GA 305

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER ERZIEHUNG

Die geistig-seelischen Grundkräfte
der Erziehungskunst

Spirituelle Werte in Erziehung
und sozialem Leben

Zwölf Vorträge, gehalten in Oxford
vom 16. bis 29. August 1922,
mit einem Sondervortrag, Oxford 20. August 1922,
zwei Ansprachen zu Eurythmieaufführungen
und einem Schlußwort

GA 305

1979

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Oxford, 16. August 1922 Die spirituelle Grundlage der Erziehung (I)

Meine ersten Worte sollen die Bitte um Entschuldigung sein, daß ich in der Sprache dieses Landes nicht werde diese Vorträge halten können. Allein da es mir an Übung fehlt, so muß ich eben in derjenigen Sprache die Dinge formulieren, in der ich das vermag. Die folgende Übersetzung wird ja hoffentlich das wieder gutmachen können, was in dieser Be­ziehung mangelt.

Als zweites gestatten Sie mir zu sagen, daß ich außerordentlich dank­bar sein muß dem verehrten Komitee, das mir gestattet, diese Vorträge zu halten innerhalb dieser Oxforder Versammlung. Ich rechne es mir zur ganz besonderen Ehre an, in der altehrwürdigen Stadt hier diese Vorträge halten zu dürfen. Es ist ja die Stadt, in welcher ich selber, als ich vor 20 Jahren sie besuchen durfte, fühlte, welche Gewalt altehr­würdige Überlieferung ausströmt aus all dem, was man hier wahr­nehmen kann.

Und nun, wenn ich mir gestatten werde, über eine Erziehungs­methode zu sprechen, welche in einem gewissen Sinne neu genannt wer­den darf, so möchte ich auf der anderen Seite sagen, daß das Neue ja in unserer Zeit von so vielen Menschen einfach als Neues angestrebt wird. Allein, wer Neues auf irgendeinem Gebiete der menschlichen Zivilisation anstreben will, muß sich eigentlich dazu erst Recht und Berechtigung holen dadurch, daß er das Alte in entsprechendem Sinne zu würdigen und zu verehren weiß.

Hier in Oxford fühle ich alles inspirierend durch die Gewalt des­jenigen, was heute noch lebendig ist aus diesen alten Traditionen. Und nur derjenige, der solches fühlen kann, hat vielleicht die Berechtigung, auch über Neues zu sprechen. Denn nur dasjenige Neue kann in der Welt bestehen, das seine Wurzeln in dem Altehrwürdigen pflegt. Es ist ja vielleicht gerade die Tragik und das tiefe Elend unserer Zeit, daß fortwährend davon gesprochen wird: man will dieses, man will jenes

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Neue, und daß so wenige Menschen geneigt sind, dieses Neue aus dem Alten heraus würdig zu gestalten.

Deshalb fühle ich einen so innigen Dank vor allen Dingen gegenüber Mrs. Mackenzie, der Hauptveranstalterin dieser Versammlung, und gegenüber dem ganzen Komitee, welche sich der Aufgabe, die Vor-träge hier einzurichten, hingeben; ich fühle so innigen Dank, weil eben dadurch möglich wird, etwas, was ja in gewissem Sinne als Neues gemeint ist, in dem Milieu des Altehrwürdigen, durch das es erst sank­tioniert werden kann, auszusprechen.

Ebenso dankbar bin ich für die sehr liebenswürdigen einleitenden Worte, welche gestern Prinzipal Jacks hier gesprochen hat.

Damit habe ich vielleicht zunächst etwas angedeutet aus der Ge­sinnung heraus, aus der diese Vorträge gehalten werden sollen: Das­jenige, was hier über Erziehungswesen und über Unterrichtswesen zu­nächst von mir gesagt werden soll, ruht ja auf der Grundlage derjenigen spirituellen wissenschaftlichen Erkenntnis, welche auszubilden ich mir zur Aufgabe meines Lebens gemacht habe.

Diese spirituelle Erkenntnis, sie wurde zunächst um ihrer selbst willen gepflegt, und in den letzten Jahren haben sich Freunde dieser Weltanschauung gefunden, um sie auch einzuführen in die einzelnen Gebiete des praktischen Lebens. Und so war es in Stuttgart Emil Malt, welcher aus der Anschauung desjenigen, was durch das Goetheanum, die Freie Hochschule für spirituelle Wissenschaft in Dornach in der Schweiz, gewollt wird, das angewendet sehen wollte auf eine Erzie­hungs- und Unterrichtsanstalt für die Kinder im volksschulpflichtigen Alter. Und so kam es zu der Einrichtung der Waldorfschule in Stuttgart.

Der Pädagogik und Didaktik dieser Waldorfschule in Stuttgart wurde nun jenes spirituelle Leben zugrunde gelegt, von dem ich meine, daß es aus dem Geiste unserer Zeit heraus zu einer Fortführung des Er­ziehungswesens führen muß, gerade so, wie es der Geist für unsere Zeit, wie es die Aufgaben und wie es die Stufe der Menschheitsent­wickelung innerhalb unserer Zeitepoche fordern.

Das Erziehungs- und Unterrichtswesen, welches hier gemeint ist, ist durchaus gebaut auf Menschenerkenntnis, auf einer Menschener­kenntnis, die über den ganzen Menschen sich ausdehnt von seiner Geburt

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bis zu seinem Tode, die aber auch erfassen will alles dasjenige, was an übersinnlichem Wesen innerhalb dieses Lebens zwischen Ge­burt und Tod sich auslebt als Zeuge davon, daß der Mensch einer übersinnlichen Welt angehört.

Wir haben in unserer Zeit allerdings auch spirituelles Leben; spiri­tuelles Leben vor allen Dingen aber, wie es uns überkommen ist aus alten Zeiten, spirituelles Leben, das wir traditionell fortpflanzen. Wir haben neben diesem spirituellen Leben, immer mehr und mehr, in einer geringen organischen Verbindung damit, jenes Leben, das uns aus der großartigen naturwissenschaftlichen Einsicht unserer neueren Zeit er-quillt. Wir dürfen in dem Zeitalter, in dem gelebt haben die großen Naturforscher der Gegenwart, die tonangebenden Geister der Natur­erkenntnis, wir dürfen heute auch, wenn wir von dem spirituellen Leben sprechen, nicht außer acht lassen dasjenige, was eindringlich zeigt für die Menschenerkenntnis die Naturwissenschaft selber.

Diese Naturwissenschaft, sie kann uns Aufschluß geben über das Körperliche des Menschen, sie kann uns Aufschluß geben über den Verlauf der körperlichen, der physiologischen Funktionen während des physischen Lebens des Menschen. Aber diese naturwissenschaft­liche Erkenntnis, so wie wir sie treiben, indem wir mit äußeren Werk­zeugen experimentieren, indem wir mit äußeren Sinnen beobachten, sie hat gerade in der Zeit, in der sie so groß geworden ist, nicht ver­mocht, in das eigentliche spirituelle Leben des Menschen tiefer hinein­zudringen. Das ist kein Tadel, den ich damit aussprechen will; das war die große Aufgabe der Naturwissenschaft, wie wir sie zum Beispiel, ich möchte sagen, in einer großen Systematik zusammengestellt finden bei einer Persönlichkeit wie Huxley. Das ist die große Leistung, daß sie einmal die Natur angesehen hat, ganz unbekümmert um alles das­jenige, was etwa in der Welt an Geistigem lebt.

Dafür haben wir auch eine Menschenerkenntnis, die nicht über­gehen kann zu der unmittelbar praktischen Handhabung des Geistigen. Wir haben ein spirituelles Leben in unserer gegenwärtigen Zivilisation, und die verschiedenen Religionsbekenntnisse pflanzen dieses spirituelle Leben fort. Wir haben aber kein solches spirituelles Leben, das dem Menschen etwas zu sagen vermag, wenn er die bange Frage richtet

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nach dem Ewigen, nach dem Unvergänglichen, nach dem Übersinn­lichen, dem er angehört; wir haben kein spirituelles Leben, das uns, mit anderen Worten, zu geben vermag Überzeugungen, Überzeugungen, wenn wir einsam dastehen in der Welt mit unserem physischen Leben, mit unserer physischen Lebensauffassung und nun fragen: Was liegt zugrunde an Ewigem, an Übersinnlichem dieser ganzen Sinneswelt?

Wir können uns dann Überzeugungen bilden darüber, was wir waren vor der Geburt im Schoße der göttlichen, übersinnlichen Welt. Wir können Überzeugungen bilden von demjenigen, was unsere Seele wird durchzumachen haben, wenn sie durch die Pforte des Todes gegangen ist. Wir können dasjenige, was wir so als Überzeugungen fassen, in Formeln bringen. Es kann, ich möchte sagen, warm in unser Herz, in unser Gemüt hereinströmen. Wir können sagen: Der Mensch ist mehr im ganzen Weltenall, als er ist in diesem physischen Leben zwischen Geburt und Tod.

Allein dasjenige, was wir auf diese Weise gewinnen, es bleibt Über­zeugung, es bleibt etwas, was wir denken und fühlen können. Es wird immer schwieriger und schwieriger, die großartigen Überzeugungen, die uns zu diesem Spirituellen hinzu die Naturwissenschaft gibt, in die Handhabung, in die Praxis des Lebens hineinzuführen. Wir wissen vom Geiste; wir verstehen es nicht mehr, mit dem Geiste zu tun, mit dem Geiste zu handeln, unsere Lebenspraxis, das alltägliche Leben mit dem Geiste zu durchdringen.

Welches Gebiet des Lebens ist es am meisten, das uns auffordert, mit dem Geiste zu tun? Es ist das Erziehungs-, es ist das Unterrichts­wesen. In der Erziehung müssen wir den ganzen Menschen ergreifen, und der ganze Mensch ist Körper, Seele und Geist. Wir müssen mit dem Geiste tun können, wenn wir erziehen, wenn wir unterrichten wollen.

Hat zu allen Zeiten der Menschheitsentwickelung diese Forderung über der Menschheit gestanden, so dürfen wir sagen: Jetzt gerade, weil wir auf dem Gebiete der äußerlichen Naturerkenntnis so weit gekom­men sind, jetzt gerade am allermeisten steht die Forderung vor uns, mit dem Geiste tun zu können. Darum ist die soziale Frage heute in erster Linie eine Erziehungsfrage. Denn wir wollen mit Recht heute fragen: Was soll geschehen, damit soziale Ordnungen, soziale Institutionen

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unter uns entstehen, die minder tragisch sind als die heutigen, die minder bedrohlich sind als die heutigen? - Wir können uns keine andere Antwort geben als die: Wir müssen zunächst Menschen in das praktische Leben, in die soziale Gemeinschaft hineinstellen, die aus dem Geiste heraus, aus dem Tun im Geiste erzogen sind.

Eine solche Erkenntnis, die zu gleicher Zeit fortwährendes Tun im Leben ist, strebt diejenige Spiritualität im Leben an, welche zur Basis gemacht werden soll - nach der Meinung, die hier vertreten wird - für die Erziehung der verschiedenen Lebensalter des Menschen. Denn in der Kindheit, da steht der Geist näher dem Leibe des Menschen als beim Erwachsenen. In der Kindheit, da sehen wir, wie die physische Natur plastisch ausgebildet wird vom Geiste. Was ist gerade nach unse­rer heutigen Naturerkenntnis das Gehirn des Kindes, wenn es geboren wird? Es ist fast wie der Bildestoff, den der Bildhauer übernimmt, wenn er ein Bildhauerwerk bereitet.

Und schauen wir uns das Gehirn eines siebenjährigen Kindes an, das wir für die Volksschulerziehung übernehmen: es ist ein wunder­bares Kunstwerk geworden, aber ein Kunstwerk, an dem weitergear­beitet werden muß, weitergearbeitet werden muß bis zum Ende der Volksschule. Geheimnisvolle spirituelle Kräfte arbeiten zunächst an der Plastik des menschlichen Leibes, und wir als Erzieher werden mitbe­rufen, zu arbeiten, werden mitberufen, nicht bloß das Leibliche anzu­schauen, sondern, obzwar wir niemals das Leibliche vernachlässigen dür­fen, dieses Leibliche auch so anzuschauen, wie der Geist daran arbei­tet, mit dem unbewußten Geiste bewußt mitzuarbeiten, uns einzufügen nicht nur in die natürliche, sondern in die göttliche Weltenordnung.

Indem wir ernsthaft der Erziehung gegenüberstehen, werden wir aufgefordert, nicht nur Gott zu erkennen für die Befriedigung unserer Seele, sondern mit Gott zu wollen, aus den göttlichen Absichten her­aus zu handeln. Dazu aber brauchen wir eine spirituelle Basis für die Erziehung. Von dieser spirituellen Basis der Erziehung möchte ich Ihnen in den nächsten Tagen sprechen.

Man muß fühlen an der Beobachtung des kindlichen Lebens, wie spi­rituelle Einsicht, wie spirituelle Anschauung notwendig ist, um sachgemäß

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zu verfolgen, was mit dem Kinde, mit der Seele, mit dem Geiste des Kindes von Tag zu Tag geschieht. Wir müssen denken, wie ganz andersartig das kindliche Leben ist in den allerersten Lebenstagen und Lebenswochen als dasjenige des späteren Kindes, und namentlich das­jenige des Erwachsenen. Wir müssen uns erinnern, welches Ausmaß von Schlaf das Kind zunächst in seiner ersten Lebenszeit braucht. Wir müssen die Frage aufwerfen: Was geschieht in dem Wechselspiel zwi­schen Geist und Körper, wenn das Kind fast 22 Stunden in seiner ersten Lebenszeit des Schlafes bedürftig ist? Für solche Dinge spricht sich die heutige Philosophie, auch die heutige Lebenspraxis so aus, daß sie sagt: Nun, man kann eben in die Seele des Kindes nicht voll hinein­schauen, wie man in die Seele eines Tieres, wie man in das innere Leben der Pflanze auch nicht hineinschauen kann. Da sind eben Gren­zen des menschlichen Erkennens.

Diejenige spirituelle Anschauung, die hier gemeint ist, sie sagt nicht:

Hier sind Grenzen der menschlichen Erkenntnis -, sie sagt: Es müssen so viele Erkenntniskräfte aus den Tiefen der Menschennatur hervor­geholt werden, daß wir auch die Möglichkeit gewinnen, so wie wir die Einrichtung eines menschlichen Auges, eines menschlichen Ohres physio­logisch betrachten, so auch den ganzen Menschen nach Körper, Seele und Geist in seinem Sein, in seiner Entwickelung zu beobachten.

Haben wir im gewöhnlichen Leben gerade durch unsere naturwis­senschaftliche Erziehung in der Gegenwart diese Erkenntnis nicht, so müssen wir sie eben ausbilden. Daher werde ich zu sprechen haben zu Ihnen über die Ausbildung jener Erkenntnisse, die eine eigentliche Einsicht in das innere Gewebe des kindlichen Lebens gewähren können. Und zu dieser Einsicht zwingt auch schon eine Beobachtung, die nur unbefangen sich dem Leben hingibt.

Wir sehen das Kind. Wenn wir es so äußerlich anschauen, so finden wir eigentlich keine einschneidenden Entwickelungspunkte in dem Le­ben des Kindes von der Geburt bis etwa zum 20. Jahre. Wir fassen alles so auf wie eine kontinuierliche Entwickelung.

So ist es nicht für denjenigen, der ausgerustet mit der Erkenntnis, von der ich in den nächsten Tagen hier sprechen werde, an die Beobach­tung des kindlichen Lebens herantritt. Da ist das Kind innerlich im

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Grunde ein ganz anderes Wesen bis etwa zu seinem 7., 8. Jahre, wo der Zahnwechsel beginnt, als es ist im späteren Leben von dem Zahnwech­sel bis etwa zum 14., 15. Jahre mit der Geschlechtsreife. Und unendlich bedeutungsvolle Rätsel gehen uns auf, wenn wir versuchen, ganz tief uns in das Leben des Kindes hineinzuversenken und uns zu fragen: Wie arbeitet das Geistig-Seelische an dem Kinde bis zum Zahnwechsel hin? Wie arbeitet das Geistig-Seelische an dem Kinde, wenn wir es gerade in der Volksschule, in der Elementarschule zu erziehen, zu unterrichten haben? Wie haben wir da selbst mit dem Geistig-Seelischen mitzu­arbeiten?

Wir sehen zum Beispiel, wie in dem ersten Lebensalter des Kindes bis zum Zahnwechsel hin instinktiv - instinktiv für das Kind, instinktiv auch für die Umgebung des Kindes - die Sprache ausgebildet wird. Wir denken heute vielfach darüber nach, ich will heute nicht sprechen von dem Historischen in der Entstehung der Sprache, sondern nur von dem Sprechenlernen des Kindes, wie eigentlich das Kind sprechen lernt, ob es gewissermaßen einen Instinkt hat, sich in den Klang, den es von der Umgebung hört, hineinzufinden, oder ob aus irgendwelchem an­deren Zusammenhang mit der Umgebung der Trieb, Sprache zu ent­wickeln, besteht. Sieht man aber genauer in das Leben des Kindes hin­ein, so merkt man, daß alle Sprache, alles Sprechenlernen auf der Nach­ahmung beruht desjenigen, was das Kind durch seine Sinne in der Um­gebung beobachtet, unbewußt beobachtet. Das ganze Leben des Kindes bis zum 7. Jahre ist ein fortwährendes Imitieren desjenigen, was in der Umgebung vor sich geht. Und in dem Augenblick, wo das Kind irgend etwas wahrnimmt, sei es eine Bewegung, sei es einen Klang, entsteht in ihm der Drang nach innerlicher Gebärde, nach Nacherleben des­jenigen, was wahrgenommen wird aus seiner ganzen Innerlichkeit heraus.

Wir verstehen das Kind nur, wenn wir es so betrachten, wie wir beim späteren Menschen das Auge oder das Ohr betrachten. Das Kind ist ganz Sinnesorgan. Sein Blut wird noch in einer viel lebendigeren Weise durch seinen ganzen Körper getrieben, als es später der Fall ist. Und wir merken gerade durch eine feine Physiologie, worauf die Ausbildung unserer Sinnesorgane, zum Beispiel des Auges beruht.

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Das Auge entwickelt sich dadurch, daß in ihm zuerst das Blut prä­ponderiert, die Blutzirkulation, in den allerersten Lebensjahren des Menschen. Dann überwiegt später immer mehr und mehr das Nerven-leben in den Sinnen, und eine Entwickelung von Blutzirkulation zum Nervenleben hin ist die Entwickelung des Sinneslebens im Menschen. Man kann sich eine feine Beobachtungsgabe aneignen dafür, wie all­mählich im Menschen übergeht das Blutleben ins Nervenleben.

So aber, wie es beim einzelnen Sinn ist, so beim ganzen Menschen. Das Kind muß so viel schlafen, weil es ganz Sinnesorgan ist, weil es die Außenwelt noch nicht mit ihrem Blenden, mit ihren Lauten vertragen würde. Wie das Auge sich schließen muß, wenn das blendende Sonnen­licht herandringt, so muß sich dieses Sinnesorgan Kind - denn das Kind ist ganz Sinnesorgan - abschließen gegenüber der Welt, muß viel schla­fen; denn dann, wenn es der Welt gegenübergestellt ist, muß es beob­achten, innerlich reden. Jeder Laut der Sprache entsteht aus der inner­lichen Gebärde.

Das, was ich hier sage aus einer spirituellen Erkenntnis heraus, das ist, ich möchte sagen, naturwissenschaftlich heute schon voll zu belegen. Es gibt eine naturwissenschaftliche Entdeckung - gestatten Sie mir, weil diese Entdeckung mich ja während meines ganzen Lebens verfolgt hat, die persönliche Bemerkung, daß diese naturwissenschaftliche Ent­deckung so alt ist wie ich selber; sie ist in dem Jahre gemacht worden, wo ich geboren bin -, diese naturwissenschaftliche Entdeckung besteht darin, daß des Menschen Sprache beruht auf der Ausbildung der linken Schläfenwin dung im Gehirn. Die wird plastisch im Gehirn ausgebildet. Aber diese Ausbildung geschieht durchaus während des kindlichen Alters selber aus jener Plastik heraus, von der ich Ihnen gesprochen habe. Und wenn wir den ganzen Zusammenhang betrachten, der besteht zwischen der Gebärde des rechten Armes und der rechten Hand, die präponderieren bei denjenigen Kindern, die das normal bilden - über Linkshänder werde ich noch zu sprechen haben, inwiefern sie sich zu den Allgemeinen verhalten; sie machen eine Ausnahme; aber gerade sie sind Beweise, wie das, was Sprechenlernen bedeutet, zusammenhängt mit jeder Gebärde, bis ins einzelnste hinein mit dem rechten Arm und der rechten Hand -, so werden wir sehen, wie durch einen inneren geheimnisvollen

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Zusammenhang von Blut, Nerven und der Windung des Gehirns aus der Gebärde heraus durch Imitation der Umgebung, die Sprache sich bildet.

