GA 310

Aus SteinerWiki
ansehen im RUDOLF STEINER VERLAG

RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER ERZIEHUNG

Der pädagogische Wert
der Menschenerkenntnis und der
Kulturwert der Pädagogik

Zehn Vorträge, gehalten in Oosterbeek-Arnheim/Holland
vom 17. bis 24. Juli 1924

GA 310

1965

Inhaltsverzeichnis


7

ERSTER VORTRAG Arnheim, 17. Juli 1924

Meine sehr verehrten Anwesenden, es ist mir leider nicht möglich, auf die Eröffnungsrede, die heute morgen hier gehalten worden ist, die Antwort zu finden, da ich bei dieser Eröffnungsrede nicht dabei sein konnte. Dennoch aber darf ich für die freundlichen Begrüßungsworte, welche soeben Herr Dr. Zeylmans van Emmichoven ausgesprochen hat, meinen herzlichsten Dank sagen und vor allen Dingen meine tiefe Befriedigung darüber, daß es hat ermöglicht werden können, über die uns als Anthroposophische Gesellschaft so sehr auf dem Herzen lie­gende Pädagogik eine Reihe von Vorträgen halten zu können.

Die Pädagogik ist ja nun schon seit einer ganzen Reihe von Jahren einer derjenigen Zweige der Kultur- und Zivilisationstätigkeit, die wir innerhalb der anthroposophischen Bewegung pflegen, und wir dürfen vielleicht gerade, wie es ja auch aus den Vorträgen hervorgehen wird, auf diesem Gebiete mit einer gewissen Befriedigung auf dasjenige zurückblicken, was möglich geworden ist - ich kann nach den wenigen Jahren, in denen unsere Schulen bestehen, nicht sagen: möglich geworden ist zu leisten, aber was möglich geworden ist zu inaugurieren, einzuleiten, und was ja auch weit über die Kreise der anthroposophischen Bewegung hinaus einen gewissen Eindruck auf die für das Geistesleben interessier­ten Kreise der heutigen Kulturwelt gemacht hat. Zurückblickend auf diese unsere pädagogische Tätigkeit, erfüllt es mich mit wahrer Freude, gerade hier in Holland, wo ich vor vielen Jahren schon vortragen durfte über Gegenstände der anthroposophischen Geisteswissenschaft, nunmehr zusammenhängend über dieses Thema sprechen zu können.

Anthroposophische Pädagogik will ja aus derjenigen Menschen-erkenntnis heraus wirken, die nur auf dem Boden geisteswissenschaft­licher Anthroposophie zu erringen ist; sie will wirken aus einer Menschenerkenntnis heraus, welche den ganzen Menschen umfaßt nach Leib, Seele und Geist. Nun wird man zunächst einen solchen Ausspruch für eine Selbstverständlichkeit halten. Man wird sagen, das sei ganz selbstverständlich, daß der ganze Mensch berücksichtigt werden müsse,

8

wenn es sich um pädagogische Betätigung, um pädagogische Kunst handelt, und daß dabei auf der einen Seite das Geistige eigentlich nicht vernachlässigt werden dürfe über dem Leiblichen, auf der andern Seite das Leibliche nicht über dem Geistigen und so weiter. Aber wie es sich damit verhält, das wird man sehr bald sehen, wenn man die praktische Ausführung gewahr wird, die aus irgendeinem Zweige menschlicher Betätigung hervorgeht, der auf anthroposophische Geisteswissenschaft hin begründet ist. Hier in Holland ist, zunächst im Haag, eine kleine Schule begründet worden auf der Grundlage anthroposophischer Men­schenerkenntnis, gewissermaßen eine Tochterschule unserer Stuttgarter Waldorfschule. Und ich glaube, wer sich bekannt macht, sei es durch das, was man von außen her über den Betrieb einer solchen Schule er­fahren kann, sei es dadurch, daß er in irgendeiner Weise Gelegenheit hat, das Innere dieser Schule kennenzulernen, der wird sehen, daß doch in der praktischen Betätigung, in der praktischen Handhabung des Unterrichts und der Erziehung sogleich etwas hervortritt, was die­jenigen Dinge, die auf Anthroposophie begründet sind, wesentlich von dem unterscheidet, was heute sonst aus unserer gegenwärtigen Zivilisa­tion und Kultur hervorgehen kann. Dies schon aus dem Grunde, weil überall, wo wir heute hinblicken, in der Auswirkung des Kulturlebens im praktischen Leben eine Kluft besteht, eine Kluft zwischen dem, was die Menschen theoretisch denken, theoretisch ersinnen, und zwischen dem, was sie praktisch wirklich ausführen. Theorie und Praxis sind heute in unserem Zivilisationsleben zwei weit voneinander abstehende Gebiete geworden. Man kann, so paradox das klingt, dies beobachten, vielleicht besonders kraß beobachten in den allerpraktischsten Lebens­betätigungen, sagen wir im kaufmännischen, im wirtschaftlichen Leben. Da lernt man theoretisch allerlei Dinge: man denkt zum Beispiel über Wirtschaftszusammenhänge nach, man hat Absichten. Aber diese Ab­sichten sind nicht imstande, unmittelbar in die Handhabung desjenigen einzugreifen, was man dann praktisch zu tun hat, weil man auf der einen Seite über etwas denkt, meinetwillen nur ein Geschäft ausdenkt, auf der anderen Seite jedoch handelt man, muß man handeln nach den Bedingungen der Wirklichkeit. Ich möchte mich noch deutlicher aus­drücken, damit wir uns verstehen.

9

Man denkt heute zum Beispiel an irgendeine geschäftliche Verrich­tung, die man vollziehen will, damit man irgendein Geschäft macht. Man denkt dieses Geschäft durch, man richtet es ein aus seinen Absich­ten heraus; dann tut man natürlich auch das, was man aus der Theorie, aus den abstrakten Gedanken heraus vollziehen will. Aber wenn das dann in die Wirklichkeit hinausgeht, spießt es sich überall an der Wirklichkeit. Man führt allerdings etwas aus, man führt sogar seine Gedanken aus, aber diese Gedanken passen nicht zum wirklichen Leben. So daß man tatsächlich etwas ins wirkliche Leben hineinträgt, was zu diesem wirklichen Leben nicht paßt. Nun kann man eine Zeitlang ein solches Geschäft fortführen, das auf diese Weise eingeleitet ist; da wird dann der, der es eingeleitet hat, sich für einen furchtbar praktischen Menschen halten. Denn, wer von vornherein in ein Geschäft hinein­geht, möglichst nichts anderes gelernt hat, als was heute Usus ist, der hält sich für einen «praktischen» Menschen. Man kann ja diese Redensarten heute hören, welche praktische Menschen führen gegenüber einem Theoretiker. Er stellt dies Geschäft also ins Leben, richtet mit brutaler Hand ein, was er sich ausgedacht hat, kann es vielleicht auch eine Zeitlang durchführen, wenn Grundkapital da ist. Dann, nach einiger Zeit, geht dieses Unternehmen zugrunde, oder es wird in etwas anderes hin­übergeleitet, von einer älteren Unternehmung aufgesogen und der­gleichen. Man faßt dabei gewöhnlich nicht ins Auge, wieviel von gutem, gediegenem Lebensgang davon beeinträchtigt ist, daß man dies gemacht hat, wieviel Existenzen vielleicht dabei vernichtet worden sind, wieviele Leute geschädigt, wieviele aufgehalten worden sind und so weiter. Das ist lediglich dadurch gekommen, daß man sich etwas ausgedacht hat - ausgedacht hat als praktischer Mensch. Aber man ist ja in solchem Falle praktisch nicht durch seine Einsichten, sondern durch seine Ellenbogen. Man hat etwas in die Wirklichkeit eingeführt, aber ohne die Bedingungen der Wirklichkeit.

Das ist es, was heute im Kulturleben verborgen wuchert und was die meisten Menschen nicht sehen können. Das einzige Gebiet, wo man heute solche Dinge einsieht, wo man sieht, daß es nicht geht, das ist das Gebiet der mechanischen Naturwissenschaft und ihre Anwendung im Leben. Wenn man eine Brücke bauen will, muß man eine solche Mechanik

10

kennen, die nun wirklich eine Brücke zu bauen imstande ist, die den Anforderungen entspricht, die an sie gestellt werden; denn andern­falls wird der erste Eisenbahnzug, der über die Brücke fährt, ins Wasser stürzen. Solche Dinge sind ja schon passiert und man hat auch in der heutigen Zeit solche Auswirkungen einer verdrehten Mechanik gesehen. Aber im ganzen ist dieses Gebiet das einzige, wo man unmittelbar im praktischen Leben sagen kann: etwas ist nach den Bedingungen der Wirklichkeit gedacht oder ist es nicht.

Wenn Sie ein anderes Gebiet nehmen, werden Sie sogleich sehen, daß es nicht so evident ist, ob jemand den Bedingungen der Wirklich­keit nach denkt oder nicht. Nehmen Sie das Gebiet der Heilkunde. Da wird auch in der Weise heute verfahren, daß man sich theoretisch etwas zurecht legt und danach heilen will. Ob man wirklich geheilt hat in einem bestimmten Falle, ob ein Mensch sterben mußte durch sein Schicksal oder vielleicht zu Tode geheilt worden ist, das ist ja schwerer zu übersehen. Die Brücke stürzt ein, wenn sie falsch gebaut ist; aber ob der Kranke noch kränker gemacht, ob er durch die Behandlung gesund geworden oder durch sie gestorben ist, das läßt sich nicht so leicht übersehen.

Ebenso läßt sich auf dem Gebiete der Pädagogik nicht immer über­sehen, ob man aus den Bedingungen des heranwachsenden Kindes her-aus erzieht, oder ob man nach Schrullen erzieht, nach Schrullen, die man sich ja auch dadurch ausbilden kann, daß man Experimental­psychologie treibt, äußerlich das Kind untersucht und fragt: Wie ist sein Gedächtnis beschaffen, wie die Begriffsfähigkeit, wie die Urteils-fähigkeit und so weiter? - Man bildet sich da zunächst pädagogische Ansichten aus. Aber wie werden diese ins Leben übergeführt? Man hat sie in seinem Kopfe, da sitzen sie drinnen. Da weiß man, ein Kind hat man im Rechnen so zu führen, in der Geographie so zu führen und so weiter; jetzt soll man an die praktische Ausführung gehen. Man denkt nach und erinnert sich: Da ist der Grundsatz in der wissenschaftlichen Pädagogik enthalten, man muß es so und so machen. - Nun steht man der Praxis gegenüber, erinnert sich an diesen theoretischen Grundsatz und wendet ihn ganz äußerlich an. Wer Talent hat, so etwas zu beob­achten, wie zuweilen Pädagogen, die ausgezeichnet sind in der Beherrschung

11

der pädagogischen Theorien, dann an die Anwendung des Ge­lernten gehen, der kann die Erfahrung machen, daß ein solcher Päd­agoge in ausgezeichneter Weise das angeben kann, was er einmal im Examen wissen mußte oder was er in der Übungsklasse gelernt hat; aber er bleibt so fremd wie nur möglich im Leben, wenn er in der Erziehung dem Kinde gegenübersteht. Bei ihm vollzieht sich das, was wir alltäglich und allstündlich beobachten müssen zu unserem Herz-schmerz, daß die Menschen im Leben aneinander vorbeigehen, daß sie keinen Sinn haben, einander kennenzulernen. Die Menschen lernen sich heute nicht gegenseitig kennen. Das ist eine allgemeine Erscheinung. Das ist auch das Grundübel für alle die sozialen Störungen, die sich heute über das Zivilisationsleben ergießen: die mangelnde Aufmerk­samkeit und das mangelnde Interesse, das ein Mensch für den andern haben sollte. In der allgemeinen Zivilisation muß man so etwas zu­nächst hinnehmen; es ist das zunächst einmal das Gegenwartsschicksal der Menschheit.

Aber den Gipfel erreicht dann ein solches Fremdsein und Fernstehen des einen Menschen gegenüber dem andern, wenn der Lehrer dem Kinde oder der Erzieher dem Zögling fremd gegenübersteht und nur äußer­lich, ganz fremd, aus der äußeren Wissenschaft gewonnene Erziehungs­methoden anwendet und man nicht so sehen kann wie bei der Brücke, die bei der Anwendung einer falschen Mechanik zugrunde geht, daß hier eine falsche Pädagogik angewendet ist. Ein deutliches Zeichen dafür, daß die Menschen heute nur mit der mechanischen Denkweise zurechtkommen, die ihre glänzendsten Triumphe im Zivilisationsleben der Gegenwart feiert, die überall nachforschen kann, ob man richtig oder nicht richtig gedacht hat - ein Zeugnis dafür ist dies, daß die Menschheit heute nur noch Vertrauen hat zum mechanischen Denken. Man hat nur noch Vertrauen zu demjenigen Denken, das sich sogleich in seiner Unsinnigkeit erweist, wenn es auf andern Gebieten als in der Mechanik an die Wirklichkeit herantreten will. Alles, das Weltgebäude und die Organismen, sollen heute mechanisch begriffen werden, weil man nur noch zum mechanischen Denken Vertrauen hat. Und wenn nun dieses mechanische Denken hineingetragen wird in die Pädagogik, wenn man zum Beispiel das Kind unzusammenhängende Worte aufschreiben

12

läßt, die es schnell hersagen muß, damit man dann notieren kann, wieviel und wie rasch ein Kind auffassen kann, wenn man in dieser Weise in der Pädagogik vorgeht, so zeigt man dadurch, daß man kein Talent mehr hat, an das Kind selbst heranzukommen. Wir experi­mentieren an dem Kinde herum, weil wir nicht mehr an Herz und Seele des Kindes herankommen.

Wenn man so etwas ausspricht, dann scheint es, als ob man den Hang, die Sehnsucht hätte, nur zu kritisieren und abzukanzeln. Kriti­sieren ist ja immer leichter als aufbauen. Aber was ich ausgesprochen habe, ergibt wahrhaftig nicht ein Hang, ein Begehren nach Kritik, sondern das ergibt eben gerade die unmittelbare Beobachtung des Le­bens. Diese unmittelbare Beobachtung des Lebens muß von etwas aus­gehen, was heute in der Erkenntnis gewöhnlich ganz ausgeschlossen wird. Wie muß man denn sein, wenn man heute irgend etwas betreiben will, was auf Erkenntnis gebaut ist, zum Beispiel auf Menschenerkennt­nis? Objektiv muß man sein! Das wird an allen Orten, allen Ecken und Enden wiederholt. Selbstverständlich muß man objektiv sein. Aber es frägt sich, ob jemand auch objektiv ist mit einer eigentlichen Interesse­losigkeit und einer Unaufmerksamkeit in bezug auf das Wesentliche einer Sache.

Nun stellt man sich gewöhnlich vor, daß das Allersubjektivste im Leben die Liebe ist, und von dem, der liebt, stellt man sich schon nicht vor, daß er irgendwie objektiv sein könnte. Daher wird heute nirgends, wo von Erkenntnis gesprochen wird, im Ernste von der Liebe gespro­chen. Man denkt zwar, wer sich als junger Mensch Erkenntnis aneignen soll, der müsse ermahnt werden, daß er dies in Liebe tue. Das geschieht ja meistens dann, wenn die Art und Weise, wie man diese Erkenntnis an die Menschen heranbringt, gar nicht danach geeignet ist, daß man dafür Liebe entfalten könnte. Aber die Liebe selber, das Sich-Hingeben an die Welt und ihre Erscheinungen betrachtet man jedenfalls nicht als eine Erkenntnis. Für das Leben aber ist die Liebe die erste Erkenntnis-kraft. Und ohne diese Liebe ist es vor allen Dingen unmöglich, zu einer Menschenerkenntnis zu kommen, welche die Grundlage für eine wirk­liche pädagogische Kunst sein könnte. Stellen wir nun einmal diese Liebe einigermaßen so hin, wie sie gerade aus einer auf geisteswissenschaftliche

13

Anthroposophie begründeten Menschenerkenntnis wirken kann auf diesem speziellen Gebiete der Pädagogik.

Das Kind wird uns übergeben zur Erziehung, zum Unterricht. Wir betrachten, wenn wir auf anthroposophischem Boden pädagogisch den­ken, das Kind nicht so, daß wir uns vorstellen: da gibt es irgendein soziales oder sonstiges Menschenideal, und wir müssen nun das Kind so entwickeln, daß es diesem Ideal immer ähnlicher wird. Denn dieses Menschenideal kann ja ganz abstrakt sein. Und ein derartiges Men­schenideal ist heute schon etwas, was einem in so vielen Formen ent­gegentreten kann, als es politische, soziale und andere Parteien gibt. Je nachdem einer auf den Liberalismus, auf den Konservativismus, auf dieses oder jenes Programm schwört, hat er ein anderes Menschenideal. Dahin möchte er dann das Kind langsam führen, daß es so werde, wie er sich denkt, daß das für den Menschen richtig sei. Seinen Gipfelpunkt erreicht das ja im heutigen Rußland. Aber so denkt man im Grunde genommen, wenn auch nicht in dieser radikalen Art, doch mehr oder weniger heute überall.

Das ist für den, der erziehen und unterrichten will auf anthroposo­phischem Boden, durchaus kein Ausgangspunkt. Er geht nicht vom Idol aus. Denn ein abstraktes Menschenbild, zu dem man irgendein Kind hinleiten will, ist ein Idol, ist etwas Ausgedachtes, ist keine Wirk­lichkeit. Die einzige Wirklichkeit, die es auf diesem Felde gäbe, wäre höchstens die, wenn man sich selber als ein Ideal betrachtete und sagte:

Jedes Kind muß so werden, wie man selber ist. - Da hätte man wenig­stens irgendeine Wirklichkeit gestreift. Es würde aber sogleich absurd, wenn man es ausspräche.

Was einem wirklich vorliegt, ist das kindliche Wesen, das sein Da­sein nicht begonnen hat mit seinem physischen Dasein, sondern das aus vorirdischen Welten sein Geistig-Seelisches heruntergebracht hat und untergetaucht ist in das, was ihm an physischer Leiblichkeit von Eltern und Voreltern überbracht worden ist. Da schaut man hin auf dieses Kind, wie es mit ganz unbestimmter Physiognomie einem in den ersten Lebenstagen entgegentritt, mit ganz unorganisierten, unorientierten Bewegungen. Da verfolgt man von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, wie die Physiognomie immer bestimmter und bestimmter der Ausdruck

14

desjenigen wird, was vom inneren Seelischen her sich an die Oberfläche arbeitet. Da verfolgt man, wie die Bewegungen, wie das ganze Leben des Kindes immer orientierter und orientierter werden, wie ein Geistig­Seelisches im tiefsten Innern sich an die Oberfläche heranarbeitet. Da fragt man sich mit heiliger Ehrfurcht und Andacht: Was arbeitet sich denn da an die Oberfläche? - Da wird Herz und Sinn zurückgeführt zu dem, was vom Menschen selbst an Geistig-Seelischem da war in der geistig-seelischen, vorirdischen Welt, was aus dieser Welt herunter-gestiegen ist in die physische, und man sagt sich: Du Kind, jetzt, nach­dem du durch die Geburt ins irdische Dasein eingetreten bist, bist du unterMenschen; vorher warst du unter geistig-göttlichen Wesenheiten. -Was gelebt hat unter geistig-göttlichen Wesenheiten, das ist herunter-gestiegen, um unter Menschen zu sein! Man sieht das Göttliche im Kinde werden. Man fühlt sich wie vor einem Altar. Nur daß auf den Altären, die man in den Religionsgemeinschaften gewohnt ist, die Men­schen den Göttern opfern, damit ihre Opfergaben hinaufsteigen in die geistige Welt; jetzt fühlt man sich gewissermaßen vor dem umgekehr­ten Altar, die Götter lassen ihre Gnadenströme heruntersteigen als gött­lich-geistige Wesenheiten, damit diese sich hier auf dem Altar des phy­sischen Lebens als Göttersendlinge menschlich entfalten! Man schaut in jedem Kinde die göttlich-geistige Weltenordnungsentfaltung: wie Gott schafft in der Welt. Am höchsten, am bedeutendsten erscheint es einem, wenn man es anschaut im werdenden Kinde. Dann aber wird einem jedes einzelne Menschenkind zu einem heiligen Rätsel. Denn dann bildet jedes einzelne Kind die große Frage - nicht: Wie soll man es erziehen, daß es, wie man es sich ausgedacht hat, sich einem Idol nähert -, sondern: Wie soll man das pflegen, was einem die Götter her­untergeschickt haben in die irdische Welt? - Man lernt sich erkennen zu einem Helfer der göttlich-geistigen Welt, und man lernt vor allem die Frage aufwerfen: Was kann werden, wenn man mit einer solchen Gesinnung an den Unterricht und an die Erziehung herangeht?

Wahre Pädagogik geht vor allen Dingen von dieser Gesinnung aus. Auf diese Gesinnung, die Pädagogik, den Unterricht zu pflegen, darauf kommt es an! Menschenerkenntnis kann nur erworben werden, wenn die Menschenliebe - also hier die Liebe zum Kinde - zur werktätigen

15

Gesinnung wird. Entsteht eine solche Gesinnung, dann wird der Er­zieherberuf zum Priesterberuf; denn dann wird der Erzieher zum Ver­walter dessen, was die Götter mit den Menschen ausführen wollen.

Wiederum könnte es scheinen, als ob wieder nur mit etwas andern Worten etwas Selbstverständliches ausgesagt wird. Aber so ist es wieder nicht. Wir sehen ja immer mehr und mehr in der heutigen unsozialen Weltenordnung, die sich nur als sozial drapiert, das andere heraus­kommen: mit der Erziehung einem Menschheitsidol nachjagen, nicht sich wissen als Pfleger desjenigen, was man erst kennenzulernen hat, wenn es einem im Kinde gegenübergestellt ist.

Solche Gesinnung, wie ich sie charakterisiert habe, kann nicht ab­strakt arbeiten, sie muß geistig arbeiten - aber für das Praktische ar­beiten. Solche Gesinnung erwirbt man sich auch nicht dadurch, daß man sich Theorien aneignet, die lebensfremd und lebensfern sind; son­dern man erwirbt sie sich nur, wenn man einen Sinn hat für jede Lebensäußerung, wenn man auf jede Lebensäußerung mit Liebe einzu­gehen vermag.

Es wird heute viel geredet von Reformpädagogik. Wir haben es so­gar nach dem Kriege erlebt, daß von Revolutionspädagogik gesprochen worden ist. Alle möglichen Arten einer neuen Erziehung werden aus­gedacht, und eigentlich beteiligt sich ja jeder daran, irgendwie die Er­ziehung zu reformieren; entweder er trägt das eine oder andere bei zu diesem oder jenem Institut, das gegründet werden soll, oder er beteiligt sich wenigstens mit dem Munde dabei, indem er sagt: So stelle ich mir vor, daß die Erziehung gestaltet werden muß und so weiter. - Viel wird geredet von der Art und Weise, wie erzogen werden soll. Aber wissen Sie, was das für einen Eindruck macht, wenn man mit unbe­fangenem Sinn überblickt, was heute die verschiedenen Reformerzie­hungsvereine, meinetwillen auch die radikalen, sagen, was sie als Pro­gramm entwickeln? Ich weiß nicht, ob sich viele darüber Rechenschaft gegeben haben, was man für einen Eindruck bekommt, wenn man so recht viele Programme von Reformerziehungsvereinen und -gesell­schaften vor sich liegen hat; man bekommt den Eindruck: Donner­wetter, wie gescheit sind heute die Menschen! Denn alles, was auf diese Weise zustande kommt, ist nämlich furchtbar gescheit. Ich meine das

16

gar nicht ironisch, sondern ganz im Ernste. Wir haben nie ein Zeitalter gehabt, das so gescheit war wie das unsrige.

Da wird aufgestellt: Paragraph 1. Wie soll erzogen werden, wenn die Kräfte des Kindes naturgemäß entwickelt werden? Paragraph 2... Paragraph 3... und so weiter. Es können sich heute Menschen be­liebiger Berufs- und Gesellschaftsklassen zusammensetzen und solche Programme ausarbeiten: die Dinge werden entzückend gescheit sein, die man als Paragraphen 1 bis 30 auf diese Weise bekommt. Denn man weiß ja heute alles theoretisch zu formulieren. Man ist nie so geschickt gewesen, die Dinge zu formulieren, wie heute. Und dann kann man ein solches Programm oder eine Anzahl von Programmen einer Kommis­sion, einem Parlamente vorlegen. Das ist wieder sehr gescheit. Da wird nun vielleicht nach Parteirücksichten dieses oder jenes gestrichen oder zugesetzt, und es kommt etwas furchtbar Gescheites, wenn auch manchmal recht parteimäßig Gefärbtes zum Vorschein. Aber anzu­fangen ist damit gar nichts, denn es kommt auf alles dies nicht an.

Die Waldorfschul-Pädagogik ist nie von einem solchen Programm ausgegangen, denn - ich will gar nicht renommieren, aber so gescheit wie mancher Erziehungsreformverein hätten wir natürlich auch sein können, wenn es sich um das Zustandekommen irgendeines Programmes gehandelt hätte - es hätte uns das vielleicht gehindert, daß wir die Wirklichkeit berücksichtigen müssen, und dann wäre etwas Dümmeres herausgekommen. Aber es hat sich bei uns nie um ein Programm ge­handelt. Grundsätze, wie man erziehen soll, Grundlagen, die dann irgendwie in die Gesetzgebung übergehen könnten, haben uns von An­fang an nicht interessiert. Was uns interessiert hat, war die Wirklich­keit, die ganz wahre Wirklichkeit. Was war diese? Kinder sind es zu-nächst gewesen, eine Anzahl von Kinderindividualitäten mit diesem oder jenem Wesenhaften. Man muß das kennengelernt haben, um zu wissen, was in diesen Kindern steckt durch das, was in sie herunter-gestiegen ist und was sie durch ihre Körperlichkeit zum Ausdruck bringen. Kinder also waren das erste. Und dann Lehrer. Sie können noch so schön den Grundsatz verfechten, das Kind müsse nach seiner Individualität erzogen werden - das steht ja auch heute in allen Re­formprogrammen -, aber es wird so nie etwas dabei herauskommen;

17

sondern man hat neben den Kindern eine bestimmte Anzahl von Lehrern, und man muß wissen, was diese leisten können im Verhältnis zu diesen Kindern. Man muß die Schule so einrichten, daß man nicht ein abstraktes Ideal hinstellt, sondern daß man die Schule heraus­arbeitet aus der Lehrerschaft und aus der Schülerschaft, und die sind nicht vorhanden in abstrakter Weise, sondern in ganz konkreten ein­zelnen Wesenheiten. Darum also handelt es sich. Und dann wird man durchaus auf die Notwendigkeit geführt: wahre Pädagogik, wirklich­keitsgemäße Pädagogik auf Menschenerkenntnis zu bauen; in jeder Einzelheit nicht theoretisch zu sein, sondern in jeder Einzelheit prak­tisch zu sein.

Waldorfschul-Pädagogik, die ja zuerst die anthroposophische Päd­agogik ins Leben eingeführt hat, ist daher künstlerische Erziehungs­praxis, und die kann im Grunde genommen nur reden von Angaben, wie man es in diesem oder jenem Falle macht. Man hat kein starkes Interesse für allgemeine Theorien, aber ein um so stärkeres für Impulse, die aus der Anthroposophie heraus kommen können für wirkliche Men­schenerkenntnis, die eben schon beim Kinde beginnen muß. Aber unser grobschlächtiges Beobachten von heute verwischt ja gerade das Charak­teristische in den aufeinanderfolgenden Lebensaltern. Man muß schon ein wenig, ich möchte sagen, inspiriert sein von demjenigen, was einem die Geisteswissenschaft heute über das geschichtliche Werden der Menschheit sagen kann, wenn man den richtigen Sinn entwickeln will, der dem Kinde entgegengebracht werden soll. Man weiß ja heute so außerordentlich wenig über den Menschen und die Menschheit. Man stellt sich vor, so wie wir heute sind, wenn wir unser Leben vollbringen, so hat man es seit dem 14.,15.,16.Jahrhundert vollbracht, und so war es eigentlich immer. Man stellt sich auch die alten Griechen oder die alten Ägypter noch so ähnlich vor wie die heutigen Menschen. Und geht man noch weiter zurück, dann verschwimmt die Geschichte, bis jene Wesen auftauchen, die halb Affen, halb Menschen sind, so wie sie sich die heutige Naturwissenschaft denkt. Aber auf die großen Unterschiede einzugehen, die zwischen der geschichtlichen und der vorgeschicht­lichen Periode der Menschheit bestehen, dafür hat man kein Interesse.

Betrachten wir den Menschen, wie er heute vor uns steht: das Kind,

18

zunächst bis zum Zahnwechsel. Wir sehen ganz deutlich, die physische Entwickelung geht parallel der geistig-seelischen Entwickelung. Alles was geistig-seelisch hervortritt, hat sein genaues Gegenbild in dem Leiblichen; beides drückt sich zusammen aus, kommt zusammen aus dem Kinde heraus. Dann,wenn das Kind den Zahnwechsel überstanden hat, sehen wir, wie das Seelische sich schon mehr emanzipiert vom Leib­lichen. Wir werden auf der einen Seite eine geistig-seelische Entwicke­lung beim Kinde verfolgen können, auf der andern Seite eine leibliche. Beide Seiten aber sind noch nicht stark getrennt. Gehen wir aber dann in der Entwickelung weiter in die Zeit von der Geschlechtsreife bis zum 21.Lebensjahre etwa, so wird diese Trennung noch stärker. Und kommen wir in die Zeit, wo der Mensch 27, 28 Jahre alt wird, dann kann man heute, in der gegenwärtigen Menschheit, gar nicht mehr auf die Art hinsehen, wie das Geistig-Seelische mit der physisch-leiblichen Entwickelung zusammenhängt. Was der Mensch da treibt, das sieht man auf der einen Seite im Geistig-Seelischen, auf der andern Seite im Physisch-Leiblichen; aber man bringt keinen Zusammenhang in beides hinein. Der Mensch hat sich am Ende der Zwanzigerjahre ganz und gar im Geistig-Seelischen emanzipiert vom Physisch-Leiblichen. Und so geht es dann bis an das Lebensende.

Doch so war es nicht immer. Man glaubt das nur. Geisteswissen­schaft, anthroposophisch getrieben, zeigt uns klar und deutlich: Was wir heute, in unserem gegenwärtigen Stadium der Menschheitsentwik­kelung sehen, daß das Kind in seinem Geistig-Seelischen ganz abhängig ist vom Physisch-Leiblichen und wieder in seinem Physisch-Leiblichen vom Geistig-Seelischen, das ging - man beachtet es nur nicht - in den alten Zeiten fort bis in das höchste Lebensalter hinauf. Wenn man sehr weit zurückgeht, bis in jene Zeiten, aus denen die Anschauung stammt, daß es Patriarchen gegeben hat und sich fragt, was war so ein Mensch, ein Patriarch?, so muß man sich sagen: Ein solcher Mensch, der alt ge­worden war, er hat sich in seiner Leiblichkeit verändert, aber er hat sich bis ins höchste Alter so gefühlt, wie sich heute nur der ganz junge Mensch fühlen kann, er hat, selbst im Alter, sein Geistig-Seelisches abhängig gefühlt von seinem Physisch-Leiblichen. - Wir fühlen uns heute mit unserem Physisch-Leiblichen nicht mehr abhängig von dem,

19

was wir denken oder fühlen. Eine solche Abhängigkeit hat man aber einst in den älteren Kulturzeitaltern gefühlt; und man fühlte auch, wenn man über ein bestimmtes Lebensalter hinaus war, wie die Kno­chen härter werden, wie die Muskeln Einschlüsse von nicht zu ihnen gehörigen Stoffen haben, wenn man sklerotisch wird. Man hat den Abbau des Lebens gefühlt. Und man hat auch gefühlt, indem das Kör­perliche zurückgeht, steigt das Geistige - eben durch das Zurückgehen des Körperlichen - gerade herauf. Die Seele wird frei von der Körper­lichkeit, so sagte man sich, indem der Körper abzubauen beginnt. Und gänzlich frei ist die Seele im Patriarchenalter, wo der Körper sozu­sagen dann schon vollständig am Abbau ist; da entringt sich das See­lisch-Geistige am meisten dem Körperlichen, da sitzt es nicht mehr darinnen. Deshalb sah man mit solcher Andacht und Ehrfurcht zum Patriarchen auf und sagte sich: Oh, wie wird es mit mir sein, wenn ich einmal so alt bin? Da kann man etwas wissen, etwas erkennen, kann etwas durchschauen, was ich jetzt noch nicht erkennen und durch­schauen kann, weil ich noch im Aufbau des Körperlichen bin. - Da sah man noch hinein in eine physisch-geistige, physisch-spirituelle Welten-ordnung. Das war die älteste Zeit. Dann kam eine Zeit, wo man diese Abhängigkeit zwischen Leiblichem und Geistig-Seelischem nur noch bis etwa zum 50. Jahre hin fühlte; in einer noch späteren Zeit nur noch bis zum 40. Jahre. Und dann kam die griechische Zeit. Was einem am Griechenzeitalter besonders wert ist, das beruht darauf, daß die Grie­chen gerade noch fühlten den Zusammenklang des Geistig-Seelischen mit dem Physisch-Leiblichen. Der Grieche fühlte diesen Zusammen-klang noch bis zum 30., 40. Jahre. Da fühlte er noch im Blutkreislauf, was die Seele in eine Einheit mit dem Physisch-Leiblichen versetzt. Darauf beruhte die Einheit dieser wunderbaren, dieser alles Theore­tische in Künstlerisches und alles Künstlerische zugleich in Weisheits­volles umsetzenden griechischen Kunst und Kultur. Da wirkte der Bildhauer so, daß er nicht ein Modell brauchte, sondern er spürte es in seiner Organisation noch, wie der Arm oder das Bein durchsetzt ist von den Kräften, welche den Arm oder das Bein formen. Man hatte es ge­lernt bei den Festspielen zum Beispiel, die aber heute, wenn sie nach­geahmt werden, nicht den geringsten Sinn haben.

20

Hat man aber einen solchen Sinn für die Entwickelung der Mensch­heit, so weiß man, was eigentlich in der Menschheitsentwickelung vor sich gegangen ist, und man weiß auch, daß wir heute einen Parallelis­mus zwischen dem Physisch-Leiblichen und dem Geistig-Seelischen nur noch etwa bis zum 27., 28. Lebensjahre hin haben, wenn man ganz genau schildert; die meisten Menschen bemerken diesen Parallelismus nur noch bis zur Geschlechtsreife. Und so weiß man dann, wie in dem sich entwickelnden Menschen heraussprießt das Göttlich-Geistige. Und dann bekommt man die nötige Ehrfurcht davor, das, was einem im Kinde entgegentritt, zu entwickeln; das heißt, das zu entwickeln, was für uns dann das Gegebene ist und nicht jene abstrakten Ideale zu ent­wickeln, die man sich ausgedacht hat.

So wird man verwiesen auf eine Menschenerkenntnis, die im einzel­nen individuell-seelisch ist. Und hat man sich durchdrungen mit sol­chen allgemeinen, großen historischen Gesichtspunkten, dann geht man auch an die einzelnen Erziehungsaufgaben in einer entsprechenden Weise heran. Dann entsteht schon ein ganz anderes Leben, wenn der Erzieher in seine Klasse hineingeht; denn dann trägt er Welt, geistig-seelisch-physisch Welt hinein in die Klasse. Dann ist er umgeben von der Atmosphäre einer wirklichkeitsgemäßen, nicht einer theoretisch ausgedachten Weltanschauung. Dann ist er umgeben von einemWelten­fühlen. Und dann werden wir das Merkwürdige erleben können, wenn wir auf das hinschauen, was jetzt angedeutet worden ist, daß wir eine Pädagogik begründen, die nach und nach das Gegenbild von dem dar­stellen wird, was auf manchem, gerade charakteristischen Gebiete der pädagogische Betrieb heute ist. Allerlei gut veranlagte Humoristen wählen sich ja den sogenannten Schulmeister oftmals zu einem Objekt, das ihnen gut dienen kann, an dem sie ihren Humor auslassen können. Nun, wenn ein Schulmeister mit dem nötigen Humor veranlagt ist, kann er sich auch schon gegen diejenigen auslassen, die so sein Bild karikiert in die Welt hineinstellen. Aber worauf es ankommt, das ist ja etwas ganz anderes. Denn wenn der Lehrer, wie es die heutige theoreti­sierende Pädagogik tut, so in die Schule hineingestellt wird, daß er gar nicht das Kind kennenlernen kann, aber doch mit dem Kinde beschäf­tigt sein muß - wie kann er da etwas anderes werden als weltfremd!

21

Beim heutigen Schulsystem kann man gar nichts anderes werden als weltfremd; man wird ja ganz herausgerissen aus der Welt. Und dann tritt sogar das Merkwürdige ein, daß die weltfremden Pädagogen den Menschen für sein Gedeihen in der Welt entwickeln sollen.

Stellen wir uns aber nun vor, die Dinge werden Gesinnung, von denen heute gesprochen worden ist. Dann steht der Lehrer den Kin­dern so gegenüber, daß sich ihm in dem einzelnen Kinde eine ganze Welt, und nicht nur eine menschliche, sondern eine göttlich-geistige Welt im Irdischen offenbart. Und man möchte sagen: In so vielfacher Anschauungsweise, als er Kinder zur Pflege bekommt, offenbart sich dem Erzieher die Welt. - Er schaut durch jedes Kind in die große Welt hinein. Seine Erziehung wird zur Kunst. Seine Erziehung wird von dem Bewußtsein getragen: was getan wird, das wird unmittelbar an der Weltenentwickelung getan. Diese Pädagogik, die hier gemeint ist, führt auch den Lehrenden in dem Erziehen, in dem Entwickeln des Menschen hinauf auf das Niveau der großen Weltanschauung. Dann wird der Lehrer derjenige, der nun auch führend sein kann in den gro­ßen zivilisatorischen Fragen. Und dann entwächst der Schüler niemals dem Lehrer, wie es heute so sehr häufig der Fall ist. - Denn wir können auch noch folgendes in der Schule haben. Nehmen wir einmal an, der Lehrer müßte wirklich erziehen nach einem Ideale, nach einem Men­schenbilde, das er sich vorsetzen kann. Denken wir uns, er hätte dann eine Schulklasse von 30 Kindern; unter diesen säßen schicksalsmäßig zwei, die schon nach ihren Anlagen viel genialer sind als der Lehrer selbst. Was müßte er denn in diesem Falle machen wollen? Er müßte sie zu seinem Erziehungsideal machen wollen; etwas anderes könnte ja niemals herauskommen. Aber geht es auch? Die Wirklichkeit gestattet es nicht, die Schüler wachsen dann über den Lehrer hinaus.

Erziehen wir dagegen wirklichkeitsgemäß, sind wir Pfleger dessen, was sich geistig-seelisch im Kinde offenbart, dann sind wir ja in der gleichen Lage wie der Gärtner gegenüber seinen Pflanzen. Glauben Sie, daß der Gärtner alle Geheimnisse der Pflanzen kennt, die er pflegt? Oh, die enthalten an solchen Geheimnissen noch viel mehr, als der Gärtner kennt; aber er kann die Pflanzen pflegen und vielleicht gerade am besten auch diejenigen pflegen, die er noch nicht kennt. Denn er

22

kennt die Praxis, er hat sie sozusagen im «geistigen Griff». So wird es auch möglich für eine wirklichkeitsgemäße Erziehungskunst, daß man, wenn man nicht selber gerade ein Genie ist, als Erzieher Genies gegen­übersteht. Denn man weiß, man hat nicht hinzuführen zu einem ab­strakten Ideal, sondern da im Kinde drinnen wirkt der Gott im Men­schen, wirkt durch das Leiblich-Physische hindurch. Hat man diese Gesinnung, dann bringt man dies auch zustande. Die sich ausbreitende, über die Erziehung sich ergießende Liebe bringt es zustande. Aber diese Gesinnung muß vorhanden sein.

Damit wollte ich heute nur, wie zur Begrüßung der verehrten Zu­hörer, andeuten, was der Inhalt dieser Vorträge sein soll, die handeln sollen von dem pädagogischen Wert der Menschenerkenntnis und von dem Kulturwert der Pädagogik.

23

ZWEITER VORTRAG Arnheim, 18. Juli 1924

Über die Befruchtung der pädagogischen Kunst durch Menschenerkenntnis möchte ich in diesem Kursus zunächst sprechen, und so möchte ich die Sache gestalten - ich habe es gestern im einleitenden Vortrage schon angedeutet -, daß ich zunächst zeigen möchte, wie An­throposophie praktisch werden kann in wirklicher Menschenerkennt­nis, jetzt nicht etwa bloß in der Erkenntnis des Kindes, sondern in der Erkenntnis des ganzen Menschen; wie Anthroposophie dann gerade dadurch, daß sie den ganzen Menschen, das heißt das ganze mensch­liche Leben von der Geburt bis zum Tode, insofern es sich auf der Erde abspielt, kennenlernt, wie sie gerade dadurch auch in richtiger Art auf jene Notwendigkeiten hinweisen kann, die für die Erziehung und den Unterricht des Kindes bestehen.

Man denkt ja sehr leicht, daß man das Kind unterrichten und er­ziehen könne, wenn man nur dasjenige Leben zunächst beobachtet, das im kindlichen oder jugendlichen Alter abläuft. Aber das genügt nicht. Sondern geradeso wie bei der Pflanze, wenn Sie dem Keim irgendwie eine Substanz einpflanzen, dies sich in der Blütenbildung oder in der Frucht zeigt, so ist es auch im menschlichen Leben. Was in frühester Kindheit dem menschlichen Leben eingepflanzt wird, aus dem kind­lichen Leben herausgeholt wird, das zeigt sich zuweilen im spätesten Lebensalter erst; und man weiß oftmals nicht, wenn der Mensch fünf­zigjährig irgendwie in Krankheit, in Bresthaftigkeit verfällt, daß dies seine Ursache hat in einer falschen Erziehung oder in einem falschen Unterricht im 7., 8. Lebensjahr. Man geht ja heute so vor, daß man das Kind studiert - wenn auch nicht in so äußerlicher Weise, wie es gestern gesagt worden ist -, um das herauszufinden, was man um das Kind herum helfend macht. Das genügt nicht. Und so möchte ich heute Grundlagen schaffen, um darauf hinzuweisen, wie das ganze mensch­liche Leben geisteswissenschaftlich beobachtet werden kann.

Der Mensch solle beobachtet werden nach Leib, Seele und Geist, sagte ich schon gestern. Und in dem öffentlichen Vortrage deutete ich

24

gestern an, wie erst das erste Übersinnliche im Menschen, ein höherer Mensch im Menschen, das Dauernde ist, das von der Geburt bis zum Tode geht, während der äußere physische Leib fortwährend ausgewech­selt wird. Nun handelt es sich eben darum, dieses menschliche Leben auch so kennenzulernen, daß man sieht: auf der Erde spielt sich das ab, was sich aus dem vorirdischen Leben heraus entwickelt. Wir haben ja in uns nicht bloß dasjenige Seelische, das mit der Geburt oder mit der Empfängnis begonnen hat, wir tragen in uns das vorirdische Seelische, ja, wir tragen in uns die Ergebnisse längst verlaufener Erdenleben. Das alles wirkt und lebt und webt in uns, und wir müssen während des irdischen Lebens das vorbereiten, was dann durch die Pforte des Todes geht und nach dem Tode wieder draußen leben wird in der geistig-seelischen Welt. Wir müssen also begreifen, wie in dem irdischen Leben das Überirdische arbeitet. Denn das ist ja zwischen Geburt und Tod doch auch vorhanden; es arbeitet nur verborgen in dem Leiblichen drinnen, und man versteht das Leibliche nicht, wenn man nicht das im Leiblichen wirkende Geistige versteht.

Gehen wir nun einmal davon aus, das, was ich jetzt angedeutet habe, an konkreten Beispielen zu studieren: Menschenkenntnis, wie sie sich ergibt aus der Betrachtungsart, die in der anthroposophischen Literatur niedergelegt ist, wie zum Beispiel in meinem Buche «Theosophie», in der «Geheimwissenschaft im Umriß» oder in «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?». Gehen wir aus von dem, was man für eine wirkliche, konkrete Menschenerkenntnis gewinnen kann, wenn man das zugrunde legt, was eben Anthroposophie im allgemeinen über den Menschen und die Welt erkennen läßt. - Zwei Beispiele möchte ich da einmal voranstellen, die auch hier jedem wohlbekannt sein werden. Ich stelle sie aus dem Grunde voraus, weil für mich das Studium dieser zwei Persönlichkeiten, von denen ich ausgehen will, durch viele Jahre hindurch eine eingehende Beschäftigung gebildet hat. Ich nehme zwei geniale Persönlichkeiten; wir werden dann zu weniger genialen her-untersteigen. Wir werden daran sehen, wie Anthroposophie nicht nur im allgemeinen abstrakt herumredet, sondern imstande ist, auf kon­krete Menschenwesen einzugehen und sie kennenzulernen, so daß Men­schenerkenntnis sich zeigt als etwas, was wirklich im praktischen Leben

25

drinnensteht. Ich wähle die beiden Beispiele: Goethe, Schiller, und möchte auf dem Umwege durch Goethe und Schiller zeigen, wie sich unter dem Einfluß von Geisteswissenschaft Menschenerkenntnis ergibt.

Betrachten wir einmal Goethe und Schiller äußerlich, ihrem Lebens-laufe nach, aber gehen wir auf die ganze Persönlichkeit aus. Wir haben Goethe in merkwürdiger Weise ins Leben hereintretend: er wurde ganz schwarz geboren, das heißt dunkelblau. Also er zeigte zunächst, daß er mit seinem Geistig-Seelischen außerordentlich schwer untertauchen konnte in das Physisch-Leibliche. Aber wiederum, als Goethe einmal untergestaucht war, als er dieses spröde physisch-leibliche Material in Anspruch genommen hatte, da war er auch ganz drinnen. Man kann sich eigentlich auf der einen Seite kaum eine gesündere Natur denken als die des Goethe-Knaben. Goethe ist unglaublich gesund. Er ist so gesund, daß seine Erzieher schon mit ihm einige Schwierigkeiten haben. Denn Kinder, mit denen man keine Schwierigkeiten hat, die sind in der Regel nicht die allergesündesten im späteren Alter. Kinder dagegen, die den Erziehern etwas unbequem werden, das sind die, welche dann später im Leben die mehr brauchbaren, weil die energischeren Naturen sind. Daher wird der verständige Erzieher es schon ganz gern haben, wenn ihm die Kinder auch etwas auf die Finger schauen. Und Goethe war von frühester Kindheit an durchaus geneigt, seinen Erziehern auf die Finger zu schauen, sogar bis zur Wörtlichkeit hin: er guckte beim Klavierspiel die Finger des Spielers ab und nannte dann den einen Finger den «Däumerling», den andern «Deuterling» und so weiter. Aber nicht nur in diesem äußerlichen Sinne schaute er seinen Erziehern auf die Finger, sondern er war eigentlich schon «hell» als Knabe, und die Erzieher hatten es daher manchmal schwierig. Später hat er ja in Leipzig eine schwere Krankheit durchgemacht. Aber mit Bezug darauf muß man sagen, es war dazu schon einiges von Strapazen, man kann auch sagen von kleinen Lumpereien notwendig, um die Gesundheit, die Goethe in sich trug, bis zu dem Grade ins Kranke hinüberzugestal­ten, wie dies gerade damals in Leipzig der Fall war. Dann aber sehen wir wieder, wie Goethe stramm sein ganzes Leben hindurch ein ge­sunder, aber ein außerordentlich sensitiver Mensch ist, wie er alles einzelne,

26

was da ist, intensiv auf sich wirken lassen kann, wie es aber nicht sehr tief in den Organismus heruntergreift; er wird nicht gleich herz­krank, wenn er ein erschütterndes Ereignis verspürt, aber er verspürt dieses erschütternde Ereignis mit aller denkbaren Seelenschärfe. Und so sein ganzes Leben hindurch. Er leidet seelisch, ohne daß das seelische Leid ihn gleich in eine äußere Krankheit bringt. Das heißt, seine äußere Gesundheit ist außerordentlich fest.

Dann weiter, Goethe muß schon geradezu herausfordern, eine Be­trachtungsweise anzuwenden, die nicht gleich ins Mystische geistig ver­schwimmt, weil man immer nur sagt: Ach, es kommt nicht darauf an, die äußere physische Gestalt ins Auge zu fassen; das ist niedrig, man muß das Geistige ins Auge fassen! - Sondern bei einem so gesunden Menschen wie Goethe, ist das Geistige und das Physische eines; das Geistige wirkt durch das Physische. Und nur der erkennt eine solche Persönlichkeit, der imstande ist, das Geistige durch das Bild des Phy­sischen hindurch zu schauen.

Goethe war eine sogenannte Sitzgröße. Wenn er saß, kam er einem groß vor; wenn er stand, sah man, daß er kurze Beine hatte. Das ist etwas Eigentümliches, was für den, der nun den Menschen nach seiner Einheitlichkeit beachten kann, besonders wichtig ist. Warum hatte Goethe kurze Beine? Die kurzen Beine bedingen einen besonderen Gang; er ging in kurzen Schritten, die, weil der Oberkörper schwer war-er war schwer und lang-, allerdings fest auf die Erde gesetzt wur­den. Wir müssen das beobachten, damit wir es als Erzieher bei Kindern gut studieren können. - Was heißt das, es hat ein Mensch kurze Beine und einen übergroßen Oberkörper? Das heißt: Wir haben bei einem solchen Menschen in der äußeren Erscheinung gegeben, daß er das, was er in einem vorigen Erdenleben durchlebt hat, auf eine harmonische Weise karmisch in dem gegenwärtigen Erdenleben, das heißt in dem, von dem man spricht, zur Darstellung bringen kann.

Goethe war auch in dieser Beziehung außerordentlich harmonisch, daß er alles, was in seinem Karma lag, ausgestalten konnte bis ins höchste Lebensalter hin. Er wurde ja so alt, weil er alles, was in ihm karmisch veranlagt war, wirklich herausbringen konnte. Man hat bei Goethe, der, nachdem er den Leib verlassen hatte, eben diesem Leibe

27

nach noch so wunderschön war, daß ihn alle im Tode bewunderten, man hat bei ihm den Eindruck: Da hat sich eigentlich alles ausgelebt, was karmisch veranlagt war; da ist eigentlich nichts geblieben, und Goethe muß neu anfangen, wenn er wieder in einem Erdenleben er­scheint, unter ganz neuen Bedingungen. Das alles drückt sich gerade in einem so gestalteten Körper aus, wie ihn Goethe hatte. Denn das, was der Mensch aus einem vorigen Erdenleben veranlagt hat, kommt zunächst als Ursache in der Kopfbildung zum Vorschein. Nun hatte Goethe von Jugend auf diesen wunderschönen Apollo-Kopf, der nur die harmonischen Kräfte in die Körperlichkeit hineingoß. Er hatte aber dies sen von der Last des Oberleibes beeindruckten Körper mit den zu kurzen Beinen, so daß er diesen Gang wieder hatte, der in seinem ganzen Lebenswandel zum Vorschein kommen konnte. Dieser ganze Mensch war karmische Voraussetzung und karmische Erfüllung im wunderbar Harmonischen. Alles einzelne, was man im Goethe-Leben hat, spricht ja das aus.

Bei einem solchen Menschen, der so harmonisch im Leben drinnen-steht und so alt wird, muß ja nun die Mitte des Erdenlebens ganz be­sonders hervorragende Erlebnisse aufweisen. Goethe ist 1749 geboren, 1832 gestorben; er ist also etwa 83 Jahre alt geworden. Wir haben also sein mittleres Lebensalter etwa im 41 Jahre, das heißt um das Jahr 1790. Nehmen Sie nun die Zeit von 1790 bis 1800, so ist dies das mittelste Jahrzehnt, das Goethe erlebt hat. In diesem Jahrzehnt, vor 1800, hat Goethe tatsächlich die wichtigsten Lebensereignisse durchgemacht. Vorher könnte er in den wichtigen Lebens- und wissenschaftlichen An­schauungen nicht irgendwie zu einem Abschluß kommen. Die «Meta­morphose der Pflanzen» wird 1790 erst veröffentlicht; alles was sich daran anschließt, schließt sich in diesem Jahrzehnt, von 1790 bis 1800, daran an. Goethe war 1790 mit seinem «Faust» so wenig fertig, daß er ihn als Fragment herausgab; er glaubte überhaupt nicht, mit ihm fertig­zuwerden. In diesem Jahrzehnt faßt er unter dem Einfluß von Schillers Freundschaft die kühne Idee, diesen «Faust» weiterzuführen. Die gro­ßen Szenen, der Prolog im Himmel und so weiter kommen hier zum Ausdruck. - Also wir haben es bei ihm zu tun mit einem außerordent­lich harmonischen Leben, und mit einem Leben, das in Ruhe verläuft,

28

das durch nichts gestört wird von innen heraus, sondern das sich frei und sinnig der Außenwelt hingeben kann.

Betrachten wir dagegen Schillers Leben. Schiller wird von vorn­herein in einen Lebenszusammenhang hineingestellt, der eine fortwäh­rende Disharmonie zeigt zwischen seinem Seelisch-Geistigen und seinem Körperlich-Physischen. Schiller hat durchaus nicht die harmonische Köpfbildung wie Goethe. Er ist eigentlich häßlich, nur geistvoll häß­lich, aber doch eigentlich häßlich. Aber es liegt eine starke, persönlich-kraftvolle Haltung auch in seiner Physiognomie, was ja insbesondere in der Nasenbildung zum Ausdruck kommt. Schiller ist nicht eine Sitz-größe, sondern er hat lange Beine. Alles dagegen, was zwischen Kopf und Gliedmaßen liegt, worin die Ursachen der Zirkulation und der Atmung liegen, ist bei ihm wirklich krank, kümmerlich von Anfang an ausgebildet, und er leidet sein ganzes Leben hindurch, zuerst mit größe­ren Pausen, dann aber fast unaufhörlich an Krämpfen. Diese Krämpfe werden später so stark, daß er sich nicht zu irgendeiner Mahlzeit ein­laden lassen kann, sondern daß er, als er zum Beispiel einmal nach Ber­lin kommt, sich ausbedingt, man solle ihn für den ganzen Tag einladen, so daß er sich die Zeit aussuchen könne, in der er dann frei von Krämp­fen sei. Das alles rührt her von einem mangelhaft ausgebildeten Zirku­latiöns- und Atmungsgebiet.

