen dasjenige überwinden, was in den älteren Epochen nicht überwunden werden konnte. Und wenn man sagt, man muß von der Geschichte lernen, dann muß dies so geschehen, daß wir unsere Kräfte so stählen, daß wir wachsam achtgeben auf dasjenige, was uns die älteren Zeiten lehren, daß wir nicht nur diejenigen Fehler zu vermeiden lernen, die gemacht wor­den sind von den einzelnen Menschen, sondern auch diejenigen, die ja im Grunde genommen gar nicht Fehler genannt werden dürfen, sondern notwendige Mängel der Menschheitsentwickelung. Es muß

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dasjenige überwunden werden, was droht, über die heutige Mensch­heit zu kommen, wie es über eine frühere gekommen ist. Man muß hinauskommen über eine große Krise. Und man kann überzeugt sein, daß man die Wesenheit unserer gegenwärtigen Krise nur verstehen kann, wenn man sie aus den Tiefen der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit heraus versteht. Damit wird man aber auch verste­hen, wie aus Naturwissenschaft Geisteswissenschaft werden soll. Denn das kann man nur verstehen, wenn man es aus dem ganzen Geiste der Menschheitsentwickelung zu erfassen vermag.

DRITTER VORTRAG Stuttgart, 23. Mai 1921

#G325-1969-SE116 Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum

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DRITTER VORTRAG

Stuttgart, 23. Mai 1921

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Wenn man die Hineinfügung naturwissenschaftlicher Weltanschau­ung in die Geistesverfassung der Gegenwart verständnisvoll durch­dringen will, dann muß man zu Hilfe nehmen> was sich aus der Ent­wickelungsgeschichte der Menschheit ergibt. Aber rnan muß dann diese Entwickelungsgeschichte in einem solchen Stile betrachten, wie es in diesem Vortrage hier versucht wird. Und darinnen soll ja unsere Betrachtung gipfein, diese Einfügung naturwissenschafllicher Denk­weise in die menschliche Geistesverfassung zu durchdringen.

Wir haben gesehen, daß sich in aufeinanderfolgenden Zeitepochen auch die ganze innere Seelenverfassung der Menschen metamorpho­siert hat, und es wird uns nun noch obliegen, etwas genauer auf die Seelenverfassung in jenem Wendepunkte der Menschheitszivilisation einzugehen, der durch das Heraufkommen des Christentums gekenn-zeichnet ist.

Wenn man namentlich diejenige Seelenverfassung studieren will, welche sich in den chaldäischen, in den ägyptischen Völkern auslebte, so kann das gegenwärtig, wie ich ja schon angedeutet habe, auf kei­nem anderen Wege geschehen als dadurch, daß man aufrückt in der Seele zu der imaginativen Anschauung, zur inspirierten Anschauung und so weiter. Zu dieser imaginativen Anschauung, ich habe sie ja nach verschiedenen Seiten hin auch an diesen Abenden charakterisiert, muß ich nur das Folgende noch sagen: Wenn der Mensch ganz be­wußt zum Zustande der imaginativen Erkenntnis aufsteigt, also in einem Bilderbewußtsein lebt, das ihm Bilder geistiger Wirklichkeiten vor die Seele führt, dann verwandelt sich auch seine ganze Innenschau. Die ganze Anschauung seiner selbst wird eine andere, und auch die Anschauung der ihn umgebenden Außenwelt wird für den Menschen zunächst eine andere. Die Innenschau, sie wird so, daß man nicht etwa zunächst durch das imaginative Vorstellen zu einem seelischeren Inhalt vorrückt, wenn man unter Seelischem das versteht, was man aus der gewöhnlichen Lebenserfahrung kennt. Man könnte sagen:

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Unter dem Eiiiluß des imaginativen Vorstellens verwandelt die Innenschau das, was im wachen bewußten Menschen ist, eigentlich in ein Konkreteres, als sonst das Seelische ist, in ein, man möchte so­gar sagen, in ein Materielleres. Das ist ja das Eigentümliche, daß nicht jene mystische Nebulosität herauskommt, welche manche ver­muten, wenn sie von Innenschau reden hören, daß auch nicht das herauskommt, was die phantastischen Gebilde sind eines, sagen wir, göttlich durchieuchteten Menscheninneren im gewöhnlichen Sinne mancher Mystiker. Sondern durch die wahre Innenschau rückt der Mensch dazu vor, heranzukommen gerade an seinen Organismus, an seine Organisation, wobei er kennenlernt, welche tiefe Bedeutung die einzelnen Organe seines Organismus haben. Er lernt erkennen, welche Rolle im Organismus das Herz, die Lunge und sonstige Organe spie­len, er lernt also gerade dasjenige erkennen, was der nebulose Mysti­ker nicht sucht, was er für ein niedriges Materielles hält. Er gelangt also zu einer wahren Durchsichtigkeit seines eigenen Organismus, in-dem er zur imaginativen Erkenntnis vorrückt.

Wer dann zur inspirierten Erkenntnis kommt, der gelangt dazu, einzusehen, daß, was er da auf dem Wege der Imagination als etwas, man möchte schon sagen, Materielleres kennengelernt hat, als das Abstrakte ist, das man gewöhnlich als seelischen Inhalt hat, wenn man von der äußeren, scheinbar sinnenfälligen Vererbungsströmung spricht, die in Wirklichkeit aus dem tieferliegenden Geistigen heraus geboren ist, daß also das, was im einzelnen den Menschen organisiert, aus dem Geistigen heraus geboren ist. Man lernt damit eine außer­ordentlich bedeutsame Tatsache erkennen. Im Grunde genommen kann man den physischen Menschen als Ganzes, wie man ihn vor sich hat, verstehen als ein Wesen, das durchgegangen sein mußte durch die Vorfahren, durch die Vererbungsströmung. Bleibt man aber bei dieser äußeren naturwissenschaftlichen Anschauung stehen, die alles zurückführen will auf Vererbung, so kommt man nicht zum Verständ­nis der Einzelheiten dieses Organismus. Das könnte manchem para­dox erscheinen, aber es ist so. Unsere Organe als einzelne sind aus dem Geiste heraus gestaltet, nur die ganze Konfiguration des Men­schen, wie er uns in der Sinneswelt entgegentritt, die mußte, um als

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eme Synthese der einzelnen Organe zustande zu kommen, eben durch die physische Vererbung durchgehen. Also man kommt tatsächlich zu einer geisteswissenschaftlichen Anatomie und Physiologie, die aber zu gleicher Zeit wiederum als ein Ergebnis geistiger Erkenntnisse er­scheint, die tiefer liegen und durch Inspiration errungen werden. So kann man sagen: Wenn wir uns heute bewußt hinaufringen zu sol­chen Erkenntnissen der Imagination, der Inspiration, lernen wir den Menschen auf andere Art kennen. Aber wir lernen auch die Außen­welt auf andere Art kennen.

Für denjenigen, der sich durch Imagination und Inspiration hinauf-ringt, ich habe das in den Vorträgen im Herbste in Dornach über die «Grenzen der Naturerkenntnis» ja schon angedeutet, für den Men­schen> der sich so hinaufringt zu einer übersinnlichen Erkenntnis, hört die Annahme auf zu gelten, daß hinter den sinnenfälligen Er­scheinungen Atome sind. Ganz gleichgültig, ob man im älteren Sinne, wo man mehr elastische oder auch starre Atome annahm, oder wie jetzt, wo man mehr von Ionen oder Elektronen spricht, ganz gleich­gültig, welcher Art der Atomismus ist, die Annahme solcher Atome, die die Materie konstituieren sollen, die geradezu die Substantialität des Materiellen darstellen sollen, diese Annahme verliert ihren Sinn. Sie erscheint eben einfach als ein Unding. Und das, was uns von der Sinneswelt geblieben ist, wollte ich einstmals charakterisieren in dem dritten Bande meiner Ausgabe der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, wo ich sagte: «Alles, was man überschaut in der Außenwelt und worinnen man sich erkennend zu ergehen hat, sind die Inhalte der Sinneswahrnehmungen, sind die Phänomene selber.» Denn, geht man hinter die Phänomene mit geisteswissenschaftlicher Anschauung, so findet man nicht Atome im Sinne der Physiker oder Physiologen, sondern man findet wesenhaft Geistiges. Die äußere Welt ist durch Geistiges konstituiert, und zwar nicht etwa durch jene Kräfre, wie wir sie auch der Rechnung zugrunde zu legen suchen. Es sind also nicht etwa jene Zentralkräfte, die gewöhnlich angenommen werden von der mathematischen Physik, um die Konstitution des Materiellen darzustellen. Wir werden statt dessen durch geistigere Anschauungs­weise nach außen hin zum Geiste, nach innen hin aber zu einer zunächst

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materiellen Auffassung getrieben. Indem wir heute von unse­rem gegenwärtigen, durch die Menschheit errungenen historischen Standpunkte zu solchen Erkenntnissen aufsteigen, tun wir das voll-bewußt. Wir überschauen den Schritt, den wir da machen, wir wissen, indem sich unsere Erkenntnis metamorphosiert, wird uns die Außen­welt durchgeistigt, wird uns das Innere vermaterialisiert. Und wir er­greifen damit ein nun auch metamorphosiertes Bild der Welt, in der wir sind und die wir selbst sind. Wir beziehen dann dieses Bild, das wir da bekommen, auf unsere gewöhnliche Anschauung, die in Ver­standesbegriffen lebt, wir drücken sie durch solche Verstandesbegriffe aus, und das macht gerade, daß wir bewußt in der einen und in der anderen Anschauung der Welt drinnen leben. Diese Bewußtheit, die mangelte den Menschen bis in das 8. vorchristliche Jahrhundert, bis zum Ablaufe jenes Zeitraumes, den ich an diesen Abenden als den ägyptisch-chaldäischen charakterisiert habe. Aber dafür hatten sie die Möglichkeit, instinktiv zu erringen, wozu wir uns bewußt durch innere Methodik, geisteswissenschaftliche Methodik, erst wiederum heranarbeiten können. Sie hatten nicht die Fähigkeit, das, was sie instinktiv schauten, mit Begriffen zu durchdringen. Das Intellektua­listische war ihnen noch fremd, aber Bilder standen vor ihrer Seele, ohne daß sie diese erst in voller Bewußtheit herbeiführen mußten, wie wir es heute tun müssen, und so war ihnen die Außenwelt ein Geistiges. Je weiter wir zurückgehen in der Menschheitsentwickelung, desto klarer wird das.

Gehen wir in die Zeiten zurück, aus denen noch historische Doku­mente da sind, da finden wir allerdings schon eine Art Niedergang dessen, was einstmals in diesen Völkern lebte. Wir finden, daß das Geistige der Außenwelt herabgewürdigt war bis zum Dämonischen, und wir finden daher überall dämonische Gewalten hinter den Sinnes-erscheinungen. Das war aber nur der Nachklang einer alten geistigen Anschauung, die in den Zeitaltern, die ich das Urpersische, Urindi­sche genannt habe, durchaus noch vorhanden war. Und weiter, in­stinktiv hatten diese Menschen durchaus die Anschauung, daß in ihnen als Seelisches die Organe selbst lebten, so daß sie vom Seeli­schen gerade dann, wenn sie gebildete Persönlichkeiten in diesen alten

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Völkern waren, als von den inneren Organen sprachen und das See­lische zusammengesetzt dachten durch das Zusammenwirken dieser inneren Organe. Wenn wir die Aussprüche der Alten über Herz, Leber, Nieren und dergleichen lesen, so müssen wir uns dabei nicht jene Phantastik denken, die zum Beispiel die Wundtsche Philosophie auf­weist, sondern wir mussen sie verstehen mit der Seelenverfassung, die wir uns erringen können in der imaginativen, in der inspirierten Er­kenntnis. Dann verstehen wir erst, was gesagt sein soll mit solchen merkwürdigen Aussprüchen, die aus grauem Altertum heraufkom­men, über Herz, Leber und dergleichen.

Aber wir müssen uns auch darüber klar sein, welches die geistige Verfassung dieser alten Völker war. Diese geistige Verfassung war die, daß die Menschen draußen in der Welt Geistiges sahen, im Inneren eigentlich Materielles, daß sie aber, indem sie die Außenwelt sahen, wachen mußten, während sie schlafen und schlafend träumen mußten, wenn sie ihr Inneres wahrnehmen wollten. Das habe ich schon für die Ägypter angedeutet, daher die Einführung des Tempelschlafes. Der Kranke wurde in den Tempel gebracht, wurde zum Schlafen gebracht; er mußte dann seine Träume erzählen. Die Priester, die in diesen Dingen unterrichtet waren, die wußten, es kam da mehr auf den dramatischen Verlauf des Traumes an als auf seinen Inhalt. Seinen Inhalt deuten, wäre Aberglaube gewesen. Aber darauf kam es an, ob irgendein Finsteres im Traum auf ein Helles folgte oder umgekehrt, und ob sich der Traum beziehen mußte auf Furchtzustände oder Freudezustände und dergleichen. Auf dieses Dramatische des Trau­mes kam es an, und aus diesem Dramatischen ergab sich dann, wie das eine oder andere Organ krankhaft sein könne, ja, wie ich an­deutete, es ergab sich sogar das Heilmittel. Das ist die Realität dessen, was später als der ägyptische Tempelschlaf bezeichnet wurde.

Diese Dinge sind dann in die Dekadenz übergegangen und, wenn man sie in ihrem dekadenten Zustande studiert, so stellen sie sich nicht mehr so dar, wie sie in den besten Zeiten der alten Zivilisation waren; das sollte durchaus eingesehen werden. Man kann also sagen:

Im wachen Zustande hatten diese alten Völker eine Art Bilder-bewußtsein, noch nicht das intellektuelle Bewußtsein, das in abstrak­ten

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Verstandesvorstellungen lebt. Mit diesem Bilderbewußtsein nah­men sie eine geistige Außenwelt wahr, welche für sie so der Sinnes­welt zugrunde liegend war, wie dann später Ursächlichkeit und Wir­kung als der Sinneswelt zugrunde liegend angesehen wurde. Während­dem diese alten Völker in ihrem daralligen instinktiven Erleben in einem abgedämpften Bewußtseinszustande waren, so war dafür ihr Träumen um so lebhafter, und in den Bildern des Traumes nahmen sie dann ihr Inneres wahr. Und die Gelehrten im damaligen Sinne konn­ten diese Traumbilder deuten auf das Innere, aber eigentlich auf dessen Materielles.

Der große Umschwung, der etwa um die Mitte des 8. vorchrist­lichen Jahrhunderts eintrat, besteht darin, daß bei den Menschen immer mehr und mehr die Fähigkeit heraufkam, Intellektualität aus­zubilden. Zunächst war diese Intellektualität noch nicht so, wie wir sie heute haben, wo wir uns gewissermaßen auch trennen können von der Außenwelt, die Augen schließen, die ganzen Sinne unaktiv machen und dann gerade den Verstand in richtige Bewegung bringen können. Dieses innerlich aktive Arbeiten im Verstande, das war noch nicht da. Aber indem die Außenwelt angeschaut wurde in Bildern, enthüllte sich mit den Bildern zugleich eine Art Verstand, und indem die Bilder-Traumeswelt durchschaut wurde, wurde sie auch in der Erinnerung dann von diesem Verstand durchsetzt. Man kann sagen, in die Menschheitsentwickelung trat der Verstand als Fähigkeit erst um die Mitte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts ein.

Man wird durchaus, wenn man die alten Dokumente von diesem Gesichtspunkte studiert, überall da zurechtkommen. Daß Leute wie Jeremias oder ähnliche, die das chaldaische Altertum beschreiben wol­len, überall auf Widersprüche stoßen, das rührt davon her, daß sie glauben, das, was diese Chaldäer errungen hatten, wäre auch schon durch den aktiv arbeitenden Verstand und nicht durch die unmittel­bar wahrgenommene Bilderwelt entstanden. Setzt man voraus, daß die ganze chaldäische Kultur eine durch Bilderwahrnehmung ent­standene war, setzt man voraus, daß die eigentümliche Innerlichkeit, welche die Ägypter entwickelt haben, welche sich dann auslebte in ihrer Mythologie, aber auch auslebte in den Ausführungen zum Beispiel

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des Totenbuches, nimmt man das alles zusammen und weiß man, daß im träumerischen inneren Wahrnehmen sich einst das Innere ent­hüllte, dann versteht man erst, um was es sich da eigentlich handelt.

Man muß, wie ich immer schon angedeutet habe, eben zur Betrach­tung der Seelenverfassung jener Zeiten übergehen. Das Aktivwerden des Verstandes beginnt viel später, es beginnt eigentlich - und das zeigt sich so recht in der Entwickelung der älteren griechischen Philosophie -, es beginnt zunächst als eine Art von Wahrnehmung, die auch die Verstandesbegriffe, die Vorstellungen in den Sinnesdingen wahrnimmt. Man versteht nicht Tha/es, nicht Heraklit, nicht Anaxi­menes und so weiter, namentlich nicht Anaxagoras mit seinem vovç (Nus); man versteht die Philosophie, die Nietzsche «Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen» genannt hat, nicht, wenn man nicht weiß, die haben noch nicht dem Menschen zugeschrieben: Da drinnen sitzt der Verstand, du bist aktiv in deinem Verstand -, son­dern sie malten die Welt, sie haben so, wie sie die Farben wahr-nahmen, so auch die Verstandesbegriffe an den Dingen wahrgenom­men. Und in einer gewissen Beziehung ist auch die platonische Ideen­lehre nur von diesem Gesichtspunkte aus widerspruchslos zu erfassen, und erst recht das einzelne Spezifische, wie die Medizin des Hippo­krates. Das ist nur zu verstehen, wenn man weiß: da war nicht ein abgezogener Verstand, sondern wie die Dinge draußen durch die Far­ben sich offenbarten, so offenbarten sie sich auch in ihrem gedank­lichen Zusammenhange. Wie man heute gewissermaßen die Sinnen-welt als Farbenteppich sieht, so sah man sie in jener Zeit auch im Gedankengespinst. Dadurch war natürlich das Verhältnis des Inneren und des Äußeren bei den Ägyptern ein ganz anderes, als es später wurde.