Wenn wir schon eine feinere Physiologie hätten, als wir sie heute haben, so würden wir für jedes Alter nicht nur das Passive, sondern auch das Aktive entdecken. Aber dieses Aktive ist besonders regsam in diesem großen Sinnesorgan, das das Kind ist. Daher lebt das Kind so in seiner Umgebung, wie im späteren Leben unser Auge in der Um­gebung lebt. Unser Auge ist besonders herausgestaltet aus der allge­meinen Kopforganisation, liegt, ich möchte sagen, in einer besonderen Höhlurig, damit es das Leben der Außenwelt mitmachen kann. Das Kind macht so das Leben der Außenwelt mit, lebt ganz in der Außen­welt drinnen, ist noch nicht in sich, fühlt noch nicht sich, lebt ganz mit der Außenwelt.

Wir entwickeln heute mit Recht innerhalb unserer Zivilisation eine Erkenntnis, die eine sogenannte intellektualistische Erkenntnis ist, die ganz in uns lebt. Wir glauben die Außenwelt zu erfassen. Aber alle Gedanken, vor denen wir, und vor deren Logik wir allein gelten lassen die Erkenntnis, sie leben ja ganz in uns. Und das Kind lebt ganz außer­halb seiner selbst. Dürfen wir glauben, daß wir mit unserer intellek­tualistischen Erkenntnis jemals herankommen an dasjenige, was das Kind, das ganz Sinnesorgan ist, mit der Außenwelt erlebt? Das dürfen wir niemals. Das dürfen wir nur hoffen von der Erkenntnis, die selber ganz aus sich herausgehen kann, ganz untertaucht in das Wesen des­jenigen, was lebt und west. Eine solche Erkenntnis ist nur die intuitive Erkenntnis, nicht die intellektuelle, mit der wir in uns bleiben, wo wir uns bei jeder Idee fragen: Ist sie auch logisch? - es ist eine Erkenntnis, mit der der Geist hinunterdringt in die Tiefen des Lebens selber, eine intuitive Erkenntnis. Wir müssen uns bewußt aneignen eine intuitive Erkenntnis, dann werden wir erst selbst so praktisch, damit wir mit dem Geiste tun können dasjenige, was mit dem Kinde zu geschehen hat zunächst in den ersten Lebensjahren.

Dann aber, wenn das Kind seinen Zahnwechsel nach und nach über­windet, wenn an die Stelle derjenigen Zähne, die noch vererbt sind, diejenigen treten, die schon aus der ersten Lebensepoche heraus mit ihre

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Formung erhalten haben, dann tritt für das ganze Leben des Kindes das ein, daß es nicht mehr bloß Sinnesorgan ist, sondern hingegeben ist an etwas Seelischeres als an jeden äußeren Sinneseindruck. Dann tritt gerade für das Volksschulalter der Elementarschule das für das Kind ein, daß es beginnt, nun aus der Umgebung nicht mehr nur dasjenige auf­zunehmen, was es beobachtet, sondern das, was in dem Beobachten lebt. Für das Kind tritt dasjenige Alter ein, das vorzugsweise gebaut sein muß auf jene Autorität, in der das Kind gegenüber seiner erziehenden und unterrichtenden Umgebung lebt.

Geben wir uns keiner Täuschung darüber hin, daß das Kind, wenn wir es ansprechen zwischen dem 7. und 14. Jahre, von uns nicht ver­nimmt das Urteil, das sich in einem Satze ausspricht. Wenn wir das Kind zwingen, das Urteil zu erlauschen, das sich in einem Satze aus­spricht, so bringen wir ihm etwas bei, was erst einem späteren Lebens­alter angehört. Dasjenige, was das Kind durch seine Wesenheit von uns verlangt, das ist, daß es an uns glauben kann, daß es das instinktive Gefühl haben kann: Da steht einer neben mir, der sagt mir etwas. Er kann es sagen, er steht mit der ganzen Welt so in Verbindung, daß er es sagen kann. Der ist für mich der Vermittler zwischen mir und dem ganzen Kosmos. So steht das Kind, natürlich nicht ausgesprochen, aber instinktiv dem anderen Menschen, namentlich dem lehrenden und er­ziehenden Menschen gegenüber. Er ist ihm der Vermittler zwischen der göttlichen Welt und zwischen ihm selber in seiner Ohnmacht. Und nur, wenn sich der Erzieher bewußt wird, daß er selbstverständliche Autorität sein muß, daß er dasjenige sein muß, zu dem das Kind hin-aufsehen kann in einer ganz selbstverständlichen Weise, dann wird er Erzieher sein.

Daher haben wir gefunden während unseres Waldorfschul-Unter­richtes und unserer Waldorfschul-Erziehung, daß die Erziehungsfrage in der Hauptsache eine Lehrerfrage ist: Wie hat der Lehrer zu sein, um sein zu können eine selbstverständliche Autorität, der Vermittler zwi­schen der göttlichen Weltordnung und dem Kinde?

Nun, was ist da das Kind geworden? Zwischen dem 7. Jahre unge­fähr und dem 14., 15. Jahre ist das Kind aus dem Sinnesorgan ganz Seele geworden, noch nicht Geist, noch nicht so, daß es den Hauptwert auf

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den logischen Zusammenhang, auf das Intellektualistische legt; da würde es innerlich in der Seele verknöchern. Für das Kind zwischen dem 7. und 14. Jahre hat es eine viel größere Bedeutung, wenn wir vermögen in liebevoller Weise ihm irgend etwas beizubringen, als es ihm zu beweisen. Es hat viel größeren Wert, wenn wir Gemüt durch irgendeine Lehre gehen lassen können, als Logik; denn das Kind braucht noch nicht die Logik, das Kind braucht uns, braucht unsere Menschlichkeit.

Deshalb legen wir in der Waldorfschule gerade im Volksschulalter zwischen dem 6., 7. und 14. Jahre alles darauf an, daß der Lehrer mit einer künstlerischen Liebe und liebevollen Kunst dasjenige an das Kind heranzubringen vermag, was in dieses Lebensalter des Menschen hin­eingehört. Denn darauf beruht jene Erziehungskunst, die hier gemeint ist, daß man den Menschen kennt, kennt, was jedes Lebensalter von uns fordert in bezug auf Erziehung und Unterricht: Was fordern die ersten Jahre? Was ist gefordert bis zum 7. Jahre? Was kann das Volks­schulalter verlangen? - Ganz anders müssen wir das Kind erziehen bis zum 10.Jahre, ganz anders wiederum vom 10. bis 14.Jahre, seine Menschenerkenntnis sich erwerben lassen. Daß wir das Wesen des Kin­des in jedem einzelnen Jahre, ja jeder einzelnen Woche in unserer eigenen Seele lebendig machen, das ist dasjenige, was spirituelle Basis für die Erziehung bilden muß.

Und so können wir sagen: wie das Kind in den ersten Jahren ein Imitator, ein Nachahmer ist, so wird es in den späteren Jahren ein Folger, einer, welcher sich nach dem, was er seelisch zu erleben vermag, auch seelisch entwickelt. Jetzt sind die Sinnesorgane selbständig ge­worden, und die Seele ist wesenhaft im Kinde eigentlich erst aufge­taucht. Unendlich zart müssen wir diese Seele nun behandeln, fort und fort, als Lehrer und Erzieher in einen innigen Kontakt kommen mit demjenigen, was jeden Tag in der Seele des Kindes vor sich geht.

Ich möchte heute in dieser einleitenden Rede nur auf das eine hin­weisen: es gibt zum Beispiel für jedes Kind während des schulpflich­tigen Alters, so zwischen dem 9. und ii. Jahre, einen kritischen Punkt, einen Punkt, der nicht übersehen werden darf von dem Erzieher. In diesem Alter zwischen dem 9. und ii. Jahre kommt für jedes Kind, wenn es nicht unternormal ist, der Punkt, wo vor seiner Seele die Frage

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auftaucht: Wie finde ich mich in die Welt hinein? - Man darf nicht denken, daß diese Frage so gestellt wird, wie ich es eben jetzt besprochen habe. Die Frage tritt auf in unbestimmtem Fühlen, in unbefriedigtem Fühlen; die Frage tritt so auf, daß das Kind ein größeres Anlehnungs­bedürfnis an einen Erwachsenen fühlt, die Frage tritt auf vielleicht so, daß sie sogar in einem starken Liebeshange zu einem Erwachsenen sich hervortut. Aber wir müssen in der richtigen Weise zu beobachten ver­stehen, was in diesem kritischen Punkt in dem Kinde vorgeht. Es fühlt sich plötzlich vereinsamt. Es sucht plötzlich Anschluß. Bisher hat es die Autorität als selbstverständlich hingenommen. Jetzt beginnt es zu fragen: Was ist es denn mit dieser Autorität? - Ob man in diesem Augenblicke das rechte Wort findet oder nicht findet, davon hängt ungeheuer viel ab für das ganze spätere Leben des Menschen.

So wie es ungeheuer wichtig ist, daß der Arzt, wenn er eine Kinder­krankheit beobachtet, weiß, was da vorgeht im Organismus, das sind Entwickelungsprozesse, die nicht nur für das Kind Bedeutung haben -gehen sie im Kinde nicht in der richtigen Weise vor sich, so spürt das der Mensch noch als Greis -, so mussen wir uns bewußt werden: was wir in dem Kinde anregen an Vorstellungen, an Empfindungen, an Willensimpulsen, das darf nicht in steife Begriffe gefaßt sein, die das Kind sich nur merken soll, nur lernen soll; diejenigen Vorstellungen, diejenigen Empfindungsimpulse, die wir dem Kinde vermitteln, sie sollen leben so, wie unsere Glieder leben. Die Hand des Kindes ist klein. Sie muß sich selbständig entwickeln: wir dürfen sie nicht einzwängen. Die Vorstellungen, die seelische Entwickelung des Kindes, sie sind klein und zart. Wir dürfen sie nicht in scharfe Konturen fassen, von denen wir etwa voraussetzen, daß das Kind als Erwachsener nach dreißig Jahren noch diese Vorstellungen hat, wie das Kind sie hatte. Wir müssen die Vorstellungen, die wir dem Kinde beibringen, so gestalten, daß sie wachsen können. Die Waldorfschule soll keine Schule sein, sondern eine Vorschule sein, weil jede Schule eine Vorschule sein soll zu der großen Schule, die das Leben selber für den Menschen ist. Wir müssen eigentlich in der Schule nicht lernen, damit wir es können, sondern wir müssen in der Schule lernen, damit wir vom Leben immer lernen können. Das ist dasjenige, was einer, ich möchte sagen, spirituell-physiologischen

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Pädagogik und Didaktik zugrunde liegen muß. Man muß Sinn und Gefühl haben für dasjenige, was man an das Kind heran­bringt als ein Lebendiges, als etwas, was in das spätere Alter hinein­reichen kann. Denn dasjenige, was im Kind ausgebildet wird, verhält sich manchmal auf dem Seelenuntergrund des Kindes so, daß man es nicht bemerkt. Im späteren Lebensalter kommt es heraus. Man kann ein Bild gebrauchen; es soll nur ein Bild sein, das aber auf Wahrheit beruht: es gibt Menschen, die in einem bestimmten Lebensalter wohl-tätig wirken auf ihre Mitmenschen. Sie können - wenn ich es so aus­sprechen darf - segnen. Solche Menschen gibt es. Sie brauchen gar nicht zu sprechen, sie brauchen nur da zu sein mit ihrer segnenden Persönlich­keit. Man beobachtet gewöhnlich den Menschen nicht in seinem ganzen Leben, sonst würde man folgendes bemerken: Wie sind solche Men­schen, die später segnen können, in ihrer Kindheit erzogen worden, vielleicht bewußt von dem oder jenem, vielleicht hat es sich instinktiv auch für den Erzieher und Unterrichter gegeben. Sie waren so erzogen, daß sie als Kinder verehren gelernt haben, daß sie als Kinder beten gelernt haben im umfassenden Sinne des Wortes, hinaufzuschauen zu etwas - dann können sie hinunterwollen zu etwas. Hat man erst gelernt, hinaufschauen, verehren, in Autorität ganz gehüllt sein, dann hat man die Möglichkeit, zu segnen, hinunterzuwirken, selber Autorität zu wer­den, selbstverständliche Autorität zu werden.

Das sind die Dinge, die nun nicht als Grundsätze bloß leben, die durchaus in den Lehrer übergehen sollen, in sein ganzes Wesen, indem sie aus dem Kopf fortwährend in die Arme gehen, und er aus dem Geiste tun, und nicht aus dem Geiste bloß denken soll, die in dem Lehrer Leben gewinnen müssen.

Wie das im einzelnen vom 7. bis 14. Jahre durch alle Schuljahre der Fall sein kann, das will ich dann in den nächsten Tagen darstellen. Aber vor allen Dingen das wollte ich heute aussprechen, wie eine gewisse Art und Weise nicht einer Lebensanschauung bloß, sondern eines inner­lichen Lebens selber die spirituelle Basis der Erziehung sein muß. Dann erst, wenn der Mensch diese Autorität überwunden hat, wenn der Mensch geschlechtsreif geworden ist und auf diese Weise physiologisch ein ganz anderes Verhältnis zur Außenwelt gewinnt als früher, gewinnt

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er auch in seinem seelischen und leiblichen, in seinem körperlichen Leben im umfassendsten Sinne ein ganz anderes Verhältnis zur Außen­welt als früher. Jetzt erst erwacht der Geist im Menschen. Jetzt erst sucht der Mensch in allem Sprachlichen das Urteilhafte, das Logische. Jetzt erst können wir hoffen, daß wir den Menschen so erziehen und unterrichten können, daß wir an seinen Intellekt appellieren. Das ist ungeheuer wichtig, daß wir nicht, wie es heute so sehr beliebt ist, auf den Intellekt bewußt oder unbewußt zu früh reflektieren.

Und wiederum, wenn wir uns nun fragen: Was wirkt in dem Kinde, wenn wir sehen, wie es nun auf Autorität hin dasjenige aufnimmt, was seine Seele lenken und leiten soll? - Nun, das Kind hört nicht zu, um logisch zu prüfen, was wir sagen. Das Kind nimmt unbewußt dasjenige, was in seine Seele hineinwirkt, was von der Seele aus auch am Leibe bildet und kraftet, es nimmt es auf wie eine Inspiration. Und nur, wenn wir die unbewußte, die wunderbare Inspiration, die im ganzen Leben des Kindes vom 7. bis 14. Jahre waltet, verstehen, wenn wir hinein-wirken können in dieses fortwährend Inspiriertsein, dann können wir erziehen. Dazu müssen wir uns wiederum eine spirituelle Erkenntnis erwerben, und der Intuition hinzufügen die Inspiration.

Und haben wir das Kind so weit, daß es das 14. Jahr erreicht hat, dann machen wir eine eigentümliche Entdeckung. Wenn wir dem Kinde dasjenige, was es nun logisch auffassen soll, auch unmittelbar logisch beibringen, so wird es ihm langweilig; es hört zunächst zu, wenn wir in dieser Weise alles logisch gestalten; wenn der junge Mann und das junge Mädchen uns unsere Logik nur nachdenken sollen, so werden sie nach und nach müde. Wir brauchen selbst noch in dieser Lebensepoche als Lehrer etwas anderes als bloße Logik. Wir können das im großen beobachten.

Nehmen Sie einen solchen Forscher, der ganz in der äußeren Natur lebt, wie Ernst Haeckel. Er selber interessiert sich ungeheuer für alles dasjenige, was er mikroskopiert, was er ausbildet. Wird es übertragen auf die Schüler, so lernen sie es, aber sie können nicht mehr dasselbe Interesse entwickeln. Wir müssen als Lehrer etwas anderes auch in uns haben, als das Kind in sich hat. Dringt das Kind mit der Geschlechts-reife zur Logik vor, so müssen wir das Bildhafte, die Imagination in

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uns tragen. Wenn wir selber dasjenige, was wir dem jungen Menschen beibringen sollen, vermögen in das Bild zu gießen, so daß er Bilder, die wir wie in einer höheren Kunst ausbreiten, Bilder von der Welt und ihrem Wert und Sinn gewinnt, wenn wir diese Bilder ausbreiten und den Zuhörenden, den zu Erziehenden und zu Unterrichtenden die Logik entwickeln lassen, dann ergreift ihn dasjenige, was wir zu sagen haben.

So daß wir gewiesen werden in dieser dritten Lebensepoche auf die Imagination, ebenso wie zuerst auf die Intuition und auf die Inspi­ration. Und wir müssen nun suchen nach jener spirituellen Basis, welche uns nun auch, wenn wir Lehrer sein sollen, in die Lage versetzt, aus Imagination, Inspiration und Intuition heraus zu arbeiten, Geist zu tun, nicht bloß Geist zu denken.

Das ist dasjenige, was ich als eine Einleitung vorbringen wollte.

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ZWEITER VORTRAG Oxford, 17. August 1922 Die spirituelle Grundlage der Erziehung (II)

Es ist mir gestern mitgeteilt worden, daß einiges schwieriger zu ver­stehen war in den Betrachtungen, die ich gestern angestellt habe, und zwar weil Schwierigkeiten entstanden sind gegenüber dem Gebrauche des Wortes «spirituell» und «spirituelle Erkenntnis». Das veranlaßt mich, heute das Thema etwas zu ändern, das ich mir gestellt habe, und gerade über den Gebrauch der Worte «Geist» und «spirituelles Leben» heute zunächst einige Auseinandersetzungen zu machen, welche etwas hinwegführen werden von dem Thema über Unterricht und Erziehung. Allein aus den Mitteilungen, die mir gestern gemacht worden sind, kann ich entnehmen, daß wir uns dann in den nächsten Tagen besser ver­stehen können, wenn ich diese Auseinandersetzungen über Geist, Seele, Leib heute mache. Es wird mir schon Gelegenheit gegeben sein, das­jenige, was ich eigentlich heute sagen wollte, in den nächsten Tagen vorzubringen.

Zugleich aber veranlaßt eine solche Erörterung, wie sie nun die heu­tige sein muß, daß man etwas theoretischer wird und in Ideen und Begriffen spricht. Das bitte ich für heute hinzunehmen; es wird in den nächsten Tagen schon wieder besser werden. Ich werde da nicht so grausam sein, Sie mit Ideen und Begriffen zu quälen, sondern Ihnen vielleicht mit Tatsachen gefällig sein können.

Das Wort «Geist» innerhalb derjenigen Weltanschauung und Le­benserfassung, von deren Gesichtspunkten aus hier gesprochen wird, und auch das Wort «spirituell», wird gewöhnlich nicht tief genug ge­nommen. Man sucht, wenn ausgesprochen wird das Wort «Geist», etwas, was ähnlich ist «Intellektualität», oder man sucht etwas, was ähnlich ist demjenigen, wofür man etwa das englische Wort «mind» gebraucht. Allein dasjenige, was ich hier mit «spirituell» und mit «Geist» meine, ist denn doch etwas ganz anderes. Es ist durchaus nicht zu verwechseln mit all denjenigen Dingen, die etwa von mystischen,

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schwärmerischen oder abergläubischen, sektiererischen Bewegungen als «Geist» und «spirituell» genommen werden; aber es ist etwas gegen­über dem Intellekt und gegenüber demjenigen, was man mit «mind» bezeichnet, ganz anderes.

Wenn wir uns eine wirkliche Einsicht, eine unmittelbare, tatsäch­liche Erkenntnis von demjenigen verschaffen können, was in dem ganz kleinen Kinde bis zum Zahnwechsel hin innerlich wirkt so, daß es aber nicht direkt wahrgenommen werden kann, sondern nur angeschaut werden kann in den Wesensäußerungen des Kindes, mögen uns diese noch so primitiv vorkommen, das ist «Geist», und das ist «Seele».

Wir haben sonst, wenn wir die Natur und das Menschenleben an­schauen, niemals in dem Sinne Geist und Seele vor uns, als nur, wenn wir dasjenige, was Lebensäußerungen des ganz kleinen Kindes sind, beschauen. Da arbeiten, wie ich gestern sagte, in der Plastik des Ge­hirnes, in der Ausbildung des ganzen Organismus, die geistigen Kräfte darinnen, da arbeiten die seelischen Essenzen darinnen. Dasjenige, was wir sehen, sind die Lebensäußerungen des Kindes; sie nehmen wir durch die Sinne wahr. Aber dasjenige, was durch den Schleier des sinnlich Wahrnehmbaren hindurch wirkt, ist Geist, ist Seele; so, wie wir sie nie­mals sonst im Leben ohne eine innere seelische Entwickelung wahr­nehmen können. So daß wir sagen müssen: Geist ist zunächst etwas für die gewöhnliche Wahrnehmung ganz Unbekanntes. Seele offenbart sich höchstens in den gewöhnlichen Wahrnehmungen. Aber wir müssen sie durch die Wahrnehmungen hindurch fühlen, empfinden.