Da entsteht die Frage: Was liegt karmisch bei einem Menschen aus früheren Erdenleben her vor, der in dieser Weise an Krämpfen leiden muß? - Krämpfe sind, wenn sie ins menschliche Leben eingreifen, un­gemein stark hinweisend auf das menschliche Karma. Wenn man vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus mit ernster,verantwortlicher wissenschaftlicher Untersuchung an Krampferscheinungen herangeht, so findet man immer, da liegt beim Menschen ein bestimmtes Karina vor, Ergebnisse von Taten, Gedanken und Gefühlen früherer Erden­leben. Jetzt hat man den Menschen im gegenwärtigen Leben vor sich. Nun kann zweierlei eintreten. Entweder es geht so harmonisch zu wie bei Goethe, daß man sich sagt: Da ist das Karma, da kommt alles zum Vorschein, was karmisches Ergebnis ist. - Es kann aber auch das andere eintreten, es kann der Mensch durch besondere Bedingungen, die sich für ihn beim Herabsteigen aus der geistigen Welt in die physische

29

ergeben, in die Lage kommen, daß er das, was karmisch auf ihm lastet, nicht immer ganz ausleben kann. Der Mensch kommt aus der geistigen Welt mit bestimmten karmischen Voraussetzungen herunter; er trägt sie in sich. Nehmen wir an, bei A wäre für einen Menschen eine

#Bild s. 29

Stelle, wo er in einem bestimmten Zeitpunkte seines Lebens sein Karma irgendwie verwirklichen sollte; aber durch irgend etwas geht es nicht. Dann setzt er sozusagen mit Bezug auf die Verwirklichung seines Kar­ma aus, und es muß eine kürzere Zeit verfließen, wo sein Karma aus­setzt; er muß dies dann für das nächste Erdenleben verschieben. Dann geht es so weiter. Wieder kommt eine Stelle, bei B, wo er etwas von seinem Karma verwirklichen sollte; aber er muß wiederum aussetzen, muß wiederum etwas von seinem Karma auf das nächste Erdenleben verschieben. Immer nun, wenn man nötig hat, so sein Karma auszu­setzen, entstehen krampfartige Erscheinungen im Leben. Man kann etwas, was man im Inneren trägt, nicht ganz herausbilden in sein Le­ben. - Das ist eben die Eigentümlichkeit der Geisteswissenschaft, daß sie nicht im Phantastischen herumschwimmt, nur so im Allgemeinen herumredet, der Mensch habe die vier Wesensglieder: physischer Leib, ätherischer Leib, astralischer Leib und Ich, sondern daß sie eingeht auf das wirkliche Leben und hinweisen kann auf etwas im physischen Le­ben, wo die wirklichen geistigen Ursachen für irgendwelche äußeren Ereignisse liegen, so daß sie weiß, wie der Mensch im äußeren Leben sich darlebt. Das ist das, was wirkliche Geisteswissenschaft eben kön­nen muß.

Es entstand nun für mich die Frage: Wie wirkt Karma in einem sol­chen Leben wie dem Schillerschen als der Ausgestalter des ganzen Le­bens, wenn eben solche Bedingungen vorliegen wie bei ihm, daß das Karma nicht heraus kann, daß er fortwährend Anstrengungen machen muß, um das zu erreichen, was er erreichen will? Goethe hat es im

30

Grunde genommen leicht, seine großen Schöpfungen zu vollbringen; denn die sind das Ergebnis seines Karma. Schiller hat es immer schwer, seine großen Schöpfungen zustande zu bringen; er muß gegen das Kar­ma anstürmen, und die Art, wie er anstürmt, wird sich erst wieder im folgenden Erdenleben ausleben. Da mußte ich mir eines Tages die Frage vorlegen: Wie hängt gerade ein solches Leben, wie das Schillersche, mit den allgemeinen Lebensbedingungen zusammen? - Wenn man leicht­fertig an die Beantwortung einer solchen Frage geht, kommt auch bei ernster geisteswissenschaftlicher Untersuchung nichts Besonderes her­aus; spintisieren darf man da nicht, man muß beobachten. Aber wenn man gleich an das erste Objekt der Beobachtung herangeht, wird man irgendwie daneben vorbeigehen. Daher legte ich mir die Frage folgen-dermaßen vor: Wie spielt sich ein Leben ab, wenn Hindernisse für das Karma oder für andere, vorirdische Bedingungen da sind?

Nun studierte ich Menschen daraufhin, wie sich so etwas verwirk­licht, und ich will dafür jetzt ein Beispiel anführen. Ich könnte viele solcher Beispiele anführen, will aber jetzt eines nehmen, das ich ganz genau beschreiben kann. Ich hatte einen Bekannten, eine Persönlich­keit, die ich ganz genau ihrem gegenwärtigen Erdenleben nach kannte. Ich konnte konstatieren, wie in seinem Leben Hindernisse nicht vor­handen waren mit Bezug auf die Auslebung des Karma, sondern mit Bezug auf das, was sich abspielt im Dasein zwischen Tod und neuer Geburt, was sich also für diese Persönlichkeit im übersinnlichen Leben abgespielt hat zwischen dem letzten Erdenleben und diesem, in wel­chem ich sie kennenlernen konnte. Es waren also in diesem Falle nicht so, wie bei Schiller, Hindernisse da für das Ausleben des Karma, son­dern Hindernisse für das richtige In-den-Körper-Hineinbringen dessen, was er durchlebt hatte zwischen Tod und neuer Geburt, das heißt in der übersinnlichen Welt. Man sah diesem Menschen an, er hat Bedeut­sames erlebt zwischen Tod und neuer Geburt, aber er kann es nicht her­ausbringen. Er hatte sich hineingestellt in karmische Menschenzusam­menhänge, hatte sich hineingestellt in ein Zeitalter, wo das nicht her­auskommen kann, was er zwischen Tod und Empfängnis sozusagen angehäuft hatte an innerer Seelenhaftigkeit. Und worin zeigten sich die physischen Begleiterscheinungen für dieses Nicht-herausbringen-Können

31

des im Menschen vorhandenen Übersinnlichen? Sie zeigten sich darin, daß diese Persönlichkeit ein Stotterer war, daß sie Sprach­störungen hatte. Wenn man nun weitergeht und die seelisch-organi­schen Ursachen für Sprachstörungen untersucht, dann findet man immer, daß ein Hindernis da ist, das zwischen Tod und neuer Geburt erlebte Übersinnliche in die physische Welt durch die Körperlichkeit herunterzutragen. Nun muß man sich fragen: Was liegt bei einer sol­chen Persönlichkeit vor, die also sehr viel in sich hat, allerdings auch durch ihr vörheriges Karma, aber - aufgespeichert ist es worden im Dasein zwischen Tod und neuer Geburt - die das Aufgespeicherte nicht herunterbringen kann, und bei der sich dieses Nicht-herunterbringen-Können im Stottern zeigt? Was sind mit einer solchen Persönlichkeit hier im Leben für Dinge verknüpft?

Man konnte sich immer wieder sagen: Dieser Mann hat in sich aller­lei Großes, das er im vorirdischen Leben erworben hat, aber er kann es nicht herunterbringen. - Er konnte gut das herunterbringen, was man herausbringen kann in der Gestaltung des physischen Leibes bis zum Zahnwechsel, könnte sogar außerordentlich gut das aus sich heraus­bringen, was man dann vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife her-ausbringt; er wurde dann eine ausgezeichnete literarisch-künstlerische Persönlichkeit, indem er dasjenige herausgestaltete, was man heraus-gestalten kann zwischen der Geschlechtsreife und dem 30. Lebensjahr. Aber nun kam für den, der nun wirkliche Menschenerkenntnis erwer­ben kann, die größe Sorge: Wie soll es mit dieser Persönlichkeit werden, wenn sie nun in die Dreißigerjahre kommt und dann immer mehr und mehr zu der Verstandes- oder Gemütsseele die Bewußtseinsseele heraus-bilden soll? Wer in dieser Richtung Erkenntnisse hat, bekommt in sol­chem Falle die größte Sorge, denn er kann sich nicht denken, daß die Bewußtseinsseele, zu deren Ausbildung man alles, was im Kopfe ent­springt, vollständig intakt haben muß, voll herauskommen kann. Denn, daß bei dieser Persönlichkeit nicht alles im Kopfe gerade intakt war, das zeigte sich im Stottern. Und dieser Mann war zunächst äußerlich, mit Ausnahme seines Stötterns, kerngesund. Aber daß außer dem Stot­tern im Köpfe nicht alles intakt war, das zeigte sich darin, daß er außer Stöttern noch Schielen hatte - wiederum ein Anzeichen dafür, daß man

32

nicht alles, was man zwischen Tod und neuer Geburt im Überirdischen aufgenommen hat, im gegenwärtigen Erdenleben herausbringen kann. -Eines Tages kam nun dieser Mann zu mir und sagte: Ich habe mir vor­genommen, mein Schielen operieren zu lassen. - Ich war nicht befugt, etwas anderes zu sagen als: Ich würde es nicht tun, wenn ich an seiner Stelle wäre. - Ich tat alles, um ihm abzureden. So genau wie heute sah ich damals in die Verhältnisse nicht hinein; 4enn das, was ich jetzt er­zähle, liegt mehr als 20 Jahre zurück. Aber ich hatte große Sorge wegen dieser Operation. Nun, er ließ sich doch operieren, er folgte eben nicht. Und siehe da, schnell nach der Operation, die an sich, wie man es bei Operationen sehr häufig hat, außerordentlich gut verlief, kam er in voller Freude zu mir und sagte: Jetzt werde ich nicht mehr schielen! -Ein bißchen eitel war er ja auch, wie manche bedeutende Persönlich--keit. Aber ich hatte meine große Sorge. Und nur nach Tagen starb der Mann, nachdem er das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Die Ärzte dia­gnostizierten Typhus, aber es war gar nichts von Typhus vorhanden, sondern er starb an einer Hirnhautentzündung.

Wer Geistesförscher ist, der braucht, wenn er ein solches Leben be­trachtet, gewiß nicht herzlos zu werden; im Gegenteil, die menschliche Anteilnahme wird noch mehr vertieft. Aber man durchschaut auch zu­gleich das Leben nach seinen großen Zusammenhängen. Man durch­schaut, wie das, was von geistig Erlebtem zwischen Tod und neuer Geburt im gegenwärtigen Leben nicht herunterkömmen kann, sich in körperlichen Mängeln zum Ausdruck bringt. Wenn nun nicht in der richtigen Weise, wie es ja in diesem Falle nicht sein könnte, eine Er­ziehung eingreift, kann natürlich ein bestimmter Lebenspunkt gar nicht überschritten werden. Glauben Sie aber nicht, daß ich etwa behaupte: Jeder der schielt, muß im 30. Jahre sterben - negative Instanzen sind nie gemeint, sondern es kann karmisch wieder etwas eintreten, was den Betreffenden bis ins höchste Alter leben läßt. Aber hier war es so, daß durch die Inanspruchnahme des Kopfes diese eigentümliche Organisa­tion, die in Schielen und Stöttern zum Ausdruck kam, Sorge machte:

Wie kommt diese Organisation über das 35. Lebensjahr hinweg? - Und nun ist da der Zeitpunkt, wo man zurückschauen muß auf das Karma des Menschen und da werden Sie gleich sehen, daß es nicht nötig ist,

33

daß jemand, der schielt, im 30. Jahre stirbt. Denn wenn wir einen Men­schen haben, der sich im vorirdischen Leben so vorbereitet hat, daß er sehr viel aufgenommen hat zwischen Tod und neuer Geburt, aber das Aufgenommene nicht herunterbringen kann in das physische Leben, und betrachten wir bei ihm das Karma ganz, so finden wir, daß diese betreffende Persönlichkeit ganz gut hätte nach dem 35. Jahre fortleben können, aber sie hätte dann zu allen andern Bedingungen den Impuls in sich tragen müssen, zu einer spirituellen Lebens- und Weltanschau­ung zu kommen. Denn dieser Mann war wie selten einer veranlagt für Spirituelles; aber er konnte wiederum, weil die starken geistigen Im­pulse, die aus früheren Erdenleben da waren, doch einseitige waren, nicht zum Spirituellen kommen.

Sie können versichert sein, daß ich über eine solche Sache reden kann. Ich war mit diesem Manne sehr befreundet und wußte daher, welcher Abgrund zwischen meiner eigenen Weltanschauung und der seinigen bestand. Man könnte sich intellektuell sehr gut mit ihm ver­ständigen, könnte sich auch gemütlich verständigen; aber man konnte nicht etwas an ihn heranbringen, was spirituell ist. Und weil er mit dem 35.Jahre hätte zu einem spirituellen Leben übergehen müssen, wenn das, was bis zum 35.Jahre veranlagt war, auf der Erde hätte möglich sein sollen, er aber zu einem spirituellen Leben nicht kam, so starb er da. Also man kann ganz gut schielen und stottern, und kann doch fortleben, wenn man also als ein gewöhnlicher Erdenmensch fort­zuleben vermag. Man darf nicht erschrecken über die Dinge, die schon einmal gesagt werden müssen, wenn man nicht in Phrasen aufgehen, sondern Realitäten schildern will. Aber an diesem Beispiele können Sie sehen, wie einen der geistig geschärfte Blick hineinschauen läßt in das menschliche Leben.

Und jetzt gehen wir zu Schiller zurück. Wenn wir das Schillersche Leben betrachten, so stellen sich vor allen Dingen zwei Erscheinungen in dieses Leben hinein, die ganz merkwürdig sind. Es gibt von Schiller ein unvollendetes, bloß entworfenes Drama, die «Malteser». Man sieht dem Konzept, dem Entwurf, der da ist, an: hätte Schiller diese «Malteser» zur Ausführung bringen wollen, dann hätte er unbedingt dieses Drama nur als Eingeweihter, als Initiierter schreiben können.

34

Es wäre gar nicht anders gegangen. Er trug, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, die Bedingungen zur Initiation in sich. Aber was er so in sich trug, das konnte wegen seines andern Karma nicht herauskom­men; es verkrampfte sich, verkrampfte sich auch seelisch. Denn dem «Malteser»-Entwurf ist schon das Krampfhafte anzusehen: große, gewaltige Sätze, die überall nicht bis zum Punkt führen. Es kann nicht heraus, was in ihm ist. - Es ist nun interessant, auch bei Goethe haben wir solche Entwürfe; aber man sieht überall, wo Goethe etwas liegen läßt, da ist er zu bequem, er könnte schon weiter. Nur im höchsten Alter, als schon die Sklerose etwas auftrat, konnte er es nicht. Bei Schiller aber haben wir ein anderes Bild: es ist der eiserne Wille vor­handen, als er die «Malteser» entwirft, vorwärtszukommen; aber er kann nicht. Er kommt nur bis zu einem flüchtigen Entwurf. Denn die «Malteser», in Wirklichkeit gesehen, enthalten ja das, was von den Kreuzzügen her bewahrt worden ist an allerlei Okkultem, an Mysti­schem und an Initiationswissenschaft. Und an ein solches Drama, zu dessen Fertigstellung man die Erlebnisse der Initiation hätte wirklich in sich tragen müssen, geht Schiller heran. Wahrhaftig, ein Lebens-schicksal, das den, der die Sache durchschaut, ungemein tief berührt und in die ganze Wesenheit dieses Menschen hineinschauen läßt. Und seit bekanntgeworden war, daß Schiller so etwas im Sinne hatte wie die «Malteser», seit der Zeit vermehrte sich die Gegnerschaft in Deutsch­land gegen ihn außerordentlich. Man fürchtete sich vor ihm. Man fürchtete, daß er allerlei an okkulten Geheimnissen in seinen Dramen verraten könne.

Die zweite Erscheinung, von der ich sprechen will, ist die folgende. Die «Malteser» bekommt er nicht fertig, kann nicht mit ihnen zu­rechtkommen. Er läßt Zeit vergehen, dichtet an allerlei Dingen, die gewiß bewundernswert sind, aber die auch schon bewundert werden können vom Philisterium. Die «Malteser», wenn er sie hätte aus­führen können, wären etwas geworden für Menschen von höchstem geistigem Schwung! Er muß sie liegen lassen. Nach einiger Zeit tritt in ihm wiederum das auf, was den Impuls zu dem Späteren gegeben hat. An die «Malteser» kann er nicht wieder denken. Aber er beginnt, an seinem «Demetrius» zu dichten: ein merkwürdiges Schicksalsproblem,

35

das vom falschen Demetrius, der an die Stelle eines andern getreten ist. Alle die Schicksalskonflikte, die da eintreten, wie aus den verborgen­sten Ursachen heraus, mit allen menschlichen Emotionen, mußten in dieses Drama hineinkommen, wenn es fertig würde. Schiller schreibt daran in einer geradezu fieberhaften Art. Es wird bekannt - und noch größere Furcht haben die Menschen davor, daß nun Dinge zum Vor­schein kommen könnten, an denen viele ein Interesse hatten, daß sie eine Weile noch der Menschheit verborgen bleiben.

Und nun treten im Leben Schillers Erscheinungen ein, die derjenige, der sich auf solche Dinge versteht, nicht als etwas auch im Krankhaft-Normalen allein Begründetes ersehen kann. Man hat ein merkwür­diges Krankheitsbild bei Schiller. Es tritt das Gewaltige ein - gewaltig nicht im Sinne der Größe, sondern im Sinne des Erschütternden: Schiller wird über seinem «Demetrius» krank; er spricht auf seinem Kranken-lager fortwährend fast den ganzen «Demetrius» im hochgradigen Fie­ber heraus. Es wirkt etwas in Schiller wie eine fremde Macht, die sich durch den Körper ausdrückt. Man braucht selbstverständlich nieman­den anzuklagen. Aber man kann nicht anders - trotz alledem, was nach dieser Richtung geschrieben worden ist -, als aus dem Krankheits-bilde die Vorstellung zu haben, da ist auf irgendeine, wenn auch ganz okkulte Weise mitgeholfen worden an dem schnellen Sterben Schillers! Und daß Menschen eine Ahnung haben konnten, daß da mitgeholfen worden ist, das geht daraus hervor, wie Goethe, der nichts machen konnte, aber manches ahnte, in den letzten Tagen gar nicht wagte, den unmittelbar persönlichen Anteil - auch nicht nach dem Tode - zu nehmen, den er an dem wirklichen Hingange Schillers seinem Herzen nach wahrhaftig genommen hat. Er getraute sich nicht herauszugehen mit dem, was er in sich trug.

Damit will ich nur andeuten, wie Schiller für den, der solche Dinge durchschauen kann, ganz zweifellos dazu prädestiniert war, Hoch­spirituelles aus sich heraus hervorzubringen, daß aber,wie durch innere und äußere Ursachen, karmisch innerlich und karmisch äußerlich die Sache zurückgestaut worden ist. Ich darf schon sagen, für den Geistes-forscher bildet nichts ein so großes Interesse, als etwa folgendes Pro­blem sich zu stellen: zu studieren, was Schiller geleistet hat in den letzten

36

10 Jahren seines Lebens, von den «Ästhetischen Briefen» an, und dann zu verfolgen, wie dieses Leben nach dern Tode abgelaufen ist. Da gibt es, wenn man sich vertieft in diese Seele Schillers nach dern Tode, geistige Inspirationen in Hülle und Fülle aus der geistigen Welt heraus. Da haben wir den Grund, warum Schiller in der Mitte der Vierzigerjahre sterben mußte. Er konnte einfach, wie sich das in seinen Krämpfen und in seiner ganzen Statur zeigte, namentlich aber in der häßlich geformten Kopforganisation zeigte, er konnte mit seinem See­tisch-Geistigen, das tief drinnenstand im spirituellen Dasein, nicht in seine Körperlichkeit hinein.

Wenn wir uns solche Dinge vorhalten, müssen wir uns doch sagen:

Das Menschenleben wird schon in seiner Betrachtung vertieft, wenn man das anwendet, was Anthroposophie geben kann. - Man lernt hin­einschauen in das Menschenleben. Nichts anderes wollte ich, als Ihnen durch die Beispiele, die ich gebracht habe, anführen, wie man durch die Anthroposophie lernt, das menschliche Leben anzuschauen. Nehmen Sie aber jetzt die ganze Sache. Kann man nicht in seiner Seele vertieft werden für alles, was menschlich ist, dadurch, daß man einfach in einer solchen Weise auf einzelne Menschenleben hinsieht? Wenn sich der Mensch in einem bestimmten Zeitpunkte seines Lebens sagen kann: So stand es um Schiller, so um Goethe, so stand es mit irgendeinem Menschen, der früh verstorben ist, wie ich es Ihnen angeführt habe, -ja, wird das nicht in der Seele des Menschen so wirken können, daß man lernt, jedes Kind auch vertieft anzuschauen? Daß einem jedes Menschenleben ein heiliges Rätsel wird? Lernt man denn nicht mit viel größerer, mit viel innigerer Aufmerksamkeit auf jedes Menschenleben und Menschenwesen hinschauen? Und kann man nicht gerade dadurch, daß auf diese Weise Menschenerkenntnis in die Seele sich einschreibt, Menschenliebe in sich vertiefen? Und kann man denn nicht mit dieser Menschenliebe, die an der Menschenbetrachtung, an der innigen, tiefen Menschenbetrachtung, an dern Miterleben der innerst heiligen Rätsel der Menschenseele sich vertieft, gerade an eine Erzieheraufgabe heran-treten, wenn einem das Leben so heilig geworden ist? Wird sich nicht gerade dadurch der Erzieherberuf umwandeln lassen, nicht zum phra­senhaften, mystisch verträumten, wohl aber zum ganz wahrhaften

37

Priesterberuf, der dasteht, wenn die göttliche Gnade die Menschen her­unterschickt in das irdische Leben?

Auf die Entwickelung solcher Gefühle kommt es an! Das ist ja nicht das Wesentliche an der Anthroposophie, daß sie theoretisch lehrt: der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, es gibt ein Karma, es gibt wiederholte Erdenleben und so weiter. Man kann sehr gescheit sein, kann das alles wissen; doch Anthroposoph im wahren Sinne des Wortes ist man dadurch nicht, wenn man diese Dinge auf die gewöhnliche Art, wie den Inhalt eines Kochbuches, weiß. Dar­auf kommt es an, daß das menschliche Seelenleben ergriffen und ver­tieft werde durch die anthroposophische Weltanschauung, und daß man dann wirken lernt aus einem solchen ergriffenen und vertieften Seelenleben.

Daher kann die erste Aufgabe, die für die Pädagogik auf der Grund­lage der Anthroposophie erfüllt werden kann, diese sein, daß man zu­nächst darauf hinarbeitet, daß die Lehrer, die Erzieher im tiefsten Sinne Menschenerkenner seien, und daß sie, wenn sie diese Gesinnung nach rechter Menschenbeobachtung in sich aufgenommen haben, mit der Liebe, die aus dieser Gesinnung folgt, an das Kind herantreten. Daher ist das erste, was in einem Seminarkurs für im anthroposophi­schen Sinne wirken sollende Erzieher vorkommt, nicht, daß man sagt, du sollst es so oder so machen, sollst diesen oder jenen pädagogischen Handgriff anwenden, sondern das erste ist das Erwecken der pädago­gischen Gesinnung aus Menschenerkenntnis heraus. Hat man diese pädagogische Gesinnung aus Menschenerkenntnis bis zur rechten Päd­agogenliebe, bis zum Erwecken der Pädagogenliebe gebracht, dann kann man sagen, der Lehrer ist reif zum Erziehen, zum Unterrichten. Das erste, um was es sich bei einer auf Menschenerkenntnis begründeten Pädagogik handelt, wie es die Waldorfschul-Pädagogik zum Beispiel ist, das ist nicht, Regeln anzugeben, so oder so solle man erziehen, son­dern das erste ist, die Seminarkurse so zu halten, daß man die Herzen der Lehrer findet, daß man diese Herzen so weit vertieft, daß aus ihnen heraus die Liebe zum Kinde erwächst. Die glaubt ja ein jeder natürlich sich andiktieren zu können. Aber diese andiktierte Menschenliebe kann ja nichts leisten; sie könnte vielen guten Willen haben, aber kann nichts

38

leisten. Etwas leisten kann erst diejenige Menschenliebe, die aus einem vertieften Beobachten im Einzelfalle hervorgehen kann.

Wenn man das in sich trägt, das Erziehungswesen auf Menschen-erkenntnis bauen zu wollen - sei es, daß man es jetzt durch wirkliche Geisteswissenschaft kennt, oder sei es instinktiv, wie man es auch ken­nen kann -, dann wird man das Kind daraufhin anschauen, daß man sich fragt: Was entwickelt sich beim Kinde vorzugsweise bis zum Zahn-wechsel? - Denn bis zum Zahnwechsel ist das Kind ein ganz anderes Wesen als später, wenn man auf die Intimitäten des Menschen eingeht. Eine gewaltige innere Verwandlung macht das Menschenwesen mit dem Zahnwechsel durch, wieder eine gewaltige innere Verwandlung mit der Geschlechtsreife. Bedenken Sie nur, was der Zahnwechsel für den sich entwickelnden Menschen bedeutet. Der Zahnwechsel als sol­cher ist ja nur das äußere Zeichen für tiefe Veränderungen, die im gan­zen menschlichen Wesen vor sich gehen, aber Veränderungen, die nur einmal vor sich gehen, denn man bekommt nur einmal zweite Zähne, man bekommt sie nicht alle 7 Jahre. Mit dem Zahnwechsel ist dann die Zahnbildung abgeschlossen. Man muß dann seine Zähne das ganze Le­ben hindurch behalten, kann sie sich höchstens plombieren lassen oder durch falsche ersetzen, aber man bekommt sie nicht wieder aus dem Organismus heraus. Warum ist das? Das ist deshalb, weil gerade mit dem Zahnwechsel die Kopforganisation einen gewissen Abschluß er­langt. Durchschaut man das, fragt man sich in jedem einzelnen Falle:

Was erreicht denn da eigentlich mit dem Zahnwechsel seinen Ab­schluß? - so wird man, gerade von da ausgehend, dazu geführt, die ganze menschliche Organisation aufzufassen nach Leib, Seele und Geist. Und beobachtet man mit jenem in Liebe vertieften Blick, den man durch solche Menschenerkenntnis bekommt, wie ich es geschildert habe, das Kind bis zum Zahnwechsel hin, so sieht man: Dieses Kind bildet bis zum Zahnwechsel hin das Gehen aus, bildet das Sprechen aus und wei­ter das Denken. Das sind die drei Fähigkeiten, die bis zum Zahnwech­sel als die hervorragendsten ausgebildet werden.

Das Gehen ist ja nicht bloß gehen, das man lernt mit dem Gehen, denn das ist nur eine einzelne Erscheinung, sondern es ist das Sich-im­Gleichgewicht-Hineinstellen in die Welt; gehen ist nur die gröbste Erscheinung

39

dabei. Vorher ist man außer diesem Gleichgewicht, jetzt lernt man sich im Gleichgewichte in die Welt hineinstellen. Woher kommt das? Es kommt davon her, daß der Mensch mit einem Kopfe geboren wird, der eine ganz bestimmte Gleichgewichtslage verlangt. Dieses Geheimnis des menschlichen Kopfes tritt ja schon im Physischen sehr stark hervor. Denken Sie nur daran, daß ein menschliches Durch­schnittsgehirn zwischen 1200 bis 1500 Gramm schwer ist. Wenn aber ein solches Gewicht auf die feinen Adern, die an der Gehirnbasis sind, drücken würde, so würde es diese sogleich zerquetschen. Daß sie nicht zerquetscht werden, kommt davon her, daß dieses lastende Gehirn in Wahrheit im Gehirnwasser schwimmt, das unser Haupt ausfüllt. Nun werden Sie sich aus dem Physikunterricht erinnern, daß ein Körper, wenn er in einer Flüssigkeit schwimmt, so viel von seinem Gewicht verliert, als das Gewicht der von ihm verdrängten Flüssigkeit aus­macht. Wenden Sie das auf das Gehirn an, dann bekommen Sie heraus, daß unser Gehirn auf die Gehirnbasis nur mit einem Gewicht von etwa 20 Gramm drückt; das andere liegt im Gehirnwasser und wird ver­loren. Der Mensch wird also so geboren, daß sein Gehirn so gelagert sein muß, daß es in ein Gewicht kommt, wo gerade dieses Verhältnis zum verdrängten Gehirnwasser herauskommt. Dies richtet sich ein, während wir uns vom Kriechen zum Uns-Aufrichten orientieren. Der Kopf muß so lagern, wie wir es mit dem übrigen Organismus machen; Gehen und Greifen ist das, was vom Gehirn in einer bestimmten Lage vom Menschen gefordert wird. Es geht vom Gehirn aus das Ins-Gleich-gewicht-Kommen des Menschen.

Gehen wir weiter. Der Kopf des Menschen ist verhältnismäßig schon weit organisiert, wenn der Mensch geboren ist, denn während der Embryonalzeit ist der Kopf bis zu einem gewissen Grade ausgebil­det; fertig ist er erst mit dem Zahnwechsel. Was sich aber erst einrichtet während der Zeit bis zum Zahnwechsel, was eine besondere äußere Organisation sich erwirbt, das ist das rhythmische System des Men­schen. Würde man darüber mehr physische, physiologische Beobach­tungen anstellen, so würde man sehen, wie wichtig für die ersten 7Jahre die Einrichtung des Zirkulations- und Atmungssystems ist, was man vor allem dann verderben kann, wenn man nicht in der richtigen Weise

40

das körperliche Leben des Kindes entwickelt. Deshalb muß man in den ersten Lebensjahren damit rechnen: da ist etwas im Zirkulations- und Atmungssystem, das sich da erst in seine Gesetzmäßigkeiten hinein­bringt. Das Kind spürt unbewußt, wie da die Lebenskraft am Zirkula­tions- und Atmungssystem arbeitet. Und gerade so, wie sich ein Kör­perliches, das Gehirn, in die Gleichgewichtslage hineinbringen muß, so muß sich das Seelische einstellen auf diese Entwickelung des Atmungs-und Zirkulationssystems in den ersten Lebensjahren. Das Physische muß sich einstellen in der Erringung der Gleichgewichtslage vom Haupte aus; das Seelische, indem es sich in der richtigen Weise hinzu organisiert, muß sich einstellen zu der sich umwandelnden Zirkulation und Atmung. Und so wie im Zusammenhange mit dem, was im Gehirn zum Ausdruck kommt, der aufrechte Gang und die Orientierung mit den Händen und Armen zum Vorschein kommt, so kommt im Zusam­menhange mit der Einrichtung des Zirkulations- und Atmungssystems die Sprache beim Menschen heraus. Indem der Mensch sprechen lernt, richtet er sein Zirkulations- und Atmungssystem eben so ein, wie er sein Gehen und Greifen einrichtet, wenn er den Kopf so aufsetzen lernt, daß vom Gehirn in der richtigen Weise an Gewicht verloren wird. Schult man sich dafür, eignet man sich einen Blick für diese Zusammen­hänge an, und hat man dann einen Menschen vor sich, der so spricht, daß er bei gehobener Stimmlage besonders begabt erscheint für das Sprechen von Hymnen oder Oden, oder auch für Moralpaukenhalten, wo also eine gehobene Sprache vorliegt, so weiß man auch, daß das mit besonderen Bedingungen im Zirkulationssystem zusammenhängt. Oder wenn man bei einem Menschen sieht, wie er schon im Kindesalter mit rauher Stimme spricht, mit einer Stimme, wie wenn Messing mit Blech zusammengeschlagen wird, so weiß man wiederum, daß dies mit dern Atmungs- oder Zirkulationssystem zusammenhängt. Aber dabei bleibt es nicht allein. Indem man einem Kinde zuhören lernt, ob es eine har­monische, weich-sympathische Stimme oder eine schmetternde Stimme hat und dies zusammenhängen sieht mit den Lungenbewegungen, mit der Herzbewegung und Blutzirkulation - bis in die Finger- und Zehen­spitzen hinein den ganzen Menschen innerlich durchvibrierend, da sieht man in dem, was in seiner Sprache sich ausdrückt, zugleich Seelisches.

41

Da tritt sozusagen etwas auf wie ein höherer Mensch, der in diesem Bilde sich ausdrückt, das die Sprache zusammenfaßt mit den körper­lichen Vorgängen der Zirkulation und der Atmung. Und von da aus sieht man dann in das vorirdische Leben des Menschen hinauf, das be­herrscht ist von denjenigen Bedingungen, die wir uns zwischen dem Tode und unserer neuen Geburt angeeignet haben. Da spielt das hin­ein, was der Mensch im vorirdischen Dasein erlebt hat. Da lernt man erkennen, wenn man das Wesen des Menschen in wahrer Menschen-erkenntnis ergreifen soll, wie man sich das Ohr spirituell schulen muß für das Anhören der Kinderstimmen. Und man kann dann wissen, was man tun kann, um einem Kinde, das bei einer schmetternden Stimme uns verrät, daß es ein stockendes Karma hat, dazu zu verhelfen, daß dieses Karma herauskommen kann.

Daraus kann man sehen, was zur Erziehung notwendig ist: eben Menschenerkenntnis. Aber nicht bloß eine solche, die bloß davon redet:

der ist ein begabter Mensch, der ist ein guter, der ein schlechter Kerl, sondern eine solche, die am Menschenwesen verfolgt, was sich zum Bei­spiel geistig darlebt in der Sprache und es auch verfolgt bis in die phy­sische Körperlichkeit hinein, so daß man nicht ein abstraktes Geistiges schaut, sondern eines, das sich im physischen Bilde des Menschen zum Ausdruck bringt. Dann kann man auch als Erzieher eingreifen, kann nach Geist und Körper eingreifen und kann dern Physischen so zu Hilfe kommen, daß es eine richtige Grundlage für das Geistige abgeben kann. Und wenn man dann ein Kind sich von hinten anschaut und sieht, es hat kurze Beine, es lastet der Oberkörper zu schwer, es tritt stark auf - hat man sich für diese Dinge den richtigen Blick angeeignet, dann weiß man: Da spricht ja das vorherige Erdenleben, da spricht Karma! - Oder hat man einen Menschen, der so geht, wie zum Beispiel Johann Gottlieb Fichte, der deutsche Philosoph, gegangen ist, der nie­mals mit etwas anderem zuerst auftrat als mit den Fersen, und auch wenn er redete, redete er Worte, die gleichsam «mit den Fersen auf­traten», dann sieht man an einem solchen Menschen, wie Karma sich ausspricht.

So lernt man durch die geisteswissenschaftliche Beobachtung das Karma im Kinde kennen. Und das ist das Allerwichtigste, das man

42

durchschauen muß. Einzig und allein das hilft einem, daß man Men­schen, kindliche Körper und kindliche Seelen und kindliche Geister beobachten kann. So muß Menschenerkenntnis eingreifen in die Päd­agogik, aber solche Menschenerkenntnis, die seelisch und geistig ver­tieft ist.

Damit wollte ich jetzt für die Pädagogik eine Vorstellung von dem hervorrufen, was wir wollen, und was wirklich praktisch für die Er­ziehung herauskommen kann aus dem, was manche Menschen für so unpraktisch halten, daß sie es als eine Träumerei und Phantasterei an­sehen.

43

DRITTER VORTRAG Arnheim, 19. Juli 1924

Schon aus den Bemerkungen, die ich im Laufe der letzten zwei Tage hier gemacht habe, haben Sie entnehmen können, daß ein wesentlicher Unterschied vorhanden ist in der inneren Konstitution des mensch­lichen Wesens in den einzelnen Lebensaltern. Man beachtet dies ja durchaus auch heute nach den gegenwärtigen psychologischen, physio­logischen Anschauungen. Man hat diese Differenzierungen in den Le­bensaltern bis zum Zahnwechsel hin, dann bis zur Geschlechtsreife und wieder von der Geschlechtsreife bis in die Zwanzigerjahre hinein. Aber die Differenzierungen sind ja tiefergehende, als man heute schon ein­mal nach den gewöhnlichen, zwar vorzüglichen, aber nicht ausreichen­den Anschauungen gewinnen kann. Und es wird sich jetzt darum han­deln, diese Differenzierungen in den menschlichen Lebensaltern einmal von jenem Gesichtspunkte aus zu betrachten, den die Geisteswissen­schaft zutage fördert. Da wird Ihnen manches, was Ihnen bekannt ist, wieder erscheinen, allein, ich möchte sagen, in eine tiefere Betrachtung eben eingetaucht.

Wenn das Kind aus dem Embryonalzustand in die äußere Welt tritt, also, wenn wir ein außeres Merkmal nehmen wollen, herantritt an den äußeren Atmungsprozeß, dann ist es ja schon physiologisch zunächst darauf angewiesen, nicht unmittelbar von der äußeren Welt aufgenom­men zu werden; denn es bekommt naturgemäß die Muttermilch, also nicht schon Nahrungsmittel, die aus der äußeren Welt aufgenommen werden, sondern solche, die aus derselben Quelle herstammen, aus der das Kind selber stammt. Nun betrachtet man ja heute Substanzen, die einem in der Welt entgegentreten, mehr oder weniger nur nach ihren äußeren chemischen, physischen Eigenschaften, nicht nach den feineren Eigenschaften, die sie durch ihren geistigen Inhalt haben. Man betrach­tet ja heute alles in dieser Weise. Und mit einer solchen Betrachtungs­weise, die nicht abgekanzelt werden soll, sondern in ihrer Berechtigung durchaus anerkannt werden soll, ist man aber doch, weil man einmal das Äußere betrachten wollte, das in früheren Zivilisationen nicht so

44

betrachtet werden konnte, zu einer starken Veräußerlichung gekom­men. Man betrachtet heute alle Dinge so, daß man, wenn ich vergleichs-weise sprechen darf, sagt: Ich betrachte den Tod, das Sterben; es ster­ben die Pflanzen, es sterben die Tiere, es sterben die Menschen. - Aber es frägt sich doch, ob das Sterben, das Aufhören der einem zunächst entgegentretenden Lebensformen bei allen drei Arten von Lebewesen derselbe Vorgang ist oder ob er sich nur äußerlich so zeigt. Man kann den Vergleich gebrauchen: Wenn ich ein Messer habe, so ist es doch ein Unterschied, ob ich damit Speisen schneiden oder rasieren soll; immer ist es ein Messer, aber seine Eigenschaften als Messer müssen weiter differenziert werden. Solche Differenzierung wird heute für viele Dinge nicht gemacht. Es wird in bezug auf das Sterben nicht die Diffe­renzierung gemacht, ob als Pflanze, als Tier oder als Mensch.

Das tritt einem auch auf andern Gebieten entgegen. Es gibt Men­schen, die in einer gewissen Beziehung Naturphilosophen sein wollen und davon reden, indem sie durchaus idealistisch, sogar spirituell sein wollen: Auch Pflanzen können beseelt sein, können eine Seele haben. -Und sie untersuchen dann äußerlich die Merkmale an den Pflanzen, die dafür sprechen, daß Pflanzen etwas Seelisches haben. Sie betrach­ten solche Pflanzen, die, wenn Insekten in ihre Nähe kommen, gewis­sermaßen ihre Blätter öffnen, das Insekt fängt sich, indem es durch den Geruch dessen, was in der Pflanze ist, angezogen wird; dann klappen sie, wie zum Beispiel die Venus-Fliegenfalle, ihre Blätter zu, und das Insekt ist gefangen. Man betrachtet das als eine Art von Beseeltheit der Pflanzen. Ja, ich kenne noch eine andere Art von Wesen, das mit der­selben Art wirkt. Es wird irgendwo aufgestellt gefunden werden; wenn eine Maus in seine Nähe kommt, fühlt sie sich durch den Geruch irgend­welcher für sie schmackhafter Nahrungsmittel angezogen, beginnt da­von zu fressen, und - flugs! fällt die Sache zu: eine Mausefalle. Man könnte, wenn man dieselbe Denkoperation wie bei den Pflanzen vor­nimmt, von der Mausefalle sagen, sie sei beseelt.

Diese Art des Denkens, die man ja in gewisser Beziehung anerken­nen kann, führt aber nicht in gewisse Tiefen hinein, sondern bleibt doch mehr oder weniger am Oberflächlichen haften. Wenn man aber Menschenerkenntnis erringen will, muß man durchaus in die volle Tiefe

45

der Menschennatur eindringen. Dann muß man auch die Möglichkeit haben, auf das, was gegenüber einer äußerlichen Betrachtungsweise paradox erscheint, wirklich unbefangen hinschauen zu können. Dazu ist aber schon notwendig, einmal auf das hinzublicken, was die volle Menschenorganisation ausmacht.

Da haben wir zunächst im Menschen den eigentlichen physischen Organismus. Den hat der Mensch gemeinschaftlich mit allen Erden-wesen, vor allen Dingen mit den mineralischen Wesen. Dann aber haben wir im Menschen von dem physischen Organismus deutlich un­terschieden den ätherischen Organismus. Ihn hat der Mensch nicht mit den Mineralien gemeinschaftlich, sondern nur mit der Pflanzenwelt. Aber ein Wesen, das nur ätherischen Organismus hat, würde niemals zur Empfindung, zum inneren Bewußtsein kommen. Da hat der Mensch nun wieder - es sieht das wie eine äußerliche Gliederung aus, aber wir werden im Laufe der Vorträge sehen, wie innerlich das sein kann -seinen astralischen Organismus, den er mit der Tierwelt gemeinschaft­lich hat. Außerdem hat er noch seine Ich-Organisation, die sich in der Tierwelt nicht findet, und die ihm allein innerhalb der Erdenwesen eigen ist. Was man so betrachtet, ist aber keineswegs bloß ein äußeres Schema; das hat auch, wenn man zum Beispiel vom Äther- oder Lebens-leib spricht, nichts zu tun mit dem, was eine abgetane Naturwissen­schaft «Lebenskraft», «Vitalkraft» und so weiter nannte, sondern es ist ein Ergebnis von Beobachtungen. Denn wenn man das Kind bis zum Zahnwechsel betrachtet, so ist die Entwickelung des Kindes vorzugs­weise von seinem physischen Organismus abhängig. Der physische Or­ganismus muß sich zunächst der Außenwelt anpassen. Aber er kann es nicht gleich, er kann es nicht einmal im gröbsten physischen Sinne gleich. Er kann, weil er dasjenige in sich enthält, was der Mensch sich mitgebracht hat aus der geistigen Welt, in der er im vorirdischen Dasein war, nicht einmal gleich ohne weiteres die Stoffe der Außenwelt auf­nehmen; er muß sie in der Muttermilch vorbereitet aufnehmen. Er muß sozusagen bei dem bleiben, was ihm zunächst gleichartig ist. Er muß erst in die Außenwelt hineinwachsen. Und der Abschluß dieses Hinein­wachsens des physischen Organismus in die Außenwelt ist das Erschei­nen der zweiten Zähne um das 7. Lebensjahr herum. Das ist gewissermaßen

46

der Schlußpunkt des Hineinwachsens des physischen Organis­mus des Kindes in die Außenwelt.

Während dieser Zeit aber, in welcher die Organisation vorzugsweise auf die Herausgestaltung des Knochengerüstes gerichtet ist, hat das Kind Interesse nur für Gewisses in der Außenwelt, nicht für alles. Es hat nur Interesse für das, was man nennen kann: Gesten, Gebärden, Bewegungsverhältnisse. Nun müssen Sie bedenken, daß ja das Bewußt­sein des Kindes zuerst traumhaft, dämmerhaft ist, daß es ganz dumpf zuerst wahrnimmt, und erst allmählich lichtet sich das Wahrnehmungs-vermögen. Aber im wesentlichen bleibt es so, daß das Kind während der Zeit zwischen der Geburt und dem Zahnwechsel mit seiner Wahr­nehmung an allem haftet, was Gesten, Gebärden, Bewegungsverhält­nisse sind, und so daran haftet, daß es in dem Augenblick, wo es eine Bewegung wahrnimmt, den inneren Drang fühlt, sie nachzuahmen. Es besteht ein ganz bestimmtes Entwickelungsgesetz der menschlichen Natur, das ich in der folgenden Weise charakterisieren kann.

Indem der Mensch hereinwächst in die physisch-irdische Welt, ent­wickelt sich sein Inneres so, daß diese Entwickelung zunächst ausgeht von der Geste, von der Gebärde, von Bewegungsverhältnissen. Im Inneren des Organismus entwickelt sich aus den Bewegungsverhält-nissen heraus die Sprache, und aus der Sprache heraus entwickelt sich der Gedanke. Das liegt wie ein tief bedeutsames Gesetz der mensch­lichen Entwickelung zugrunde. Alles was im Laute, in der Sprache zutage tritt, ist, vermittelt durch das Innere der menschlichen Organi­sation, Resultat von Gesten. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf richten, wie ein Kind, indem es nicht nur sprechen lernt, sondern auch, sagen wir, gehen, auftreten lernt, dann können Sie beobachten, wie das eine Kind stärker auftritt mit dem Hinterfuß, mit der Ferse, ein an­deres mehr mit den Zehen auftritt. Sie können Kinder beobachten, welche, indem sie gehen lernen, mehr die Tendenz haben, ihre Beine vorwärtszubringen, bei anderen können Sie bemerken, wie sie mehr die Tendenz haben, gewissermaßen sich festzuhalten zwischen zwei Schrit­ten. Es ist ungeheuer interessant, ein Kind gehen lernen zu sehen. Das muß man beobachten lernen. Aber noch viel interessanter ist es und noch viel weniger wird es berücksichtigt, ein Kind greifen lernen, seine

47

Hände bewegen lernen anzusehen. Es gibt Kinder, die bewegen, wenn sie irgend etwas haben wollen, ihre Hände so, daß die Finger eben in Bewegung kommen; andere halten die Finger ruhig und greifen mit ruhig gehaltenen Fingern zu. Es gibt Kinder, welche die Hand und den Arm ausstrecken und dabei den Oberkörper festhalten; andere gibt es, die gleich mit dem Oberkörper nachgehen der Bewegung des Armes und der Hand. Ich habe ein Kind kennengelernt, als es ganz klein war, wenn es in seinem Stühlchen etwas vom Tische entfernt war und auf dem Tische eine Speise stand, zu der es hinwollte, dann «ruderte» es hin; da war der ganze Körper in Bewegung. Das konnte überhaupt keine Bewegung mit den Armen und Händen machen, ohne daß der ganze Körper in Bewegung kam.

Darauf muß man zuerst beim Kinde hinschauen, denn das ist die innerlichste Lebensregung zunächst, die allerursprünglichste Lebens-regung, wie ein Kind sich bewegt. Und in diesem Sich-Bewegen tritt sogleich die Tendenz auf, an den andern sich anzuschmiegen: eine sol­che Bewegung so auszuführen, wie sie Vater oder Mutter oder die sonstigen Mitglieder der Familie ausführen. Das Nachahmungsprinzip tritt in der Geste, in der Gebärde zutage. Denn alle Gebärde ist als erstes in der menschlichen Entwickelung vorhanden. Und die Gebärde setzt sich innerlich um in die besondere Einrichtung des menschlichen physischen, seelischen und geistigen Organismus, und sie setzt sich um in die Sprache. Wer das beobachten kann, weiß ganz genau: ein Kind spricht so, daß die Sätze wie gehackt aussehen, wenn es mit den Fersen auftritt; ein Kind spricht so, daß die Sätze ineinander übergehen, wenn es mit den Zehen auftritt; ein Kind hat den Sinn, das Vokalische zu betonen, wenn es mit den Fingern leichter greift; ein Kind ist so, daß es mehr für die Betonung des Konsonantischen veranlagt ist, wenn es mit dem ganzen Arm nachhilft beim Greifen. In der Sprache bekommt man genau einen Abdruck davon, wofür das Kind veranlagt ist. Und die Welt verstehen, sie sinngemäß, gedankengemäß verstehen, das entwik­kelt sich wieder aus der Sprache heraus. Der Gedanke bringt nicht die Sprache hervor, sondern die Sprache den Gedanken. So ist es in der Kul­turentwickelung mit der ganzen Menschheit, erst haben die Menschen gesprochen, dann gedacht. So ist es auch beim Kinde, erst lernt es aus

48

der Bewegung heraus sprechen, artikulieren, dann erst schlüpft aus der Sprache heraus das Denken. Daher werden wir diese Reihenfolge als et­was Wichtiges ansehen müssen: Geste-Sprache-Gedanke oder Denken.

Alles das hat wieder in der ersten Lebensepoche des Kindes bis zum Zahnwechsel hin seinen ganz besonderen Charakter. Wenn das Kind so nach und nach im 1., 2., 3., 4. Lebensjahre in die Welt hereinwächst, so wächst es eben durch die Geste in die Welt herein, und alles ist von der Geste abhängig. Ich möchte sagen, das Sprechen, das Denken ge­schieht im hohen Grade unbewußt; es richtet sich einfach nach der Geste, nach dem ersten. Daher können wir approximativ sagen: In der Zeit vom 1. bis 7. Jahre ist das Leben des Kindes in der Geste vorherr­schend - aber Geste im weitesten Sinne, und Geste, die beim Kinde lebt in der Nachahmung. Das müssen wir in der Erziehung scharf berück­sichtigen; denn eigentlich nimmt das Kind bis zum Zahnwechsel nichts anderes auf als die Geste, schließt sich ab gegen alles andere. Wenn wir zum Kinde sagen: Mache das so, mache jenes so, - so hört es das eigent­lich nicht, beobachtet es nicht. Nur wenn wir uns selber hinstellen und es ihm vormachen, macht es das nach. Denn es arbeitet das Kind nach der Art, wie ich selber meine Finger bewege, oder schaut etwas nach der Art an, wie ich es anschaue, nicht nach dem, was ich ihm sage. Es macht alles nach. Das ist das Geheimnis der kindlichen Entwickelung in der Zeit bis zum Zahnwechsel, daß es ganz in der Imitation lebt, ganz in der Nachahmung dessen, was ihm im allerumfassendsten Sinne äußerlich als Geste entgegentritt. Daher die Uberraschungen, die sich ergeben, wenn man dieses kindliche Alter zum Erziehen vor sich hat. -Da kam einmal ein Vater zu mir und sagte: Was soll ich nur machen? Es ist etwas ganz Schreckliches, mein Junge hat gestohlen. - Ich sagte: Wir wollen erst untersuchen, ob er wirklich stiehlt; was hat er denn getan? - Und der Vater erzählte, daß der Junge aus dem Schrank Geld genommen hat, sich dafür Bonbons gekauft und sie unter die andern Jungens verteilt hat. Ich sagte: Das ist wahrscheinlich der Schrank, an dem der Junge oft gesehen hat, wie die Mutter dort Geld herausnahm, um einzukaufen; das macht der Junge selbstverständlich nach. - Und so lag auch die Sache. Ich sagte weiter: Aber das ist nicht gestohlen, sondern das liegt im selbstverständlichen Entwickelungsprinzip des

49

Jungen bis zum Zahnwechsel, daß er nachmacht, was er sieht; das muß er so machen. - Man muß also in der Gegenwart des Kindes alles ver­meiden, was ein Kind nicht nachmachen soll. Dadurch erzieht man es. Wenn man sagt: Du sollst das tun oder nicht tun, - so übt das über­haupt bis zum Zahnwechsel noch gar keinen Einfluß auf das Kind aus. Es wirkt höchstens, wenn man es in die Geste kleidet, indem man sagt:

Sieh einmal, du hast jetzt etwas getan, das würde ich nie tun! - weil dies gleichsam eine verkleidete Geste ist.

Darauf kommt es an, daß man mit seinem ganzen Menschen durch-schaut, wie das Kind bis zum Zahnwechsel ein nachahmendes Wesen ist. In dieser Zeit besteht nämlich ein gewisser innerer Zusammenhang zwischen dem Kinde und der Umgebung, der handelnden Umgebung, der sich später verliert. Denn so sonderbar und paradox es für die heu­tigen Menschen klingt, die gar nicht an Geistiges in der Wirklichkeit, sondern nur in der Abstraktion denken, so ist es doch so, daß das ganze Verhältnis des Kindes zur Geste, zur Gebärde der Umgebung einen naturhaft-religiösen Charakter hat. Das Kind ist durch seinen physi­schen Leib hingegeben an alles, was Gebärde ist; es kann gar nicht anders, als sich daran hingeben. Was wir später mit der Seele, noch später mit dem Geiste tun: uns an das Göttliche, also an das wiederum vergeistigte Äußerliche hinzugeben, das tut das Kind mit seinem phy­sischen Körper, indem es sich in die Bewegung bringt. Es ist eigentlich ganz in Religion getaucht, mit seinen guten und schlechten Eigenschaf­ten. Uns bleibt später nur das Seelisch-Geistige zurück, das das Kind auch in seinem physischen Organismus hat. Wenn daher neben dem Kinde ein bärenartiger oder ein löwenartiger Vater lebt, der oft jäh­zornig wird und in der Gegenwart des Kindes seine Emotionen auslebt, so muß man sich klar sein: von dem, was da in den Emotionen lebt, innerlich, versteht das Kind noch nichts; aber an dem, was es da sieht, erlebt es etwas, was nicht moralisch ist. Dieses Kind schaut mit dem Jälizorn zugleich das Moralische an, unbewußt; so daß es nicht nur das äußere Bild der Geste hat, sondern den ganzen moralischen Wert der Geste nimmt es mit auf. Wenn ich eine jähzornige Gebärde mache, so geht diese bis in die Blutorganisation des Kindes über, und wenn sich diese Gebärden wiederholen, so werden sie Ausdruck in der Blutzirku­lation

50

des Kindes. Es wird so organisiert in seinem physischen Leibe, wie ich mich gebärdenhaft in seiner Umgebung verhalte. Oder wenn ich mich in der Nähe des Kindes nicht liebevoll verhalte, wenn ich, ohne daß ich das Kind beachte, etwas vollbringe, was nur dem Alter entspricht, und mir nicht stetig bewußt bin, daß ich das Kind in meiner Umgebung habe, dann kann der Fall eintreten, daß das Kind sich liebe­voll an etwas hingibt, was nicht kindlich, sondern nur alterswert ist, und dementsprechend wird dann sein physischer Leib organisiert. Wer mit den Anforderungen, von denen ich gesprochen habe, den ganzen Lebenslauf des Menschen von der Geburt bis zum Tode betrachtet, der sieht, daß ein Kind, demgegenüber man sich so benommen hat, wenn man es auch solche, nur für das Alter angemessene Dinge nachahmen ließ, dann später vom 50. Jahre an in die Sklerose verfällt. Man muß das in seinem ganzen Zusammenhange einsehen können. Krankheiten, die im Alter auftreten, sind oft nur die Folge von Erziehungsfehlern, die im allerkindlichsten Alter gemacht werden.