Bei den Chaldäern war es noch so, daß der Mensch sich in gewisser Weise durchaus zur Außenwelt hinzurechnete. Denn wenn er wach war und der Sinneswelt die geistige Ursächlichkeit zugrunde legte, so sah er eigentlich in allen Naturdingen seinesgleichen. Er vermutete in sich die Seele, wie er das Geistige hinter den Sinnesdingen spürte. Und war er im Traumschlaf, dann sah er ja sein eigenes Innere in Bildern, man möchte sagen, wie in einer Außenwelt. Diese ganze

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Verfassung gab ihm das, daß er sich im eminentesten Sinne als ein Glied der Welt fühlte. Dadurch war aber auch die Art, wie er über seinen Zusammenhang mit der Welt dachte, anders, als sie es jetzt ist.

Jetzt stehen wir in einer Weltanschauung drinnen, die ja gerade überwunden werden muß. Wir stehen in der Weltanschauung drinnen, die eigentlich eine tiefe Kluft läßt zwischen dem natürlichen Ge­schehen und jener Ordnung, in der wir durch unsere menschliche Moralität, durch unsere sittlichen Anschauungen und durch unsere religiösen Überzeugungen drinnenstehen.

Sieht der Mensch heute in die Natur hinaus, so begreift er die Naturzusammenhänge durch die sogenannten Naturgesetze. Die Naturgesetze, sie sind nicht im geringsten, das sucht man ja geradezu in ihnen, gerade das, daß sie gefärbt sind von irgend etwas Mora­lischem. Es erscheint dem Menschen heute als ein paradoxer Aber­glaube, und, wenn es sich um eine Naturanschauung handelt, mit Recht, etwa anzunehmen, daß der Blitz aus den Wolken schießt in einer Art, die man moralisch zu erklären habe und dergleichen. Dafür aber auch fühlt sich der Mensch wie abgerissen von der ganzen Weltenordnung, wenn er an seine eigenen Handlungen den Maßstab des Moralischen anlegen soll. Und eine neuere Weltanschauung ist immer mehr und mehr dazu gekommen, draußen in der Welt nur Naturnotwendigkeit zu sehen, im Menschen ganz und gar nur eine Art moralischer Notwendigkeit. Aber einen Zusammenhang kann ja die heutige Lebensansicht zwischen dieser inneren moralisch-religiösen Ordnung und der äußeren Naturordnung nicht finden. Das war ganz anders in jenen Zeiten, in denen die Menschen die Umwelt und sich selber so geschaut haben, wie ich es eben dargestellt habe. Da gab es jenen Gegensatz zwischen Moralität und der Naturnot-wendigkeit nicht. Gehen wir durch den größten Teil der alten Völker, wir finden überall, daß diese alten Völker sich so in die Welt hinein­stellen, daß sie ihre eigenen Seelenschicksale einer gewissen Natur-ordnung unterworfrn denken, daß sie gewissermaßen aus derselben Kraft heraus, nach der sie sich den Donner und den Blitz entstanden denken, auch das entstanden denken, was aus ihrer eigenen Seele hervorgeht.

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Nur ein Volk bildete eine merkwürdige Ausnahme, wenn wir es so nennen wollen, das die Innenwelt in einer anderen Art erlebte, und das ist das hebräische, das jüdische Volk. Wer eine Empfindung sich dafür aneignet, der wird einen gewaltigen Unterschied finden zwischen der jüdischen Schöpfungsgeschichte der Bibel, dem Alten Testament, und allen übrigen Schöpfungsgeschichten. Die übrigen Schöpfungs-geschichten muß man durchaus von dem Gesichtspunkte ungetrennter Naturordnung und Moralität betrachten. Die jüdisch-hebräische Schöpfungsgeschichte, sie zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie im Grunde genommen bar jeder naturverbundenen Weltanschauung ist. Dadurch unterschied sich das jüdische Volk von den umliegenden Völkern des Altertums. Das jüdische Volk bezog alles auf den einen Gott. Aber die Kräfte, die durch diesen Gott in der Welt wirkten, sie bezeichnete es, wenn auch gegenüber späteren Vorstellungen in einer anderen Weise, aber doch im Grunde genommen als moralisch, das heißt, aus dem Willen Jahves hervorgehend. Und im Grunde genommen konnte der Angehörige des alten hebräischen Volkes, wenn irgend etwas geschah, sei es in der naturhaften Welt, sei es durch den Menschen, doch nur antworten: Es geschieht deshalb, weil Jahve es will. Man möchte sagen, die Seelenverfassung dieses jüdi­schen Volkes ist so, als ob die Umwelt eben nur als eine für die Sinne ausgebreitete Welt da wäre, als ob sich aus dieser Umwelt heraus nichts Geistig-Seelisches offenbarte wie für die anderen, für die heid­nischen Völker. Dagegen war eine besonders lebhafte Wahrnehmung vorhanden für das menschliche Innere, und durch diese Wahrneh­mung für das menschliche Innere kam das jüdische Volk zu seiner monotheistischen Religion, zu seiner Jahve-Religion. Und alles, was im Altertum hinlenkte und hintendierte zu einer gewissen Unemp­fänglichkeit gegenüber der Außenwelt, dagegen zu einer Betonung dessen, was man von innen her wahrnimmt, alles das ist im Grunde genommen auf den Einfluß des hebräischen Volkes zurückzuführen.

Man möchte sagen, die heidnischen Völker des Altertums waren so geartet, daß sie eine geistige Naturanschauung hatten und diese geistige Naturanschauung auch auf den Menschen als solchen über­trugen. Sie schauten die Naturdinge und führten sie auf geistige

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Ursachen zurück. Sie erkannten die Welt durch Weisheit, indem man Weisheit auffaßt als dasjenige, was das Geistige in des Menschen Seelenleben hereinnimmt. Die Juden hatten kein Organ für diese Weisheit in der Welt, dafür hatten sie aus besonderen Gründen, die jetzt darzustellen die Zeit zu kurz ist, etwas anderes. Ich habe das einmal in einem internen Vortragszyklus in Kristiania, den ich über die Völkerseelen gehalten habe, dargestellt. Im Unterschiede zu den anderen Völkern, namentlich im Unterschiede zu den Ägyptern, die das Innere des Menschen in Traumesbildern, Traumimaginationen instinktiy gesehen haben, hatten die Juden lange vor dem Aufleuch­ten der Intellektualität in der Mitte des 8. vorchristlichen Jahrhun­derts aus dem Inneren heraus, allerdings einseitig und auch vorzeitig, eine Art Intellektualität entwickelt. Bei den älteren griechischen Den­kern sehen wir durchaus, wie sie die Intellektualität empfangen, in­dem sie die Natur beobachten. Eine lebendige Weltanschauung, wie sie Heraklit entwickelt, dem im Grunde genommen die ganze Welt em Werden ist, dem aber das Werden sich wiederum mehr als nur symbolisiert durch das Feuer, solch eine lebendige Weltanschauung kommt nur dadurch zustande, daß der Mensch sich ganz hineinfühlt in das Feuer, gewissermaßen die innere Natur des Feuers miterlebt, und das Begriffliche, das Vorstellungsmäßige gleichzeitig erlebt. In­dem er die äußere, sinnliche Röte des Feuers hat, da wird in der Außenwelt das Vorstellende, das Intellektuelle wahrgenommen.

Für diejenige Zivillsation, die namentlich durch die Griechen reprä­sentiert wird, ist es so, daß durchaus das intellektuelle Element für den Menschen in der Mitte des 8.vorchristlichen Jahrhunderts gebo­ren wird. Für das hebräische Volk war es bereits früher geboren. Für das hebräische Volk war es so, daß es das Intellektuelle aller­dings nicht wahrnahm in der Außenwelt, sondern daß es im Inneren, nicht durch Traumbilder wie die Ägypter, und schon in einer ge­wissen Abstraktheit das wahrnahm, was geistig-intellektuell ist. Und das führte sie zu ihrem Monotheismus. Das führte sie dazu, man möchte sagen, die ganze Welt zu moralisieren, alles auf den Willen Jahves zurückzuführen, es darauf zurückzuführen, daß Jahve es will. Und es ist vielleicht geradezu ein polarischer Gegensatz zu nennen,

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wenn wir irgendeinen griechischen Weisen nehmen wie den Anaxa­goras und sehen, daß er vom Weitenverstande als dem Nus spricht, gewissermaßen den Verstand draußen in der Welt objektiviert wahr­nimmt, und wenn wir von einem jüdischen Gelehrten des Altertums sprechen, der diesen Verstand aus seinem Inneren aufsteigen fühlt und dabei die Offenbarung Jalives miterlebt. Selbst wenn Sie so etwas nehmen wie die Offenbarung des brennenden Dornbusches bei Moses, so werden Sie anders darüber denken müssen nach der ganzen Art der Darstellung, wie Sie denken müssen über ein Philosophem des Anaxa­goras Was Moses äußerlich wahrnimmt, ist nur eine Anregung. Was er eigentlich wahrnimmt, steigt aus seinem Inneren auf. Daher auch die merkwürdige Abstraktheit, mit der alles auftritt, was der eigent­liche Inhalt dieses hebräischen Altertums ist. Dadurch aber war der Menschheitsentwickelung eine Tendenz gegeben, die mehr von der Natur wegführt. Im Griechentum sehen wir das Hineinleben des Menschen in die Natur so, daß er aus der Natur heraus den Verstand gebiert. Im Hebräertum sehen wir frühzeitig ein Erleben des mensch­lichen Inneren, und von dieser Tendenz aus kam es dann, daß das ausgehende Griechentum, das schon in Verfall gekommene Griechen­tum zum Beispiel an die Stelle des Platonismus den Neuplatonismus setzte, der eine abstrakte Mystik darstellt, ein Sich-Hineinleben in eine unanschauliche, abstrakte Geisteswelt. Wir sind da schon in den Jahrhunderten des Unterganges des griechischen Volkes. Es hat sich schon das äußere Anschauen nach innen gewendet. Man möchte sa­gen, der Verstand, den der Grieche zuerst in der Außenwelt ent­deckte, hat sein Inneres überwältigt. Und Plotin, Jamblichus, Am­monius £akkas, sie sind Menschen, die ganz hingegeben sind an das Unsinnliche, Geistige, die ganz leben in diesem Unsinnlichen, Geisti­gen, und die eigentlich den Menschen nur dann einen wahren Menschen nennen, wenn er dieses Unsinnliche, Geistige erleben kann.

In gewissen Gegenden des Orientes drüben hat sich aber immer noch etwas erhalten von dem, was das Innere, Seelische nicht so ab­strakt denkt, wie es die späteren Griechen dann, etwa im Neuplatonis­mus, gedacht haben, sondern welches noch einen Nachklang darstellt

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der inneren Organwahrnehmung und welches auch das Äußere nicht etwa so darstellt, wie der Grieche Demokritos angefangen hat, es durch materielle Atome vorzustellen, sondern welches die Grundlage des Äußeren, des Sinnlichen als geistige Welt vorstellte. Und immer wieder und wiederum entstanden die Tendenzen, vom Orient her­über, dem, was durch den hebräischen Einfluß hereinkam, etwas ent­gegenzusetzen. Man braucht nur Philo zu studieren, der im Beginne des ersten nachchristlichen Jahrhunderts gelebt hat, so sieht man die­sen hebräischen Einfluß. Immer mehr und mehr geht von gewissen Gegenden Asiens herüber eine Reaktion aus gegen dieses Verinner­lichen, gegen dieses ganz Aufgehen im abstrakten Inneren.

Es war in der neueren Zeit der allerunglücklichste Gedanke, die biblische Schöpfungsgeschichte einfach als eine Darstellung von Sym­bolen äußerlicher geologischer Zeiträume aufzufassen. Das ist sie ganz gewiß nicht, sondern sie ist die Darstellung dessen, was man über den ganzen Hergang der Weltentwickelung erschaut, wenn man nur das Innere des Menschen wirken läßt. Nur waren die hebräischen Wei­sen so, daß sie dasjenige, was in ihrem Inneren aufstieg, im Kon­kreten noch sahen, daß sie darin ein Mannigfaltiges, ein Unterschied­liches sahen. Was sie da als innere Wirklichkeit schauten, das war bei Philo schon zum Symbol degeneriert, das war dann im Neuplato­nismus völlig abstrakt geworden. Und wenn es auch etwas Erhabenes, etwas Großartiges hat, sich in die Weltentrücktheit des Plotin, des Jamblichus zu versetzen, so bedeutet das doch auf der anderen Seite, daß in diesem Verzücktsein, in dieser Ekstase, im rein abstrakten Übersinnlichen die Naturordnung, die ganze Naturanschauung ver­lorengeht. Wie gesagt, immer waren von einzelnen Gegenden Asiens herüber Reaktionen gekommen gegen dieses völlige Verinnerlichen des Menschen, wodurch er alle innere Bildhaftigkeit verlor, wodurch die Bilder ihre Konturen verloren, die Imaginationen verschwommen wurden und der Mensch zuletzt aufging in dem abstrakten, in dem ureinen, in dem übersinnlichen, durch nichts zu charakterisierenden Weltensein.

Nun, in diese Zeit hinein, in der solche Kämpfe stattfanden, in der noch fortlebten alte Weltanschauungen, so wie ich es heute und gestern

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charakterisiert habe, in der aber mehr und mehr die Entwicke­lung der Intellektualität stattiindet, in diese Zeit fiel, wie Sie wissen, herein die Entstehung des Christentums. Diese Entstehung des Chri­stentums hat durchaus für das spätere Heraufkommen der Natur­wissenschaft eine tiefe Bedeutung. Aber man kann diese Bedeutung nur verstehen, wenn man zunächst sich sagt: Was es immer sei, was da durch das Christentum in die Welt gekommen ist, verstehen konnte dieses Christentum die damalige Welt nur eben aus ihren Vorstellun­gen heraus. Was auch in Palästina geschehen sein mag, die Menschen der damaligen Zeit mußten das zunächst verstehen nach ihren Vor­stellungen.

Sagen wir also, drüben in Asien habe irgendwo ein Mensch geses­sen, der noch einen Nachklang hatte von der mehr materiellen Innen-anschauung und von der vergeistigten Außenwelt, dann mußte er in dem Ereignis von Golgatha etwas sehen, was dieser seiner Welt­anschauung entsprach. Er mußte es aus seiner Weltanschauung her­aus erklären. Lebte irgendeiner im Neuplatonismus, im Plotinismus, in der Weltanschauung also, die alle Imaginationen schon mit un­scharfen Konturen sah und zuletzt alles verschwimmen ließ im einen, so übersetzte er alles, was er erfuhr über das Mysterium von Gol­gatha, in ein solches verinnerlichtes Anschauen der Welt. Er sagte sich zum Beispiel: Das Höchste, das ich erringe, auch wenn ich mich zurückziehe von allen diesen Sinnesanschauungen, wenn ich allein mein Inneres walten lasse und mich mit dem All-Einen vereinige, dann geht mir als dieses Höchste in meinem Inneren der Christus auf. Ich erlebe in diesem Weltentrücktsein den Christus-Impuls. - So etwa konnte ein Neuplatoniker sagen. Jemand, der noch etwas zurück­behalten hatte von der alten Weltanschauung, wie ich sie heute ge­schildert habe, der sagte sich: In dem Christus war vereinigt ein gei­stiges Element aus dem Kosmos heraus mit einem menschlichen Ele­ment. - Und da er in einer gewissen Beziehung sah, was in den Organen des Menschen mehr materiell als Seele lebte, so wurde diese besondere Vereinigung des geistigen Christus mit dem Menschen Jesus für ihn zum Problem. Daher tritt im Oriente drüben so viel­fach das Problem der Vereinigung des Christus mit dem Jesus auf.

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Vielfach wurde in jenem Stadium der Intellektualität, in dem man dazumal stand - es waren ja seit dem Auf keimen der Intellektualität in der Menschheit erst siebeneinhalb Jahrhunderte vergangen -, das Mysterium von Golgatha eben so verstanden, wie man es verstehen konnte, und unterscheiden muß man das, was die einzelnen sagten, von dem, was eigentlich geschehen war, was da hereingebrochen war als ein objektives Ereignis in die Entwickelung der Menschheit, das Ereignis von Golgatha.