Wenn ich ein Bild gebrauchen darf, nur zur Verdeutlichung, nicht zur Erklärung, so möchte ich sagen: Wenn wir sprechen, sprechen wir so, daß wir die Worte, die Laute haben durch Konsonanten und Vo­kale. Beachten Sie den großen Unterschied zwischen den Konsonanten und Vokalen in der Sprache. Die Konsonanten, sie runden den Laut, sie machen ihn spitz, sie machen ihn zu einem Blaselaut, zu einem Wel­lenlaut, je nachdem wir mit dem einen oder anderen Organ, mit den Lippen, mit den Zähnen, den Laut formen.

Die Vokale entstehen ganz anders. Die Vokale entstehen so, daß wir den Luftstrom durch die Sprachorgane in einer gewissen Weise leiten. Wir runden nicht; wir bilden die Substanz des Lautes durch die Vokale.

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Wollen wir einen Vergleich, so können wir sagen: Die Vokale geben uns die Substanz, den Stoff. Die Konsonanten plastizieren dasjenige, was die Vokale als Substanz geben.

Wenn wir nun in dem Sinne, wie es hier gemeint sein soll, von Geist und Seele reden, so müssen wir sagen: Geist ist in den Konsonanten der Sprache, Seele ist in den Vokalen der Sprache. Wenn das Kind beginnt A zu sagen, hat es etwas in sich wie Verwunderung, einen Seeleninhalt. Unmittelbar lebt es vor uns diesen Seeleninhalt. Es strömt in dem A.

Wenn das Kind den E-Laut ausstößt, es hat etwas wie eine leise Antipathie der Seele in sich. Es rückt ab, zuckt zurück vor demjenigen, was einen Eindruck macht. Es ist etwas von Antipathie im Seelischen, was in dem E zum Ausdrucke kommt. Verwunderung: A - Antipathie:

E - seelisch der Vokalismus.

Bilde ich irgendeinen Konsonanten, dann runde ich, ich gestalte das Vokalische. Wenn das Kind Ma-Ma sagt, das A zweimal, so lebt es das­jenige dar, was etwa durch diese Gebärde des Suchens eines Hilfreichen von seiten der Mutter zum Ausdrucke kommt. A wäre dasjenige, was das Kind fühlt und empfindet gegenüber der Mutter, M ist dasjenige, was es möchte, daß die Mutter tue. Und so liegt in dem Ma-Ma das ganze Verhältnis des Kindes zur Mutter nach Seele und Geist. So hören wir die Sprache, wir hören das Sinnliche an ihr, aber wir werden nicht darauf aufmerksam, wie Seele und Geist verborgen in der Sprache liegen. In der Sprache wird man manchmal noch darauf aufmerksam. In dem ganzen Menschen beachtet man das nicht mehr. Man sieht die äußere Gestalt des Menschen. Da ist ebenso das Seelische darinnen und das Geistige, wie in der Sprache. Aber man beachtet es nicht mehr.

Aber man beachtete es einstmals in der Urzeit der Menschheit, als man nicht sagte: Im Anfange, im Urbeginne, war der Geist - das wäre einem zu abstrakt vorgekommen -, sondern man sagte: Im Urbeginne war das Wort -, weil man noch eine lebendige Empfindung davon hatte, daß der Geist auf den Wellen der Sprache sich fortbewegt. Dieser Geist, das ist dasjenige, was seiner Eigenschaft nach hier als das Spiri­tuelle bezeichnet wird, als dasjenige, was nicht in unserem Intellekt zum Vorschein kommt, auch nicht in dem, was man «mind» nennt. «Mind» und «spirit» sind verschieden voneinander, so verschieden voneinander,

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wie verschieden ist meine Persönlichkeit, wenn ich hier stehe, einen Spiegel habe, und ich mich in dem Spiegel sehe; darinnen ist mein Spie­gelbild. Dieses Spiegelbild, es macht dieselben Bewegungen, die ich mache, es sieht mir ähnlich, aber es ist nicht ich; es unterscheidet sich von mir dadurch, daß es Bild ist, ich die Realität. Geist waltet im Ver­borgenen. Intellekt hat den Geist nur im Spiegelbild. «Mind» ist das Spiegelbild des Geistes. «Mind» kann zeigen, was der Geist tut, «mind» kann die Bewegungen des Geistes machen, aber «mind» ist passiv. «Mind» kann abbilden, wenn mir jemand einen Schlag gibt, «mind» kann nicht selbst den Schlag geben. Der Geist ist Aktivität. Der Geist ist immer Tätigkeit. Der Geist ist schöpferisch. Der Geist ist das abso­lut Produktive. «Mind», Intellekt, ist das Abbild, das absolut Passive, dasjenige, was wir im späteren Leben in uns tragen, um die Welt zu ver­stehen. Würde der Intellekt, würde «mind» tätig sein, würden wir die Welt nicht verstehen können, denn «mind» muß passiv sein, damit die Welt durch ihn verstanden werden kann. Er würde fortwährend die Welt verändern, betasten, wenn er tätig wäre. Er ist das passive Bild des Geistes.

Und so müssen wir uns sagen: Wie wir vom Spiegelbild auf den Men­schen hinschauen müssen, wenn wir zur Realität kommen wollen, so müssen wir versuchen, wenn wir Geist und Seele der Wirklichkeit nach suchen wollen, von dem unproduktiven Passiven zu dem produktiven Aktiven zu kommen.

Das haben die Menschen gesucht, seit es eine Menschheitsentwicke­lung gibt. Und ich möchte heute von einigen Wegen dieses Suchens zu Ihnen sprechen, damit wir uns verständigen über dasjenige, was eigent­lich Geist und Seele bedeutet, wenn ich hier von ihnen spreche.

Den Geist nehmen wir als erwachsene Menschen von uns zunächst nur wahr in seinem Spiegelbild als Intellekt, als «mind», als Verstand, als Vernunft. Die Seele nehmen wir nur in ihren Äußerungen wahr, in ihren Offenbarungen. Wir stehen der Seele näher als dem Geiste, aber wir nehmen sie auch nicht in ihrer vollen inneren Aktivität wahr. Wir nehmen sie wahr in ihren Offenbarungen; den Geist nur im Bilde - Bild enthält nichts mehr von der Realität -, die Seele in ihren Offenba­rungen. Was wir erleben als Empfindung, als Antipathie, als Sympathie,

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was wir erleben als Wunsch, als Leidenschaft, das ruht im See­lischen; aber wir nehmen nicht dasjenige wahr, was Seele in uns ist.

Was ist Seele in uns? Nun, ich kann vielleicht hindeuten auf das­jenige, was Seele in uns ist, wenn ich unterscheide zwischen demjenigen, was wir selbst erleben, und demjenigen, was in uns gemacht wird, damit wir etwas erleben.

Wenn wir über einen weichen Erdboden gehen, bleiben die Spuren unserer Füße darinnen. Es kommt jemand, sieht die Spuren unserer Füße - wird der sagen: Da drunten unter der Erde, da sind gewisse Kräfte, die haben den Erdboden so geformt, daß er solche konkaven Erscheinungen annimmt? Niemand wird das sagen. Jedermann wird sagen: Da ist jemand darüber gegangen.

Die materialistische Seelenanschauung sagt: Ich finde Furchen im Gehirne, das Gehirn hat Eindrücke. - Der Erdboden hat auch Ein-drücke, wenn ich darüber gegangen bin! - Nun kommt die materia­listische Anschauung und sagt: Da drinnen im Gehirn sind Kräfte, die machen die Furchen. - Unrichtig! Die Seele macht die Furchen, wie ich sie mache auf dem Erdboden, und dadurch, daß Furchen drinnen sind, nehme ich erst das Seelische wahr. Ich nehme in der Seele ein Gefühl wahr. Die Seele ist zunächst im Verborgenen. Sie hat die Furchen in meinem Leibe gemacht. Wenn ich eine sehr grobe Furche mache, so tut es mir weh, es schmerzt. Ich nehme nicht dasjenige wahr, was ich da gemacht habe zunächst; das kann ich auch hinterher machen. Aber wenn ich auch nicht sehe, was ich mache, ich nehme den Schmerz wahr. So ritzt gewissermaßen die Seele einen Eindruck auf meinen Leib, ver­borgen. Die Wirkung nehme ich wahr in Leidenschaften, in Sympathie und so weiter, die Wirkung in der Offenbarung, was die Seele tut. Beim Geiste das Bild; bei der Seele die Offenbarung.

Wir stehen der Seele näher. Aber wir müssen daran festhalten, daß Geist oder Seele tiefer gesucht werden müssen als «mind» oder Intellekt oder Verstand oder Vernunft.

Das wird vielleicht etwas beitragen können zu dem Verständnis von Geist und Seele.

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Um den Begriff des Geistes und der Seele klarer noch zu machen, darf ich jetzt auf einiges Geschichtliche eingehen - ich werde in dieser Beziehung sehr häufig mißverstanden, und ich bitte, mich heute nicht mißzuverstehen -, um zu erläutern, nicht etwa um zu behaupten, daß wir es, um zu Geist, um zu Seele zu kommen, heute noch ebenso machen mussen, wie es in älteren Zeiten gemacht worden ist. Aber die heutige Methode, zu Geist und Seele zu kommen, wird leichter verstanden, wenn wir auf Geschichtliches eingehen.

Wir können es im 20. Jahrhundert gar nicht mehr so machen, wie es etwa vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden im alten Indien gemacht worden ist, um zum Geiste zu kommen. Wir können es auch nicht so machen, wie es vor der Tatsache des Mysteriums von Golgatha gemacht worden ist. Wir leben in der Entwickelung des Christentums. Aber wir können uns verständigen über Geist und Seele, wenn wir auf diese ältere Art zurückschauen, wenn wir namentlich wahrnehmen, wie ganz anders der Weg zu Geist und Seele für den spirituellen Men­schen ist als für den bloß intellektuellen Menschen.

Wenn wir heute aus dem allgemeinen Zeitbewußtsein heraus über uns selber zur Klarheit kommen wollen, was tun wir dann? Wir denken nach, wir betätigen unseren Intellekt. Auch wenn wir über die Natur zur Klarheit kommen wollen, was tun wir? Wir machen Experimente und betätigen an den Experimenten unseren Intellekt. Überall intel­lektuelle Tätigkeit. In alten Zeiten versuchte man ganz anders zu Geist und Seele zu kommen. Man versuchte - ich will zwei Beispiele aus vie­lem, was ich anführen könnte, herausheben - zu Geist und Seele zu kommen in uralten Zeiten, im Oriente, durch die sogenannte Joga­methode. Joga - es verursacht, wenn man den Namen ausspricht, heute bei sehr vielen Menschen ein leises Entsetzen, denn man kennt historisch eigentlich nur die späteren Jogamethoden, die zum großen Teil auf dem Egoismus der Menschen beruhen, die irgend etwas Machtvolles in der äußeren Welt haben wollen. Die älteren Jogamethoden, die eigentlich heute nur mehr gefunden werden können durch spirituelle Wissen­schaft, nicht durch äußere Wissenschaft, waren Wege, die der Mensch einschlug zum Geiste. Worauf beruhten sie? Sie beruhten darauf, daß der Mensch aus einem gewissen Instinkte heraus sich sagte: Durch das

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bloße Nachdenken können wir nicht zum Geiste kommen. Wir müssen et­was tun,was uns viel mehr eine Tätigkeit, eine Aktivität in uns selbst zeigt, als das bloße Nachdenken. Wir können irgendwo abseits von der Welt stehen, den Zuschauer spielen, das Denken geht in uns vor. Wir voll­bringen gar keine Veränderung in uns selber, die uns wahrnehmbar ist.

Der Jogi, der suchte einen viel realeren Vorgang, Prozeß, in sich, als wir heute suchen, wenn wir Geist kennenlernen wollen. Wenn wir mit unseren heutigen physiologischen Erkenntnissen uns fragen: Was geschieht dann, wenn wir intellektualisieren? - Nun, es geschieht etwas in unserem Nervensystem, in unserem Gehirn und demjenigen, was durch die Nerven zum Gehirn gehört im übrigen Organismus. Aber dasjenige, was da in den Nerven geschieht, es könnte niemals geschehen, wenn nicht eine viel wahrnehmbarere Tätigkeit sich mit den Vor­gängen unseres Gehirns vermischen würde. Unaufhörlich von der Ge­burt bis zum Tode atmen wir ein, halten den Atem, atmen wir aus. Wenn wir einatmen, geht die Atemluft in unseren ganzen Organismus über. Der Atemstoß wird durch den Rückenmarkskanal in das Gehirn getrieben. Wir atmen nicht nur mit der Lunge, wir atmen auch mit dem Gehirne. Fortwährend ist unser Gehirn in Bewegung. Der Atem, das Einatmen, Atemhalten, Ausatmen durchwellt und lebt in unserem Ge­hirn. Das geht - uns heute ganz unbewußt - vor sich. Der Jogi sagte:

Da geht etwas vor im Menschen, dessen will ich bewußt werden. So atmete er nicht in der gewöhnlichen Weise unbewußt, sondern er atmete abnorm, abnormal; er atmete anders ein, hielt den Atem anders, atmete anders aus. Dadurch wurde er sich des Atemprozesses bewußt. Und was uns ganz unbewußt bleibt, das verlief durchaus in seinem Bewußt­sein, indem er es erkannte, empfand. Und so empfand er allmählich, wie im Gehirne sich verband das Atmen mit demjenigen, was als die materielle Tätigkeit des Denkens, des Intellektualisierens zugrunde liegt. Er suchte diese Verbindung zwischen Denken und Atmen, und er empfand schließlich, wie der Gedanke, der für uns etwas Abstraktes ist, sich auf den Wellen des Atems durch den ganzen Leib bewegt. Da war der Gedanke nicht nur im Gehirn, nicht nur in der Lunge, nicht nur im Herzen, da war der Gedanke in jeder Fingerspitze. Da erlebte man, indem man den Atem real durch sich durchpulsen fühlte, wie der

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Geist schöpferisch ist durch den Atem im Menschen: «Und Gott blies dem Menschen den lebendigen Odem ein, und er ward eine Seele.» Nicht nur am Anfange blies er den Atem ein, sondern er bläst fort­während im Atmen ein. Und im Atmungsprozesse, nicht im Denken, nicht im intellektuellen Prozeß, werden wir Seele. Wir fühlen unser Wesen, indem wir den Gedanken auf den Wellen des Atems durch un­seren ganzen Leib pulsieren fühlen. Sehen Sie, da hatte man jetzt den Gedanken, den Geist, nicht mehr als etwas Intellektualistisches, als etwas Abstraktes abgesondert; da spürte man ihn, fühlte man ihn im ganzen Leibe; da fühlte man seinen Menschen als Geschöpf des Geistes. Sie sehen, man hatte den tätigen Geist.

Wir haben den passiven, nicht den aktiven Geist in der Intellek­tualität. Wir können heute, weil wir anders organisiert sind, diesen Jogaprozeß nicht mehr nachmachen, sollen es auch nicht tun. Denn, was bezweckte der Jogi? Er bezweckte, daß er fühlte, wie sich sein Denkvorgang mit dem Atmungsvorgang verknüpfte, und er seinen Menschen empfand in dem Atmungsvorgang, was er dann als Erkennt­nis hatte. Er verband den Gedanken inniger mit dem Menschen, als wir das heute tun. Aber unser menschlicher Fortschritt beruht darauf, daß wir den Gedanken selber viel mehr losgelöst haben, viel intellektua­listischer gemacht haben, als es damals der Fall war, als die Joga-methode blühte. Niemals hätte man mit einem solchen Denksystem, wie es die alten Inder ausgebildet hatten, als sie Jogi waren, die Ent­deckungen des Kopernikus, Galilei, des Faraday, des Darwin und so weiter machen können. Dazu brauchte man den Gedanken als bloßes Bild, als Intellektualität. Und unsere ganze Zivilisation beruht darauf, daß wir nicht mehr so sind wie diejenigen, die die Jogaphilosophie aus­gebildet haben. Das mißversteht man gewöhnlich, wenn ich die Dinge auseinandersetze. Man glaubt, ich will die Menschen wieder zurück­führen zur Jogaphilosophie. Keine Rede davon! Sondern ich will durch­aus die Dinge so nehmen, wie sie in dem Zeitalter des Kopernikus, Galilei, Faraday, genommen werden müssen. Wir müssen rechnen da­mit, daß unsere abendländische Zivilisation groß geworden ist durch die Intellektualität. Aber zugleich müssen wir anders empfinden als diejenigen, die im alten Indien empfunden haben, müssen auch anders

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empfinden als diejenigen, die heute Joga treiben wollen. Wir müssen heute ganz anders vorgehen, sogar geistiger, als man im alten Indien vorgegangen ist. Und weil es geistiger sein soll, und weil man heute den Geist nicht sehr liebt, so liebt man gerade die neuere Methode nicht. Es ist bequem heute, scheint wenigstens bequem, Jogaatmungen zu machen, um in die geistige Welt hinein den Weg zu finden. Das aber ist nicht der Weg, wodurch der moderne Mensch ins Geistige hineinkom­men soll. Nein, da muß der moderne Mensch erst einmal erlebt haben alles dasjenige, was im bloßen Intellektualismus unreal, als Bild wahr­genommen werden kann, da muß der Mensch einmal das ganze Leid durchgemacht haben, das darinnen besteht, daß man sich sagt: Indem ich denke, indem ich bloß intellektualistisch tätig bin an dem Experi­ment oder an den sonstigen Beobachtungen, lebe ich im Leeren, im bloßen Bilde. Ich habe mich vom Realen entfernt.

Dasjenige, was ich hier ausspreche, es erscheint gering; es ist groß in bezug auf das innere Erleben. Erlebt man einmal, daß alles Denken, das im Intellektuellen verläuft, irreal ist, bloßes Bild ist, dann erlebt man dasselbe, was man physisch erlebt als Ohnmacht, in der Seele. Ohnmacht gegenüber der Realität. Erkenntnis in Wirklichkeit geht nicht aus davon, daß man sich vornimmt: Ich kann denken, und kann daher über alle Dinge nachdenken; Erkenntnis geht aus davon, daß man sich sagt: Und wenn ich über alle Dinge nachdächte mit den Bild-gedanken, die ich habe, so wäre ich nichts anderes als ein ohnmächtiges Wesen. Der Jogi suchte seinen Menschen im Atem. Wir modernen Men­schen müssen unseren Menschen verlieren in einer Ohnmacht, die wir empfinden gegenüber dem Gedanken-Bild, dem Intellektualistischen. Dann müssen wir uns sagen können: Jetzt gehen wir nicht nach dem Inneren, wie der Jogi gegangen ist, nach dem Atemprozesse, jetzt gehen wir nach dem Äußeren, schauen uns jede Pflanze an, schauen uns jedes Tier an, schauen uns jeden Menschen an und leben mit das Äußere.

In meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?» habe ich beschrieben, wie man das macht, wie man die Pflanze nicht bloß von außen anschaut, sondern jeden ihrer Vorgänge mitver­folgt, so daß das Denken ganz aus der bloßen Bild-Natur heraus kommt und das reale Leben der Außenwelt mitmacht. Man versenkt

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sich in die Pflanze, so daß man fühlt, wie die Schwerkraft hinunter in der Wurzel nach der Erde geht, wie sich die Blütenkraft nach oben ent­faltet. Man erlebt mit das Blühen, das Fruchten. Man taucht ganz unter in die äußere Welt. Da, da wird man hingenommen von der äußeren Welt. Man wacht wieder auf wie aus einer Ohnmacht. Aber man bekommt jetzt nicht mehr abstrakte Gedanken, man bekommt Ima­ginationen. Man bekommt Bilder. Und in diesen Bildern, die man bekommt, sieht man vom Standpunkte des Materialismus aus keine Erkenntnis mehr. Man sagt: Erkenntnis muß in abstrakten, logischen Begriffen vor sich gehen. Ja, wenn aber die Welt nicht so ist, daß sie sich den abstrakten Begriffen der Logik ergibt! - Wenn die Welt ein Kunstwerk wäre, zum Beispiel, dann müßten wir sie künstlerisch auf­fassen, nicht logisch, dann wäre die Logik bloß da, damit wir uns disziplinierten. Aber von der Welt würden wir mit der Logik nichts verstehen.

So müssen wir untertauchen in die Dinge. Wo der Jogi in sich hin­eingegangen ist, gehen wir heraus, versuchen uns mit allen Dingen so zu verbinden, und erlangen dann dasselbe in der Tat, nur auf see­lischere, geistigere Art. Indem wir uns unsere Begriffe, Ideen, das­jenige, was bloße Intellektualität darstellt, mit Realität durchdrungen haben, spüren wir wiederum, wie der Geist in uns schöpferisch ist.

Dann können wir nachfühlen, was in dem Kinde real wirkt. Nicht das wirkt, was wir als «mind» in uns ausfuhrten . Das wurde nicht schöpferisch sein in dem ganz kleinen Kinde. Das würde nur dazu führen, uns zu verlieren. Aber dasjenige, wozu wir kommen auf die eben beschriebene schöpferische Art, ist das, was in dem Kinde wirkt, was die zweiten Zähne nachbildet den ersten Zähnen, und was mit dem 7. Jahre aufhört plastisch zu wirken.