Daher darf eine Erziehung, die wirklich auf Menschenerkenntnis begründet ist, auf den ganzen Menschen sehen, von der Geburt bis zum Tode. Und das ist das Wesentliche anthroposophischer Erkenntnis, daß man auf den ganzen Menschen hinsieht. Dann kommt man auch da­hinter, wie ein viel stärkerer Zusammenhang besteht zwischen dem Kinde und der Umgebung. Ich möchte sagen, die Seele des Kindes geht noch heraus in die Umgebung, erlebt die Umgebung intim mit, und zwar in einem viel stärkeren Zusammenhange als im späteren Lebens­alter. In dieser Beziehung steht das Kind - nur vergeistigt, verseelischt -dem Tier noch sehr nahe; das Tier hat das alles nur gröber, aber es hat auch den Zusammenhang mit der Umgebung. Daher sind ja manche Erscheinungen in der letzten Zeit, weil man auf die Einzelheiten der Dinge nicht eingehen kann, so unerklärlich gewesen, so zum Beispiel die «rechnenden Pferde», die ja so großes Aufsehen in der neueren Zeit gemacht haben, wo Pferde einfache Rechenoperationen durch das Stampfen mit den Beinen ausführten. Die berühmten Elberfelder Pferde habe ich nicht gesehen, dagegen das Pferd des Herrn von Osten. Das machte auch nette Rechenkünste. Herr von Osten fragte zum Beispiel:

Wieviel sind 7+5? - und fing dann an zu zählen, von 1 ab, und das

51

Pferd stampfte dann beim Resultat 12 mit dem Fuße auf. Es konnte also addieren, subtrahieren und so weiter. Nun gab es einen Privat­dozenten, der dies Problem studierte und ein Buch darüber schrieb, das außerordentlich interessant ist. Er geht darin von der Anschauung aus, daß das Pferd gewisse kleine Gesten, die der Herr von Osten mache, der immer neben dem Pferde steht, sieht. Und er meint: Wenn also der Herr von Osten zählt, 7+5, bis 12, und das Pferd bei 12 aufstampft, so mache der Herr von Osten bei 12 dann eine ganz feine Miene, die das Pferd bemerke, und daher stampfe es auf. Es müsse alles, so meint er, auf ein Anschauliches zurückgeführt werden. - Aber nun wirft er noch die Frage auf: Warum siehst denn du nicht diese Geste, die der Herr von Osten so fein macht, daß das Pferd sie sieht und bei 12 auf-stampft? Und da sagt der Privatdozent: Diese Gesten sind so fein, daß ich als Mensch sie nicht sehen kann. - Woraus man den Schluß ziehen kann, daß ein Roß mehr sieht als ein Privatdozent. Aber dies stimmte für mich durchaus nicht. Denn ich sah dieses Wunder des intelligenten Pferdes, den klugen Hans, daneben den Herrn von Osten in seinem langen Mantel. Und ich sah nun: in seiner rechten Manteltasche hatte er lauter Zuckerstücke, und während er seine Experimente mit dem Pferde machte, ging aus seiner Tasche immer ein Stück Zucker nach dem andern zu dem Pferde hin; so daß im Inneren des Pferdes das Ge­fühl entstand, da geht Süßigkeit aus von dem Herrn von Osten. Da­durch stellt sich eine Art von Liebe her zwischen dem Herrn und dem Pferd. Und nur wenn das vorhanden ist, wenn also gewissermaßen das Innere des Pferdes eingeschaltet ist in das Innere des Herrn von Osten durch den Strom von Süßigkeit, der da fließt, dann «rechnet» das Pferd, indem es tatsächlich etwas aufnimmt - nun nicht durch Mienen, sondern durch das, was Herr von Osten denkt. Er denkt: 5 + 7=12, und das Pferd ist für die Aufnahme dieses Gedankens suggeriert und bildet tatsächlich einen Abdruck davon. Denn man kann tatsächlich sehen: das Pferd und der Herr sind seelisch ineinander eingeschaltet; die vermitteln sich gegenseitig etwas, wenn sie eingeschaltet sind durch die Süßigkeit. So also hat das Tier noch diese feinere Beziehung zur Umgebung, die noch von außen aufgestachelt werden kann, wie in diesem Falle durch den Zucker.

52

Eine solche Beziehung zur Umwelt ist auch noch in einer feinen Art beim Kinde vorhanden. Sie lebt im Kinde und sollte beachtet werden. Daher kann zum Beispiel die Kindergartenerziehung niemals auf etwas anderem beruhen als auf dem Nachahmungsprinzip. Man muß sich mit den Kindern hinsetzen und ihnen die Dinge, die sie tun sollen, wirklich selber vormachen, so daß das Kind nur nachzuahmen braucht. Alles Erziehen und Unterrichten vor dem Zahnwechsel muß auf das Nach­ahmungsprinzip gestellt sein.

Ganz anders wird es mit dem Kinde, wenn es den Zahnwechsel über-dauert. Da wird sein seelisches Leben ganz anders. Es wird so, daß das Kind nicht mehr bloß die einzelnen Gesten wahrnimmt, sondern die Art und Weise, wie die Gesten zusammenstimmen. Während es vorher zum Beispiel nur ein Gefühl hatte für eine bestimmte Linie, bekommt es jetzt ein Gefühl für ein Zusammenstimmen, für das, wo etwas sym­metrisch ist. Das Gefühl für das Zusammenstimmen und Nichtzusam­menstimmen tritt auf, und das Kind bekommt dann in seiner Seele die Möglichkeit, Bildhaftes wahrzunehmen. In dem Augenblick aber, wo das Bildhafte wahrgenommen wird, tritt das Interesse für die Sprache ein. In den ersten sieben Lebensjahren ist das Interesse für die Geste, für das Bewegungshafte vorhanden; in der Zeit vom 7. bis 14.Jahre das In­teresse für alles, was bildhaft ist, und die Sprache ist das vorzüglichste Bildhafte. Das Interesse des Kindes geht nach dem Zahnwechsel von der Geste an die Sprache über. Und in der Zeit, in der wir das Kind in der Volksschule haben, also zwischen Zahnwechsel und Geschlechts-reife, können wir vorzugsweise durch alles wirken, was in der Sprache liegt, aber auch durch alles, was moralisch in der Sprache liegt. Denn gerade so, wie das Kind in der Geste vorher sich religiös verhalten hat zur Umwelt, verhält es sich jetzt - das Religiöse verfeinert sich all­mählich in das Seelische - moralisch zu allem, was ihm in der Sprache entgegentritt.

Nun müssen wir lernen, in diesem Lebensalter durch die Sprache auf das Kind zu wirken. Alles aber, was durch die Sprache wirken soll, muß durch die selbstverständliche Autorität wirken. Was ich dem Kinde durch die Sprache für ein Bild beibringen will, dafür muß ich ihm selbstverständliche Autorität sein. Geradeso wie man der Vormacher

53

sein muß für das kleine Kind bis zum Zahnwechsel, so muß man das menschliche Vorbild werden für das Kind zwischen Zahn-wechsel und Geschlechtsreife. Das heißt, es hat gar keinen Sinn, in diesem Lebensalter für das Kind etwas zu begründen, ihm Gründe zu sagen, so daß es irgendwie einsehen soll, daß es etwas tun oder lassen soll, weil es begründet oder unbegründet ist. Daran hört das Kind vor­bei. Daß es so ist, muß man nur einsehen. Geradeso wie das Kind im frühesten menschlichen Lebensalter nur die Geste beobachtet, so be­achtet es zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife nur das, was ich ihm als Mensch bin. Das Kind muß zum Beispiel das Moralische in diesem Lebensalter so lernen, daß es dasjenige als gut ansieht, was die selbstverständliche Erzieherautorität als gut durch die Sprache be­zeichnet; es muß als böse ansehen, was auch diese Autorität als böse ansieht. Das Kind muß lernen: Gut ist, was meine Autorität macht; böse ist, was meine Autorität nicht macht; beziehungsweise wovon meine Autorität sagt, daß es gut ist, das ist gut, und wovon sie sagt, daß es böse ist, das ist böse. - Sie werden mir nicht zumuten, daß ich, der ich vor 30 Jahren meine «Philosophie der Freiheit» geschrieben habe, auftreten will für das einzig und allein seligmachende Autoritäts-prinzip. Aber gerade dann, wenn man das Wesen der Freiheit kennt, weiß man auch, daß das Kind zwischen Zahnwechsel und Geschlechts-reife durch die Natur des Menschen darauf angewiesen ist, einer selbst­verständlichen Autorität gegenüberzustehen. Alles ist Erziehungsfehler, was nicht dieses Verhältnis des Kindes zur selbstverständlichen Autori­tät der Erzieher- und Lehrerpersönlichkeit in sich schließt. Das Kind muß die Richtschnur für alles, was es tun oder lassen soll, denken oder nicht denken soll, fühlen oder nicht fühlen soll, in dem sehen, was ihm durch die Sprache von seiten des Lehrers und Erziehers zufließt. Daher hat es keinen Sinn, in diesem Lebensalter ihm etwas durch den Intellekt beibringen zu wollen. Alles muß in dieser Zeit auf das Gefühl hin orientiert sein; denn das Gefühl nimmt das Bildhafte auf, und auf das Bildhafte, auf das Zusammenstimmen von Einzelheiten hin ist das Kind in diesem Lebensalter organisiert. Daher kann also das Mora­lische zum Beispiel nicht so an das Kind herantreten, daß man Gebote aufstellt: Das sollst du tun, jenes sollst du nicht tun! - Das wirkt nicht.

54

Aber es wirkt, wenn das Kind durch die Art, wie man zu ihm spricht, in seiner inneren Seelenverfassung das haben kann, daß ihm das Gute gefällt, das Böse mißfällt. Das Kind ist zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife ein Ästhetiker, und man muß dafür sorgen, daß es Wohlgefallen hat am Guten, Mißfallen am Bösen. Dann reift es auch Lm Moralischen am besten heran.

Und wiederum aufrichtig, innerlich aufrichtig muß man in dieser bildhaften Arbeit neben dem Kinde sein. Dazu aber gehört, daß man von allem, was man tut, tief innerlich durchdrungen ist. Das ist man nicht, wenn man nur ein klein wenig neben dem Kinde steht, sofort mit dem Gefühl da ist: Du bist ja riesig gescheit - das Kind ist riesig dumm. - Das verdirbt alle Erziehung, verdirbt auch beim Kinde das Autoritätsgefühl. Was soll ich denn in das Bild verwandeln, das ich da an das Kind heranbringen will? Ich habe dazu folgendes Beispiel zur Versinnlichung gewählt.

Man kann dem Kinde nicht wie dem erwachsenen Menschen von der Unsterblichkeit der Seele sprechen; aber man muß die Unsterblich­keit der Seele an das Kind herantragen, nur muß sie zum Bilde werden, und man muß - es kann eine Stunde dauern - das folgende Bild aus­gestalten. Man kann dem Kinde klarmachen, was eine Schmetterlings-puppe ist und ihm sagen: Da fliegt später der fertige Schmetterling aus; die Puppe enthielt schon den Schmetterling, er war nur noch nicht sichtbar, er war noch nicht so weit, daß er ausfliegen konnte, aber er war schon darinnen. - Nun kann man weitergehen und sagen: In ähn­licher Weise enthält der menschliche Körper schon die Seele, nur ist sie nicht sichtbar; im Tode aber fliegt die Seele aus dem Körper aus; der Unterschied zwischen Mensch und Schmetterling ist nur der, daß der Schmetterling sichtbar ist, die menschliche Seele nicht. - In dieserWeise kann man dem Kinde von der Unsterblichkeit der Seele sprechen, so daß es, seinem Lebensalter angemessen, durchaus eine richtige Vorstel­lung von der Unsterblichkeit bekommt. Nur darf man dann aber nicht so neben dem Kinde stehen, daß man sich sagt: Ich bin gescheit, bin Philosoph und beweise mir die Unsterblichkeit aus dem Denken her­aus; das Kind ist naiv, ist dumm, und ich forme mir eben das Bild von dem herauskriechenden Schmetterling. - Wenn man so denkt, geht

55

man am Kinde vorüber; dann hat das Kind nichts davon. Da gibt es nur eine Möglichkeit: Man muß selbst an das Bild glauben, man muß nicht gescheiter sein wollen als das Kind; man muß genau so gläubig neben dem Kinde stehen. Wie kann man das? - Wer Anthroposoph, Geisteswissenschafter ist, der weiß: das Auskriechen des Schmetter­lings aus der Puppe ist selbst ein von den Göttern der Welt hingestelltes Bild für die Unsterblichkeit der Menschenseele. Er denkt nie anders, als daß die Götter hineingezeichnet haben in die Welt dieses Bild des auskriechenden Schmetterlings für die Unsterblichkeit der Menschen-seele; er hat eine Naturanschauung, die geistig ist, und kann dem Kinde klarmachen, daß es so ist. Er sieht in allen niederen Stufen des Vor­ganges die abstrakt gewordenen höheren Vorgänge. Wenn ich nicht die Vorstellung habe, daß das Kind dumm ist und ich gescheit bin, sondern wenn ich vor dem Kinde mit dem Bewußtsein stehe, daß das so ist in der Welt und das Kind an etwas heranführe, woran ich selbst am aller­intensivsten glaube, dann gibt es ein imponderables Verhältnis und das Kind kommt wirklich in der Erziehung vorwärts. Da laufen in das Erziehungsverhältnis fortwährend moralische Imponderabilien ein. Und darauf kommt es an.

Wenn man dies durchschaut, wird man im erzieherischen Unter­richt, in der unterrichtenden Erziehung aus der ganzen Gesinnung her­aus überall darauf kommen, wie es sich mit dem Richtigen verhält. Nehmen wir ein Beispiel. Wie muß das Kind lesen und schreiben ler­nen? Es ist ja eigentlich eine viel größere Misere damit verbunden als man, da man ja das Lesen- und Schreibenlernen als eine Notwendig­keit ansieht, mit brutalem Menschensinn gewöhnlich meint. Man sieht es als eine Notwendigkeit ein, also muß das Kind unter allen Umstän­den dazu dressiert werden, lesen und schreiben zu lernen. Aber be­denken Sie, was das für das Kind heißt! Die Menschen haben nicht die Neigung, wenn sie einmal erwachsen sind, sich in die kindliche Seele hineinzuversetzen, was das Kind erlebt, wenn es lesen und schreiben lernt. Da haben wir in unserer heutigen Zivilisation Buchstaben, a, b, c und so weiter; sie stehen in gewissen Bildern vor uns. Ja, das Kind hat den Laut «ah». Wann gebraucht es ihn? Der Laut ist ihm Ausdruck einer inneren Seelenverfassung. Es gebraucht diesen Laut, wenn es in

56

Bewunderung, in Erstaunen oder in einer ahnlichen Seelenverfassung vor etwas steht. Den Laut versteht es; der hängt mit der menschlichen Natur zusammen. Oder es hat den Laut «eh». Wann gebraucht es die­sen? Wenn es andeuten will: Da ist etwas an mich herangetreten, was ich erlebt habe, was in meine Natur eingreift. Wenn mich jemand sticht, sage ich «eh!». Und so ist es auch mit den Konsonanten. Jeder Laut entspricht einer Lebensäußerung; die Konsonanten ahmen eine äußere Welt nach, die Vokale drücken das aus, was man in der Seele innerlich erlebt. - Die Sprachlehre, die Philologie, kommt heute nur in den ersten Elementen auf so etwas. Die gelehrtesten Sprachforscher haben darüber nachgedacht, wie im Laufe der menschlichen Entwicke­lung die Sprache zustande gekommen sein könnte. Da gibt es zwei Theorien. Die eine vertritt die Anschauung, daß die Sprache zustande komme aus dem, was die Seele erlebt, wie es schon beim Tier in der primitivsten Form auftritt, daß irgendein inneres Seelenerlehnis her­auskommt: «muh-muh», was die Kuh erlebt; was der Hund erlebt:

«wau-wau». Und so würde in Komplikation das, was im Menschen die artikulierte Sprache wird, aus diesem Drängen des Inneren, Emp­findungen zur Gestaltung zu bringen, hervorgehen. Man nennt diese Anschauung etwas humoristisch die «Wauwau-Theorie». Die andere Anschauung geht davon aus, daß man im Sprachlaute nachahmt, was äußerlich sich vollzieht. Wenn die Glocke tönt, so kann man in der Sprache nachahmen, was in der Glocke drinnen vorgeht: «bimbam­bimbam». Da versucht man nachzuahmen, was äußerlich vorgeht. Das ist diejenige Theorie, die in der Sprache alles auf Anklingen, auf Imi­tation der äußeren Geschehnisse zurückführt, die «Bimbam-Theorie». So stehen sich diese zwei Theorien gegenüber. Ich meine es gar nicht humoristisch, denn in Wirklichkeit sind beide richtig: die Wauwau­Theorie ist für den Vokalismus richtig, die Bimbam-Theorie für den Konsonantismus. - Wir lernen, indem wir die Gesten in die Laute um­setzen, im Inneren äußere Vorgänge nachzuahmen durch die Konso­nanten, und innere Seelenerlebnisse auszugestalten in den Vokalen. Inneres und Äußeres fließt in der Sprache zusammen. Das ist der menschlichen Natur homogen, das versteht sie.

Wir bekommen das Kind in die Volksschule herein. Durch seine

57

innere Organisation ist es ein sprechendes Wesen geworden. Nun soll es plötzlich einen Zusammenhang erleben - ich sage, indem ich meine Worte genau abwäge, nicht erkennen, sondern erleben -, einen Zu­sammenhang zwischen dem Erstaunen, Verwundern «ah» und diesem dämonischen Zeichen a. Das ist ihm etwas ganz Fremdes. Es soll ler­nen, etwas, was ihm ganz ferne liegt, in Zusammenhang zu bringen mit dem «ah!». Das ist für die kindliche Seelenverfassung etwas ganz Un­mögliches. Das Kind fühlt sich wie gerädert, wenn wir von unseren heutigen Buchstabenformen ausgehen.

Aber man kann da etwas bedenken. Was wir heute als Buchstaben haben, war ja nicht immer da. Sehen wir auf diejenigen älteren Völker, die eine Bilderschrift gehabt haben: sie haben in Bildern, die schon etwas zu tun hatten mit dem, was ausgesprochen worden ist, das Aus­zudrückende versinnlicht. Sie hatten nicht solche Buchstaben wie wir, sondern Bilder, die einen Bezug hatten zu dem, was sie bedeuteten. Dasselbe könnte auch in einer gewissen Weise auf die Keilschrift an­gewendet werden. Das waren die Zeiten, in denen man noch, wenn man etwas fixierte, ein menschliches Verhältnis dazu hatte. Heute haben wir das nicht. Beim Kinde muß man wieder darauf zurück­gehen. Doch da handelt es sich nicht darum, daß man nun Kultur­geschichte studiert und auf die Formen zurückgeht, die einmal in der Bilderschrift vorhanden waren, sondern man bringe, um zu brauch­baren Bildern zu kommen, vor allem seine Lehrer-, seine Erzieher-phantasie etwas in Schwung. Die muß man allerdings haben, denn ohne sie kann man nicht Lehrer oder Erzieher sein. Daher muß schon immer, wenn es sich um die Charakteristik von etwas handelt, was aus dem Anthroposophischen hervorgeht, auf Enthusiasmus, auf Begeiste­rung hingewiesen werden. - Ich bin immer wenig erbaut, wenn ich zum Beispiel in unserer Waldorfschule in eine Klasse hineinkomme und beim Lehrer oder bei der Lehrerin merke, sie sind müde, sie unterrich­ten aus einer gewissen Verfassung der Müdigkeit heraus. Ja, das kann man doch überhaupt nicht! Man kann doch nicht müde sein, man kann doch nur enthusiasmiert sein, mit seinem ganzen Menschen dabei sein, wenn man unterrichtet. Es ist ganz falsch, müde zu sein, wenn man unterrichten will; das muß man sich für anderes aufbewahren. - Es

58

handelt sich also durchaus darum, daß man als Lehrer auch seine Phan­tasie in Schwung bringen kann. Was heißt das? Ich appelliere zunächst beim Kinde an etwas, was es auf dem Markt oder sonst irgendwo ge­sehen hat, zum Beispiel einen Fisch. Ich bringe es dazu, daß es zu­nächst, indem ich es sogar Farben benutzen lasse, einen Fisch malend zeichnet, zeichnend malt. Habe ich es dazu gebracht, so lasse ich es dann das Wort «Fisch» sagen, dieses Wort nicht schnell herausspre­chend, sondern «F-i-sch». Ich leite es dann an, nur den Anfang des Wortes Fisch, «F. . .», zu sagen und ich bilde allmählich die Fisch-gestalt in dieses fisch-ähnliche Zeichen um, indem ich das Kind gleich­zeitig dazu bringe, «F» zu sagen: das F ist da!

#Bild s. 58a

Oder ich lasse das Kind sagen: «Welle», bringe ihm bei, was eine Welle ist (siehe Zeichnung). Ich lasse das Kind dies wiederum malen, bringe es dazu, den Anfang des Wortes Welle zu sagen: .... .», und ich verwandle dann die Wellenzeichnung in das W.

#Bild s. 58b

Indem ich dies immer weiter ausbilde, hole ich aus dem malenden Zeichnen und dem zeichnenden Malen die Schriftzeichen heraus, wie sie auch entstanden sind. Ich bringe nicht das Kind in ein Zivilisations­stadium hinein, das mit ihm noch nichts gemeinschaftlich hat, sondern

59

ich führe es so, daß niemals sein Verhältnis zur Außenwelt abreißt. Da muß man, wenn man nicht gerade Kulturgeschichte studieren will -denn aus der Bilderschrift ist die heutige Schrift entstanden, aber Kul­turgeschichte studieren braucht man gar nicht -, man muß nur seine Phantasie in Schwung bringen; denn dann bringt man das Kind dazu, aus dem malenden Zeichnen das Schreiben zu gestalten.

Nun muß man nicht nur darauf Wert legen, daß man damit etwas Geistreiches getan hat, daß man eine neue Methode hat. Man muß dar­auf Wert legen, wie das Kind innerlich in anderes hineinwächst, wenn fortwährend seine Seelenbetätigung angeregt wird. Es wächst nicht hinein, wenn es gestoßen wird, so daß es fortwährend in fremde Ver­hältnisse zur Umgebung hineinkommt. Daß man auf das Innere des Kindes wirkt, darauf kommt es an.

Was ist denn heute Prinzip? Es ist zwar heute schon wieder etwas überholt, aber es liegt noch nicht weit zurück, da gab man den Mäd­chen «schöne» Puppen, mit richtigen Haaren und so weiter, schließlich sogar solche, die, wenn man sie hinlegte, die Augen schließen konnten, Puppen mit schönen Gesichtern und so weiter. Sie sind natürlich trotz­dem scheußlich, weil sie unkünstlerisch sind, aber die Zivilisation nennt sie schön. Aber was sind das für Puppen? Es sind solche, an denen sich die Phantasie des Kindes gar nicht mehr betätigen kann. Nun mache man die Sache anders. Man binde ein Taschentuch so zusammen, daß eine Figur mit Armen und Beinen entsteht, dann mache man mit Tinten­klecksen Augen, mit roter Tinte vielleicht auch noch einen Mund; dann hat das Kind daran seine Phantasie zu entfalten, wenn es dies sich als einen Menschen vorstellen soll. So etwas wirkt ungeheuer lebendig auf das Kind, weil es ihm die Möglichkeit bietet, seine Phantasie in Schwung zu bringen. Man muß es natürlich erst selber machen. Aber diese Mög­lichkeit muß man dem Kinde verschaffen, und dies ist schon im Spiel-alter zu machen. Daher sind alle die Dinge, die nicht die Phantasie des Kindes in Schwung bringen, als Spielzeuge verderblich. - Ich sagte, heute ist man schon wieder über die schönen Puppen hinaus; denn heute gibt man dem Kinde Affen oder Bären. Da kann sich die Phantasie allerdings nicht in menschlicher Weise daran erbauen. Aber gerade solche Erscheinungen, wenn einem die Kinder entgegenkommen und

60

man ihnen einen Bären gibt, den sie so hätscheln können, das zeigt, wie fern unsere Zivilisation demjenigen steht, was Hineinschauen in das Innere der menschlichen Natur ist. Und es ist ganz merkwürdig, wie Kinder dieses Innere der Menschennatur auf selbstverständlich künst­lerische Weise ausgestalten konnen.

Wir haben dazu in der Waldorfschule den Ubergang des gewöhn­lichen Unterrichtes in eine Art Kunstunterricht eingerichtet. Also ab­gesehen davon, daß wir überhaupt nicht damit beginnen, die Kinder schreiben zu lehren, sondern sie malend zeichnen und zeichnend malen - man könnte auch sagen, «patzen» lassen, man muß dann die Klasse hinterher reinigen lassen, was vielleicht etwas unbequem ist; ich werde dann morgen auch sagen, wie man vom Schreiben zum Lesen übergeht -, abgesehen davon, führen wir auch das Kind möglichst in das Künstlerische hinein, in die Handhabung kleiner plastischer Ar­beiten, ohne daß wir das Kind auf etwas anderes bringen, als was es aus seinem Inneren heraus aus der Form machen will. Da stellen sich ganz merkwürdige Dinge ein. Eines zum Beispiel will ich anführen, das bei älteren Kindern in wunderbarer Weise auftritt.

Wir haben ja Menschenerkenntnis verhältnismäßig bald als Unter­richtsgegenstand, so für die zehn-, elfjährigen Kinder. Sie lernen da erkennen, wie Knochen geformt, gebaut sind, wie Knochen einander tragen und so weiter. Und gerade künstlerisch lernen das die Kinder, nicht intellektualistisch. Nun hat das Kind ein paar solcher Stunden gehabt, in denen es eine Anschauung von dem Bau der menschlichen Knochen bekommen hat, von der Dynamik der Knochen, von dem Sich-Tragen. Jetzt geht man hinüber in die Werkstätte, wo die Kinder plastische Gestalten formen, und sieht dem, was das Kind macht, so­gleich an: es hat etwas von den Knochen gelernt. Nicht daß es die Knochenformen nachahmte, sondern wie sich die Seele in Bewegung setzt, innerlich, das drückt sich darin aus, wie es jetzt seine Formen macht. Vorher ist es auch darauf gekommen, zum Beispiel kleine Be­hälter zu fertigen; die Kinder kommen ganz von selber darauf, solche schalenartigen Dinge zu machen. Die werden aus der Natur des Kindes heraus ganz anders, bevor es einen solchen Unterricht bekommen hat, und nachher, wenn das Erlebnis tatsächlich so ist, wie es sein soll. Aber

61

man muß dann die Menschenkunde auch so vorbringen, daß sie in den ganzen Menschen übergeht. Heute ist das schwierig.

Wenn jemand so viel, wie ich, in Ateliers herumgekommen ist und gesehen hat, wie die Leute gemalt und gebildhauert haben, so weiß er auch, daß heute kaum ein Bildhauer etwas macht ohne ein Modell; er muß eine Menschenform vor sich haben, wenn er sie modellieren will. Das wäre für einen griechischen Künstler ein Unsinn gewesen. Er hat allerdings in den öffentlichen Spielen die Menschenform kennengelernt, aber er empfand innerlich die menschliche Form. Er wußte aus dem, wie er es in sich fühlte - und dieses Gefühl verkörperte er ohne Mo­dell -, er wußte den Unterschied, wie ein Arm ist, wenn er den Arm vorstreckt, wenn er den Zeigefinger auch noch vorstreckt und der­gleichen. Dieses Gefühl verkörperte er dann in die Form hinein. Aber wenn Sie heute Menschenkunde so lehren, wie es einmal üblich ist, so wird da eben nach Abbildungen oder Zeichnungen der eine Knochen neben den andern hingestellt, ein Muskel wird neben dem andern be­schrieben, und man bekommt keinen Eindruck davon, wie alles gegen­seitig sich verhält. - Bei uns wissen die Kinder, wenn sie einen Wirbel­knochen der Rückenmarkssäule haben, wie er dem Kopfknochen ähn­lich ist; sie bekommen ein Gefühl dafür, wie die Transformation der Knochen ist. Dann aber leben sie in den menschlichen Formen drinnen und haben dann auch den Drang, das wieder künstlerisch auszudrük­ken. Da geht es in das Leben hinein, da bleibt es nicht äußerlich.

Daher ist es meine große Sehnsucht und auch meine Forderung als Leiter der Waldorfschule, daß womöglich alles, was Wissenschaft ist -ich schätze diese Wissenschaft, keiner kann sie so hoch schätzen wie ich-, aber alles, was fixierte, in Büchern fixierte Wissenschaft ist, sollte aus dem Schulunterricht herausgelassen werden. Man mag es außerhalb der Schule treiben,wenn man das nicht bezähmen kann; aber ich würde sonst rasend werden können, wenn ich einen Lehrer oder eine Lehrerin mit einem Buche vor der Klasse stehen sehen würde. Beim Unterricht muß alles innerlich sein, muß alles selbstverständlich sein. Wie lehrt man heute zum Beispiel Botanik? Wir haben Botanikbücher; die sind Wiedergaben wissenschaftlicher Anschauungen, aber sie gehören nicht in die Schule hinein, wo man Kinder zwischen dem Zahnwechsel und

62

der Geschlechtsreife hat. Die Literatur, die man als Lehrer braucht, muß eben auch erst wieder herauswachsen aus den lebendigen Erzie­hungsprinzipien, von denen ich hier sprechen will.

So handelt es sich wirklich darum, daß nun in dem ganzen Habitus, in dem seelischen, geistigen und körperlichen Habitus des Lehrers das Zusammengewachsensein mit der Welt drinnen ist. Dann kann er auf die Kinder wirken, dann ist er für sie die selbstverständliche Autorität zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife. Immer kommt es darauf an, daß man hineingewachsen ist in das Erleben und daß alles lebendig übergeht auf das Leben. Das ist der große Grundsatz, den man heute in der Erziehung haben muß. Dann ist der Zusammenhang mit der Klasse da und damit dasjenige, was als imponderable Stimmung da sein muß.

FRAGENBEANTWORTUNG

Frage: Es gibt Erwachsene, die auf der Stufe des nachahmenden Kindes stehen-geblieben zu sein scheinen. Wie ist das?

Dr. Steiner: Auf jeder Stufe, auf welcher die menschliche Entwik­kelung sich abspielt, ist es möglich, daß der Mensch stehenbleibt. Wenn man so die Stufen der Entwickelung schildert - nehmen wir jetzt zu dem, was wir heute anführen konnten, noch hinzu die Em­bryonalzeit, dann diejenige bis zum Zahnwechsel, und dann die Zeit bis zur Geschlechtsreife -, dann haben wir diejenigen Epochen an­gegeben, welche in einem voll entwickelten Menschenleben sich aus­gestalten können. Aber vor ganz kurzer Zeit nun hat der Zusammen­hang unserer anthroposophischen Entwickelung ergeben, daß es sich darum handelte, heilpädagogische Vorträge zu halten, dabei anzu­knüpfen an ganz bestimmte Fälle von Kindern, die in ihrer Entwicke­lung entweder zurückgeblieben oder nach irgendeiner Seite hin ab­norm entwickelt sind. Wir haben das dann so eingerichtet, daß wir von dem Klinisch-therapeutischen Institut von Frau Dr. Wegman in Arlesheim einzelne Fälle, die dort behandelt werden, pädagogisch, medizinisch, hygienisch und so weiter vorgeführt haben. Unter diesen Fällen befand sich auch ein solcher, den ein Kind aufwies, das fast ein Jahr alt ist, auch die Größe eines Kindes von einem Jahre ungefähr

63

hat, aber in seiner ganzen physischen Ausgestaltung absolut in dem Stadium eines, man könnte etwa sagen, sieben- bis achtmonatigen Embryo stehengeblieben ist. Wenn Sie nur die Umrisse jenes Kindes zeichnen und dabei nicht recht deutlich die schon etwas mehr aus­modellierten Gliedmaßen zeichnen, sondern sie nur andeuten, aber die Kopfform deutlich zeichnen, wie sie bei diesem Jungen vorhanden ist, und dann, wenn Sie die Zeichnung so obenhin anschauen, keine Ahnung haben, daß dies ein Junge von fast einem Jahre ist, dann wer­den Sie glauben, daß es ein Embryo sei, weil dieser Junge in vielen Din­gen die Konstitution des Embryonalen nach der Geburt beibehalten hat.

Jede Lebensstufe, also auch die embryonale, kann in eine spätere hineingetragen werden. Denn die aufeinanderfolgenden Entwicke­lungsstadien sind so, daß sozusagen bei jedem neuen Stadium das alte sich verwandelt und Neues dazukommt. Nehmen Sie nur das ganz genau, was ich gesagt habe in bezug auf die naturhaft-religiöse Hin­gabe des Kindes an die Umgebung vor dem Zahnwechsel, dann haben Sie da das Naturhaft-Religiöse, das sich später umwandelt in das See­lische, und Sie haben das ästhetische Stadium als ein zweites hinzu­kommend. Nun kommen sehr viele Kinder vor, die in das zweite Sta­dium das erste hineintragen, und das zweite bleibt dann kümmerlich. Aber das kann noch weitergehen: das schon verkörperte Stadium kann in jedem andern auftreten; dann wird in spätere Stadien das ursprüng­liche hineingetragen werden. Und es braucht gar nicht einmal für die Oberflächlichkeit des Lebens so sehr stark bemerkbar zu sein, daß ge­wissermaßen ein früheres Stadium geblieben ist für ein späteres, wenn nicht ein besonders spätes Alter eine solche Erscheinung aufweist. Aber das kommt also vor, daß frühere Stadien in spätere hineingetragen werden.

Nehmen Sie die Sache bei einem niederen Naturreich. Die ausge­wachsene, voll entwickelte gewöhnliche Pflanze hat Wurzel, Stengel mit Blättern, dann die grünen Laubblätter konzentriert zum Kelch, dann kommen die Blumenblätter, Staubgefäße, Pistill, Stempel und so weiter. Aber es gibt ja nun Pflanzen, die es nicht bis zur Blüte bringen, die auf der Stufe des Krautes, der grünen Blätter zurückbleiben und Früchte nur in unentwickelter Form ausbilden. Wie weit bleibt zum

64

Beispiel ein Farnkraut zurück gegenüber einem Hahnenfuß! Bei den Pflanzen führt das nicht zur Abnormität. Aber beim Menschen haben wir nur die eine Art Mensch. Dann bleibt der Mensch durch sein ganzes Leben hindurch ein nachahmendes Wesen oder ein solches, das unter Autorität stehen muß. Denn wir können es im Leben nicht nur mit solchen Menschen zu tun haben, die nachahmende Wesen bleiben, son­dern auch mit solchen, die in bezug auf ihre realen Eigenschaften in dem Stadium bleiben, das voll entwickelt wird zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife. Diese Menschen sind sogar sehr häufig; da pflanzt sich dieses Stadium in das spätere Leben hinein fort. Die Leute kommen dann für das, was sie im späteren Leben haben, nicht viel weiter, als daß das später Auftretende nur in einem eingeschränkten Maße herauskommt; aber die Menschen bleiben dann immer auf der Stufe der Autorität. - Wenn es das nicht gäbe, dann gäbe es auch nicht die heute noch bestehende Neigung zu Sektenbildungen und so weiter; denn die Sektenverbindungen beruhen darauf, daß man nicht selber zu denken braucht, sondern den andern denken läßt und ihm folgt. Aber auf gewissen Gebieten des Lebens stehen die allermeisten Menschen in dem Stadium der Autorität. Wenn es sich zum Beispiel darum handelt, über irgendeine Frage wissenschaftlicher Natur zu urteilen, so bemühen sich die Menschen nicht darum, Einsichten zu haben, sondern sie fra­gen: Wo ist der, der es wissen muß, der an irgendeiner Universitat in einer Fakultät lehrt? - Da haben Sie das Autoritätsprinzip. Aber auch bei den Kranken ist das Autoritätsprinzip, wenn auch berechtigt, in stärkstem Maße ausgebildet. Und in juristischen Fragen zum Beispiel will kein Mensch heute selbständig urteilen; da geht man zum Advo­katen, der weiß es, da bleibt man immer auf dem Standpunkte von 8, 9 Jahren stehen. Und dann ist dieser Advokat manchmal selber nicht viel älter Wenn man ihm Fragen stellt, nimmt er wieder ein Gesetz­buch oder eine Mappe herunter, und da hat man dann wieder eine Autorität. Die Dinge sind so, daß jedes Stadium in ein späteres hinein­kommen kann.

Die Anthroposophische Gesellschaft sollte eigentlich nur aus Men­schen bestehen, die über das Autoritative hinauswachsen, die gar kein Autoritätsprinzip anerkennen, sondern nur wirkliche Einsicht. Das

65

können sich die Menschen draußen so wenig denken, daß sie immer sagen: Die Anthroposophie beruht auf Autorität. - Aber gerade das Entgegengesetzte ist der Fall, über das Autoritätsprinzip soll hinaus­gewachsen werden durch diejenige Art von Einsichten, die in der An­throposophie gepflegt werden. Da handelt es sich darum, daß der Mensch jedes winzige Partikel von Einsichten aufgreife, damit er die verschiedenen Stadien durchlaufen kann.

Frage: Warum ist, von der Anthroposophie aus angesehen, die Unsterblichkeit kein Glaube, sondern ein Wissen?

Dr. Steiner: Die Anthroposophie schreitet fort von der äußeren Er­kenntnis des Menschen zu der inneren Erkenntnis des Menschen. Von den Menschen zum Beispiel, die hier sind und seit langem Vorträge gehört haben, ist nicht der physische Leib geblieben, sondern nur der ätherische Leib. Bis zu dem dringt Anthroposophie vor; so kann man also sägen, was von der Geburt bis zum Tode geht. Die andere Wissen­schaft täuscht sich darüber. Vom Ätherleibe zu sprechen, ist ebenso­wenig ein Glaube, wie man in bezug auf den physischen Leib als von einem Glauben spricht. Den Ätherleib erkennt man durch die Imagina­tion. Geht man in anthroposophischer Erkenntnis weiter, so lernt man durch die Inspiration erkennen, wie der astralische Leib des Menschen weiter fortlebt nach dem Tode.

Der heutige Gläubensbegriff ist nicht einmal so alt wie das Christen­tum. Er kam erst auf, als man abkam von dem, was als Geistiges beob­achtet werden kann.

66

VIERTER VORTRAG Arnheim, 20. Juli 1924

Es ist im Anschlusse an den gestrigen Vortrag noch eine Frage gestellt worden, die ich hier im Zusammenhänge behandeln möchte. Die Frage heißt: «Mit Bezug auf das Nachahmungsgesetz in den Bewegungen des Kindes wäre mir die Erklärung des folgenden Tatbestandes wichtig. Mein Großvater starb, als mein Vater 1 1/2 bis 2 Jahre alt war. Etwa fünf­undvierzigjährig besuchte mein Vater eine Bekannte des Großvaters, die überrascht wär über die Ähnlichkeit aller Bewegungen und Gesten des Vaters. Was wirkte hier, da wohl in Hinsicht auf den früh verstor­benen Großvater von einer Nachahmung nicht die Rede sein konnte?»

Also ein Mann starb, als der Sohn 1 1/2 bis 2 Jahre alt war, und man konnte später von seiten einer Bekannten, die über die Sache gut unter­richtet sein konnte, die Bemerkung erfahren, daß dieser Sohn noch in seinem 45. Jahre die Gesten des Großvaters nachmachte, also dieselben Gesten hätte wie sein Vater.

Nun handelt es sich darum, daß man bei Auseinandersetzungen wie solchen, die jetzt hier gepflogen werden, immer nur die Richtlinien angeben kann, und daß man also Detailauseinandersetzungen kaum berücksichtigen kann. Unsere Kurse sind leider kurz, und das Thema, das eigentlich hier zu besprechen wäre, würde reichlich Vorträge für ein halbes oder selbst ein ganzes Jahr ausfüllen können. Daher ergeben sich im Anschluß an die Auseinandersetzungen natürlich sehr viele Fragen, die, wenn sie gestellt werden, ja beantwortet werden könnten; aber ich mache darauf aufmerksam, daß zuweilen Unklarheiten selbst­verständlich durch die Kürze unterlaufen könnten, die sich nur auf­klären lassen, wenn man ganz in die Einzelheiten eingehen kann. In bezug auf die gestellte Frage möchte ich nun heute dazu das Folgende einflechtend bemerken.

Wenn man die erste Lebensepoche des Kindes nimmt, also den Zeit­raum von der Geburt bis zum Zahnwechsel, dann arbeitet die Organi­sation des Kindes, sich entwickelnd in dieser Zeit so, daß die ersten Anlagen desjenigen sich in die Organisation eingliedern, was ich gestern

67

erörtert habe als das, was man zusammenfassen kann in Gehen, das aber ein Gesamtorientieren des Menschen ist, dann in Sprechen und drittens in Denken. Nun liegen die Dinge folgendermaßen. In der Hauptsache, im wesentlichen organisiert sich das Kind zwischen dem 1. und 7. Lebensjahre hinsichtlich der Gesten; zwischen dem 7. und

14. Lebensjahre, approximativ, hinsichtlich der Sprache, wie ich es gestern auseinandergesetzt habe; und in bezug auf das Denken organi­siert es sich zwischen dem 14. und 21.Jahre, wiederum annähernd aus­gedrückt. Aber was so in einem Zeiträume von 21 Jahren hervortritt, das bildet sich in der Anlage eben auch schon in der ersten Lebensepoche, zwischen der Geburt und dem Zahnwechsel aus. Was also die eigentliche Aneignung der Gesten betrifft, die sich im Orientieren, im Gehen, aber auch im freien Orientieren, ohne aufzustützen, wie im Be­wegen der Arme und auch der Gesichtsmuskeln zum Ausdruck bringt, was also ein Gesamtorientieren, ein Einleben in die Gesten und Gebär­den ist, das entwickelt sich der Hauptsache nach rein im ersten Drittel dieser 7 Jahre, das heißt also in den ersten 2 1/3 Jahren. In diesem Zeit­raume liegt die Hauptentwickelung des Kindes in der Herausbildung der Gesten. Die Entwickelung in den Gesten geht dann weiter; aber es kommt dazu die Anlageentwickelung zum inneren Einprägen des Sprachlichen im Intimeren. Wenn das Kind auch früher schon Laute hervorbringt, das Einleben in die Sprache geschieht dann, nach 2 1/3 Jahren, in der Anlage. Das Durchfühlen der Sprache bildet sich aus zwischen dem 7. und 14. Jahre, aber in der Anlage haben wir es zwi­schen 2 1/3 und 4 2/3 Jahren. Das alles natürlich durchschnittlich. Und danach entwickelt das Kind die Fähigkeit, in der ersten Anlage Ge­danken innerlich zu erleben. Was später erst, zwischen dem 14. und dem 21.Jähre herauskommt und blüht, das entwickelt sich in der Keim­anlage zwischen 4 2/3 und 7 Jahren. - Die Gestenbildung dauert natür­lich fort, aber das andere schiebt sich hinein; so daß wir die Zeit, die Ausdruck der Ausbildung der Gesten in der Hauptsache ist, zu verlegen haben in die ersten 2 1/3 Jahre. Was während dieser Zeit erworben wird, das sitzt natürlich am allertiefsten; denn wir müssen uns nur vorstellen, wie gründlich das Imitationsprinzip gerade in der allerersten Lebens­zeit wirkt.

68

Wenn Sie das zusammenhalten, werden Sie nichts Wunderbares mehr finden in dem, was hier gefragt wird. Der Großvater ist gestor­ben, als der Vater 1 1/2 bis 2 Jahre alt war. Das ist aber gerade die Zeit, in der die Gestenbildung am allertiefsten sitzt. Stirbt der Großvater jetzt, so hat sich das, was von ihm nachgeahmt wird, am allertiefsten eingeprägt. Das wird nicht mehr durch das verändert, was später von andern an Gesten imitierend angenommen wird. Daher ist dieser Fall gerade, wenn man ihn im Detail betrachtet, außerordentlich signifi­kant. Das ist in Kürze darüber zu sagen.

Wir haben gestern auseinanderzusetzen versucht, wie das Kind in dem zweiten Lebensalter, zwischen dem Zahnwechsel und der Ge­schlechtsreife, alles das erlebt, was es seiner Entwickelung einverleibt durch die Sprache, in der die selbstverständliche Autorität des Erzie­henden, des Unterrichtenden wirken muß. Was da zwischen dem Er­ziehenden und dem Kinde wirken kann, das muß auf bildhafte Weise wirken. Und ich setzte auseinander, wie man in diesem Lebensalter mit Moralgeboten an das Kind nicht herankommen kann, sondern lediglich dadurch für seine Moralität wirken kann, daß man in ihm solche Ge­fühle erweckt, wie sie eben an Bildern erweckt werden; so daß das Kind Bilder bekommt, die ihm durch sein Vorbild, den Erziehenden, den Lehrenden, vorgestellt werden, die so wirken, daß das Gute ihm gefällt, das Böse ihm mißfällt. Also auf bildhaft-gefühlsmäßige Weise muß auch in bezug auf die Moralität in diesem volk sschulpflichtigen Lebens­alter erzogen werden.

Dann habe ich auseinandergesetzt, wie das Schreiben bildhaft an das Kind herangebracht werden muß, wie aus dem zeichnenden Malen, aus dem malenden Zeichnen die Buchstabenformen herausgeholt wer­den müssen. Dies malende Zeichnen und zeichnende Malen muß von all den Künsten, die das Kind in die Zivilisation hineinführen, zualler­erst gepflegt werden. Alles was schon von vornherein auf die dem Kinde ja ganz fremden Buchstabenformen hinweist, ist eigentlich päd­agogisch ein Unfug; denn die fertigen Buchstabenformen einer heutigen Zivilisation wirken wie kleine Dämonen auf das Kind.

Nun muß im Sinne einer auf Menschenerkenntnis gebauten Pädago­gik das Schreibenlernen vorausgehen dem Lesenlernen. Warum? Nun,

69

im Schreibenlernen wird ein gutes Stück von dem ganzen Menschen arbeitend in Anspruch genommen, nicht bloß einseitig der Kopf, wie es beim Lesenlernen ist. Wenn Sie an das Kind wirklich heran wollen, so müssen Sie in diesem Lebensalter, unmittelbar nach dem Zahn-wechsel noch, an das ganze Kind womöglich herankommen. Das Kind, das beim Schreiben sich so betätigt, daß wenigstens der ganze Ober­körper daran beteiligt ist, das ist in ganz anderer Weise in innerer Reg­samkeit, als wenn man beginnt mit der Anschauung von Formen, die nur den Kopf beschäftigen. Die emanzipierte, selbständige Anwendung von Kopffähigkeiten ist erst in späteren Lebensaltern möglich. Daher kann man nur den Übergang machen, daß das Kind, wenn es geschrie­ben hat, sich auch das Geschriebene lesend einprägt.

Indem wir diese Art, den Unterricht fortzuführen, in der Waldorf­schule gepflegt haben, hat sich herausgestellt, daß unsere Kinder etwas später als sonst Lesen lernen, sogar etwas später erst zum Schreiben von Buchstaben kommen als die Kinder anderer Schulen. Da muß man aber wirklich wieder in die Menschennatur erkennend hineinschauen, wenn man das beurteilen will. Bei dem heute mangelnden Sinn für Menschenerkenntnis bemerken die Menschen eben durchaus nicht, wie nachteilig es für die Gesamtentwickelung des Menschen ist, wenn er zu früh so abgelegene Beschäftigungen lernt wie Lesen und Schreiben. Und niemand wird im späteren Leben einen Mangel in seiner Lese- und Schreibekunst zu haben brauchen, der etwas später als sonst mit dem Lesen und Schreiben fertig wird; dagegen wird jeder einen großen Mangel in dieser Beziehung haben, der zu früh Lesen und Schreiben lernt. Eine auf Menschenerkenntnis gebaute Pädagogik muß durchaus davon ausgehen, die Entwickelung, die Lebensbedingungen der Men­schennatur abzulesen und im Sinne dieses Ablesens der Lebensbedin­gungen so dem Kinde zu helfen, daß die eigene Natur des Kindes her­auskommt. Einzig und allein dann ist die Erziehungskunst wirklich gesund.

Um alles weitere einzusehen, ist es nötig, daß wir uns ein wenig auf die Wesenheit des Menschen einlassen. Wir haben im Menschen zu­nächst seinen physischen Leib, der sich in der Entwickelung vorzugs­weise betätigt in der ersten Lebensepoche. In der zweiten Lebensepoche

70

kommt der höhere, feinere Leib des Menschen, sein ätherischer Leib namentlich zur Entwickelung. Hier handelt es sich nun wirklich dar­um, daß man bei der Menschenbetrachtung im echten Sinne wissen­schaftlich vorgehen kann und denselben Mut hat, wie man ihn sonst in der Wissenschaft heute aufbringen muß. Wenn man irgendeine Sub­stanz hat, die einen bestimmten Wärmegrad zeigt, so kann es sein, daß man die Substanz in Verhältnisse bringt, wodurch Wärme - von der man sagt, daß sie an die Substanz gebunden ist - frei wird. Sie kommt heraus, sie wird dann freie Wärme. Für Substanzen der mineralischen Welt haben wir den Mut, wissenschaftlich davon zu sprechen, daß wir sagen, gebundene Wärme und freie Wärme ist da. Diesen Mut müssen wir für die Gesamtbetrachtung der Welt bekommen. Haben wir ihn, so zeigt sich uns für den Menschen das Folgende.

Wir können fragen: Wo sind denn die Kräfte des ätherischen Leibes des Menschen in der ersten Lebensepoche? - Sie sind während dieser Zeit gebunden an den physischen Leib, sind in seiner Ernährung und in seinem Wachstum beschäftigt. Das Kind ist in dieser ersten Epoche anders als später. Die gesamten Kräfte des ätherischen Leibes sind da an den physischen Leib gebunden; sie werden mit dem Ablauf der ersten Epoche zum Teil frei, wie die Wärme in den Substanzen frei wird, die vorher gebunden war. Was aber tritt damit ein? Nur ein Teil des ätherischen Leibes wirkt nach dem Zahnwechsel im Wachstum und in den Ernährungskräften; der andere Teil wird frei und wird nun der Träger des sich ausbildenden intensiveren Gedächtnisses, des Seelen-haften. Wir müssen sprechen lernen von der gebundenen Seele für die Zeit der ersten 7 Lebensjahre, und von der freigewordenen Seele für die Zeit nach dem 7. Jahre. Denn so ist es. Was wir als Seelenkräfte in den zweiten 7 Lebensjahren anwenden, das ist in den ersten 7 Lebens­jahren gebunden an den physischen Leib, unwahrnehmbar; daher tritt es nicht psychisch hervor. Wie die Seele in den ersten 7 Lebensjahren wirkt, das muß man dem Leibe abschauen. Und erst vom Zahnwechsel an kann man in das Seelische hinein.

Das ist eine Betrachtungsweise, die unmittelbar von der Physik so­gar in die Psychologie hineinführt. Bedenken Sie, was man heute als Seelenlehren hat; man hat Seelenlehren, die rein auf Spekulation be­ruhen.

71

Man denkt nach und findet, das Seelische sei da, das Körper­liche sei da. Nun fragt man: Wirkt das Körperliche auf das Seelische verursachend oder wirkt das Seelische auf das Körperliche verur­sachend? - Kommt man mit beiden nicht zurecht, so erfindet man so etwas außerordentlich Groteskes wie den psychophysischen Parallelis­mus, wo man sich vorstellt, daß die beiden Äußerungen, Körperliches und Seelisches, parallel gehen, nebeneinander. Man erklärt aber damit nicht das Zusammenwirken der beiden, sondern spricht nur von einem Parallelismus. Es ist das nur ein Zeichen dafür, daß man aus der Er­fahrung nichts über diese Dinge weiß. Würde man Erfahrungen haben, so würde man sagen: In den ersten 7 Lebensjahren des Kindes sieht man ja das Seelische im Körperlichen wirken. - Wie es da wirkt, das muß man durch Anschauung kennenlernen, nicht durch philosophische Spekulationen oder dergleichen. Die Anthroposophie als Erkenntnis-methode weist alle Spekulationen zurück und geht überall auf Erfah­rung, allerdings auf physische und geistige Erfahrung.

So wird für die zweite Lebensepoche, für die Zeit vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, für die Erziehung vorzugsweise der ätherische Leib des Menschen in Betracht kommen. In ihm sind für den Lehrer und das Kind vor allem die Kräfte wirksam, die im Kinde vorzugs­weise Gefühle auszulösen haben, noch nicht Urteile und Gedanken. Denn tief drinnen in der kindlichen Natur steckt noch, zwischen Zahn-wechsel und Geschlechtsreife, das dritte Glied der menschlichen Wesen­heit, der astralische Leib, der der Träger des gesamten Gefühls- und Empfindungslebens ist. Er steckt noch, auch während dieser zweiten Lebensepoche, tief im ätherischen Leibe. Daher haben wir die Aufgabe, den ätherischen Leib - weil er etwas frei wird - so zu entwickeln, daß er seinen eigenen Neigungen bei der Erziehung nachgehen kann. Wann kann er das? Das kann er dann, wenn wir das Kind im ganzen Um­fange unterrichten und erziehen durch Bildlichkeit, wenn wir alles bildlich an das Kind heranbringen. Denn der ätherische Leib ist ja der Bildekräfteleib; er bildet die wunderbaren Formen der Organe, Herz, Lungen, Leber und so weiter. Der physische Leib, den wir vererbt be­kommen, ist nur wie ein Modell; er wird in den ersten 7 Lebensjahren abgelegt. Nach dem Zahnwechsel wird von diesem ätherischen Leib

72

dann der zweite physische Leib ausgebildet. Da müssen wir jetzt in der Erziehung diesem Plastisch-Bildhaften des ätherischen Leibes entgegen­kommen.

So, wie wir an das Kind heranbringen Bilder, beim Schreibenlernen als zeichnendes Malen und so weiter - aber wir können nicht bald genug das Künstlerische an das Kind heranbringen, denn der ganze Unterricht muß ein künstlerisch durchdrungener sein -, so müssen wir beachten: wie der ätherische Leib auf Bildhaftigkeit berechnet ist, so ist der astralische Leib, der dem Gefühis- und Empfindungsleben zu­grunde liegt, hinorganisiert auf die musikalische Natur des Menschen. Worauf müssen wir also schauen, wenn wir das Kind beobachten? Ein seelisch gesundes Kind ist, weil der astralische Leib zwischen Zahn­wechsel und Geschlechtsreife noch drinnensteckt im physischen und ätherischen Leib, tief innerlich musikalisch. Jedes gesunde Kind ist tief innerlich musikalisch. Wir müssen nur aus der Bewegung und aus der Regsamkeit des Kindes das Musikalische hervorrufen. Daher ist der künstlerische Unterricht, sowohl in den bildenden Künsten wie in den musikalischen Künsten, von Anfang an in der Schule zu pflegen. Nicht das Abstrakte darf da herrschen, sondern es muß das Künstlerische herrschen, und aus dem Künstlerischen muß das Kind hineingeführt werden in das Begreifen der Welt.

Aber da müssen wir wirklich so vorgehen, daß das Kind allmählich sich in die Welt hineinstellen lernt. Ich habe schon gesagt, es ist mir immer ein zuwiderer Anblick, wenn man die heutigen, nach der Wis­senschaft orientierten Lehrbücher in die Schule hineinträgt und danach den Unterricht einrichtet. Denn wir sind heute in unserem Wissen­schaftsbetriebe, den ich voll anerkenne, vielfach von der naturgemäßen Weltbetrachtung abgekommen. Wir werden, indem wir anderes im Verlaufe der Besprechung nachholen werden, uns jetzt fragen: Wann kann ungefähr das einsetzen, was man an die Kinder heranbringen wird zum Beispiel in bezug auf die Kenntnis des Pflanzlichen?

Zu spät nicht und nicht zu früh darf es vorgebracht werden. Man muß sich darüber klar sein, daß so zwischen dem 9. und 10. Lebensjahr für das Kind ein sehr wichtiger Entwickelungspunkt ist. Wer pädago­gische Augen hat, beobachtet das bei jedem Kinde. Da kommt ein Zeitpunkt,

73

wo das Kind meistens nicht, indem es spricht, sondern in seinem ganzen Verhalten zeigt: es hat eine Frage oder eine Summe von Fragen, die eine innere Krisis des Lebens verraten. Es ist ein außerordentlich zartes Erlebnis beim Kinde, und es muß außerordentlich zart sein, wenn man es bei ihm bemerken will. Aber da ist es und es muß beobachtet werden. In diesem Lebensalter lernt nämlich das Kind ganz instinktiv, sich von der Außenwelt zu unterscheiden. Vorher fließen Ich und Außenwelt ineinander. Man kann vorher dem Kind erzählen von Tie­ren und Pflanzen und Steinen, wie wenn sie sich benehmen würden wie Menschen; und man kommt am besten zurecht, wenn man an das bildliche Auffassen des Kindes sich wendet und in dieser Weise über die ganze Natur spricht. Aber zwischen dem 9. und 10. Jahre lernt das Kind mit vollem Bewußtsein zu sich «Ich» zu sagen. Es lernt dies schon früher, aber jetzt mit vollem Bewußtsein. In diesen Jahren, wo das Kind nicht mehr mit seinem Bewußtsein mit der Außenwelt verfließt, sondern sich von ihr unterscheiden lernt, da ist der Zeitpunkt, wo wir auch anfangen können, ohne die Bildhaftigkeit gleich zu verleugnen, Verständnis für die Pflanzenwelt - aber gefühlsmäßiges Verständnis für die Pflanzenwelt dem Kinde beizubringen.