Aber wir wollen zunächst, indem wir später darauf zurückkommen, sehen, wie sich da diese verschiedenen Anschauungen ausnahmen, teilweise solche, welche noch aus alten, unintellektualistischen Zeiten heraufgekommen waren, oder solche, welche sich entwickelt haben unter dem Einfiusse des hebräischen Elements, wir wollen sehen, wie sich diese in den nächsten Jahrhunderten ausnahmen. Man möchte sagen, handgreiflich erscheint einem - wenn ich den Ausdruck sym­bolisch gebrauche -, was da geschehen war in der Menschheitsent­wickelung, wenn man hinschaut auf das 4. nachchristliche Jahrhun­dert und zum Beispiel ein Ereignis betrachtet wie die Begründung Konstantinopeis durch den Kaiser Konstantin, der ja das Christentum erst zur vollberechtigten Reichsreligion des Römischen Reiches er­hoben hat. Konstantin begründet Konstantinopel. Wir stehen damit im 4. nachchristlichen Jahrhundert. Und man kann sagen, so, wie sich dieser Konstantin verhielt bei der Begründung Konstantinopels, hätte sich niemals in älteren Zeiten irgendeine Persönlichkeit verhalten kön­nen bei der Begründung irgendeiner Stadt. In jenen älteren Zeiten war alles aus einem Instinktiveren hervorgegangen. Konstantin -ganz zweifellos alles, was uns überliefert ist, zeigt das - hatte den Gedanken, daß jene alten Meinungen wahr seien, die auf den Unter­gang Roms hinwiesen. Er wollte daher Rom nicht als Hauptstadt be­halten. Daß man natürlich beim Untergang Roms vorzugsweise an den Untergang des Römischen Reiches dachte, das muß besonders hervor­gehoben werden. Daß Rom nicht in derselben Weise der Mittelpunkt der Welt bleiben konnte, wie das früher der Fall war, das war ja etwas, was als Meinung in der Zeit damals intensiv lebte. Aber Kon­stantin wollte damit das Reich nicht auch zugrunde gehen lassen. Nun

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war eine alte Anschauung diese, daß man in der Menschheitsent­wickelung in einer Art von Kreisläufen drinnen lebt. Daher war schon in älteren Zeiten, noch in den Zeiten des heidnischen Roms, der Gedanke entstanden, die Stadt Troja wieder aufzubauen, von der ja, wie auch die Sage bezeugt, die Gründung Roms hergeleitet wird. Man wollte zum Ursprung wiederum zurückkehren. Konstantin ging nicht bis nach Kleinasien hinüber, aber er bewegte sich nach dem Osten, er gründete Konstantinopel, wie wir aus den Überlieferungen wissen, durchaus aus dem Gedanken heraus, daß sich die Weltent­wickelung wiederum gegen ihren Ursprung hin zurückbewegen müsse. Und er war gewissermaßen darauf aus, so viel wie möglich, von dem er glaubte, daß es jetzt noch lebensfähig sei, in dieses Konstantinopel hineinzutragen. Lebensfähig war im 4. nachchrist­lichen Jahrhundert, mehr als die heutige Zeit es oftmals annimmt, das Christentum. Man braucht nur zu denken an solche Darstellungen, wie sie zum Beispiel Tertullianus gibt, der, man möchte sagen, in einer Art von Bittschrift sich an den römischen Kaiser wendet, man möge die Christen dulden, denn was hülfe es denn, wenn man sie nicht dul­dete; die Hälfte der Bewohner aller Städte seien ja doch Christen, und die seien daher ungeduldet. Wir wissen auch durchaus nach heidnisch-römischen Schriftstellern, daß sich das Christentum damals rasend schnell ausgebreitet hat. Wir wissen, daß im Grunde genom­men das Urteil auf vielen Seelen lastete, das Christentum könne doch nicht aufgehalten werden. In der Zeit Diokktians seufzen die Römer, man könne ein paar hundert Leute, ein paar tausend Leute töten, man könne aber nicht die halbe Bevölkerung des Reiches töten. Das mag in einer gewissen Weise ja hoch gegriffen sein, aber dennoch, dem liegt zugrunde, daß sich das Christentum in den ersten Jahr­hunderten verhältnismäßig außerordentlich schnell ausgebreitet hat. Konstantin durchschaute die tragende Kraft des Christentums, und deshalb war es, daß er, was von alten Zeiten heraufkam, verbinden wollte mit demjenigen, was nun neu da war. Man möchte sagen:

So symptomatisch bedeutsam ist eigentlich noch nie etwas in der Weltgeschichte aufgetreten wie jenes Grundsteinlegungsfest, das Kon­stantin bei der Begründung Konstantinopels gefeiert hat, wo er die

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Porphyrsäule, an die das Glück Roms gebunden schien, unter größ­ten Schwierigkeiten nach Konstantinopel hinüberbringen ließ. Als man die Porphyrsäule hineinführen wollte in die neue Stadt, mußte man sie über eine Sumpfgegend hinüberbringen, und mußte dazu erst Eisenschienen legen, woher der Ausdruck «Die eiserne Pforte» kommt, der sich in der Bezeichnung «Die Pforte» noch bis heute erhalten hat. Diese Porphyrsäule ließ er aufrichten, aber eine Apollo­statue aus Ilion daraufstellen. In diese Apollostatue ließ er Holz­stücke des Kreuzes Christi verbergen, die ihm seine Mutter Helena aus Jerusalem mitgebracht hatte, und er umgab die Apollostatue mit einer Art von Sonnenstrahlen; darin waren Dornen aus der Dornen­krone, die er auch aus Palästina hatte.

Man sieht, zusammenlaufen sollte das, was aus alten Zeiten herauf­kam, und das, was als neues, fruchttragendes Element da war. Aber es wurde von Konstantin offenbar nicht geglaubt, daß das, was da fortzusetzen sei, in Rom fortgesetzt werden könne. Das Palladium, von dem man sagte, daß es einstmals hinübergebracht worden war aus Troja nach Rom, das Palladium wurde ebenfalls nach Konstan­tinopel überführt und dort an einer für die Außenwelt unbekannten Stätte verborgen. Es blieb aber die Sage: Zweimal wäre dieses Palla­dium überführt worden, das eine Mai von Asien nach Rom, das zweite Mal von Rom nach Konstantinopel. Das dritte Mal werde es überführt werden von Konstantinopel nach der Slawenhauptstadt, und wenn dies geschehe, werde ein neuer Zeitraum der Weltent­wickelung beginnen. Diese Anschauung beseelte viele Menschen des europäischen Ostens. Diese Anschauung lebte auch noch in denen, die mittätig waren bei der Intendierung des letzten Kriegsausbruches 1914. Es ist eine symptomatische Sage, diese Sage von der dreimaligen Übersiedelung des Palladiums. Es lebt aber in dieser Sage ein Be­wußtsein von dem Fortgange der Menschheitsentwickelung.

Macht es nicht, wenn wir das alles anschauen, den Eindruck von einer Bewußtheit, von einer Verstandesmäßigkeit, die geradezu tief bedeutsam erscheinen muß, wenn man bedenkt: Alte Sagenmotive, alte Bildmotive werden von Konstantin rein verstandesgemäß, man möchte sagen, mit ungeheurer Logik zusammengefügt, und diese

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Logik soll zur weltbeherrschenden Logik werden? Man sieht gerade dieser Sache an, wenn man hinschaut auf die besondere Seelenver-fassung dieses Konstantin, wie in dieser Zeit die Verstandesmäßig­keit bereits auf einer hohen Stufe steht, aber zu gleicher Zeit noch so ist, daß sie durchaus verwoben ist in die objektive Außenwelt. Es ist, ich möchte sagen, noch viel Griechisches in dieser Art, sich des Verstandes zu bedienen. Die Griechen hatten den Verstand, den Nus, zugleich mit der äußeren Welt wahrgenommen, wie man Farben wahrnimmt. Sie hatten auch in der Geschichte wirksam sich gedacht den Nus, den Verstand. Konstantin glaubt, daß er seinen subjektiven Verstand nur zur Wirksamkeit bringen kann, wenn er rhn durchaus hinelngeheimnißt in objektive Vorgänge: das Übertragen der Por­phyrsäule, das Hinüberbringen von Kreuzesholz und Dornenkrone. Historisches in seinen Bildern verwebt Konstantin durch den Ver­stand. Der Verstand lebt noch in dem Äußeren; er fühlt sich nur als Realität, indem er in dem Äußeren lebt. Eine solche Sage wie die vom Palladium, die sehen wir, ich möchte sagen, übergeführt in die größte Nüchternheit.

Es ist schon eine merkwürdige Zeit, dieses 4. nachchristliche Jahr­hundert, und man merkt, was das Bedeutsame, das Wesenhafte an dieser Zeitepoche ist, wenn man das, was dann im weiteren Mittel­alter sich fortsetzt, ins Auge faßt. Man nehme nur eines heraus: die­ses Ringen der Späteren zwischen Nominalismus und Realismus. Realismus war für die Scholastiker auch noch des 13. Jahrhunderts zum Beispiel die Anschauung, daß die Vorstellungen von der äußeren Na­tur in sich eine Realität haben. Gegen das lehnten sich die Nominali­sten auf, die in den Vorstellungen nur abstrakte Namen sahen, nicht so etwas Reales, wie die Farben oder die Töne sind, so daß der große Streit entstand zwischen Realismus und Nominalismus. Im Realismus lebte etwas fort von derjenigen Anschauung, die im Griechentum ganz selbstverständlich war. Ein griechischer Denker konnte nicht anders als Realist sein, weil er ja seine Verstandesbegriffe wahrnahm, wie er die Farben wahrnahm. Aber was wir bei Konstantin noch verknüpft finden mit der objektiven Außenwelt, man möchte sagen, der realisierende Verstand, das wurde immer mehr und mehr in den

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Menschen hineingenommen, immer mehr und mehr durchsponnen von der inneren Aktivität. Der Mensch wurde immer mehr vom Ver­stande besessen. Dadurch zog er für seine Anschauung diesen Ver­stand aus der äußeren Welt heraus. Daß Realismus im Mittelalter auf­tritt, das hatte seinen besonderen Grund, den wir morgen noch ken­nenlernen werden; das war nicht bloß ein Nachklang des alten Grie­chentums, sondern das lag in dem besonderen Verhältnis, in dem die eindringenden germanischen Völker zu dem vom Altertum Überkom­menen standen.

Aber, was Nominalismus war, das pflanzte sich so fort, daß das, was früher als Verstand zugleich mit der äußeren Sinneswelt erlebt wurde, jetzt abstrakt abgezogen erlebt wurde. Ich möchte sagen, die Menschen wurden für diesen Nominalismus dadurch erzogen, daß ins Mittelalter hinein sich das Lateinische fortpflanzte als eine alte, tote Sprache, die nicht mehr da lebte, wo man mit der äußeren Welt in Verbindung stand, die nur noch lebte für jene geistige Welt, die Plotin ins Abstrakte hinauf, ins All-Eine, ins Unsinnlich-Übersinnliche geführt hatte. Man möchte sagen, dieses Unsinnlich-Übersinnliche sollte immer mehr und mehr die Menschen ergreifen, und für die­jenigen, die eine höhere Bildung hatten, sollte die lateinische Sprache, die eine tote, abstrakte Sprache geworden war, das Erziehungsmittel sein zu dieser Abstraktheit hin, zu diesem Abgezogensein von der äußeren Natur. Wenn man das für die späteren Zeiten sieht, dann kann man ermessen, was eigentlich in diesem 4. nachchristlichen Jahr­hundert lebte.

Nun sehen wir wiederum einen tief bedeutsamen Einschnitt in der Menschheitsentwickelung im Beginne des 15.Jahrhunderts. Man braucht sich nur einmal zu vertiefen in alte Schriften, die von der Natur handeln, die noch aus dem 10. und 11. Jahrhundert stammen, und man wird finden: Da ist es ja wirklich so, daß die Menschen, in-dem sie im Verstande leben, zwar diesen Verstand als Abgezogenes empfinden, aber ihn so empfinden, als ob er sie von sich besessen mache, als ob er ein reales Element in ihnen wäre. Auch die Nominali­sten sehen den Verstand nicht draußen in den Dingen, sie sehen zwar in den Vorstellungen bloße Namen, namentlich in den zusammenfassenden

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Vorstellungen; aber im Erleben der Vorstellungen sehen sie eine reale Macht. Das hört im Bewußtsein des beginnenden 15.Jahrhunderts auf. Immer mehr und mehr entwickelte sich dann diejenige Zeit, in der wir noch ganz drinnen leben und die wir er-kennen, wenn wir uns fragen: Was ist denn nun für uns der Ver­stand geworden? In dieser Zeit, die so sehr die Ausschließlichkeit liebt, die so sehr sich erbaut an der eigenen Absolutheit, in dieser Zeit sieht man ja auf frühere Zeiträume sehr hochmütig herab. Wer heute liest, was im 10. und 11.Jahrhundert geschrieben worden ist, der sieht es als kindisch an. Wer aber sich geisteswissenschaftlich darin vertieft, er wird zwar auch nicht dazu zurückkehren wollen, aber es doch nicht als kindisch ansehen, sondern eben als eine andere Anschauung. Er merkt, wie da zwar der Mensch mit dem Verstande tätig ist, aber den Verstand noch wenigstens im Erkenntnisprozeß als mit den Dingen vereinigt denkt. Vom 15.Jahrhundert ab wird das anders. Da ist dem Menschen, indem er nachdenkt, nicht mehr bewußt, daß da Kräfte ln ihm wirken; er fühlt sich nicht mehr vom Ver­stande besessen, fühlt sich durchaus als die Wesenheit, die das Ver­ständige selber hervorbringt. Wir haben eigentlich den Verstand nicht mehr als eine reale Macht, sondern nur als das, was uns die Bilder der Außenwelt liefert, Bilder, Schatten dessen, was der Verstand früher war. Das, was da heraufgezogen ist, das ist das Charakteristische des neuen Zeitalters. So weit ist die Verinnerlichung fortgeschritten, daß der Mensch sich gar nicht mehr so fühlt, als wenn er von etwas ge­trieben würde, wenn die Logik in ihm wirkt, sondern er fühlt den Verstandesbegriff, ich möchte sagen, ganz schattenhaft geworden. Er fühlt nicht mehr, daß da etwas innen, innerlich stößt und treibt. Das fühlte noch der Mensch des 10., 11., 12., 13., 14.Jahrhunderts. Das hörte auf im 15. Jahrhundert. Damit beginnt das Zeitalter der Ent­wickelung der eigentlichen menschlichen Bewußtheit. Nur dadurch konnte der Mensch seines eigenen Wesens vollbewußt werden, daß er den Verstand nicht mehr als etwas fühlte, von dem er innerlich besessen ist, demgegenüber er sagen muß, was man in der alten Zeit viel öfter gesagt hat, als man meint: «Es denkt in mir», sondern er wird derjenige, der da sagt: «Ich denke.» Er steigt zu seinem vollbewußten

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Selbstbewußtsein auf. Die Bewußtseinsseele entwickelt sich, während sich in dem Zeitalter von der Mitte des 8.vorchristlichen Jahrhunderts bis zum Beginn des 15.Jahrhunderts die Verstandes-seele entwickelt hatte. Sehen Sie nach, alle Begriffe, die wir heute haben, einschließlich der Begriffe von Evolution, der Begriffe von Vererbung und so weiter, alle Begriffe, alle Vorstellungen, die wir haben, sie stammen aus der Zeit vor dem 15. Jahrhundert. Neue Begriffe haben wir uns nicht erworben. Man fühlt heute gerade als Geisteswissenschafter, wie schwer es ist, Worte wenn auch nur in einem Elementaren zu bilden, wenn man nicht mehr ausreicht mit dem, was die Worte gemäß den Begriffen eigentlich ausdrücken, die bis zum 15. Jahrhundert ausgebildet worden sind. Wir zehren an den Schatten der alten Begriffe und haben allerdings im naturwissen­schaftlichen Zeitalter in einer wunderbaren Weise hineingelangen kön­nen in die äußere Natur dadurch, daß wir festgehalten haben an den Schatten der früheren Begriffe.

Es ist merkwürdig, wenn man gerade von diesem Gesichtspunkte aus ganz bestimmte Persönlichkeiten betrachtet. Da trat zum Bei­spiel im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Denker auf, der nicht genü­gend gewürdigt ist. Ich habe sein Wesen darzustellen versucht im dritten Kapitel meines Buches «Von Seelenrätseln»: Franz Brentano. Er ist nur, ich möchte sagen, der Charakteristischeste aus einer ganzen Reihe. Man kann viele solche Persönlichkeiten studieren. Franz Brentano lernt die neuere Naturwissenschaft kennen. Er nimmt mit den naturwissenschaftlichen Tatsachen selbstverständlich auch die Begriffe auf. Aber gleichzeitig stammt er aus frommer Familie, ist fromm erzogen, will mit den naturwissenschaftlichen Begriffen zu­rechtkommen. Er kann nicht anders, als sich fragen: Wie ist es denn mit diesen Begriffen, die da leben in mir, wenn ich die naturwissen­schaftlichen Tatsachen erfasse? Ich rede von Vererbung, von Ent­wickelung, von Metamorphose, was ist es mit diesen Begriffen? - Und er wird so geführt zu seiner außerordentlich geistreichen Abhand­lung über Aristoteles, indem er sich an Aristoteles orientiert, sich also in den Zeitraum zurückfinden muß, der mit dem 8.vorchristlichen Jahrhundert begonnen hat und geschlossen hat in dem ersten Drittel

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des 15.Jahrhunderts. Und will man sich aufklären über die eigen­tümlichen Begriffe, die in unserem Zeitraume herrschen, dann muß man eben immer wiederum in diese vorigen Zeiträume zurückkehren.

Franz Brentano hat einmal einen rechtswissenschaftlichen Vortrag gehalten. Bei diesem rechtswissenschaftlichen Vortrag wollte er klar­machen, wie sich der Mensch als seelisches und geistiges Wesen ver­hält zu der Außenwelt. Er wollte einen Begriff für dieses Verhält­nis des Menschen zur Außenwelt haben, er wollte mit anderen Worten sich sagen können: Wie verhält sich eine Vorstellung zur Außenwelt? - Er griff zurück zu dem Begriff « intentionell», den er bei den Scholastikern des Mittelalters als einen Begriff des Zeit­raumes, der unserem vorangegangen ist, entwickelt fand. Und so muß man immer mit den Begriffen zurückgehen. Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, daß nach dem 15. Jahrhundert Begriffe entstanden sind. Wir leben in einer Schattenwelt von Begriffen, nicht in einer Welt der Begriffsrealität. Die Zeit vor 1400 ist das Zeitalter, in dem sich ausgebildet hat die Begriffsrealität, der Begriff, das Verstandes­mäßige als ein realer Faktor im Inneren. Wir haben das schon seit dem 15.Jahrhundert überwunden. Wir haben das Ich-Bewußtsein an seine Stelle gesetzt. Das Ich-Bewußtsein war noch im Hintergrunde bei den Griechen, es hatte für sie etwas Schattenhaftes. Bei ihnen lebte vorzugsweise das Verstandesmäßige, das aber als ein Reales lebte, wie ich es dargestellt habe.