Sehen Sie, Sie können nun sagen: Ja, aber der Lehrer kann doch nicht gleich ein hellsichtiger Mensch werden. Er kann doch nicht all diese Methoden so ausbilden! Wie kommen wir mit der Schule und dem Unterrichtswesen zurecht, wenn wir einen so komplizierten Weg vor­aussetzen, um in den Geist hineinzukommen?

Man braucht das nicht. Es können einige Menschen in der Welt sein, die in dieser Weise die höhere Erkenntnis ausbilden. Die anderen

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brauchen nur einen gesunden Verstand und eine gesunde Anschauung. Sie werden dasjenige, was der einzelne entdeckt, finden durch den gesunden Verstand und durch die gesunde Anschauung. So wie nicht jeder die Venusdurchgänge beobachten kann, sie sind ja auch viel zu selten sichtbar, die Astronomen können das gerade in den Zeiten, wo sie sichtbar sind, aber wäre es deshalb unsinnig, von den Venusdurch-gängen zu sprechen, weil sie nicht jeder beobachtet hat? Dasjenige, was beobachtet wird, wie beobachtet wird, kann eingesehen werden. So ist es auch bei der spirituellen Welt. Es ist nur ein wenig der heutige Egoismus, der immer gleich alles selber will.

Aber es gibt einen anderen Weg, um fruchtbar, um nützlich zu machen dasjenige, was spirituell ist. Ich möchte das wiederum durch ein Beispiel veranschaulichen. Nehmen wir an, beispielsweise, ich unter­richte ein Kind vielleicht vom 9., 10. Lebensjahre. Ich will dem Kinde die Unsterblichkeit beibringen, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Wenn ich noch so schöne philosophische Auseinandersetzungen mache, das Kind wird nichts begreifen zunächst. Es bleibt ganz unein­genommen von demjenigen, was ich ihm darbiete. Wenn ich aber jetzt zu ihm sage: Liebes Kind, schau dir an, wie der Schmetterling aus der Puppe herauskommt, wie er ausfliegt aus der Puppe, dann hast du ein Bild, das du anwenden kannst auf den Menschen. Schau dir den mensch­lichen Leib an, der ist wie die Schmetterlingspuppe. Und wie aus der Schmetterlingspuppe der Schmetterling ausfliegt, so fliegt die Seele, wenn der Tod kommt, aus dem Körper aus. Nur ist der Schmetterling sichtbar, die Seele ist unsichtbar.

Nun, ich will dieses Bild nur andeuten. Aber dieses Bild werde ich im weiteren ausführen vor dem Kinde. Ich kann zweierlei Erfahrungen machen, wenn ich das anwende. Ich kann einen Lehrer, eine Lehrerin finden, die setzen dem Kind dieses Bild auseinander, und das Kind hat gar nichts davon. Das Kind hat vielleicht ein sehr schönes Bild, aber für seine Seele, für dasjenige, was erreicht werden soll, hat es gar nichts. Ein anderer Lehrer oder eine andere Lehrerin setzen auch dieses Bild auseinander, vielleicht mit denselben Worten, nehmen wir an, und das Kind hat ungeheuer viel davon. Das Kind geht in seiner Seele ganz auf.

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Wo ist denn der Unterschied? Der Unterschied ist der, daß der erste Lehrer oder die erste Lehrerin furchtbar gescheit sind, unendlich ge­scheit. Deshalb sagen sie sich: Ja, ein gescheiter Mensch, der glaubt doch nicht daran, daß die Puppe und der Schmetterling ein Bild sind; das mache ich nur, weil das Kind dumm ist. Das Kind ist dumm, ich bin gescheit. Ich mache für das Kind ein Bild. Der gescheite Lehrer, der das dumme Kind neben sich hat und für das dumme Kind ein gescheites Bild gemacht hat, wird nicht verstanden von dem Kinde. Sie können sich verlassen darauf, er wird nicht verstanden! Da ist ein anderer Lehrer oder eine andere Lehrerin, die glauben selber an ihr Bild. Sie sagen sich: Die göttliche Weltordnung hat, damit wir verstehen können die Unsterblichkeit, dieses Bild selber in die Natur hineingesetzt. Das ist nicht etwa da, damit wir es erst erfinden können, sondern wir ent­decken dieses Bild. Die schöpferische Geistigkeit in der Natur schafft uns dieses Bild, damit wir in dem Bilde die Unsterblichkeit sehen kön­nen. Gott hat selber hingemalt vor uns dieses Bild. Wir glauben an dieses Bild, wie das Kind auch glauben soll. Und das Kind hat alles, was es braucht, bloß dadurch, daß wir selbst nicht sagen: Wir sind gescheit und das Kind ist dumm -, sondern daß wir sagen: Das Kind hat seinen gescheiten Geist durch die Geburt in die Welt gebracht. Das Kind ist gescheit. Der Geist ist nur noch nicht erweckt. Wenn wir ihn nicht erwecken können, sind wir die Dummen, nicht das Kind.

Wenn wir nur einmal den Gedanken haben können, daß das Kind eigentlich verborgen gescheit und wir offenbar dumm sind, und nun gerade die Aufgabe haben dem Kind gegenüber, von dem Kinde ler­nend, erst gescheit zu werden, dann werden wir Eindruck machen mit unserem Unterricht auf das Kind.

Und dann, wenn das der Fall ist, dann haben wir im ersten Beispiel durch den Lehrer, durch die Lehrerin, die sich gescheit fanden, das Wirken des Intellektes gesehen, und bei dem zweiten Beispiel das Wir­ken des Geistes, des Spirituellen, desjenigen, was innerlich lebendig ist, was sich mit den Dingen verbindet, und was auch wirken kann, wenn man keine hellseherische Anschauung von dem Geiste hat. Da ist der Geist der Tätige. Da tut man im Geiste, wenn man selber an sein Bild glaubt. Wenn man nicht daran glaubt, sondern aus lauter Gescheitheit

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und aus lauter Intellektualität das Bild formt, steht man mit Intellek­tualität und «mind» außerhalb der Wirklichkeit, hat man bloß ein Spiegelbild. Spiegelbilder wirken nicht, Spiegelbilder sind inaktiv. Spie­gelbilder sind bloß passiv. Der Geist ist produktiv, der Geist ist schöpfe-risch. Und wir müssen uns vor allen Dingen, um im Geiste zu tun, in das Schöpferische hineinfinden.

Und so kommen wir auf dem Wege des seelischen Arbeitens, indem wir uns in die Imagination selbst hineinarbeiten, dem Geist nah, kom­men wir allmählich in den Geist hinein, in dasjenige was das Spirituelle ist. Wir müssen nur erst die Ohnmacht des Intellektuellen empfinden, dann kommen wir in das Spirituelle hinein.

Die Zeit ist so vorgeschritten, daß dies heute wohl der Abschluß sein muß. Ich werde mir dann erlauben, morgen noch einen anderen Weg in den Geist hinein zu charakterisieren und dann in unseren Be­trachtungen fortschreiten. Es war durch die gestrige Aufforderung schon Veranlassung, diese Begriffe genauer zu erörtern. Ich bitte das aufzunehmen aus der Notwendigkeit heraus, damit wir uns verstehen können. Es wird nun sehr bald, wenn ich noch den anderen Weg, den der Askese gegenüber der Jogamethode erklärt habe, ein Ende sein des grausamen Spieles, und wir werden in der Tat in die Wege des Erzie­hungslebens dann untertauchen.

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DRITTER VORTRAG Oxford, 18. August 1922 Die spirituelle Grundlage der Erziehung (III)

Ich habe zu dem, was gestern über ältere Wege zur spirituellen Erkennt­nis zu sagen war, heute noch hinzuzufügen als ein weiteres Beispiel den Weg, der genommen worden ist durch die Askese im weitesten Sinne des Wortes. Ich komme dabei zu der Schilderung eines Weges, den wir in unserer heutigen Zeit noch weniger gehen können als den Weg, den ich gestern geschildert habe. In unserer Zeit, in unserer Zivili­sation sind auch andere Gesinnungen, andere Gewohnheiten unter den Menschen herrschend, als in denjenigen Zeiten, in denen man einmal eine höhere spirituelle Erkenntnis gesucht hat durch Askese. Und daher werden wir eben so, wie wir den Jogaweg heute durch etwas Geistigeres, Seelischeres ersetzen müssen, auch den Weg der Askese als moderne Menschen durch einen anderen zu ersetzen haben. Aber wir können uns leichter darüber verständigen, was mit dem modernen Wege in spirituelles Leben hinein gemeint ist, wenn wir unsere Begriffe heran-bilden an demjenigen, was eigentlich gewollt worden ist durch eine Methode, wie die der Askese war.

Askese besteht im wesentlichen in gewissen Übungen. Diese Übungen können sich allerdings auch auf Seelisches und Geistiges erstrecken. Ich will aber jetzt vor allen Dingen Rücksicht darauf nehmen, wie solche Übungen gemacht worden sind, um den Körper in einer gewissen Weise auszuschalten für gewisse Zeiten aus dem ganzen menschlichen Erleben. Und gerade durch Ausschaltung des Körpers ist ein Erleben in der spirituellen Welt hervorzurufen. Solche Übungen bestanden darinnen, daß der Körper in einer gewissen Weise trainiert wurde, daß er fähig gemacht wurde durch Leiden, durch Schmerzen, durch Abtötung, die er durchmachte, ertragen zu lernen Schmerzen, ohne gewissermaßen in der Seele allzu erregt zu werden, daß er ertragen lernte das physische Leiden, ohne mit der ganzen Seele auch unterzutauchen in dieses phy­sische Leiden. Durch diese Abtötung, durch dieses Anstreben einer

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gewissen Ertragsamkeit des menschlichen Körpers wurde darauf ge­rechnet, daß, wenn der Körper immer mehr und mehr gewissermaßen abgelähmt wurde, das Geistige in ihm aufstieg, sich frei machte und zu einer gewissen unmittelbaren Wahrnehmung, zu einem unmittel­baren Erleben es bringen konnte. Es ist nun einmal, trotzdem diese Methoden für heute nicht empfohlen werden, durchaus eine Erfahrung, daß in demselben Maße, in dem der menschliche Organismus als phy­sischer abgelähmt wird, er in demselben Maße dem Menschen gestattet, das geistig-seelische Wesen in sich selber aufzunehmen. Das Geistige wird - das ist einfach eine Tatsache - wahrnehmbar, wenn das Phy­sische in seiner Tätigkeit unterdrückt wird.

Ich möchte durch einen Vergleich mich klarmachen über dasjenige, was ich eigentlich sagen will. Betrachten wir einmal das menschliche Auge. Dieses menschliche Auge ist da, um für den Menschen ein Ver­mittler zu sein für die Lichtwahrnehmung. Wodurch allein kann das menschliche Auge das Licht dem Menschen wahrnehmbar machen? Da­durch - ich will mich jetzt etwas bildlich ausdrücken -, daß es selbst für sich nichts will. In dem Augenblicke, wo das Auge innerlich selber für sich etwas will, sagen wir, in dem Augenblicke, in dem die organische Tätigkeit, die Lebenstätigkeit im Auge selbst zu lebhaft wird, wenn also zum Beispiel ein Undurchsichtigwerden, eine Verhär­tung der Linse oder des Glaskörpers eintritt, wenn das Auge also aus seiner Selbstlosigkeit in die Selbstsucht hineinkommt, dann ist das Auge nicht mehr ein Diener der menschlichen Wesenheit. Das Auge muß keinen Anspruch darauf machen, für sich selbst etwas zu sein. Es ist das natürlich relativ gemeint, aber es muß ja alles, was ausgedrückt werden soll, in einer etwas absoluten Weise ausgedrückt werden. Das Leben macht es schon selbst zum Relativen. So können wir sagen: Das Auge verdankt seine Durchsichtigkeit für das Licht dem Umstande, daß es selber sich heraussondert aus der menschlichen Wesenheit, daß es selbstlos ist.

Wenn wir in die geistige Welt, in die spirituelle Welt hineinschauen wollen - dieses Schauen ist natürlich seelisch-geistig gemeint -, dann müssen wir gewissermaßen unseren ganzen Organismus zum Auge machen. Wir müssen jetzt nicht physisch, wie es beim Auge ist, aber

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seelisch-geistig unseren ganzen Organismus durchsichtig machen, see­lisch-geistig durchsichtig machen. Er darf nicht mehr ein Hindernis sein für unseren Verkehr mit der Welt.

Nun werde ich ganz gewiß nicht sagen, daß unser physischer Orga­nismus, so wie wir im Leben dastehen, etwa krank wäre, wie das Auge krank wäre, wenn es für sich selbst ein Leben beanspruchte. So wie wir im gewöhnlichen Leben drinnenstehen, so ist unser ganzer Organismus schon recht, so ist es schon ganz normal. Er muß undurchsichtig sein. Wir werden noch sehen in den weiteren Vorträgen, wie unser Organis­mus im gewöhnlichen Leben kein Auge sein kann, wie er undurch­sichtig sein muß. Wir ruhen mit unserem gewöhnlichen Seelenleben in unserem Organismus dadurch, daß er undurchsichtig ist, daß wir nicht immer, wenn wir herumschauen, die ganze geistige Welt des Kosmos vor uns haben. Also für das gewöhnliche Leben ist es schon richtig, ist es schon normal, daß unser Organismus undurchsichtig ist. Aber die geistige Welt kann man damit nicht erkennen, so wie man durch ein starkrankes Auge das Licht nicht erkennen kann. Und dadurch, daß unser Organismus abgetötet wird durch Leiden, durch Schmerzen, durch Überwindungen, über die er hinauskommt, wird er durchsichtig. Und dadurch eröffnet sich in der Tat die Möglichkeit, so wie für das Auge, wenn es in sich ganz durchhellt, sich die Möglichkeit eröffnet, die Lichtwelt um sich wahrzunehmen, so für den ganzen Organismus die Möglichkeit, die Geistwelt um sich herum wahrzunehmen, wenn wir den Organismus auf diese Weise durchsichtig machen.

Was ich eben geschildert habe, das ist dasjenige, was in älteren Zeiten, aus denen ja die wichtigsten religiösen Anschauungen stammen, die durch Traditionen in unsere Zeit gekommen sind, nicht durch eigenes Finden der gegenwärtigen Menschheit, zu jener körperlichen Askese geführt hat, die ich eben auch versuchte anschaulich zu machen.

Wir können heute diese Askese nicht nachmachen. In älteren Zeiten war es eine allgemeine Gesinnung der Menschen, wenn man nach Er­kenntnis strebte, wenn man hören wollte, wie es in übersinnlichen, in spirituellen Welten zuging, daß man sich wandte an einsame Men­schen, an solche, die sich absonderten im Leben. Das war allgemeiner Glaube, daß man nichts erfahren kann von den Menschen, die im

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Leben drinnenstehen, daß dasjenige, was gewußt werden soll von den geistigen Welten, nur in der Einsamkeit erworben werden kann, daß der Mensch ein anderer werden muß als der gewöhnliche Mensch, der Wissen, der Erkenntnis haben soll.

Wir würden heute nach unserer Lebensanschauung nicht mehr so denken können. Wir streben an, nur an denjenigen Menschen zu glau­ben, der im Leben auf seinen zwei Beinen stehen kann, seine Arme rühren kann für die anderen Menschen, der im Leben etwas wert ist, der arbeiten, der handeln kann, der weiß, wie es im Leben zugeht. Jene Einsamkeit, die in älteren Zeiten als die Vorbedingung des höheren Wissens angesehen wurde, die gilt uns heute nicht mehr als Anschauung. Wir brauchen heute, wenn wir an den Menschen glauben wollen, den tätigen Menschen vor uns, den Menschen, der sich nicht aus dem Leben heraus begibt, sondern der sich gerade in das Leben hinein begibt. Daher können wir auch unmöglich dieselbe Gesinnung entwickeln gegenüber der Erkenntnis, die einstmals zu dem Asketen gegangen ist, um von ihm zu erfahren, wie es in der göttlich-geistigen Welt zugeht.

Nun, aus diesen Gründen heraus müssen wir heute, ohne unseren Körper äußerlich durch Askese untauglich zu machen zur Tatkraft, aus dem Seelisch-Geistigen selbst heraus die Durchsichtigkeit anstreben. Das können wir. Wir können es dadurch, daß wir scharfe Begriffe, scharfe Ideen bekommen haben durch unsere jahrhundertealte natur-wissenschaftliche Entwickelung. Wir können unser Denken heran-schulen an dieser naturwissenschaftlichen Entwickelung. Dasjenige, was ich hier ausspreche, ist nicht gegen das Intellektuelle gerichtet. Das Intellektuelle soll überall die Basis sein, das scharfe Denken soll die Grundlage sein. Aber aufgebaut werden soll auf dieser Intellektualität, auf diesem scharfen Denken, dasjenige, was dann in die spirituelle Welt hineinführt.

Es ist heute außerordentlich leicht, zu verlangen, daß der Mensch klares Denken haben soll. Ich wende nichts ein gegen das klare Denken. Klares Denken ist in dem Zeitalter, das Jahrhunderte hinter sich hat seit der Tat des Kopernikus, des Galilei, klares Denken ist, ich möchte sagen, heute eine Selbstverständlichkeit. Schade nur, daß es nicht auch

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eine Selbstverständlichkeit für die weitesten Kreise schon geworden ist. Aber es ist im Grunde genommen leicht, klares Denken zu haben, wenn das Denken dies erreicht auf Kosten der Erfülltheit, des Inhalts-vollen des Denkens. Leere Gedanken können leicht klar sein. Aber es müssen unserer ganzen Entwickelung zugrunde gelegt werden, erfüllte klare Gedanken, inhaltsvolle klare Gedanken.

Nun, wir erreichen dasselbe zunächst, was der alte Asket durch Abtötung, Ablähmung des physischen Organismus erreicht hat, dadurch, daß wir unsere eigene seelische Entwickelung gewissermaßen in die Hand nehmen, daß wir zum Beispiel in einem bestimmten Zeitpunkte unseres Lebens uns fragen: Welche Gewohnheiten hast du? Welches sind deine besonderen Eigentümlichkeiten? Was hast du für Unarten? Was hast du für Sympathien, Antipathien? - Und nachdem man sich dies alles vollständig klar vor die Seele geschrieben hat, versucht man, zunächst in einem einfachen, vielleicht in einem sehr einfachen Punkte sich vorzustellen, wie man wäre, wenn man eine andere Art von Anti­pathie, eine andere Art von Sympathie, ein anderes Ingredienz des see­lischen Lebens entwickeln würde.

Man darf solche Dinge nicht leicht nehmen, denn es gehören manch­mal viele Jahre dazu, um so von innen heraus dasjenige zu tun, was sonst das Leben tut. Betrachten wir uns einmal ganz ehrlich. Wir wer­den uns sagen: So wie wir heute sind, waren wir vor 10 Jahren noch nicht. Der innere Gehalt der Seele, auch die innere Formation der Seele, sie sind ganz anders geworden. Aber was hat gemacht, daß es so ist? Das Leben. Ganz unbewußt haben wir uns dem Leben hingegeben. Wir haben uns hineingeworfen in den Strom des Lebens. Können wir nun einmal dasjenige, was sonst das Leben tut, selber machen, können wir hinschauen, möchte ich sagen, auf dasjenige, was wir in 10 Jahren werden sollen, und das vornehmen, vorsetzen, und dann mit eisernem Willen daran arbeiten, es wirklich dahin zu bringen. Fassen wir also das ganze Leben, das sonst groß ist, das an uns arbeitet, in die Kleinheit des eigenen Ichs zusammen, verstärken wir die Kraft so, die sonst aus­gebreitet ist wie in einem Lebensmeere, in dem Willen des eigenen Ich, bringen wir uns selber weiter, machen wir selber etwas aus uns, dann wird dasjenige von innen geleistet, was der alte Asket von außen

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leistete. Er machte den Körper schwach, damit der Wille und die Er­kenntnis stark aus dem schwachen Körper aufsteigen und der schwache Körper durchsichtig wurde für die geistige Welt. Wir müssen den Willen stark machen, stark machen die Denkkraft, damit sie stärker werden als der Körper, der seine Dinge weitermacht; dann zwingen wir den Körper, daß er für die Welt des Geistes durchsichtig wird. Wir machen gerade das Entgegengesetzte von demjenigen, was der alte Asket machte.

Sehen Sie, diese Dinge habe ich in meinem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» dargestellt. Man hat vielfach das­jenige, was etwas ganz anderes war, angesehen als alte Askese, so ange­sehen, als ob es eine alte Askese in einer neuen Form wäre. Wer genau liest, wird finden: Alles ist etwas ganz anderes, als diese alte Askese war. Aber man kann diese neue Askese, durch die man sich nicht aus dem Leben herauszieht und in die Einsiedelei versetzt, sondern durch die man gerade im vollen Leben stehenbleibt, nicht ausführen, ohne daß man über den Augenblick hinaus in die Zeit hineinschaut.