Nun sind wir heute gewohnt, die eine Pflanze neben der andern an­zuschauen, denn wir wissen, wie sie heißen und so weiter, und tun so, wie wenn eine Pflanze eben für sich wäre. Aber wenn man in dieser Weise die Pflanze betrachtet, dann ist es eben so, wie wenn Sie sich ein Haar ausreißen und, indem Sie vergessen, daß es auf Ihrem Kopfe war, es für sich betrachten und glauben würden, daß Sie von dem Haar etwas über seine Lebensbedingungen und sein Wesen wissen können, wenn Sie es nicht als einen Auswuchs des Kopfes betrachten. Das Haar hat nur einen Sinn, wenn es auf dem Kopfe wächst; man kann es nicht für sich betrachten. So ist es auch mit der Pflanze. Man kann sie in der Betrachtung nicht ausreißen, sondern man muß die ganze Erde als einen Organismus betrachten, zu dem die Pflanzen dazugehören. Sie ist es auch. Die Pflanzen gehören so zum gesamten Erdenwachstum, wie die Haare zu unserem Kopfe. Man kann niemals die Pflanzen abge­sondert betrachten, sondern nur im Zusammenhange mit der ganzen Natur der Erde. Erde und Pflanzenwelt gehören zusammen.

74

Nehmen Sie an, Sie haben eine krautartige, einjährige Pflanze, die aus der Wurzel aufwächst, Stengel, Blätter und Blüten treibt, die Frucht entwickelt und im nächsten Jahre wieder weiter ausgesät wird. Dann haben Sie unten Erde, in der wächst die Pflanze. Jetzt nehmen Sie aber einen Baum an. Der dauert, der ist nicht einjährig. Er entwickelt um sich herum die sich mineralisierende, daher auch abborkende Rinde. Was ist denn das eigentlich in Wirklichkeit? Was da vorgeht, ist dieses Wenn Sie bei einer Pflanze die herum befindliche Erde ihren Kräften nach etwas heraufschieben auf die Pflanze, sie etwas mit Erde bedecken würden, so würden Sie dies äußerlich-mechanisch durch menschliche Tätigkeit zustande bringen. Dasselbe aber tut die Natur, indem sie den Baum in die Baumrinde einhüllt; nur wird es da nicht ganz Erde. Es ist in der Baumrinde gewissermaßen ein Erdhügel da, die Erde stülpt sich auf. Wir können die Erde mitgedeihen, mitwachsen sehen, indem wir den Baum wachsen sehen. Daher ist das, was in der Umgebung der Wurzel ist, durchaus dem zuzurechnen, was zur Pflanze gehört. Wir müssen den Erdboden als zur Pflanze gehörig ansehen.

Wer sich dafür einen Blick angeeignet hat und durch eine Gegend fährt, wo er Pflanzen sieht, die oben eine gelbe Blüte haben, der schaut sogleich nach, was dort für ein Erdboden ist: da werden Sie, wenn Sie ganz bestimmte Blüten finden, unten zum Beispiel rotliegende Erde finden. Sie werden sich niemals die Pflanze ohne die Erde denken kön­nen. Beide gehören zusammen. Und man gewöhne sich möglichst zeitig daran, sonst ertötet man sich den Sinn für Wirklichkeiten.

Wie sehr ging mir das zu Herzen, als ich, aufgefordert von Land­wirten, kürzlich einen landwirtschaftlichen Kursus zu halten hatte, wo gleich nachher ein Landwirt sagte: Heute weiß es jeder, daß unsere Vegetabilien absterben, in die Dekadenz kommen, und zwar mit einer furchterregenden Schnelligkeit. - Warum ist das? Weil es die Menschen nicht mehr verstehen, wie es die Menschen ursprünglich, wie es die Bauern verstanden haben, den Erdboden in Verbindung mit den Pflan­zen anzusehen. Will man aber die Vegetabilien wieder in ihrem Ge­deihen fördern, so muß man sie auch in der richtigen Weise zu behan­deln verstehen, das heißt, man muß richtig düngen können. Man muß dem Erdboden die Möglichkeit geben, daß er wirklich in der Umgebung

75

der Pflanzenwurzel richtig leben kann. - Wir brauchen heute nach der Mißentwickelung, die gerade die Landwirtschaft erfahren hat, eine geisteswissenschaftlich angeregte Landwirtschaft, die uns die Düngemittel so verwenden läßt, daß nicht das Pflanzenwachstum in die Dekadenz kommt. Wer so alt geworden ist wie ich, der kann sagen: Ich weiß, wie die Kartoffeln vor 50 Jahren in Europa ausgesehen haben - und wie sie jetzt aussehen! Wir haben heute nicht nur den Un­tergang des Abendlandes in bezug auf die Kultur der Seelen, sondern auch tief hineingehend in die andern Naturreiche, zum Beispiel in bezug auf die Agrikultur.

So handelt es sich also darum, daß nicht der Sinn ertötet werden darf für die Zusammengehörigkeit von Pflanze und ihrer Umgebung, daß man nicht bei Schulausflügen und dergleichen die Pflanzen aus-reißt, in die Botanisiertrommel steckt, dann in die Klasse bringt und nun glaubt, damit sei etwas getan. Denn die ausgerissene Pflanze kann ja nicht für sich bestehen. - Die Menschen geben sich heute ganz irrea­len Betrachtungen hin. Sie sehen zum Beispiel ein Stück Kreide und eine Blume für ein Reales im gleichen Sinne an. Die Philosophen be­trachten heute beide Dinge im gleichen Sinne als etwas Seiendes. Aber was ist das für ein Unsinn! Das Mineral kann für sich bestehen, und es kann das tatsächlich. Die Pflanze soll irgend etwas Abgeschlossenes sein; aber sie kann es nicht, sie hört auf zu sein, wenn man sie aus dem Boden herausreißt. Sie hat nur ein Erdensein, indem sie an etwas anderem ist; und das andere hat nur ein Sein, indem es an der ganzen Erde ist. Man muß die Dinge so betrachten, wie sie in der Totalität sind, darf sie nicht herausreißen aus der Totalität.

Fast unsere ganze Erkenntnisanschauung wimmelt heute von sol­chen irrealen Anschauungen. Daher sind wir in Naturbetrachtungen hineingekommen, die ganz abstrakt sind, die in ihrer Abstraktheit zum Teil auch berechtigt sind, wie zum Beispiel die Relativitätstheorie. Aber wer real denken kann, der kann Begriffe nicht bloß in der Abstraktion so fortlaufen lassen, sondern er merkt, wo die Begriffe anfangen sich nicht mehr auf eine Realität zu beziehen. Das tut ihm dann weh. - Sie können natürlich ganz gut den Gesetzen der Akustik nachgehen und können sagen: Wenn ich einen Schall errege, so hat die Verbreitung des

76

Schalles eine gewisse Geschwindigkeit. Wenn ich den Schall irgendwo an einer bestimmten Stelle höre, so kann ich berechnen, wie er sich in einer bestimmten Zeit fortpflanzt. Bewege ich mich nun in irgendeiner Geschwindigkeit in der Fortpflanzungsrichtung des Schalles, so höre ich ihn später; wird meine Geschwindigkeit größer als die des Schalles, so höre ich ihn überhaupt nicht; gehe ich aber dem Schalle entgegen, so höre ich ihn früher. Die Relativitätstheorie hat ihre bestimmte Be­rechtigung. Aber danach kann auch folgendes sein: bewege ich mich nun so, daß ich, dem Schalle entgegen, schneller gehe, als der Schall läuft, dann komme ich schließlich auch darauf hinaus, daß ich den Schall eher höre, ehe es geknallt hat! So etwas spürt der, der eine wirk­lich realistische Denkweise hat. Ein solcher weiß auch, daß es ganz richtig, wunderbar logisch gedacht ist, daß eine Uhr mit Lichtgeschwin­digkeit in den Weltenraum hinausgeworfen wird und von dort wieder zurückkommt, nach dem berühmten Vergleich, der von Einstein ge­geben worden ist. Man kann so wunderbar ausdenken, wie da an der Uhr sich nichts verändert habe. Aber für einen realistischen Denker stellt sich die Frage ein: Wie dann die Uhr ausschaut, wenn sie zurück­kommt? - denn er trennt nicht sein Denken von der Wirklichkeit, er steht immer in der Wirklichkeit drinnen.

Das ist das Eigentümliche der Geisteswissenschaft, daß sie niemals die Forderung aufstellt, bloß logisch zu sein, sondern wirklichkeits­gemäß zu sein. Daher werden heute die, welche die Abstraktionen bis in die Puppen treiben, uns Anthroposophen vorwerfen, daß wir ab­strakt sind, weil gerade unsere Denkweise die absolute Realität überall sucht, nie heraus will aus dem Zusammenhange mit der Wirklichkeit, wobei man allerdings die geistige Realität mit erfaßt. Dadurch kann man so scharf hinsehen auf das Unnatürliche der an die Botanisier­trommel angeschlossenen Pflanzenkunde.

Es handelt sich also darum, daß man dem Kinde Pflanzenlehre so beibringt, daß man das Antlitz der Erde als solches berücksichtigt, Boden und Pflanzenwachstum als eines behandelt, so daß das Kind nie die Vorstellung von der abgesonderten Pflanze hat. Für den Lehrer kann das unangenehm sein. Denn er kann sich jetzt nicht die gewöhn­lichen Botaniken in die Klasse mitnehmen, sie während des Unterrichtes

77

rasch aufschlagen und so tun, als ob er alles ganz genau wüßte. Ich sagte schon, es gibt heute für den Botanikunterricht noch keine rich­tigen Handbücher. Aber diese Art des Unterrichtens bekommt noch ein anderes Gesicht, wenn man weiß, wie Imponderabilien wirken, und wenn man berücksichtigt, daß das Unterbewußte im Kinde noch stärker wirkt als beim späteren Menschen. Dieses Unterbewußtsein ist furcht­bar gescheit und wer ins geistige Leben des Kindes hineinschauen kann, der weiß, wenn da eine Klasse sitzt, und der Lehrer mit seinen Notizen herumgeht und den Kindern beibringen will, was die Notizen enthal­ten, daß da die Kinder immer urteilen: Ja, warum soll ich das wissen? Der weiß es doch selber nicht! - Das stört ungeheuer den Unterricht, denn es webt aus dem Unterbewußtsein herauf. Und es wird nichts aus einer solchen Klasse, die man mit Notizen in der Hand unterrichtet.

Man muß überall ins Geistige hineinsehen. Das ist insbesondere zur Entwickelung der pädagogischen Kunst notwendig. Dadurch aber schafft man ein festes Drinnenstehen des Kindes in der Welt. Denn jetzt bekommt das Kind nach und nach die Vorstellung, die Erde ist ein Organismus. Das ist sie nämlich auch. Und wenn sie anfängt un­lebendig zu werden, dann müssen wir bei unseren Agrikulturpflanzen anfangen nachzuhelfen durch richtiges Düngen. - Es ist zum Beispiel nicht wahr, daß das Wasser, das in der Luft enthalten ist, dasselbe ist wie unten in der Erde. Das Wasser unten hat eine Spur von Vitalität; das Wasser oben büßt das ein, und es belebt sich erst wieder im Hin-untergehen. Das sind alles Dinge, die da sind, die real sind. Wer diese Dinge nicht aufnimmt, der verbindet sich nicht real mit der Welt. Dies für die Pflanzenwelt im Unterricht.

Nun kommt die Tierwelt. Wir können sie nicht so betrachten, daß sie zur Erde gehört. Das zeigt sich schon daran, daß die Tiere herum­laufen können; sie sind schon für sich selbständig. Aber wenn wir wie­der die Tiere mit dem Menschen vergleichen, so finden wir etwas sehr Eigentümliches in der Gestaltung der Tiere. Darauf ist in der älteren instinktiven Wissenschaft immer hingewiesen worden, wovon noch Nachklänge im ersten Drittel des 19.Jahrhunderts vorhanden waren. Nur kommt es den heutigen Menschen ganz närrisch vor, wenn sie mit ihren Anschauungen heute Aussprüche von solchen Naturphilosophen

78

lesen, die noch nach alten Traditionen die Tierwelt in ihrem Verhältnis zur Menschenwelt betrachtet haben. Ich weiß, wie sich die Leute vor Lachen kaum gehalten haben in einem Kreise, wo aus einer Vorlesung des Naturphilosophen Oken der Satz herauskam: ... . die menschliche Zunge ist ein Tintenfisch». Was sollte damit gesagt werden? Natürlich ist die Einzelheit bei Oken nicht mehr richtig gewesen, aber es lag das Prinzip zugrunde, das man dabei haben muß: Wenn man die einzelnen Tierformen ansieht von den kleinsten Protisten bis zu den vollkomme­nen Affentieren, so stellt jede Tierform irgendein Stück des Menschen, ein menschliches Organ oder ein Organsystem, einseitig ausgebildet, dar. Sie brauchen ja nur die Sache grob zu betrachten. Stellen Sie sich einmal vor, bei einem Menschen würde die Stirn sehr zurücktreten, die Kiefer würden sehr hervorstehend werden, die Augen, statt nach vorn, hinaufsehen; es würde also das Gebiß mit dem, was daranstößt, ein­seitig ausgebildet werden. Sie können sich auf diese Weise, vereinseitigt ausgebildet, die verschiedensten Säugetierformen vorstellen; Sie können sich, indem Sie von der menschlichen Gestalt dies oder jenes weglassen, die menschliche Gestalt in eine Ochsenform, in eine Schafform und so weiter verwandeln. Und wenn Sie innere Organe nehmen, zum Beispiel die, welche mit dem Fortpflanzungstrakt zusammenhängen, so kommen Sie hinunter ins Reich der niederen Tiere. - Dieser Mensch ist die syn­thetische Zusammenfügung der einzelnen Tierformen, die sich mildern, wenn sie in die Einheit zusammengefaßt werden. Der Mensch ist die ganzen Tierformen zusammen, aber harmonisch gegliedert. Wenn ich das, was in den Menschen aufgelöst ist, wieder zurückverfolge bis zu seinen Urformen, so bekomme ich also die ganze Tierwelt. Es ist der Mensch die zusammengezogene Tierwelt.

Diese Betrachtungsweise, die uns mit unserem ganzen Seelenleben wieder richtig hineinstellt in die Tierwelt, ist ganz vergessen worden. Da sie aber wahr ist und tatsächlich den Entwickelungsprinzipien zu­grunde liegt, so muß sie wieder belebt werden. Und wir müssen, soweit es heute möglich ist, tatsächlich an das Kind, so gegen das ii. Jahr, nachdem wir die Pflanzenwelt betrachtet haben als zur Erde gehörig, die Tierwelt in der Weise heranbringen, daß wir sie ihren Formen nach als zum Menschen im engeren Sinne gehörig erkennen. Denken Sie, wie

79

der junge Mensch dann zu Tier und Pflanze steht: die Pflanzen gehen zur Erde, werden mit der Erde eins; die Tiere werden mit ihm eins! Das ist wirklich das Begründen eines Verhältnisses zur Welt; das stellt den Menschen in eine Realität zur Welt. - Das kann immer mit dem Unterrichtsstoff an das Kind herangebracht werden. Und geht alles im künstlerischen Sinne einher, geht es einher mit dem, was den Menschen seiner inneren Wesenheit nach erfaßt im lebendigen Erziehen und Un­terrichten, dann belebt man das Kind für das Leben; sonst aber ertötet man leicht den Zusammenhang zum Leben. Aber man muß eben hin­einschauen in die ganze menschliche Wesenheit.

Was ist denn eigentlich dieser Ätherleib? Ja, wenn jemand den Äther-leib aus dem physischen Leib des Menschen herausnehmen könnte und ihn imprägnieren könnte, so daß er sichtbarlich eine Form zeigte - es gäbe kein größeres Kunstwerk als dieses! Denn der menschliche Äther-leib ist durch seine eigene Wesenheit, durch das, was der Mensch in ihm gestaltet, Kunstwerk und Künstler zugleich. Und indem wir das Bil­dende in dem Künstlerischen an das Kind heranbringen, bringen wir das Tiefverwandte zum Ätherleib an es heran, indem wir in freier Weise, wie ich es gestern angedeutet habe, modellierend mit dem Kinde uns beschäftigen. Das macht das Kind fähig, indem es innerlich seine eigene Wesenheit ergreift, sich als Mensch richtig in die Welt hinein-zustellen

Und indem wir das Musikalische an das Kind heranbringen, bildet es den astralischen Leib aus. Fügt man beides zusammen, macht man das Plastische so, daß es in Bewegung übergeht, und macht man die Bewegung plastisch, dann hat man die Eurythmie, die ganz aus der Beziehung des Ätherleibes zum astralischen Leibe beim Kinde folgt. Daher lernt jetzt das Kind Eurythmisieren, diese in artikulierten Gebärden sich offenbarende Sprache, wie es in früheren Jahren das Sprechen von selbst gelernt hat. Man wird beim Eurythmielernen nie Hemmnisse finden, wenn das Kind gesund ist; denn es setzt in der Eurythmie einfach seine eigene Wesenheit heraus, es will seine eigene Wesenheit verwirklichen. Daher haben wir in der Waldorfschule die Eurythmie vom 1 .Volksschuljahre an bis zu den Oberklassen als einen obligatorischen Unterrichtsgegenstand eingeführt neben dem Turnen.

80

So sehen Sie, die Eurythmie ist aus dem ganzen Menschen, aus phy­sischem Leib, Ätherleib und Astralleib heraus entstanden; sie kann man nur mit änthroposophischer Menschenerkenntnis studieren. Das heutige Turnen richtet sich einseitig physiologisch auf den physischen Leib; und weil die Physiologie nicht anders kann, werden einzelne Vitälitäts­gesetze hineingebracht. Aber man erzieht durch das Turnen nicht Total-menschen, nur Partialmenschen. Es soll damit nichts gegen das Turnen gesagt werden, aber heute überschätzt man es. Deshalb muß heute für die Erziehung die Eurythmie an die Seite des Turnens treten. - Ich möchte nicht zu weit gehen, wie es einmal, nicht von mir, sondern von einem sehr berühmten Physiologen der Gegenwart geschah, der einmal, als ich über Eurythmie sprach, im Auditorium war. Ich sprach es da aus, daß das Turnen heute überschätzt werde, namentlich als Erzie­hungsmittel, und daß das geistig-seelische Turnen, das in der Eurythmie gepflegt wird neben dem Künstlerischen der Eurythmie, an die Seite des physiologischen Turnens treten müsse. Nachdem ich zu Ende ge­sprochen hätte, kam der berühmte Physiologe zu mir und sagte: Sie sägen, das Turnen hätte eine Berechtigung als Erziehungsmittel, weil die Physiologen das sagen? Ich, als Physiologe, muß sagen, das Turnen ist überhaupt als Erziehungsmittel eine Bärbarei! - Nun, Sie würden sehr erstaunt sein, wenn ich Ihnen den Namen dieses Physiologen nen­nen würde. Solche Dinge sind auch schon anschaulich in der Gegen­wart für Leute, die etwas mitzureden haben, und man muß daher vor­sichtig sein, wenn man, ohne die Zusammenhänge zu durchschauen, gewisse Dinge fanatisch vertritt. Am wenigsten kann man in bezug auf die pädagogische Kunst Dinge fanatisch vertreten, weil man es da mit dem vielgestaltigen Leben des Menschen zu tun hat.

Wenn Sie das, was zu den übrigen Kenntnissen gehört, die an das Kind herangebrächt werden müssen, unter die Gesichtspunkte rücken werden, die sich durch das Auseinändergesetzte ergeben, dann kommen Sie dazu, nun in dem Lebensalter, wo das Kind nur durch das Fühlen das Bildhafte aufnehmen kann, auch zum Beispiel Geschichte und Geo­graphie bildhaft zu treiben; so daß Sie also Bilder hinstellen müssen, wenn Sie Geschichtsunterricht treiben, plastische Bilder, malerische Bilder! Daran entwickelt sich der Sinn des Kindes. Denn was in den

81

ersten zwei Epochen des zweiten größeren Lebensabschnittes, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, vor allen Dingen noch nicht in dem Kinde lebt, das ist das, was man den Ursachenbegriff nennt. Vor dem 7. Jahre sollte das Kind überhaupt nicht zur Schule kommen. Wenn Sie die Zeit vom 7. bis zum 9. und 1/3 Jahr nehmen, so haben Sie dann wiederum die erste Unterabteilung des zweiten großen Lebens­abschnittes; von 91/3 bis zu 112/3 Jahren haben Sie die zweite Epoche; und von 112/3 bis zum 14. Jahre, approximativ, die dritte Epoche. In der ersten Epoche der zweiten Überepoche ist das Kind ganz auf Bild­haftigkeit veranlagt. Da muß man märchenhaft sprechen, da muß alles in der Außenwelt noch ungeschieden sein von der kindlichen Natur. Da muß die eine Pflanze mit der andern sprechen, ein Mineral mit dem andern sprechen; da müssen Pflanzen sich küssen, da müssen Pflanzen Vater und Mutter haben und so weiter. Wenn jener Zeitpunkt heran­gekommen ist, den ich eben charakterisiert habe, von 91/3 Jahren an, dann wird das Ich anfangen sich zu unterscheiden von der Außenwelt. Da kann man dann auch mit einer Art Realerkenntnis an die Pflanzen und Tiere herankommen. Aber immer wird man das Geschichtliche in den ersten Lebensjahren überhaupt noch märchenhaft, mythenhaft be­handeln; in der zweiten Lebensepoche dieses größeren Abschnittes, von 91/3 bis 112/3 Jahren, wird man bildhaft sprechen. Und erst wenn das Kind nahezu das 12.Lebensjähr erreicht, kann man mit dem kommen, was man unter der Gewalt des Ursachenbegriffes betrachtet, was etwas nach abstrakten Begriffen hinübergeht, wobei Ursache und Wirkung auftreten kann. Vorher ist das Kind für Ursache und Wirkung so un­zugänglich wie der Farbenblinde für die Farben, und man ahnt als Er­zieher manchmal gar nicht, wie unnötig man dem Kinde von Ursache und Wirkung redet. Woran wir heute so gewöhnt sind in dem wissen­schaftlichen Betrachten, davon kann man dem Kinde erst nach dem 12. Jahre sprechen.

Das aber erfordert auch, daß man mit allem Unterricht über das Leblose, wo eben der Ursachenbegriff in Betracht kommt, wartet bis gegen das 12. Jahr, und daß man mit dem geschichtlichen Betrachten über Ursache und Wirkung in der Geschichte, wo es über das Bild­hafte hinausgeht und die Ursachen gesucht werden, auch wartet bis

82

gegen das 12. Jahr. Vorher sollte man es nur mit dem zu tun haben, was man an das Kind heränbringt an Seelischem, an Lebendigem. - Die Menschen sind sehr merkwürdig. Da gibt es zum Beispiel eine kultur­historische Anschauung, die sich Animismus nennt. Die sagt: Wenn das Kind sich an einem Tische stößt, so beseelt es den Tisch, es prügelt ihn; es träumt eine Seele in den Tisch hinein; so hätten es auch die Natur­völker gemacht. - Man stellt sich vor, daß da etwas Komplizierteres in der Seele des Kindes vor sich geht: das Kind soll den Tisch belebt, beseelt denken, und deshalb ihn prügeln, wenn es sich stößt. Es ist das eine phantastische Vorstellung. Wer aber etwas beseelt, das ist eben derjenige, der Kulturgeschichte treibt; der beseelt das Vorstellungs­vermögen des Kindes. Aber das Seelische des Kindes ist in einem viel größeren Maßstäbe im Körperlichen drinnen als später, wo es sich emanzipiert und als Seelisches frei wirkt. Wenn das Kind sich am Tische stößt, so beginnt eine Reflexbewegung, ohne daß das Kind den Tisch beseelt; es ist reine Willensbewegung, es unterscheidet sich noch nicht von der Außenwelt. Diese Unterscheidung tritt erst ein, wenn gegen das 12. Jahr beim gesunden Kinde der Ursachenbegriff eintritt. Und wenn man mit dem Ursachenbegriff, überhaupt mit so brutalen äußeren Anschaulichkeiten beim Kind zu früh arbeitet, dann ruft man eigentlich fürchterliche Zustände in der Entwickelung des Kindes her­vor. Es ist ja sehr schön, wenn man sagt, man soll sich bemühen, dem Kinde alles anschaulich zu machen. Wieviel Nettes ist nach einer ge­wissen Richtung geschehen unter dem Bestreben, alles anschaulich zu machen. Rechenmaschinen sind aufgetreten, wo Kugeln hin- und her-geschoben werden, um die Rechnungsoperationen anschaulich zu machen. Nun wartet man nur, daß dieselbe Gesinnung die moralischen Begriffe anschaulich macht durch irgendeine Maschine, wo man dann auch irgend etwas verschiebt, wo man das Gute und das Böse so sieht wie man bei der Rechenmaschine sieht, daß 5+7 = 12 sind. Aber es gibt eben durchaus Gebiete des Lebens, die unanschaulich sind und die von dem Kinde ganz unänschaulich aufgenommen werden; und wenn man sie anschaulich macht, so täuscht man. Daher ist es falsch, wenn man etwas, was nicht auf Anschaulichkeit gestellt ist, in den pädago­gischen Büchern angeraten sieht, in die Anschaulichkeit zu bringen.

83

Es sind manchmal furchtbare Trivialitäten, welche da den Menschen angeraten werden.

Aber es handelt sich in dem Lebensalter zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife nicht nur um Anschaulichkeit, sondern darum, daß, wenn man auf das ganze Menschenleben blickt, folgendes beginnt. Ich nehme im 8. Jahre einen Begriff auf; ich durchschaue ihn noch nicht, ich durchschaue überhaupt die Sache nach abstrakten Zusammen­hängen gar nicht, bin ja auch dazu noch nicht veranlagt. Warum nehme ich denn den Begriff auf? Weil das durch die Spräche, durch die selbst­verständliche Autorität des Lehrers auf mich wirkt. Aber das soll man ja heuten alles nicht machen dürfen; es soll das Kind alles anschaulich bekommen. Aber nehmen wir ein Kind, das alles anschaulich bekommt, da wachsen aber die Erlebnisse nicht mit dem Kinde weiter, dann rechnet man damit, daß man es mit einem Wesen zu tun hat, das nicht wächst. Wir sollen aber in dem Kinde nicht Vorstellungen erwecken, die nicht mit ihm wachsen; denn dann würden wir dasselbe tun, wie wenn wir einem dreijährigen Kinde Schuhe machen lassen, die es später mit 12 Jahren noch tragen soll. Aber alles wächst am Menschen, auch das, was wir einmal begreifen; daher müssen dieBegriffe mit uns weiter wachsen. Wir müssen also durchaus sehen, daß wir lebendige Begriffe in das Kind hineinbringen. Die bringen wir ihm aber nur bei, wenn der lebendige Bezug zur Autorität des Erziehers vorhanden ist; die bringen wir ihm nicht bei, wenn der Lehrer als Abstraktling vor dem Kinde dasteht und Begriffe vorbringt, für die das Kind noch gar keine Emp­fänglichkeit hat.

Stellen Sie sich zwei Kinder vor. Das eine wird so unterrichtet, daß es seine Begriffe aufnimmt, und daß es schließlich mit 45 Jahren für ein Ding noch dieselbe Erklärung gibt, die es einmal mit 8 Jahren ge­lernt hat. Der Begriff ist nicht herangewachsen mit dem Kinde; es hat sich alles gut gemerkt und kann mit 45 Jahren noch immer dieselbe Erklärung geben. Nehmen wir nun ein zweites Kind, das in lebendiger Weise erzogen ist. Da werden wir finden, gerädeso wie es nicht mehr die Größe der Schuhe trägt, die es mit 8 Jahren gehabt hat, so trägt es auch im späteren Alter nicht mehr dieselben Begriffe mit sich herum, die es mit 8 Jahren gelernt hat; sondern diese Begriffe sind ausgeweitet,

84

sie sind zu etwas ganz anderem geworden. Das alles aber wirkt wieder zurück auf die Körperlichkeit. Und schauen wir uns jetzt diese zwei Menschen in bezug auf ihre körperliche Verfassung an, so hat der erste mit 45 Jahren die Sklerose, der zweite ist beweglich geblieben, hat nicht Sklerose. - Was denken Sie, was da für Unterschiede in den Men­schen zutage treten? Da gab es einmal an einem Orte Europas zwei Philosophielehrer. Der eine war berühmt in der griechischen Philoso­phie; der andere war ein älter Hegelianer, aus der Schule Hegels, wo der Mensch gewöhnt worden war, nach seinem 20.Jahre noch lebendige Begriffe in sich aufzunehmen. Beide waren an einer Universität. Da wurde der eine 70 Jahre alt und nahm das Recht für sich in Anspruch, sich pensionieren zu lassen; er konnte nicht mehr weiter. Der ändere, aus dem Hegelianismus, war 91 Jahre und sagte: Ich kann nicht be­greifen, warum der Jüngling sich schon zur Ruhe setzt. - Aber dieser zweite hatte auch bewegliche Begriffe. Dafür aber schimpften die Leute, er wäre nicht konsequent. Der ändere war konsequent, aber er hatte die Sklerose!

So ist eine vollständige Einheit des Geistigen und des Leiblichen vor­handen, und man kann auch das Kind nur richtig behandeln, wenn man auf diese Einheit Rücksicht nimmt. Vom Materialismus sagt man heute unter denen, die ihn nicht teilen, er ist etwas Schlimmes. Warum? Da werden manche sagen, er ist es deshalb, weil er nichts versteht vom Geistigen. Aber das ist nicht das Schlimmste, denn diesen Mangel wer­den die Menschen nach und nach merken und aus dem Drang, über diesen Mangel hinauszukommen, werden die Menschen zum Geiste kommen, sondern das Schlimmste am Materialismus ist, daß er nichts von der Materie versteht! Sehen Sie nach, was aus der Erkenntnis der lebendigen Kräfte des Menschen in Lunge, Leber und so weiter gewor­den ist unter dem Einfluß des Materialismus. Man weiß nichts dar­über, wie die Dinge da wirken. Man präpariert aus der Lunge, der Leber und so weiter ein Stück heraus, aber man lernt durch den heu­tigen Wissenschaftsbetrieb nicht den wirkenden Geist in den mensch­lichen Organen kennen. Den lernt man erst durch die Geisteswissen­schaft kennen. Das Materielle erschließt sich erst der geisteswissen­schaftlichen Betrachtung. Daher krankt älso der Materialismus am

85

meisten daran, daß er nichts von der Materie versteht; er möchte sich auf die Materie beschränken, aber er kann nicht zur Erkenntnis des Materiellen kommen - aber des wirklichen Materiellen, nicht des ausgedachten Materiellen, wo man so und so viele Atome um einen zentralen Kern herumtanzen läßt; denn solche Dinge kann man leicht konstruieren. In dieser Beziehung hat es auch früher Theosophen gegeben, die ein ganzes System von Atomen und Mole­külen konstruiert haben; aber das alles war ja ausgedacht. Es han­delt sich wieder darum, daß man an die Wirklichkeit herankommt. Und kommt man selber an die Wirklichkeit heran, so empfindet man es als unbehaglich, daß man einen Begriff fassen soll, der niemals an der Wirklichkeit gefühlt ist. Man empfindet es als Schmerz, wenn einem jemand zum Beispiel eine solche Theorie vorsagt: es sei im Grunde genommen einerlei, ob ich mit einem Auto nach einer Stadt fahre, oder ob das Auto stille steht und die Stadt zu mir kommt. Gewiß, die Dinge sind für eine gewisse Betrachtungsweise berechtigt. Aber so ausgedehnt, wie das heute unter der Gesinnung für Abstraktheiten ge­schieht, veröden sie das ganze menschliche Seelenleben. Und wer einen Sinn dafür hat, dem ergibt sich ein furchtbar schmerzliches Empfinden gegenüber manchem, was man heute denkt und was gerade für den Unterricht so außerordentlich zerstörend wirkt. Wenn ich so sehe, wie gewisse Methoden schon bei kleinen Kindern in den Kindergärten dar­auf hingehen, daß sie die gewöhnlichen Buchstaben eingeschnitten haben und dann lernen, in Eingräbungen die Buchstaben zu Worten zusammenzustellen, so wird damit schon früh an das Kind etwas her-angebracht, wozu es in diesem Alter noch gar keinen Bezug hat. Da ergeht es ihm so, wie wenn man beim realen Denken sagen würde: Ich war doch eben noch ein Mensch mit Muskeln und Haut und so weiter, jetzt bin ich nur noch ein Skelett. - So ist es heute unter dem Einfluß der Gesinnung für Abstraktheiten im Geistesleben der Menschheit:

man erblickt sich plötzlich als Skelett. Aber mit solchen Anschauungen, die eigentlich skelettierte Wirklichkeit sind, kann man in der Pädagogik nicht an das Kind herankommen.

Darum wollte ich heute zeigen, wie es darauf ankommt, daß der Lehrer in richtiger Weise lebendig an das Leben herangehen kann.

86

FÜNFTER VORTRAG Arnheim, 21. Juli 1924

An dieser Stelle der pädagogischen Betrachtungen möchte ich einiges einfügen über die Einrichtungen in der Waldorfschule, die getroffen worden sind, um jene pädagogischen Prinzipien in die Wirklichkeit umzusetzen, von denen ich hier schon gesprochen habe und die ich im weiteren in diesen Vorträgen besprechen werde.

Die Waldorfschule in Stuttgart ist ja diejenige Schule, welche, auf die Anregung von Emil Molt hin, im Jahre 1919 eingerichtet worden ist im Sinne der anthroposophischen Pädagogik. Diese Einrichtung im Sinne der anthroposophischen Pädagogik war dadurch gegeben, daß mir ja die Einrichtung und Leitung dieser Schule übertragen worden ist. Daher wird, wenn ich schildere, wie diese Schule eingerichtet ist, dies zugleich ein Exempel sein für die praktische Verwirklichung der pädagogischen Grundlagen, von denen hier gesprochen wird.

Zunächst möchte ich dieses andeuten, daß die Seele alles Unterrich­tens und Erziehens in der Waldorfschule zunächst die Lehrerkonferenz ist, jene Lehrerkonferenzen, welche regelmäßig vom Lehrerkollegium abgehalten werden und denen ich beiwohne, wenn ich selber in Stutt­gart sein kann. Diese Lehrerkonferenzen befassen sich nun nicht bloß mit demjenigen, was äußere Schuleinrichtungen sind, etwa mit der Ab­fassung des Lehrplanes, mit der Gliederung der Klassen und so weiter, sondern sie befassen sich in einer eingehenden Weise mit dem ganzen Leben der Schule und mit allem, was dieses Leben der Schule beseelen soll. Nun ist ja die Schule daraufhin eingerichtet, Unterricht und Er­ziehung zu leisten auf Grundlage von Menschenerkenntnis, das heißt aber dann, auf Grundlage der Erkenntnis der einzelnen Kinderindivi­dualitäten. Daher bildet die Beobachtung, die psychologische Beob­achtung der Kinderindividualitäten ein wesentliches Moment in der ganzen Ausgestaltung des Unterrichtes im einzelnen, im konkreten. In den Lehrerkonferenzen wird über das einzelne Kind so gesprochen, daß das Wesen der menschlichen Natur eben in jener besonderen In­dividualität erfaßt zu werden versucht wird, die in einem Kinde gegeben

87

ist. Sie können sich denken, daß man da alle Grade und Arten von kindlichen Befähigungen und kindlichen Seelenkräften vor sich hat. Man hat da alles vor sich, was im kindlichen Menschen vorhanden ist von der, man möchte sagen psychologisch-physiologischen Minder­wertigkeit bis hinauf - hoffentlich bestätigt das das Leben - zur Ge­nialität.

Wenn man Kinder beobachten will nach ihrer wirklichen Wesen­heit, dann handelt es sich vor allem darum, daß man den psycholo­gischen Blick für die Kinderbeobachtung sich erwirbt. Dieser psycho­logische Blick schließt nicht nur eine gröbere Beobachtung der ein­zelnen kindlichen Fähigkeiten ein, sondern vor allen Dingen eine Bewertung dieser kindlichen Fähigkeiten. Denn Sie müssen nur das Folgende bedenken: Man kann ein Kind vor sich haben, das außer­ordentlich begabt erscheint in bezug auf Lesen- oder Schreibenlernen, das sehr begabt erscheint zum Beispiel in bezug auf Rechnenlernen oder Sprachenlernen. Aber stehenbleiben dabei, sich zu sagen: Dieses Kind ist begabt, denn es lernt leicht Sprachen, lernt leicht Rechnen und so weiter - das ist eine psychologische Oberflächlichkeit. Im kind­lichen Alter, etwa von 7, 8 oder 9 Jahren, kann die Leichtigkeit, mit der das Kind lernt, bedeuten, daß aus dem Kinde einstmals ein Genie werden wird; sie kann aber ebensogut bedeuten, daß aus ihm einmal ein nervenkranker oder irgendwie anders kranker Mensch wird. Wenn man einen Einblick darin hat, daß ja die menschliche Wesenheit außer dem physischen Leib, der sich dem Auge darbietet, auch noch den ätherischen Leib in sich trägt, der den Wachstums- und Ernährungs­kräften zugrunde liegt, der das Kind größer werden läßt; wenn man weiter bedenkt, daß der Mensch auch einen astralischen Leib in sich hat, der in seinen Gesetzen überhaupt nichts mehr mit dem zu tun hat, was physisch aufbauend ist auf der Erde, sondern der eigentlich das Physische fortwährend abbaut, es zerstört, damit das Geistige Platz hat; und wenn man weiter bedenkt, daß dann noch mit dem Menschen die Ich-Organisation verbunden ist, so daß man die drei höheren Or­ganisationen - ätherischer Leib, astralischer Leib, Ich-Organisation -ebenso beachten muß wie den sichtbaren physischen Leib, dann wird man sich auch eine Vorstellung davon bilden können, wie kompliziert

88

ein solches Menschenwesen eigentlich ist, und wie jedes dieser Glieder der menschlichen Wesenheit bewirken kann, daß auf irgendeinem Ge­biete Begabung oder Nichtbegabung vorhanden ist, oder eine trüge­rische Begabung, eine vorübergehende, krankhafte Begabung sich zeigt. Dafür muß man sich den Blick aneignen, ob nun die Begabung eine solche ist, die nach dem Gesunden hingeht oder eine solche, die etwa nach dem Krankhaften hingeht.

Wenn man diejenige Menschenerkenntnis, von der hier in diesen Vorträgen die Rede ist, mit der nötigen Liebe, Hingabe und Opfer­willigkeit als Lehrer und Erzieher vertritt, dann stellt sich das Eigen­tümliche heraus, daß man im Zusammenleben mit den Kindern - miß-verstehen Sie das Wort nicht, es soll nicht eine Renommage bedeuten -immer weiser und weiser wird. Man findet es sozusagen selber, wie man irgendeine Fähigkeit oder Verrichtung eines Kindes zu taxieren hat. Man lernt sich eben ganz hineinleben in die Natur des Kindes und verhältnismäßig schnell sich hineinleben.

Ich weiß, daß mancher sagen wird: Wenn du uns da behauptest, daß der Mensch außer seinem sichtbaren Leib noch die übersinnlichen Glieder, Ätherleib, Astralleib und Ich-Organisation hat, so könnte doch eigentlich nur der hellsichtige Mensch Lehrer sein, der diese über­sinnlichen Glieder der Menschennatur schauen kann. Das ist aber nicht der Fall. Alles was durch Imagination, Inspiration und Intuition am Menschen geschaut werden kann, wie ich es in meinen Büchern be­schrieben habe, das kann, weil es beim Kinde in der physischen Organi­sation überall sich ausdrückt, auch beurteilt werden an der physischen Organisation. Daher liegt durchaus die Möglichkeit vor, daß ein Lehrer oder Erzieher, der einfach in liebevoller Weise auf der Grundlage einer umfassenden Menschenerkenntnis seinen Beruf ausübt, davon sprechen kann, daß er in einem bestimmten Falle zum Beispiel sagt: Hier liegt vor, daß ein Kind in bezug auf sein Ich, seinen astralischen Leib und auch in bezug auf seinen ätherischen Leib ganz gesund ist; der phy­sische Leib aber zeigt in sich Verhärtungen, Versteifungen, so daß das Kind seine Fähigkeiten, die es im Geistigen veranlagt hat, nicht heraus-bilden kann, weil der physische Leib ein Hindernis ist. - Oder denken Sie einen andern Fall, es ist möglich, daß dann jemand sagt: Da treten

89

bei diesem Kinde frühzeitig, mit 7 oder 8 Jahren, frühreife Eigenschaf­ten auf; das Kind überrascht einen dadurch, daß es früh das eine oder andere lernt, aber man beachte, der physische Leib ist zu weich, er trägt in sich die Anlage, einmal in Fettigkeit auszufließen. - Wenn nämlich der physische Leib zu weich ist, wenn sozusagen das flüssige Element gegenüber dem festen in einem Ubergewicht ist, dann drängt sich mit seiner Eigenart das Geistig-Seelische vor und man hat ein früh­reifes Kind, das mit der weiteren Entwickelung des physischen Leibes diese Frühreife wieder zurückstaut und das unter Umständen alles wieder verändern kann und nicht nur ein Durchschnittsmensch, son­dern sogar ein mittelmäßiger oder auch minderwertiger Mensch für das Leben werden kann. Kurz, es handelt sich eben darum, daß das, was man beim Kinde äußerlich beobachtet, erst innerlich bewertet werden muß; so daß daher gar nichts damit gesagt ist, wenn man bloß von den Fähigkeiten oder Nichtfähigkeiten spricht.

Was ich Ihnen jetzt sage, kann Sie ja auch die Biographie der ver­schiedensten Menschen lehren. Man könnte in der Geistesentwickelung der Menschheit eine ganze Galerie erleuchteter Menschen anführen, die später im Leben Großes geleistet haben und die als Kind als fast ganz unbegabt gegolten haben, die man als Kind in den Klassen hat sitzen lassen, wie man sagt. Man trifft ja da die merkwürdigsten Beispiele in der Welt. Es gibt zum Beispiel einen Dichter, der bis in sein 18., 19., ja bis in sein 20. Jahr von allen, die als Lehrer und Erzieher mit ihm zu tun hatten, für so unbegabt gehalten wurde, daß man ihm davon ab­geraten hat, höhere Studien zu machen, weil er eben so unbegabt war. Er hat sich aber nicht abhalten lassen, er hat diese höheren Studien doch gemacht und wurde dann später sehr bald zum Inspektor der­jenigen Schulen ernannt, in die man ihn als jungen Menschen nicht hatte hinauflassen wollen. - Es gibt einen österreichischen Dichter, Robert Hamerling, der sich darauf vorbereitete, Gymnasiallehrer zu werden. Er bekam beim Examen ausgezeichnete Noten im Griechischen und Lateinischen, dagegen wurde er nicht approbiert für den Unter­richt in der deutschen Sprache, weil man seine Aufsätze sehr mangel­haft fand. Aber er wurde ein berühmter Dichter.

Ich könnte so forterzählen und man würde überall sehen, daß es

90

schon schwierig ist, in dem heranwachsenden Kinde dasjenige zu er-schauen, was nun wirklich in dem betreffenden jungen Menschen drinnensteckt. Dennoch muß das geschehen in einer Schule, die richtig erziehen und unterrichten will. Daher wird gerade in der Waldorf­schule in den Lehrerkonferenzen auf das Studium der Kinder der aller­größte Wert gelegt, damit das ganze Lehrerkollegium immer darüber unterrichtet ist, wie es mit irgendeinem Kinde steht. Natürlich wird diese Aufgabe eine immer umfänglichere. Denn die Waldorfschule, die vor einigen Jahren mit etwa 150 Kindern begründet worden ist, zählt heute mit allen Parallelklassen, die errichtet werden mußten, etwa 800 Schüler in über 20 Klassen mit weit über 40 Lehrkräften. Das alles kann Ihnen bezeugen, daß die Möglichkeit, so vorzugehen wie ich es beschrieben habe, nur dann vorhanden ist, wenn man zugleich den Blick dafür entfaltet, bei welchem Kinde man besonders einzusetzen hat. Denn manches Kind ist so geartet, daß, wenn man es versteht, von diesem Verständnis aus ein Licht auf viele Kinder geworfen wird. Manchem Kinde ist mit dem Verständnis fast gar nicht beizukommen, aber alles das kann die liebevolle Hingabe überwinden an das, was hier als Menschenerkenntnis geschieht.

Wir haben nötig, eine Reihe von Kindern mehr oder weniger dauernd oder vorübergehend aus den andern auszusondern, weil sie geistig min­derwertig sind und durch ihr Nicht-fassen-Können, durch ihr Nicht-begreifen-Können die andern stören würden. Die sind dann in einer Klasse für geistig minderwertige Kinder gesammelt. Diese Klasse leitet der Mann, der hier zu Ihnen gesprochen hat, Dr. Schubert, der durch sein ganz besonderes Wesen wie geschaffen ist für die Leitung einer solchen Klasse. Denn die Leitung einer solchen Klasse braucht näm­lich wieder ganz besondere Fähigkeiten. Sie braucht wirklich die Fähig­keit, eingehen zu können auf die, ich möchte sagen, in der Körperlich­keit drinnen steckengebliebenen seelischen Eigenschaften, die nicht heraus wollen. Man muß sie erst nach und nach herausholen. Das wiederum grenzt an das Physisch-Kranke; es grenzt da an, wo das Psychologisch-Abnorme an das Physisch-Kranke angrenzt. Diese Grenze ist ganz verschiebbar, sie ist gar nicht irgend etwas Bestimmtes. Ja, man wird gut tun, wenn man überhaupt für jede sogenannte psychologische

91

Abnormität hinüberblicken kann zu dem, was irgendwo in der Physis des Menschen nicht gesund ist. Denn im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es keine Geisteskrankheiten, diese sind eigentlich immer dadurch bedingt, daß die Physis das Geistige nicht herausläßt, es irgend­wo nicht in sich aufnimmt und für die physische Welt verarbeitet. In Deutschland hat man ja heute auch noch die Eigentümlichkeit in den Schulen, daß fast alle Kinder nicht nur unterernährt sind, sondern schon an jahrelangen Folgen von Unterernährung leiden.

So handelt es sich darum, daß man wirklich auch in seiner ganzen Auffassung die Einheit in der Beobachtung des Seelisch-Geistigen und des Physisch-Leiblichen durchführen kann. Daß dies eine Notwendig­keit ist im Erziehen und Unterrichten, das können die Leute sehr schwer verstehen. Es besuchte einmal ein sonst ganz verständiger Mann, der immer im Schulwesen drinnensteht, die Waldorfschule. Ich führte ihn selbst herum, tagelang. Er interessierte sich sehr für alles. Aber nach alledem, was ich ihm über das eine Kind oder über das andere gesagt habe - denn meist wird über die Kinder gesprochen, nicht über ab­strakte Unterrichtsprinzipien; es fußt eben unsere Erziehung auf Men­schenerkenntnis -, da sagte er zuletzt: Ja, da müßten aber eigentlich alle Lehrer Ärzte sein. - Ich erwiderte: Das brauchen sie nicht; aber sie müßten schon von der physisch kranken oder gesunden Konstitution des Kindes bis zu dem Grade etwas wissen, wie es für den Lehrer zum Erziehen notwendig ist. Denn, wohin kommt man denn, wenn man sagt, etwas geht aus dem Grunde nicht, oder der Lehrer kann dies oder jenes nicht lernen, weil man nicht dieses oder jenes einrichten kann? Man muß eben dann das Entsprechende einrichten und der Lehrer muß es lernen. Das ist der einzig mögliche Standpunkt. - Die sogenannten normalen Fähigkeiten, die der Mensch entwickelt, die bei jedem Men­schen da sind, sie studiert man am besten bei den pathologischen Er­scheinungen. Und lernt man einen nach gewissen Richtungen kranken Organismus kennen, dann hat man damit, wenn man ihn wirklich kennenlernt, die Grundlage geschaffen, um eine geniale Seele kennen­zulernen. Nicht als ob ich auf irgendeinem Lombroso- oder ähnlichen Standpunkte stehen würde; das ist nicht der Fall. Ich behaupte nicht, daß das Genie immer krank ist; aber man lernt das Geistig-Seelische

92

eben kennen, wenn man gerade den kranken Körper des Kindes ken­nenlernt. An den Schwierigkeiten, die das Geistig-Seelische bei einem kranken Körper hat, um sich zu äußern, lernt man die Art und Weise erkennen, wie die Seele, wenn sie sich eben dann besonders äußert, den Organismus ergreift.

So grenzt die Pädagogik nicht nur an die leichte Pathologie, die bei minderwertigen Kindern vorliegt, sondern sie grenzt schon an das Pathologische im umfassendsten Sinne. Daher haben wir an unserer Schule auch zugleich die medizinische Behandlung der Kinder ein­geführt. Aber wir haben nicht einen Arzt, der wiederum außerhalb der Pädagogik nur in der Medizin drinnensteht, sondern unser Schularzt, Dr. Kolisko, ist wiederum zugleich Lehrer irgendeiner Klasse. Er steht in der ganzen Pädagogik der Schule drinnen, er kennt alle die Kinder und weiß daher in einer ganz andern Weise, aus welcher Ecke irgendein Pathologisches bei einem ihm bekannten Kinde kommt, als wenn nur alle heiligen Zeiten einmal der Schularzt in die Schule kommt und mit ein paar Blicken den Gesundheitszustand eines Kindes beurteilt. Aber außerdem werden die Lehrerkonferenzen so eingerichtet, daß man keine Grenze zieht zwischen dem Geistig-Seelischen und dem Körper­lich-Physischen in derBetrachtung desKindes. Natürlich ist es dann so, daß der Lehrer sich allmählich den Blick aneignen muß für den ganzen Menschen, daß ihn das Detail des Physisch-Gesunden oder Physisch-Kranken ebenso interessiert wie das,was geistig gesund oder abnorm ist.

Das ist es, was wir in der Schule versuchen: daß jeder Lehrer das tiefste Interesse und die größte Aufmerksamkeit hat für den ganzen Menschen. Dadurch ist auch das gegeben, daß unsere Lehrer nicht eigentlich Spezialisten sind. Denn schließlich kommt nicht so viel dar­auf an, ob der Lehrer die Geschichte besser oder schlechter beherrscht, wenn er nur im allgemeinen eine Persönlichkeit ist, die in dem geschil­derten Sinne auf die Kinder wirken kann, und wenn er den Blick dafür hat, wie das Kind sich unter seiner Behandlung entwickelt. Ich habe ja, da ich von meinem 14., 15. Lebensjahre an, um überhaupt leben zu können, unterrichten mußte, immer Einzelunterricht geben mußte, mir diese Pädagogik in der unmittelbaren Unterrichts- und Erziehungs­praxis erwerben müssen. Ich bekam zum Beispiel, als ich ein ganz

93

junger Mensch von 21 Jahren war, durch eine Familie die Erziehung von vier Buben übertragen. Unter denen war einer - er war dazumal 11 Jahre alt, als ich in die Familie als Hauslehrer kam -, der im höch­sten Grade Hydrozephale war. Er hatte ganz merkwürdige Eigentüm­lichkeiten. Er aß nicht gern am Tische mit, sondern ging vom Tische weg in die Küche, wo jene Gefäße waren, in die man die Abfälle hinein-warf; dort aß er die Kartoffelschalen, aber auch mit dem Schmutz, der in diese Gefäße hineinkam. Er wußte mit 11 Jahren eigentlich noch gar nichts Besonderes. Man hatte probiert, ob er auf Grundlage des frü­heren Unterrichtes, den er bekommen hatte, die Aufnahmeprüfung in irgendeine Volksschulklasse machen könnte. Aber als er die Ergebnisse seiner Examenarbeit abgab, da war nur ein Heft da mit einem großen Loch drinnen, wo er etwas ausradiert hatte. Er hatte gar nichts sonst bei diesem Examen geleistet, und er war schon 11 Jahre. Die Eltern waren unglücklich. Sie gehörten dem vornehmeren Bürgerstande an, und alles sagte: Der Knabe ist abnorm, - und natürlich haben dann alle ein Vorurteil gegen ein Kind, wenn dergleichen gesagt wird. Es hieß:

Er muß ein Handwerk lernen, weiter kann er es zu nichts bringen. -Ich kam in die Familie, aber es verstand eigentlich niemand, daß ich die Absicht aussprach: Wenn man mir unter voller Verantwortung jetzt den Jungen gibt, dann verspreche ich nichts, sondern nur alles herauszuholen, was in dem Jungen ist. - Das verstand niemand, nur die Mutter, wie mit einem selbstverständlichen Blick, und der aus­gezeichnete Hausarzt. Es war das jener Arzt, der dann später mit Dr. Freud zusammen die Psychoanalyse begründete, aber als sie noch in ihrem besseren Stadium war; später trennte er sich von ihr, als sie in die Dekadenz kam. Aber man konnte mit ihm sprechen, und das führte dazu, daß dann der Junge von mir erzogen und unterrichtet wurde.

In 1 i/2 Jahren war der Kopf wesentlich kleiner geworden, und der Knabe war nun so weit, daß er ins Gymnasium gebracht werden konnte. Ich begleitete ihn dann in seiner Schulzeit noch weiter, er brauchte Nachhilfe, aber er konnte doch nach 11/2 Jahren ins Gym­nasium aufgenommen werden. Allerdings mußte seine Erziehung so ausgeführt werden, daß ich zuweilen 11/2 Stunden brauchte, um das vorzubereiten, was ich dem Knaben in einer Viertelstunde beibringen

94

wollte. Denn es handelte sich eben darum, mit der größten Ökonomie an den Unterricht dieses Knaben heranzutreten, nie für irgend etwas mehr Zeit in Anspruch zu nehmen, als dazu nötig war. Es handelte sich auch darum, daß die Tageseinteilung mit aller Exaktheit gemacht wurde. Ich ordnete an: soviel muß der Knabe musizieren, soviel muß er turnen, soviel spazierengehen und so weiter. Dann aber, sagte ich mir, kann dasjenige mit dem Knaben durchgeführt werden, was aus ihm das herausbringt, was in ihm liegt. - Nun gab es Zeiten, wo es mir mit dieser Erziehung eigentlich recht schlecht ging. Der Knabe wurde blaß. Die Leute, mit Ausnahme der Mutter und des Hausarztes, sagten alle: Der richtet uns den Jungen zugrunde! - Ich erwiderte: Natürlich kann ich nicht weiter erziehen, wenn irgend etwas hineingeredet wird; die Sache muß wie verabredet fortgehen können. - Und sie ging fort. Der Knabe ging durch das Gymnasium, machte sein Studium, wurde Arzt, und er ist nur deshalb früh gestorben, weil er während des Welt-krieges als Arzt, der während des Krieges einberufen wurde, mit einer Krankheit infiziert wurde, an deren Folgen er starb. Aber er hat seinen ärztlichen Beruf recht gut auszuüben verstanden. - Ich führe das nur als ein Beispiel dafür an, wie es nötig ist, in der Erziehung auf alles zu sehen, also zum Beispiel auch einen Blick dafür zu haben, wie unter einer bestimmten Behandlung zuletzt ein Hydrozephalus von Woche zu Woche zurückgeht.