Die Menschheit wird erzogen, ich möchte sagen, wie durch ein inneres Hineinwirken der geistigen Kräfte zu diesen verstandesmäßi­gen Fähigkeiten. Und diese Erziehung dauert eben vom 8. vorchrist­lichen Jahrhundert bis zum 15.Jahrhundert. Und fragen Sie nach der Mitte dieses Zeitraumes, so finden Sie: das 4. nachchristliche Jahr­hundert, das ist die Mitte. Da ist also die Entscheidung. Bis dahin geht es hinauf, bis dahin impulsiert den Menschen die Kraft, die den Verstand gewissermaßen in seine Seele hineintreibt. Dann flutet diese Kraft ab, dann geht es allmählich hin zu dem Schattenhaftwerden des Verstandes. Und mit der Gründung Konstantins sieht man diesen Umschwung sich vollziehen vom Darinnenleben noch in der vollen Realität mit dem Verstande, wie man mit den alten Bildern in der

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vollen Realität gelebt hat, so daß man sich nicht unterschied von der äußeren Welt. Aber schon lebt auch im Menschen das Hintendieren zu dem Hinauskommen aus der Welt, indem alte Sagenbilder wie mit nüchternem Verstande in der Konstantingründung verwoben wer­den. An solchen Umschwüngen sieht man, was lebt in der Mensch­heitsentwickelung.

Und nun kann man sich fragen: War das, was sich da auslebte als Verstand, was dann in der römischen Nüchternheit lebte, die alle Götter im Grunde genommen nur zu äußerlichen Symbolen für Staats-begriffe und dergleichen oder für Naturerscheinungen machte, lebte in dem, was da herauskam, in dem, was da sich entwickelte, nicht etwas wie ein Hintendieren nach der Wirkung des hebrälschen Elementes, das ganz abgezogen war von der äußeren Natur und aus früheren Zeiten heraus das Innerliche brachte? Ich möchte sagen, es lebte sich im Süden von Europa, im Norden Afrikas, in Vorderasien aus, dieses Hintendieren, indem man die alte Bildhaftigkeit, die chaldälsch­ägyptische Bildhaftigkeit zu der Unbildhaftigkeit des mystischen An­schauens des All-Einen hinauf erkrampfte. Man mußte in diese Region hinein, nicht um sie krampfhaft auszubilden, aber um in ihr drinnen dann den Verstand voll erleben zu können. Es war dieVorberei­tung zum Verstande hin, und man kann dieses Zeitalter nicht verstehen, wenn man nicht begreift das Ineinander-Verwobenwerden dieser My­stik am Ausgange des Altertums, dieser Mystik, die den Untergang des Römischen Reiches und das Heraufkommen des Verstandes begleitet.

Aber sehen Sie sich einmal diese ganze Entwickelung an. Im Süden hat sich krampfhaft hinbewegt gerade der gebildeteste Teil der Be­völkerung zu dem Unsinnlich-Übersinnlichen, zu dem Bildlosen, zu dem Verschwimmen mit der Seele in dem All-Einen, um zum Ver­stande zu kommen. Angefacht wurde da die Weiterbildung des Ver­standes, selbst in der Sprache, durch die tote Sprache des Lateini­schen. Aber das ganze war einseitig entstanden. Das ganze war da­durch entstanden, daß sich gewissermaßen die Menschheit dieses Südens hinausgehoben hat über die Natur, und dieses Hinausheben über die Natur, das war schon vorbereitet in einer sozialen Erschei­nung. Sie können sich diesen ganzen Vorgang auch bis hinein ins

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4.nachchristliche Jahrhundert nicht anders denken, als daß sich auf der breiten Basis einer Slllavenbevölkerung heraushebt eine Bevölke­rung der oberen Schichten, denn nur diese oberen Schichten können ein solches soziales Milieu entwickein, so daß dieser Plotinismus mög­lich wird, daß dieses Unsinnlich-Übersinnliche, dieses Sich-Ausschlie­ßen von dem Natürlichen, eine Grundverfassung der Seele wird. Das kann dann aber auch den Verstand nur aufnehmen, man möchte sagen, mit dieser aus der vollen Menschheit herausdestlllierten Seelen­Geisthaftigkeit. Die hat sich im Süden Europas entwickelt, die war nicht von einer genügend intensiven Kraft durchsetzt, um das robuste Römische Reich zu tragen, die war durchsetzt mit der Kraft, die ägyptische Einsiedler erzeugen konnte, aber die nicht tragen konnte das robuste Römische Reich. Das Römische Reich konnte gerade noch durch diese Weltabgeschiedenheit sich für den Verstand an­regen lassen, konnte den Verstand ausbilden, aber tragen konnten ihn nur die selber sozial getragenen oberen Zehntausend. Das Volk konnte ihn nicht ergreifen, nicht die ganze Menschheit. Da mußte der Rück­weg zur Natur wiederum gemacht werden. Konstantin wollte einen Rückweg antreten. Er trat den Rückweg an nach Konstantinopel. Das war aber nur mit dem Verstande gemacht. Ein anderer Rückweg wurde angetreten. Dieser Rückweg bestand in dem Wege, der began­gen werden mußte durch die Römer - wenn ich das jetzt auch etwas wie von der anderen Seite her darstelle - hin zu den Völkern, die ihnen frisches Blut und die Natur entgegenbrachten, zu den vom Norden herunterkommenden germanischen Völkern. Da war die Robustheit vorhanden, da konnte der Verstand aufgenommen wer­den mit dem Blute, mit dem Naturhaften. Schon Cäsar kämpfte gegen Pompejus mit germanischen Völkerscharen. Alle Siege der römischen Kaiserzeit wurden mit germanischen Söldnerscharen er­kämpft. Und neben der, ich möchte sagen, abstrakten Tat der Be­gründung Konstantinopels steht die andere, konkrete des Konstan­tin, wo er den Maxentius besiegt mit germanisch-britischen, ger­manisch-gallischen und rein germanischen Menschen.

In dem abstrakten Elemente, zu dem man hingegangen war, konnte sich die Seelenverfassung der ägyptischen Einsiedler erzeugen, die

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Seelenverfassung derer, die sich zurückzogen auf den Monte Cassino, aber es reichte das nicht aus zum Tragen der robusten Welt­geschichte. Da mußte elngreifen, was auf einer früheren Stufe zurück­geblieben war. Ungefähr um einen ganzen Zeitraum zurückgeblieben waren die Völkerschaften, die da hinunterstiegen. Sie brachten noch diejenige Frische mit, wie sie auch schon in einer früheren, höheren Blüte gelebt hatte, aber wenigstens noch frisch gelebt hat im 12., 13., 14. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland und Vorderasien. Was da lebte an innerer Seelenkraft, an Willenskraft, an Emotionellem, das wurde im germanischen Element dem Römertum entgegen-getragen. Und jetzt nahm ein Volk mit seinem ganzen Menschen­tum dasjenige auf, was im Süden in abstrakter Höhe ausgebildet worden war. Und in diesem Aufnehmen, da liegt die Möglichkeit, wiederum Realismus hineinzubringen, Wirklichkeit hineinzubringen in dasjenige, was uninstinktiv, unwirklich geworden war und daher nur zum Untergang des Römischen Reiches führen konnte. Da wurde intensive Kraft, da wurde Reales in den Gang des Mensch­heitswerdens hineingebracht. Da bereitete sich vor, was den Men­schen, der zum Verstande, das heißt, zu seiner Innerlichkeit und dann zur Bewußtseinsseele gekommen war, in der er aber nur noch den Schatten des Verstandes hatte, was diesen Menschen zurückführte zu dem, was er aus dem Sinn verloren hatte: zur Natur. Mit dem Aufsteigen der Bewußtseinsseele ist das Auf keimen der Natur-anschauung verbunden. Wie man das im Genaueren sich vorzustellen habe, davon wollen wir morgen sprechen.

VIERTER VORTRAG Stuttgart, 24. Mai 1921

#G325-1969-SE140 Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum

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VIERTER VORTRAG

Stuttgart, 24. Mai 1921

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Es dürfte wohl das 4. nachchristliche Jahrhundert aus unseren Betrachtungen als ein besonders bedeutsamer Einschnitt in die Mensch­heitsentwickelung sich ergeben haben, und ich möchte mit ein paar Worten noch einmal darauf zurückkommen, was eigentlich in diesem 4. Jahrhundert vorgelegen hat.

Ein charakteristischer Geist dieses 4. Jahrhunderts ist ja Augustinus, und wenn wir Augustinus betrachten, so haben wir so recht einen Repräsentanten dieses Zeitabschnittes vor uns. Augustinus weist ja gewissermaßen mit einem Teil seines Wesens, den er vorzugsweise in der Jugend ausgelebt hat und in seinen frühen Lebensjahren, ganz deutlich zurück nach der alten Bildung. Und dann ist bei ihm ein ziemlich schroffer Übergang zu verzeichnen, der ihn zu einer absoluten Unterwerfung unter die römisch-katholische Kirche führte, so daß ja Augustinus derjenige geworden ist, der in gewisser Beziehung Wissen, Erkenntnis für sich abgesetzt hat und innerlich subjektiv praktisch mit den Glaubensbegriffen völligen Ernst gemacht hat, indem er sich zu der Meinung, zu der Anschauung bekannte, daß er zwar nicht ein­sehe, was eigentlich die Grundlage der Wahrheit sei, die er anerkennen solle, und daß er sich zu der Wahrheit, zu der er sich zuletzt ent­schlossen hatte, eben nur deshalb bekenne, weil die katholische Kirche sie zu glauben vorschreibt. Zu dieser Meinung ist Augustinus durch harte Lebenskämpfe gekommen. Er huldigte eine gewisse Zeit hin-durch jener Lehre, welche man als Manichnismus bezeichnet, der orientalisierenden Lehre des Mani. Diese Lehre gehört zu denjenigen, die ich von einer gewissen Seite hier schon in diesen Abendbetrach­tungen charakterisiert habe. Ich sagte: Immer wiederum tauchen aus den Zeiten, die wir als indischen, persischen, chaldäisch-ägyptischen Zeitraum ansehen gelernt haben, aus diesen uralten Zeiten tauchen Anschauungen auf als eine Art Reaktion gegen das, was sich aufbaut aus der Entwickelung der vorzugsweise intellektualistischen Fähig­keit der Menschheit. Die Manichäerlehre war eine solche. Es ist ja nun

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einmal so, daß dazumal schon in den Zeiten, in denen Augustinus in seiner afrikanischen Heimat bekanntgeworden ist mit der Manichäer­lehre, solche Anschauungen eigentlich in einer etwas zweifelhaften Art auftraten. Augustinus war ja zunächst ganz gefangengenommen von der Manichäerlehre. Dann aber ist er in Berührung gekommen mit einem Bischof der Manichäer, Faustus, und die ganze Art und Weise, wie dieser Mann die Manichäerlehre vertreten hat, widerte dann Augustinus an. Man muß aber doch durch vieles, was ganz gewiß nicht nur als seichte Dialektik, sondern vielleicht als phrasen­hafte Rederei dem Augustinus entgegengetreten ist, auf etwas Kern­haftes in dieser Manichäerlehre blicken, und dieses Kernhafte wird man innerlich auch nur verstehen, wenn man sich von den Gesichts­punkten, die hier in diesen Betrachtungen geltend gemacht worden sind, dieser Manichäerlehre nähert.

Es ist ja von den wahren Urkunden solcher Lehren der Menschheit der neueren Zeit im Grunde genommen nicht viel erhalten geblieben; es ist nur das erhalten geblieben, was zitiert haben die christlichen Lehrer der ersten Jahrhunderte und was sie dann bekämpft haben. Es ist also eigentlich Wichtigstes aus den alten Zeiten nur durch die Zitate der Gegner auf die spätere Nachwelt gekommen. Aber viel-leicht wird derjenige, der sich hineinempfinden kann in solche Dinge, gerade aus dem besonderen Verhalten des Augustinus zur Manichäer-lehre auch etwas verspüren von dem Wesen dieser Lehre selber. Augustinus wendet sich ab von der Manichäerlehre aus dem Grunde, weil er sagt, er habe die Wahrheit gesucht, die Wahrheit gesucht in der Sonne, in den Sternen, den Wolken, den Flüssen, den Quellen, den Bergen, in den pflanzlichen, in den tierischen Wesen, kurz in alle-dem, was ihm als Sichtbares entgegentreten konnte. Er habe sie da nicht gefunden, denn alles das hätte ihm doch nur äußerlich Materielles dargeboten, er aber suche nach dem Geistigen. Nun hat sich dann Augustinus gewandt von der Manichäerlehre zum Neuplatonismus, den ich Ihnen ja auch schon von einer gewissen Seite her charakteri­siert habe. Der Neuplatonismus wandte sich ab von der sinnlichen Außenwelt. Er berücksichtigte sie wenig und wollte in seinem Inneren in einer Art mystischer Abstraktion sich mit dem All-Einen verbinden.

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Das ist es, was dann Augustinus in seinem späteren Lebensalter an­gezogen hat, und in dem, was er gegen die Manichäerlehre vorbringt, steckt schon, was er sich anerzogen hat durch sein Hineinleben in den Neuplatonismus, in die ungegenständliche, unmaterielle, un-sinnliche, abstrakte Welt. Der Welt gegenüber, in die er sich nun hineinversetzte, erschien ihm das, was ihm der Manichäismus bieten konnte, eben nur gewissermaßen wie ein Registrieren der äußeren, materiellen Dinge, die dann als das Göttliche ausgegeben werden.

Aber derjenige, der heute zur Geisteswissenschaft kommt, der wird erst lernen, diese Dinge in der richtigen Weise zu sehen. Betrachten wir einmal vom Standpunkt heutiger Geisteswissenschaft, was da eigentlich vorliegen mag. Ich habe Ihnen ja charakterisiert: Steigt man auf zum imaginativen, zum inspirierten Erkennen, dann lernt man allmählich die inneren Organe des Menschen kennen, konkret kennen, und es ergibt sich nicht jene mystische Nebeiwelt, von der so viele falsche Mystiker träumen, sondern es ergibt sich ein sachliches Durch­schauen der inneren Organik des Menschen. Gerade indem man diese innere Organik des Menschen als ein Ergebnis des Geistes auffaßt, indem man sie geistig durchschauen kann, lernt man sie als Materielles kennen. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür anführen. Sagen wir, ein mehr abstrakt denkender Mensch lernt einen sogenannten Hypo­chonder kennen. Ein abstrakt denkender Mensch wird leicht von einem Hypochonder sagen: Dem fehlt ja eigentlich physisch nichts besonderes, er ist nur seelisch krank. Er versetzt sich zu stark immer-fort in sein eigenes Inneres, er lebt sich gewissermaßen ganz in eine Selbstbetrachtung hinein, beurteilt dadurch die Dinge der Außen­welt falsch, beurteilt sie oftmals so, wie wenn sie ihn verfolgten oder dergleichen. Jedenfalls aber kommt er dadurch in ein falsches Ver­hältnis zur Außenwelt. - Und so kommt der abstrakte Mensch leicht dazu, zu sagen: Dem Hypochonder frhit ja physisch eigentlich nichts, er ist nur seelisch krank. - Eine solche Abstraktion kommt dadurch zustande, daß man eben noch nicht hineinsieht in das eigentliche innere Gefüge der menschiichen Organisation. Dieses innere Gefüge der menschlichen Organisation ist ja so, daß der Mensch ein dreigliedriges Wesen ist. Da haben wir die Kopforganisation, die dann allerdings,

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wie ich öfters ausgeführt habe, über den ganzen Organismus sich erstreckt, aber deren hauptsächlichster Sitz im Kopf ist und daher nach ihm bezeichnet wird; da haben wir die rhythmische Organisation der Brustorgane, welche die Atmung, die Blutzirkulation umschließt, und da haben wir alles das, was im Stoffwechselorganismus und dem damit im Zusammenhang stehenden Gliedmaßenorganismus besteht.

Nun ist die Sache so, daß in der Kopforganisation die einzelnen Organe der Außenwelt zugewendet sind und dadurch äußere Sinnes­organe sind. Aber auch in den übrigen Gliedern des menschlichen Organismus finden wir, daß die Organe neben dem, daß sie Ver­dauungsorgane sind, zugleich in einer gewissen Beziehung Sinnes-organe sind, und wir finden eine Art Korrespondenz, eine Art Polari­tät zwischen den Kopforganen und den Organen des Stoffwechsels. Die Organe des Stoffwechsels sind auch Sinnesorgane, nur sind sie Sinnesorgane, welche nicht nach außen gerichtet sind, sondern nach den Vorgängen innerhalb der menschlichen Haut. Und so finden wir zum Beispiel, daß der Mensch in seiner Kopforganisation, nach außen gerichtet, das Geruchsorgan hat; mit dem riecht er, was in seiner Umgebung außen ist. Diesem Geruchsorgan korrespondiert unter den Verdauungsorganen die Leber. Die Leber riecht gewissermaßen, was im Inneren des Menschen, in ihrer Umgebung ist. Nicht wahr, über diese Dinge muß ganz objektiv gesprochen werden, wenn man über­haupt zur Erkenntnis aufsteigen will.