Bedenken Sie doch nur, man muß sich denken, wie man vielleicht sein will in 10 Jahren. Man muß also den ganzen Menschen in Be­tracht ziehen zwischen Geburt und Tod. Der Mensch lebt leicht nur im Augenblicke. Dasjenige, um was es sich handelt, ist: Leben lernen in der Zeit, in dem ganzen Lebenslauf. Dann wird die Welt des Geistes für uns durchsichtig, und wir sehen in der Tat, wenn unser Leib in dieser Weise durchsichtig wird, eine geistige Welt um uns herum.

Alles dasjenige, was zum Beispiel in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» steht, ist nur auf Grund solcher Erkenntnis geschildert, innerhalb welcher der menschliche Leib so durchsichtig ist, wie sonst das Auge durchsichtig ist für das Licht.

Nun werden Sie wieder sagen: Ja, aber man kann doch nicht jedem Lehrer zumuten, daß er nun zu solcher spirituellen Erkenntnis erst kommt, bevor er Erzieher, bevor er Unterrichter wird. Wiederum muß ich wie gestern in bezug auf die Joga sagen: Das ist gar nicht nötig. Das ist ja gerade all das, was uns das Kind im Physischen entgegenbringt als eine Botschaft aus der geistigen Welt heraus, was wir für die höhere Er­kenntnis erst suchen müssen. So daß der Lehrer, wenn er die richtigen

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Instinkte hat, hineinwächst in eine spirituelle Behandlung des Kindes. Aber unser intellektuelles Zeitalter ist vielfach abgekommen von einer solchen spirituellen Behandlung, und behandelt alles intellektuell. Und so sind wir heute dazu gekommen, in der Erziehung uns zu sagen: Du sollst so erziehen, daß das Kind auf seiner Stufe alles gleich versteht. -Ja, da kommen wir sehr leicht zur Trivialität, die im Augenblicke der Erziehung außerordentlich bequem sein kann. Wir erreichen im Augen­blicke sehr viel, wenn wir dem Kinde möglichst alles trivial beibringen, so daß es für sein Verständnis zugerichtet ist. Aber derjenige, der so denkt aus der Intellektualität heraus, der rechnet nicht mit dem ganzen Lebenslauf des Menschen, der rechnet nicht damit, was aus einer Empfin­dung wird, zu der ich das Kind anrege, wenn das Kind ein älterer Mann, eine ältere Frau oder ein Greis geworden ist. Der rechnet nicht mit dem Leben, der rechnet zum Beispiel mit folgendem nicht.

Nehmen wir an: ich habe klar in mir die Erkenntnis, daß zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife des Kindes vorzugsweise auf Autorität hin zu bauen ist, daß es Beispiele braucht, damit es an das Beispiel glaubt; dann bringe ich dem Kinde etwas bei, das es mir glaubt, weil ich für es der Vermittler der göttlich-geistigen Welt bin. Es glaubt mir. Es nimmt die Sache auf, versteht es noch nicht. Wir ver­stehen ja so vieles nicht, was wir unbewußt im kindlichen Lebensalter aufnahmen. Wenn wir bloß das aufnehmen würden im kindlichen Lebensalter, was wir verstehen, wir würden sehr wenig für das spätere Leben haben. Und lean Paul, der deutsche Dichter und Denker, hätte nicht sagen können, daß man in den drei ersten Lebensjahren mehr er­wirbt in bezug auf das menschliche Leben, als in den drei akademischen Jahren.

Aber man sehe einmal hin, was es heißt, wenn ich, sagen wir, in meinem 35. Jahre aus irgendeiner Lebenssituation heraus das Ge­fühl bekomme: jetzt steigt in dir etwas auf, das hast du von deinem Er­zieher früher gehört. Du warst vielleicht erst 8, 9 Jahre alt; verstanden hast du nichts davon. Aber er war dir eine verehrungswürdige Persön­lichkeit. Du hast ihm geglaubt. Es hat sich einverleibt deiner Seele, deinem Gedächtnisse. Jetzt steigt es auf. Dem Leben gegenüber gewinnt es jetzt Verständnis. Du siehst das ein.

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Wer so aus dem ganzen tiefen Schoße seines Seelenlebens im späteren Leben etwas heraufholen kann, was er erst dann versteht, für den ist das ein Quell von Lebenskraft. Das durchrieselt ihn immer mit Lebens­kraft. Wenn man also etwas heraufkommen spürt in der Seele, das man früher aufgenommen hat aus Verehrung, aus Autorität, und jetzt erst versteht, so sind das diejenigen Dinge, die durchaus uns darauf aufmerk­sam machen, daß, wenn wir richtig erziehen wollen, wir nicht mit dem Augenblicke rechnen sollen, sondern mit dem ganzen Leben. Und dar­auf haben wir abzuzielen mit alledem, was wir dem Kinde beizubringen haben.

Es ist mir gerade gesagt worden, daß gestern Anstoß genommen wor­den ist an dem Bilde, um dem Kind beizubringen einen Begriff dafür, wie der Mensch der Unsterblichkeit teilhaftig werden kann. Ich habe nicht gesagt der «Ewigkeit», sondern der «Unsterblichkeit» teilhaftig werden kann. Ich sagte: es ergibt sich für die unmittelbare Anschauung das Bild des aus der Puppe ausfliegenden Schmetterlings. Dieses Bild sollte nicht mehr veranschaulichen als dasjenige, was dann hinterher nachgefügt worden ist als das Herauskommen der Seele aus dem phy­sischen Leibe.

Ein Einwand dagegen ist dasjenige, was mit diesem Bilde schon aus der Welt geschafft ist; denn dieses Bild ist eben gerade gesagt worden, um jenem Einwand zu begegnen, daß das Auskriechen des Schmetter­lings nicht ein richtiger Begriff von der Unsterblichkeit ist. Es ist natür­lich im logischen Sinne kein richtiger Begriff. Aber es handelt sich eben darum, was für einen Begriff wir dem Kinde beibringen sollen, was für ein Bild wir in die kindliche Seele versetzen wollen, um es nicht zu früh zur Logik zu bringen. Aus dem, was da als Bild, sagen wir, vom 8., 9. Jahre - denn von diesem Jahre haben wir gesprochen, nicht etwa, daß man auf diese Weise dem Philosophen etwas beibringt -, an das Kind herangebracht wird, daraus wächst zunächst dasjenige, was eben der richtige Begriff für Unsterblichkeit ist.

Also auf das Was kommt es dabei an, auf das lebensvolle Erfassen des Daseins. Das ist dasjenige, was in unserer intellektualistischen Zeit so ungeheuer schwer zu begreifen ist. Es ist ja ganz selbstverständlich, daß wir dem Kinde anderes beibringen müssen als dasjenige, was dann

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im späteren Lebensalter daraus wird, sonst wäre es unrichtig, das Kind als ungeschickt, als zappelig zu charakterisieren, was es doch ist, wenn wir nur charakterisieren wollten den erwachsenen Menschen. Für den­jenigen, der auf das Leben schaut, gibt es nicht nur kleine und erwach­sene Kinder, sondern kindliche und erwachsene Vorstellungen und Begriffe. Und auf dieses Leben, nicht auf dieses schon Erwachsensein, muß man eben hinschauen, wenn man ein wirklicher Erzieher und Unterrichter sein und werden will.

Es erscheint mir als ein günstiges Schicksal, daß mir die Leitung der von Emil Molt in Stuttgart begründeten Waldorfschule erst im Jahre 1919, als diese Schule begründet worden ist, zufiel. Denn, obwohl ich mich vorher viel mit Erziehung und Unterricht beruflich abgegeben hatte, hätte ich doch meinen müssen, daß eine so große erzieherische und unterrichtliche Aufgabe, wie sie mir durch die Waldorfschule ge­worden ist, vorher sich hineingestellt hätte in ein Leben, das nicht in gleicher Weise zu bewältigen gewesen wäre, wie ich glaube - natürlich relativ ist das gemeint, bis zu einem gewissen Grade -, daß wir als Lehrerkollegium der Stuttgarter Waldorfschule diese Aufgabe bewäl­tigen können. Und dies aus dem Grunde, weil ich ja vorher nicht würde gewagt haben, ein Lehrerkollegium so heranzubilden, daß es in dem Grade hätte aus Menschenkennern, das heißt dann aber auch Kindes­kennern, bestehen können, wie das in diesen Jahren dann der Fall war. Denn alle wirkliche Pädagogik, alle wirkliche Didaktik muß eben, wie ich schon sagte, auf Menschenkenntnis beruhen. Dazu muß man sich aber erst die Möglichkeit verschaffen, in das Wesen des Menschen sachgemäß einzudringen. Und in bezug auf dieses Eindringen in das Wesen des Menschen gingen mir - wenn ich jetzt von diesem Persön­lichen nur andeutungsweise sprechen darf - die ersten Anschauungen auf vor etwa 35 Jahren.

Es waren spirituelle Anschauungen über das Wesen des Menschen, über die Entwickelung des Menschen. Spirituelle Anschauungen, sage ich, nicht intellektualistische. Aber mit spirituellen Wahrheiten verhält es sich anders im Leben, als mit intellektualistischen. Was man intel­lektualistisch durchschaut, wie man sagt, «bewiesen» hat, das kann man

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auch Menschen mitteilen, denn die Sache ist fertig, wenn die Logik fertig ist. Spirituelle Wahrheiten sind nicht fertig, wenn die Logik fertig ist. Spirituelle Wahrheiten sind solche, die mit den Menschen erst durch das Leben gehen müssen, um voll ausgebildet zu werden. Und so würde ich denn auch nie gewagt haben, gewisse Wahrheiten über das Wesen des Menschen, wie sie mir geworden sind vor 35 Jahren, aus­zusprechen. Ich habe erst gewagt, diese Dinge auszusprechen in meinem Buche «Von Seelenrätseln» vor wenigen Jahren. Mehr als 30 Jahre lagen zwischen der ersten Konzeption und dem Aussprechen der Dinge vor der Welt. Warum? Aus dem Grunde, weil man solche Wahrheiten erst in verschiedenen Lebensaltern angeschaut haben muß, weil sie mit einem erst durch die verschiedenen Lebensalter hindurchgegangen sein müssen. Was man als ein junger Mensch mit 23 oder 24 Jahren kon­zipiert an spirituellen Wahrheiten, das erlebt sich wiederum ganz an­ders mit 35 bis 36 Jahren, mit 45, 46 Jahren. Und ich erwähne eben nur eine Tatsache - ich wagte dasjenige, was Richtlinien sind über Menschenerkenntnis, erst, als ich die Fünfzigerjahre überschritten hatte, in einem Buche vor der Welt auszusprechen. Das aber auch konnte ich jetzt erst einem Lehrerkollegium gegenüber aussprechen, damit es das Elementare ist, das die Lehrer dann innehaben können, um es an jedem einzelnen Kinde anzuwenden.

Und so darf ich sagen, daß, als mein kleines Bücheichen erschien:

«Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissen­schaft», da glaubte ich eben auch so zu sprechen über Erziehung, wie derjenige spricht, der eben mit manchem in dem heutigen Erziehungs­wesen nicht einverstanden ist, der das oder jenes vertieft wissen will und so weiter. Aber ich hätte damals, als ich dieses Büchelchen schrieb, noch nicht übernehmen können so etwas wie die Aufgabe der Leitung der Waldorfschule, denn dazu war vor allen Dingen ein Lehrerkol­legium nötig mit Menschenerkenntnis, die angeregt ist aus der spiri­tuellen Welt heraus. Diese Menschenerkenntnis, sie ist heute außer­ordentlich schwer zu erringen. Wir erringen heute verhältnismäßig leicht Naturerkenntnis; wir verschaffen uns verhältnismäßig leicht eine Anschauung davon, welches das Schlußglied der organischen Ent­wickelung ist. Wir fangen unten an bei den einfachsten Lebewesen,

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machen uns klar, wie sich das entwickelt hat bis herauf zum Menschen. Da steht der Mensch als Schlußglied da. Aber wir wissen nur, wie der Mensch als Schlußglied der organischen Schöpfung dasteht. Wir schauen nicht in den Menschen selber hinein. Wir schauen nicht in sein Wesen hinein. Wir wissen nur, inwiefern der Mensch das höchste Tier ist, aber wir wissen nicht, was der Mensch eigentlich ist, wenn wir uns Naturerkenntnis erwerben, die so große Vollkommenheit erreicht hat, und gegen die hier nicht das Geringste eingewendet werden soll, die im Gegenteil voll bewundert werden soll. Aber unser Leben ist von dieser Naturerkenntnis durchdrungen. Zum Erziehen aber braucht man Men­schenerkenntnis, und zwar praktische Menschenerkenntnis. Menschen-erkenntnis, die gegenüber jedem einzelnen Kinde individuell wirkt. Dazu muß man vor allen Dingen Menschenerkenntnis im allgemeinen haben.

Nun möchte ich heute nur auf ein paar Richtlinien hinweisen, die sich mir ergeben haben vor mehr als 30 Jahren, und die zur Grundlage gemacht worden sind für das eigene Studium der Waldorf-Lehrer­schaft. Da handelt es sich doch darum, daß wir gerade in dem Lebens­alter, in dem wir die Kinder in die Volksschule hereinbekommen, das seelische Leben der Kinder vor uns haben. Ich werde in den nächsten Tagen auch über die Erziehung ganz kleiner Kinder zu sprechen haben. Aber so viel Schmerz es mir verursacht, daß wir noch keine Klein­kinderschule haben können, die der Waldorfschule vorausgeht, daß wir die Kinder nehmen müssen im 6., 7. Jahre - wir können es eben nicht, weil wir dazu kein Geld haben. Aber das Idealist natürlich, die Kinder so früh als möglich in die Erziehung hereinzubekommen.

Wenn wir die Kinder in die Volksschule, in die Elementarschule hinein bekommen, haben wir sie als Seelen vor uns, das heißt, das Wesentlichste ihrer physischen Erziehung ist bis zum Zahnwechsel ge­leistet oder auch nicht geleistet, je nachdem die Instinkte der Eltern und Erzieher das verstanden haben. So daß wir also sagen können: das Wesentlichste der physischen Erziehung, die ja später fortgesetzt wer­den wird - wir werden es schon sehen, indem ich die einzelnen Phasen der Erziehung schildern werde -, das Wesentlichste aber, die Grund­lage, ist bis zum Zahnwechsel gegeben. Dann haben wir es mit dem

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Kinde als Seele zu tun, und wir haben seine Seelenentwickelung so zu leiten, daß die physische Entwickelung daran stark, kräftig wird.

Und wenn das Kind über die Geschlechtsreife schreitet, dann schrei­tet es in das Zeitalter hinein, wo man nicht mehr sagen darf, «Kind», wo also die jungen Herren und die jungen Damen nun zur freien Hand­habe ihres Geistes kommen. So schreitet der Mensch vom Leiblichen durch das Seelische in das Geistige hinein.

Aber das Geistige, wir werden sehen, kann man eigentlich nicht erziehen. Das muß man in Freiheit in die Welt hinaus entlassen. Gei­stiges kann der Mensch nur vom Leben lernen. Bei dem Kinde der Ele­mentarschule haben wir es zu tun mit der Seele des Kindes. Aber Seele, seelischer Inhalt äußert sich, ich möchte sagen, in groben Linien im Denken, im Fühlen, im Wollen. Und versteht man aus dem Fundamente heraus, wie in dem ganzen Menschen Denken, Fühlen und Wollen als Seelenleben drinnen ist, so bildet das die Grundlage für die ganze Men­schenerziehung.

Gewiß, das Einmaleins ist noch nicht die Mathematik, aber man muß das Einmaleins zuerst kennen, dann kann man hinaufkommen zu der Differential- und Integralrechnung. In der Erziehung ist es ein anderes - ich sage nicht, daß ich mit demjenigen, was ich nun ausein­andersetzen werde, eine ungeheuer hohe Wissenschaft charakterisiere, sondern die Grundlage charakterisiere ich. Die hohe Wissenschaft, die kann nun nicht so aufgebaut werden, wie die Differential- und Inte­gralrechnung aus der elementaren Mathematik, sondern die muß auf­gebaut werden aus der praktischen Handhabung dessen, was der Lehrer oder Erzieher in der Schule mit diesen einfachen elementaren Richt­linien tut.

Wenn man gewöhnlich vom menschlichen Seelenleben spricht, so sagt man sich heute in diesem materialistischen Zeitalter, wenn man überhaupt eine Seele zugibt - man hat ja auch schon gesprochen von einer Psychologie, einer Seelenkunde ohne Seele -, aber wenn man überhaupt eine Seele noch zugibt, so sagt man: Nun, die Seele ist eben etwas, was man innerlich seelisch erfährt, und das hängt - auf Philo­sophisches will ich jetzt nicht eingehen - mit dem ganzen menschlichen Leibe in irgendeiner Weise zusammen. Ja, wenn man dann in unserer so

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ausgezeichnet ausgebildeten Psychologie sich umsieht, so findet man, daß vor allen Dingen das seelische Leben, Denken, Fühlen, Wollen, bezogen wird heute auf das Nervensystem des Menschen in weitestem Umfange. Nervenleben ist dasjenige, was körperlich das Seelenleben zur Offenbarung bringt, was als Körperliches zusammenhängt mit dem seelischen Leben.

Das ist es eben, was sich mir vor 35 Jahren als unrichtig ergeben hat, als unrichtig insofern, als von unserem seelischen Leben des erwach­senen Menschen - ich betone das ausdrücklich, denn ich werde das Kind nicht betrachten können, ohne daß wir erst den erwachsenen Men­schen verstehen -, als von unserem Seelenleben beim erwachsenen Men­schen nur das Denken, das Vorstellen mit dem Nervensystem unmittel­bar zusammenhängt. Das Nervenleben hat nur zu tun mit der Vor­stellung.

Das Fühlen hängt nicht unmittelbar mit dem Nervensystem zu­sammen, sondern mit dem, was man nennen kann das rhythmische System des Menschen, Rhythmus, Atmungsrhythmus, Blutzirkulations-rhythmus in ihrer wunderbaren Relation. Natürlich sind die Zahlen nur approximativ; sie sind so, daß sie sich bei jedem Menschen indivi­dualisieren, aber im ganzen ist beim erwachsenen Menschen die Sache so, daß er viermal so viele Pulsschläge hat als Atemzüge. Dieses inner­lich aufeinander Bezogensein von Atmungsrhythmus und Pulsrhyth­mus, und dieses wiederum auf das weiter ausgedehnte rhythmische Leben des Menschen Bezogensein, das macht das Rhythmische im Men­schen aus, die zweite Natur gegenüber der des Hauptes, der Nerven-natur. Das rhythmische System, es dehnt sich auch aus über jenen Rhythmus, den wir erleben, indem wir schlafen und wachen. Das ist auch ein Lebensrhythmus, den wir sehr oftmals im heutigen Leben zu einem Unrhythmus machen, aber es ist auch ein Rhythmus. Und viele solche Rhythmen sind noch da im menschlichen Leben. Das mensch­liche Leben ist nicht nur auf dasjenige aufgebaut, was Nervenleben ist, es ist auch auf dieses rhythmische Leben aufgebaut. Und unmittelbar so, wie mit dem Nervenleben das Denkvermögen, die Denkkraft, zusam­menhängt, so hängt unmittelbar mit diesem rhythmischen System das Fühlen zusammen.

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Es ist nicht so, daß das Fühlen sich auch direkt im Nervenleben auslebt, sondern das Fühlen lebt sich direkt im rhythmischen System aus. Und wenn wir anfangen vorzustellen unser eigenes rhythmisches System, wenn wir vorstellen unsere Gefühle, dann nehmen wir als Vor­stellungen durch die Nerven unsere Gefühle wahr, wie wir äußerlich das Licht, die Farben wahrnehmen. Es ist also indirekt, daß das Fühlen mit dem Nervenleben zusammenhängt. Direkt hängt es mit dem rhyth­mischen Leben zusammen, und man versteht einfach den Menschen nicht, wenn man nicht weiß, wie der Mensch atmet, wie die Atmung im Verhältnis steht zur Blutzirkulation, und wie sich dieser ganze Rhythmus ausdrückt im Menschen, wenn er als Kind leicht errötet, leicht blaß ist, was alles mit dem rhythmischen Leben zusammenhängt, was sich wiederum absetzt in den kindlichen Leidenschaften, in den kindlichen Empfindungen und Liebegefühlen. Wenn man das nicht weiß, was da unmittelbar in dem rhythmischen Leben lebt, und was nur hinaufprojiziert wird ins Nervenleben und so zur Vorstellung wird, dann versteht man den Menschen nicht. Man versteht den Menschen nicht, wenn man sagt: Seelenleben hängt zusammen mit Nervenleben; denn vom Seelenleben hängt nur das Denkleben mit dem Nervenleben zusammen.