Nun werden Sie sagen: Gewiß, in der Einzelerziehung kann so etwas geschehen.- Aber es kann ebensogut bei verhältnismäßig großenKlassen geschehen. Denn wer sich in dieser Weise liebevoll in das einlebt, was hier als Menschenerkenntnis auseinandergesetzt wird, der eignet sich schnell die Möglichkeit an, in einer Klasse, wo selbst viele Schüler sind, für jeden einzelnen die entsprechende Aufmerksamkeit, die er braucht, zu haben. Aber notwendig ist eben der psychologische Blick, in der Art, wie ich es geschildert habe. Aber diesen psychologischen Blick eignet man sich nicht so leicht an, wenn man als Einzelinensch durch die Welt geht und überhaupt kein Interesse für andere Menschen hat. Ich kann schon sagen, daß ich weiß, was ich dem Umstande verdanke, daß mir eigentlich niemals ein Mensch uninteressant war. Schon als Kind war mir niemals ein Mensch uninteressant. Und ich weiß, ich hätte nicht

95

jenen Knaben erziehen können, wenn mir nicht eigentlich alle Men­schen interessant gewesen waren.

Dieses Weiten des Interesses, das ist es, was wie eine Atmosphäre durch die Lehrerkonferenzen der Waldorfschule durchgeht, so daß also da durchaus - wenn ich mich so ausdrücken darf - psychologische Stimmung herrscht. Dann aber werden diese Lehrerkonferenzen wirk­lich zur hohen Psychologieschule. Es ist interessant zu sehen, wie von Jahr zu Jahr das Lehrerkollegium als eine Einheit sich vertiefen kann in bezug auf den psychologischen Blick. Denn zu alledem, was ich ge­schildert habe, kommt noch folgendes hinzu, wenn man auf die ein­zelnen Klassen sieht. Statistik pflegen wir nicht im gewöhnlichen Sinne, aber die Klassen sind für uns lebendige Wesen, nicht nur der einzelne Schüler. Solch eine Klasse kann man wieder für sich studieren, und es ist außerordentlich interessant, zu beobachten, welche imponderablen Kräfte daran zutage treten. Wenn man nun aber eine ganze Klasse studiert und wenn die Lehrer der verschiedenen Klassen sich über die Eigentümlichkeiten ihrer Klassen in der Konferenz verständigen, dann ist es zum Beispiel interessant, daß eine Klasse - wir haben Klassen mit beiden Geschlechtern zusammen - ein ganz anderes Geschöpf ist, wo mehr Mädchen als Knaben sind, als eine Klasse, wo mehr Knaben als Mädchen sind; und wieder ein ganz anderes Geschöpf ist eine Klasse, in der gleich viel Knaben wie Mädchen sind. Das wird außerordentlich interessant, nicht etwa durch die gegenseitigen Worte, die ausgetauscht werden, oder durch die kleinen Liebeleien, die in den höheren Klassen immer vorkommen. Dafür eignet man sich auch den nötigen Blick an, der, wenn es nötig ist, sieht, und der da, wo es nicht nötig ist, nicht sieht. Aber davon ganz abgesehen, ist es eigentlich die Tatsache, die innere imponderable Wesenheit der verschiedenen männlichen oder weib­lichen Individualitäten, die der Klasse eine ganz bestimmte geistige Struktur gibt. Und so lernt man die Klassenindividualität kennen. Hat man nun, wie bei uns in der Waldorfschule, Parallelklassen, so kann man, wenn es nötig ist - es ist sehr selten nötig -, die Verteilung in den Klassen etwas ändern.

Solche Studien, wie die Klassen als solche sind, bilden wiederum den Inhalt der Lehrerkonferenzen. Und so ist der Inhalt der Konferenzen

96

nicht nur die Einrichtung der Schule, sondern eine lebendige Fort­führung der Pädagogik an der Schule selbst, so daß die Lehrer fort­während lernen. Dadurch werden die Konferenzen die Seele der gan­zen Schule. Und dann lernt man auch das Geringfügige in der richtigen Weise schätzen, das Wichtige richtig zu taxieren und so weiter. Dann wird man nicht, wenn irgendwo ein kleines Vergehen bei einem Kinde vorkommt, sogleich Zeter und Mordio schreien; aber man wird auch wieder den Blick dafür haben, wenn etwas vorkommt, was bedeutsam sein kann in der ganzen Fortführung der Schule. So ergibt sich als Totalerscheinung gerade in unserer Waldorfschule etwas sehr Inter­essantes, das eigentlich erst mit den Jahren hervorgetreten ist: Im gan­zen sind unsere Kinder im Erfassen desjenigen, was ein Kind nun in der Schule sich erwerben soll, weiter in irgendeiner höheren Klasse, als die Schüler anderer Schulen sind; in den unteren Klassen, das habe ich geschildert, bleiben sie etwas zurück im Lesen und Schreiben, weil das auf mehr Jahre ausgedehnt wird und eine ganz andere Methode hat. Aber mit 13 bis 15 Jahren beginnen sie gegenüber den Schülern anderer Schulen vorauszueilen in bezug auf eine gewisse Leichtigkeit, in etwas einzudringen, auch in bezug darauf, geschickt etwas aufzunehmen und so weiter.

Nun entsteht eine große Schwierigkeit. Es ist merkwürdig, wenn irgendwo ein Licht ist, dann werfen die Gegenstände Schatten; bei einem schwachen Licht sind schwache, bei einem starken Licht starke Schatten. Und so stellt sich in bezug auf gewisse seelische Eigenschaf­ten das Folgende heraus. Wenn nicht ganz sorgfältig darauf geachtet wird, daß die Lehrer in jeder Weise den Kontakt mit den Schülern haben, so daß die Lehrer wirklich die Vorbilder sind und die Kinder sich wirklich nach den Vorbildern richten, dann können sehr leicht moralische Abirrungen als die Gegenbilder eines mangelnden Kontaktes vorkommen. Darüber darf man sich keinerlei Illusionen hingeben. Das ist so. Deshalb kommt so viel darauf an, daß wirklich ein volles Zu­sammenwachsen der Lehrerindividualitäten und der Schülerindividua­litäten sich entwickelt, so daß durch diesen starken inneren Anschluß der Kinder an die Lehrer dem Fortentwickeln auf der einen Seite auch das Fortentwickeln auf der andern Seite voll entspricht.

97

Diese Dinge sind alle durchaus innerlich menschlich liebevoll zu studieren, sonst wird man Überraschungen erleben. Aber die Methode ist durchaus geeignet, um alles, was in einem Menschen liegt, auch her­auszubringen. Irgendwann kann sich doch dies oder jenes Merkwür­dige zeigen: Es gibt einen deutschen Dichter, der wußte, daß er sehr schlecht unterrichtet und erzogen worden ist, so daß sehr viele seiner Eigenschaften - darüber klagte er immer - nicht herauskommen konn­ten, als der Körper schon steif und hart geworden war, weil man eben in der Jugend nicht dafür gesorgt hatte, daß die Individualität sich entwickele. Da kam er einmal zu einem Phrenologen. - Glauben Sie nun nicht, daß ich die Phrenologie irgendwie verteidigen oder beson­ders hochstellen will; aber sie hat auch ihre Bedeutung, wenn sie intui­tiv ausgeübt wird. - Der Phrenologe tastete ihn ab, sagte ihm allerlei schöne Dinge, denn so etwas war ja auch vorhanden; aber an einer Stelle des Schädels hielt er auf einmal inne, er wurde rot und getraute sich nichts zu sagen. Da meinte der Dichter: Nun, reden Sie nur, das ist der Diebssinn, der ist in mir. Und wahrscheinlich wäre es so ge­wesen, hätte man mich in der Schule besser erzogen, so hätte man mit dem Diebssinn auch die größten Schwierigkeiten gehabt.

Wenn man erziehen will, muß man auch eine gewisse Ellenbogen-freiheit haben. Die hat man aber nicht, wenn in der gewöhnlichen Weise der schauderhafte Stundenplan in der Schule wirkt: von 8 bis 9 Religion, von 9 bis 10 Turnen, von 10 bis 11 Geschichte, von 11 bis 12 Rechnen. Da löscht alles Spätere wiederum das Frühere aus; man kann nichts machen, man verzweifelt als Lehrer, wenn man dann noch zu­rechtkommen soll. Deshalb haben wir in der Waldorfschule das, was man den Epochenunterricht nennen kann. Das Kind kommt in eine Klasse. Im Hauptunterricht ist es so, daß das Kind jeden Tag in den hauptsächlichsten Vormittagsstunden, von 8 bis 10 oder von 8 bis 11, mit entsprechenden kurzen Erholungspausen, einheitlichen Unterricht erhält. Da ist ein Lehrer in der Klasse, auch in den höheren Klassen. Da wechselt nicht stundenmäßig der Gegenstand des Unterrichtes, sondern man braucht für irgend etwas, was man durchnehmen will, zum Beispiel im Rechnen, sagen wir 4 Wochen. Dann wird jeden Tag von 8 bis 10 Uhr das betreffende Kapitel durchgenommen, und immer

98

wieder wird am nächsten Tage an das angeknüpft, was am vorher­gehenden Tage war. Kein Späteres löscht da das Vorangegangene aus; Konzentration ist möglich. Wenn dann 4 Wochen verflossen sind und man ein Rechenkapitel genügend behandelt und abgeschlossen hat, beginnt man mit einem Kapitel Geschichte, das nun wiederum, je nach­dem man es braucht, durch 4 bis 5 Wochen durchgeführt wird, und so weiter. Da wird eben auf das Gegenteil von dem gesehen, was man Fachlehrersystem nennt. Sie können zum Beispiel, wenn Sie die Wal­dorfschule besuchen, unsern Dr. Baravalle einmal in einer Klasse fin­den, wo er gerade Darstellende Geometrie durchnimmt. Die Schüler sitzen vor ihm auf den Bänken, wo sie ihr Reißbrett ausgebreitet haben, er läßt sie zeichnen, er benimmt sich wie der musterhafteste Fachlehrer in der Geometrie. - Wenn man in eine andere Schule kommt, dann schaut man etwa den Professor- oder Lehrerschematismus nach und findet zum Beispiel bei einem die Bemerkung: Prüft in Geometrie oder Mathematik oder dergleichen. Ich habe sehr viele Lehrer gekannt, die damit renommierten, daß sie, wenn sie Mathematiklehrer waren, bei einem Schulausfluge den Kindern nicht einmal die Namen der Pflan­zen sagen konnten. - Aber der Vormittag ist noch nicht vergangen, da finden Sie denselben Dr. Baravalle, in seiner Klasse hin- und her­wandernd zwischen den Bänken, englischen Unterricht treiben. Und aus der Art und Weise, wie er hier in seinen Vorträgen Methodik treibt, ersehen Sie ja, da hat er von allem Möglichen geredet und man konnte nicht herausbekommen, in welchem Fache er eigentlich Lehrer ist. Einige von Ihnen werden geglaubt haben, er habe die Geographie als Lehrfach oder auch die Geometrie und dergleichen. Das Eigentliche, das Substantielle und Inhaltliche des Unterrichtens kann ja so schnell erworben werden, wenn man überhaupt die Anlage dafür hat, irgend­wo ins Erkennen hineinzukommen, etwas in der Seele erkennend er­leben zu können. So also haben wir nicht Stundenplan-, sondern Epochenunterricht. Natürlich nichts pedantisch. Es ist in unserer Wal­dorfschule der Hauptunterricht epochal gegliedert; manches muß na­türlich auch stundenplanmäßig gemacht werden, es schließt sich dann an den Hauptunterricht an.

Sodann legen wir eine große Sorgfalt darauf, daß die Kinder gleich,

99

wenn sie in die Volksschule kommen, in zwei fremden Sprachen unter­richtet werden, bei uns im Französischen und Englischen. Wir machen das von ganz klein auf. Allerdings haben wir da eine furchtbare Misere in unserer Schule, weil ja der Waldorfschule seit ihrer Gründung so viele Schüler zulaufen. Da kommen zum Beispiel Schüler zu uns, die in die 6. Schulklasse aufgenommen werden könnten. Aber in dieser Klasse sind schon Kinder, die es in den Sprachen bereits zu etwas gebracht haben. Nun kommen die Neuen hinzu, und die muß man dann in die 5. Klasse stecken, da sie von den Sprachen überhaupt noch keinen Dunst haben. Mit diesen Schwierigkeiten müssen wir ja fortwährend rechnen.

Dabei sehen wir darauf, daß womöglich der wesentlichste Unter­richt auf den Vormittag gelegt werden kann, so daß für den Nach­mittag eben die körperlichen Übungen bleiben, Turnen, Eurythmie und so weiter, alles ohne Pedanterie. Denn, da man nicht endlos Lehrer bezahlen kann, kann ja nicht alles dem Ideal nach eingerichtet werden, sondern nur so, wie es möglich ist. Sie werden mich nicht mißverstehen, wenn ich sage, mit Idealen kann man nichts anfangen. Sagen Sie nicht, die Anthroposophie ist nicht idealistisch. Wir können schon Ideale schätzen, aber mit Idealen kann man nichts anfangen; die kann man schön ausmalen, man kann sagen: So soll es sein! - Man kann sich auch einbilden, daß man danach strebt. Aber in der Wirklichkeit hat man ein ganz bestimmtes, konkretes, so geartetes Schülermaterial von 800 Kindern, die man kennen muß, und etwa zwischen 40 und 50 Lehrer, die man auch kennen muß. Denn was nutzt ein Lehrerkollegium, wenn keiner dem Ideal entspricht! Das Wesentliche ist, daß man mit dem rechnet, was wirklich geleistet werden kann, das heißt, was vorhanden ist. Dann bewegt man sich in der Wirklichkeit. Und will man etwas praktisch durchführen, so handelt es sich darum, daß man sich in der Wirklichkeit bewegt. - Dies in bezug auf die Einrichtung des Epochen­unterrichtes.

Bei der freien Handhabung des Unterrichtes, die aus alledem ja her­vorgehen muß, was ich Ihnen schildere, handelt es sich natürlich dar­um, daß unsere Kinder auch nicht immer wie die Mäuschen still da-sitzen. Aber Sie sollten nur sehen, wie die ganze moralisch-seelische

100

Konstitution einer Klasse das Ergebnis dessen ist, der da drinnensteht, was wiederum von den Imponderabilien abhängt. In dieser Beziehung kann man es schon erleben, ich will sagen, daß es auch Lehrer in der Waldorfschule gibt, die nicht genügen; die will ich nicht schildern, es kann einmal eine Verstimmung eintreten - aber man kann es schon er­leben, wenn man in eine Klasse kommt: ein Viertel der Klasse liegt unter den Bänken, ein Viertel ist oben, die andern laufen fortwährend zur Tür heraus und klopfen draußen herum. Das sind Dinge, durch die man sich nicht verblüffen lassen darf. Sie kommen ja auch wieder anders, wenn man mit den Kindern umzugehen weiß. - Man soll durch­aus den Kindern lassen, was in ihnen beweglich ist und soll nicht auf eine strafende Weise, sondern auf eine andere Weise mit ihnen zurecht­kommen. Kommandiert wird überhaupt nicht bei uns, sondern es ent­wickelt sich alles bei uns von selber. Aber es entwickelt sich dadurch von selber, daß in den Lehrern das drinnensteckt, was ich geschildert habe - drinnensteckt als ihr Leben. Gewiß, die Kinder machen manch­mal schauderhaften Spektakel; aber daran zeigt sich ja nur ihre Vitali­tät. Sie sind dann auch wieder regsam bei dem, was sie machen sollen, wenn man das Interesse dafür zu erregen weiß. Und es muß schon so sein, bei einem sogenannten guten Kinde muß man die guten Eigen­schaften benutzen, damit es etwas lerne und bei einem Nichtsnutz muß man sogar die nichtsnutzigen Eigenschaften benutzen, damit er weiter-kommt. Doch man kommt nicht dadurch weiter, daß man nur die braven Eigenschaften entwickeln kann. Man muß zuweilen die soge­nannten nichtsnutzigen Eigenschaften entwickeln; nur muß man im­stande sein, ihnen die Richtung zu geben. Denn in diesen sogenannten nichtsnutzigen Eigenschaften des Kindes liegt sehr häufig gerade das, was die Kraft des erwachsenen Menschen bedeutet, was im erwach­senen Menschen in das äußerste Gute ausgehen kann, wenn man es richtig behandelt.

Und so hat man auch wiederum zu unterscheiden, ob ein Kind einem wenig Mühe macht, weil es brav ist, oder ob es einem weniger Mühe macht, weil es krank ist. Man kann sehr leicht, wenn man nur auf seine Bequemlichkeit bedacht ist, über das kranke Kind, das still dasitzt und nicht ausartet, ebenso erfreut sein wie über das gute Kind, weil man

101

nichts mit ihm zu tun hat. Schaut man aber wirklich hinein in die Men­schennatur, so hat man mit einem solchen Kinde oft viel mehr zu tun als mit einem sogenannten Nichtsnutz. Also auch da ist es der psycho­logische Blick und die psychologische Handhabung, natürlich geistig­seelisch gemeint, auf die es ankommt.

Dann handelt es sich darum, daß in der Waldorfschule das Wesent­liche des Unterrichtens in die Schule selber gelegt wird. Die die Kinder überlastenden Hausarbeiten werden nur in der allergeringsten Menge an die Kinder verabreicht. Die Kinder bekommen dann, wenn alles mit den Lehrern gemeinschaftlich erarbeitet wird, ganz merkwürdige Ansichten. So kommt in der Waldorfschule zum Beispiel folgendes vor, es ist das etwas ganz Charakteristisches: Es haben wirklich einige Schü­ler etwas «ausgefressen». In einem Noch-nicht-ganz-Durchdrungen-sein mit der Waldorfschul-Pädagogik will der Lehrer in einer geist­reichen Weise diese Kinder bestrafen. Er sagt: Ihr müßt nach der Schule zurückbleiben, müßt Rechnungen machen! - Die Kinder kön­nen gar nicht begreifen, daß Rechnungen machen eine Strafe sein soll; denn das ist etwas, was sie mit der größten Freude machen. Und die ganze Klasse - das ist vorgekommen - fragt: Können wir nicht auch dableiben? - Nun haben Sie also «gestraft»! Man sieht, die Anschau­ungen ändern sich ganz, und es ist das ja etwas, was nicht sein sollte, daß man sich als Kind dadurch bestraft fühlen soll, daß man etwas machen soll, was man eigentlich mit Hingebung, mit Befriedigung und Freude macht. Alles mögliche finden unsere Lehrer heraus, Schlimmes auszutreiben. Unserem Dr. Stein, der auf diesem Gebiete erfinderisch ist, passierte es zum Beispiel einmal, als er in einer höheren Klasse unterrichtete, daß sich die Kinder während des Unterrichtes Briefe schrieben und sie sich herumgaben. Was tut er, um die Sache zu bessern? Er fängt an, vom Postwesen zu sprechen und erörtert das Postwesen in einer Weise, daß tatsächlich das Briefschreiben nach und nach auf­hörte. Scheinbar hatte die Schilderung des Postwesens, die Geschichte des Entstehens des Korrespondierens nichts zu tun mit der von dem Lehrer bemerkten Unart, und dennoch hatte es etwas damit zu tun. Wenn man nämlich nicht rationalistisch fragt: Was soll ich tun? - son­dern wenn man in der Lage ist, seinen Einfällen sich hinzugeben, weil

102

man einen Instinkt dafür hat, wie man sich in der Klasse benehmen soll, dann kommt oft das Richtige dabei heraus; denn dann kann man in bezug auf die moralische Verbesserung der Schüler etwas viel durch­greifenderes unternehmen, als wenn man mit Strafen vorgeht.

Vor allem muß sich die Klasse in allen einzelnen Individualitäten darüber klar sein, daß der Lehrer das, was er da vorbringt, auch wirk­lich selber hält. Niemals darf das vorkommen, daß ein cholerischer Bube, der seine Papierblätter beschmiert, der seine Nachbarn an Ohren und Haaren zaust, von dem Lehrer angeschrien wird: Du darfst nicht leidenschaftlich sein, du darfst nicht so ausarten! Kerl, wenn du jemals wieder so ausartest, schmeiße ich dir das Tintenfaß an den Kopf! -Das ist nur radikal geschildert, aber es ist etwas, was vorkommt, wenn man nicht weiß, daß man alles, was man vorbringt, in der Schule als Vorbild auch selbst sein muß. Und es kommt eben viel mehr auf Sein an, als auf Grundsätze haben und auf Kenntnisse haben. Auf die Art und Weise also, wie man ist, kommt es an. Wenn einer im Lehrer-examen, wodurch er die Befähigung erweisen soll, daß er Lehrer sein kann, bloß danach geprüft wird, was er weiß, so weiß er ja im Lehrer­examen doch nur das, was er später wieder in Handbüchern nach­schauen muß. Das kann man aber doch gleich ursprünglich tun; dazu braucht man die Sache nicht zum Examen machen. Aber niemand sollte eigentlich in eine Schule hinein, der nicht nach Leib, Seele und Geist eine wirkliche Lehrerindividualität ist! Daher kann ich sagen: Bei der Zusammensetzung des Lehrerkollegiums der Waldorfschule, die mir obliegt, betrachte ich es zwar als kein Hindernis, wenn jemand Examina abgelegt hat, aber ich schaue mir einen solchen, der Examina abgelegt hat, nach gewissen Richtungen doch etwas genauer an als einen solchen, der mir durch sein ganzes menschliches Auftreten die Lehrerin dividualität entgegenbringt. Es hat immer etwas Bedenkliches, wenn man Examina abgelegt hat; man kann zwar auch da noch ein leidlich gescheiter Mensch sein, aber man muß es eben sein, trotzdem man Examina abgelegt hat.

Und so ist merkwürdig, wie da Schicksal, wie da Karma wirkt. Denn die Waldorfschule, so wie sie als ein bestimmtes Beispiel für diese besondere, auf Menschenerkenntnis begründete Pädagogik dastehen

103

soll, war eigentlich nur in Württemberg möglich, nirgends sonst, weil dort in dem Augenblick, wo wir die Waldorfschule eingerichtet haben, noch ein uraltes Schulgesetz herrschte. Hätte schon damals jene Er­leuchtung die Menschen ergriffen gehabt, die später von der konsti­tuierenden Weimarer Nationalversammlung ausging und mit der wir fortwährend zu kämpfen haben, weil man uns die unteren Klassen abbauen will, dann hätten wir die Waldorfschule nicht machen können. Denn es wird immer mehr und mehr aufhören, die Lehrer nach ihren menschlichen Individualitäten zu beurteilen - und nicht nach ihren Zeugnissen. Es wird immer mehr aufhören, in den unteren Klassen dies oder jenes zu treiben; denn die Welt arbeitet, ja, wie soll man sagen, auf Freiheit und auf Menschenwürde zu. Diese Menschenwürde wird dann für die Schule mit Hilfe des Lehrplanes und Stundenplanes in eigenartiger Weise gehandhabt. Da sitzt in der Hauptstadt eines Lan­des ein Unterrichtsministerium. In diesem weiß man aus der genauen Einteilung, die man auf dem Schulverordnungswege dem Erziehungs­wesen angedeihen läßt, was in jeder Schule und Klasse gelehrt wird. Und dann ist irgendwo in einem Winkel des Landes ein Ort mit einer Schule. Wenn man nun wissen will, was zum Beispiel am 21.Juli 1924 um 1/2 10 Uhr morgens in der 5. Volksschulklasse gerade gelehrt wird, dann schaut man im Ministerium nach, wie die Verordnung lautet; dann kann man sagen, was dort gelehrt wird. - Bei uns aber haben Sie zum Beispiel in der 5.Klasse zwei Parallelklassen, die 5A und 5 B. Sie gehen nacheinander in die beiden Klassen hinein. Sie sind erstaunt dar­über: ganz etwas anderes findet in der Paralleiklasse statt, in nichts etwas Gleiches von dem, was in der andern Klasse gemacht wird. Die SA und 5B sind ganz der Lehrerindividualität überlassen; jeder kann das machen, was seiner Individualität entspricht, und er tut es auch. Trotzdem in der Lehrerkonferenz absolutester Einklang im Sachlichen vorhanden ist, gibt es keine Verordnung, daß die eine Klasse im Er­ziehen und Unterrichten ebenso vorgehen muß wie die Parallelklasse. Denn was erreicht werden soll, muß auf die verschiedenste Weise er­reicht werden; es handelt sich nie darum, etwas in äußerlicher Weise vorzuschreiben. So finden Sie, daß zum Beispiel schon bei den kleinen Kindern in der 1. Klasse der eine Lehrer mehr dies macht, um das Kind

104

ins malende Zeichnen hineinzuführen: Sie kommen in die Klasse hin­ein und sehen die Kinder allerlei Bewegungen mit den Händen machen, die dann überführen in die Handhabung des Pinsels oder des Bleistiftes. Oder Sie kommen in die andere Klasse und Sie sehen dort die Kinder herumtanzen, um aus der Bewegung der Beine dasselbe hervorzuholen. Jeder Lehrer macht es, wie er es nach der Individualität der Kinder und nach seiner eigenen für angemessen hält. Dadurch ist aber wirk­liches Leben in der Klasse drinnen, und dadurch bildet sich schon das heraus, daß sich die Kinder zugehörig fühlen zur Lehrkraft.

Eine Schulaufsicht gibt es natürlich, trotzdem jenes alte Schulgesetz da war, auch in Württemberg, aber wir sind mit dieser Schulaufsicht ganz gut ausgekommen. Man hat sich grenzenlos einsichtsvoll verhal­ten und ist auf alles eingegangen, wenn man gesehen hat, wie es geht. Aber es kommen doch auch besondere Dinge dabei vor. So kam zum Beispiel eine Schulkommission in eine Klasse, wo die Lehrerin immer gewohnt war, recht viel Mühe zu haben mit der Disziplin der Klasse, sich immer zwischen dem Unterrichten viel Mühe geben mußte mit der Disziplin. Nun, die ministerielle Schulkommission kommt, und die Lehrerin ist höchst erstaunt, wie musterhaft in bezug auf die mora­lische und sonstige Haltung ihre Klasse ist, so daß sie gar nicht anders konnte, als am nächsten Tage zu sagen: Kinder, ihr waret aber gestern brav. - Darauf sagt die ganze Klasse: Nun, Fräulein Doktor, wir wer­den Sie doch nicht hineinlegen! - Es kommt eben auch etwas wie Im­ponderables dann in der Haltung der Schüler heraus, wenn das befolgt wird, was ich immer jetzt an den Schluß der Vorträge gestellt habe: Wenn Unterricht und Erziehung darin bestehen, daß Leben lebendig an Leben übertragen wird, dann kommt auch Leben heraus, das sich entwickelt und gedeiht.

105

SECHSTER VORTRAG Arnheim, 22. Juli 1924

Ergänzend zu dem, was ich gestern über die Lehrerkonferenzen, die Seele der Schule, gesagt habe, möchte ich heute, bevor ich in der rein methodischen Auseinandersetzung weiterschreite, noch hinzufügen, daß wir den allergrößten Wert darauf legen müssen, mit der Eltern­schaft unserer Waldorfschulkinder in völliger Harmonie, in vollem Einklange dadurch zu stehen, daß wir in verhältnismäßig kurzen Zeit­räumen Elternabende veranstalten, die dann von den im Orte anwesen­den Eltern der Kinder besucht werden, mit denen das besprochen wird, was Absichten, Methoden, Einrichtungen der Schule sind - natürlich im allgemeinen vor der Elternversammlung, deren Wünsche dann auch, insofern sie sich in einer Versammlung zum Ausdruck bringen lassen, entgegengenommen werden. Dadurch hat man Gelegenheit, das, was pädagogisch erreicht werden soll, wirklich herauszuarbeiten aus dem ganzen sozialen Milieu, aus dem es ja auch der Wirklichkeit nach her­ausstammt. Man hört als Lehrer das, was sich die Eltern vorstellen über die Erziehung der Kinder; und die Eltern hören - es wird bei uns auch immer mit einer großen Ehrlichkeit und Unverhohlenheit ge­sprochen -, was in der Schule vorgeht, wie man über die Erziehung und über die Zukunft der Kinder denkt; wie man darüber denkt, daß es notwendig ist, solche freien Erziehungsinstitute zu haben. Kurz, man steht mit den Eltern dadurch nicht nur in einem abstrakten Gedanken­einklange, sondern man erreicht einen fortwährenden Kontakt mit den Eltern. Darauf müssen wir deshalb schon einen großen Wert legen, weil wir keine andere Anlehnung haben. In einer Staatsschule ist ja alles abgezirkelt. Da weiß man mit einer großen Bestimmtheit, was man für Lehrziele haben muß, man weiß, daß das Kind mit 9 Jahren zum Bei­spiel so und so weit sein muß und so weiter. Das ist alles genau be­stimmt.

Bei uns unterliegt alles der freien Individualität des einzelnen Lehrers sogar. Was von der Leitung, insofern es auf mich ankommt, ausgehen wird, sind ja keine Direktionen, keine Richtungen. Wir haben

106

überhaupt keine Direktion in der Schule, sondern der einzelne Lehrer ist in einem gewissen Sinne souverän. Was wir treiben, statt der Direk­tion, das ist Studium und Weiterkommen durch die Lehrerkonferenzen selber. Das ist ein Geist, der als ein konkreter Geist unter der Lehrer-schaft lebt, der auch frei wirkt, der nicht tyrannisch ist, der nicht Sätze, Bestimmungen oder Programme gibt, aber der fortwährend weiter­kommen will, fortwährend besser und besser die Einrichtungen und auch den Lehrgang treffen will. Unsere Lehrer können heute gar nicht wissen, was in 5 Jahren in der Waldorfschule gut ist; denn sie werden in diesen 5 Jahren sehr viel gelernt haben, und dann sollen sie nach 5 Jahren beurteilen, was gut oder was nicht gut ist. Deshalb ist es auch für das, was in der Waldorfschule getrieben wird, so unendlich gleich­gültig, was pädagogische Reformvereine festsetzen, von dem sie meinen, daß es gut wäre für die Erziehung. So etwas kann man für die Erzie­hung ja nicht aus dem Verstande herausspinnen, das kann man sich nur erarbeiten. Und auf dieses Erarbeiten kommt es für die Lehrerschaft an. Aber dadurch, daß wir in dieser Lage sind, daß wir im lebendigen Fluß leben mit allem, was wir wollen, dadurch brauchen wir eben eine andere Anlehnung, als eine gewöhnliche Schule sie hat in der Behörde, die über ihr steht und ihr sagt, was sie tun soll. Wir brauchen die An­lehnung an dasjenige soziale Element, aus dem die Kinder herausge­wachsen sind. Wir brauchen die innige Anlehnung an die Eltern in bezug auf alle Fragen, die sich fortwährend ergeben, wenn man das Kind in der Schule hat; und man hat es ja in der Schule, indem es her­auskommt aus dem Elternhaus.

Wenn nun der individuelle Einklang aber erzielt ist, der Lehrer sich, insofern er sich an die Eltern anlehnt, womöglich noch mehr als die Eltern selber kümmert um das ganze Gedeihen des Kindes - nicht bloß die Eltern kommen läßt und Auskünfte gibt, aus denen man nicht viel machen kann, sondern wenn der Lehrer am Elternabend auch noch sein Interesse fortsetzt in das Elternhaus hinein -, dann hat man in einem Kinde, wenn man es im schulpflichtigen Alter bekommt, also gegen das 7. Jahr hin, zunächst noch viel mehr, als man denkt: man hat in ihm den Vater, die Mutter, andere Menschen aus der Umgebung; die stehen wie Schatten dahinter. Mit denen hat man es fast ebenso zu

107

tun wie mit dem Kinde selber, insbesondere auch in physiologisch­pathologischer Beziehung. Und das alles muß der Lehrer sich erarbei­ten, muß es zusammenschauen, um das Kind wirklich zu verstehen und vor allen Dingen, um dasjenige verständnisvoll zu machen, was er in der Umgebung des Kindes zu tun hat. Und indem diese Brücke zum Elternhaus hinüber geschaffen wird, wird auch wieder eine Art sozialer Anlehnung, aber in freier, lebendiger Weise, herbeigeführt.

Man braucht auch das Elternhaus dazu, daß die Eltern dafür sorgen, daß die selbstverständliche Autorität, die das Kind zum Lehrer haben muß, in nichts beeinträchtigt wird. Es muß da viel gearbeitet werden mit psychischen Verständnismitteln zwischen der Lehrerschaft und der Elternschaft. Und die Eltern wieder, indem sie den Lehrer kennen­lernen und ziemlich genau kennenlernen, müssen sich ganz abgewöhnen, auf den Lehrer eifersüchtig zu werden. Denn die meisten Eltern sind ja auf den Lehrer ihrer Kinder eifersüchtig. Sie empfinden es so, als ob der Lehrer ihnen das Kind wegnehmen will. Sobald aber dies vorhan­den ist, kann man erzieherisch nicht mehr viel mit dem Kinde anfangen. Das kann jedoch in die richtige Situation hineingebracht werden, wenn der Lehrer es zugleich versteht, die richtige Anlehnung an das Eltern­haus zu bekommen. - Das ist also das, was ich zu dem, was die Lehrer­konferenzen sein sollen, hinzufügen muß.

Dann aber handelt es sich wirklich darum, jene Momente im Leben des Kindes zu verstehen, die bedeutungsvolle Übergangsmomente sind. Ich habe schon einen solchen angeführt, wo der Unterricht aus der vorherigen märchenhaften Bildlichkeit übergehen muß in das Lehren der Pflanzenwesen zum Beispiel. Dieser Zeitpunkt des Kindes liegt zwischen dem 9. und 10. Jahre. Da zeigt das Kind etwas wie eine innere Unruhe. Es kommen allerlei Gefühle zum Vorschein, die einem sagen:

Was ist denn das mit dem Kinde? Das Kind weiß nicht, wie es um es steht; aber es hat eine innere Unruhe, es fragt allerlei. Was es fragt, das hat, seinem Inhalte nach, zumeist keine große Bedeutung; aber daß es fragt, daß es überhaupt so auftritt, das hat sehr wohl eine Be­deutung.

Was man nun in diesem Zeitpunkt mit dem Kinde in bezug auf das Verhältnis zu dem Kinde tut, das hat nun für das ganze Leben des Kindes

108

eine große Bedeutung. Denn, was ist es, was da in dem Kinde sitzt? Und in jedem Kinde sitzt es, das nicht pathologisch ist. Bis dahin nimmt ein Kind, das nicht von außen verdorben ist, die Autorität des Lehrers ganz von selber an; denn jedem Erwachsenen gegenüber hat ein ge­sundes Kind, dem nicht allerlei Zeug vorgeredet worden ist, um es zu verderben, auch einen ganz gesunden Respekt. Es sieht zu ihm in naiver Weise wie zu einer selbstverständlichen Autorität hinauf. Denken Sie nur selbst an Ihre Kindheit zurück, was es heißt, gerade für das ganz junge Kind, sich sagen zu können: Du darfst das so machen wie der oder wie die, das ist eine wertvolle Persönlichkeit. - Man hat ja kein anderes Bedürfnis, als sich unter eine Autorität zu stellen.

Das wird in einem gewissen Sinne zwischen dem 9. und 10. Jahre etwas erschüttert, wird einfach erschüttert durch die Entwickelung der menschlichen Natur selber. Man muß das nur durchgreifend einsehen können. Die menschliche Natur kommt in diesem Zeitraum dazu, etwas ganz Besonderes zu empfinden. Das kommt beim Kinde nicht ins Bewußtsein herauf, es lebt in unbestimmten Empfindungen und Ge­fühlen. Das Kind kann es auch nicht aussprechen, aber es ist da. Was sagt sich da das Kind, unbewußt? Vorher sagte es sich, seinen Empfin­dungen nach: Das ist gut, wovon der Erzieher sagt, es sei gut; das ist böse, wovon er sagt, es sei böse; das ist richtig, wovon der Erzieher sagt, es sei richtig; das ist unrichtig, wovon er sagt, es sei unrichtig; das ist schön, was dem Erzieher gefällt und wovon er sagt, daß es ihm gefällt, und das ist häßlich, was ihm nicht gefällt und wovon er sagt, daß es häßlich ist. - Da ist der Erzieher für das Kind die ganz selbstverständ­liche Norm. In diesem Zeitpunkte nun, zwischen dem 9. und 10. Le­bensjahr, wird das innerlich etwas erschüttert. Das Kind beginnt sich, dem Gefühle nach, zu fragen: Woher hat es denn der oder die? Wer ist denn für den Erzieher die Autorität? Wo ist denn diese Autorität? -In diesem Moment beginnt ein innerlicher Drang beim Kinde, von dem sichtbaren Menschen aus, der bis dahin ein Gott für das Kind ist, durch­zubrechen zu dem, was als übersinnlicher oder unsichtbarer Gott oder Göttlichkeit dahintersteht. Das muß man dem Kinde gegenüber ein­fach jetzt bewähren. Man muß jetzt so dem Kinde gegenübertreten, daß es das Gefühl bekommt: Der hat nach rückwärts, nach dem Übersinnlichen

109

hin, eine Anlehnung; der redet nicht willkürlich aus sich selbst heraus, der ist ein Missionar des Göttlichen.

Das muß man dem Kinde bemerklich machen. Aber wie? Durch Dozieren am allerwenigsten. Man kann es nur aussprechen, aber am wenigsten erreicht man durch Dozieren. Aber wenn man an das Kind herankommt, vielleicht auch irgend etwas sagt, was inhaltlich keine besondere Bedeutung hat, wenn man mit dem Kinde etwas spricht, was vielleicht inhaltlich keine Bedeutung hat, aber doch mit einer solchen Stimmlage gesprochen wird, daß es sieht: Der oder die haben ein Herz, und dieses Herz glaubt selbst an das, was dahintersteht - dann kann man etwas erreichen. Dieses Drinnenstehen in der Welt muß man dem Kinde bemerklich machen, richtig bemerklich machen. Das Kind ist schon so verständig, wenn es auch nicht abstrakt-rationalistisch auf­nimmt, daß es kommt und fragt: Ach, ich möchte gerne wissen... Mit solchen Fragen kommen nämlich die Kinder in diesem Alter. Sagt man ihm jetzt: Sieh einmal, von der Sonne empfange ich das, was ich dir geben kann; wäre die Sonne nicht, so würde ich dir im Leben nichts geben können; wäre der Mond nicht, der das, was wir von der Sonne bekommen, göttlich bewahrt, während wir schlafen, so könnte ich dir auch nichts geben - so hat das seinem Inhalte nach noch nicht viel Be­deutung; wenn man es aber mit einer solchen Wärme sagt, daß das Kind merkt, man liebt Sonne und Mond, dann führt man das Kind über diese Fragen hinüber und für die meisten Fälle für das Leben hin-über. Man muß wissen, daß diese krisenhaften Augenblicke im Leben des Kindes da sind. Dann wird man ganz von selbst das Gefühl haben, bis dahin hat man in Anlehnung an Fichte und Eiche, an Hahnenfuß und Löwenzahn, an die Sonnenblume und an das Veilchen von allerlei märchenhaften Wesen über die Natur geredet und dadurch das Kind zu einer geisthaften Welt hingeführt; jetzt aber ist der Zeitpunkt ge­kommen, wo man anfangen kann, Geschichten aus den Evangelien zu erzählen. Beginnt man damit, oder mit katechismusartigen Anweisun­gen früher, so zerstört man etwas im Kinde; beginnt man aber jetzt, wo der Durchbruch nach der geistigen Welt hin im Kinde beginnt, dann tut man etwas, wonach das Kind seiner ganzen Wesenheit nach verlangt.

110

Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, wo ist denn das Buch, worin der Pädagoge lesen kann, was Pädagogik ist? Das sind die Kinder sel­ber! Man soll aus keinem andern Buche Pädagogik lernen als aus dem Buche, das aufgeschlagen vor einem liegt und das die Kinder selber sind; aber man bedarf dazu eines umfänglichsten Interesses für jedes einzelne Kind und man darf davon nicht abgelenkt werden. Darin hat der Pädagoge Schwierigkeiten, die er bewußt überwinden muß.

Nehmen wir nun an, der Pädagoge hat selbst Kinder. Dann hat er eine schärfere und stärkere Aufgabe, als wenn er keine Kinder hat. Er muß dann bewußter werden gerade auf diesem Gebiete, und er darf vor allen Dingen nicht die Meinung haben, alle Kinder müßten so wer­den wie die seinigen, auch nicht im Unbewußten. Das muß er bei sich aufsuchen: daß im Unbewußten bei jedem, der Kinder hat, die Mei­nung vorhanden ist, daß alle Kinder so werden müßten wie die seinigen.

Also es geht das, was man als Pädagoge aufnehmen muß, schon in die intimsten Fäden des Seelenlebens hinein. Und werden diese intim­sten Fäden des Seelenlebens nicht ergriffen, dann steht man eben doch nicht so in der Klasse drinnen, daß man den vollen Zugang zu den Kindern und damit das volle Vertrauen der Kinder auch wirklich ge­winnt. Es ist ein großer, ein ungeheurer Schaden, wenn Kinder den Glauben bekommen können, daß andere die Lieblinge des Lehrers sind. Das muß unter allen Umständen absolut vermieden werden. Es ist aber auch wieder nicht so leicht zu vermeiden, als man gewöhnlich denkt; es wird aber vermieden, wenn man mit allen denjenigen Prinzipien in der Schule steht, die sich gerade aus anthroposophischer Menschen-erkenntnis heraus ergeben können. Da bildet sich die Sache ganz von selber.

Und dann ist etwas, was insbesondere für das Thema, das ich die­sem Vortragszyklus gegeben habe, in Betracht kommt - etwas, was zusammenhängt mit der ganzen Welt- und Menschheitsbedeutung des Pädagogischen. Es ist ja durchaus in dem Wesen des Menschlichen ge­legen, daß der Lehrer, der so viel mit Kindern zu tun hat und so wenig eigentlich gewöhnlich außerhalb des Schulmäßigen in seiner Sphäre leben kann, Anlehnung braucht an die Welt, daß er herausgucken muß in die Welt. Warum werden denn die Lehrer leicht so vertrocknete

111

Naturen? Sie werden es, weil sie sich eigentlich immer hinunterbewegen müssen auf das Niveau des Kindes. Man sollte eigentlich gar nicht humoristisch werden über den Lehrer, der unter den gewöhnlichen Un­terrichtsbegriffen vertrocknet. Nun, welche Gefahr da vorliegt, dessen kann sich insbesondere der anthroposophische Lehrer bewußt werden. Denn, wenn die Geschichtsauffassung des gewöhnlichen Lehrers nach und nach diejenige des Lehrbuches wird, und das wird sie ja nach ein paar Jahren, wenn er unterrichtet, wo soll er denn eine Geschichtsauf-fassung hernehmen, wo soll er menschheitliche Ideen hernehmen? Wie kann es da also anders sein? Und die Zeit, die er dann neben dem Un­terricht noch hat, verbringt er so, daß er sich erholt. Aber die großen Weltfragen spielen dann manchmal nur in einem höchst kirchturm-artigen Politischen eine Rolle. Das seelische Leben aber dringt dabei nicht hinaus in die Auffassung, die man haben muß, wenn man ein Mensch von 30 oder 40 Jahren ist. Und man erhält sich nicht frisch und lebendig, wenn man glaubt, in den Erholungsstunden am besten Karten zu spielen, oder etwas zu tun, was gar nicht mit dem geistigen Leben zusammenhängt.

Beim anthroposophischen Lehrer ist das der Fall, daß er nun in der Anthroposophie drinnensteht, weil ihm von da aus eine Weltperspek­tive immer weiter und weiter gezeichnet wird, so daß er, indem er in der Anthroposophie drinnensteht, seinen Gesichtskreis immer erweitert bekommt. Wie diese Dinge aufeinander wirken, zeigt sich sehr leicht. Es zeigt sich dadurch, daß der begeistertste Anthroposoph, wenn er zum Beispiel Geschichtslehrer wird, sofort in die Tendenz verfällt, nun in die Geschichtsauffassung Anthroposophie hineinzutragen und eigent­lich statt Geschichte Anthroposophie lehren will. Das ist auch wieder­um etwas, was man versuchen muß zu vermeiden. Es wird durchaus vermieden, wenn der, der auf der einen Seite seine Kinder, auf der andern die Anthroposophie hat, nun auch noch genötigt ist, von der Schule dann Brücken hinüberzuschlagen zum Elternhaus. Wenn An­throposophie auch angewandte Menschenerkenntnis und angewandtes Menschenverständnis wird: man muß Notwendigkeiten im Leben ein­sehen.

Wie denkt man heute oftmals gerade unter dem Einfluß von

112

Reformgedanken, ja von Revolutionsgedanken über das Erziehungs­wesen? Ich will jetzt gar nicht auf das eingehen, was man in sozia­listischen Kreisen sagt, sondern auf das, was in gutbürgerlichen Kreisen darüber gedacht wird. Da ist der Gedanke entstanden, man müsse hin­aus aus der Stadt, aufs Land, um dort, abgesondert von der Stadt, eine Schar Kinder zu erziehen; nur dort könnten sie sich natürlich entwik­keln und so weiter. Aber wie steht denn ein solcher Gedanke in einer Gesamtweltauffassung drinnen? Doch eigentlich so, daß man seine eigene Ohnmacht erkennt. Denn es handelt sich nicht darum, etwas auszudenken, wie man fern von aller Welt eine Anzahl Kinder nach seinem Kopfe entwickeln kann, sondern wie man mitten drinnen im sozialen Milieu, wo man steht, die Kinder Mensch sein lassen kann. Man muß also die Stärke aufbringen, den Kindern dieses Leben nicht zu nehmen,wenn sie nun doch einmal in ihrem sozialen Milieu drinnen­stehen. Diesen Mut muß man durchaus haben. Das ist etwas, was mit der Weltbedeutung der Pädagogik zusammenhängt.

Aber dann muß man tief davon überzeugt sein, daß Welt in die Schule hineinragen muß. Welt muß es sein, die in der Schule auf kind-hafte Weise weiterlebt. Daher werden wir nicht versuchen, wenn wir auf dem Boden einer gesunden Pädagogik stehen, allerlei Arbeiten aus­zudenken, die nur für die Kinder sein sollen. So sollen die Kinder zum Beispiel flechten, sollen allerlei Zeug ausführen, was ja doch nicht im Leben drinnensteht, was man bloß für die Kinder aussinnt, damit man sie beschäftigt. Das kann niemals in einer guten Weise in die Entwik­kelung des Kindes eingreifen. Sondern, was man in der Schule als Spiele treibt, muß ein uninittelbares Abbild des Lebens sein. Alles muß aus dem Leben heraus sein, nichts soll ausgedacht sein. Daher sind - so guten Willen man auch darin findet - diejenigen Dinge, die etwa durch Fröbel oder andere in die Erziehung der kleinen Kinder gekommen sind, nicht in der wirklichen Entwickelung der Kinder gelegen, sondern sie sind aus unserem rationalistischen Zeitalter heraus ausgedacht. Und nichts Ausgedachtes sollte in der Schule wirken.

Vor allem muß ein geheimes Gefühl dafür vorhanden sein, daß überall das Leben in die Erziehung hineinragt. In dieser Beziehung kann man ganz merkwürdige Erfahrungen machen. Ich habe Ihnen

113

davon gesprochen, daß man dem Kinde, das eben den Zahnwechsel durchgemacht hat, malend oder zeichnend den Weg zum Schreiben ebnen soll. Das Schreiben, das ein abstrakt gewordenes Zeichnen ist, soll sich aus dem malenden Zeichnen oder dem zeichnenden Malen heraus entwickeln. Aber man soll dabei wirklich berücksichtigen, daß das Kind ein ästhetisch empfindendes Wesen ist, daß in ihm ein rich­tiger kleiner Künstler steckt. Nun kann man eine Erfahrung machen, die ganz interessant ist. Man kann einen ganz guten Lehrer in die Klasse hineinstellen, der sich für die Dinge, die ich jetzt auseinandergesetzt habe, ganz gut einsetzt, der begeistert dafür ist, der da sagt: Man muß alle früheren Erziehungsmethoden einfach wegschaffen und muß in dieser Weise erziehen! - Jetzt beginnt die Sache mit dem malenden Zeichnen oder zeichnenden Malen. Die Farbtöpfe und die Pinsel sind da, und die Kinder nehmen die Pinsel in die Hand. Jetzt kann man die Erfahrung machen: der Lehrer begreift lange nicht, was eine leuch­tende und eine nicht leuchtende Farbe ist! Er ist schon zu alt geworden dazu. Das Kind aber kommt ungeheuer leicht dahinter; es hat eine wunderbare Beweglichkeit, diesen Unterschied zwischen einer leuch­tenden und nicht leuchtenden Farbe zu verstehen. Darüber kann man die merkwürdigsten Erfahrungen machen. Ich habe einmal Gelegen­heit gehabt, einem ausgezeichneten Chemiker zu erzählen, daß wir bestrebt waren, im Goetheanum die Malereien mit leuchtenden Farben herzustellen, und zwar durch Pflanzenfarben. Da sagte der Betref­fende: Aber das können wir ja heute schon viel besser machen; wir haben ja heute schon die Mittel, um Farben herzustellen, die, wenn es dunkel wird, anfangen zu schillern. - Der Betreffende verstand gar nicht, was man sagte, er dachte es gleich chemisch. Die Erwachsenen haben heute oft keinen Sinn für eine leuchtende Farbe. Die Kinder haben ihn. Es geht alles wunderbar, mit wenigen Worten, wenn man nur aus der kindlichen Natur abliest, was das Kind schon hat. Aber die Anleitung muß verständnisvoll sein, muß selber künstlerischen Sinn haben; dann kommt das Kind leicht in alles hinein, wo hinein man es bringen will.

Aber es kommt das alles nur dann zustande, wenn man ein tiefes Gefühl dafür hat, daß die Schule das junge Leben ist; das alte Leben

114

muß man dann kennen. Daher muß man eine Empfindung dafür haben, was man tun kann und was nicht. - Es möge mir niemand übelnehmen, was ich sagen werde. Es ist mir zum Beispiel auf dem Gebiete der an­throposophischen Pädagogik im vorigen Jahre passiert, daß gezeigt werden sollte vor der Öffentlichkeit, was in unsere Pädagogik so tief hineingestellt ist: Eurythmie. Sie wurde gezeigt, aber folgendes wurde gemacht: An einem Orte wurden zuerst Kinder vorgeführt mit dem, was sie in der Schule an Eurythmie gelernt haben; und nachher erst wurde eine künstlerische Eurythmievorstellung veranstaltet. Es wurde also nicht gezeigt: Das ist Eurythmie - so daß sich die Leute erst das Verständnis erworben hatten: Also das ist Eurythmie, und so wird sie in die Schule hineingebracht. - Sondern dadurch, daß man zuerst die Kindereurythmie vorausschickte, stand diese so da, daß man überhaupt nicht wußte: Warum denn? - Stellen Sie sich vor, es hätte keine Malerei gegeben, und man würde auf einmal damit beginnen, zu zeigen, was die Kinder mit Farben anfangen zu schmieren. Ebensowenig konnten die, welche nicht in der anthroposophischen Bewegung stehen, in der Kindervorstellung sehen, was man mit der Anthroposophie und der Eurythmie will. So etwas hat nur eine Bedeutung, wenn Eurythmie zuerst als Kunst vorgeführt wird, weil man daran sieht, so steht sie im Leben und diese Bedeutung hat sie im Künstlerischen. Dann wird man auch die Bedeutung der Eurythmie für die Schule erkennen. Andern­falls wird man sagen: Man hat heute viele Marotten im Leben - und man wird die Eurythmie auch als eine solche Marotte ansehen.

Das sind die Dinge, die dazu führen müssen, nicht nur wiederum im alten Sinne kleingeistig in der Pädagogik vorzuarbeiten, sondern ein wenig großgeistig zu arbeiten, die Schule anzuschließen an das Leben, nicht sie herauszustellen aus dem Leben. Das ist ebenso wichtig, als irgendeine sehr gescheite Methode über Erziehung auszudenken. Denn immer wieder muß ich betonen: auf Gesinnung kommt es an und auf Einsicht. Gewiß, daß nicht alles gleich vollkommen sein kann, muß auch wieder verstanden werden; ich bitte also durchaus, mir nicht übelzunehmen, was ich jetzt gesagt habe, auch nicht auf anthropo­sophischer Seite. Ich anerkenne alles, was, wie hier, mit solcher Opfer­willigkeit getan wird. Aber wenn man es nicht in solcher Weise besprechen

115

würde, dann könnte folgendes sein: Weil dort, wo starkes Licht ist, auch starke Schatten sind, so würden dort, wo man sich be­müht, die Dinge zu vergeistigen, auch die schlimmsten Schatten ent­stehen. Da ist die Gefahr nämlich nicht kleiner als im gewöhnlichen Philisterium, sondern größer. Und das haben wir überhaupt nötig, wenn wir dem gewachsen sein wollen, was immer komplizierter und komplizierter im Leben an uns herankommt, daß wir wachsam und aufmerksam werden auf das, was das Leben vom Menschen verlangt. Wir haben heute nicht mehr jene deutlichen Traditionen, welche die frühere Menschheit weitergeführt hat. Wir können uns nicht mehr be­gnügen mit dem, was die Vorväter für richtig befunden haben; wir müssen unsere Kinder zu eigenem Urteil heranerziehen können. Dazu müssen wir unsere Begriffe aus derjenigen Engheit, die sie angenom­men haben, herausführen, und müssen drinnenstehen im ganzen leben­digen Leben und Weben der Welt. Wir dürfen also nicht wieder, wie man es früher getan hat, dazu kommen, einfache Begriffe zu finden, mit denen man weite Gebiete des Lebens erklären will. Die meisten Dinge auf diesem Gebiete werden ja doch so gemacht, daß man, wenn man auch nicht pedantisch sein will, mit glatten Begriffen die Dinge zu charakterisieren versucht so, wie es einmal in einer griechischen Philosophenschule gegangen ist, wo man erklären sollte, was ein Mensch ist. Da kam nämlich die Erklärung zustande: Ein Mensch ist emn lebendiges Wesen, das auf zwei Beinen steht und keine Federn hat. -Manche Definitionen, die heute gegeben werden, sind ganz nach diesem Muster. Und am nächsten Tage, nachdem jemand scharf nachgedacht hatte, was in diesem verhängnisvollen Wort steht, brachte er eine ge­rupfte Gans mit; denn das war ein Wesen, das auf zwei Beinen steht und keine Federn hat, und nun hatte er gemeint, das sei ein Mensch. Das ist nur der radikale Fall von dem, was Sie zum Beispiel bei Goethe angeführt finden, wo der kleine Junge im «Goetz von Berlichingen» anfängt, Geographie zu erzählen, und wo er auf seinen Heimatort kommt: er beschreibt diesen aus dem Lehrbuche, beschreibt dann einen Menschen, der sich in diesem Heimatort entwickelt, und hat keine Ahnung, daß dies sein Vater ist; er kennt also vor lauter Gelehrsamkeit seinen eigenen Vater nicht, denn er hat es aus dem Buche gelernt. - Die

116

Dinge gehen ja noch nicht so weit, wie ich es einmal in Weimar erlebt habe, wo ja auch Zeitungen erscheinen; aber sie werden eben so ge­macht, wie es an kleinen Orten gewöhnlich geschieht: man nimmt die Zeitungen aus größeren Orten, nimmt dann die Schere und schneidet die Nachrichten heraus, die man in seinem eigenen Blatt bringen will. So lasen wir einmal in Weimar am 22. Januar eine Notiz: Gestern ging über unsere Stadt ein heftiges Gewitter nieder. - Es war aber eine Notiz, die aus den «Leipziger Nachrichten» übernommen war.