Nun, sehen Sie, Sie müssen also dahin das Augenmerk lenken, daß, was gewissermaßen Verhältnis des Geruchsorganes zur Außenwelt ist, dem Verhältnis der Leber zu den inneren menschlichen Vor­gängen entspricht. Nun ist bei einem Hypochonder immer die Leber nicht in Ordnung, ganz einfach als, wenn Sie wollen, physisches Organ nicht in Ordnung. Das ist es gerade, was bei der Geistes­wissenschaft auftritt, daß sie nicht nur etwa in ein nebuloses Geister-reich hinaufführt, sondern daß sie durch die Anwendung ihrer Me­thoden gerade auch das Materielle in seiner Wesenheit erkennt, daß sie also hineinschauen kann in die Funktionen des Materiellen. Und dadurch, daß gewöhnlich Leberleiden mit sehr geringen oder gar keinen Schmerzen verbunden sind, tritt das nicht als physisch wahrnehmbare

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Krankheit auf, sondern es tritt eben als seelisches Erlebnis auf, wenn die Leber nicht in Ordnung ist und daher falsch nach innen riecht. Der Hypochonder ist für den, der die Dinge wirklich durchschaut, kein anderer als derjenige, dessen Leber nicht in Ord­nung ist und der daher innerlich das, was sie ja sehr leicht als nicht gerade sympathisch Riechendes empfindet, nicht in normaler Weise, sondern in zu sensitiver Weise mit seiner kranken Leber beriecht. Er beriecht sich fortwährend in seinem Inneren, und dieses Beriechen, das ist es, was eigentlich zugrunde liegt der hypochondrischen Seelen­anlage. Sie sehen, als nebulose Mystik kann man Geisteswissenschaft nicht charakterisieren, denn sie führt zu einer wirklich objektiven Erkenntnis auch des Materiellen. Gerade der Materialismus kommt nicht auf diese Dinge, weil er sie immerfort nur in abstrakten Formen betrachtet. Die imaginative und inspirierte Erkenntnis erklärt die sogenannten Geisteskrankheiten eigentlich immer aus ihren physi­schen Grundlagen heraus. Viel mehr hat man noch Veranlassung, vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus die sogenannten physischen Krankheiten vom geistigen Standpunkte aus zu erklären, als die sogenannten Geisteskrankheiten. Die Geisteskrankheiten sind in der Regel die allerphysischesten, das heißt, die allerphysischesten Ursachen liegen ihnen in der Regel zugrunde. Und so muß man sich klar sein darüber, daß derjenige, der das Geistige der Welt durch­schaut, auch zu einer Anerkennung des Wirkens des Geistigen im Materiellen kommt. Er sieht nicht die Leber bloß als dasjenige an, als was sie sich darstellt gegenüber dem Anatomen, der die Leichen seziert, sondern er sieht die Leber als ein innerlich gebildetes Organ an, welches in seiner äußeren Form abweicht von dem Geruchsorgan, dennoch aber eine Metamorphose dieses Geruchsorganes darstellt. Und so wird sich vielfach dasjenige, was der Geistesforscher zu sagen hat über die materielle Welt, weil er diese, ich möchte sagen, auf ihre geistigen Ursachen zurückführt, so ausnehmen, daß er gerade auf die Offenbarungen des Materiellen hinweist, weil man viel mehr durch die Offenbarung des Materiellen das Geistige erkennt als durch alle möglichen mystischen Schwärmereien und mystisch-nebulosen so­genannten Versenkungen in das Innere. Sie entspringen ja alle im

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Grunde genommen nur einer gewissen Abneigung, sich mit wirk­licher Erkenntnis zu befassen und dafür ins Innere hineinzubrüten, was ja auch von nichts anderem herrührt als von einer gewissen An-lage physischer Organe. Mystik in nebulosem Sinne zu betreiben, ist selber eine Art von Geisteskrankheit auf physischer Grundlage.

Sehen Sie, so etwas wie das Schauen des Geistigen im Materiellen, das trat dem Augustinus im Manichnismus entgegen. Er war aber schon zu sehr hineingeboren - er hatte ja bekanntlich die griechische Mutter Monika - in die Sehnsucht, aus dem Physischen heraus­zukommen, als daß er dabei hätte bleiben können. Daher wandte er sich an den Neuplatonismus, und auf diesem Umwege über den Neu-platonismus wandte er sich dem römischen Katholizismus zu.

Wir sehen also, wie in diesem 4. Jahrhundert, in das ja gerade die Vorbildungszeit des Augustinus fällt, die Menschen tatsächlich sich abwandten von der geistigen Betrachtung der äußeren Welt und auch der inneren Welt des Menschen. Diese Abwendung mußte geschehen. Diese Abwendung mußte aus dem Grunde geschehen, weil ja der Mensch niemals hätte frei werden können, ein freies Wesen werden können, wenn er sich nur als ein Glied der Außenwelt gefühlt hätte, so wie ich das an den vergangenen Abenden charakterisiert habe. Der Mensch mußte gewissermaßen heraus aus diesem Verquicktsein mit der Außenwelt. Er mußte sich einmal abwenden von der Außenwelt. Und der Höhepunkt dieses Abwendens von der Außenwelt, ich möchte sagen, derjenige Punkt, wo der Mensch verließ das Bewußt­sein: Du bist ein Glied der Außenwelt, wie der Finger ein Glied von deinem Organismus ist -, der Höhepunkt liegt in diesem 4. nach­christlichen Jahrhundert. Was der Zeit vor diesem 4. nachchristlichen Jahrhundert das Gepräge gab, war eine Entwickelung der Menschheit, die im Grunde genommen ganz aus dem menschlichen Organismus, ich möchte sagen, aus dem Blute heraus kam. In den südlichen europäischen Gegenden, in den nordafrikanischen, in den vorder-asiatischen Gegenden waren die Menschen aber schon dazu gekom­men, gewissermaßen von ihrer eigenen menschlichen Wesenheit ver­lassen zu sein, insofern sie eine physische, eine ätherische ist, und auf­zusteigen zu einem Unbestimmten. Denn zu einem Unbestimmten,

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man möchte sagen, zu einem Leeren, wo nichts mehr abhängig ist vom Blute, wo nicht mehr sich herausbildet das, was Lebensansicht ist, aus dem Rassenhaften des Menschen, zu einem solchen Leeren mußten sich die Menschen hinentwickeln, um in die Intellektualität hineinzukommen. Was alle die einzelnen Völkerschaften vor diesem 4. nachchristlichen Jahrhundert - natürlich ist das approximativ, wenn man einen solchen Zeitpunkt angibt - an Lebensansichten, an Erkenntnis und so weiter entwickelt haben, das war ihnen aufgestie­gen aus ihrem Blute, wie wir uns noch entwickeln zum Zahnwechsel, den wir auch nicht aus unserer Intelligenz heraus bilden, sondern aus unseren organischen Stoffen, oder wie wir uns bilden zur Geschlechts-reife, schließlich auch aus dem Organismus heraus, und zugleich zur Urteilsreife. So entwickelte sich alles, was diese Völkerschaften in ihren alten, instinktiven Imaginationen, Inspirationen hervorgebracht hatten, aus dem Blute heraus. Das hatte überall einen Rassenursprung. Und wenn irgendwo zwei Rassen, zwei Völkerschaften verschiedenen Blutes sich durcheinandermischten, dann blieb das eine Volk unten, sie wurden zu Sklaven, die andere Bevölkerung hob sich gewisser­maßen nach oben, bildete die oberen Zehntausend. Sowohl diese sozialen Unterschiede, wie auch dasjenige, was in der Erkenntnis, in den Seelen der Menschen lebte, das war durchaus ein Ergebnis der Rasse, des Blutes. Jetzt aber arbeiteten sich diese südlichen Völker, diese um das Mittelmeer herumsitzenden Völker aus dem Blute her­aus. Jetzt arbeiteten sie sich durch zu einem, wenn ich sagen darf, rein Geistigen. Denn in der Sphäre des rein Geistigen mußte die Intelligenz entwickelt werden.

Sehen Sie, so wäre der Mensch, wenn er sich weiter entwickelt hätte nur aus diesen Mittelmeervölkern heraus nach dem 4. nach­christlichenJahrhundert, gewissermaßen ohne Grundlage gewesen. Das Blut gab nichts mehr her. Aus den Rassengrundlagen entwickelte sich nichts mehr an seelischen Fähigkeiten. Der Mensch war gewissermaßen darauf angewiesen, insofern er von diesen Gegenden ausging, sich in einen - bildlich gesprochen - luftleeren Raum hineinzuentwickeln.

Diesen luftleeren Raum, das heißt dieses von dem Rassenhaften freie Entwickelungsgebiet, das betraten jetzt die Menschen dieser

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Mittelmeergegend. Sie mußten etwas anderes haben, woran sie sich anlehnen konnten. Sie mußten gewissermaßen dasjenige, was ihnen früher aus dem Blute kam, von außen empfangen. Und sie empfingen es dadurch, daß berechnende Menschen, die damals durchaus noch aus den alten Weisheitslehren heraus wußten, wie die Dinge eigentlich sind, die alten Staatsanschauungen des Römerreichs auf das Religions­regiment übertragen und die äußere katholische Kirche begründet haben. Diese äußere katholische Kirche, sie konservierte, was früher aus den verschiedenen Rassen an Geistesleben hervorgegangen ist, sie konservierte, was die alten Zeiten aufbewahrt haben, und sie ver­dichtete es zu Dogmen. Diese Dogmen sollten fortgepflanzt werden. Nichts mehr wurde aus dem Menschen hervorgebracht, aber was da war, wurde zu Dogmen verdichtet. Und damit kam ein unlebendiges Element hinein, aus dem der Mensch wirklich von außen empfangen konnte, was er früher von innen empfangen hatte. Es wurde nämlich die lateinische Sprache als eine tote Sprache fortgepflanzt, und das Erkenntnisleben verlief in der lateinischen Sprache.

Und so hatte man die eine Geistesströmung, die darin bestand, daß gewissermaßen das, was die alte Lebensansicht gebracht hatte, auslief in einem toten Element. Wäre nichts anderes gekommen, so hätte dieses tote Element allmählich ersterben müssen. Die ganze sogenannte Kultur hätte ersterben müssen. Man hätte zwar ein Höchstes gehabt, denn es war ein Höchstes, das dazumal sich heraufgelebt hatte. Die katholische Kirche hat selber viele gnostische, manichaische Elemente übernommen, nur hat sie die Terminologie abgestreift. Sie hat die alten Weltanschauungen fortgepflanzt. Sie hat auch die alten Kult-formen aufgenommen, aufbewahrt und fortgepflanzt in einer toten Sprache. Was so weiterlebte, war zur Entstehung von irgend etwas, was nun die Zivillsation hätte weiterbringen können, ebenso unfähig, wie zum Beispiel eine Frau allein unfähig ist, ein Kind hervor­zubringen.

Das war nur die eine Seite des Wesens, die jetzt notwendig war, um weiterzukommen. Die andere Seite des Wesens bestand in dem frischen Blute, das die vom Osten Europas herüberwandernden ger­manischen und sonstigen Völkerschaften in sich hatten. Da war

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wiederum Blut. Und das Eigentümliche war dieses, daß diese Völker­schaften in ihrer Entwickelung, wenn wir jetzt das Wort nicht wertend nehmen, sondern rein objektiv terminologisch, zurückgeblieben waren gegenüber den südlichen Völkerschaften. Die südlichen Völkerschaf­ten waren gewissermaßen im Galoppschritt zu der höchsten Bildung vorgeschritten, aus der dann der Intellekt heraufkam. Dieser stand auf seiner höchsten Entwickelungsstufe im 4. nachchristlichen Jahr­hundert und sollte sich jetzt einleben, sollte als toter Intellekt weiter­leben. So haben wir also das Weiterleben dieses toten Intellekts und das Heraufkommen, das ihm Entgegenkommen des germanischen Blutes der anderen Völker, die da auftauchten.

Wenn wir nun die äußeren historischen Vorgänge studieren, so kommen wir zu etwas außerordentlich Interessantem. Wir kommen nämlich dazu, uns zu sagen, daß in einem gewissen Zeitraum eine völlige Umwandiung, eine Metamorphose des abendländischen Lebens stattfindet. Wir sehen nämlich, wie ja in der Tat in einem großen, weiten Gebiete von Europa durch die sogenannte Völkerwanderung die alte Kultur abstirbt und eine Art Bauernkultur aufkommt. Was die oberen Zehntausend früher im alten Römerreich als ihre Kultur gehabt haben, das stirbt ab. Es bleibt, was die breite, ansässige Be­völkerung hatte, und so etwas Ähnliches, allerdings anders geartet, brachten dem auch die germanischen Stämme entgegen. Innerhalb dieses bäuerlichen Wesens, wo die Menschen eigentlich in kleinen Dorfgemeinden lebten und sich in diesen kleinen Dorfgemeinden ganz andere Dinge erzählten als das, was ihnen die katholischen Prie­ster predigten, innerhalb dieser Gebiete, in denen die Dorfgemeinden waren, wurde nun durch äußere Macht die katholische Religion verbreitet.

Das war die eine Strömung, die eben in lateinischer Sprache ging. Was wußten denn die Menschen, die da sahen, wie ihre Kirchen ge­baut wurden, wie in lateinischer Sprache die Weisheit fortgepflanat wurde, was wußten denn diese Menschen, auf die es gerade dazumal ankam in den Dörfern, von all dem, was da vorging? Wovon sie wußten, das waren die Geschichten, die sie sich nach getaner Arbeit am Abend erzählten, Erzählungen, die zum großen Teil aus Träumereien

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bestanden, wie wir sie bei den alten Ägyptern und dergleichen noch kennengelernt haben.

Es war durchaus eine Weltanschauung hier, durch die Zeit vom 4. bis zum 8., 9., 10. Jahrhundert durch die Dorfgemeinden gehend, die in den südlichen Gegenden längst abgetan war, wenigstens bei den oberen Zehntausend. Längst hatte sich aus diesen Untergründen eine feine Kultur bei den oberen Zehntausend herausgebildet. Und jetzt, im 9., 10., 11., 12.Jahrhunderte, sehen wir - genauer habe ich es in Dornach jüngst ausgeführt, ich will es hier nur kurz anführen -, wie aus den bloßen Dorfgemeinden sich allmählich die Städte kristalli­sierten. Die Städtekultur beginnt, und es ist, wie wenn der Mensch losgerissen wird aus der äußeren Natur, wenn er in den Städten zu­sammen konzentriert wird. Da kommt diese Städtekultur, die wir ver­folgen können von der Bretagne an bis tief hinein ins russische Reich, bis nach Nowgorod, von oben herunter bis nach Spanien, Italien hinein, überall dieser merkwürdige Zug nach dem Städtetum.

Und wenn wir nachschauen, was da eigentlich lebt in diesem Über­gang zum Städtetum, dann hat das für den, der innerlich die Geschichte studieren kann, eine große Ähnlichkeit, eine Wesensähnlichkeit mit demjenigen, was geschehen war, als nach dem trojanischen Kriege sich in Griechenland die Städte herausentwickelt haben mehr aus einer Bauernkultur. Was dazumal in Griechenland geschah im Jahre 1200 der vorchristlichen Zeit, das wiederholte sich da heroben jetzt, etwa um das Jahr 950 oder so etwas - es sind alle diese Zahlen approxi­mativ -, und um so viel, als 1200 und 950 Jahre ausmachen, um so viel waren eigentlich diese Menschen, die da als germanische Men­schen von Osten herüberkamen, zurück hinter denjenigen, in deren Gebiet sie jetzt eindrangen. Addieren Sie diese Zahlen, die vorchrist­lichen zu den nachchristlichen, so bekommen Sie 2150 oder 2160 Jahre, und das ist ungefähr das an Jahren, was da liegt zwischen zwei solchen aufeinanderfolgenden Kulturen. Man kann das an der Ge­schichte ablesen, wenn man nur wirklich die Geschichte studieren will. Wenn man sich fragt: Um wieviel waren diese germanischen Völkerschaften zurück? - so ist es die Länge einer Kulturepoche. Gerade so lange hat eine Kulturepoche gedauert, und so kann man an

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dem Reifegrad zurückgebliebener Völker das Zeitmaß ihres Zurück­gebliebenseins berechnen.

Jetzt können wir auch einen gewissen Anhaltspunkt dafür ge­winnen, warum die vierte Kulturepoche, die die eigentliche Ent­wickelung des Intellekts gebracht hat, etwa 747 vor Christus beginnt und, sagen wir, 1413 schließt. Da bekommen Sie 2160 Jahre. Das ist die Länge einer solchen Kulturepoche. Allerdings, wenn wir weiter zurückgehen, werden diese Zahlen etwas verschwimmen. Das ist aber natürlich, denn die geschichtliche Entwickelung ist natürlich nicht mit mathematisch exakten Zahlen zu charakterisieren. Es brachten diese Völkerschaften in ihrem Blute etwas der anderen, der süd-ländischen Bevölkerung entgegen, was im Grunde genommen früher war. Das war die andere Strömung.

Und jetzt wurde die weitgeschichtliche Ehe geschlossen zwischen dem, was da in lateinischer Sprache hinüberschwamm, und dem­jenigen, was in den Volkssprachen, in sehr zurückgebliebenen Volks-sprachen, an die Oberfläche sich hinaufarbeitete. Aus diesen zwei Elementen mußte das hervorgehen, was nun weiter sich entwickeln konnte. Das führte dann im 15.Jahrhundert zur Entwickelung der sogenannten Bewußtseinsseele, wie ich das schon öfters aus­gesprochen habe.

Die alte Kultur hätte ganz verschwinden müssen, wenn nicht dieses Neue sich hineinversetzt hätte, das seinerseits nun umfangen war von diesem Südlichen. Zurückgebliebenes und Weitvorgeschrittenes glichen sich miteinander aus, und an die Stelle der bloß intellektua­listischen Kultur trat die Bewußtseinskultur.

In dieser wurde der Verstand zum bloßen Schatten. Man lebte in ihm nicht einmal mehr als in einem Toten weiter, sondern er wurde zu einem Schattenprodukt, zu etwas, was nur in innerer Aktivität lebt. Und damit war gewissermaßen der Mensch befreit davon, innerlich vom Verstande besessen zu sein. Er konnte den Verstand anwenden in innerer Aktivität und konnte nun übergehen zur äußeren Natur-betrachtung, wie Galilei, Kopernikus, Kepler zur äußeren Natur-betrachtung übergegangen sind. Dazu mußte erst der Verstand frei werden. Sehen Sie sich alles das an, was nun heraufgekommen ist an

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europäischer Zivilisation seit dem Beginn des 15.Jahrhunderts, so werden Sie überall sehen, wie das zurückauführen ist auf das Ein­dringen dieses germanischen Elements in das alte lateinisch-roma-nische. Bis auf die einzelnen Persönlichkeiten hin können Sie das durchaus wahrnehmen.