Dasjenige, was ich hier sage, sage ich aus der unmittelbaren An­schauung, wie sie sich ergibt für die geistige Wahrnehmung. Für diese geistige Anschauung gibt es nicht in demselben Sinne Beweise, wie für das rein intellektualistische Denken. Aber jeder, der unbefangen auf­nimmt die Anschauung, kann sie auch nachprüfen mit seinem gesunden Menschenverstand, und vor allen Dingen mit demjenigen, was die äußere Wissenschaft über diese Dinge sagt.

Ich kann durchaus hinzufügen zu dem, was ich schon gesagt habe:

ein großer Teil der Arbeit, der mir oblag in den 35 Jahren, in denen ich zu verifizieren hatte die ursprüngliche Konzeption über diese Glie­derung der Menschennatur, wie ich sie jetzt vortrage, ein großer Teil der Zeit war Arbeit, nachzusehen auf allen Gebieten der Physiologie, der Naturwissenschaft sonst, der Biologie, ob die Dinge auch äußerlich naturwissenschaftlich verifiziert werden können. Ich würde das heute nicht vortragen, wenn ich diese Handhabe nicht hätte. Und es kann

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durchaus darauf hingewiesen werden, daß manches von dem, was ich sage, auch naturwissenschaftlich mit den heutigen Dingen schon nach­zuweisen ist.

Dann haben wir als drittes dem Denkleben und dem Gefühlsleben gegenüber das Willensleben. Und dieses Willensleben hängt wiederum nicht direkt mit dem Nervensystem zusammen, sondern dieses Willens-leben hängt direkt mit dem menschlichen Stoffwechsel und mit den menschlichen Bewegungen zusammen. Stoffwechsel ist sehr innig ge­bunden an die Bewegung. Beachten Sie all das, was aus dem Stoff­wechsel eines Menschen wird, der sich nicht richtig bewegt für sein Gliedmaßensystem. Das Bewegungssystem und das Stoffwechselsystem führe ich an als das dritte Glied der menschlichen Organisation. Damit hängt unmittelbar das Willensleben zusammen.

Jede Willensentfaltung im Menschen ist begleitet von einer beson­deren Form der Stoffwechselvorgänge. Es ist viel unmittelbarer an den Stoffwechsel der Wille gebunden als etwa das Denken. Natürlich muß der Mensch einen gesunden Stoffwechsel haben, wenn er gesund denken soll. Aber unmittelbar ist das Denken an eine ganz andere Tätigkeit im Nervensystem gebunden, als die Stoffwechseltätigkeit ist, während der Wille des Menschen unmittelbar an den Stoffwechsel gebunden ist. Und dieses Gebundensein an den Stoffwechsel, das ist wiederum dasjenige, was man kennen muß. Wenn wir nun Vorstellungen von unserem eigenen Willen aufnehmen, wenn wir denken über den Willen, dann projiziert sich die Stoffwechseltätigkeit ins Nervensystem hinein. Erst mittelbar, indirekt, wirkt Wille im Nervensystem. Zur Wahrnehmung unserer eigenen Willenstätigkeit ist dasjenige, was sich im Nerven­system in bezug auf den Willen entwickelt.

Und so bekommen wir, wenn wir den Menschen wirklich durch­schauen, die Beziehungen zwischen dem Seelischen und dem Physischen des Menschen. Denktätigkeit im Seelischen offenbart sich im Phy­sischen als Nerventätigkeit; Fühlenswesen in der Seele offenbart sich im Physischen im Rhythmus des Atmungssystems, des Blutsystems, und zwar direkt, nicht indirekt auf dem Umwege des Nervensystems, durch das Nervensystem. Willenstätigkeit offenbart sich in der physischen Menschennatur in einem feinen Stoffwechsel. Es ist wesentlich, die

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feinen Stoffwechselprozesse zu kennen, die immer vor sich gehen als eine Art von Verbrennungsprozeß im Menschen, wenn Willenstätig­keit sich entwickelt.

Hat man diese Begriffe, die ich jetzt nur in einigen Richtlinien an­deuten konnte - sie werden durch ihre Anwendung, die sich uns in den nächsten Tagen ergeben wird, in allen Einzelheiten klar werden -, hat man diese elementaren Richtlinien, dann öffnet sich einem das Auge für alles dasjenige, was einem auch in der kindlichen Natur entgegen­tritt. Denn in der kindlichen Natur ist es noch nicht so. Zum Beispiel, das Kind ist ganz Sinnesorgan, eigentlich ganz Kopf, wie ich schon auseinandergesetzt habe.

Insbesondere ist es für eine Anschauung der spirituellen Erkenntnis interessant zu sehen, wie das Kind anders schmeckt als der Erwachsene. Der Erwachsene, indem er das Schmecken schon in die Vorstellung einbezogen hat, er schmeckt auf der Zunge und gibt sich dann Auf­schluß darüber, wie der Geschmack ist. Das Kind - in den allerersten Lebenswochen namentlich - schmeckt mit dem ganzen Körper. Das Geschmacksorgan geht durch den ganzen Organismus. Es schmeckt mit dem Magen, es schmeckt noch, wenn der Nahrungssaft von den Lymph­gefäßen aufgenommen wird und in den ganzen Organismus übergeht. Das Kind ist ganz durchdrungen von Schmecken, wenn es an der Mut­terbrust liegt. Das ist dasjenige, was uns darauf hinweist, wie, ich möchte sagen, das Kind durchleuchtet und durchglänzt wird von dem Schmecken, von einem Seelischen, das wir später nicht mehr im ganzen Leibe noch haben, das wir später nur im Kopfe noch haben.

Und so lernen wir das kleine Kind, so lernen wir auch das größere Kind anschauen, wenn wir wissen, das eine Kind errötet leichter bei dem oder jenem, das andere wird blaß bei dem oder jenem, das eine Kind gerät leicht in eine gewisse Emotion hinein, bewegt seine Glieder leicht; das eine tritt stark auf, das andre trippelt fast nur und so weiter. Wenn wir diese Grundlinien haben, daß wir wissen können, wo irgend etwas sitzt, ob im Stoffwechselsystem, indem es seelisch im Wollen zum Ausdrucke kommt, ob im rhythmischen System, indem es seelisch im Fühlen zum Ausdrucke kommt, oder im Nervensystem, indem es see­lisch im Denken zum Ausdrucke kommt, dann lernen wir das Kind

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beobachten, dann wissen wir erst, wohin wir die Augen zu richten haben.

Sie werden es alle wissen, daß es Leute gibt, die untersuchen gewisse Dinge mit dem Mikroskop. Sie sehen wunderbare Dinge unter dem Mikroskop; aber es gibt auch andere Leute, die noch nicht verstehen, durch das Mikroskop zu schauen; die schauen hinein, wenn sie es auch richten, sie sehen gar nichts. Man muß erst lernen zu sehen, indem man erst das Instrument handhaben muß, durch das man sieht. Dann, wenn man gelernt hat durch das Mikroskop zu sehen, dann sieht man auch das Entsprechende. Man sieht nichts an dem Menschen, wenn man nicht gelernt hat, richtig die geistigen, die seelischen Augen einzustellen nach demjenigen, das dem Denken, nach demjenigen, das dem Fühlen, nach demjenigen, das dem Wollen entspricht. Augenorientierung, das ist es, was auf diese Weise hervorgerufen werden sollte bei der Lehrerschaft der Waldorfschule. Denn erst müssen die Lehrer wissen, wie es sich mit den Kindern verhält, dann können sie die richtige Gesinnung ent­wickeln, und aus der richtigen Gesinnung heraus, kann dann erst das­jenige kommen, was richtiger Unterricht ist. - Ich mußte dieses von der Dreigliederung des Menschen vorausschicken, damit wir uns eben über die einzelnen tatsächlichen Erziehungsmaßnahmen und Erziehungs­methoden besser verständigen können.

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VIERTER VORTRAG Oxford, 19. August 1922 Die Erziehung des kleinen Kindes und die Grundstimmung des Erziehers

Es könnte scheinen, als ob diejenige Erziehungskunst, von der hier gesprochen werden soll, aus dem Praktischen des Lebens herausführen wolle in ein abgelegenes, bloß spirituelles Gebiet, als ob die Entwicke­lung des Menschen zu sehr nach der spirituellen Seite hin verlegt werden sollte. Das könnte so scheinen nach den Auseinandersetzungen, die ich bisher gemacht habe, und die ja über die spirituelle Grundlage dessen handeln mußten, was der Erzieher sich als Erkenntnisgrundlage an­eignen sollte. Aber das ist nur scheinbar. Denn in Wahrheit strebt gerade diejenige Erziehungskunst, welche durch die hier vertretene Weltan­schauung erzielt werden soll, nach den allerpraktischsten Lebenszielen. Warum wurde zuerst hier über das Spirituelle im Menschen gesprochen? Weil bei dieser Anschauung alles Sprechen über das Spirituelle darauf abzielt, in erster Linie die Frage zu beantworten: Wie entwickelt man im kindlichen, im jugendlichen Leben den menschlichen physischen Organismus durch die bewußte richtige Behandlung aus einer spiri­tuellen Grundlage heraus?

Zunächst könnte es sogar als ein starker Widerspruch erscheinen, daß eine auf das Spirituelle gerichtete Weltanschauung in bezug auf die Erziehungskunst zu allererst auf die Entwickelung des physischen Orga­nismus den größten Wert legt. Aber man wird diesen Widerspruch in dem Grade gelöst finden, als man auf das ein Augenmerk lenken wird, was hier weiter in der Durchführung des Erziehungsthemas in den nächsten Darstellungen zu sagen sein wird. Durch diese Durchführung wird der Widerspruch leichter hinwegfallen als durch formelhafte Sätze, die hier an dieser Stelle gegeben werden könnten. Vorläufig soll nur bemerkt werden, daß man eigentlich, wenn man in der Gegenwart über Erziehungsfragen spricht, in einer sehr merkwürdigen Lage ist. Denn, findet man viel zu reformieren im Erziehungswesen, so sagt man

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ja doch eigentlich, daß man mit seiner eigenen Erziehung nicht recht einverstanden ist. Man behauptet im Grunde, daß man sich selbst außerordentlich schlecht erzogen finde. Und nun soll man trotz dieser schlechten Erziehung, die man sich selber zuschreibt, an der man so viel kritisiert, ganz gut wissen, wie man richtig erzieht! Das ist das erste, was gegenwärtig einen Widerspruch in alles reformatorische Sprechen über Erziehungskunst hineinträgt.

Das zweite ist etwas, was einen, wenn man über Erziehungskunst spricht, immer, möchte ich sagen, mit einem leisen Schamgefühl erfüllt. Denn man weiß sich ja, indem man spricht, gegenüber dem Auditorium. Man spricht, wie erzogen werden soll, und daß anders erzogen werden soll, als heute üblich ist. Man sagt also im Grunde immer: Ihr seid alle schlecht erzogen. Und man appelliert sogar an diejenigen, die schlecht erzogen sind, damit in ihnen die Meinung entstehe, es müsse besser er­zogen werden. Man setzt also voraus, daß sowohl der Redende wie der Zuhörer eigentlich gut verstehen, wie man erziehen soll, trotzdem sie sich außerordentlich schlecht erzogen fühlen sollen.

Nun, das ist ein Widerspruch. Aber ein solcher, der durchaus durch das Leben selbst gegeben ist. Er kann eigentlich nur durch diejenige An­sicht über Erziehungskunst gelöst werden, die hier vertreten wird. Man kann außerordentlich gut wissen, was an der Erziehung fehlt, und was an ihr besser sein sollte, wie man wissen kann, daß ein Bild gut gemalt ist, ohne daß man jemals die Fähigkeiten in sich entwickeln könnte, selber ein so gutes Bild zu malen. Man wird sich als empfindender Mensch doch immer zuschreiben, daß man die Güte eines Raffaelschen Bildes verstehen könne; aber man wird sich, wenn man nicht Maler ist, nicht zuschreiben, daß man ein Raffaelisches Bild auch malen könne. Ja, das wäre ganz gut, wenn in der Gegenwart die Menschen so denken würden. Aber sie denken nicht so über das Wissen von der Erziehungs­kunst, das sie haben können; sondern sie fangen an, sogleich auch dar­über zu sprechen, wie man erziehen soll. Das aber ist so, wie wenn jemand, der kein Maler ist, auch keiner sein kann, gegenüber einem schlecht gemalten Bilde anfangen wollte zu zeigen, wie man es gut malen sollte.

In dieser Darstellung wird von dem Gesichtspunkte aus gesprochen,

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daß man nicht nur im allgemeinen zu wissen braucht, was gut erziehen heißt; sondern daß man auch das Technische, dasjenige, was im Spe­ziellen zur Erziehungskunst gehört, als Erzieher und Lehrer so erfassen müsse, wie der Künstler in seiner Kunst. Man muß ein Gefühl davon haben, daß die praktische Handhabung des Unterrichtens und Er­ziehens in das Bewußtsein aufgenommen werden müsse. Deshalb habe ich in der vorangehenden Darstellung zunächst die elementare Grund­linie der Augeneinstellung für dieses Können klarzulegen versucht; und ich möchte nun in dieser Betrachtung weitergehen. Denn, was für den Maler die Beobachtung und Handhabung von Form und Farbe, das ist Für den Erziehungskünstler die Kenntnis von dem spirituellen Wesen des Menschen.

Man kann sehr leicht sagen: Der Mensch entwickelt sich in seinem Leben im Sinne seiner Anlagen und in Anpassung an seine Umgebung; und er entwickelt sich so, daß sukzessive in seinem Leben die veran­lagten und erworbenen Kräfte zur Offenbarung kommen. Aber das genügt nicht. Aus der vorangehenden Darstellung kann ersehen werden, daß der Mensch ein drei gliedriges Wesen ist, daß sein Denken gebunden ist an das Nerven-Sinnessystem im Organismus, und zwar ganz im Sinne physischer Abhängigkeit an dieses System gebunden ist. Das Füh­len ist an das rhythmische System, vorzugsweise an das Atmungssystem und an das Zirkulationssystem gebunden; und das Willenssystem hat das Bewegungs- und Stoffwechselsystem zur Grundlage.

Diese drei Systeme im Menschen entwickeln sich so, daß jedes ein anderes Zeitmaß einhält, und daß der Höhepunkt dieser Entwickelung bei jedem in eine andere Lebensepoche fällt. In dem ersten Lebensalter, bis zum Zahnwechsel hin - ich habe es schon ausgesprochen -, ist das Kind in einem mehr als sinnbildlichen Sinne ganz Sinnesorgan. Es ist gewissermaßen ganz Kopf; und alle seine Entwickelung geht vom Ner­ven-Sinnessystem aus. Da liegen die Ursprungsstellen für die formenden Kräfte des ganzen Organismus. Das Nerven-Sinnessystem durchdringt als Hauptakteur den ganzen Organismus; und alle Eindrücke der Außenwelt wirken durch den ganzen Organismus hindurch, während sie im späteren Leben nur an der Peripherie des Sinnessystems physisch, aber weiter in den Körper hinein bloß seelisch wirken.

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Man möchte sagen: Der reife Mensch ist so organisiert, daß das Licht mit seinen physischen Wirkungen im Auge halt macht und daß es weiter hinein in den Organismus nur die vom Gefühl durchdrungene Vor­stellung vom Lichte schickt. Beim Kinde ist es so, daß gewissermaßen jedes Blutkörperchen innerlich vom Lichte physisch erregt wird. Man darf diese Wirkungen allerdings nicht so verstehen, als ob sie mit gro­ben physischen Methoden nachweisbar seien. Das Kind ist noch ganz den Wirkungen derjenigen ätherischen Essenzen hingegeben, die im späteren Leben nur an der Oberfläche des Leibes, in den Sinnesorganen wirken, damit der Mensch innerlich etwas ganz anderes entwickeln könne; Das Kind bis zum Zahnwechsel ist durch den ganzen Organis­mus hindurch Sinn; der mehr erwachsene Mensch ist an seiner Ober­fläche Sinn, im Inneren Seele. Man beachte das in konkreten Einzel­heiten. Derjenige, der als erwachsener Mensch einem ganz jungen Kinde, einem Säugling zugesellt ist, der wird als Mensch mit seinem ganzen inneren Erleben zum Erzieher des Kindes. Angenommen, es befinde sich an der Seite des Kindes ein sorgenvoller Mensch, ein sol­cher, der auch Grund hat, Sorgen zu entwickeln. Beim reifen Menschen kommt nur schwach dasjenige zur Offenbarung, was als physische Wirkung dieser seelischen Sorgen in Konstitution, Mimik und Bewe­gung in seinem Körper ist. Wenn wir Sorge haben, so ist immer unser Mund etwas trocken. Und wenn bei gewissen Menschen die Sorge habi­tuell wird, wenn sie dauert, dann gehen diese mit immer trockenem Munde, mit klebender Zunge, mit einem bitteren Geschmack im Mun­de herum; sogar mit leichter Atembeklemmung. Beim erwachsenen Menschen sind diese physischen Zustände nur leise Untertöne des Lebens.

Das Kind, das neben den Erwachsenen heranwächst, ist aber ein Imitator auch der schwächsten physischen Zustände des Erziehers. Es richtet sich ganz nach dem physiognomischen Ausdruck, nach dem, was es wahrnimmt, nach der Art und Weise, wie der Erwachsene sor­genvoll spricht, sorgenvoll empfindet, ein, weil es ja ganz Sinnesorgan ist. Imponderable Wechselwirkungen spielen sich ab zwischen dem Erwachsenen und dem Kinde. Hat der Erwachsene Sorge, die seelisch ist, aber sich in den physischen Folgezuständen offenbart, so nimmt das

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Kind als Imitator die physischen Folgen wahr und gestaltet das eigene Innere darnach, wie sich das Auge mit der Lichtwirkung durchdringt. Das Kind nimmt eine innerliche Geste, eine innerliche Mimik auf, was sich durch die klebrige Zunge, den bitteren Geschmack offenbart. Es entwickelt sich bei ihm durch den ganzen Organismus hindurch ein konstitutioneller Abdruck des physischen Erlebens beim Erwachsenen. Es nimmt das in die Länge gezogene Blaßwerden des Gesichtes an, das der sorgenvolle Erwachsene hat, aber es kann den seelischen Inhalt der Sorge nicht in sich aufnehmen; es imitiert nur die physische Folge der Sorge. Und das Ergebnis ist, daß beim Kinde sogleich seine physische Konstitution von den geistigen Formkräften, die im Sinnes-Nerven­system ihren Sitz haben, ergriffen wird. Die inneren physischen und feineren Organe bauen sich im Sinne dessen auf, was das Kind an physischem Abbild der Sorge in sich aufgenommen hat. Es bekommt einen zur Sorge disponierten Organismus, der später auch leicht Lebenseindrücke in Sorge aufnimmt, die eine andere Konstitution nicht dazu treiben.

Das Kind wird auf diese Art zu einem sorgenvollen Menschen durch seinen physischen Organismus erzogen. Solche Erkenntnisse von fei­neren Lebenswirkungen muß man haben, wenn man im richtigen Sinne Erzieher sein will. Es sind dies für Lehrer und Erzieher Vorbedingungen wie für den Maler die Beobachtungsgabe für Farbenwirkungen.

In der charakterisierten Art spielt sich das Leben des Kindes bis zum Zahnwechsel ab. Es ist ein innerer Kampf, der sich da im kindlichen Menscheninnern abspielt. Man bekommt allerdings nur ein richtiges Urteil über diesen Kampf durch die Erkenntnis der spirituellen Seite der Welt und des Menschen. Es ist, mehr äußerlich angesehen, ein Kampf zwischen den vererbten Eigenschaften des Menschen und zwi­schen seiner Anpassung an die Welt, die ihn umgibt, während er kleines Kind ist.

Der Mensch wird mit gewissen vererbten Eigenschaften geboren. Das kann jeder erkennen, der imstande ist, das Kind zu beobachten in seinen ersten Lebenstagen und Jahren. Darüber wird ja auch in der anerkann­ten Wissenschaft viel gesprochen; und man sucht die Einzelheiten des Vererbungsverhältnisses durch die äußere Beobachtung zu erforschen.

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Die Vererbung ist in der allerersten Lebenszeit des Kindes das Wich­tigste; aber immer mehr und mehr tritt die Anpassung des Menschen an die Welt auf. Es werden die vererbten Eigenschaften allmählich so um­gestaltet, daß der Mensch nicht nur das in sich trägt, was er von seinen Eltern und Voreltern vererbt hat, sondern daß er offen ist durch alle seine Sinne, durch seine Seele, durch seinen ganzen Geist, der Welt seiner Umgebung. Sonst wird er ein Mensch, der in einem weltfremden Wesen erstarrt, ein Mensch, der nur das will, was im Sinne seiner ver­erbten Eigenschaften liegt und einen Gegensatz zu der Welt seiner Um­gebung bildet. Der Grad von Befriedung am Leben, der ihm sonst zukäme, wird herabgemindert.

Aber man muß Menschen erziehen, die eindrucksfähig sind für alles dasjenige, was in der Welt vorgeht, die jeden Tag, wenn sie etwas Neues sehen, ihre Empfindungen, ihre Urteile nach diesem Neuen modifi­zieren können. Nur solche Menschen werden nicht eigensüchtig in ihr Inneres verschlossen sein, sondern frei und offen der Welt entgegen­treten; und nur das macht tauglich, um mit Welt und Menschen zu­sammen in dem Leben wirken zu können.