Dergleichen geschieht im Leben, und wir sind ja immer von solchen Dingen umsponnen. Man theoretisiert in abstrakten Begriffen. Man treibt zum Beispiel Relativitätstheorie und kommt dabei zu der An­sicht, daß es gleich ist, ob man sich in einem Automobil nach Osterbeek begibt oder ob Osterbeek einem entgegenkommt. Wenn aber jemand einen Wirklichkeitsschluß ziehen würde, so müßte er sagen: Wenn das Automobil in Ruhe ist, dann nutzt es sich nicht ab und der Chauffeur wird nicht müde; im andern Falle findet das Gegenteil statt. Wenn jemand so denkt, dann wird er, ohne jede Linie und Bewegung zu ver­gleichen, aus dem Innern heraus erkennen, was sein eigenes Wesen da­durch verändert, daß es in Bewegung ist und nicht in Ruhe. Bei der heute üblichen Denkungsart ist es kein Wunder, daß man eine Rela­tivitätstheorie herausbekommt, wenn man den Blick auf das wendet, was «an sich» ist. Geht man aber auf die Wirklichkeit zurück, dann wird man sehen, daß es nicht stimmt mit dem, was man aus den bloßen Relationen sich ausdenkt. Wir leben heute, ob wir gelehrt oder gescheit sind, fortwährend eigentlich über der Wirklichkeit; wir leben in Vor­stellungen, die wir uns gemacht haben, ähnlich wie der kleine Junge im «Goetz von Berlichingen», der seinen Vater nicht kennt, trotzdem er ihn im Lehrbuche beschrieben hat. Wir leben nicht in der unmittel­baren Wirklichkeit.

Das müssen wir aber in die Schule hineinbringen: der unmittelbaren Wirklichkeit gegenüberzustehen. Das können wir, wenn wir vor allen Dingen den Menschen und den ganzen Zusammenhang des Menschen wirklich erkennen. Deshalb muß ich immer wieder und wieder sagen, man kann leicht den Satz aufstellen, an das Kind dürfe nur dasjenige als sogenannter Anschauungsunterricht herangebracht werden, was das

117

Kind schon verstehen kann. Aber dabei kommen furchtbare Triviali-täten zustande. Ich habe schon die Rechenmaschine erwähnt. Bedenken Sie aber einmal das Folgende: Ich nehme mit 8 Jahren etwas an, ver­stehe es gar nicht; ich weiß nichts anderes, als daß es der Lehrer eben sagt. Aber ich liebe den Lehrer. Der ist für mich eine selbstverständ­liche Autorität. Weil der es gesagt hat, deshalb nehme ich es an und präge es mir tief ins Herz hinein. Ich verstehe es auch noch nicht mit 15 Jahren. Aber mit 35 Jahren bringt das Leben etwas an mich heran, was wie aus wunderbaren Geistestiefen eben das heraufbringt, was ich damals mit 8 Jahren nicht begriffen habe, was ich nur auf die Autorität des geliebten Lehrers hin angenommen habe, und weil dieser die Auto­rität für mich war, deshalb mußte es wahr sein. Jetzt bringt das Leben etwas an mich heran, und da geht etwas mir blitzartig auf - und jetzt verstehe ich jenes frühere Erlebnis. Die ganze Zeit über hat es in einem gesessen, und jetzt bringt das Leben die Möglichkeit, es zu verstehen. Das ist für den Menschen etwas ungeheuer Verpflichtendes. Und eigent­lich müßte man sagen: Wehe dem Menschen, der nicht die Augenblicke haben kann, wo aus seinem eigenen Innern das heraufkommt, was er früher auf Autorität hin angenommen hat und jetzt erst verstehen kann! - Man soll eben dem Menschen nicht das entziehen, was später enthusiasmierend aus dem eigenen Innern herauf in das Leben ein­greifen kann.

Aber noch etwas. Ich sagte, man soll den Kindern zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife nicht Moralgebote geben, son­dern man soll dafür sorgen, daß ihnen das Gute deswegen gefällt, weil es dem Lehrer gefällt, und daß ihnen das Schlechte mißfällt, weil es dem Lehrer mißfällt. Auf Sympathie mit dem Guten, Antipathie mit dem Bösen soll für die zweite Lebensperiode alles gebaut sein. Dann sitzen die moralischen Gefühle tief in der Seele; dann ist vorhanden moralisches Wohlgefallen mit dem Guten, moralisches Mißfallen mit dem Schlechten. - Jetzt kommt die Geschlechtsreife heran. Wie in den ersten 7 Lebensjahren das Gehen, in den zweiten 7 Jahren die Sprache, so wächst jetzt mit der Geschlechtsreife in den dritten 7 Lebensjahren das Denken zu seiner vollen Bedeutung aus. Es wird selbständig. Das wird es eigentlich erst mit der Geschlechtsreife; da werden wir erst

118

richtig urteilsfähig. Haben wir nun in dem Zeitpunkte, wo wir an­fangen, uns aus innerlichem Drang heraus Gedanken zu machen, in der angedeuteten Weise Gefühle in uns, dann haben wir für das Ge­dankenleben eine gute Grundlage, und dann bilden wir selbst das Urteil aus: Dies hat mir ja gefallen, dazu bin ich pflichtgebunden, jenes hat mir mißfallen, und meine Pflicht ist es, das zu unterlassen. -Und es ist das Bedeutsame, daß dies eintritt, daß die Pflicht selbst herauswächst aus Gefallen und Mißfallen, daß Pflicht nicht eingeimpft wird, sondern eben aus Gefallen und Mißfallen herauswächst. Denn das ist der Aufgang der wahren Freiheit in der Menschenseele. Darin erlebt man die Freiheit, daß das Moralische der tiefste eigene Impuls der individuellen Menschenseele ist. Hat man das Kind in selbstver­ständlicher Autorität an das Moralische herangeführt, so daß das Mo­ralische für es in der Gefühlswelt lebt, dann arbeitet sich die Pflicht nach der Geschlechtsreife aus dem eigenen Innern des Menschen her­aus. Das ist das Gesunde. Da führen wir die Kinder in der rechten Weise hin zu dem, was individuelles Freiheitserlebnis ist. - Warum haben das die Menschen heute nicht? Sie haben es nicht, weil sie es nicht haben können, weil ihnen vor der Geschlechtsreife eingeimpft wird, was gut und böse ist, was sie tun oder lassen sollen. Aber ein Moralunterricht, der nicht die richtige Stufenfolge berücksichtigt, ver­ödet den Menschen, macht ihn so, als ob in ihm ein Skelett von Moral-geboten wäre und daran aufgehängt die verschiedenen Lebensverrich­tungen wie Kleider an einem Kleiderständer.

Soll das alles einheitlich im Leben sein, so muß ein ganz anderer Gang in der Erziehung vor sich gehen. Man muß wissen, wie das Kind ein anderes ist von der Geburt bis zum Zahnwechsel, ein anderes zwi­schen Zahnwechsel und Geschlechtsreife und ein anderes zwischen Ge­schlechtsreife und dem 21. Lebensjahr. Warum tut das Kind etwas in der Zeit bis zum 7. Lebensjahr? Weil es nachahmen will. Da will es das tun, was seine Umgebung macht. Das muß aber auch Leben haben, muß in lebendige Regsamkeit übergehen können. Dazu kann man nun sehr viel tun, wenn man das Kind daran gewöhnt, das, was es von der Umgebung empfängt, in Dankbarkeit zu empfinden. Dankbarkeit ist die Grundtugend des Kindes von der Geburt bis zum Zahnwechsel.

119

Wenn es jedem, der in der Außenwelt zu ihm in irgendeiner Beziehung steht, so gegenüberstehen kann, daß es an ihm sieht, wie er in Dank­barkeit dem entgegenkommt, was er von der Außenwelt empfängt; wenn das Kind gegenüber allem, was es an der Außenwelt empfindet und was es nachahmen will, solche Gebärden sieht, die in der Richtung der Dankbarkeit gehen, dann tut man sehr viel zum richtigen mora­lischen Halt des Menschen. Dankbarkeit ist das, was in die ersten 7 Le­bensjahre hineingehört.

Hat man so in der ersten Lebensperiode im Kinde die Dankbarkeit entwickelt, dann entwickelt man leicht das, was nun zwischen dem 7. und 14. Jahre alles Handeln beherrschen muß: die Liebe. Das ist die Tugend für das zweite Lebensalter. Und nach der Geschlechtsreife entwickelt sich aus dem, was man zwischen Zahnwechsel und Ge­schlechtsreife in Liebe erlebt hat, als der innerste der menschlichen Impulse erst die Pflicht. Und dann wird Richtschnur für das Leben das, was Goethe einmal so schön hingestellt hat, wo er fragt: «Was ist Pflicht? Wo man liebt, was man sich selbst befiehlt!» Dazu müssen wir gebracht werden. Wir werden aber nur dazu gebracht, wenn die Stu­fenfolge vorhanden ist: Dankbarkeit - Liebe - Pflicht.

Wir haben vor einigen Tagen gesehen, wie Dinge aus einer früheren Lebensepoche in die späteren hinüberragen. Auf eine Frage hin habe ich über die Dinge gesprochen. Jetzt möchte ich darauf aufmerksam machen, daß das auch sein Gutes hat, daß es dasein muß. Es ist nicht etwa gemeint, daß nun die Dankbarkeit mit dem 7. Jahre oder die Liebe mit dem 14. aufhören soll. Aber das ist ja gerade das Geheimnis des Lebens, was sich in einer Epoche entwickelt, das kann metamor­phosiert, gesteigert und verändert sich in die späteren Epochen hin-überleben. Und wir würden das Gute einer Epoche in die späteren Epochen nicht hinüberleben können, wenn nicht auch die Möglichkeit bestände, das Schlechte hinüberzuleben. Nur muß die Erziehung dafür sorgen, daß die Kraft, die im Menschen iSt, um etwas aus einer früheren mn eine spätere Epoche hinüberzuleben, für das Gute verwendet wird. Dann müssen wir aber dazu das anwenden, was ich gestern sagte. Bei einem Kinde ist zum Beispiel durch pathologische Untergründe die Möglichkeit vorhanden, daß es später im Leben moralisch schwach

120

wird. Wir sehen, es gefällt ihm nicht recht das Gute, es mißfällt ihm nicht recht das Schlechte; es will nicht recht vorwärtskommen. Dann versuchen wir das zu verwerten, was in jeder Menschennatur liegt, wir versuchen, weil es die Liebe zwischen dem 7. und dem 14.Jahre nicht recht entwickeln kann, es erst recht auf die Dankbarkeit hin zu ent­wickeln, recht viel Dankbarkeit gegenüber der selbstverständlichen Autorität herauf zu erziehen; dann bessert sich die Sache auch mit der Liebe. Kennt man die Dinge in der menschlichen Natur, dann geht man gar nicht so vor, daß man sagt: Dem Kinde fehlt die Liebe für das Gute, die Antipathie für das Böse; ich muß ihm das eintrichtern! -Das kann man nicht. Aber die Sache kommt von selbst, wenn man dann die Dankbarkeit entwickelt. Daher muß man wissen, was in der moralischen Lebensentfaltung die Dankbarkeit gegenüber der Liebe für eine Rolle spielt, daß Dankbarkeit in den ersten Lebensjahren eine selbstverständliche Folge der menschlichen Natur ist, und daß Liebe dasjenige ist, was in der ganzen menschlichen Organisation seelisch tätig ist, bevor es sich äußerlich-körperlich in der Geschlechtsreife aus-lebt. Denn was sich dann draußen geltend macht, ist ja zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr tiefstes Wachstums- und Wesensprinzip des Men­schen; es west und lebt ja im Innern. Da ist es tatsächlich so, das darf ich wohl hier sagen, wo diese Dinge aus den Grundlagen heraus be­sprochen werden sollen: Wenn der Lehrer einmal eingesehen hat, was eine Pädagogik ist, die auf wirklicher Menschenerkenntnis fußt, wenn er auf der einen Seite drinnensteht in einem solchen pädagogischen Wirken, und wenn er auf der andern Seite drinnensteht in der Pflege der anthroposophischen Weltanschauung, dann wirkt das eine auf das andere. Denn der Lehrer muß in der Schule so wirken, daß er voraus­setzen muß: die Liebe wirkt innerlich in dem Kinde, die dann äußer­liche Liebe wird in der Sexualität.

Der anthroposophische Pädagoge kommt dann an diejenige Stätte, wo seine Weltanschauung, die Anthroposophie gepflegt wird. Er hört hier von denen, die so etwas schon wissen können aus der Initiations-weisheit heraus: der Mensch besteht aus physischem Leib, ätherischem Leib, astralischem Leib und Ich; zwischen dem 7. und 14. Jahre arbeitet am physischen Leib vorzugsweise der ätherische Leib; der astralische

121

Leib taucht in den physischen Leib und ätherischen Leib unter, wenn die Geschlechtsreife eintritt. Aber wer diese Dinge durchschaut, wer eben immer bei dem, was er wahrnimmt, ein Mehreres, das Geistige außer dem Physischen wahrnimmt und, wenn es getrennt wirkt, auch getrennt wahrnehmen kann, der vernimmt schon vom 11., 12. Lebens­jahre ab beim Knaben, wie im Astralischen mittönt der tiefere Ton, der dann erst herauskommt bei der Geschlechtsreife. Im Astralischen klingt schon unten dieser Ton mit. Und ebenso tritt die den Menschen ge­schlechtsreifmachende Eigentümlichkeit auch beim weiblichen Ge­schlecht schon im 11., 12. Lebensjahre im astralischen Leib auf.

Diese Dinge sind da, und nimmt man sie real, dann verbreiten sie Licht über das Leben. Da kann man wirklich ganz besondere Erfah­rungen machen. Ich möchte mit solchen Erfahrungen nicht zurück­halten. Im Jahre 1906 hielt ich in Paris für einen verhältnismäßig klei­nen Kreis eine Anzahl Vorträge über Anthroposophie. Ich hatte aber diesem Kreise gemäß meine Vorträge eingerichtet, und zwar mit Rück­sicht darauf sie gehalten, daß in diesem Kreise Literaten waren, Schrift­steller, Künstler und andere, die ganz besondere Fragen in diesem Zeit­alter hatten. Seither ist es ja wieder anders geworden; damals aber war so etwas in den Fragen, für die sich der Mensch interessierte, der Mensch, der also frühmorgens aufsteht und die Ansicht hat, ich gehöre der Gesellschaft an, die sich für Literaturgeschichte, für die Geschichte des Künstlerischen und so weiter interessiert; wenn man dieser Gesell­schaft angehört, trägt man eine Krawatte von dieser Form, und seit dem und dem Jahre geht man zu den Tees nicht mehr im Frack oder Smoking. Das weiß man, wenn dann beim Diner dieses und ähnliches besprochen wird. Abends geht man dann ins Theater zu denjenigen Stücken, die mit dem Zeitproblem zusammenhängen; die sogenannten Dichter machen dann auch solche Stücke. Zuerst ist es ein Mensch mit tiefem innerem Sinn, aus dessen Herzen in aufrichtiger, ehrlicher Weise die großen Probleme herauswachsen: es ist zuerst ein Strindberg. Nach­her kommen dann die, welche einen Strindberg für das größere Publi­kum popularisieren. Und so wurde, als ich diese Pariser Vorträge hielt, jenes Problem viel besprochen, das kurz vorher den tragisch zu nehmen­den Weininger in den Selbstmord getrieben hatte. Das Problem, das bei

122

Weininger in «Geschlecht und Charakter» in so kindlich großartiger Weise zum Vorschein kommt, war Tagesproblem. Nachdem ich die Dinge, die dafür zum Verständnis notwendig waren, erörtert hatte, führte ich aus, daß ja bei jedem Menschen ein Geschlecht vorliegt im äußeren physischen Leibe, daß er aber das andere Geschlecht in seinem ätherischen Leibe an sich trägt; so daß man also davon sprechen muß:

die Frau ist Mann in bezug auf den ätherischen Leib, und umgekehrt ist der Mann in seinem ätherischen Leib Weib. Daher ist der Mensch, wenn man ihn in seiner Totalität nimmt, zweigeschlechtig; er trägt das andere Geschlecht in sich. - Da ich nun wirklich in die Möglichkeit versetzt bin, zu beobachten, wie dann die Menschen, wenn so etwas gesagt wird, aus ihren astralischen Leibern heraus anfangen zu schauen, wie sie plötzlich fühlen, daß sich ein Problem ihnen gelöst hat, an dem sie lange gekaut haben, dann sieht man so etwas von plötzlichem Un­ruhigwerden - aber in angenehmer Weise Unruhigwerden auf dem Stuhle. Wo die großen Probleme da sind, nicht die geringfügigen Le­bensempfindungen bloß, sondern wo wirklich ein, wenn auch oftmals nur «Smoking»-Enthusiasmus da ist, da sieht man dann doch wieder, wie Erlösungen aus dem Menschen herauskommen.

So sieht der anthroposophische Lehrer dann immer auf die großen Probleme hin als auf das, was ihn wiederum so machen kann, daß er menschlich bleibt in jedem Lebensalter, daß, wenn er in die Schule hin-eintritt, nicht vertrocknet, was ihn frisch und lebendig erhält. Es ist eben etwas ganz anderes, ob man immer nur das vor sich hat, was in den Schulbüchern steht und es den Kindern beibringt, oder man aus dem heraustritt und nun als Mensch den großen Weltperspektiven gegenübersteht. Da trägt man das, was man in sich selber aufnimmt, in die Atmosphäre hinein, mit der man die Klasse beim Unterricht betritt.

123

SIEBENTER VORTRAG Amheim, 23. Juli 1924

Aus den Betrachtungen, die hier angestellt worden sind über eine päd­agogische Kunst, die auf Menschenerkenntnis gebaut ist, wird ja er­sichtlich geworden sein, wieviel darauf ankommt, wie eigentlich der Lehrer, der Erzieher denjenigen gegenübersteht, die er zu erziehen, zu unterrichten hat. Was in der Seele, was in der ganzen Persönlichkeit des Lehrers sitzt, das wirkt auf, man möchte sagen, hunderterlei unsichtbaren Wegen von dem Erzieher, von dem Pädagogen hinüber zu den Kindern, zu den Zöglingen. Aber es wirkt nur, wenn der Erzieher tatsächlich eine eindringliche, echte Menschenerkenntnis in seiner Seele trägt, eine Menschenerkenntnis, welche auf dem Übergange ist zu einem Erleben im Geistigen. Und ich muß da schon einiges von dem heute voraus bemerken, was eigentlich im anthroposophischen Sinne unter Erleben im Geistigen verstanden wird; denn vielfach besteht gerade darüber die irrtümlichste Anschauung.

Man meint so leicht, geistiges Anschauen müsse sich vor allen Din­gen über alles Materielle erheben. Nun gewiß, der Mensch kann zu einer tiefen, aber doch immer etwas egoistisch gefärbten seelischen Be­friedigung kommen, wenn er, über das Materielle sich erhebend, in das Geistige hinaufschweift. Man muß das auch. Denn man lernt das Gei­stige nur kennen, wenn man es auf seinem eigenen Felde als Geistiges kennenlernt, und Anthroposophie muß vielfach von geistigen Reichen, geistigen Wesenheiten handeln, die nichts zu tun haben mit dem Phy­sisch-Sinnlichen. Und wenn es sich darum handelt, was ja dem heutigen Menschen so notwendig ist, kennenzulernen das Leben des Menschen zwischen dem Tode und der neuen Geburt, das eigentliche übersinn­liche Leben des Menschen vor der Geburt oder Empfängnis und das Leben nach dem Tode, dann muß man sich schon erheben zu der leibfreien, übersinnlichen, überphysischen Anschauung. Aber wir müssen ja auch innerhalb der physischen Welt wirken und arbeiten; wir müs­sen fest in ihr stehen. Wir sind ja zunächst, wenn wir Pädagogen sind, dies nicht für entkörperte Seelen. Wir können uns nicht fragen, wenn

124

wir Pädagogen werden wollen: Wie verhalten wir uns zu Seelen, die durch den Tod gegangen sind und in der geistigen Welt leben? - son­dern wir müssen, wenn wir zwischen Geburt und Tod als Pädagogen wirken wollen, uns fragen: Wie wohnt eine Seele im physischen Leibe? Und das müssen wir ja; wenigstens müssen wir es für die Jahre nach der Geburt. Da handelt es sich wirklich darum, daß man mit dem Geiste ins Materielle hineinschauen kann. Und Anthroposophie, Gei­steswissenschaft, ist in dieser Beziehung vielfach Hineinschauen in das Materielle mit dem Geiste.

Aber das Gegenteil ist auch richtig: man muß in das Geistige selber so weit hineinschauen, daß es einem volisaftig erscheint wie irgendein Sinnliches; man muß über das Geistige reden können, wie wenn es durch Farben erglänzte, durch Töne sich hörbar machte, wie wenn es leibhaft vor einem stände als Sinneswesen. Das ist gerade das, was ab­strakte Philosophen an der Anthroposophie so furchtbar ärgert. Es ärgert sie entsetzlich, daß der Geistesforscher die geistige Welt und die geistigen Wesenheiten so beschreibt, wie wenn er ihnen jede Stunde begegnen könnte wie einem andern Menschen, wie wenn er ihnen die Hand reichen und mit ihnen sprechen könnte. Er beschreibt diese gei­stigen Wesenheiten ganz wie Erdenwesen; sie schauen in seiner Be­schreibung auch fast so aus wie Erdenwesen. Das heißt, er stellt mit sinnlichen Bildern das Geistige dar. Das tut er mit vollem Bewußtsein, weil es für ihn absolut eine Realität ist. Es ist etwas Wahres daran, daß wirkliche Erkenntnis der ganzen Welt eben dazu führt, daß man den Geistern auch «die Hand reicht», daß man ihnen gegenübersteht, mit ihnen redet. Es erscheint das den Philosophen, die nur in abstrakten Begriffen die geistige Welt begreifen wollen, gewissermaßen zunächst paradox, aber eine solche Beschreibung ist notwendig.- Auf der andern Seite ist es notwendig, daß man einen Menschen so durchschaut, daß der Stoff an ihm ganz verschwindet, daß der Mensch ganz als Geist dasteht. Aber wenn der Nichtanthroposoph den Menschen als Geist anschauen will, ja dann ist dieser Mensch nicht nur ein Gespenst, son­dern viel weniger als ein Gespenst; da ist er so ein Begriffskleider-ständer, an dem die verschiedensten Begriffe hängen, auf den das Vor­stellungsvermögen wirkt und so weiter. Ein Gespenst ist noch anständig

125

dicht dagegen, aber so ein von Philosophen geschilderter Mensch ist wirklich unanständig nackt in bezug auf das Geistige. In der An­throposophie wird zwar der physische Mensch ganz geistig angeschaut, aber er hat noch Gehirn, Leber, Lungen und so weiter; er ist konkret, er hat alles, was in ihm gefunden wird, wenn man den Leichnam seziert. Es geht alles, was geistig ist, wirksam bis ins Physische hinein. Man schaut das Physische geistig an, aber man hat alles. Der Mensch «schneuzt» sich auch als Geist; bis dahin geht die geistige Wirksamkeit. Nur dadurch, daß man ein Bewußtsein davon hat, daß, wenn man das Physische anschaut, es ganz geistig werden kann, und daß, wenn man das Geistige anschaut, man es wieder herunterbringen kann, so daß es fast physisch wird, nur dadurch stößt beides zusammen. Man schaut auf den physischen Menschen, schaut ihn in seinen gesunden und kran­ken Verhältnissen; aber das Schwerstoffliche verliert sich, es wird geistig. Und man schaut auf das Geistige hin, wie es ist zwischen dem Tode und der neuen Geburt, und es wird physisch in Bildern. So kommt beides zusammen.

Dadurch, daß man diese zweifache Möglichkeit hat, das Geistige in Sinnesbildern, das Sinnliche in Geistesentitäten anzuschauen, dadurch lernt man hineinschauen in die menschliche Wesenheit. Wenn man also fragt: Was heißt im echten, wahren Sinne geistige Anschauung? - so muß man antworten: Es heißt, das Sinnliche auf geistige Art sehen und das Geistige auf sinnliche Art. - Das erscheint paradox, aber es ist so. Und erst dann, wenn man durchdrungen ist von der Richtigkeit dessen, was ich gesagt habe, kommt man dazu, das Kind in der richtigen Weise anzuschauen.

Ein Beispiel. Ein Kind, das ich in der Klasse habe, wird immer blas­ser und blasser. Ich sehe dieses Blasserwerden, es ist eine Erscheinung im physischen Leben des Kindes. Damit ist aber nun gar nichts getan, daß man jetzt zum Arzt geht und von ihm etwas verschreiben läßt, damit das Kind wieder Farbe bekommt. Denn es kann einfach der folgende Fall vorliegen: Das Kind wird einem blaß; man sieht es. Nun kommt der Schularzt, schreibt irgend etwas vor, wodurch das Kind wieder Farbe bekommen soll. Wenn nun der Arzt auch ganz richtig gehandelt hat und das absolut gute Mittel verschrieben hat, wie man

126

in solchen Fällen behandeln muß, so wird man doch an dem Kinde, das man jetzt kuriert hat, etwas Merkwürdiges sehen. Man hat es ja auch kuriert, und jeder, der über dem Arzte steht und der Behörde ein Zeugnis ausstellen müßte, könnte auch sagen, daß der Arzt dies getan hat. Aber das auf diese Weise kurierte Kind zeigt einem später in der Schule: es kann nicht mehr recht auffassen, es wird zappelig und un­ruhig, es geht über die Dinge mit Unaufmerksamkeit hinweg. Und während es früher blaß dagesessen hat und ein leidlich bequemes Kind war, fängt es jetzt an, seine Nachbarn zu puffen; während es früher die Feder zart ins Tintenfaß getaucht hat, stößt es sie jetzt mit Gewalt hinein, so daß die Tintenspritzer nach aufwärts gehen und das Heft damit bedeckt ist. Der Arzt hat seine Pflicht getan; aber jetzt hat man die Bescherung, denn kurierte Leute nehmen sich manchmal im Leben recht sonderbar aus.

In einem solchen Falle handelt es sich wieder darum, daß man nun wirklich sieht, was liegt da eigentlich zugrunde? Kann man von dem äußeren Physischen, das sich im Blaßwerden ausdrückt, durchschauen auf das Geistig-Seelische, so merkt man folgendes. Gedächtniskraft, die im Geistig-Seelischen wirkt, ist nichts anderes als umgewandelte, meta­morphosierte Wachstumskraft; und Wachsen, Ernährungskräfte ent­wickeln ist auf einem andern Niveau ganz dasselbe, wie Gedächtnis bilden, Erinnerungen bilden auf einem höheren Niveau. Es ist dieselbe Kraft, nur in verschiedener Metamorphose. Schematisch vorgestellt, kann man sagen: In den ersten Lebensjahren des Kindes sind beide Kräfte noch durcheinandergemischt, sind noch nicht geschieden; dann sondert sich später das Gedächtnis als eine besondere Fähigkeit aus dem Ungeschiedenen heraus und die Wachstums- und Ernährungsfähigkeit ebenfalls. Weil das Kind in den ersten Jahren seine Gedächtniskräfte noch dazu braucht, um seinen Magen zu versorgen und die Milch zu verdauen, kann es sich an nichts erinnern; wenn es dann später seine Gedächtniskraft nicht mehr dazu braucht, dem Magen zu dienen, wenn der Magen weniger Ansprüche macht und nur wenig Kräfte zurück-behält, dann wird ein Teil der Wachstumskräfte seelisches Gedächtnis, Erinnerungskraft. Hat man nun in der Schule vielleicht dadurch, daß die andern Kinder robuster sind, also eine richtigere Verteilung von

127

Gedächtniskraft und Wachstumskraft in sich tragen, vielleicht weniger auf ein Kind gerechnet, das nicht so viel Fonds in dieser Beziehung hat, dann kann es sehr leicht sein, daß man die Erinnerungskraft bei ihm überlastet; dann ist die emanzipierte Erinnerungskraft bei diesem Kinde zu stark engagiert. Dann wird der Wachstumskraft, die gleich­artig mit ihr ist, zu viel entzogen. Das Kind wird blaß und ich muß mir in meiner Seele sagen: Ich habe dich mit dem Gedächtnis zu stark angestrengt; dadurch bist du mir blaß geworden. Man kann dann sehr leicht bemerken, wenn man dieses Kind in bezug auf die Gedächtnis-kraft und das Erinnerungsvermögen entlasten wird, dann wird es von selbst wieder Farbe bekommen. Aber man muß verstehen, wie das Blaßwerden zusammenhängt mit dem, was man selbst erst getan hat, indem man das Kind mit Erinnerungen überlastet hat. Das ist sehr wichtig, daß man bis ins Physische hineinschauen und sehen kann, wenn das Kind zu blaß wird, habe ich es gedächtnismäßig überlastet.

Habe ich aber ein anderes Kind in der Klasse, welches manchmal eine eigentümliche Röte auf das Gesicht bekommt, und um welches man dann auch so besorgt werden kann, wenn so eine hektische Röte auftritt, so werde ich bei diesem Auftreten einer hektischen Röte see­lische Begleiterscheinungen sehr leicht bemerken können. Denn in den merkwürdigsten Zeitpunkten, wo man es gar nicht erwartet, tritt bei diesen Kindern das auf, daß sie jähzornig, tobend werden; sie werden emotionell. Man kann natürlich jetzt wieder sagen: Blutandrang nach dem Kopfe - kann etwas dagegen verschreiben lassen. Der Arzt hat dann wiederum seine Pflicht getan, selbstverständlich. Aber man muß noch etwas anderes wissen, nämlich dies, daß man dieses Kind, im Gegensatz zu dem andern, in bezug auf die Erinnerungsfähigkeit ver­nachlässigt hat; es sind bei ihm zu viel Kräfte ins Wachstum, in die Ernährung hinuntergegangen. In diesem Falle muß man versuchen, gerade an die Erinnerungsfähigkeit des Kindes Ansprüche zu stellen, muß seinem Gedächtnisse etwas zu tun geben; dann werden diese Er­scheinungen aufhören.

Manche Dinge, die man in der Schule anzuordnen hat, lernt man nur dadurch erkennen, daß man wirklich in Einheit das Physische und das Geistige überschaut. Man schult sich allmählich hinein in dieses

128

Erkennen des Zusammenhanges des Physischen mit dem Geistigen, wenn man auf dasjenige blicken kann, was ja schon der ganzen Men­schenorganisation nach zwischen dem Physischen und dem Geistigen drinnensteht: das Temperamentmäßige. Die Kinder kommen in die Schule und sie haben, immer selbstverständlich mit allen Übergängen und allen Mischungen, die vier Temperamente: das melancholische, das phlegmatische, das sanguinische und das cholerische. In unserer Waldorfschul-Pädagogik wird auf das Durchschauen des Kindes nach diesen Temperamenten ein großer Wert gelegt, schon bei der Sitz­ordnung, die wir in der Klasse haben. Wir versuchen herauszubekom­men, welches zum Beispiel die cholerischen Kinder sind; die setzen wir zusammen, dann haben wir sie beisammen, und dem Lehrer ist es dann auch möglich zu wissen: dort in der Ecke hat er die cholerisch veran­lagten Kinder, in einer andern Ecke sitzen zum Beispiel die Phlegma­tiker, irgendwo in der Mitte sitzen die Sanguiniker, und wieder wo­anders sitzen die Melancholiker beisammen. Dieses Zusammensetzen hat schon seine großen Vorteile. Denn man erfährt dadurch: die Phleg­matiker werden sich durch dieses Beisammensitzen mit der Zeit so langweilig, daß sie sich diese Langeweile dadurch austreiben wollen, daß sie sich aneinander abreiben. Und die Choleriker wieder puffen sich gegenseitig so viel, daß es nach einiger Zeit damit sehr viel besser wird. Ebenso ist es bei den Sanguinikern mit ihrem zappeligen Wesen. Und die Melancholiker wiederum sehen, wie sich Melancholie bei dem andern gibt. Also die Kinder so zu behandeln, daß man sieht: Gleiches wirkt auf Gleiches günstig, das ist schon in bezug auf diese Außerlich­keit etwas sehr Gutes, abgesehen davon, daß man nun auch die Mög­lichkeit hat, immer die Klasse dadurch auch zu überschauen; denn man überschaut sie ja viel leichter, wenn man die gleichartigen Kinder bei­einander hat.

Nun kommt es aber darauf an, in die Menschennatur auch so hin­einzuschauen, daß man nun wirklich praktisch das cholerische, das sanguinische, das melancholische Temperament zu behandeln vermag. Da tritt natürlich der Fall ein, wo man nötig hat, diese Brücke zwischen Schule und Haus, von der ich gesprochen habe, tatsächlich in einer intimen Weise herzustellen. Ich habe zum Beispiel ein melancholisches

129

Kind in der Klasse, kann schwer mit ihm etwas anfangen; ich komme nicht recht in es hinein, es brütet, es ist abgezogen, mit sich selbst be­schäftigt, ist nicht bei dem, was in der Klasse vorgebracht wird. Hat man eine Pädagogik, die nicht auf Menschenerkenntnis gebaut ist, so meint man, man müsse alles Mögliche mit dem Kinde machen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, um es aus sich herauszubringen. Das wird aber in der Regel das Kind noch bedenklicher machen, es wird noch brütender werden. Alle diese Heilmittel, die man so laienhaft ersinnt, helfen wenig; höchstens hilft da die selbstverständliche Liebe zu dem Kinde: denn es weiß, man hat Teilnahme mit ihm, so daß das mehr Unterbewußte in ihm angeregt wird. Alles Zureden freilich sind nicht nur verschwenderische Versuche, sondern es schädigt nur, und das Kind wird noch melancholischer als früher. Aber in der Klasse hilft außerordentlich viel, wenn man versucht, auf die Melancholie des Kin­des einzugehen, von ihm herauszubekommen, worauf seine Vorstellun­gen gehen; dann für diese Vorstellungen Interesse zeigen, auf diese Vorstellungen eingehen und gewissermaßen mit dem, was man selbst tut, melancholisch werden mit dem melancholischen Kinde. Man muß als Lehrer sämtliche vier Temperamente in harmonischem Zusammen­wirken in sich tragen. Und das, wie man sich dann zu dem Kinde ver­hält, das widerspricht der Melancholie des Kindes, und wenn man dies immer fortsetzt, dann schaut das Kind das, was man ist, in dasjenige hinein, was man spricht. Und es stiehlt sich auf diese Weise in das Kind dasjenige hinein, was hinter der Maske der Melancholie, die man an­nimmt, steckt an liebevollem Eingehen auf das Kind. Das wird in der Klasse helfen.

Jetzt aber wird man weitergehen und wird wissen, daß alle Melan­cholie in einem Menschen, so unwahrscheinlich dies auch dem heutigen Physiologen erscheinen mag, zusammenhängt mit einer unregelmäßigen Leberfunktion. Man kann wissen, daß alle Melancholie, besonders wenn sie das Kind ins Pathologische hineintreibt, auf unregelmäßiger Leberfunktion beruht. Daher wende ich mich nun an die Eltern eines solchen Kindes und sage ihnen: Ihr müßt diesem Kinde einmal mehr Zucker als sonst in die Speisen hineintun; das Kind muß die Speisen gesüßter bekommen, als ihr es gewohnt seid; denn Zucker wirkt auf

130

die Normalisierung der Leberfunktion. Und indem ich der Mutter die­sen Rat gebe: Gib dem Kinde mehr Zucker -, werde ich Schule und Haus zusammenwirken lassen, um das, was in der Melancholie ins Pathologische hineingegangen ist, wieder herauszubringen und die Möglichkeit zu schaffen, durch die es dann die entsprechende Behand­lung finden kann. - Oder ich habe ein sanguinisches Kind, ein Kind, das von Eindruck zu Eindruck geht, das immer gleich das Nächste haben will, wenn es das Vorhergehende gerade hat, das sich stark an­fängt, für alles zu interessieren, aber mit seinem Interesse auch bald wieder aufhört. Ich habe also ein solches Kind, das mir diese verschie­denen Merkmale zeigt. Es wird in der Regel nicht schwarz, sondern blond sein. Da handelt es sich wieder darum, daß ich zunächst die Möglichkeit finde, es in der Schule zu behandeln. Ich werde in dem, was ich selber tue, versuchen, noch sanguinischer zu werden als das Kind; ich werde ihm recht schnell wechselnde Eindrücke vormachen, so daß es sich jetzt nicht sich selber überlassen kann in bezug auf das Eilen von Eindruck zu Eindruck, sondern daß es mit muß mit mir. Dann wird ihm die Geschichte zuwider, dann will es schließlich nicht mit. Aber zwischen dem, was ich so immer wieder und wieder tue, daß ich mich selbst sanguinisch benehme bei dem, was ich dem Kinde bei­bringen will, und zwischen dem, wie das Kind seinem Temperamente nach von Eindruck zu Eindruck eilen will, da bildet sich nun in ihm selber als Gegenwirkung eine Harmonie aus. So kann ich das Kind behandeln, indem ich seine Eindrücke recht wechselnd mache, immer­fort Neues ausdenke, so daß das Kind bald schwarz, bald weiß sehen muß, immerfort von Ding zu Ding eilen muß. Nun setze ich mich aber jetzt mit der Mutter dieses Kindes in Verbindung. Da erfahre ich von ihr ganz sicher, daß das Kind ein Zuckerschlecker ist oder so etwas ähnliches, daß es viele Bonbons bekommt oder sie stibitzt, oder in einem Elternhause ist, wo man sehr gern die Speisen stark süßt, oder -wenn selbst das nicht der Fall war - es war die Muttermilch zu süß, hat zu viel Zuckerstoff enthalten. Und dann setze ich der Mutter ausein­ander, für einige Zeit dem Kinde eine Diät zu geben, die zuckerärmer ist als bisher, und so wirke ich jetzt durch die zuckerarme Nahrung vom Elternhause aus mit der Schule zusammen. Und die Zuckerverminderung

131

wird allmählich die Abnormität, die dadurch herauskommt, daß auch bei diesem Kinde die Lebertätigkeit in der Gallenabsonde­rung nicht ganz richtig ist, paralysiert, jene abnorme Gallenabsonde­rung, die sehr fein und wenig bemerkbar ist. Und ich werde bemerken, daß mir so das Elternhaus zu Hilfe kommt.

So muß man tatsächlich überall wissen, wo sozusagen das Physische unmittelbar im Geistigen drinnensteht, wo es eins mit dem Geistigen ist.

Wir können noch mehr ins Detail gehen und können sagen: Ein Kind zeigt mir rasches Auffassungsvermögen, es begreift alles recht leicht; aber wenn ich nach ein paar Tagen wieder auf das zurück-komme, was es aufgefaßt hat und worüber ich so froh war, daß es so schnell begriffen hat, dann ist es verflogen; es ist nicht mehr da. Da werde ich auch wiederum in der Schule manches tun können. Ich werde versuchen, vor dem Kinde dasjenige zu entwickeln, was nötig macht, daß es eine stärkere Aufmerksamkeit aufwendet, als es gewohnt ist. Es begreift etwas zu schnell, es hat nicht nötig, sich innerlich genügend anzustrengen, um die Dinge in sich hineinzuprägen. Ich werde es also Nüsse knacken lassen, werde ihm etwas geben, was schwerer zu begrei­fen ist und mehr Aufmerksamkeit verlangt. Das kann ich in der Schule tun. Aber nun setze ich mich wieder mit den Eltern zusammen und kann da von ihnen Verschiedenes herausbekommen. - Was ich jetzt sage, das muß nicht immer in dieser Weise den Tatsachen entsprechen; aber ich will damit den Weg nur andeuten. - Ich werde taktvoll mit der Mutter mich auseinandersetzen, werde ihr nicht vom hohen Roß herunter Vorschriften machen, sondern werde herausbekommen, wie eigentlich die Hauskost beschaffen ist, und ich werde finden, daß die­ses Kind gerade zu viel Kartoffeln ißt. Die Sache ist deshalb schwierig, weil jetzt die Mutter sagen kann: Ja, du sagst mir, daß mein Kind zu viel Kartoffeln ißt; aber des Nachbars Töchterlein bekommt noch mehr Kartoffeln, und das hat gar nicht denselben Fehler; also kann der doch nicht vom Kartoffelessen kommen. - Das wird die Mutter sagen. Und dennoch, es kommt vom Kartoffelessen, weil die Organisation eines Kindes so ist, daß das eine mehr, das andere weniger Kartoffeln vertragen kann. Und kurioserweise: bei diesem einen Kinde zeigt es sich, daß es zu viel Kartoffeln für seine Organisation bekommen hat;

132

es zeigt sich dies dadurch, daß es gedächtnismäßig nicht ordentlich funktioniert. Nun liegt die Heilung in diesem Falle nicht darin, daß man dem Kinde weniger Kartoffeln gibt. Es kann sogar sein: man gibt ihm weniger Kartoffeln, und es kann eine Besserung eintreten; aber nach einiger Zeit ist alles wieder beim alten. Da wirkt nicht die abso­lute Verminderung der Kartoffelmenge, sondern das langsame Ab­gewöhnen, die Tätigkeit des Abgewöhnens. Und man muß der Mutter sagen: Um ganz Winziges weniger Kartoffeln gib dem Kinde in der ersten Woche, um ein weiteres Winziges weniger in der zweiten Woche und so weiter, so daß das Kind etwas damit zu tun hat, ganz nach und nach auf eine geringere Menge Kartoffelsubstanz herunterzukommen. Um das Abgewöhnen also handelt es sich in diesem Falle und man wird sehen, daß man damit wieder geradezu heilend wirken kann.

Nun werden sehr leicht sogenannte Idealisten der Anthroposophie Materialismus vorwerfen. Sie tun es auch. Wenn die Anthroposophie zum Beispiel sagt: Wenn man ein Kind hat, das leicht begreift, das aber die Dinge nicht behält, dann muß man die Kartoffelration nach und nach vermindern,- dann sagen die Leute: Du bist ja ganz Materialist. -Aber es besteht ein so inniges Zusammenwirken zwischen Materie und Geist, daß man nur wirken kann, wenn man die Materie durchschaut, und wenn man sie auch durch Maßnahmen, die man durch den Geist erkennt, beherrschen kann. - Nun brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, wieviel in unserem heutigen sozialen Leben gegen diese Dinge gesündigt wird. Aber, wenn nun dem Lehrer Weltanschauungsperspek­tiven sich eröffnen, dann kommt er ja wirklich auf diese Dinge. Er muß nur den Blick etwas erweitern. So wirkt zum Beispiel auf den Lehrer ungeheuer günstig in bezug auf das Begreifen der Kinder, wenn er erfährt, wie wenig Zucker in Rußland verbraucht wird und wie viel in England. Und wenn er dann das russische Temperament vergleicht mit dem englischen Temperament, dann wird er schon sehen, was der Zucker auf das Temperament für einen Einfluß hat. Man muß die Welt erkennen lernen, so daß einem dieses Erkennenlernen etwas hilft für das, was man zu tun hat. - Aber ich will noch etwas anderes sagen:

Es gibt in Deutschland, in Baden, einen Ort, wo man ein merkwürdiges Denkmal findet, das Drake-Denkmal. Ich wollte einmal wissen, was es

133

mit diesem Drake für eine Bedeutung hat. Da schlug ich das Konver­sationslexikon nach und las: Dem Drake ist in Offenburg ein Denkmal errichtet worden, weil man ihn irrtümlich für den Einführer der Kar­toffel in Europa gehalten hat. - Das steht dort. Der Mann hat also ein Denkmal bekommen, weil er für denjenigen Menschen gehalten wurde, der in Europa die Kartoffel einführte. Er hat sie nicht eingeführt, ob­wohl er in Offenburg ein Denkmal erhalten hat.

Die Kartoffel ist aber doch verhältnismäßig spät in Europa ein­geführt worden. Und nun werde ich Ihnen etwas sagen, worüber Sie so viel lachen mögen, als Sie wollen, aber es ist doch eine Wahrheit. Man kann studieren, wie sich die intelligenten Fähigkeiten der Men­schen verhalten in ihrer Entwickelung von der kartoffellosen Zeit zu der Zeit nach der Einführung der Kartoffel. Und die Kartoffel wird ja auch für Branntweinbrennerei verwendet. Sie fing einmal an, eine ganz bestimmte Rolle in der Entwickelung der europäischen Mensch­heit zu spielen. Wenn Sie die zunehmende Verwendung der Kartoffel vergleichen mit der Entwickelungskurve der Intelligenz, so finden Sie, daß gegenüber der heutigen Zeit die Leute in der Vorkartoffelzeit weniger intensiv die Dinge erfaßt haben, aber das Erfaßte mit Zähig­keit festgehalten haben; sie waren mehr konservative Naturen, tief innerlich. Als die Kartoffel eingeführt wurde, da wurden die Leute schneller im intelligenten Bewegen der Begriffe, aber das Aufgenom­mene haftet nicht, es geht nicht ins Innere hinein. Die Geschichte der Entwickelung der Intelligenz geht parallel der Geschichte des Kar­toffelessens. Wiederum ein Beispiel dafür, wie die Anthroposophie materialistisch die Dinge erklärt, aber es ist so. Und man würde viel lernen für die Kulturgeschichte, wenn man überall wissen würde, wie der Mensch im Unterbewußten gerade im Geistigen von dem äußer­lichen Materiellen ergriffen wird. In seinen Begierden zeigt er das.

Nehmen wir zum Beispiel jemanden, der viel zu schreiben hat, für Zeitungen jeden Tag einen Artikel und dergleichen, so daß er genötigt ist, an der Feder zu kauen, um das herauszubringen, was er zu schreiben hat. Wenn man das selber durchgemacht hat, kann man es ja erzählen; man muß es nur nicht an andern kritisieren, man muß es aus der eigenen Erfahrung heraus besprechen. Da hat man dann das Bedürfnis, während

134

des Kauens an der Feder Kaffee zu trinken; denn das Kaffeetrinken ist etwas, was die Gedanken mehr bindet. Man bekommt also die Gedan­ken logischer heraus, wenn man Kaffee trinkt, als ohne diesen. Als Journalist also muß man eigentlich den Kaffee lieben; man hat es schwerer, wenn man nicht Kaffee trinkt. Nehmen Sie aber dagegen einen Diplomaten. Denken Sie daran, was mit dem Diplomaten alles vor dem Weltkriege verbunden gewesen ist: er mußte lernen, mit den Beinen auf eine besondere Weise aufzutreten; auf den sozialen Böden, wo der Diplomat sich bewegen muß, muß man lernen, mehr gleitend die Fußsohlen aufzusetzen als sonst im bürgerlichen Leben. Aber man muß auch mit den Gedanken etwas flüchtig-flüssig sein können. Wenn man logisch als Diplomat ist, wird man ganz sicher keine guten Ge­schäfte machen, noch die Völker vorwärtsbringen. Wenn man zu­sammen ist als Diplomaten - da sagt man auch nicht von ihnen, die sind beim Kaffee zusammen, sondern, die sind beim Tee zusammen -, da hat man das Bedürfnis, eine Tasse Tee nach der andern zu trinken, damit die Gedanken nicht nur logisch auseinander hervorgehen, son­dern möglichst springen. Daher die Begierde der Diplomaten, Tee zu trinken: der löst den einen Gedanken von dem andern los, macht ihn flüssig und flüchtig, zerstört die Logik. So kann man also sagen:

Schriftsteller = Kaffeeliebhaber, Diplomaten = Teeliebhaber, aus ei­nem ganz richtigen Instinkt heraus.

Weiß man das, so betrachtet man das nicht als eine Beeinträchti­gung der menschlichen Freiheit. Denn selbstverständlich ist die Logik nicht eine Blüte des Kaffees, sondern das ist nur eine unbewußte, unter-bewußte Unterstützung nachher. Die Seele bleibt schon deshalb doch frei.

Aber gerade wenn man das Kind vor sich hat, muß man in solche Zusammenhänge hineinblicken, für die man einen Sinn bekommt, wenn man sagen kann: Tee - Diplomatengetränk, Kaffee - Schriftsteller-getränk und so weiter. Dann bekommt man allmählich auch eine Ein­sicht darin, wie es mit so etwas überhaupt ist wie mit der Kartoffel. Die Kartoffel bietet der Verdauung außerordentlich starke Schwierig­keiten. Und sehr wenig, fast homöopathisch Dosiertes, kommt von ihr ins Gehirn. Aber dieses homöopathisch Dosierte ist gerade sehr wirksam,

135

das spornt die abstrakten Intelligenzkräfte an. - Da darf ich viel­leicht etwas verraten. Wenn man Kartoffelsubstanz durch das Mikro­skop betrachtet, so hat man ja diese bekannten Gebilde der Kohle­hydrate darinnen. Wenn man den astralischen Leib eines Menschen ansieht, der etwas viel Kartoffeln gegessen hat, dann bemerkt man, wie im Gehirn, 3 Zentimeter hinter der Stirn, die Kartoffelsubstanz auch anfängt, in solchen exzentrischen Kreisen tätig zu sein. Die Be­wegungen des astralischen Leibes werden kartoffelsubstanzartig, und der Mensch wird außerordentlich intelligent. Er wird von über-sprudelnder Intelligenz. Aber das sitzt nicht, es geht gleich wieder vorüber. Muß man denn nicht zugeben, wenn man überhaupt zugibt, daß der Mensch Geist und Seele hat, daß es nicht ganz närrisch und phantastisch ist, wenn man auch von dem Geiste redet und man redet von ihm in sinnlichen Bildern? Wer immer nur in abstrakten Bildern über ihn sprechen will, der führt uns nichts von dem Geiste vor; wohl aber der, der den Geist bis zum sinnlichen Bilde hinunterbringen kann. Er kann sagen, bei einem so sprudelnd-intelligenten Menschen geht es so, daß im Gehirn förmlich Kartoffelsubstanz, aber geistig, sich bildet. Und man lernt dann auch wieder die feinen Unterschiede und Über­gänge erkennen. Man lernt erkennen, daß Tee in bezug auf die Logik die Gedanken auseinanderklüftet, aber er regt nicht an, Gedanken zu bekommen. Damit, daß die Diplomaten den Tee lieben, ist noch nicht gesagt, daß sie die Fähigkeit haben, Gedanken zu produzieren. Aber die Kartoffel regt an, Gedanken blitzartig aufschießen und auch wie­der verschwinden zu lassen. Aber diesem blitzartigen Aufschießen der Gedanken, das auch bei Kindern eintreten kann, geht immer parallel ein Untergraben des Verdauungssystems. Und man wird gerade sehen können, wenn die Kinder in ihrem Verdauungssystem untergraben werden, so daß sie nämlich über Obstipationen klagen, es zugleich da­durch sich zeigt, daß ihnen allerlei nichtsnutzige und gescheite Gedan­ken durch den Kopf schießen, die sie ja wieder verlieren, aber sie sind doch da.

Ich führe diese Dinge im Detail an, damit Sie sehen, wie Geistig­Seelisches und Physisches einheitlich angeschaut werden muß, und wie wiederum wirklich in der Menschheitsentwickelung ein Zustand herbeigeführt

136

werden muß, der die verschiedensten Strömungen der Kul­tur zusammenhält, während wir in einem Zeitalter leben, in welchem sie ganz auseinandergegangen sind. Das aber sieht man wieder nur ein, wenn man ein wenig in die Entwickelungsgeschichte der Menschheit hineinsehen kann.

Wir unterscheiden heute Religion, Kunst, Wissenschaft. Und die Wächter der Religion sorgen zuweilen mit aller Intensität dafür, daß nur ja nichts Wissenschaftliches in die Religion hineinkomme. Der Re­ligion hat man zu glauben, und die Wissenschaft sitzt woanders. Die hat sich auf einem Gebiete, wo man wissen kann, zu verwenden; die darf nichts glauben, sie muß alles wissen. Aber damit man mit dieser Einteilung zurecht kommt, schaltet man von der Wissenschaft das Geistige und von der Religion die Welt aus; dann wird die Religion abstrakt, ist nur für das Übersinnliche da, und dann wird die Wissen­schaft geistlos. Und die Kunst emanzipiert sich vollständig. In unserer Zeit gibt es ja Menschen, die, wenn man ihnen übersinnliche Sachen erzählen will, dann die Miene des Gescheiten aufsetzen und einen als abergläubisch ansehen: Minderwertig! Wir wissen, daß das alles Un­sinn ist. - Dann aber schreibt jemand, ein Björnson oder ein anderer, irgend etwas, wo solche Dinge drinnen spielen; es geht in die Kunst hinüber, da laufen alle Leute hin und genießen in der Kunst dasjenige, was sie in der Erkenntnis ablehnen. Mit dem Aberglauben ist es ja so sonderbar. Ich hatte einmal einen Bekannten - solche Dinge aus dem Leben muß man überall durchaus in die Erziehungskunst hineintragen, denn wirkliche Erziehungskunst kann man nur vom Leben lernen -, einen Bekannten, der dramatischer Schriftsteller war. Ich begegnete ihm einmal auf der Straße, er lief außerordentlich schnell, schwitzend. Es war 3 Minuten vor 8 Uhr abends. Ich fragte ihn, wohin er denn so schnell wolle. Er aber hatte es sehr eilig und sagte nur, er müsse schnell noch zur Post, denn die würde um 8 Uhr geschlossen. Ich ließ ihn laufen, aber ich war doch psychologisch interessiert, um den Grund seiner Eile zu erfahren. So wartete ich also, bis er zurückkam. Endlich kam er auch, ganz echauffiert, und er war jetzt auch mitteilsam. Ich wollte wissen, warum er so schnell zur Post gelaufen war. Und da er­zählte er mir: Ja, ich habe eben mein Stück abgeschickt. - Von diesem

137

Stück aber hatte er bisher immer erzählt, daß er damit noch nicht fertig wäre. Und er sagte auch jetzt: Ich bin zwar damit noch nicht fertig, aber ich wollte es nur heute noch abschicken, damit der Direktor es morgen bekommt; ich habe ihm jedoch auch gleich dazu geschrieben, er möge es mir nur wieder noch einmal zurückschicken. Denn wenn man nämlich ein Stück vor dem Letzten des Monats noch abschickt, dann wird es zur Aufführung noch angenommen, sonst nicht! - Nun, dieser Mann war der aufgeklärteste, den es gab. Er glaubte daran, daß, wenn man an einem bestimmten Tage ein Stück abschickt, es angenom­men wird, selbst wenn er es sich noch einmal zurückschicken lassen muß, um es dann erst in Wirklichkeit fertigzumachen. Daran können Sie sehen, wie die Dinge, welche die Menschen manchmal verachten, sich in irgendeinen Winkel hineinverkriechen, aus dem sie dann bei nächster Gelegenheit wieder hervorkommen.