Der Mensch war also gewissermaßen ins Leere hineingestiegen, in-dem er sich vom Süden her entwickelte. Aber bei den führenden Geistern bestand ein starkes Bewußtsein davon, daß man mit der Entwickelung des Intellekts in etwas Leeres hineingeht. Einem Neuen zusteuern wollten gewisse Persönlichkeiten nicht. Wenn ich jetzt etwas hypothetisch der Geschlchtsentwickelung unterlege, so kann man das, was man sich in der Zeit sagen konnte, die auf das

4. nachchristliche Jahrhundert folgte, etwa so ausdrücken. Man konnte sagen: Wir lassen entweder den Intellekt frei, wir lassen ihn sich entwickeln, dann geschieht das Folgende. Während früher aus dem Menschen heraufgestiegen ist, was ihn innerlich mit Geistig-Seelischem durchdrungen hat, ist er jetzt an einem höchsten Punkt angekommen, wo seine Entwickelung frei wurde, so daß er ins Leere sich hineinentwickeln kann. Was jetzt nicht mehr an seinem Leibe haftet, muß, weiterentwickelt, dazu führen, daß der Mensch in eine geistige Welt von außen eindringt. - Das war das eine, das man sich hätte sagen können. Oder aber man konnte sich auch sagen: Wir bewahren die alten Weistümer fort, wir konservieren sie. Dann kön­nen wir den Menschen sagen: Indem du dich heraufentwickelt hast bis ins 4. Jahrhundert mit deinem Intellekt, bist du jetzt am Ende. Da darfst du nicht weitergehen. Du bist ins Leere gekommen. Schau jetzt zurück, hinter dich, nicht vor dich; schreite nicht im Leeren weiter, so daß du etwa im Weiterschreiten eine neue Geistigkeit findest. - Mit diesem Instinkte durchdrungen, das Alte zu bewahren, den Intellekt zu halten, daß er sich nicht weiterentwickelt, war das achte allgemeine ökumenische Konzil von Konstantinopel 869 ein­berufen worden, das zum katholischen Dogma machte, was dann mit den Worten ausgedrückt ist: Der Mensch hat « unam animam ratio­nalem et intellectualem», er hat eine Seele, die denkend und geistig ist. Aber über diese Seele hinaus hat er nichts, nichts Geistiges weiter,

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denn würde man ihm etwas Geistiges zuschreiben, so würde die Bahn frei gewesen sein, sich zu einer neuen Geistigkeit zu ent­wickeln. - Daher wurde dem dreigliedrigen Menschen nach Leib, Seele und Geist der Geist abgesprochen und seiner Seele nur einzelne geistige Eigenschaften beigelegt. Er habe nicht Leib, Seele und Geist, sondern Leib und Seele, und die Seele habe denkende und geistige Eigenschaften, wäre rationell und intellektuell. Weiter darf es nicht gehen. - Das war nun Dogma geworden. Das war nichts anderes als die Konstatierung dessen, was eigentlich in der Sache gegeben war mit dem Bewahren des Alten, mit dem rationellen Verarbeiten des Alten, womit man zugleich verhindern wollte, daß man auf der Bahn der geistigen Entwickelung weiterschreite. Ausgelöscht sollte werden, was das Kind werden sollte der beiden ineinznderfließenden Strö­mungen.

Und das ist es, was dann weiter hinübergewirkt hat über das 15. Jahrhundert weg bis in unsere Zeit. Auf der einen Seite ist der Mensch instinktiv reif geworden, den Verstand, dessen er bereits ganz Herr war, allmählich in innerer Aktivität zu betätigen. Andrer­seits vermochte er nicht, diesen aktivierten, aber schattenhaften Ver­stand in seinem geistig leeren Inneren zu halten, wo er an nichts hätte aktiv werden können als an der eigenen Schattenhaftigkeit. Ob­wohl man meinen sollte, daß man nicht versuchen wurde, einen Schatten innerlich zu verarbeiten, wurde gerade das zum Gegen-stande aller Philosophie jener Zeit, die daher etwas nur Schattenhaftes hat. So kommt zuletzt der Kantianismus herauf, der nur noch Formen und Kategorien hat, und der wie die anderen Philosophien der Zeit nur in diesem Schattenhaften herumplätschert.

Es zeigte sich also, daß man mit einem schattenhaften Intellekt allein nichts anfangen konnte; man mußte ihn, und das ist nun die andere Seite, mit etwas anderem erfüllen, und das konnte nur die Außenwelt, das konnte nur die äußere Natur sein. Nicht etwa aus irgendwelchen Gründen, etwa weil der Mensch früher liindlich war und jetzt allmählich zu der Erkenntnis der Natur vordrang, geschah dieses, sondern weil der Mensch es zu seiner Entwickelung brauchte. Er brauchte eine Erfüllung. In den letzten vier bis fünf Jahrhunderten

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haben wir diese Erfüllung erlebt. Der schattenhafte Verstand hat sich der Natur bemächtigt. Das führte zu einem Höhepunkt. Gerade in der Mitte des 19. Jahrhunderts war der Verstand am allerschatten­haftesten geworden.

Während der Verstand an sich das Geistigste ist, hatte man ihn überhaupt nicht mehr berücksichtigt, denn er war zum Schatten ge­worden. Aber man hatte eine ausgebildete, ausgebreitete Natur­wissenschaft. Der Verstand hatte sich erfüllt mit dem, was die Natur von außen darbot, aber immer mehr und mehr schwand dahin die Möglichkeit, das Seelische zu sehen. Dieses Seelische, das konnte man immer weniger und weniger sehen, denn man hatte ja eigentlich, wenn man sich an die Außenwelt wandte, nur den schattenhaften Verstand. Daher wurde die Psychologie, die Seelenlehre des 19. Jahr­hunderts immer mehr, ich möchte sagen, nominalistisch, reine Wort­plänkelei. Es ist geradezu trostlos, in den Psychologien des 19. Jahr­hunderts zu lesen, wie da die Leute immer wieder von Fühlen, Wollen, Denken reden und eigentlich nur die Worte haben, bis endlich Fritz Mauthner kommt und die große Entdeckung macht, daß alles Wissen in Worten bestehe und die Leute sich nur immer getäuscht haben, die hinter den Worten etwas gesucht hatten.

Es ist das charakteristisch für das 19. Jahrhundert, nicht für die Menschheit, aber für das 19.Jahrhundert. Da ist die Entdeckung Mauthners im Grunde genommen gar nicht so schlecht. Das 19. Jahr­hundert webte, insbesondere wenn es von dem Seelischen sprach, nur in Worten, bis den Leuten endlich dieses Weben in Worten, dieses fortwährende Herumjonglieren mit Denken, Fühlen und Wollen, Apperzeption und Perzeption und allem möglichen, das, was dann in der englischen Psychologie heraufgekommen ist seit Hume, ins­besondere im 19. Jahrhundert seit John Stuart Mi/4 dieses Jonglieren mit bloßen Worten, bis das den Leuten zu dumm geworden ist. Und sie haben gesagt: Nun haben wir in der Naturwissenschaft durch Experimentieren so etwas Schönes herausgekriegt, also experimen­tieren wir auch mit der Seele. - Apparate hatte man entwickelt, die Signale abgeben konnten, wenn der Mensch eine Wahrnehmung machte. Man konnte dann wissen, wann diese Wahrnehmung bewußt

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wird, wenn der Mensch seine Hand bewegt, infolge dieser Wahr­nehmung; man konnte hübsch experimentieren. Bis in unsere Zeit herein hat sich das so gemacht, daß man die Fähigkeit der Kinder beurteilen will nicht durch ein Sich-Hineinversetzen in das kindliche Gemüt, durch eine gewisse Hingabe an dieses kindliche Gemüt, son­dern man will mit Apparaten prüfen das Gedächtnis, das Denken, alles mögliche, wie es einem erzählt wird zum Beispiel von russischen Schulen, wo es nicht mehr auf Prüfungen ankommt im alten Stil, sondern wo von außen mit Hilfe einer Apparatur die Fähigkeiten festgestellt werden. Allerdings, diese bolschewistische Anschauung ist auch schon in unsere Gegenden eingedrungen. Gewisse Gegner der Anthroposophie möchten auch auf eine solche äußerliche Weise feststellen, ob diese Anthroposophie auf einer Wahrheit beruht, aber das entspricht nur einem bolschewistischen Vorurteil. Das alles ist schließlich herausgeboren aus demjenigen, was die Menschen allmäh­lich durch das Unberücksichtigtiassen des Geistes dazu gebracht hat, den schattenhaften Verstand auf die Natur anzuwenden, und dadurch zwar eine großartige Naturwissenschaft hervorzubringen, auf der anderen Seite aber das Seelische unberücksichtigt zu lassen. Nun macht sich aber dieses Seelische doch wiederum geltend, aus den Tiefen des Menschenwesens heraus, und will erforscht sein. Dazu ist notwendig, daß der Weg wiederum zurück gemacht werde, daß wir gewissermaßen uns seiner erinnern.

Wenn die neuere Wissenschaft auch glaubt, unabhängig zu sein, sie steht doch noch unter dem Einflusse des kirchlichen Diktates, daß der Mensch nur aus Leib und Seele bestehe und keinen Geist habe. Wir müssen wiederum zum Geiste kommen. Und im Grunde genommen ist Geisteswissenschaft ja nur dieses Streben, wiederum zum Geiste zu kommen und so wiederum das Seelische des Menschen zu er­forschen, das heißt, den Menschen selber zu erforschen. Man wird da durchgehen durch ein Element, das allerdings vielen unangenehm ist, durch die Organisation des Menschen; aber gerade dadurch wird man das wahrhaft Geistige im Menschen finden. Das heißt aber, es muß der Geist wiederum eingeführt werden in die Anschauung der Menschheit. Dazu gibt es aber heute ein beträchtliches Hindernis, ein

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furchtbares Hindernis. Man möchte sagen, man scheut sich fast, von diesem Hindernis zu sprechen, weil man dadurch auf sehr dünnes Eis tritt, aber es muß eben durchaus die ganze Signatur der Zeit einmal untersucht werden. Die Menschen müssen aufmerksam werden auf das, was eigentlich als Impuls in unserer Zeit steckt. Sehen Sie, da muß man eben das Folgende ins Auge fassen.

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, da der Mensch im schatten-haften Verstande lebt und eigentlich auch sein ganzes Seelendasein als ein Schattenhaftes erlebt, seit dieser Zeit war der Mensch ganz an­gewiesen auf die äußere Natur. Und so kam er allmählich dazu, die äußeren Erscheinungen der Natur experimentell nicht nur so zu untersuchen, wie sie Goethe, der noch zugleich von antikem Geiste durchseelt war, untersuchte, sondern hinter den Phänomenen etwas zu suchen, was im Grunde genommen auch nur eine Art Phänomen ist, was aber da nicht hineinversetzt werden darf. Der Mensch kam zum Atomismus. Der Mensch kam dazu, hinter der Sinnesweit noch eine andere, unsichtbare Sinneswelt, kleinere Wesen, dämonische Wesen, die Atome zu denken. Statt zu einer geistigen Welt über­zugehen, ging er zu einem Duplikat der sinnlichen Welt, wiederum zu einer sinnlichen, aber fiktiven Welt über, und dadurch erstarrte sein Erkenntnisvermögen für die äußere Sinneswelt. Und dieses brachte im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr etwas hervor, was schon immer gespukt hat, was aber eben aus diesem völligen Er­starren des Erkenntnisvermögens für die äußere Sinneswelt im 19.Jahrhundert erst mit vollem Radikalismus hervortrat, und das war die Ausspintisierung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, von der Erhaltung der Kraft. Man sagte: Im Weltenall entstehen nicht neue Kräfte, sondern die alten wandeln sich bloß um; die Summe der Kräfte bleibt konstant. Wenn wir irgendeinen Augenblick ins Auge fassen, gewissermaßen herausschneiden aus dem Welt­geschehen, dann war bis zu diesem Augenblick eine gewisse Summe von Energien da; im nächsten Augenblick haben sich diese Energien etwas anders gruppiert, sie sind anders durcheinandergefahren, aber die Energien sind dieselben; sie haben sich nur gewandelt. Die Summe der Energien des Kosmos bleibt dieselbe. - Man konnte zwei

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Dinge nicht mehr unterscheiden. Man hat ein völliges Recht gehabt, zu sprechen davon, daß Maß, Zahl und Gewicht in den Energien dieselben bleiben. Aber das verwechselt man mit den Energien selber.

Nun, wenn diese Energierilehre, dieses Gesetz von der Konstanz der Energie, das heute die ganze Naturwissenschaft beherrscht, richtig wäre, dann gäbe es keine Freiheit, dann wäre jede Idee von Freiheit eine bloße Illusion. Daher wurde auch für die Anhänger des Gesetzes von der Konstanz der Energie die Freiheit immer mehr eine Illusion. Stellen Sie sich nur einmal vor, wie solche Leute, wie zum Beispiel Wundt, die Freiheit, die man denn doch fühlt, erklären. Wenn ich, sagen wir, der Esel des berühmten Buridan bin zwischen zwei Bün­deln Heu, links und rechts, die gleich groß und gleich schmackhaft sind, so müßte ich, wenn ich frei wäre, also wenn ich nicht nach der einen oder anderen Seite gedrängt würde, verhungern, da ich mich nicht entschließen könnte. Wenn ich nicht bloß zwischen zwei solchen Dingen zu entscheiden habe, sondern zwischen vielen, so werde ich, meinen solche Psychologen, dennoch getrieben, aber weil so viele Begriffe da sind, die ineinanderschießen, was da im Inneren mich besessen macht und was da durcheinanderarbeitet, so entscheide ich mich zuletzt und bekomme, weil ich nicht überschauen kann, was mich eigentlich dazu nötigt, das Gefühl der Freiheit. Ja, es ist nicht lächerlich, es ist wirklich aus dem Grunde nicht lächerlich, weil das, was ich Ihnen jetzt gesagt habe - ich habe gar nicht erwartet, daß man zu lachen beginnt -, in zahlreichen sehr gelehrten Werken steht als eine große Errungenschaft des modernen Denkens, das aus der Natur-wissenschaft heraus geboren ist; also es ist eigentlich der Wissenschaft gegenüber unanständig, über so etwas zu lachen. Nun, sehen Sie, die Freiheit wäre eben unmöglich, wenn das Gesetz von der Erhaltung der Kraft wahr wäre. Denn dann wäre ich in irgendeinem Augenblick durch alles Vorhergehende bestimmt, die Energien wandelten sich bloß um, die Freiheit müßte eine bloße Illusion sein. Das ist nämlich eingetreten aus der Entwickelung der Menschheit heraus im 19. Jahr­hundert, durch die Aufstellung des Gesetzes von der Konstanz der Energie, daß wir eine Naturanschauung haben, die die Freiheit als eine Idee ausschließt, unmöglich macht, die den Menschen unbedingt

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zu einem Produkt der notwendigen Naturordnung macht. Die Dinge waren schon vorbereitet, ich möchte sagen, man hat schon Seit Jahr-hunderten so empfunden. Wie soll es denn da werden mit den Dingen, wie sittliche Verantwortlichkeit, Ethik, religiöse Überzeugung, die ja doch eigentlich gar nicht da sein können, wenn es eine bloße Natur-ordnung gibt? Die Materialisten des 19. Jahrhunderts, sie waren in einer gewissen Weise ehrlich, sie haben daher abgeleugnet diese ethischen Illusionen der alten Zeit und haben den Menschen wirklich nur für ein Produkt der natürlichen Nötigung erklärt. Aber das konn­ten andere nicht mitmachen, teilweise deswegen nicht, weil sie nicht die Courage hatten, wie David Friedrkh Strauß oder Vogt> oder teil­weise auch deshalb nicht, weil sie Pfründen hatten, innerhalb welcher sie verpifichtet waren, von Freiheit, Ethik, Religion zu reden. Da kann man nicht eingehen auf solche Dinge. Die Sache war schon seit langer Zeit mißlich geworden, und daher kam es so, daß man sich sagte: Ja, mit Wissenschaft, mit der ist nur etwas gegenüber der Not­wendigkeit zu machen. Diese Wissenschaft beweist, daß die Welt aus einem Urnebel herausgekommen ist und immerfort jeder folgende Zustand notwendig sich aus dem früheren entwickelt hat, daß dabei die Kräftesumme konstant geblieben ist und so weiter, mit dieser Wissenschaft, da ist nichts anzufangen gegenüber Ethik, Religion und so fort. Also los von dieser Wissenschaft! Nichts mit Wissenschaft, nur Glaube! Man muß eine doppelte Buchführung haben, auf der einen Seite für die Außenwelt, für die natürliche Welt: die Wissen­schaft; auf der anderen Seite den Glauben, der nun die Ethik fest­stellt, sogar den Gott beweist. Also retten wir uns auf ein ganz anderes Gebiet als das der Wissenschaft.

Die Nachwirkung dieses eigentümlichen Zustandes sehen Sie ja überall seit dem Auftreten der neueren Geisteswissenschaft. Es heißen diejenigen, die diesen Glauben retten wollen, Laun, Niebergall und Gogarten, und ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Leuten her­zählen, Bruhn, Leese, die da meinen, das Gebiet des Glaubens muß gerettet werden; wenn die Wissenschaft da einbricht, dann wird die Sache schlimm. Also Wissenschaft, man läßt ihr alles gelten, alles mag ihr hingehen, nur das, was wir wollen, das nennen wir dafür

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anders: Glaube. - Nun, wie gesagt, es war das Gesetz der Erhaltung der Kraft, das aber nur ein dogmatisches, jetzt ein naturwissenschaft­lich-dogmatisches Vorurteil ist. Denn zum Schluß, was bedeutet es denn eigentlich? Sehen Sie, es kann jemand das Experiment machen, kann sagen: Ja, ich stelle mich vor ein Bankgebäude hin und be­obachte, wieviel Geld da hineingetragen wird, und bilde mir daraus eine Statistik. Und dann beobachte ich, wieviel Geld herausgetragen wird, und mache mir auch darüber eine Statistik, und ich sehe doch, dieselbe Menge Geld wird herausgetragen, die hineingetragen wurde. Jetzt soll ich noch zu der Vorstellung mich aufschwingen, daß da drinnen Menschen arbeiten! Was herauskommt, ist ja nur das um-gewandelte Geld. Es ist ja rein das Gesetz der Konstanz der Geld-größe. - Man hat sehr schöne Experimente gemacht, die ja, wie es scheint, auf Studenten ausgedehnt wurden. Man hat berechnet die Wärmeenergien der Nahrung und hat berechnet, was diese Leute getan haben, und hat richtig sich errechnet, was hineingegessen und hinausgearbeitet wurde: Gesetz der Erhaltung der Kraft! - Auf nichts anderem beruht dieses Gesetz der Erhaltung der Kraft als auf einer ganzen Summe von solchen Vorurteilen. Und wenn man sich über dieses Gesetz der Erhaltung der Kraft nicht erheben wird, so wird man mit diesem Gesetz der Erhaltung der Kraft das Geistige weiter auslöschen. Denn dieses Gesetz der Erhaltung der Kraft ist die Ein­nistung des Intellekts in der äußeren Natur und das Absehen vom Seelischen.