In demjenigen Erzieher und Lehrer wird eine rechte Beobachtungs­gabe für solche Dinge sein, der seine Gesinnung aus der Erkenntnis des spirituellen Menschen heraus sich bildet, in derArt, wie ich es in der vor­angehenden Betrachtung angegeben habe. Man muß in allen Einzelhei­ten beobachten können, wie in den ersten Lebensjahren des Kindes die Vererbung in einem inneren Kampf liegt mit der Anpassung an die Welt.

Man versuche nur einmal, mit ganzer menschlicher erkennender Hingabe den wunderbaren Prozeß zu studieren, der sich abspielt, indem die ersten Zähne ersetzt werden durch die zweiten. In den ersten Zähnen liegt ein Vererbtes vor. Sie sehen fast so aus, als ob sie für die Welt äußerlich unbrauchbar wären. Und über jeden vererbten Zahn stülpt sich nach und nach ein anderer darüber. Bei diesem Darüberstülpen wird die Form des ersten Zahnes benützt; aber die Form des zweiten Zahnes, der dann bleibt, wird etwas anders, wird angepaßt der Welt. Was da mit den Zähnen geschieht, das geht mit dem gesamten Organis­mus des Kindes in diesem Lebensalter vor sich. Der Zahnwechsel ist nur ein Symptom für andere Vorgänge, die allerdings nicht so offen vor

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Augen liegen. Das Kind wird zur Zeit seines Zahnwechsels aus einem Vererbungswesen ein Weltwesen. Der Mensch trägt, indem er in die Welt hineingeboren wird, einen vererbten Organismus in sich. Er stülpt im Laufe der ersten sieben Lebensjahre einen neuen Organismus darüber. Indem dieser ganze Vorgang physisch ist, ist er zugleich die Wirkung des Geistigen und Seelischen im Kinde. Und jemand, der neben dem Kinde als Erzieher wirkt, muß versuchen, dieses Geistig-Seelische so zu lenken und zu leiten, daß es nicht gegen den gesunden Organismus sich entfaltet, sondern in der Richtung dieses Organismus. Man muß also als Erzieher wissen, was geistig-seelisch vorgehen muß mit dem Kinde, damit dieses einen gesunden Organismus über den vererbten Organismus darüberstülpt. Man muß für das Geistige des Kindes das Notwendige tun und wissen, daß man gerade dadurch das Physische in der rechten Art versorgt, weil das Geistige der Bildner des Physischen dadurch wird. Wenn man den Gedanken, den ich in der Einleitung dieses Vortrages angedeutet habe, weiter verfolgt, so kommt man auch noch dazu, das Folgende einzusehen: Man geht als Lehrer, als Erzieher in eine Schulklasse hinein. Man darf sich doch wirklich nicht vor­stellen, daß man einer der allergescheitesten Menschen ist. Man darf sich doch höchstens nur als relativ gescheit ansehen. Es bringt das gewiß den Lehrer dazu, eine wahrhaft gesunde Gesinnung zu haben. Indem man mit einem solchen Bewußtsein in die Schulklasse hineingeht, muß man sich sagen: Unter den Kindern, die ich zu erziehen habe, kann ein ganz gescheiter sein, einer, der viel gescheiter ist später im Leben, als ich bin. Wenn man den, der dazu veranlagt ist, einmal viel gescheiter zu sein, als man selbst ist, nur bis zu dem Grade der Gescheitheit er­ziehen wollte, den man selber hat, so würde man ihn so erziehen, daß er hinter dem zurückbliebe, was er hätte werden können. Das darf auf keinen Fall geschehen. Richtig ist, daß man denjenigen, der zu solcher Gescheitheit veranlagt ist, so erziehe, daß er später im Leben viel ge­scheiter wird, als man selbst ist. Man muß so erziehen können, daß Anlagen ausgebildet werden, die man selbst gar nicht hat. Das heißt aber: Es gibt etwas im Menschen, was man als Erzieher oder Lehrer überhaupt nicht erfassen kann. Das ist etwas, dem man mit scheuer Ehrfurcht gegenüberstehen soll; und das sich durch die Erziehungskunst

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entfaltet, ohne daß man es wie ein Abbild der eigenen Fähig­keiten in den Zögling von sich aus hineinbringt. Das aber führt auf die richtige Antwort auf die Frage, die soeben aufgeworfen worden ist.

Wenn man als erwachsener Mensch im Leben steht, weiß man oft­mals außerordentlich gut, was als Richtiges zu tun ist; man kann es aber nicht ausführen. Man fühlt nicht die Kraft dazu. Es ist manchmal dasjenige recht verborgen in dem Menschen, was ihn kraftlos macht gegenüber dem, was er tun soll. Eine wahre Menschenkenntnis ergibt dann, daß es der physische Organismus ist, der irgendwo so etwas sitzen hat, wie die Imitation der Sorge, die ich charakterisiert habe. Diese Imitation hat sich dem Organismus einverleibt; es ist eine gewohn­heitsmäßige Orientierung im Leben durch den physischen Organismus entstanden. Es kann aber der Fall eintreten, daß die Welt etwas von dem Menschen verlangt, das gar nicht seiner Organisation im Sinne der Sorge entspricht. Aber die ist durch den Verkehr mit dem Erzieher ent­standen. Man hat die Folge der in der Kindheit durch Nachahmung erworbenen Haltung des Sorgen-Organismus zu tragen. Man muß, wenn man Erziehungskunst ausüben will, in solch feine Zusammen­hänge des Lebens hineinschauen können. - Wenn man das richtig ver­steht, dann sagt man sich: Der Erziehende, der Unterrichtende hat vor allen Dingen die Aufgabe, den Körper des Menschen so gesund zu ge­stalten, als er nur gesund gestaltet werden kann; das heißt, alles das­jenige an dem Spirituellen des Zöglings zu pflegen, wodurch der phy­sische Organismus des Menschen im späteren Leben ein möglichst ge­ringes Hindernis ist für dasjenige, was der Geist will. Es ist also von dem Erzieher zu fordern, daß er sich in der Ausübung seiner Kunst verhält wie der Gärtner, der eine Pflanze in den Boden setzt und pflegt. Dieser kann in die Wachstumskräfte der Pflanze nichts von seinem eigenen Wesen hineingießen. Er muß der Pflanze nur Gelegen­heit geben, daß sie ihre Eigenkräfte entfalten kann. So muß die Erzie­hungskunst darin bestehen, daß der Erzieher die Gelegenheiten herbei­führt, durch die sich der Zögling frei entfalten kann. Sie wird dann auch die Möglichkeit bieten, daß ein Zögling frei höhere Anlagen ent­wickeln kann, als sie der Lehrer hat, und daß der physische Organismus des Zöglings nicht das Abbild von dem des Lehrers wird.

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Inwiefern die Einsicht in die spirituelle Wesenheit des Menschen als Grundlage dienen kann bei der Pflege des physischen Organismus, lehrt auch ein Blick auf die Entwickelungsstufe, welche die naturwissen­schaftliche Erkenntnis gegenwärtig erreicht hat. Man kann überhaupt sagen, daß für eine richtige Anschauung von dieser Erkenntnis sich auf vielen Gebieten zeigt, daß die hier skizzierte Wissenschaft von der geistigen Seite der Welt sich ohne Phantastik als die notwendige Fort­setzung der Naturwissenschaft ergibt. Man sieht diese Notwendigkeit nur so lange nicht, als man das naturwissenschaftliche Denken bloß mit den Ergebnissen der Sinnesbeobachtung und des mechanischen Ex­perimentierens erfüllt. Aber mit Erkenntnissen, die sich daraus ergeben, läßt sich keine Grundlage für Menschenerziehung gewinnen. Denn im Menschen werden die natürlichen Vorgänge von den spirituellen Kräf­ten auf eine höhere Stufe gehoben.

Man nehme eine einzelne Tatsache. Es ist außerordentlich bedeut­sam, was zum Beispiel der englische Arzt Dr. Glifford Allbutt seinen Untersuchungen über den Einfluß der Sorge auf die Entwickelung innerer Organe, besonders der Nieren, entnommen hat. Menschen, die viel unter dem Einfluß der Sorge stehen, zeigen nach einiger Zeit eine Verkümmerung der Nierenfunktionen. Solch ein schönes naturwissen­schaftliches Ergebnis führt auf einen Weg nach der Erforschung der geistigen Seite der Welt hin. Aber der Weg muß weitergegangen werden. Und das kann nur durch geisteswissenschaftliche Methoden geschehen. Durch sie wird der ganze Mensch als spirituelle Wesenheit anschaulich erfaßt, und es wird dadurch erst das richtige Licht auf solch eine natur­wissenschaftliche Einzeltatsache geworfen.

In der Erziehungskunst kann man mit solchen von der Natur­wissenschaft dargebotenen Einzeltatsachen erst etwas anfangen, wenn man sie von dem Gesichtspunkte aus anschaut, von dem sich das Ge­samtbild des Menschen als eines geistig-seelischen Wesens zeigt. Von diesem Gesichtspunkte aus schaut man aber auch die Wirksamkeit des physischen Organismus unter dem Einfluß des Spirituellen. Mit einer solchen Einsicht verhält man sich richtig neben dem Kinde.

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Es ist das Tragische unserer materialistisch orientierten Zeit, daß sie äußerlich angesehen viele physische Tatsachen entdeckt, aber deren Zusammenhang nicht hat, der im Geistigen liegt. Die Erkenntnis dieser Zeit richtet alle Blicke auf das Physische; aber es fehlt ihr die Einsicht in die Bedeutung des Physischen, des Materiellen. Von der materia­listisch orientierten Wissenschaft kann gerade die Bedeutung des Ma­teriellen nicht durchschaut werden. Die Erforschung des Materiellen ohne Sinn für das Geistige, das das Materielle erst beleuchtet, ist wie das Herumtasten in einem finstern Zimmer. Die Wissenschaft vom Spirituellen wird gerade das Hereinwirken des Geistes in das Phy­sische überall zeigen. Wenn in dieser Richtung die Erkenntnis sich betätigt, wird man nicht ein mystisch Erträumtes als Geist anbeten, sondern man wird den Geist verfolgen in alle einzelnen Betätigungen innerhalb der materiellen Welt. Denn nur, wenn man den Geist als den schöpferischen, als die Materie überall schaffenden erkennt, pflegt man wahre Erkenntnis; nicht, wenn man als Mystiker einen im Wolken­kuckucksheim thronenden abstrakten Geist anbetet und im übrigen alles Materielle in einem ungeistigen Weltensein erblickt.

Man muß ganz durchschauen, wie im ganz kleinen Kinde, ungefähr bis zu seinem 7. Jahre die Nerven-Sinnestätigkeit, rhythmische, At­mungs- und Zirkulationstätigkeit, Bewegungstätigkeit und Stoffwech­seltätigkeit überall ineinander wirken, aber so, daß die Nerven-Sinnes-tätigkeit das Beherrschende ist. Beim Kinde sind Atmungs-, Blutbewe-gungsrhythmus, Stoffwechseltätigkeit Vorgänge, die in ihrem Wesen nur durchschaut werden, wenn man in ihnen die Nerven-Sinnestätig­keit fortschwingend schaut.

Schaut das Kind ein Antlitz an, das sorgenvoll durchfurcht ist, so wirkt das zunächst auf das Kind als Sinneseindruck. Aber dieser springt über auf die Art seines Atmens, von da auf seinen ganzen Bewegungs­und Stoffwechselapparat.

Wenn man das Kind in dem Lebensalter nach dem Zahnwechsel zu erziehen hat, also ungefähr nach dem 7. Jahre, dann überwiegt in ihm nicht mehr das Nerven-Sinnessystem herrschend wie zuvor. Dieses sondert sich nunmehr von der anderen Körpertätigkeit relativ ab; es wendet sich mehr der Außenwelt zu. Es tritt mehr an die Oberfläche

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der physischen Organisation. Vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife ist im Kinde vorzugsweise das rhythmische System herrschend. Und das muß vor allen Dingen für die Elementarschule berücksichtigt werden.

Man hat in der Elementarschule Kinder zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife. Da muß man wissen: Man wirkt mit allem Unterricht und aller Erziehung vor allen Dingen auf das rhythmische System. Jede Betätigung am Kinde ist falsch, die wirken will auf etwas anderes als dieses rhythmische System. Was aber wirkt auf das rhyth­mische System und in diesem? Es wirkt dasjenige, was in künstlerischen Formen und in künstlerischer Betätigung an den Menschen herantritt.

Man bedenke, wie mit dem rhythmischen System alles Musikalische verbunden ist. Musik lebt als Rhythmus, der sich im rhythmischen System des Menschen selber fortsetzt. Der innere Mensch selber wird Leier, wird Violine. Sein gesamtes rhythmisches System prägt in sich dasjenige aus, was die Violine, was das Klavier musikalisch entfaltet.

Und wie mit dem Musikalischen, ist es denn auch auf eine feinere, intimere Weise mit der Plastik und mit dem Malerischen. Auch die Farbenharmonien, die Farbenmelodien werden nachgelebt im Inneren des Menschen als innere Vorgänge des rhythmischen Organsystems.

Sollen wir in der rechten Weise neben dem Kinde als Erzieher, als Unterrichter stehen, so müssen wir wissen, daß wir für dieses Lebens­alter künstlerisch den gesamten Unterrichtsstoff an das Kind heran­bringen müssen. Es ist das Wesentliche für die Elementarschule, bei Kindern den ganzen Unterricht in dem Sinne zu gestalten, daß man an das rhythmische System des Kindes sich richtet. Man soll mit allem Unterricht und aller Erziehung neben dem Kinde sich so verhalten, daß dieses unter dem Eindruck unseres Verhaltens sein rhythmisches System frei und harmonisch entfaltet.

Wie wenig man das heute berücksichtigt, das ersieht man daraus, daß naturwissenschaftlich ungeheuer wertvolle Resultate über die Wesenheit der kindlichen Organisation angestrebt werden, die ohne Rücksicht auf das Spirituelle interpretiert und dann für den Unterricht verwertet werden.

Man macht Versuche in der experimentellen Psychologie. Man will wissen, wie schnell das Kind bei dieser oder jener Tätigkeit ermüdet,

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und man will den Unterricht nach diesen Erkenntnissen über die Ermü­dung einrichten. Als naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind die Ergeb­nisse dieser experimentellen Psychologie sehr gut und wertvoll. Für den Unterricht wird man sie erst anwenden dürfen, wenn man sie im Lichte einer Anschauung über die spirituelle Menschenwesenheit erkennt.

Gegen die Vortrefflichkeit der naturwissenschaftlichen Experimente auf diesem Gebiete soll hier nichts eingewendet werden. Aber wenn man die ganze Sache im Lichte des spirituellen Denkens sieht, dann sagt man sich: Wenn das Kind, das zwischen dem Zahnwechsel und der Ge­schlechtsreife steht, in einem gewissen Grade ermüdet wird, so hast du in nicht richtiger Weise auf sein rhythmisches System, sondern auf ein anderes System eingewirkt. Denn das rhythmische System wird das ganze Leben hindurch nicht müde. Das Herz schlägt das ganze Leben hindurch Tag und Nacht. Müde wird der Mensch durch sein Intellek­tualistisches und durch sein Stoffwechsel- und Bewegungssystem. Wenn man weiß, daß man in dem charakterisierten Lebensalter auf das rhyth­mische System einwirken muß, dann durchschaut man auch, daß die Experimente über die Ermüdung zeigen, wo man unrichtig gehandelt hat, wo man nicht genug auf das rhythmische System Rücksicht ge­nommen hat. Findet man ein zu stark ermüdetes Kind, so muß man sich sagen: Du mußt etwas machen zur Gestaltung des Unterrichtes, durch das er nicht ermüdend auf das Kind wirkt. Denkt man nicht spirituell, so wird man auf die Ermüdung durch alle möglichen anderen Mittel Rücksicht nehmen wollen, nicht aber für ihre Vermeidung durch die Gestaltung des Unterrichtes sorgen.

Es kommt nicht darauf an, heute aufzutreten und zu sagen: Unsere Naturwissenschaft ist schlecht; man muß sie bekämpfen. - Das fällt dem spirituell Denkenden gar nicht ein. Aber er sagt: Wir brauchen gerade die höheren Gesichtspunkte, um die naturwissenschaftlichen Er­kenntnisse im Leben anzuwenden. - Und das, was hier für die physische Seite des Lebens gezeigt worden ist, mehr für die eine Seite des Lebens, das waltet auch in der seelischen Seite und im moralischen Wesen des Menschen.

Man möchte sagen: Gerade daß man das Kind allmählich dahin bringen kann, moralische Impulse in sich in der richtigen Weise zu entfalten,

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das ist die größte, die bedeutsamste Erziehungsfrage. Aber mora­lische Impulse bringen wir nicht in das Kind hinein, wenn wir ihm Gebote geben, wenn wir ihm sagen: Das sollst du tun; das soll so ge­schehen, das ist gut - und ihm mit dem Appell an seinen Intellekt bewei­sen wollen, daß irgend etwas sein soll und gut ist. Oder indem wir ihm sagen: Das ist schlecht, das ist böse, das sollst du nicht tun - und wir ihm beweisen wollen, daß das schlecht ist. Das, wie sich der Mensch intellektuell zu dem Guten und Bösen stellt, zu der ganzen moralischen Weltordnung, das soll erst erwachen. Und es erwacht erst, wenn mit der Geschlechtsreife das rhythmische System im wesentlichen seine Dienste in der ganzen menschlichen Entwickelung getan hat, und das Intellektuelle dann reif wird zur vollständigen Entfaltung. Es treten nur dann die richtigen moralischen Impulse im Menschen mit der not­wendigen Kraft auf, wenn er im rechten Reifezustande die innerliche Befriedigung erlebt, an dem Dasein selbst sich ein moralisches Urteil bilden zu können. Nicht darum handelt es sich, moralische Urteile zu überliefern, sondern darum, die Keime zum Bilden von eigenen Moral­kräften zu pflegen. Das moralische Urteil soll man dem Kinde nicht einimpfen. Man soll es so vorbereiten, daß das Kind, wenn es mit der Geschlechtsreife zur vollen Urteilsfähigkeit erwacht, an der Beobach­tung des Lebens sich selber das moralische Urteil bilden kann. Das er­reicht man am wenigsten, wenn man das fertige Gebot dem Kinde über­mittelt. Man erreicht es aber, wenn man durch das Vorbild oder das Vor-Augen-Stellen von Vorbildern wirkt. Man gebe dem Kinde durch die Schilderung solcher Menschen, die gut gewesen sind oder gut sind, oder durch phantasiegemäß ausgestaltete gute Menschen Bilder für das Gute. Dadurch lebt im Kinde das rhythmische System in seiner Erfas­sung des Guten mit. Das Kind erlebt im Auf- und Abwogen von Ge­fühlen, die in feiner Weise in dem rhythmischen System fortvibrieren. Und dadurch, daß das rhythmische System in dieser Lebensepoche beim Kinde besonders wirksam ist, kann sich entwickeln das Gefallen oder Mißfallen über das Gute und Böse. Es wird nicht an den Intellekt appelliert, sondern an die Sympathie mit dem Guten, das im Bilde dem Kinde vor die Seele tritt, und an die Antipathie gegenüber dem Bösen. Dadurch wird die Seele so vorbereitet, daß das Gefühlsurteil später zum

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intellektuellen Urteil im rechten Alter ausreifen kann. Nicht auf die Vermittlung des «Du sollst» kommt es an, sondern darauf, daß man in dem Kinde ein ästhetisches Urteil hervorruft, so daß ihm das Gute gefällt, es mit ihm Sympathie hat, und daß es Mißfallen, Antipathie gegenüber dem Bösen hat, wenn sein Empfinden den moralischen Tat­sachen gegenübersteht.

Es ist ein großer Unterschied, ob man so verfährt oder ob man auf die Intellektualität wirkt durch die intellektualistisch formulierten Gebote, für die das Kind erst später erwachen soll, wenn es bereits der Erziehung entwachsen ist, wenn es schon ein Mensch sein soll, der vom Leben erzogen wird. Man verkümmert in der menschlichen Organi­sation etwas, wenn man den Menschen nicht so vorbereitet, daß er zur rechten Zeit die innere Befriedigung erlebt, zur moralischen Kraft zu erwachen. Verfährt man anders, als dargestellt worden ist, so wird er zum Moralischen nicht erwachen, sondern im entsprechenden Alter nur eine abstrakte Erinnerung daran haben können, was als Moralgebot bei anderen Geltung hat. Man gibt dem Kinde die rechte Vorbereitung während seiner rhythmischen Lebenszeit, wenn man es zum ästhetischen Gefallen an dem Guten und ästhetischen Mißfallen an dem Bösen bringt, denn im ästhetischen Empfinden liegt der Keim, aus dem das Intellektuelle sich entfalten soll. Ein direkt entwickeltes intellektuelles Urteil ist wie eine Blume, die von ihrem Stamme und ihrer Wurzel ab­geschnitten ist.