So ist es insbesondere beim Kinde. Man glaubt, irgend etwas bei ihm ausgemerzt zu haben, aber gleich tritt es irgendwo anders wieder auf. Dafür muß man einen Blick haben. Und so muß man schon Weit­herzigkeit im Anschauen von Menschen haben, damit man auf Men­schenerkenntnis eine wirkliche pädagogische Kunst aufbaut. Nur wenn man auf Details eingeht, wird man dies alles durchschauen können.

Heute, sage ich also, redet man abgesondert von Religion, Kunst und Wissenschaft. Das gab es in den Urzeiten der Menschheit nicht. Da war alles eine Einheit. Damals gab es Mysterienstätten, die zugleich Hochschulen waren, die Religionsstätten, Kunststätten und zugleich Wissenschaftsstätten waren. Denn man empfing eben als Erkenntnis die vorstellungsgemäßen Bilder, die ideengemäßen Bilder der geistigen Welt. Aber man empfing sie so anschaulich, daß man sie auch in äußer­lichen Bildern verwirklichen und den Kultus daran entwickeln konnte. Wissenschaft wurde zum Kultus, aber sie wurde auch zur Kunst. Denn das, was man aus der Erkenntnis äußerlich gestaltete, wollte man schön haben. So hatte man in jenen Zeiten ein Göttlich-Wahres, ein Sittlich­Gutes und ein Sinnlich-Schönes in den Mysterienstätten als Einheit aus der Religion, der Kunst und der Wissenschaft. Und erst später spaltete sich dieses Einheitliche, und da gab es dann die Wissenschaft für sich, die Religion für sich und die Kunst für sich. Und in unserer Zeit ist es

138

damit bis zum Kulminationspunkt gekommen. Die Dinge, die eigent­lich nur eins sein können, sind in der Kulturentwickelung getrennt. Der Mensch aber ist dazu veranlagt, sie in sich in einer Einheit zu er­leben, und nicht getrennt. Er kann in sich nur in Einheit religiöse Wis­senschaft, wissenschaftliche Religion, künstlerische Idealität erleben; sonst wird er innerlich auseinandergezerrt. Daher ist es dort, wo diese Trennung, diese Differenzierung aufs höchste gestiegen ist, auch wieder das Notwendigste geworden, die Verbindung zwischen diesen drei Ge­bieten wiederzufinden. Und wir werden sehen, wie wir im Unterricht wieder Kunst, Religion und Wissenschaft für das Kind als eine Einheit gestalten können. Wir werden sehen, wie das Kind lebendig veranlagt ist auf ein solches Zusammenbringen von Religion, Kunst und Wissen­schaft hin, wie es seiner inneren Natur entspricht. Daher diese strenge Forderung, die ich immer wieder und wieder geltend gemacht habe:

Man erziehe das Kind, indem man weiß, es ist eigentlich ein ästhetisch veranlagtes Wesen; und man versuche darauf hinzuweisen, wie es in den allerersten Lebensjahren naturhaft-religiös sich darlebt.

Alle diese Dinge, die zusammenharmonisierte Religion, Kunst und Wissenschaft, müssen wir nun in der entsprechenden Weise richtig er­fassen und verwerten in denjenigen Unterrichtsveranstaltungen, die wir noch zu besprechen haben werden.

139

ACHTER VORTRAG Arnheim, 24. Juli 1924

Sie werden gesehen haben, welcher Wert innerhalb der anthroposophi­schen Pädagogik gelegt wird auf das, was im Bewußtsein des Lehrers liegt: daß in seinem Bewußtsein wirklich lebt eine vollständige, in sich abgeschlossene Menschenerkenntnis. Nun ist ja die heutige Welt­anschauung, wie Sie aus verschiedenen Beispielen gesehen haben, nicht gerade sehr geeignet, tief hineinzudringen in die Menschenwesenheit. Sie werden verstehen, was ich meine, wenn ich das noch in der folgen­den Weise auseinandersetze.

Wir müssen ja am Menschen unterscheiden erstens seinen physi­schen Leib, seine physische Organisation, dann den feineren, den Äther- oder Lebensleib, der die Bildekräfte enthält, die Kräfte, die im Wachs­tum und in den Ernährungsverhältnissen leben, und die sich dann in den ersten Lebensjahren verfeinern und zu den Gedächtniskräften werden. Weiter aber müssen wir alles das unterscheiden, was nun die Pflanze noch nicht hat, die auch Wachstum und Ernährung hat und die in gewissem Sinne sogar im Gedächtnis lebt, indem sie ihre Form immer wieder beibehält: dieses nächste Glied ist beim Menschen, beim Tiere der Empfindungsleib, der astralische Leib, der Träger der Emp­findungen. Und dann haben wir noch die Ich-Organisation. Diese vier Wesensglieder des Menschen müssen wir voneinander unterscheiden. Und wir werden dadurch, daß wir sie unterscheiden, einen wirklichen Einblick in die menschliche Wesenheit, in ihr Wesen, in ihre Entwicke­lung bekommen.

Der Mensch bekommt zunächst, wenn ich mich so ausdrücken darf, seinen ersten physischen Leib mit aus der Vererbung heraus. Der wird ihm zubereitet von Vater und Mutter. Dieser physische Leib wird im Laufe der ersten 7 Lebensjahre abgeworfen, und er dient in dieser Zeit dem Ätherleib als Modell, um den zweiten Leib aufzubauen. Die Men­schen machen sich ja heute die Dinge, die in der Wirklichkeit vor­liegen, so furchtbar einfach. Wenn ein zehnjähriges Kind die Nase ähnlich hat mit seinem Vater, so sagt man, das ist vererbt. Aber so einfach

140

liegen die Dinge nicht, sondern vererbt ist die Nase nur bis zum Zahnwechsel. Denn wenn der Ätherleib so stark ist, daß er sich auf-lehnt gegen das Modell der vererbten Nase, dann ändert sich die Form der Nase im Verlaufe der ersten 7 Jahre. Wenn der Ätherleib dagegen schwach ist, behält er sklavisch die Form der Nase bei, und es erscheint im l0.Lebensjahre noch immer dieselbe Form. Äußerlich genommen schaut es so aus, als wenn der Begriff der Vererbung in den zweiten 7 Lebensjahren immer noch dieselbe Bedeutung hätte wie in den ersten

7 Jahren; aber die Leute lieben es ja heute, in solchen Fällen zu sagen, die Wahrheit müsse einfach sein. In Wirklichkeit sind die Dinge sehr kompliziert. Die Anschauungen, die heute gebildet werden, sind zu­meist aus der Begierde der Bequemlichkeit heraus gebildet, nicht aus dem Drang nach Wahrheit.

So handelt es sich wirklich darum, daß wir zunächst hineinschauen lernen in diesen Bildekräfteleib, in diesen ätherischen Leib, der nach und nach in den ersten 7 Jahren herausarbeitet den zweiten physischen Leib, der wiederum für 7 Jahre da ist. Der ätherische Leib ist daher ein Plastiker, er ist ein Bildhauer. Und wie ein echter Bildhauer kein Modell braucht, sondern selbständig arbeitet, während ein schlechter Bildhauer alles nach dem Modell macht, so arbeitet in der ersten Le­bensperiode nach der zweiten Lebensperiode hin derÄther- oder Bilde­kräfteleib an dem zweiten physischen Leib des Menschen. Wir können an den physischen Leib heran mit unserer heutigen intellektuellen Erkenntnis; damit können wir den physischen Leib ganz prächtig be­greifen. Und wer nicht Intellektualität hat, der begreift ihn nicht. Aber da hören wir dann mit unserem Hochschulstudium auf. Denn den Ätherleib begreift man nicht mit Intellektualität, sondern mit bild­hafter Anschauung. Das wäre für den Lehrer außerordentlich not­wendig, daß er lernt, den Ätherleib zu begreifen. Sie können nicht sagen: Wir können doch unsere Lehrer nicht alle so ausbilden, daß sie hellsichtig werden und den Ätherleib schildern! - Aber lassen Sie ein­mal die Lehrer im Seminar statt der Dinge, die sie vielfach dort lernen, modellieren, lassen Sie sie Bildhauerkunst treiben, da lebt sich der Mensch ein, wenn er wirklich bildhauerische Kunst aus der gestalten­den Natur heraus betreibt, in das innere Gefüge von Formen und zwar

141

gerade von solchen Formen, mit denen der Bildekräfteleib des Men­schen arbeitet. Denn wer gesund plastisch empfindet, der empfindet im Bildhauerischen nur Tierisches und Menschliches, nicht Pflanzliches. Stellen Sie sich einmal einen Bildhauer vor, der in Skulpturen Pflanzen darstellen würde: man würde sie umhauen vor Ärger! Die Pflanze ist fertig mit dem physischen Leib und dem Ätherleib; sie ist tatsächlich damit fertig. Das Tier aber überwindet den Ätherleib mit dem astra­lischen Leib. Der Mensch erst recht. Daher können wir beim Menschen den ätherischen Leib begreifen, wenn wir uns bildhauerisch in das innere Gefüge von Formen in der Natur hineinarbeiten. Deshalb sollte Modellieren vor allen Dingen Seminarwissenschaft sein; dann fängt man an, den Bildekräfteleib zu begreifen. Man sollte schon den Grund­satz haben: ein Lehrer, der nie Modellieren gelernt hat, versteht eigent­lich von der Entwickelung des Kindes nichts. So grausam muß einmal schon diejenige pädagogische Kunst sein, die sich auf Menschenerkennt­nis gründen will, daß sie auf solche Dinge aufmerksam macht; so grau­sam, weil man solche Dinge verlangt, aber auch so grausam, weil man scheinbar so ein furchtbar ablehnender Kritiker gegenüber allem wird, was heute getrieben wird.

Ebenso wie der Ätherleib da arbeitet, um herauszukommen und selbständig zu werden mit dem Zahnwechsel, so arbeitet wiederum der astralische Leib, der dann selbständig wird mit der Geschlechtsreife. Der Ätherleib ist ein Bildhauer, der Astralleib ein Musiker. Er ver­körpert in sich alles, was musikalisch ist; er ist ganz aus der musika­lischen Struktur heraus gebildet. Und das, was im Menschen aus dem astralischen Leib in die Form schießt, ist durchaus musikalisch gebildet. Wer das verstehen kann, der weiß, daß die weitere Seminarbildung darauf hinauslaufen muß, das Innere der musikalischen Weltauffas­sung in sich aufzunehmen, um den Menschen zu verstehen. Der Nicht-musiker versteht wiederum gar nichts von dem, was im Menschen aus dem astralischen Leib heraus gebildet ist; denn das ist musikalisch ge­bildet. Gehen wir daher in alte Kulturen hinein, die noch aus dem Musikalischen heraus gestaltet sind, in die orientalischen Kulturen, die selbst in der Sprache noch Musikalisches haben, dann finden wir bis in die Architektur hinein die Bauformen aus der musikalischen Weltauf-Fassung

142

heraus gestaltet. Das ist dann schon in Griechenland anders geworden, und es ist besonders im Abendland anders geworden, denn da ist es in das Mechanische und Mathematische hineingegangen. Im Dornacher Goetheanum versuchte man wieder darauf zurückzukom­men. Musiker haben auch durchaus dieses Dornacher Goetheanum als musikalisch empfunden. Aber dafür hat man im allgemeinen heute nicht viel Verständnis.

So handelt es sich darum, daß man in dieser Weise die Menschen­wesenheit konkret aufzufassen lernt und imstande ist, Anatomisch­Physiologisches, insofern es aus dem astralischen Leibe heraus stammt, musikalisch zu begreifen. Denken Sie, wie innig das Musikalische zu­sammenhängt mit dem Atmungs- und Zirkulationsprozeß. Der Mensch ist ganz ein Musikinstrument, insofern er ein Atiner ist und einen Zir­kulationsprozeß hat. Und wenn Sie das Verhältnis zwischen Atmung und Blutzirkulation nehmen: 18 Atemzüge in der Minute, 72 Puls-schläge in der Minute, ergibt ein Verhältnis von 4 :1, in der mannig­faltigsten Weise beim Menschen individualisiert, dann finden Sie, daß der Mensch eine innerlich musikalische Struktur hat. 4 :1, das drückt etwas aus, was innerlicher Verhältnisrhythmus ist, was aber in der ganzen menschlichen Organisation sich ausprägt, in dem der Mensch durch seine Wesenheit leben will. Wenn in alten Zeiten skandiert wer­den sollte, so wurde die Zeile nach dem Atem geordnet, der einzelne Versfuß nach der Zirkulation:

#Bild s. 142

Daktylus - Daktylus - Zäsur - Daktylus - Daktylus: vier in einem. Der Mensch drückt sich selber aus.

Aber was der Mensch dann in der Sprache ausdrückt, das drückt er ja vorher schon in seiner Form aus. Wer den Menschen musikalisch versteht, der weiß, daß der Ton in ihm wirkt. Was da rückwärts beim Menschen sitzt, wo die Schulterblätter zusammengehen, was dort be­ginnt und sich von da in den ganzen Menschen hinein formend gestal­tet, das sind diejenigen Menschenformen, die aus der Prim heraus sich konstituierten; geht es weiter zum Oberarm, so geht die Form nach der

143

Sekund über. Und geht es zum Unterarm, so kommen wir in die Terz. Und weil es eine große und eine kleine Terz gibt - nicht eine große und eine kleine Sekund -, deshalb haben wir einen Oberarmknochen; aber wir haben große und kleine Terz, und daher zwei Unterarmknochen:

Speiche und Elle. In diesem allem steckt die Tonskala; wir sind nach ihr gebildet. Und wer den Menschen nur äußerlich studiert, der weiß nicht, daß nach den Tönen der Mensch in seiner Form gestaltet ist. Und kommen wir dann zur Hand, so kommen wir damit zur Quart und dann in die Quinte. Und in der freien Beweglichkeit kommen wir dann ganz aus uns heraus; da ergreifen wir die andere Natur. Daher die eigentümliche Empfindung, die man hat bei den Sexten und Sep­timen, namentlich wenn man in der Eurythmie sich in die Dinge hin­einlebt. Denken Sie nur, wie der Stil wird der verhältnismäßig spät in der musikalischen Entwickelung erscheinenden Terz, er wird so, daß der Mensch in sein Inneres kommt, das in der Terz lebt; während dann, wenn der Mensch in der Septime lebt, der Stil so wird, daß man am besten das Aufgehen in die Außenwelt hat. Das Sich-Aufopfern ist besonders in der Septime drinnen.

Und so wie der Mensch das Musikalische erlebt, so ist er selber in seinen Formen aus dem Musikalischen heraus gebildet. Will der Lehrer daher ein guter Musiklehrer sein, will er namentlich, wie es schon vom Anfange des volksschulartigen Zeitalters an der Fall sein muß, dem Kinde Gesang beibringen, was sein muß, dann muß er tatsächlich ver­stehen, daß sich der Gesang emanzipiert; denn der astralische Leib hat früher gesungen und hat die Formen des Menschen bewirkt. Jetzt emanzipiert sich der astralische Leib zwischen Zahnwechsel und Ge­schlechtsreife. Und was aus dem Musikalischen herausdringt, das ist, was den Menschen selbständig gestaltet. Kein Wunder, wenn das, was so vom Menschen durchdrungen wird, von einem die Dinge so ver­stehenden Musiklehrer wie selbstverständlich in den Gesangunterricht hineingebracht wird, und dann wieder in das Instrumental-Musika­lische hineingebracht wird. Daher versuchen wir so früh als möglich und sofern die Kinder dafür Begabung haben, das Kind von früh an nicht nur an den Gesang, sondern direkt an die Handhabung irgend­eines Musikinstrumentes heranzubringen, damit es die Möglichkeit hat,

144

das Musikalische, das in seiner Form lebt, wenn es sich emanzipiert, nun wirklich auch aufzufassen.

Aber alle diese Dinge werden recht, wenn auch die rechte Gesin­nung dafür im Lehrer lebt. Wenn man so sich darüber klar ist, daß eigentlich jede Seminarbildung darin bestehen müßte, sozusagen paral­lel zu gehen mit der medizinischen Universität, die nun auch zuerst führen sollte zum intellektuellen Verständnis, das man an der Leiche gewinnt; dann zum plastischen Verständnis, das man aber nicht ge­winnt, wenn man nicht neben dem physikalisch-anatomischen Ver­ständnis später Modellieren treibt; dann sollte sie führen zum musika­lischen Verständnis. Denn eine wirkliche Menschenerkenntnis gewinnt man nicht, wenn man nicht zu dem früheren medizinischen Studium musikalisches Verständnis in sich aufnimmt, wie es in der Welt wirkt; nicht nur äußerlich, sondern innerlich müßte man auch in der Seminar-bildung in das Musikverständnis hineinkommen und es anwenden, um überall Musik zu sehen. Sie ist ja überall in der Welt, wenn man sie nur finden kann. Will man nun aber die Ich-Organisation verstehen, so muß man unbedingt das innere Gefüge irgendeiner Sprache in sich tragen.

Also wir begreifen den physischen Leib mit dem Verstande, den ätherischen Leib mit dem plastischen Verständnis, den astralischen Leib mit dem musikalischen Verständnisse, die Ich-Organisation da­gegen mit einem durchdringenden Sprachverständnisse. Aber damit steht es heute besonders schlecht. Da weiß man vieles gar nicht. Man schaut heute zum Beispiel nach, wie in irgendeiner Sprache, zum Bei­spiel in der deutschen, dieses Ding bezeichnet wird, das ruhig auf unserem Leib droben sitzt, dieses runde Ding, das vorne Augen und eine Nase hat. Es wird im Deutschen als Kopf bezeichnet, im Italie­nischen als testa. Man nimmt das Lexikon und weiß, die Übersetzung von Kopf ist testa. Aber das ist ja nur eine Äußerlichkeit, eine Ober­flächlichkeit. Denn so ist es ja gar nicht wahr. Wahr an der Sache ist, daß ich, aus der Empfindung des Vokalischen und Konsonantischen in dem Worte Kopf zum Beispiel das 0 in einer bestimmten Weise zeichnend empfinde: es ist, die Eurythmiker wissen das, die Rundung, die nach vorn sich auslebt in Nase und Mund. In dem Lautgefüge liegt

145

alles drinnen, wenn man es erleben will, was in der Form des Kopfes gegeben ist. Wenn also einer die Form des Kopfes ausdrücken will, so sagt er annähernd, je nach seiner Kehlkopf- oder Lungenorganisation, K-o-pf. Aber nun können wir sagen: Da im Kopfe sitzt das, was von einem Menschen zum andern spricht, wodurch ein Mensch dem andern die Dinge mitteilt, das Innere der Sache dem andern übergibt, das, was Sie zum Beispiel jemandem übergeben, im Testament haben, kund-geben, aussagen, festsetzen. - Wenn Sie den Kopf als den Festsetzer, den Mitteiler, nicht als den runden Gegenstand, sondern als den, der die Sprache von sich gibt, benennen wollen, dann sagen Sie testa. Sie benennen den Mitteiler, wenn Sie testa sagen; Sie benennen die Run­dung, wenn Sie Kopf sagen. Wenn der Italiener würde die Rundung bezeichnen wollen, so würde er auch Kopf sagen, und wenn der Deut­sche Mitteiler oder Festsetzer sagen wollte, so wurde er auch testa sagen. Aber beide haben sich angewöhnt, etwas anderes in der Sprache zu benennen; denn es gibt gar keine Möglichkeit, die Dinge auf ver­schiedene Weise auszudrücken. Man sagt daher etwas anderes, wenn man testa oder Kopf sagt. Die Sprachen sind verschieden, weil sie ver­schiedene Inhalte mit ihren Worten bezeichnen.

Nun versetze man sich ganz hinein in die Art, wie jemand aus sei­ner Volksindividualität heraus in der Sprache lebt, wie der Deutsche zum Beispiel ganz in der Sprache lebt, indem er plastisch die Sprache bildet. Die deutsche Sprache ist einfach die Sprache für die plastische Anschauung. Das ist in der deutschen Sprache dadurch zum Ausdruck gekommen, daß sie sich bei der Sprachentwickelung über das Grie­chische herauf nach Mitteleuropa herein entwickelt hat. Wenn Sie die italienische Sprache studieren, so ist sie ganz daraufhin angelegt, sich aus dem Motorisch-Seelischen zu entwickeln, wie die romanischen Sprachen überhaupt. Sie schauen nicht an. Die deutsche Sprache ist eine solche, die aus der Anschauung herausgebildet ist; die italienische hat sich gebildet aus dem inneren Tanzen, dem inneren Singen, aus dem Sich-Mitteilen in der Organisation. Daran sieht man die Art und Weise, wie das Ich in der Volkssubstanz drinnensteht; da lernt man an dem Sprachgefüge, wie das Ich eigentlich wirkt.

Daher ist es schon notwendig, daß sich der Lehrer nicht nur Musikgefühl,

146

sondern inneres Sprachgefühl aneigne - von da ausgehend, daß wir eigentlich in den neueren Sprachen nur noch in den Empfindungs­lauten Gefühls- und Seelenerlebnisse haben. Wenn wir zum Beispiel im Deutschen sagen «etsch!», so ist das etwas, wie wenn jemand aus­geglitten, hingefallen ist, und wie wenn er ausdrücken wollte das Hin­fallen, worüber wir uns lustig machen. In den Empfindungslauten haben wir noch etwas von dem, was in der Sprache gefühlt wird. Sonst ist die Sprache abstrakt geworden, schwebt so über den Dingen, lebt nicht mehr in den Dingen. Aber man muß mit der Sprache wieder in sie hineinkommen. Man muß ringen lernen mit der Sprache, man muß sein Ich durch die Laute durchgehen fühlen. Dann wird man fühlen, wie es etwas anderes ist, ob man Kopf sagt, wobei man, wenn man es fühlt, gleich zeichnen möchte, oder ob man testa sagt, wobei man, wenn man es fühlt, gleich tanzen möchte. Das ist eben dieses Sich­Hineinfühlen in die Lebensbetätigungen, das insbesondere beim Lehrer herauskommen muß.

Kann also der Lehrer sich allmählich immer mehr und mehr dieses Zusammenschauen von Körperlichem und Geistig-Seelischem aneig­nen - das ja eins ist, wie ich immer wieder betont habe -, dann wird er, ohne daß man versucht wird, in Abstraktionen und in Intellektua­listisches überzugehen, Unterricht und Erziehung zwischen Zahnwech­sel und Geschlechtsreife im Bildlichen gehalten haben wollen. Denn es ist einem nichts mehr zuwider, als wenn man gewohnt ist, in Bildern Realitäten zu denken, und der andere kommt und redet einem in Intel­lektualismen herum. Das empfindet man als furchtbar unangenehm. Wenn man zum Beispiel gewohnt ist, eine Lebensszene so zu sehen, wie sie sich abspielt, indem man nur den Drang hat, sich hinzustellen und zu schildern, wobei man ganz im Bilde drinnen ist, und der andere kommt, man möchte sich mit ihm verständigen, er aber beurteilt die Sache nur nach dem Verstande, fängt gleich an: Es war schön, oder:

Es war häßlich oder grandios oder wundervoll - wie alle diese Dinge sind, dann fühlt man eigentlich seelisch so, wie wenn er einem die Haare ausrisse. Und insbesondere ist es schlimm, wenn man gerne etwas erfahren möchte, was der andere erlebt hat, und dieser schildert einem nicht, wie die Sache war: Da habe ich einen Menschen kennengelernt,

147

der hebt stark seine Knie auf, wenn er geht, - sondern er fängt an: Dieser Mensch geht schön, oder: Er hat einen schönen Gang. - Aber damit sagt er einem nichts über den andern Menschen, sondern über sein eigenes Ego. Aber das will man gar nicht wissen; man will die Schilderung dessen haben, was sich abgespielt hat. Die Menschen kom­men heute immer schwer heraus aus sich zu dem, was da war. Daher schildern sie nicht die Dinge, sondern das, was sie empfunden haben, als schön oder häßlich. Selbst in der Sprache bildet sich so etwas nach und nach heraus und die Dinge werden danach benannt. Statt daß einem die Physiognomie des Gesichtes geschildert wird, wird gesagt:

Ja, die blickte mich grausam an - oder so irgend etwas.

Das sind Dinge, die in das innerste Gefüge der Lehrerbildung hin­einkommen müßten: von sich loszukommen und an die Sache heran­zukommen. Kommt man an die Sache heran, so kommt man auch an das Kind heran. Das Kind empfindet nämlich so, wie ich es geschildert habe, daß man ihm die Haare ausreißt, wenn man ihm nicht von der Sache, sondern von seinen eigenen Empfindungen redet; während es sofort auf alles eingeht, wenn man nur die Sache wiedergibt. Daher ist es von großer Wichtigkeit für den Lehrer, daß er nicht allzuviel -denkt. Ich empfinde es immer als eine große Schwierigkeit bei den Lehrern der Waldorfschule, wenn sie allzuviel denken, dagegen immer als eine große Wohltat, wenn sie die Fähigkeit entwickeln, auch die kleinsten Dinge zu beobachten, zu sehen, ihre Eigentümlichkeiten her­auszufinden. Wenn mir jemand sagt: Ich habe heute morgen eine Dame gesehen, die hatte ein violettes Kleid an, sie war bis zu einem gewissen Grade ausgeschnitten, trug Schuhe mit hohen Absätzen - und so weiter, so ist mir das lieber, als wenn einer kommt und sagt: Der Mensch be­steht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, - denn das eine bezeugt, daß er im Leben drinnensteht, daß er den Ätherleib aus­gebildet hat in sich, das andere, daß er mit dem Verstande weiß, es gibt einen Ätherleib. Damit ist aber nicht viel getan.

Ich muß mich in dieser Weise drastisch ausdrücken, damit wir das Wichtigste der Lehrerausbildung darin erkennen lernen, daß man nicht viele Dinge ausspintisieren lernt, sondern das Leben beobachten lernt. Daß man es dann anwendet im Leben, das ergibt sich schon von selbst.

148

Durch das Nachdenken, wie man die Beobachtungen anwenden soll, werden sie schon verdorben. Daher hütet sich der, der aus der Geistes­wissenschaft heraus schildern will, besonders stark vor dem gebrauchen abstrakter Begriffe; denn dadurch kommt er ab von dem, was er eigent­lich sagen will. Und insbesondere prägt sich so ein eigentümliches Auf­fassen ein, die Dinge zu runden, sie nicht in Eckigkeit zu sagen. - Ein drastisches Beispiel dafür. Mir zum Beispiel ist es unangenehm, zu sagen in gewissen Zusammenhängen: Da steht ein blasser Mensch. -Das tut weh. Dagegen fängt es an Wirklichkeit zu atmen, wenn ich sage: Da steht ein Mensch, der blaß ist, - wenn man also nicht in dem starren, einfachen Begriffe, sondern in dem Begriffe, der herumgeht, die Sache charakterisiert. Und man wird finden, daß die Kinder viel mehr Verständnis haben, innerlich, für relative Sachen, als für bloße hauptwörtlich oder eigenschaftswörtlich ausgedrückte Relationen. Die Kinder sind für das sanfte Ergreifen der Dinge. Wenn ich ihnen sage:

Da steht ein blasser Mensch, - dann ist es so, wie wenn ich mit einem Hammer haue; sage ich aber: Da steht ein Mensch, der blaß ist, - so streichele ich mit der Hand. Die Kinder haben viel mehr die Möglich­keit, sich anzuschmiegen an die Welt, wenn man ihnen die Dinge in dieser zweiten Form beibringt, also nicht auf die Dinge draufschlägt, sondern wenn man diese Feinheit entwickelt, in der Sprache sich zum Plastiker zu machen für die pädagogische Kunst. Wie auch pädagogi­sche Kunst darin liegt, die Sprache in der Schule soweit zu beherrschen, daß man artikulieren kann, daß man Wichtiges betonen, Unwichtiges fallen lassen kann im Unterrichte.

Gerade auf diese Dinge wird ein großer Wert gelegt und damit auf die Imponderabilien des Unterrichtes immer wieder und wieder in unseren Lehrerkonferenzen hingewiesen. Denn, studiert man wirklich eine Klasse, dann merkt man allerlei Dinge, die einem beim Unterrichte starke Hilfe sein können. Man hat zum Beispiel eine Klasse von 28 Schülern und Schülerinnen. Jetzt will man von irgend etwas, daß es das geistig-seelische Eigentum dieser Schüler und Schülerinnen wird, zum Beispiel ein kleines oder auch ein großes Gedicht. Sie versuchen, dieses Gedicht der Klasse beizubringen. Da werden Sie die Bemerkung machen: Wenn Sie das im Chor sprechen lassen von allen 28 oder auch

149

von einem Drittel oder der Hälfte, so spricht jeder mit und kann es; wenn Sie sich dann irgendeinen Schüler aussuchen, der es allein her-sagen soll, so kann er es nicht. Nicht etwa, daß Sie nun den übersehen haben, der da schweigt; sondern beim Chorsprechen kann er es und fällt richtig ein. Denn es ist ein Gruppengeist in der Klasse da, der da wirkt und den man benutzen kann. Wenn man also mit der ganzen Klasse wirklich arbeitet, indem man sie als Chor betrachtet, dann tritt zunächst das ein, daß man schnellere Auffassung hervorrufen kann. Aber ich mußte eines Tages auf die Schattenseite dieser Sache hin­weisen, denn ich will Ihnen ja das Geheimnis anvertrauen, daß es auch Schattenseiten in der Waldorfschule gibt. Man kommt so allmählich hinein und findet, das geht ganz gut, die Klasse als Chor zu behandeln im Zusammenwirken. Man benutzt es aber zu stark, man arbeitet mit der Klasse, statt mit dem einzelnen; dann weiß der einzelne zuletzt nichts mehr.

Afle diese Dinge sind durchaus so, daß man ihre Malheure berück­sichtigen muß und sich darüber klar sein muß, wie weit man gehen kann, zum Beispiel mit der Chorbehandlung der Klasse, und wie weit man sich mit dem Einzelnen befassen muß. Prinzipien sind da über­haupt nichts nütze. So zu reden, eine Klasse im Chor behandeln ist gut, oder solche Prinzipien zu geben, man sollte etwas so oder so machen, das ist immer zu nichts nütze; weil man immer, was man auf eine Art machen kann, im komplizierten Leben, wenn die Bedingungen dazu andere sind, auch auf eine andere Weise machen kann. Das Schlimmste daher, was in der pädagogischen Wissenschaft - die gar keine Wissen­schaft, sondern eine Kunst ist - auftreten kann, sind eben Definitionen, sind Anleitungen, die einen abstrakten Charakter haben. Pädagogische Anweisungen sollten lediglich darin bestehen, daß man den Lehrer ein­führt in die individuelle Entwickelung von diesem oder jenem kon­kreten Menschen, ihn also an den anschaulichsten Beispielen in die Menschenerkenntnis hereinführt.

Durch so etwas ergibt sich dann von selber die Methodik. Nehmen Sie zum Beispiel die Methodik des Geschichtsunterrichtes. Geschichte einem Kinde vor dem 9., 10. Lebensjahre beibringen zu wollen, ist ein ganz unsinniges Unternehmen; denn das Kind hat gar nicht den Weg

150

zum geschichtlichen Werden. Erst mit dem 9., 10.Jahre beginnt es -beobachten Sie es nur -, für die einzelnen Menschen sich zu interes­sieren. Wenn Sie so den Cäsar, so einen Achill, einen Hektor, Aga­memnon oder Alkibiades als geschlossene Persönlichkeiten hinstellen und das übrige Geschichtliche nur als Hintergrund auftreten lassen, indem Sie das Ganze so malen, dann hat das Kind das allergrößte Interesse daran. Sogar der Trieb macht sich geltend, immer mehr in dieser Art zu wissen. Das Kind bekommt den Drang, sich in das Bio­graphische der geschichtlichen Persönlichkeiten hineinzuleben, wenn Sie in dieser Weise schildern. Geschlossene Bilder von Persönlichkeiten; geschlossene Bilder, wie eine Mahlzeit in einem bestimmten Jahrhun­dert ausgesehen hat und wie sie in einem andern Jahrhundert aus­gesehen hat; plastisch hinmalen, wie die Leute gegessen haben, als es noch keine Gabeln gegeben hat; plastisch hinmalen, wie man im alten Rom gegessen hat; plastisch hinmalen, wie ein Grieche gegangen ist, der sich bei jedem Schritt bewußt war, was das Bein als Form ist, der die Form fühlte; schildern, wie die Menschen des Alten Testamentes, des hebräischen Volkes, gegangen sind, die gar kein Formgefühl hatten, sondern die die Arme und Beine schlenkern ließen; Gefühle hervor­rufen für diese Einzelheiten, die man ins Bild bringen kann: das gibt den Geschichtsunterricht für das 10. bis 12. Lebensjahr.

Dann geht man über in die geschichtlichen Zusammenhänge; denn dann erst wird das Kind empfänglich für den Ursachen- und Wirkun­genbegriff. Dann kann man erst zusammenhängende Geschichte dar­stellen. Aber alles, was in der Geschichte lebt, muß man aus dem Wer­den herausarbeiten. Sie kommen zum Werden. Stellen Sie sich vor:

Wir leben jetzt im Jahre 1924; Karl der Große hat gelebt von 760 bis 814, wenn wir also sagen um 800, so hat er etwa 1120 Jahre hinter uns gelebt. Wenn wir nun als Kind in der Welt stehen, so entwickeln wir uns, und wir rechnen so, daß wir durch ein Jahrhundert hindurch haben können: Sohn oder Tochter, Vater oder Mutter, Großvater, vielleicht auch Urgroßvater, das heißt also 3 bis 4 Generationen in einem Jahrhundert hintereinander. Diese 3 bis 4 Generationen kann man sich so vorstellen, daß der Sohn oder die Tochter dastehen, der Vater oder die Mutter die Arme auf ihre Schultern legen, der Großvater

151

wiederum seine Arme auf die Schultern des Vaters, und ebenso der Urgroßvater seine Arme auf die Schultern des Großvaters. Da sind Sie aber schon ein Jahrhundert zurückgegangen. Wenn Sie sich nun vorstellen, daß Sie so hintereinander Sohn, Vater und Großvater, also die Menschen der Gegenwart aufstellen und dahinter nun die Menschen von 10 weiteren Jahrhunderten in der Generationenfolge, so bekom­men Sie zusammen 11mal 3 oder 4 Generationen, also sagen wir 44 Ge­nerationen. Wenn Sie so 44 Leute hintereinander stellen, von denen jeder die Hände auf die Schultern des vor ihm Stehenden legt, so kann der vorderste ein Mensch der Gegenwart sein, der hinterste kann Karl der Große sein. So bekommen Sie aus der Hintereinanderstellung der Personen eine Anschauung, wie lange das ist, und Sie sagen jetzt: das geht durch 11 Jahrhunderte. Gehen wir nur durch 3 Jahrhunderte, so brauchen wir nicht 44, sondern nur 10 oder 11 Personen hinterein­ander zu stellen. Auf diese Weise können Sie das, was so schwer an­schaulich ist, nämlich die Zeitverhältnisse in der Geschichte, verwan­deln in lauter Raumverhältnisse. Sie können sich vorstellen: Sie haben hier einen Menschen, der mit einem andern spricht; der dreht sich um und kann mit einem folgenden sprechen, dieser ebenso wiederum mit einem folgenden bis Sie dahin kommen, wo es war, als der Petrus mit dem Christus gesprochen hat; dann bekommen Sie die ganzeEntwicke­lung der christlichen Kirche in dem Gespräch der hintereinander-stehenden Leute. Die ganze apostolische Sukzession bekommen Sie her­aus, anschaulich hingestellt.

So handelt es sich darum, daß man jedes Mittel ergreifen wird, um ins Bild, in die Anschauung zu kommen. Das ist auch notwendig, weil man dadurch lernt, in die Wirklichkeit hineinzukommen und dadurch wiederum lernt, alles wirklichkeitsgemäß zu gestalten. Denn es ist eigentlich eine Willkür, wenn ich vor dem Kinde 3 Bohnen hinlege, dann wiederum 3 Bohnen, nochmals 3 oder jetzt auch 4, und dann daran die Addition lehre: 3 + 3 + 410. Das ist ziemlich willkürlich. Aber eine ganz andere Sache ist es, wenn ich ein Häufchen Bohnen habe, von dem ich zunächst noch gar nicht weiß, wieviel es sind. So sind ja die Dinge in der Welt vorhanden. Jetzt teile ich das Häufchen. Das versteht das Kind sofort. Das eine Teil gebe ich dem einen Kinde,

152

das andere einem andern, das dritte einem dritten. Ich teile also den Haufen auf, bringe dem Kinde bei, wieviel der Haufen als solcher um­faßt, die Summe zuerst, dann die Teile hinterher. Zählen kann ich das Kind lassen, weil das hintereinander geschieht, 1, 2, 3 und so weiter bis 12. Jetzt habe ich also die Bohnen aufgeteilt in 4, weitere 4 und noch­mals 4; das wird leicht in das Kind eingehen, wenn die Summe zuerst da ist, die Addenden nachher. Das ist wirklichkeitsgemäß. Das andere ist abstrakt, da faßt man zusammen, da ist man intellektualistisch. -So steht man auch mehr in der Wirklichkeit drinnen, wenn man das Kind dazu bringt, daß es die Frage beantworten muß: Wenn ich 12 Äpfel habe, jemand nimmt sie, geht auf einen Weg, verliert eine Anzahl und bringt nur 7 zurück; wieviel hat er da verloren? 5. Man geht dabei vom Minuend durch den Rest zum Subtrahend; man zieht nicht ab, sondern geht von dem Rest, also von dem, was durch den wirklichen Vorgang bleibt, zu dem, was da abgezogen ist.

So strebt man überall nicht in die Abstraktheit, sondern in die Wirk­lichkeit hinein, knüpft an das Leben an, sucht an das Leben heranzu­kommen. Das ist das, was das Kind auch wiederum lebendig macht, während es zumeist gerade beim Rechenunterricht im ganzen tot bleibt. Die Kinder bleiben ziemlich tot, und das hat ja die Notwendigkeit der Rechenmaschine ergeben. Daß die Rechenmaschine entstanden ist, be­weist schon, daß der Rechenunterricht schwer anschaulich zu machen ist. Aber man muß ihn nicht nur anschaulich machen, sondern dem Leben ablesen.

153

NEUNTER VORTRAG Arnheim, 24. Juli 1924

Was in der Schule zu leisten ist, das steht eigentlich in der ganzen Kul­tur- und Zivilisationsentwickelung drinnen. Es steht nur entweder mehr direkt drinnen, indem man leicht sehen kann, wie eine Zivilisa­tion sich in ihrer pädagogischen Kunst ausdrückt, oder es steht un­bemerkt drinnen. Die Zivilisation ist doch immer ein Abbild dessen, was in der Schule getrieben wird; nur merkt man es manchmal nicht. Das werden wir gleich bei unserer Epoche charakterisieren können. Aber nehmen wir zunächst einmal die orientalische Kultur.

So innerlich kennt man ja eigentlich die ältere orientalische Kultur und das, was von ihr geblieben ist, sehr wenig. Die orientalische Kultur hat gar kein intellektuelles Element; sie geht hervor aus dem ganzen Menschen, so wie er eben ist als Orientale, und sie sucht Mensch an Mensch zu binden. Sie kommt eigentlich schwerlich hinaus über das Autoritätsprinzip. Alles, was gebildet wird, geht mehr aus der Liebe hervor, auf natürliche Weise. Daher kann man im Orientalentum gar nicht von einem getrennten Erzieher und einem getrennten Zögling sprechen, so wie wir das tun. Man hat dort nicht den Lehrer und Er­zieher, sondern man hat den Data. Der Data macht vor; er lebt das dar durch seine Persönlichkeit, was der heranwachsende Mensch an­nehmen soll. Der Data ist der, der alles zeigt, der überhaupt nicht lehrt. Zu lehren, hätte keinen Sinn in der orientalischen Kultur. Es gibt einen sehr berühmten Pädagogen in Europa, der namentlich in Mitteleuropa viel bestimmend war in bezug auf pädagogische Fragen, Herbart. Von ihm rührt der Ausspruch her: Ich kann mir eine Erzie­hung ohne Unterricht gar nicht denken. - Bei ihm war alles darauf abgezirkelt, wie man lehrt. Der Orientale würde gesagt haben: Ich kann mir eine Erziehung mit Unterricht nicht denken, - weil in dem Erziehen, in dem Vormachen und Vorleben dasjenige schon drinnen liegt, was beim Zögling herauskommen soll. Das geht bis zum Initiier­ten, zum Guru, und dem Chela, dem Schüler, hin, dem auch nicht ge­lehrt, sondern vorgemacht wird.

154

Wenn man auf solche Dinge eingehen kann, wird man auch leichter begreifen, was es heißt: Wir wollen durch die Waldorfschul-Pädagogik wieder alle Erziehung hinlenken auf den ganzen Menschen. Wir wollen nicht geistige und körperliche Erziehung getrennt haben, sondern wir wollen, wenn wir den Körper erziehen - weil wir ihn aus geistigen Grundsätzen heraus, aber recht praktisch erziehen -, bis in die Kran­kenverhältnisse hinein erziehen. Wir wollen im Körper den Geist wir­ken lassen; so daß in der Waldorfschule die körperliche Erziehung nicht vernachlässigt wird, aber sie wird so gestaltet, daß man dabei weiß: der Mensch ist Seele und Geist. Und unsere Pädagogik enthält durchaus eben alles, was zur körperlichen Erziehung notwendig ist.

Dann muß man wieder verstehen lernen, was der Grieche verstan­den hat. Die griechische Erziehung war eine gymnastische. Der Lehrer war Gymnast, das heißt, er wußte, was eine Bewegung im Menschen bedeutet. Dem Griechen der älteren Zeit hätte man noch etwas ziem­lich Unverständliches gesagt, wenn man bei ihm so geredet hätte: man soll den Kindern logisches Denken beibringen. Denn der Grieche hat gewußt, was dadurch bewirkt wird, wenn man dem Kinde - etwas milder bei den Athenern, etwas rauher bei den Spartanern - gesunde Gymnastik beibringt. Er war sich darüber klar: Wenn ich weiß, wie ich bei einem Handgriff die Finger zu bewegen habe, damit ich nicht ungeschickt, sondern geschickt werde, so geht das in die ganze Organi­sation herauf, und ich lerne im geschickten Anwenden meiner Glieder ordentlich denken; und ich lerne ordentlich sprechen, wenn ich mich gymnastisch richtig bewege. - Alles was im Menschen sogenannte geistige und seelische Bildung ist, die zur Abstraktion hin will, die geht ja nur auf unnatürliche Weise hervor aus einem direkten Unterricht. Bildung sollte hervorgehen aus der Art und Weise, wie man sich mit dem Körper bewegen kann. Daher ist unsere Zivilisation ja so abstrakt geworden. Es gibt heute Männer, die können keinen Strumpf stricken, können nicht einmal einen Hosenknopf, wenn er abgerissen ist, wieder annähen. Bei uns in der Waldorfschule sitzen Knaben und Mädchen untereinander, und die Knaben bekommen einen richtigen Enthusias­mus zum Stricken und Häkeln; sie tun es - und dabei lernen sie ihre Gedanken handhaben. Es ist gar kein Wunder, daß ein Mensch, wenn

155

er noch so viel logisch geschult ist, nicht ordentlich denken kann, wenn er nicht weiß, wie man strickt. Dabei bemerken wir in unserer Zeit, wieviel leichter beweglich die Gedankenwelt der Frauen ist. Man gehe nur nach der Zulassung der Frauen an die Universität und schaue nach, wieviel leichter beweglich das Geistig-Seelische der Frauen ist als das der Männer, das versteift, abstrakt geworden ist an einer abgezogenen Tätigkeit. Und am schlimmsten ist das bemerkbar bei der kommer­ziellen Tätigkeit. Wenn man einem Kaufmanne zuschaut, wie er seine Dispositionen trifft, so möchte man an den Wänden heraufkriechen.

Das sind die Dinge, die man wieder verstehen muß. Man muß wis­sen, daß ein Knabe, selbst wenn ich noch so viel auf die Tafel zeichne, viel besser spitze und stumpfe Winkel unterscheiden lernt, man muß wissen, daß man viel besser als durch alles Begreiflichmachen die Welt verstehen lernt, wenn man den Kindern angewöhnt, zwischen der großen und der nächsten Zehe den Bleistift zu halten und auch da noch leidlich gutgeformte Buchstaben zustande zu bringen, das heißt also, wenn aus dem ganzen Körper heraus das Geistige des Menschen fließt. In der griechischen Kultur hat man darauf gesehen, wie ein Kind sich bewegen lernt, wie es Hitze und Kälte ertragen lernt, wie es sich hineinfügen lernt in die körperliche Welt, weil man ein Gefühl dafür hatte, wie aus einer richtig entwickelten Körperlichkeit auch das Geistig-Seelische richtig herauswächst. Der Grieche hat, als Gym­nast erzogen, den ganzen Menschen ergriffen und daraus die andern Fähigkeiten sich entwickeln lassen. Wir wissen heute mit unserer ab­strakten Wissenschaft eine sehr wichtige Wahrheit, aber wir wissen sie abstrakt: Wenn wir Kinder haben, die leicht mit der rechten Hand schreiben lernen, so weiß man heute, daß dies damit zusammenhängt, daß beim Menschen das Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte liegt; so daß also Sprechen und Schreibenlernen auf diese Weise inner­lich zusammenhängen. Wir merken den Zusammenhang der Hand-gesten mit dem Sprechen; ebenso können wir auch, wenn wir weiter­gehen, durch die Physiologie den Zusammenhang zwischen Bewegung und Denken kennenlernen. Also man weiß heute schon etwas abstrakt davon, wie aus der menschlichen Bewegungsfähigkeit Denken und Sprechen hervorgehen: der Grieche aber wußte das im umfänglichsten

156

Sinne. Daher sagte der Gymnast: Der Mensch wird schon ordentlich denken lernen, wenn er nur ordentlich gehen und springen lernt; wenn er ordentlich Diskus werfen lernt. - Und wenn er lernt, über das Ziel hinauszuwerfen, so wird er auch noch den Schildkrötenschluß lernen, wird auf all die merkwürdigen logischen Dinge kommen, die man in Griechenland aufgezählt hat. Und dadurch lernt man, sich in die Wirk­lichkeit hineinzustellen. Heute wird bei uns gewöhnlich so gedacht:

Hier ist ein Advokat, dort ein Klient, der Advokat weiß die Dinge, der andere weiß sie nicht. - Weil man aber in Griechenland gewohnt war, über das Ziel hinauszuwerfen, so wußte man: Wie ist es nun, wenn einer als Rechtskundiger einen Schüler hat in der Rechtskunde, und dieser Schüler wird von ihm so gut unterrichtet, daß er jeden Prozeß gewinnen muß? Dann entspinnt sich aber der Prozeß zwischen ihm und seinem Lehrer, und dann kommt die Sache heraus: Du wirst den Prozeß unter allen Umständen gewinnen und unter allen Umständen verlieren. - Sie kennen den Schluß: er steht in der Luft. So entwickelte sich also alles Denken und Sprechen aus der gymnastischen Erziehung; sie ging auf den ganzen Menschen.

Gehen wir nun zum Romanismus. Der ganze Mensch tritt dort zu­rück; er bleibt noch in der Pose. Beim Griechen ist es elementar-natür­lich, was noch in der Bewegung lebt. Ein Römer in der Toga hat ganz anders ausgeschaut als ein Grieche; er bewegte sich auch anders, denn er ist Pose geworden. Dafür ging die Erziehung über auf einen Teil der menschlichen Wesenheit: auf das Sprechen, auf das schöne Sprechen. Es war noch immer viel, denn der ganze Oberkörper ist beim Sprechen beteiligt, bis ins Zwerchfell und ins Gedärm hinein. Es ist viel am Men­schen beteiligt, wenn man schön sprechen lernt. Und alles ging darauf hinaus, an den Menschen heranzukommen mit der Erziehung, den Menschen zu etwas zu machen. Das bleibt noch, als die Kultur ins Mit­telalter hineingeht. In Griechenland war der wichtigste Erzieher der Gymnast, der auf den ganzen Menschen ging; im Romanismus wurde der wichtigste Erzieher der Rhetor. Die ganze Kultur- und Welt-perspektive war in Griechenland auf den schönen Menschen im ganzen eingestellt. Man begreift nicht eine griechische Dichtung, nicht eine griechische Plastik, wenn man nicht weiß, daß die ganze Weltperspektive

157

auf den in Bewegung begriffenen Menschen eingestellt ist. Wenn man eine griechische Statue sieht, ist man sogleich versucht, aus der Mundbewegung zu sehen: wie ist die Fußstellung und so weiter? Das wird anders im Romanismus. Da tritt der Rhetor an die Stelle des Gymnasten, da wird die ganze Kultur eine rednerische. Da wird die ganze Erziehung darauf angelegt, rednerisch zu sprechen, schön zu sprechen, Eloquenz zu entwickeln. Das geht bis ins Mittelalter hinein, wo man noch immer am Menschen arbeitete. Sie können das sehen,wenn Sie sich fragen: Was war in der Erziehung des Mittelalters vorhanden, die überhaupt bis zu einem gewissen Ende erzogene Menschen bilden sollte? Da gab es zum Beispiel die sogenannten sieben freien Künste:

Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie oder Astrologie und Musik. Da sollte der Mensch als Mensch gebildet werden, sollte als Mensch vorwärtskommen. Da wurde zum Beispiel Arithmetik auch nicht so getrieben wie heute, sondern es kam an auf die Fähigkeit, ins Behandeln der Formen und Zahlen hineinzuführen. Und im Musikalischen zum Beispiel lebte man sich hinein noch in das ganze Leben. Und Astronomie: da wurde der Mensch darin eingeführt, kosmisch zu denken. Man ging in allem an den Menschen heran. Die sogenannten Realien von heute spielten im Unterricht kaum eine Rolle. Daß der Mensch etwas als Wissenschaft aufnehmen sollte, darauf legte man einen geringen Wert; viel mehr Wert legte man darauf, daß er ordentlich sich bewegen, ordentlich reden, denken und rechnen kann. Aber daß er irgendwelche fertige Wahrheit aufnehmen sollte, war von geringerer Wichtigkeit. Daher entwickelte sich die ganze Kultur- und Zivilisationsperspektive im Auftreten und Handeln und Sich-Geben der Menschen. Man war stolz, wenn man Menschen hatte, die rhetorisch auftreten konnten, die überhaupt den Menschen hinstellen konnten.

Die Kulturströmung, die das bis in die späteren Zeiten, ja bis zu einem gewissen Grade bis heute erhalten hat, das ist die jesuitische Schulung, die, als sie eingerichtet wurde, und noch im 18. und selbst noch in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts darauf ausging, Men­schen, fast könnte man sagen, zu dressieren zu Willenscharakteren und als solche die Menschen ins Leben hineinzustellen. Darauf ging die jesuitische Kultur eigentlich aus. Und erst im Laufe des 19.Jahrhunderts

158

haben die Jesuiten, damit sie nicht zu viel hinter den andern zurückblieben, die Realien in den Unterricht eingeführt. So also ent­wickelten die Jesuiten die energischen, starken Charaktere; so daß man heute, gerade wenn man Gegner des Jesuitismus ist, in der Lage ist, sagen zu müssen: Könnte man nur Menschen mit solchem Ziel-bewußtsein hervorbringen, im Guten hervorbringen, wie es für die De­kadenz der Menschheit die Jesuiten getan haben!

Diese Entwickelung des Menschen steckt noch im Romanismus, als aus dem Gymnasten der Rhetor geworden ist. Wir sehen daher, wel­cher ungeheure Wert in der Zivilisation, die auf der Grundlage der rhetorischen Erziehung steht, auf alles gelegt wird, was auch im Leben eine Weltbedeutung im Rhetorischen gewinnt. Versuchen Sie nur ein­mal, das ganze Leben des Mittelalters daraufhin anzuschauen: alles verrät, daß man so hinschaut auf das Leben, wie man hinschaut auf das Sprechen, wenn dieses rhetorisch sein soll, wie sich ein Mensch benehmen soll, wie er grüßen soll und so weiter. Alles das ist nicht eine selbstverständliche Art, sondern das alles wird nach einem Schönheits­begriffe gemacht, wie in der Rhetorik die Sprache nach einem Schön­heitsbegriffe genossen wird. Da sehen Sie die ganze Weltbedeutung der rhetorischen Pädagogik aufsteigen; während die Weltbedeutung der griechischen Pädagogik in dem liegt, was in der Bewegung des Men­schen sichtbar zum Ausdruck kommt.

Und nun kommt die neuere Zeit mit dem 16.Jahrhundert; eigent­lich bereitet sie sich schon mit dem 15.Jahrhundert vor. Wiederum wird das, was noch viel im Menschen darstellt, das Rhetorische, zu­rückgedrängt. Hat das Rhetorische schon zurückgedrängt das Gym­nastische, so wird jetzt weiter das Rhetorische zurückgedrängt, und man nimmt nun wiederum ein noch kleineres Stück: man nimmt das, was nun immer mehr nach der Intellektualität zustrebt. Und war der römische Erzieher der Rhetor, so ist unser Erzieher der Doktor. War der Gymnast noch ein ganzer Mensch, war der Rhetor einer, der we­nigstens, wenn er auftrat, den Menschen noch darstellen wollte: unser Doktor hat aufgehört, ein Mensch zu sein. Er verleugnet schon den Menschen und wächst in lauter Abstraktionen hinein; er ist nur noch ein Zivilisationsskelett. Daher in der neueren Zeit wenigstens der Doktor

159

die merkwürdige Form annimmt, äußerlich sich weltmännisch zu kleiden; er trägt nicht mehr gern das Barett vor der Gerichtsbank, er zieht sich so an, daß man es ihm nicht äußerlich gleich ansieht, was er für ein Zivilisationsskelett ist. Aber unsere ganze Erziehung ist seit dem 16. Jahrhundert auf den Doktor eingestellt. Und die, die im Sinne die­ser Weltbedeutung erziehen, sie tragen ja nicht mehr Menschenbildung und Menschengestaltung in die Schule hinein, sondern sie tragen Wissen an das Kind heran. Das Kind soll etwas aufnehmen; es soll nicht ge­staltet, nicht entwickelt werden, es soll etwas wissen, soll gelehrt wer­den. Gewiß, die Reformpädagogik schimpft sehr über dieses Doktor-prinzip, aber sie kommt ja doch nicht darüber hinaus. - Wer diese Dinge durchschaut und namentlich eine genaue Vorstellung davon hat, wie ein griechisches Kind erzogen wurde, und nun in die moderne Schule hineinschaut, wo man wirklich, auch wenn man turnt, die Ent­wickelung, die Gestaltung des Menschen ganz übersieht, und nun Ab­risse, Auszüge aus Wissenschaften an die jüngsten Kinder heranbringt, der muß sich sagen: Nicht nur, daß die Lehrer solche Zivilisations­skelette werden, es schon sind oder, wenn sie es noch nicht sind, als Ideal betrachten, auf irgendeine Weise es dann doch werden oder we­nigstens das Bedürfnis haben, es zu sein, nicht nur daß die Lehrer so sind, sondern diese kleinen Kinder schauen so aus wie ganz kleine Doktoren. - Und wollte man ausdrücken, wodurch ein griechisches Kind sich von einem modernen Kinde unterscheidet, so könnte man sagen: Ein griechisches Kind ist ein Mensch, ein modernes Kind wird leicht ein «Doktorle».