Vom Seelischen dringen wir nur weiter, wenn wir wiederum in das Geistige eindringen, und in dieses Geistige eindringen, heißt eben nichts anderes, als nun wirklich verstehen, was da eigentlich im Be­ginne der christlichen Zeitrechnung in die Weltenentwickelung ein­getreten ist als ein völlig neuer Impuls, der Christus-Impuls. Ich habe es schon erwähnt, er wurde so verstanden, wie er eben von der einen oder anderen Geistesströmung verstanden werden konnte. Aber wir sind heute in die Notwendigkeit versetzt, ihn neu zu verstehen. Er wurde eine Zeitlang so verstanden, daß man zunächst nicht zugeben wollte, daß der ins Leere gehende Intellekt wiederum zu einem neuen Geistigen komme. Ich sagte Ihnen schon, der Neuplatonismus nahm

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den Christus ins menschliche Innere herein. Das ist schließlich bis jetzt Usus geblieben. Wir müssen, indem wir nach außen dringen, den Christus auch mit der Außenwelt verbunden denken, das heißt, wir müssen ihn hineinbringen in die Evolution der Außenwelt. Das ist aber gerade das, was an Anthroposophie besonders bekämpft wird, daß man von dem Christus nicht nur in leeren Phrasen herumredet, sondern daß man ihn wiederum im Zusammenhange mit der ganzen Weltentwickelung sieht. Und wenn davon gesprochen wird, daß es wirklich ein kosmisches Ereignis ist, daß da wirklich ein kosmisches Wesen erschienen ist in einem Menschenleibe, in dem Christus, daß so, wie schließlich das Sonnenlicht auf dem irdischen Gebiet jeden Tag sich mit der Erde vereinigt, als etwas Kosmisches die Erde durch­dringt, daß so auch auf dem geistigen Gebiete solche Dinge sich voll­ziehen, so verstehen das insbesondere die Gelehrten der heutigen Zeit noch nicht. Aber das ist notwendig, daß dasjenige, was zunächst auf dem Gebiete der Naturwissenschaft gewonnen worden ist mit dem Intellekt, der zum Schatten geworden ist, aber gerade dadurch als eine freie menschliche Fähigkeit anwendbar geworden ist auf die Außen­welt, daß dieser Intellekt auch anwendbar werde auf die Innenwelt. Daher das Aufsteigen zur Imagination, zur Inspiration, daher das Aufsteigen zu einer wirklichen geistigen Erkenntnis kommen muß.

Aus der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit ergibt sich die Notwendigkeit der Naturwissenschaft, und aus dem Vorhanden-sein der Naturwissenschaft ergibt sich die Notwendigkeit des Auf­steigens in die Geisteswissenschaft. Es ist keine Schrulle, sich zur Geisteswissenschaft im anthroposophischen Sinne hinzu wenden, son­dern das ist selber eine historische Entwickelungstatsache. Nur muß man, wie gesagt, auf dünnes Eis treten, um darauf aufmerksam zu machen, wo die Hindernisse sind. Die Hindernisse sind auf der einen Seite in so etwas wie in dem Gesetz der Erhaltung der Kraft. Zwei Gesetze waren es, welche im 19. Jahrhundert in zweifacher Weise den menschlichen Intellekt beschränken wollten auf bloß dasjenige, was im Irdisch-Sinnlichen lebt, was im Materiellen lebt. Das eine Gesetz ist gegeben von einem naturwissenschaftlichen Konzil als das Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Wenn dieses Gesetz richtig ist, dann

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kann die menschliche Erkenntnis nicht zur Anerkenntnis des Geisti­gen und der Freiheit weiter vorrücken, sondern dann muß bei einer bloßen automatischen Notwendigkeit stehengeblieben werden, dann muß bei einem bloß Seelischen, das allmählich zum Schattenhaften wird, stehengeblieben werden. Dann kann man aber auch nicht hinaus über das, was bereits das achte ökumenische Konzil von Konstanti­nopel 869 festgesetzt hat.

Das sind die beiden Konzilien: Eines, das von naturwissenschaft­licher Seite ausgegangen ist. Das andere Konail steht wie im polari­schen Gegensatz dazu. Es ist dasjenige, das 1870 die Infallibilität des päpstlichen Stuhles, wenn er ex cathedra spricht, erklärt hat. Da wird, um zur Erkenntnis zu kommen, nicht mehr appelliert an ein Geistiges, da wird appelliert an den römischen Papst, da ist der Papst derjenige, der ex cathedra entscheidet über das, was als katholisches Lehrgut wahr oder falsch sein soll. Da ist heruntergeholt aus geistigen Höhen auf die Erde, ins Materielle, die Entscheidung über Wahrheit und Irrtum. So wie ins Materielle unsere Erkenntnis untergetaucht ist durch das Gesetz von der Konstanz der Kraft, so ist ins Materielle untergetaucht die lebendige Entwickelung des Menschen im Geistigen durch das Infallibilitätsdogma. Beide gehören zusammen, beide ver­halten sich wie Nord- und Südpol.

Was wir brauchen in der Menschheitsentwickelung, ist aber eine freie Geistigkeit. Der Herrscher muß das Geistige selber sein, und der Mensch muß seinen Weg in den Geist hinein finden. Daher brauchen wir den Aufstieg in das Geistige. Wir brauchen diesen Aufstieg, um uns zu erheben auf der einen Seite von jener Niederlage, die der Geist erlitten hat dadurch, daß das Gesetz von der Erhaltung der Kraft auf­gestellt wurde, und jener anderen Niederlage, die er erlitten hat da­durch, daß alles Religiöse vermaterialisiert wurde, indem nach der Erde heruntergeholt worden ist von Rom die Entscheidung über Wahr und Falsch. Daß ein Durchbruch auf der Bahn des Geistes selbstverständlich heute nicht leicht ist, das ist begreiflich, denn die Welt ist durch und durch voller Oberflächlichkeit und bildet sich auf ihre Oberflächlichkeit furchtbar viel ein. Sie läßt durch Autoritäten entscheiden, die Autoritäten aber entscheiden manchmal ganz sonderbar.

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Da las ich neulich einen Artikel, den ein hler lehrender, in einer benachbarten Stadt wohnender Professor geschrieben hat, weil ihn ein Blatt aus der hiesigen Gegend ersucht hat, ein autoritatives Urteil abzugeben über diese Anthroposophie. Dieser Professor schrieb aller­lei in diesem Artikel. Dann stößt man mittendrin auf einen merk­würdigen Satz. Da steht drinnen, daß ich behaupte, indem ich die geistige Welt schildere, daß man sehen könnte in dieser geistigen Welt, wie sich geistige Wesenheiten frei so bewegten wie Tische und Stühle in dem physischen Raum. Nun, das ist Traubsche Logik! Tische und Stühle im physischen Raum sich bewegen sehen - ich möchte den Geisteszustand des Autors in dem Augenblick, wo er einen solchen Satz geschrieben hat, nicht weiter untersuchen! Aber an Menschen solchen geistigen Kalibers wenden sich heute die Journale, wenn autoritativ entschieden werden soll über Geisteswissenschaft.

Merkwürdig sind ja die Menschen manchmal. Zum Beispiel heißt da einer Laun. Weil ich doch morgen einen Vortrag zu halten habe, habe ich nun auch gestern dieses Büchlein von Laun gelesen. Ich habe mich immer gefragt: Ja, warum redet der Laun gar solchen Unsinn? Ich fand mich eigentlich aus dem Grunde nicht zurecht, weil ich gar keinen Menschen sprechen hörte; es war so etwas ganz Hohles. Allerdings, einmal stieß ich da auf einen ganz merkwürdigen Satz, der ungefähr lautet - ich habe das Schriftchen nicht da -: es sei allerdings richtig, daß ein katholischer Christ, wenn er über Anthroposophie urteilen sollte, sich eigentlich ausnehme wie ein Mensch, der von der Anthroposophie nichts wissen könne. - Das steht wörtlich drinnen. Man kann es sogar dem Domkapitular Laun wirklich glauben, denn dann sagt er ganz richtig: Ja, es wäre ja selbstverständlich, daß ein katholischer Christ nichts wissen kann, denn es ist ja seit dem 18. Juli1919 den Christen verboten, die Bücher zu lesen. Es ist ihnen nicht verboten, Gegenschriften zu schreiben, aber es ist ihnen verboten, die Bücher zu lesen! - Man darf ja gar nichts wissen. Es gibt eben wirklich sonderbare Leute.

Und das ist eben der andere Pol, dieses Angekommensein bei einem völlig passiven Sich-Hingeben, nun nicht an ein Geistiges, sondern an etwas sehr Weltliches, an etwas durchaus in der materiellen Welt

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Existierendes. Und so könnte man ja sehr vieles aufzählen. Wenn man ein wenig kulturhistorisch die Moralität unserer Zeit schildern wollte, so findet man gar manche niedliche Dokumentchen. Aber ich will Ihnen nur noch ein Beispiel sagen. Hier wird eine gefährliche Irr-lehre - Sie können sich denken, welche das ist - in einem Feuilleton aus Göttingen abgehandelt. Aber man rechnet offenbar darauf, daß die Leser, die das lesen, gar nichts gelesen haben, eigentlich auch gar nichts Richtiges gehött haben von demjenigen, worüber da geurteilt wird. Daher macht man eine Anmerkung von vierzehn Zeilen, und in diesen vierzehn Zeilen ist abgehandelt: Anthroposophie und Drei-gliederung. Mit der Abhandlung über Anthroposophie will ich Sie verschonen, ich will Ihnen nur den letzten Satz vorlesen, was über die Dreigliederung gesagt wird: «Die Bewegung erstrebt eine möglichst hohe Entwickelung des Menschentums. Sie hat auch ihre Anschau­ungen in bezug auf den Staat festgelegt. Sie wünscht eine Zerlegung in Wirtschafts-, Finanz- und Kulturstaat!» Da haben Sie die Drei-gliederung: in Wirtschafts-, Finanz- und Kulturstaat! Also Sie sehen, so sucht man diejenigen zu unterrichten, zu denen man in solchen Kritiken dann redet, und man kann sie in solcher Weise unterrichten. Man schreibt solche Artikel, indem man Anmerkungen dazu macht, in denen man sich so gut unterrichtet zeigt! Also es ist schon schwierig, dasjenige, was auf der einen Seite aus der weltgeschlchtlichen Ent­wickelung sich ergibt als ein sachgemäßer Impuls, was auf der anderen Seite sich ergibt aus der naturwissenschaftlichen Denkweise selber, die nur, möchte man sagen, in ihr Gegenteil sich verkehrt hat mit dem Einmünden in das Gesetz von der Konstanz der Energie oder Kraft, es ist schon notwendig, sich wirklich durchzuringen zu einer Er­kenntnis der geistigen Welt. Vieles wird aufstehen gegen diese Arbeit, die in dem erkennenden Ergreifen der geistigen Welt besteht. Aber diese Arbeit muß erfolgen, und selbst, wenn die Gegner für eine Zeit die Macht hätten, sie zu zertreten, sie muß wieder erstehen, denn sollen wir aus der Geschichte lernen, so müssen wir aus dieser Ge­schichte nicht nur reden lernen, sondern wir müssen lernen, aus dieser Geschichte unseren Willen befeuern, unsere Herzen erwärmen! Wenn wir so die Geschichte auf uns wirken lassen, dann wird sie uns das

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zeigen, was unsere Taten erfüllen muß, was eindringen muß in das Geistige, in das Rechtlich-Staatliche, in das Wirtschaftliche als Geistigkeit.

Das ist es, was ich zum Schlusse noch sagen wollte. Ich wollte Ihnen zunächst eine objektive Darstellung geben, wie Naturwissen­schaft herauswächst aus dem Entwickelungsgang der Menschheit, um gerade dadurch jetzt am Schlusse dieses vielleicht nur als ein An­hängsel zu geben, die Erkenntnis, daß es eine Lehre der wirklichen Geschichte, nicht einer agnostischen Geschichte, die wir im 19. Jahr­hundert durchlebt haben, sondern daß es eine Lehre der wirklichen Geschichte ist: Wir Menschen, wir müssen zur Geist-Erkenntnis durch!

HINWEISE

#G325-1969-SE164 Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum

#TI

HINWEISE

#TX

Die Vorträge von Dornach, 15. und 16. Mai 1921, und von Stuttgsrt, 21.-24. Mai 1921, waren abgedruckt in der Monatsschrift «Blätter für Anthroposophie», 15. Jabrgang 1963, Heft 3-12, und 16. Jahrgang 1964, Heft 1 und 2. Vorher in der Zeitschrift «Die Drei», 3. Jahrgang 1923/24, Heft 5 und 7; 6. Jahrgang 1926/27, Heft 12; 7. Jahrgang 1927/28, Heft 1.

Hinweise auf Bande der Gesamtausgabe, bei denen kein Erscheinungsjahr angegeben ist, betreffen vorgesehene Bände.

Der Text ist mit den Nachsehriften neu verglichen worden. Daher rühet die Verschieden-heit gegenüber den bisherigen Veröffentlichungen.

9 Während der letzen Vortragskurse am Goetheanum: Rudolf Steiner spricht vom zwei­ten anthroposophischen Hochschulkurs am Goetheanum, «Anthroposophie und Fachwissenschaften», herausgegeben in «Ansprachen und Vorträge Rudolf Steiners im Zweiten anthroposophischen Hochschulkurs», Dornach 1948. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 76.

Leopold von Ranke, 1795-1886. Studien: Theologie, Philologie. Ab 1825 Geschichts­professor in Berlin. Strenge Quellenkritik. Geschichtsauffassung im theoretischen Gegensatz zu derjenigen Hegels.

12 Claude-Henri de Rouvroy, Graf von Saint-Simon, 1760-1825. Sozialkritiker; erkennt die Bedeutung des Industrialismus und der Arbeiterfrage. Will Adel, Kirche, Mili­tär, Juristen für Neuorganisation der Gesellschaft ausschalten. Kapital und Arbeit sollen die einheitliche Leitung der Wirtschaft erhalten. (Klassenlose Gesellschafts-ordnung, gegründet auf moralisch-religiöse Erneuerung.) Saint-Simonismus: Fort-setzung der Lehre durch seine Schüler; ihr sozialistischer Grundzug tritt ent­scheidend in den Vordergrund.

18 Joseph-Marie de Maistre, 1754-1821, Staatsphilosoph und Vorkämpfer des kirch­lichen Absolutismus. «Vom Papste», 2 Bde München 1923;

er kritisiert scharf den Philosophen Locke: Vgl. dazu das sechste Gespräch in o. a. Werk «Ahendstunden zu St. Petersburg».

John Locke, 1632-1704, Hauptvertreter des englischen Empirismus.

19 Auguste Comte, 1798-1857, französischer Philosoph, Begründer des Positivismus und der Soziologie.

21 Lambert Quételet, 1796-1874, belgischer Astronom und Statistiker, Begründer der wissenschaftlichen Statistik.

Herbert Spencer, 1820-1903. Positivistiseher Philosoph. Philosophie, Erfahungs­wissenschaft (Auguste Comte, J. St. Mill). Entwicklungsbiologisches, mechanistisches

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Weltsystem, angew"ndt auf soziale Probleme; Ideal ist: industriell-pazliisti­seher Freiheitastaat; Gesellschaft ist sozialer Organismus.

22 Karl Heinrich Marx, 1818-1883, Begrün der des wissenschaftlichen Sozialismus. Henry Thomas Buckle, 1821-1862, englischer Kulturhistoriker.

23 Johann Gottlieb Fichte, 1762-1814, Philosoph. Siehe Rudolf Steiner «Die Rätsel der Philosophie», das Kapitel «Das Zeitalter Kants und Goethes». Bibl.-Nr. 18, Ge­samtausgabe 1969.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775-1854, Natur- und Religionsphilosoph. Georg Wilhelm Friedrich Hege4 1770-1831, idealistischer Philosoph.

24 Benjamin Kidd: Seine « Social Evolution», 1894, versucht, Biologie auf Soziologie anzuwenden und erklärt Vernunft (reason) als das egoistische Element, und Reli­gion, die ihrem Wesen nach irrational ist, als das selbstlose und progressive Element in der menschlichen Gesellschaft. Zitiert nach G. P. Gooch, «Annals of Polities and Culture. (1492-1899)», Cambridge University Press, 1901.

Thomas Honry Huxley, 1825-1895, britischer Zoologe und Philosoph.

John Russell, 1792-1878, englischer Staatsmann.

Alfred Wallace, 1823-1913, britischer Naturforscher. 29 Galileo Galilei, 1564-1642, italienischer Physiker.

Nikolaus Kopernikus, 1473-1543, Astronom, Domherr. Nikolaus von Kues, 1401-1464, Philosoph, Kardinal.

30 Flavius Valerius Konstantinus der Große, geb. in Naissus (heute Nisch, Serbien) um

288, gest. 337 nach Chr. bei Njcomedia (Ismid), Bithynien, römischer Kaiser.

Julian Apostata, von 361-363 römischer Kaiser.

32 Aurelius Augustinus, 354-430, Kirchenvater. Durch A'nbrosius z,,nn Christentum bekehrt: Ostern 387. Lehrt Unfähigkeit des Menschen zum Guten (Erbsünde) und Prädestination. Werke: «Bekenntnisse» und «De Civitate Dci» (Geschichte als Kampf zwischen Gottesstaat und Weltataat aufgefaßt).

33 Masi (Manes), nach orientalischen Quellen geb. 215/216 in Mardinu (Babylonien), unter Baram 1. usn 273 in Gondishapur (?) gekreuzigt. Nach griechischen Quel­len 4. Jahrhundert in <,Aeta Archeläi» (unglaubwürdig). Neuerdings rnanichäische Handschriften der Sammlung von A. Chester Beatty, Stuttgart 1934. Er verband die altpersische Liebtreligion mit dem Christentum.

35 Wulflla, Uliilas, 310-383, gotischer Bischof.

48 Arius, gest. 336. Seine Lehre wurde auf dem Konzil von Nicäa 325 verworfen.

50 Aristoteles, 384-322 v.Chr.

Hieronymus, um 347-420, Kirchenvater. Schrieb und bearbeitete die lateinische Bihelübersetzüng, die Vulgata.

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Augustinus «Briefwechsel mit Hieronymus», ed. J. Schmid in: Florilegium Batristicum, cd. Geyer-Zeliinger 22, 1930.

51 Donatiston, christliche schismatische Sekte, benannt nach Donatus d. Gr., Bischof zu Karthago (313 nach Chr.). Die Bewegung verschmofr mit einer sozial-revolu­tiorären Erhebung der Punier in den nordafrikanischen Provizen, bis 345. In den Jahren 414 und 415 wurden die Donatisten zu Ketzern erklärt, hielten sich aber in Mrika bis zum 7. Jahrhundert.

Pelagianer: Von der abendländischen Kirche im 4. Jahrhundert als ketzerisch ver­urteilte theologische Richtung, benannt nach dem britischen Mönch Pelagius, der um 400 in Rom lebte und die Lehre des Pelagianismus zusammenfaßte: Jeder könne aus eigener Kraft selig werden. Leugnung der Erbsünde.

52 Athanasius, 295-373, Heiliger, Kirchenvater, Bischof von Alexandrien.

53 Bos'fatius (Winfried), Angelsachse, geb. um 673 in Wessex, gest. 754 in Friesland. Missionar der Friesen, Thüringer, Hessen. Bischof.

55 Karl der Große, 742-814, regierte seit 768 als Frankenkönig, erneuerte 800 das römische Kaisertum.

Heliand (Bezeichnung durch Schmeller 1830), altsächsisches Gedicht des Lebens Christi, 9. Jahrhundert.

56 Dante Alighieri, 1265-1321. Sein Lehrer: B'unetto Latini, geb. zwischen 1210 und

1230, gest. 1294.

57 vom Hande4 zeitweise auch die Donau entlang nach km Oriente: Siehe v. Schweiger­Lerchenfeld, «Die Donau als Völkerweg, Schldthrtsstraßc und Reiseroute», 1896,

und: Hajnal, «The Danuhe, its Historical, Political and Beononde Importance»,

1920.

58 Jakob Böhme, 1575-1624, Mystiker.

Paracelsus, Theophrastus von Hohenheim, 1493-1541, Arzt und Naturforscher. Begründer der neueren Heilmittellehre.

Justiaian L, oströmischer Kaiser von 527-565, schloß 529 die Philosophenschule in Athen.

Origenes, 185-254, einer der größten christlichen Theologen.

Gondishapur, Stadt und Akademie im Persien der Sassaniden, war Zufluchtsort griechischer Philosophen nach ihrer Vertreibung aus dem Westen, 529. Vorher unter Shapur 1., 242-273, Asyl des Mani, unter Bahram L, 274-277, der Ort seines Todes und endlich Zentrum der Ausrottung der Manichäer und ihrer Lehre von 303 bis in die Zeit der Araberherrtehaft in Persien, also nach 640.

59 Arahismus: Ausbreitung des Islam und arabischer Kultur in Asien, Nordafrika, Spanien zwischen 630 und 711 n.chr. Damit kommt aristotelische Philosophie nach Europa.

60 im Hussitismus, im Wycliffismus: Vorreforn'atorische Bewegungen, ausgehend von John Wycliff, 1328-1384, begann 1378 in England. Dort unterdrückt, aber durch Johannes Hus, 1369-1415, in Böhmen übernommen.

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60 böhmische (mäbrische) Brüderschaft: Christliche Sekte. Im Zusammenhang mit der Gründung im 15. Jahrhundert wird der Hussit Peter Chelezitky genannt. Die Brü-derschaft erstrebte eine Erneuerung der Lebensführung nach dem Vorbild der AposteL

61 A'ertus Magsus, Graf von Bollstädt, 1193-1280, Philosoph, Theologe, Natur­forscher. Dominikaner; Lehrer des Thomas von Aquino. Kommentiert die Schrif­ten des Aristoteles.

Thomas von Aquino, 1225-1274.

63 «Wem die Natur...»: Goethe, «Sprüche in Prosa», Abteilung «Kunst».

«Das Schone...»: Goethe, «Sprüche in Prosa», Abteilung «Kunst».

da schrieb er die Worte nieder: « Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höch­sten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervor­gebracht worden: alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist die Not­wendigkeit, da ist Gott.» Italienische Reise (2) Rom, 6. September 1787. Dtsch. Nat. Lit. Bd. 102, S.91.

64 Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896. Das berühmte Zitat lautet: «Ignoramus et ignorabimus». Darüber zwei Reden: «Über die Grenzen des Naturerkennens», 1872, und «Die sieben Welträtsel», 1880.

Ranke drückt sieh einmal so aus: Vgl. hierzu Herman Grimm «Fragmente» zweiter und letzter Teil, Berlin 1902, S. 174f.: «Von Ranke soll ein ihn verehrender hoch­gestellter Mann gefordert haben, es müsse Christus als Urheber aller menschlichen Schicksale in die eingeführt werden. Dies Verlangen, berichtet man, habe bei dem Gelehrten heftige innere Kämpfe hervorgerufen, sei endlich aber damit abgelehnt worden, es müsse bei der gegebenen Erklärung sein Bewen­den haben, Christus stehe uns in der Weltgeschichte in doppelter Gestalt gegenüber:

als Begründer des Christentums und als übermenschlich Alles vermögender Sohn Gottes, wie die Kirche lehrt. Ich halte diese Doppelgestalt Christi für eine historisch nicht durchführbare. Wir haben Christus nicht zu erklären, sondern ihn und die Wirkung seiner Lehre als Tatsache hinzunehmen.»

65 Richard Wagner, 1813-1883.

Friedrich Nietzsche, 1844-1900. Siehe Rudolf Steiner, «Friedrich Nietasche, Ein Kämpfer gegen seine Zeit», 1895, Bibl.-Nr. 5, Gesämtausgabe Dornach 1963.

72 mode"ne Geschichte der Philosophie, die in einer großen Sammlung erschan" ist: «Algemeine Geschichte der Philosophie» der Sammlung: Die Kultur der Gegenwart, 2. verm. und verb. Auff. Leipzig-Berlin 1913, herausgegeben von Paul Hinneberg. Die Ein­leitung über «Die Anfange der Philosophie und die Philosophie der primitiven Völker» stammt von Wilhelm Wwidt; das Kapitel «Die indische Philosophie» von

Hermann Oldenberg; «Die chinesische Philosophie» von Wilhelm Grube usf. Wilhelm Wundt, 1832-1920, Arzt, Psychologe und Philosoph.

74 Herman Grimm, 1828-1901, Kunst- und Literaturwissenschafter, Sohn von Wil­helm Grimm.

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74 Hermon Grimm hai es betont: in «Goethe»-Vorlesungen gehalten an der Kgl. Uni-versität zu Berlin; 2. Bd. S. Aufl. Stuttgart und Berlin 1903:16. Vorlesung, S. 4f.

Perikles, um 500-429 vor Chr., Staatsm'n Athens.

Alkibigdes, um 450-404 vor Chr., athenischer Staatsmann.

Sokrates, um 469-399 vor Chr., griechischer Philosoph.

Aschyles, 525-456 vor Chr., griechischer Dramatiker.

Platon, 427-347 vor Chr., griechischer Philosoph.

76 das gegenständliche Erkennen: Siehe Rudolf Steiner, «Die Philosophie der Freiheit», Kapitel V, «Das Erkennen der Welt». Bibl.-Nr. 4, Gesamtausgabe Dornach 1962.

81 Johann Gotffried Herder, 1744-1803. Seiner Verehrung tur Spinoza, in der er sich mit Goethe eins flilte, gab er Ausdruck in den Gesprächen, die er 1787 unter dem Titel « Gott» veröffentlichte.

Benedictus (Baruch) de Spinoza, 1632-1677.

Goethe empfindet ebenso tief: Vgl. «Dichtung und Wahrheit», Dritter Teil, 14. Buch; Vierter Teil, 16. Buch.

82 Ich habe die Vermutung: «Ich habe eine Vermutung, daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfahrt und denen ich auf der Spur bin.» Italienische Reise Rom, 28. Januar 1787. Dtsch. Nat. Lit. Bd. 102, S. 221.

Goethes Prosahymnus «Die Natur» (Aphoristisch) um das Jahr 1780; in Goethes

Naturwissenschaftl. Schriften, Band 2, herausgegeben von Rudolf Steiner, Dtsch.

Nat. Lit. 115. Bd., S. 5-9.

102 Wie wir heute vom dreigliedrigen Menschen sprechen: Siehe Rudolf Steiner, «Von Seelen-rätseln» (1917), Bibl.-Nr. 21, Gesamtausgabe Dornach 1960, Kapitel IV/6, «Die physischen und die geistigen Abhängigkeiten der Menschen-Wesenheit», Seite 150ff.

103 das Urpersieche: Die Zweite nachatlantische Kulturperiode. Siehe Rudolf Steiner, «Die Geheimwissenschaft im Umriß» (1910), Bibl.-Nr. 13, Gesamtausgabe Dornach 1968, das Kapitel «Die Weltentwicklung und der Mensch».

106 was sich im Avesta äußert: Zarathustra-Literatur in iranischer Sprache und unter den Sassanidenkönigen nach 200 nach Chr. gesammelt. Stammen aus dem Iran und gehen auf jahrtausendealte Traditionen zurück.

107 der Pyramidenbau entwickelt: Die älteste Pyramide ist das Grabmal des Königs Djoser, um 2650 vor Chr., in Sakkara.

bis in die Meneszeit: Menes, ältester historisch bekannter König Ägyptens, 2850 vor Chr. Er vereinigt Unter- und Oberägypten. Die 1. und 2. Dynastie rechnet man von 2850-2650 v. Chr.

108 Hammurabi, 1728-1686 v. Chr., König von Babylon.

113 Oswald Spengler, 1880-1936. Oberlehrer am Gymnasium. Freier Schriftsteller. «Untergang des Abendlandes» (Umriß einer «Morphologie der Weltgeschichte»).

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113 Wir sehe,, vier Jahrbunderte: Dieser Abschnitt ist im Manuskript gestrichen.

120 Wilhelm Wundt, siehe Hinweis zu Seite 72.

121 Alfredferemias, 1864-1935, evangelischer Theologe und Orientalist. Weist aufbaby­lonische Einflüsse im Denken der antiken Welt hin. «Das Alte Testament im Lichte des Orients», Leipzig 1904; «Handbuch der orientalischen Geisteskultur», 1913 u. a.

122 in dir Entwickelung der älteren griechiechen Philesophie: Siehe Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philosophie», das Kapitel «Die Weltanschauung der griechischen Den­ker», Bibl.-Nr. 18, Gesamtausgabe Dornach 1968.

Thales, um 640-547 v. Chr., griechischer Philosoph und Mathematiker.

Herakleitos, um 500 v. Chr., griechischer Philosoph aus Ephesos.

Anaximones, 588-524 v. Chr., griechischer Philosoph.

Anu:cagoras, 500-428 v. Chr., griechischer Philosoph aus Klazomenä in Klein­asien, lebte in Athen.

Hip pokrates, 460-377 v. Chr., Begründer der griechischen Medizin, Zeitgenosse Platons.

Nietzsche: Siehe Hinweis zu S. 65. «Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen», zu Nietzsches Lebzeiten nicht veröffentlicht; letzte Fassung 1876.

125 in einem inter"en Vortragsryklus in Kristiania: « Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie», Bibl.-Nr. 121, Gesamtausgabe Dornach 1962.

126 Pletinos, griechischer Philosoph, 205-270 zu Miturnä in Kampanien, Schüler des Ammonios Sakkas, Neuplatoniker.

Jamblichos, gest. um 330 n. Chr., Neuplatoniker.

Ammonins Sakkas, etwa 175-242 n. Chr., Neuplatoniker.

127 Demokritos, aus Abdera, etwa 460-370 v. Chr., griechischer Philosoph.

Philen von Alexandrien, etwa 25 vor bis 50 n. Chr., jüdischer Philosoph. Er ver­band die Logoslehre mit der jüdischen Theologie.

130 Quinius Septimus Flerens Tertullianus, geb. nach 180 n. Chr. in Karthago, gest. 222 n. Chr. Ältester Kirchenschrlftsteller. Er schuf die lateinische Kirchensprache, be­einflußte die alte Dogmatik. War Jurist, wurde Christ 190 nach Chr. Apologetische, ethische und theologische Schriften.

Diokletianus, 243-313 n. Chr., von 284-305 römischer Kaiser. 286 Reichsteilung:

Ostrom, Westrom.

131 das Pallndium (Palladion): Hölzerne Statue der Pallas Athene, «von deren Besitz Glück und Macht Trojas abhing», wurde durch Odysseus und Diomedes im Troja-nischen Krieg geraubt und kam schließlich nach Rom.

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132 Reolismuse une, Nominalismus: Siehe Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philosophie», das Kapitel «Die Weltanschauungen im Mittelalter», und Vincenz Knauer, «Grund-linien zur Aristotelisch-Thomistischen Psychologie».

135 Fronz Brentano, 1838-1917, Philosoph.

seine Abhandlung über Aristoteles: «Die Psychologie des Aristoteles.» Mainz 1867.

136 er hat einen rechtswissenschaftlichen Vortrag geholten: am 23. Januar 1889 in der Wiener Juristischen Gesellschaft «Von der natürlichen Sanktion flir recht und sittlich», welcher im Druck ,mter dem Titel «Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis», Leipzig 1889 erschienen ist.

138 Pompeius, 106-48 v. Chr., römischer Staatsmann und Feldherr.

M. Aurelius Maxentius, von 306-312 römischer Kaiser, wurde am 28. Oktober 312 an der Milvischen Brücke von seinem Mitkaiser Konstantin geschlagen und ertrank auf der Flucht im Tiber.

139 Abbazia di Monte Cassino: Berg oberhalb der Stadt Cassino (Provinz Frosinone, Süditalien). Benediktinerabtei, gegründet 529, ist das Mutterkloster des gassen Abendlandes.

141 Faustus (Faustinus), Manichaerbischoi, Gegner des Augustinus, geb. um 350 n. Chr. in Mileve, Nordafrika.

149 genauer habe ich es in Dornach jü gst ausgeführt: Rudolf Steiner bezieht sich auf die Vorträge vom 15. und 16. Mai, die ersten zwei in diesem Bande.

150 Johanoes Kepler, 1571-1630, Entdecker der Gesetze der Planetenbewegung.

153 Fritz Mauthner, 1849-1923, Theaterkritiker und Satiriker, Schrifts teller. Vgl. «Bei-träge zu einer Kritik der Sprache», 3 Bde 1901-02; und «Wörterbuch der Philo­sophie» - Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 2 Bde 1910-11.

David Hume, 1711-1776, englischer Philosoph.

John Stuart Mil4 1806-1873, Philosoph, Volkswirtschaftler. Bei der «Ostindischen Gesellschaft» 1853. Parlamentsmitglied 1865-1868. Seine - empirische - Logik aus der Psychologie abgeleitet. «System of Logic», 2 Bde, 1843. Hauptwerk: «Prin­ciples of Political Economy», 1848.

157 David Friedrich Strauß, 1808-1874, Philosophisch-theologischer Schriftsteller.

Hauptwerke: « Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet», 2 Bde, 1840; «Die Christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft», 1840/41; « Der alte und der nene Glaube», 1872, besiegelt seinen Übergang zum Materialismus.

Karl Vogt, 1817-1895, Zoologe und Geologe, Professor in Gießen, Bern, Genf. Schriften über Materialismus und Darwinismus.

Laun: Domkapitular.

Friederich Niebergall, 1862-1932, evangelischer Pfarrer, Privatdozent in Heidelberg und in Marburg. «Praktische Auslegung des Neuen Testamentes», 1909, «Praktische

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Auslegung des Alten Testamentes», 2 Bde, 1918/19. «Praktische Theologie», 3 Bdc, 1912-1923. «Evangelischer Sozlalismus», 1920. Seit 1905 Herausgeber der Praktischen theologischen Handbibliothck.

157 Friedrich Gogarten, 1887-1932, evangelischer Pfarrer, Privatdozent in Jena. Betont den Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft in Anlelinung an Luther. «Die religiöse Entscheidung», 1921; «Glaube und Wirklichkeit», 1928. Steht Karl Barth nahe in seiner Auffassung.

Wilhelm Brhbn, D. lic., Verfasser von «Theosophie und Anthroposophie» (Aus «Natur und Geisteswelt», Bd. 775, Leipzig und Berlin 1921).

Kurt Leese, Lic. theol., Pfarrer. «Moderne Theosophie», 1920.

161 Proftssor Friedrich Traub: Verfasser von «Rudolf Steiner als Philosoph und Theo­soph», Tübingen 1919, 1921. Das Zitat entstammt einem Artikel in der Sonntags-beilage des «Schwäbischen Merkur» vom 30. April 1921 (Nr. 196).

ein merkwtrdiger Satz der ungefähr lautet: aus «Moderne Theosophie und katholisches Christentum» von Fr. Laun, Rotenburg a. N. 1920, S. 42. Der Satz lautet wörtlich:

«Ein überzeugter Katholik, der zugleich ein wissendes Mitglied der theosophischen oder anthroposophischen Gesellschaft wäre, ist so unmöglich wie ein Lamm in Gesellschaft der Füchse, ein Theosoph in katholischer Gesellschaft vielleicht ein Fuchs im Schafskleid.»

162 Feuilleton aus Göttingen: konnte nicht aufgefunden werden.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.