Das ist die Umwandlung der Welt in der Kulturgestaltung. Wir schauen nicht mehr auf den Menschen, sondern auf das, was dem Men­schen beigebracht werden soll, was er wissen und in sich tragen soll. So hat sich die abendländische Zivilisation dahin entwickelt, daß sie von dem Gymnasten durch den Rhetor zu dem Doktor herabgekom­men ist. Sie muß wieder heraufkommen. Das wichtigste Wort für die moderne Pädagogik der neueren Zeit ist: Die Überwindung des Dok­tors.Wir müssen wieder den Blick bekommen für den ganzen Menschen.

Stellen Sie sich vor, wie sich dies in der Weltbedeutung der Pädago­gik ausdrückt. Es hat in Mitteleuropa eine Universität gegeben, die

160

noch vor einiger Zeit eine Professur für Eloquenz hatte. Wenn wir in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgehen, so finden wir über­all an den Hochschulen solche Professuren für Eloquenz, für das schöne Reden - der Rest der Rhetorik. Nun gab es einen recht bedeutenden Mann an jener Universität, der dort Professor der Eloquenz war. Aber er hätte nie Hörer gehabt, wenn er nur dies gewesen wäre; denn keiner hatte mehr ein Bedürfnis, Eloquenz zu hören, er trug nur griechische Archäologie vor. In dem Universitätsverzeichnisse stand «Professor der Eloquenz», aber man konnte bei ihm nur griechische Archäologie hören, er mußte etwas lehren, was zum Wissen, nicht zum Können führt. Und dies ist ja das Ideal des modernen Unterrichtes geworden. Das führt dann hinaus zu einem Leben, wo die Leute so ungeheuer viel wissen. Es ist wirklich schon kaum eine Erdenwelt mehr, in der wir heute leben, wo die Menschen so riesig viel wissen. Sie wissen so sehr viel, aber sie können gar nichts; denn es führt nicht eine Funktion vom Wissen zum Können. Wird jemand zum Beispiel zum Arzte gebildet, so muß er zwar sein Schlußexamen machen, aber man gesteht ihm ja sogar offiziell zu, daß er noch nichts kann; er muß erst seine prak­tischen Jahre machen. Aber ein Unfug ist es, wenn man nicht sogleich in den ersten Jahren einen Unterricht so beigebracht bekommt, daß man auch sogleich etwas kann. Was kommt darauf an, daß das Kind weiß, was eine Addition ist - wenn es nur addieren kann. Was kommt darauf an, daß das Kind weiß,was eine Stadt ist - wenn es nur eineAnschauung hat von der Stadt. Überall kommt es darauf an, daß man ins Leben hin­einkommt. Und der Doktor führt aus dem Leben heraus, nicht hinein.

Und so können wir die Weltbedeutung der Pädagogik ersehen: In Griechenland war es noch sehr anschaulich, wenn man zu den olym­pischen Spielen kam. Da sah man, worauf die Griechen Wert legten; da wußte man, in der Schule kann nur der Gymnast stehen. Es war in der rhetorischen Zeit noch ähnlich. Und bei uns? Einzelne Leute wollen die olympischen Spiele wieder aufleben lassen. Es sind Schrullen, denn es liegt kein Bedürfnis mehr dafür in der gegenwärtigen Menschheit vor. Was man macht, sind äußerliche Nachahmungen; es wird auch nichts dadurch erreicht. Aber was heute den Menschen durchdringt, ist etwas, was nicht in der Sprache, auch nicht in den Formen sitzt, mit

161

denen er auftritt, sondern das ist das, was in seinen Gedanken sitzt. Und so ist es gekommen, daß die Wissenschaft zuletzt eine geradezu dämonische Weltbedeutung bekommen hat. Diese dämonische Welt­bedeutung hat sie dadurch bekommen, daß man glaubte, nach den aus­gedachten Dingen könne sich überhaupt die Kultur entwickeln; man müsse das Leben nach den Begriffen gestalten. Das gilt zum Beispiel von dem Sozialismus in der neueren Zeit; er will das Leben ganz nach den Begriffen gestalten. So trat der Marxismus in die Welt: ein paar zurechtgemachte, abgefällte Begriffe von «Mehrwert» und so weiter; danach soll das Leben beurteilt und gestaltet werden und die Zusam­menhänge sieht man dann nicht. Aber die Zusammenhänge muß man überblicken! - Gehen wir an einen Ort, sogar im mehr westlichen Mit­teleuropa. Dort lehrte vor Jahrzehnten ein Philosoph, der nichts mehr hatte vom Leben, der alles in Begriffe umgewandelt hatte. Er glaubte, das Leben in Begriffen formen zu können. Er trug das vor, hatte vor­zugsweise viele russische Zöglinge, und seine Philosophie wurde prak­tisch im Bolschewismus. Er selbst war noch ein ganz biederer, bürger­licher Mensch; er hatte noch keine Ahnung davon, wozu der Keim in seiner Philosophie gelegt wurde. Da wuchs aus ihr dann diese merk­würdige Pflanze heraus, die im Bolschewismus aufgegangen ist. An westlichen Universitäten wurde im Gedanken zuerst, im Abstrakten, im intellektualistischen Erziehen bei den herangewachsenen Leuten der Bolschewismus im Keime gelegt. Geradeso aber wie einer, der nichts von Pflanzen versteht, auch nicht weiß, was aus einem Keime heraus-wächst, so wußten diese Leute nichts davon, was aus diesem Keime herauswuchs. Sie sehen es erst, wenn die Saat aufgeht, weil eben die Menschen heute nichts mehr von den großen Zusammenhängen des Lebens verstehen.

Das ist die Weltbedeutung der neueren, intellektualistischen Erzie­hung, daß sie ganz vom Leben abführt. Und wir sehen das, wenn wir die äußeren Dinge einfach betrachten, wie sie sind. Wir sind ja eigent­lich nicht mehr von demjenigen durchdrungen, was Leben ist, auf kei­nem Gebiete. Wir hatten vor dem Weltkriege Bücher. Ja, was in diesen Büchern steht, das weiß man, das beherrscht man nur so lange, als man an dem Buche schreibt oder es liest. Sonst steht es in der Bibliothek.

162

Da ist das Geistesleben eingesargt. Und erst, wenn jemand zum Beispiel eine Dissertation zustande bringen soll, muß er es sich geben lassen. Das geht ganz äußerlich vor sich, und der Betreffende ist froh, wenn der Inhalt nicht weiter in ihn hinein muß als nur in den Kopf. So ist es aber überall.

Schauen wir aber jetzt ins Leben. Da haben wir das lebendige Wirt­schaftsleben, Rechtsleben, geistige Leben. Das geht vor sich, aber wir denken nicht mehr darüber. Wir denken überhaupt nicht mehr innere Realitäten; wir denken in Bankbüchern. Was ist innerhalb des Bank­wesens noch enthalten von unserem Wirtschaftsleben, oftmals auch von unserem geistigen Leben, wenn etwa die Konten von Schulen angelegt sind? Es sind enthalten die abstrakten Zahlen in ihren gegenseitigen Bilanzwerten. Und was hat das im Leben bewirkt? Es hat dies bewirkt:

der Mensch ist nicht mehr zusammengewachsen mit dem, was er tut. Er kommt allmählich dahin, daß es ihm einerlei wird, ob er ein Ge­treidehändler wird oder ein Kleiderhändler; denn er hat die Hosen ebenso gern wie irgend etwas anderes. Er rechnet nur noch aus, was ihm das Geschäft einbringt; nur auf die abstrakten Zahlen sieht er, welches Gebiet noch am rentabelsten ist. Die Bank ist an die Stelle des lebendigen Wirtschaftslebens getreten. Man entnimmt der Bank das Geld, läßt sie aber im übrigen im Abstrakten wirtschaften. Alles hat sich verwandelt in ein abstraktes Äußerliches. Man bleibt daher auch nicht als Mensch in den Dingen drinnenstecken. Als die Bank begrün­det wurde, war sie noch an den Menschen gefesselt, weil man das ge­wöhnt war aus dem früheren Drinnenstehen in der lebendigen Arbeit des Daseins. Das war noch so in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da hatte der, welcher der Bankchef war, noch der Bank den persön­lichen Charakter aufgeprägt; er war noch mit seinem Willen darinnen, lebte noch als Persönlichkeit darin. - Ich erzähle hierbei gern eine kleine Geschichte, wie der Bankier Rothschild sich benommen hatte, als ein Vertreter des Königs von Frankreich einen Pump bei ihm an­legen wollte. Rothschild hatte, als der Abgesandte des Königs von Frankreich kam, gerade mit einem Lederhändler zu konferieren. Der Gesandte, der wegen eines Staatspumpes kam, ließ sich melden. Roth­schild, der mit dem Lederhändler noch zu verhandeln hatte, ließ ihm

163

sagen, er solle warten. Der Minister konnte nicht verstehen, wieso man ihn, den Abgesandten des Königs von Frankreich, warten lassen könne, und er ließ sich nochmals melden. Rothschild sagte dazu: Ich habe jetzt über Lederangelegenheiten zu verhandeln, nicht über Staatsangelegen­heiten. - Da wurde der Minister so wild, daß er die Tür zu Rothschilds Zimmer aufriß, da er nicht mehr warten wollte, hereinstürzte und sagte: Ich bin der Abgesandte des Königs von Frankreich! - Rothschild sagte darauf: Bitte, nehmen Sie einen Stuhl! - Der Gesandte glaubte, nicht recht gehört zu haben und wiederholte: Ich bin der Abgesandte des Königs von Frankreich! - denn er konnte nicht begreifen, daß man ihm in dieser Situation einen Stuhl anbieten konnte. Worauf aber Rothschild ihm erwiderte: Nehmen Sie sich zwei Stühle!

So wirkte damals noch die Persönlichkeit, denn sie war da. Ist sie denn heute noch da? In Ausnahmefällen, zum Beispiel wenn jemand die öffentliche Ordnung durchbricht. Sonst ist ja, wo sonst die Persön­lichkeit war, die Aktiengesellschaft da, die unpersönliche Aktiengesell­schaft. Man steht heute nicht mehr als Persönlichkeit in den Dingen drinnen. Wenn man fragt: Was ist eine Aktiengesellschaft? - so kann man sagen: Eine Gesellschaft, in der Leute sind, die heute reich sind und morgen arm. - Denn die Dinge nehmen heute einen ganz andern Gang als früher; sie häufen sich heute, lösen sich morgen wieder auf, und die Menschen werden in diesen Gang der Dinge hinein- und wieder hinausgeworfen, und das Geld wirtschaftet für sich. So geschieht es denn heute, daß der Mensch froh ist, wenn er einmal in eine Stelle hin­einkommt, wo er sich dann irgendeine Geldmenge anlegen kann. Er kauft sich also ein Auto, nach einiger Zeit kauft er sich ein zweites. Dann geht der Lauf der Dinge so weiter und der Mensch kommt an eine Stelle, wo nun das Geld dünn wird; jetzt verkauft er das eine Auto, etwas später verkauft er das andere. Worauf es aber ankommt, das ist, daß der Mensch nicht mehr selbst das Wirtschafts- und Ge­schäftsleben beherrscht; er wird aus dem objektiven Gang des Ge­schäftslebens herausgeworfen. Das habe ich zum ersten Male im Jahre 1908 in Nürnberg dargestellt, aber die Leute haben nicht viel davon begriffen. Geradeso wie ich im Frühjahr 1914 in Wien sagte: Alles drängt einer großen Weltkatastrophe entgegen, weil die Menschen aus

164

dem Konkreten heraus- und immer mehr ins Abstrakte hineinwachsen, und weil man sehen kann, wie das Abstrakte zuletzt ins Chaos hinein­führen muß. - Doch die Menschen wollten das nicht begreifen.

Aber das muß vor allem bedacht werden, wenn man für die Erzie­hungskunst ein Herz haben kann, daß aus dem Abstrakten heraus wieder ins Konkrete hinein gearbeitet werden muß, daß alles auf den Menschen ankommt; daß es daher für den Lehrer nicht so stark darauf ankommt, Geographie und Geschichte, englische oder französische Sprache und so weiter zu kennen, sondern den Menschen zu kennen, auf wirklicher Menschenerkenntnis Unterricht und Erziehung aufzu­bauen. Dann mag er sich meinetwillen hinsetzen und den Stoff zum Unterricht vorher aus dem Konversationslexikon sich heraussuchen; denn ein solcher, der dies macht, aber als Erzieher auf wirklicher Men­schenerkenntnis fußt, wird dann in der Schule noch immer ein besserer Lehrer sein als einer, der seine Examina gut bestanden hat, aber von wirklicher Menschenerkenntnis weit entfernt ist.

Dann kommen wir auf die Weltbedeutung der pädagogischen Kunst; dann wissen wir, wie sich in der äußeren Kultur das spiegelt, was in der Schule geschieht. Bei den Griechen konnte man das leicht sehen. Der Gymnast zeigte sich überall im öffentlichen Leben. Wenn der Grieche -gleichgültig, wie er immer war - vor der Agora stand, so sah man, da wird gymnastisch erzogen. Bei den Römern war es so, daß noch wenig­stens in den äußeren Formen das zum Ausdruck kam, was in der Schu­lung lebte. Bei uns aber kommt das, was in der Schule lebt, im Leben nur dadurch zum Ausdruck, daß uns das Leben immer mehr und mehr entfällt, daß wir herauswachsen aus dem Leben, nicht mehr in es hin­einwachsen; daß unsere Bilanzbücher in kaum geahntem Zusammen-hange ihr eigenes Leben haben, welches uns entsinkt, denn wir haben ja nicht die Macht über sie. Das schreibt sich alles selber; es führt ein abstraktes, ein bloß zahlenmäßiges Leben.

Und schauen wir einmal die Menschen an, die es zu einer Bildung gebracht haben, höchstens erkennen wir sie noch daran, daß sie eine Brille tragen oder auch keine tragen, also an einem eingeschränkten, kleinen Organ. Unsere heutige Pädagogik hat die Weltbedeutung, daß sie die Weltbedeutung allmählich untergräbt.

165

Welt, wirkliche Welt müssen wir wieder in die Schule hineinbringen. Dazu muß man aber als Lehrer in der Welt drinnenstehen, muß ein lebendiges Interesse haben für alles, was in der Welt da ist. Nur dann, wenn der Lehrer zum Weltmanne, die Lehrerin selbstverständlich zur «Weltfrau» wird, kann in der Schule drinnen auch Welt leben. Und Welt muß in der Schule leben; wenn Welt auch da zuerst noch auf spielerische, dann auf ästhetische Weise, sodann auf vorbereitende Weise zum Ausdruck kommt, aber Welt muß in der Schule leben. Daher ist es heute schon viel notwendiger, auf dieses gesinnungs- und gefühlsmäßige Element in der neueren Pädagogik hinzuweisen, als immer wieder und wieder neue Methoden auszusinnen. Viele Methoden sind gut, die von altersher geblieben sind. Und das, was ich Ihnen sagen wollte, es ist ganz gewiß nicht in dem Sinne gesagt, um die ausgezeich­neten Pädagogen des 19. Jahrhunderts, die ich voll anerkenne, irgend­wie in den Schatten zu stellen. Ich sehe sogar in den Pädagogen des 19.Jahrhunderts Menschen von großem Genie und großer Kapazität, aber sie waren Kinder des intellektualistischen Zeitalters; sie haben mit ihrer Kapazität hineingearbeitet in die Verintellektualisierung unseres Zeitalters. Und die Menschen wissen heute gar nicht, wie sie verintellektualisiert sind. Darin muß die Weltbedeutung einer neuen Pädagogik liegen, daß wir über das Verintellektualisierte hinauskom­men. Da werden dann die verschiedenen Zweige des menschlichen Lebens wieder zusammenwachsen. Da wird man verstehen, was es ein­mal geheißen hat, wenn man das Erziehen wie ein Heilen angesehen hat und wenn das zusammenhing mit der Weltbedeutung der mensch­lichen Wesenheit. Man hatte sich vorgestellt, daß der Mensch, indem er hineingeboren wird ins irdische Dasein, eigentlich eine Stufe unter den Menschen steht, und daß er erst herauferzogen, heraufgeheilt wer­den muß zum Menschen. Erziehen war ein Heilen, war von selbst ein Teil des medizinischen, des hygienischen Wirkens. Heute ist alles ge­trennt. Man möchte neben den Lehrer den Schularzt hinstellen, äußer­lich getrennt. Aber die Dinge gehen nicht. Neben den Lehrer den Schul­arzt stellen, heißt ungefähr, solche Schneider suchen, die einem die linke Seite des Rockes, und solche, die einem die rechte Seite des Rockes nähen; wer die beiden getrennten Teile dann zusammennäht, weiß man

166

dann nicht. Und ebenso, wenn man die Maßnahmen des medizinisch ganz ungeschulten Lehrers - die rechte Seite des Rockes - nimmt, dann die Maßnahmen des pädagogisch ganz ungeschulten Arztes - die linke Seite des Rockes - nimmt: wer die zusammennäht, weiß man nicht. Darum aber wird es sich handeln müssen: den «Links»-Schneider und den <(Rechts»-Schneider zu überwinden und wieder den einheitlichen Schneider zu haben. Aber solche Unmöglichkeiten bemerkt man ge­wöhnlich nur an den äußersten Ranken des Lebens, nicht dort, wo das Leben wirklich sprudeln sollte. Daher kommen wir so schwer heute auch nur zum Begreifen dessen, was mit so etwas, wie es die Waldorf-schule ist, gemeint ist. Nicht ein sektiererisches Hinausstreben aus dem Leben ist gemeint, sondern gerade das intensivste Hineinstreben ins Leben.

In einem so kurzen Vortragskursus kann selbstverständlich auch nur eine kurze Andeutung von allem gegeben werden. Das habe ich ver­sucht, hoffe aber damit doch einige Anregungen gegeben zu haben, und ich werde nun im Schlußvortrag den ganzen Kurs abschließen.

167

ZEHNTER VORTRAG Arnheim, 24. Juli 1924

Meine sehr verehrten Anwesenden, zuerst lassen Sie mich, da ich jetzt diese Schlußworte für den pädagogischen Kursus sprechen darf, meine wirklich tiefe Befriedigung darüber ausdrücken, daß unsere Freunde in Holland, die sich die Pflege der anthroposophischen Weltanschau­ung zur Aufgabe gesetzt haben, diesen Kursus haben veranstalten wol­len. Denn die Veranstaltung eines solchen Kursus bedeutet ja für die Veranstalter immer ein großes, schweres Stück Arbeit. Und am besten wissen wir selber, die wir manches in Dornach zu veranstalten haben, was es heißt, bei solchen Gelegenheiten hinter den Kulissen arbeiten zu müssen, wieviel Anstrengungen dazu notwendig sind. Daher werden Sie es ganz begreiflich finden, wenn ich jetzt vor meiner Abreise von Holland denjenigen, die zusammengewirkt haben, um diese ganze Tagung zustande zu bringen, meinen allerherzlichsten Dank sage. - Es ist ein pädagogischer Kursus zustande gekommen, und ich darf viel­leicht in diesen Schlußworten einiges sprechen über die Stellung der pädagogischen Kunst innerhalb der ganzen anthroposophischen Be­wegung.

Es ist pädagogische Kunst innerhalb der anthroposophischen Be­wegung gewachsen, man möchte sagen wie etwas, das nicht durch eine abstrakte Absicht in diese Bewegung hineingekommen ist, sondern das mit einer gewissen Notwendigkeit sich aus der Bewegung heraus ergeben hat. So natürlich und selbstverständlich, wie die pädagogische Kunst, ist eigentlich weniges aus der anthroposophischen Bewegung bis jetzt herausgewachsen. In dieser selbstverständlichen Art herausge­wachsen aus der anthroposophischen Bewegung ist lediglich die Eu­rythmie durch Frau Dr. Steiner, das Medizinische durch Frau Dr. Wegman, und eben die pädagogische Kunst selber, von der ich sagen darf, daß sie eben schicksalsmäßig sich aus der anthroposophischen Bewegung heraus ergeben hat, wie die beiden andern Dinge, man darf sagen, karmisch sich ergeben haben. Denn die anthroposophische Be­wegung als solche ist ja selbstverständlich der Ausdruck von etwas,

168

das einem menschlichen Streben entspricht, weil es eine Menschheit auf der Erde gegeben hat.

Wir brauchen nur in der Entwickelung der Menschheit zurückzu­schauen auf diejenigen alten Zeiten, in denen sich Mysterienstätten da und dort gefunden haben, in denen Religion, Kunst und Wissenschaft aus den Erfahrungen des Geistes heraus gepflegt worden sind, und wir werden gewahr, wie in jenen alten, ehrwürdigen Stätten die Menschen sozusagen mit den Wesen der übersinnlichen Welt verkehrt haben, um spirituelles Leben in das äußere physische Leben hineinzutragen. Wir können in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit weiterschreiten, und immer wieder und wieder finden wir den Drang, zu dem, was der Mensch mit seinen Sinnen wahrnehmen kann, das hinzuzufügen, was Übersinnliches ist. Das ist gewissermaßen diejenige Perspektive, die sich eröffnet, wenn wir die Entwickelungsgeschichte der Menschheit durchstreifen und sehen, wie das, was heute in der Anthroposophie lebt, ein Ewiges im menschlichen Streben ist. Aber als Anthroposophie lebt es eben aus den Sehnsuchten, aus den Bestrebungen der Herzen und der Seelen der Menschen der Gegenwart heraus. Und es darf schon gesagt werden: Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert ist es mög­lich geworden, wenn man nur will, Offenbarungen aus der geistigen Welt heraus zu empfangen, die wiederum die ganze Weltanschauung der Menschheit vertiefen werden.

Diese Offenbarungen aus der geistigen Welt, die heute anders da­stehen müssen als die alten Mysterienwahrheiten, die heute im Ein­kjange stehen müssen mit dem, was der Mensch als Wissenschaft kennt, diese Offenbarungen bilden den Inhalt der Anthroposophie. Und wer sie kennt, der weiß, daß aus den Bedingungen unseres gegenwärtigen Zeitalters heraus viel, viel mehr Menschen zur Anthroposophie kom­men würden, wenn nicht durch die ungeheuren Vorurteile und nament­lich Vorempfindungen sich viele Menschen die Wege zur Anthropo­sophie verlegen würden. Aber das sind Dinge, die überwunden werden müssen. Aus dem kleinen Kreise der Anthroposophen wird immer mehr und mehr ein größerer Kreis werden müssen. Und wenn man an alles das denkt, was da wirkt und lebt, so darf man sich vielleicht gerade - ohne irgendwie behaupten zu wollen, daß Anthroposophie

169

für sich eine religiöse Bewegung ist - ein Bild vorhalten von einem tief ins Herz einschneidenden geschichtlichen Vorgang.

Stellen Sie sich vor, das Mysterium von Golgatha hat stattgefunden. Hundert Jahre noch nach dem Mysterium von Golgatha schreibt der brillanteste römische Schriftsteller, Tacitus, von dem Christus so, wie von einem fast Unbekannten, der drüben in Asien den Tod gefunden hat. Da, wo römische Bildung ist, wo damals tonangebendes römisches Geistes- und Kulturleben ist, da lebt man in den Traditionen der letz­ten Jahrtausende, da weiß man nichts vom Christus. Und man kann geradezu wörtlich sich ein bedeutsames Faktum ausmalen: Da oben ist die römische Zivilisation, in den Arenen, in mächtigen Aufführungen, in alledem, was da im römischen sozialen Leben, im römischen Staats-leben stattfindet. Unten, unter der Erde, sind diejenigen Räumlich­keiten, die als Katakomben eben da sind; da versammeln sich schon viele Menschen - viele Menschen bei den Gräbern derjenigen, die auch dem Mysterium von Golgatha angehangen haben, wie sie selber. Das müssen diese Menschen geheimhalten. Höchstens manchmal taucht das, was da unten unter der Erde lebt, dadurch oben auf der Oberfläche auf, daß eben in der Arena ein Christ mit Pech beschmiert und ver­brannt wird, zur Schaustellung derer, die die Gebildeten sind. So haben wir da zwei Welten: oben die alte, den glänzendsten Traditionen des römischen Zivilisationslebens entsprechende; unten haben wir das, was im geheimen unter der Erde sich entfaltet. Nehmen wir den glänzend­sten Schriftsteller dieser Zeit, er hätte schreiben können, was er nur wie eine kurze Notiz über die Entstehung des Christentums in seine No­tizen hineingeschrieben hat, indem er in Rom seinen Schreibtisch über einer Katakombe gehabt hätte - er hätte nichts zu wissen brauchen von dem, was da unten geschieht!

Nehmen wir die Zeit einige Jahrhunderte später. Was damals in Rom so glänzend sich ausgebreitet hatte, ist jetzt verschwunden; über die Oberfläche der Erde ist die christliche Zivilisation aufgetaucht, da, wo vordem römische Bildung war. Das Christentum beginnt sich in Europa auszubreiten. Wenn man sich ein solches Bild vor Augen hält, sieht man, wie die Dinge eigentlich in der Menschheitsentwickelung vor sich gehen. Und oft, wenn man die gegenwärtige Zeit ins Auge

170

faßt, kann man sich etwa sagen: Die Anthroposophen - zwar graben sie sich heute nicht in die Erde hinein; das ist heute nicht üblich, sonst würden sie es schon tun müssen; sie finden sich in zwar äußerlich so glänzenden, schönen Räumlichkeiten, wie es hier der Fall ist, aber, fragen Sie nach, ob diejenigen Menschen, die heute draußen die übliche Zivilisation die ihrige nennen, von dem, was hier vorgeht, mehr wissen, als die Römer gewußt haben von dem, was unten in den Katakomben Roms vor sich gegangen ist. Man kann nicht mehr so wörtlich sprechen; die Situation ist mehr ins Geistige übertragen, aber doch sonst dieselbe. Und wenn man dann in Gedanken ein paar Jahrhunderte weiterdenkt, so darf man, wenn auch sonst nichts, doch die mutvolle Hoffnung haben, daß das Bild sich verändern könnte. Zwar werden diejenigen, die heute so wenig von der Anthroposophie wissen, wie die Römer vom Christentum gewußt haben, das alles sehr phantastisch finden; aber niemand kann in der Welt wirken, der nicht mutvoll auf den sich vor ihm eröffnenden Weg hinschauen kann. Und die Anthroposophen möchten mutvoll auf den sich vor ihnen eröffnenden Weg hinschauen. Deshalb steigen solche Bilder auf.

Allerdings muß man auch manchmal wiederum auf das hinschauen, was alles heute über Anthroposophie geurteilt wird. Es ist ja nach und nach so gekommen, daß kaum eine Woche vergeht, ohne daß irgendein gegnerisches Buch über Anthroposophie erscheint. Die Gegner nehmen Anthroposophie sehr ernst. Sie widerlegen sie alle acht Tage einmal, zwar nicht so sehr von verschiedenen Standpunkten aus, denn sie sind nicht sehr erfinderisch, aber sie widerlegen sie. Ja, interessant ist es, wie man nach dieser Richtung hin Anthroposophie behandelt. Da fin­det man sehr gelehrte Leute, oder Leute, die Verantwortlichkeitsgefühl haben sollten, auf irgendeinem Gebiete Bücher schreiben. Sie führen dann an, was sie über Anthroposophie gelesen haben: kein einziges Buch ist oftmals darunter, das von Anthroposophen selber herrührt, sondern aus lauter gegnerischen Werken unterrichten sie sich.

Es hat zum Beispiel einmal eine Gnosis gegeben, von der eigentlich, außer der schwer verständlichen und wenig enthaltenden Pistis-Sophia­Schrift kaum etwas existiert. Alle die, welche heute über die Gnosis schreiben oder, da zur Zeit dieses Gebiet eine bedeutsame Rolle spielt,

171

über sie urteilen, kennen die Gnosis wenig; sie glauben, daß sie etwas über die Gnosis erklären, wenn sie sagen, daß sie aus dem Griechentum hervorgegangen ist. Ich muß oft denken, wie es wäre, wenn das in bezug auf die Anthroposophie ebenso ginge, wenn sie nur durch die Gegner bekannt würde, und wenn es ginge, was manchmal viele wün­schen, daß alle anthroposophischen Schriften verbrannt würden; dann würde man Anthroposophie so kennen, wie man heute die Gnosis kennt. Aber interessant ist es, daß heute von der Anthroposophie sehr viele Leute sagen, sie sei eine aufgewärmte Gnosis. Sie kennen die Anthropo­sophie nicht, weil sie sie nicht erkennen wollen, und sie kennen die Gnosis nicht, weil sie sie nicht erkennen können, denn es ist kein äußeres Dokument über sie da. Aber die Leute reden so. Es ist eine negative Instanz, die auch nach einer bestimmten Richtung deuten kann. Sie kann allerdings nur dahin deuten, daß der Mut und die Kraft da sein müssen, damit es der Anthroposophie einmal nicht so gehe, wie es der Gnosis geht, sondern daß es ihr so gehen möge, daß sie ihre Wirksam­keit entfalten kann. Wenn man das sieht, schaut man immer mit einer gewissen starken Befriedigung auf alle die Einzelunternehmungen hin, die so zustande kommen wie diese Tagung hier; denn aus solchen Din­gen setzt sich dann das zusammen, was machen soll, daß Anthroposo­phie kräftig weiter wirkt. Anthroposophie hat ja nur, ich möchte sagen, durch kleine Fensterchen in diesen pädagogischen Kurs hineingeblickt. Auf manches ist hingewiesen worden, was zeigen konnte, wie Anthro­posophie auf die Wirklichkeit geht, wie sie wirklich hineinschaut in das unmittelbar praktische Leben. Weil alles, was wirklich ist, auch durch-geistigt ist, kann man die Wirklichkeit nur erkennen, wenn man einen Blick für das Geistige hat. Aber es konnte doch nicht über Anthropo­sophie im eigentlichen Sinne hier gesprochen werden. Auf der andern Seite konnte jedoch gerade über ein Gebiet eben gesprochen werden,wo Anthroposophie fruchtbar werden kann: über das pädagogische Gebiet.

Auf dem Gebiete der Eurythmie zum Beispiel hat wirklich mehr oder weniger das Schicksal gesprochen. Heute könnte jemand die Sache so anschauen, als ob eines Tages der Gedanke gekommen wäre, es müsse eine Eurythmie geben. Das war nicht der Fall, sondern es war eine Fa­milie da, die den Vater verloren hatte. Eine Anzahl Kinder waren da,

172

und die Mutter hatte Sorgen, wie sie die Kinder versorgen würde. Es sollte aus den Kindern etwas werden. Damals war die anthroposophi­sche Bewegung noch klein. Es trat an mich die Frage heran, was aus den Kindern werden könnte. Da hat man in diesem Zusammenhange die ersten Schritte getan, um zu etwas Eurythmischem zu kommen. Im allerengsten Sinne hat man das getan. So waren denn die ersten eurythmischen Anweisungen da. Das Schicksal hatte gesprochen: Es war herausgekommen aus dem, daß es eine Anthroposophie gab, und daß jemand innerhalb des anthroposophischen Bodens einen Lebens-beruf gesucht hat. Und bald darauf, es hat gar nicht lange gedauert, da wurden die ersten, die damals Eurythmie gelernt haben, Lehrerinnen und haben sie weiterverbreitet. Und so ist die Eurythmie - Frau Dr. Steiner hat sich ihrer angenommen - das geworden, was sie heute ist. Da kann man schon zu dem Urteil kommen: man hat die Eurythmie nicht gesucht - die Eurythmie hat die Anthroposophie gesucht.

Und nehmen Sie das Medizinische. Frau Dr. Wegman ist so lange Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, als die Gesellschaft eigentlich besteht. Sie hat aus ihren heilkünstlerischen Anfängen her­aus die Tendenz bekommen, innerhalb der anthroposophischen Bewe­gung medizinisch zu wirken. Sie hat sich als echte Anthroposophin dein Medizinischen zugewendet. So ist wiederum das Medizinische herausgewachsen aus dem Anthroposophischen und steht deshalb nur heute so darinnen, weil gerade dieses Herauswachsen durch eine Per­sönlichkeit so gekommen ist.

Und weiter. Als die Wogen des Weltkrieges verbrandet waren, da dachten Menschen an alles mögliche: Jetzt müsse einmal etwas ganz Großes kommen; jetzt müßten die Menschen, weil sie so viel Elend erfahren haben, den Mut bekommen, etwas ganz Großes zu tun, sich ganz umzukrempeln. Riesenideale wurden gefaßt. Alle Schriftsteller, die sonst etwas anderes geschrieben haben, schrieben über die «Zukunft des Staates» oder über die «Zukunft der sozialen Ordnung» und so weiter. Alles wendete sich dem Gedanken zu, was nun aus dem Men­schen werden sollte. Es ist auch auf anthroposophischem Boden viel von dieser Sache heraufgekommen und wieder verschwunden. Nur auf dem Gebiete der Pädagogik war bis dahin eigentlich wenig vorhanden.

173

Mein kleines Schriftchen «Die Erziehung des Kindes vom Gesichts­punkte der Geisteswissenschaft», das ziemlich im Anfange der anthro­posophischen Bewegung entstand, war da, mit allerlei Anweisungen, aber eigentlich ein ganzes System der Pädagogik schon enthaltend. Es wurde nicht besonders als etwas anderes genommen, als daß die Mütter ihre Kinder im Sinne dieses Büchelchens erziehen wollten. Man wurde immer wieder gefragt: Soll man dieses Kind blau anziehen, soll man jenes rot anziehen; soll man diesem eine gelbe Bettdecke geben, jenem eine rote? - Man wurde auch gefragt, was das eine Kind essen solle und so weiter. Ein schönes Bestreben in pädagogischer Beziehung, aber es ging nicht besonders weit.

Da wuchs aus all diesen verwirrenden Idealen in Stuttgart bei Emil Molt die Idee heraus, für die Kinder, die den Arbeitern der Waldorf­Astoria-Zigarettenfabrik entstammten, eine Schule zu begründen. Und Emil Molt, der ja auch hier ist, hatte den Einfall, mir die Leitung dieser Schule zu übergeben. Da konnte sie nicht anders werden als anthropo­sophisch. Das war das Gegebene. Das Schicksal konnte es eben nicht anders machen. Mit 150 Kindern, die der Waldorf-Astoria-Fabrik ent­stammten, wurde die Schule begründet. Sie wurde mit Lehrern ver­sehen, die aus der anthroposophischen Bewegung herausgeholt wurden. Durch das württembergische Schulgesetz war es möglich, die, welche man für geeignet hielt, als Lehrer aufzustellen; denn man machte keine andere Bedingung, als daß die, welche Lehrer werden sollten, nach­weisen sollten, daß sie im allgemeinen zu so etwas taugen. Es war das alles noch vor der großen Befreiung der Menschheit durch die wei­marische Nationalversammlung. Seit jener Zeit hätte man nicht mehr in dieser freien Weise vorgehen können. Aber so konnte man einmal anfangen, und es wird ja möglich sein, wenigstens durch ein paar Jahre auch die unteren Klassen zu haben.

Ja, da kam die Anthroposophie über die Schule; man könnte auch sagen, die Schule über die Anthroposophie. Und in wenigen Jahren wuchs diese Schule so, daß sie nun Kinder aus allen Ständen hat, Kin­der auch aller Klassen; alle möglichen Leute möchtern gern ihre Kinder in die Waldorfschule hineinbringen, Anthroposophen und Nichtanthro­posophen. Merküwrdige Ansiechten entwickeln da die 1 eute Den Eltern

174

sind ja natürlich ihre Kinder das Allerliebste, und sie wollen sie selbst­verständlich in eine ausgezeichnete Schule schicken. Da kann man zum Beispiel folgendes erleben. Es leben in Stuttgart Gegner der Anthropo­sophie, heftige Gegner, Gegner aus Begründung heraus, denn es sind wissenschaftliche Gegner, und die wissen, daß Anthroposophie so ein dummes, unwissenschaftliches Zeug ist: sie schicken ihre Kinder in die Waldorfschule. Sie finden sogar, daß die Waldorfschule für ihre Kin­der ausgezeichnet ist. Kürzlich einmal besuchten zwei solcher Leute die Waldorfschule und sagten: Aber diese Waldorfschule ist doch wirklich gut, wir merken es an unseren Kindern; schade nur, daß sie von der Theosophie aus begründet worden ist. - Nun wäre die ganze Waldorf­schule nicht da, wenn nicht die Anthroposophie da wäre. Aber Sie sehen, das Urteil mancherMenschen ist so, wie wenn man sagen würde:

Das ist ein ausgezeichneter Tänzer, schade nur, daß er auf zwei Beinen stehen muß. - So ist die Logik der Gegner. Man kann gar nicht anders, als sagen, die Waldorfschule ist gut; denn alles, was in dieser Schule ist, ist nicht etwa daraufhin angelegt, sie zu einer Weltanschauungs-schule zu machen. Denn mit Bezug auf den Religionsunterricht zum Beispiel halten wir es so, daß die katholischen Kinder von dem katho­lischen Pfarrer unterrichtet werden, die evangelischen Kinder von dem evangelischen; und nur, weil es in Deutschland eine große Anzahl Dissidentenkinder gibt, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, mußten wir, weil diese Kinder sonst ohne einen Religionsunterricht geblieben wären, für sie einen freien Religionsunterricht einrichten. Ich kann dafür sehr schwer Lehrer finden, denn dieser freie Religions­unterricht ist überfüllt; man veranlaßt auch kein Kind, dahinein zu kommen, denn wir wollen nur eine moderne Schule sein. Wir wollen nur praktische Grundsätze für den Unterricht und die Erziehung haben. Wir wollen nicht Anthroposophie in die Schule hineintragen, weil wir keine Sekte sind, weil wir das ganz Allgemein-Menschliche wollen. Aber wir können gar nichts dafür, die Kinder laufen aus dem evangelischen und dem katholischen Religionsunterricht fort und kommen in unseren freien hinein. Es ist nicht unsere Schuld, aber sie kommen. Und so muß immer von neuem dafür gesorgt werden, daß gerade dieser freie Religionsunterricht immer weiterkommt.

175

Und so wächst uns nach und nach die Waldorfschule - sie hat jetzt etwa 800 Kinder mit 40 bis 50 Lehrkräften - zwar nicht über den Kopf, aber über die Kasse. Sie ist heute in finanzieller Beziehung wirk­lich in großer Not. Und es ist noch nicht 6 Wochen her, da konnte man noch nicht wissen, ob über den 15. Juni hinaus die Waldorfschule noch die Möglichkeit hat, überhaupt finanziell zu bestehen. Wir haben an ihr gerade ein Beispiel, wie schwer es heute ist, mit dem, was sich in so eminentem Sinne als geistig berechtigt erzeigt, durchzukommen gegen­über den furchtbaren wirtschaftlichen Verhältnissen, die namentlich in Mitteleuropa herrschen. Und wir haben immer wieder und wieder, jeden Monat, die heftigste Sorge gerade für die wirtschaftliche Existenz der Waldorfschule. Das Schicksal läßt uns so arbeiten, daß über uns immer, wie ein Damoklesschwert, die finanzielle Not hängt. Aber wir müssen aus dem Prinzip heraus arbeiten, wie wenn die Waldorfschule für die Ewigkeit begründet wäre. Es erfordert sogar eine sehr starke Hingabe von seiten der Lehrerschaft, die gar nicht wissen kann, ob sie nicht nach drei Monaten auf der Straße liegen wird, so mit aller inneren Intensität zu arbeiten.

Aber es ist eben anthroposophische Pädagogik auch da schicksals­gemäß aus der anthroposophischen Bewegung herausgewachsen. Ge­rade das, was wir innerhalb der anthroposophischen Bewegung am wenigsten gesucht haben, das gedeiht am allerbesten. Ich möchte sagen:

Was uns die Götter gegeben haben, nicht das, was von Menschen ge­macht worden ist, das gedeiht am besten. Und begreiflich wird es sein, daß gerade so etwas wie die pädagogische Kunst dem Anthroposophen besonders ans Herz gewachsen sein muß. Denn, was ist eigentlich das innerlich Schönste auf der Welt? Es ist doch der werdende Mensch. Diesen Menschen aus den geistigen Welten in der physischen Welt durch die Geburt ankommen zu sehen, wie er in der unbestimmten Weise das, was in ihm lebt, heruntergetragen hat, wie immer bestimm­ter und bestimmter das wird, was in den Zügen, in den Bewegungen liegt; dieses Hereinwirken göttlicher Kräfte, göttlicher Offenbarun­gen durch die Menschengestalt in die physische Welt, das in der rich­tigen Weise anzuschauen, hat etwas allertiefst Religiöses. Kein Wunder

daher, daß da wo man echteste, wahrste, intimste Menschlichkeit will,

176

wie auf anthroposophischem Boden, man gerade das Rätsel des heran­wachsenden Menschen mit heiliger, religiöser Inbrunst betrachtet und ihm mit all der Arbeit, die man leistet, entgegenkommen möchte.

Das ist etwas, was aus den tiefsten Seelenregungen heraus die Be­geisterung gibt für die pädagogische Kunst innerhalb der anthropo­sophischen Bewegung. Daher darf man schon sagen: So steht die päd­agogische Kunst innerhalb der anthroposophischen Bewegung drinnen wie ein Gebilde, das gar nicht anders gepflegt werden kann innerhalb dieser Bewegung als mit der hingebendsten Liebe. - Und so wird sie gepflegt. Sie wird mit der hingebendsten Liebe gepflegt. Deshalb darf man auch sagen, die Waldorfschule ist schon allen denjenigen, die sie kennen, ans Herz gewachsen; und alles, was da gedeiht, das gedeiht in einer Weise, daß man eine innere Notwendigkeit sieht. Da möchte ich auf zwei Tatsachen hinweisen.

Vor einiger Zeit, es ist noch nicht lange her, fand in Stuttgart eine Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft statt. Dabei wurden von den verschiedensten Seiten her die verschiedensten Wünsche vorge­bracht, was man auf diesem, was man auf jenem Gebiete tun solle. Und da andere Menschen heute so gescheit sind in der Welt, so sind natürlich auch die Anthroposophen gescheit; sie nehmen manchmal teil an der Gescheitheit der Welt. So war manche Interpellation ein­gebracht worden. Aber eine war doch interessant, sie kam von den­jenigen, die gerade in der letzten Klasse der Waldorfschule waren; eine richtige Jnterpellation an die Anthroposophische Gesellschaft. Sie war von allen Schülern der 12. Klasse unterschrieben und hatte etwa den folgenden Inhalt: Wir sind jetzt in der Waldorfschule so er­zogen, daß dies die echte menschliche Erziehung ist; jetzt graut uns davor, nun in eine gewöhnliche Hochschule hineinzukommen. Könnte die Anthroposophische Gesellschaft nicht auch eine anthroposophische Hochschule machen? Denn wir möchten in eine Hochschule kommen, wo wir ebenso naturgemäß erzogen werden wie jetzt in der Waldorf­schule. - Diese Jnterpellation hat damals in jener Versammlung idea­listisch gewirkt, und die Menschen haben sogar den Beschluß gefaßt, eine anthroposophische Hochschule zu errichten. Es ist auch einiges Geld zusammengekommen, das dann in der Inflationszeit von Millionen

177

Mark auf Pfennige zusammengeschmolzen ist. Aber es hat Leute gegeben, die glaubten, man könne so etwas tun - so etwas tun, bevor die Anthroposophische Gesellschaft so mächtig geworden ist, daß sie Urteile abgibt. Wir könnten ja gut Mediziner, Theologen und so weiter ausbilden, aber was sollen denn diese dann machen? Kein Mensch er­kennt sie an. Aber es ist doch ein ganz interessantes Zeugnis, das da die innere Notwendigkeit zeigt, die von den kindlichen Herzen schon ge­fühlt wird. Es war nicht unnaturgemäß, was in dieser Interpellation auftrat. - Aber weiter. Als unsere Schüler und Schülerinnen zum ersten Mal die letzte Klasse zu absolvieren hatten, waren wir zu folgendem genötigt. Damit die jungen Menschen nun den Anschluß finden an die tote Kultur - wir hatten ihnen nur lebendige Kultur geben können, nun mußten sie den Anschluß an die tote Kultur finden, das heißt, sie mußten ein Abiturientenexamen ablegen -, so mußten wir die letzte Klasse so gestalten, daß unsere Schüler und Schülerinnen das Abitu­rientenexamen ablegen konnten. Das hat aber unseren Lehrplan ganz durchkreuzt, und wir empfanden es in der Lehrerschaft als etwas un­geheuer Schwieriges, in der letzten Klasse so zu stehen, daß wir unseren ganzen Lehrplan auf die Examensarbeit hin einrichten mußten. Wir haben es getan. Wenn ich die Klasse besucht habe - es war mir wirklich gar nicht leicht, denn da gähnten die Schüler auf der einen Seite, weil sie lernen mußten, was sie im Examen später kennen mußten; auf der andern Seite wollte man dann manchmal etwas einfügen, was sie nicht zu kennen brauchten, aber was die Schüler wissen wollten. Da mußte man ihnen immer sagen: Das müßt Ihr aber nicht beimExamen sagen.-Es ist schon eine Schwierigkeit. Und dann kam es zum Examen. Es ging leidlich ab. Aber wir hatten - verzeihen Sie, wenn ich das triviale Wort gebrauche - im Lehrerkollegium und in den Lehrerkonferenzen den Katzenjammer. Wir sagten uns: Nun haben wir die Waldorfschule eingerichtet; jetzt, wo wir sie krönen sollten durch das letzte Schuljahr, da können wir unsere Intentionen, das, was die Schule sein sollte, nicht durchführen. Und so haben wir dann trotz alledem den Beschluß ge­faßt, bis zum letzten Schuljahre, bis zum Ende der 12.Klasse streng den Lehrplan durchzuführen und daneben den Eltern und Schülern den Vorschlag zu machen, nachher noch ein Jahr dranzustückeln, damit

178

die Schüler dann ihr Examen machen können. Namentlich die Schüler und Schülerinnen unterziehen sich diesem mit der größten Hingabe, daß sie wirklich nun mit dem, was in der Waldorfschule intendiert, gewollt wird, auskommen wollen. Wir haben eigentlich keinen Widerspruch erfahren. Das einzige, worum wir gebeten wor­den sind, ist, daß nun Waldorfschullehrer diese Trainierung zum Examen vornehmen sollten.

Man sieht, wie schwierig es ist, etwas, was aus bloßer Menschen-erkenntnis hervorgehen sollte, tatsächlich in die heutige sogenannte Wirklichkeit hineinzustellen. Wenn man kein Phantast ist, der das nicht einsieht, daß man mit der Wirklichkeit rechnen muß, dann hat man es erst ganz besonders schwer. Und so steht auf der einen Seite, ich möchte sagen als etwas, was selbstverständlich geliebt wird, die pädagogische Kunst innerhalb der anthroposophischen Bewegung drinnen; so steht aber wiederum die anthroposophische Bewegung mit ungeheuren Schwierigkeiten in der allgemeinen heutigen sozialen Ord­nung drinnen, wenn sie dasjenige verwirklichen will, gerade auf dem geliebten Gebiete der Pädagogik, wovon sie die innerste Notwendig­keit einsieht. Auch das muß lebensvoll ins Auge gefaßt werden. Denn glauben Sie nicht, daß es mir einen einzigen Augenblick einfällt, den­jenigen zu belachen, der irgendwie innerlich sagt: Es ist doch nicht so schlimm; das alles ist doch eine Mache, denn es geht doch an andern Schulen auch ganz ordentlich zu. - Nein, darum handelt es sich nicht! Ich weiß schon, wieviel Arbeit und Mühe und auch Geist im heutigen Schulwesen drinnensteckt. Ich kann es durchaus einsehen. Aber die Menschen denken heute leider zu kurz. Man sieht nicht die Fäden zwischen dem, was Erziehung im Laufe der letzten Jahrhunderte ge­worden ist, und dem, was im sozialen Leben zerstörend, vernichtend, verheerend uns entgegenstürmt. Daß Anthroposophie weiß, welches die Bedingungen eines Kulturwachstums in die Zukunft hinein sind, dies allein zwingt sie, solche Methoden herauszuarbeiten, wie Sie sie auf pädagogischem Gebiete finden. Um die Menschheit handelt es sich, um die Möglichkeit, fortzuschreiten, nicht zurückzukommen.

Damit ist auf der einen Seite charakterisiert, wie pädagogische Kunst in der anthroposophischen Bewegung drinnensteht, wie aber auf

179

der andern Seite gerade dadurch, daß sie diese pädagogische Kunst in ihrer Mitte hat, die anthroposophische Bewegung wiederum Schwierig­keiten hat in der Öffentlichkeit des heutigen Lebens. Wenn daher ein­mal das vorliegt, daß immer mehr und mehr sich ein größerer Kreis findet, wie es hier der Fall ist, der auf das hören will, was Anthropo­sophie auf dem Gebiete der Pädagogik zu sagen hat, dann ist man, ich möchte sagen, dem Zeitgenius dafür dankbar, daß es möglich ist, über etwas zu sprechen, was einem so sehr auf dem Herzen liegt. Man kann ja immer nur einige Anregungen geben. Besonders in diesem Kursus konnte ich nur einige Anregungen geben. Und im Grunde genommen ist mit diesem Anregungengeben auch nicht allzuviel getan, denn unsere anthroposophische Pädagogik ist Erzieher- und Unterrichts­praxis. Sie lebt erst, wenn sie ausgeführt wird; denn sie will nichts anderes sein als Leben. Sie will im Grunde genommen nicht bezeichnet werden, sondern sie will erlebt werden. Deshalb versucht man, wenn man die Absicht hat anzuregen, was ins Leben übergeführt werden soll, alle mögliche Sprachkunst aufzuwenden, um gerade zu zeigen, wie anthroposophische pädagogische Kunst lebensvoll wirken will. Gewiß, das mag mir vielleicht in diesem Kursus sehr schlecht gelungen sein; aber ich habe es versucht. Und so ist gerade das Pädagogische schicksalsgemäß aus dem Anthroposophischen herausgewachsen.

Viele Menschen leben heute noch in dem Anthroposophischen so, daß sie nur eine Weltanschauung für ihr Herz, für ihre Seele haben wollen, so eine Art religiöser Vertiefung für die Seele, und sie sehen es mit scheelen Augen an, daß Anthroposophie nach den verschiedenen Gebieten, dem künstlerischen, medizinischen, pädagogischen und so weiter ihre Kreise zieht. Aber man kann nicht anders, denn Anthropo­sophie will Leben sein. Sie will aus dem Leben heraus wirken und wie­derum in das Leben hinein. Und wenn es ein wenig gelungen ist, gerade mit diesen Vorträgen über pädagogische Kunst, zu zeigen, wie Anthro­posophie keine sektiererische Phantastik ist, sondern etwas, was ge­wissermaßen mit mathematischer Nüchternheit auftreten möchte -sobald man ins Geistige hineinkommt, wird eben die mathematische Nüchternheit begeistert, denn Begeisterung ist ein Wort, das mit Geist zusammenhängt, und man kann gar nicht anders, als begeistert zu

180

werden, auch wenn man ganz mathematisch nüchtern ist, wenn man vom Geiste zu reden und zu handeln hat; wenn also Anthroposophie heute noch von manchen wie eine Schwärmerei angesehen wird - man wird schon sehen, daß sie durchaus auf realen Grundlagen fußt: sie will im weitesten Sinne des Wortes Lebenspraxis sein. Und das kann man vielleicht auf solchem Gebiete, wie dem pädagogischen, heute noch am allerbesten zeigen.

Ist es möglich gewesen, nach dieser Richtung hin mancher Seele, die hier war, einige Anregungen zu geben, so bin ich schon zufrieden. Und das beste Zusammenarbeiten wird sich dann ergeben, wenn im Zusam­menwirken aller derer, die ein wenig angeregt worden sind, dasjenige eine lebenspraktische Fortsetzung findet, was diese Vorträge anregen wollten.

181

HINWEISE

Die erste Buchausgabe von 1929 leitete Marie Steiner mit folgenden Worten ein:

zu Seite

7 Dr. F. W. Zeylmans van Emmichoven, 1893-1961, Arzt. Generalsekretär der Holländischen Landesgesellschaft der Allgemeinen Anthroposophischen Gesell­schaft.

23 in dem öffentlichen Vortrage: «Was kann die Heilkunst durch eine geisteswis­senschaftliche Betrachtung gewinnen?», Arnheim Juli 1924, Dornach 1958.

62 daß es sich darum handelte, heilpädagogische Vorträge zu halten:

74 landwirtschaftlichen Kursus:

78 in einer Vorlesung des Naturphilosopben Oken: Lorenz Oken, 1779-1851, Pro­fessor in Jena, München, ab 1832 in Zürich.

85 Von der Fragenbeantwortung im Anschluß an den 4. Vortrag besteht keine Nachschrift.

182

86 Emil Molt, 1876-1936, Direktor der

89 Rohert Hamerling, 1830-1889, Österreichischer Dichter.

92 Dr. Eugen Kolisko, 1893-1939, Lehrer und Schularzt an der ersten Waldorf­schule.

98 Dr. Hermann von Baravalle, geb. 1898, Mathematik- und Physiklehrer an der ersten Waldorfschule. Er hatte während des Kurses in Arnheim zwei Vorträge gehalten.

101 Dr. Walter Johannes Stein, 1891-1957, Geschichtslehrer an der ersten Waldorf­schule.

116 Osterheek: ein Villenvorort von Arnheim

121 Im Jahre 1906 hielt ich in Paris Vorträge über Anthroposophie: Es handelt sich um einen ungedruckten Zyklus von 18 Vorträgen, gehalten vom 25. Mai-14. Juni 1906, referiert herausgegeben durch Edouard Schuré unter dem Titel «L'ésoterisme Chrétien, Esquisse d'une cosmogonie psychologique», Paris 1928 und 1957.

121 Otto Weininger, 1880-1903,

142 Im Dornacher Goetheanum: Das erste Goetheanum, ein Doppelkuppelbau in Holz errichtet, der in der Silvesternacht 1922/23 durch Brand zerstört wurde. Siehe Rudolf Steiner «Der Baugedanke des Goetheanum» und

153 Johann Friedrich Herbart, 1776-1841, 1806; «Umriß pädagogischer Vorlesungen», Göttingen 1835;

163 Das habe ich zum ersten Male 1908 in Nürnberg dargestellt: Siehe den Vor­tragszyklus «Die Apokalypse des Johannes», Gesamtausgabe Dornach 1962, VII. Vortrag.

wie ich im Frühjahr 1914 in Wien sagte: im Vortragszyklus

173 «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft» in «Luzifer-Gnosis, Gesammelte Aufsätze 1903-1908», Gesamtausgabe Dornach 1960, und Einzelausgaben, Stuttgart 1948 und 1961.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.