Das Kind fühlt sich, wenn es erwacht nach der Geschlechtsreife, und nur die Erinnerungen an fertige moralisch-intellektuelle Urteile hat, innerlich versklavt. Es sagt sich vielleicht nicht, daß es innerlich versklavt ist, aber es fehlt ihm für das ganze spätere Leben jene unge­heuer wichtige Erfahrung für das Leben, die sich in dem dunklen Ge­fühl ausspricht: das Moralische ist in mir an dem Leben selbst erwacht; das moralische Urteil habe ich mir selbst entfaltet; es ist das meinige.

Daß diese innere Befriedigung im späteren Leben erfahren werden kann, das wird nicht durch einen abstrakten Moralunterricht erreicht, das muß in der richtigen Weise vorbereitet werden.

So kommt es überall in der Erziehung und im Unterrichten auf das «Wie» an. Und man kann sowohl für das Leben, das mehr auf die

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Außenwelt hingewendet ist, wie auch für das nach der moralischen Welt hingewendete Leben sagen, daß nur dann richtig erzogen und unterrichtet wird, wenn der Erzieher aus der Einsicht in das Spirituelle beobachten kann, was sich durch die Lebensalter hindurch im Sinnes­Nervensystem, im rhythmischen, im Atmungs-, im Zirkulationssystem, und im Stoffwechsel- und Bewegungssystem im einzelnen und im Zu­sammenwirken dieser Systeme abspielt. Man muß vom Geiste aus un­terzutauchen verstehen in die Physis, und beobachten konnen, wie der Geist fortwährend wellt und webt im Physischen.

Wenn die Erkenntnis vom Wesen des Menschen zunächst gesucht werden muß für die Unterrichts- und Erziehungskunst, so handelt es sich für das praktische Leben doch darum, welche Gesinnung, welche Seelenverfassung in dem Lehrer, in dem Erziehenden vorhanden ist gerade dadurch, daß er eine solche Weltanschauung hat, die im spiri­tuellen Leben wurzelt. Eine solche Weltanschauung bleibt nämlich, wenn sie ehrlich erworben ist, nicht bloß ein Gedankensystem, sondern ist von einer Gesinnungsrichtung begleitet. Und welche Gesinnung da hervorgerufen wird in dem Menschen, kann man am besten ersehen, wenn man auf viele unserer Mitmenschen in der gegenwärtigen Zeit hinsieht.

Verflossene Zeitalter haben gewiß ihre großen Schattenseiten ge­habt; und man sollte vieles durchaus nicht wiederum herbeiwünschen, was in verflossenen Zeiten an Menschenideen und Menschengesinnung vorhanden war; aber derjenige, der mit einer gewissen Intuition in das geschichtliche Leben der Menschheit hineinblickt, wird dennoch sehen können: wie wenig innere Freudigkeit in die Menschen aus ihrem da­maligen Geistesleben kam, und wie bei vielen Menschen der Gegen­wart nur aus dem Mangel eines solchen Geisteslebens sich schwere Rät­selfragen über alle mögliche Lebensfreudigkeit und Lebenssicherheit verbreiten. Die gegenwärtige Menschheit weiß sich nur in geringem Maße eine Antwort zu geben auf die inneren Schicksalsfragen, die in der Seele quälend sich entwickeln beim Betrachten der Welt. Wenn man in sich selber recht unglücklich ist, berechtigterweise unglücklich, so gibt es doch immer noch die Möglichkeit, hinzuschauen auf irgend etwas im Kosmos, um einen Ausgleich für das innere Unglück zu finden. Es

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hängt dieses aber davon ab, daß der Mensch im rechten Augenblicke in seiner Seele etwas finden kann, das diesen Ausgleich herbeiführt. Ein inneres Verhältnis zur geistigen Welt kann immer so etwas finden lassen. Eine Weltanschauung, die bloß auf die Sinneswelt gerichtet ist, nicht. Aber der Mensch der Gegenwart ist nicht stark genug, um dann, wenn er durch Persönliches niedergeschlagen ist, sich Trost in der An­schauung des Kosmos zu suchen. Warum? Weil der Mensch heute wenig Gelegenheit findet, in seiner Erziehung, in seiner Entwickelung dasjenige in sich auszubilden, was man nennen möchte: Gefühl der Dankbarkeit dafür, was der Geist des Kosmos dem Menschen gegeben hat.

Eigentlich müßten alle unsere höheren Empfindungen beginnen können mit der Grundempfindung des Dankes dafür, daß uns die kos­mische Welt aus sich herausgeboren und in sich hineingestellt hat. Eine Weltanschauung, eine Philosophie, die auf abstrakte Anschauungen sich beschränkt, und nicht ausströmt in Dankbarkeit des Empfindungs­lebens gegenüber dem Kosmos, ist keine vollständige Philosophie. Sie ist eine Philosophie für die Kopfbetätigung, nicht für das Erleben des ganzen menschlichen Organismus. Eine Kopfbetätigung, die aber den übrigen Organismus nicht erwärmen kann, macht nicht glücklich, son­dern unglücklich. Denn sie entwickelt sich wie ein Fremdkörper, wie eine seelische Geschwulst. Das Schlußkapitel einer jeden Philosophie sollte in diesem Gefühle der Dankbarkeit gegenüber den kosmischen Mächten auslaufen. Und wenn der Autor dies auch nicht unmittelbar sagt, so sollte es doch im Leser angeregt werden. Diese Dankbarkeit aber muß vor allen Dingen der Lehrer, der Erzieher haben. Es muß sie auch instinktiv jeder Mensch haben, dem ein Kind zur Erziehung an­vertraut ist. Es ist auch das erste Bedeutungsvolle, das durch eine spiri­tuelle Erkenntnis erreicht wird, daß man die Dankbarkeit schöpft für die Tatsache, daß man ein Kind zur Erziehung erhalten hat. Ehrfurcht vor dem geheimnisvollen Wesen des Kindes - Ehrfurcht und Dankbar­keit sind in diesem Punkte nicht zu trennen - muß der Anfang der Ge­sinnung sein, mit welcher der Erzieher an seine Aufgabe geht. Es gibt nur eine Stimmung gegenüber dem Kinde, welche die richtigen Impulse

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zum Erziehen und Unterrichten gibt; und das ist gerade dem Kinde gegenüber die religiöse Stimmung.

Man empfindet vielem gegenüber religiös. Man empfindet der Blume auf dem Felde gegenüber religiös, wenn wir sie als ein Geschöpf der göttlich-geistigen Weltordnung auf uns wirken lassen. Man empfindet so dem Blitze gegenüber, wenn er in den Wolken zuckt, und wenn man empfinden kann, wie er in der göttlich-geistigen Weltordnung drinnen-steht. Man muß so vor allen Dingen empfinden, wenn aus dem tiefen Schoße der Weltenordnung heraus uns die höchstmögliche Offenba­rung, durch die gesagt wird, was die Welt ist, einem in dem Kinde ent­gegentritt. In dieser Stimmung liegt einer der wichtigsten Impulse der Erziehungstechnik.

Erziehungstechnik ist andere Technik als diejenige, die angewendet wird auf Undurchgeistigtes. Erziehungstechnik setzt überall voraus, daß der Erzieher alles, was er tut, aus religiös-moralischen Impulsen heraus tut. Man kann so empfinden auch einem schlecht veranlagten Kinde gegenüber. Man wird dann nicht mit Antipathie ihm gegenüber-treten, sondern mit Tragik.

Nun wird man vielleicht sagen: in unserer heutigen Zeit, wo man manches, auf das es vielleicht weniger ankommt, so schrecklich objek­tiv nimmt, gibt es doch noch Leute, welche es als unangemessen empfin­den, wenn sie religiös empfinden sollten einem Kinde gegenüber, das sich vielleicht als ein rechter Nichtsnutz auslebt. Man sagt vielleicht: was soll ich tragisch empfinden einem Kinde gegenüber, das sich als ein Nichtsnutz auslebt? In unserer so schrecklich objektiv gesinnten Zeit gestehen sich ja selbst manche Eltern, daß ihre Kinder Nichtsnutze sind, während in früherer Zeit das nicht üblich war; da war jedes Kind für die Eltern «brav». Das war eine bessere Stimmung sogar als die heutige.

Aber es kann doch eine tragische Stimmung hervorbringen, wenn man als ein Geschenk der göttlich-geistigen Weltordnung, ja als einen Fall von deren höchster Offenbarung ein schwer zu erziehendes Kind bekommt. Wenn man diese Tragik erleben kann, dann führt sie gerade über die Klippen der Erziehungskunst hinweg.

Kann man in Dankbarkeit auch ein ungeartetes Kind empfangen und kann man Tragik darüber empfinden, und kann man gerade aus

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dieser Tragik den Impuls zur Tat entwickeln, dann empfindet man erst die rechte Dankbarkeit gegenüber der göttlichen Weltenordnung, indem wir auch das Schlimme als ein Göttliches noch begreifen kön­nen, wenn auch das Begreifen etwas sehr Kompliziertes ist.

Dankbarkeit ist vor allen Dingen die Grundstimmung, die den Lehrenden, den Erziehenden durchziehen soll, wenn er in der ersten Lebensepoche bis zum Zahnwechsel der kindlichen Entwickelung ge­genübersteht.

Ein neues Element tritt auf in der zweiten Lebensepoche. Diejenige Entwickelung des Kindes, die vor allen Dingen auf das rhythmische System gebaut ist, erfordert, daß alle Tätigkeit des Erziehers einen künstlerischen Charakter hat. Man wird niemals das zustande bringen, was in der Umgebung des Kindes wirken soll, wenn man nicht durch­tränken kann die religiöse Stimmung gegenüber dem Kinde, die fort­dauern muß, mit einer intensiven Liebe zu unseren Erziehungstaten, unserer Erziehungsaktivität. Denn in dieser Liebe waltet diejenige Kraft, welche den Erzieher zu einer Betätigung führt, welche von dem Kinde ästhetisch-liebend empfunden wird.

Vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife ist nichts in das Kind hinein wirksam, das nicht beim Erziehenden getragen ist von der Liebe zur Erziehungstat selber. Was man in Liebe als Erzieher ausführt, das wird von dem Kinde in diesem Lebensalter als etwas empfunden, das es sich aneignen muß, um ein Mensch zu sein.

Von dem Intellekt allein kann keine Erziehungskunst kommen; son­dern allein von dem, was die charakterisierte Dankbarkeit und Liebe für das Erziehen offenbaren.

In der Erziehungskunst, welche in der Stuttgarter Waldorfschule versucht wird, sieht man viel mehr darauf, wie der Lehrer ist, als was er intellektualistisch an technischer Handhabung abstrakter Unter­richtsmethoden sich erworben hat. Der Lehrer soll nicht nur das Kind lieben können, sondern er soll seine Methode lieben können, weil im Wirken dieser Methode sich das Kind entwickelt. Auf das letztere kommt es an. In eine Methode verliebt sein, weil sie die eigene ist, taugt nicht für den Erzieher. Er soll an dem, was das Kind wird, seine Methode liebhaben. Kinder liebhaben genügt allein auch nicht für den

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Lehrer; sondern das Lehren liebhaben, das Erziehen liebhaben, und es liebhaben mit derjenigen Objektivität, die am Kinde sich offenbart, das eignet man sich an, wenn man von einer spirituellen Grundlage für die physische, seelische und moralische Erziehung aus an seine Aufgabe geht. Und wenn man diese rechte Liebe für das Erziehen, für das Unter­richten als Gesinnung hat, dann wird man auch das Kind heranbilden bis zur Geschlechtsreife so, daß man wirklich es der Freiheit, dem freien Gebrauche seiner Intellektualität im weiteren Leben überliefern kann.

Hat man das Kind in religiöser Ehrfurcht empfangen, hat man es in Liebe zu den Erziehungstaten bis zur Geschlechtsreife erzogen, dann kann man auch das rechte Erlebnis dem werdenden Menschen gegen­über haben: ihn in Freiheit als unseresgleichen neben sich zu haben. Ist man dann in der Lage, noch weiter erzieherisch auf den Men­schen wirken zu können, so wird man dem frei gewordenen Wesen gegenüber von Intellekt zu Intellekt wirken können. Indem man so er­zieht, wie das angedeutet worden ist, indem man vorher nicht antastet, was sich frei entwickeln soll, sondern den Geist stufenweise wach wer­den läßt durch das, was man als Erzieher tut, wird der Mensch, wenn er geschlechtsreif geworden ist, sein eigenes Wesen als ein erwachendes erleben; und dieser Moment des Erwachens wird der Quell einer Kraft sein, die im ganzen folgenden Leben nachwirkt.

Man soll sich nicht sagen: du sollst dies oder jenes in die Kinder-seele hineingießen, sondern du sollst Ehrfurcht vor seinem Geiste haben. Diesen Geist kannst du nicht entwickeln, er entwickelt sich selber. Dir obliegt es, ihm die Hindernisse seiner Entwickelung hinwegzuräumen, und das an ihn heranzubringen, das ihn veranlaßt, sich zu entwickeln. Du kannst dem Geist die Hindernisse wegräumen im Physischen und auch noch ein wenig im Seelischen. Was der Geist lernen soll, das lernt er dadurch, daß du ihm diese Hindernisse wegnimmst. Der Geist ent­wickelt sich auch in allerfrühester Jugend schon am Leben. Aber sein Leben ist dasjenige, das man als Erzieher in seiner Umgebung entfaltet. Die allergrößte Selbstverleugnung ist Aufgabe des Erziehers. Er muß in der Umgebung des Kindes so leben, daß der Kindesgeist in Sympathie das eigene Leben an dem Leben des Erziehers entfalten kann. Man darf niemals die Kinder zu einem Abbild von sich selbst machen wollen. Es

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soll in ihnen nicht fortleben in Zwang, in Tyrannei dasjenige, was in dem Erzieher selbst war, noch in derjenigen Zeit, in denen sie hinaus­gewachsen sind über Schule und Erziehung. Man muß so erziehen kön­nen, daß man für dasjenige, was aus einer göttlichen Weltordnung neu in jedem Zeitalter in den Kindern in die Welt hereintritt, die physischen und seelischen Hindernisse wegräumt, und dem Zögling eine Um­gebung schafft, durch die sein Geist in voller Freiheit in das Leben eintreten kann.

Die drei goldenen Regeln der Erziehungs- und Unterrichtskunst, die in jedem Lehrer, jedem Erzieher, ganz Gesinnung, ganz Impuls der Arbeit sein müssen, die nicht bloß intellektualistisch gefaßt werden dür­fen, sondern die von dem ganzen Menschen erfaßt werden müssen, die müssen sein:

Religiöse Dankbarkeit gegenüber der Welt, die sich in dem Kinde offenbart, vereinigt mit dem Bewußtsein, daß das Kind ein göttliches Rätsel darstellt, das man mit seiner Erziehungskunst lösen soll.

In Liebe geübte Erziehungsmethode, durch die das Kind sich in­stinktiv an uns selbst erzieht, so daß man dem Kinde die Freiheit nicht gefährdet, die auch da geachtet werden soll, wo sie das unbewußte Element der organischen Wachstumskraft ist.

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SONDERVORTRAG Oxford, 20. August 1922 Die Erforschung der übersinnlichen Welten

Der so freundlichen Einladung, heute hier zu sprechen, will ich dadurch nachkommen, daß ich einiges davon mitteile, wie man durch unmittel­bare Forschung zu jener spirituellen Erkenntnis kommt, von der ja hier die erzieherischen Konsequenzen auseinandergesetzt werden sollen. Ich bemerke von vornherein, daß ich heute vorzugsweise zu sprechen haben werde von der Methode, forschend in übersinnliche Welten hin­einzukommen. Außerdem muß ich einleitend sagen, daß alles das, was ich heute zu sagen habe, sich im strengen Sinne auf die Erforschung der spirituellen, der übersinnlichen Welten bezieht, nicht auf das Ver­stehen der übersinnlichen Erkenntnisse. Die übersinnlichen Erkennt­nisse, wenn sie erforscht sind und mitgeteilt werden, können mit dem gewöhnlichen gesunden Menschenverstand eingesehen werden, wenn sich dieser gesunde Menschenverstand nur nicht die Unbefangenheit nimmt dadurch, daß er von dem ausgeht, was man für die äußere sinn­liche Welt Beweise, logische Ableitungen und dergleichen nennt. Nur wegen dieser Hindernisse wird sehr häufig gesagt, daß man die über­sinnlichen Forschungsresultate nicht verstehen könne, wenn man nicht selber ein übersinnlicher Forscher werden kann.

Was hier mitgeteilt werden soll, ist ja Gegenstand der sogenannten Initiationserkenntnis, derjenigen Erkenntnis, die in älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung in einer etwas anderen Form gepflegt worden ist, als wir sie heute in unserem Zeitalter pflegen müssen. Nicht Altes

- ich habe das schon in den anderen Vorträgen bemerkt - soll wieder heraufgeholt werden, sondern im Sinne des Denkens und Empfindens unseres Zeitalters soll der Forschungsweg in die übersinnlichen Welten angetreten werden. Und da kommt es vor allen Dingen gerade mit Bezug auf die Initiationserkenntnis darauf an, daß man imstande ist, eine prinzipielle Umorientierung mit der ganzen menschlichen Seelen-verfassung zu vollziehen.

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Derjenige, der Initiationserkenntnis hat, unterscheidet sich von dem, der andere Erkenntnis im heutigen Sinne des Wortes hat, nicht etwa nur dadurch, daß seine Initiationserkenntnis eine höhere Stufe der gewöhn­lichen Erkenntnis ist. Sie wird allerdings auf der Grundlage der ge­wöhnlichen Erkenntnis erreicht; diese Grundlage muß da sein; das intellektuelle Denken muß voll entwickelt sein, wenn man zur Initia­tionserkenntnis kommen will. Dann aber ist eine prinzipielle Umorien­tierung notwendig, so daß der Besitzer von Initiationserkenntnissen überhaupt von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus die Welt an­schauen muß, als sie angeschaut wird ohne diese Initiationserkenntnis. Ich kann in einer einfachen Formel ausdrücken, wodurch sich prinzi­piell die Initiationserkenntnis unterscheidet von der gewöhnlichen Er­kenntnis. In der gewöhnlichen Erkenntnis sind wir uns bewußt unseres Denkens, überhaupt unserer inneren Seelenerlebnisse, durch die wir uns Erkenntnisse erwerben, als Subjekt der Erkenntnis. Wir denken zum Beispiel, und glauben durch die Gedanken etwas zu erkennen. Da sind wir, wenn wir uns als denkende Menschen auffassen, das Subjekt. Wir suchen die Objekte, indem wir die Natur beobachten, indem wir das Menschenleben beobachten, indem wir experimentieren. Wir suchen immer die Objekte. Die Objekte sollen an uns herandringen; sie sollen sich uns ergeben, so daß wir sie mit unseren Gedanken umfassen kön­nen, daß wir unser Denken auf sie anwenden können. Wir sind das Subjekt; das, was an uns herantritt, sind die Objekte.

Bei demjenigen Menschen, der Initiationserkenntnis anstrebt, tritt eine völlig andere Orientierung ein. Er muß gewahr werden, daß er als Mensch Objekt ist, und er muß zu diesem Objekte Mensch das Subjekt suchen. Also das völlige Entgegengesetzte muß eintreten. In der ge­wöhnlichen Erkenntnis fühlen wir uns als Subjekt, suchen die Objekte, die außer uns sind. In der Initiationserkenntnis sind wir selber das Objekt und suchen dazu das Subjekt; beziehungsweise in der wirk­lichen Initiationserkenntnis ergeben sich dann die Subjekte. Aber das ist dann erst Gegenstand einer späteren Erkenntnis.

Sie sehen also, es ist gerade so, wie wenn wir schon durch die bloßen Begriffsdefinitionen einsehen müßten, daß wir eigentlich in der Initia­tionserkenntnis aus uns herausflüchten müssen, daß wir so werden

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müssen wie die Pflanzen, die Steine, wie der Blitz und der Donner, die für uns Objekte werden. Wir selber schlüpfen gewissermaßen aus uns heraus in der Initiationserkenntnis, werden zum Objekt und suchen die Subjekte dazu. Wenn ich mich etwas paradox ausdrücken darf, so möchte ich sagen, indem wir gerade auf das Denken abzielen: in der gewöhnlichen Erkenntnis denken wir über die Dinge nach. In der In­itiationserkenntnis müssen wir suchen, wie wir gedacht werden im Kosmos.

Das sind ja nichts anderes als abstrakte Richtlinien, aber diese ab­strakten Richtlinien werden Sie nun in den konkreten Tatsachen der Initiationsmethode überall verfolgt finden.

Zunächst geht, wenn wir eben heute nur von der modernen, von der heute gültigen Initiationserkenntnis Mitteilungen empfangen wollen, diese Initiationserkenntnis vom Denken aus. Das Gedankenleben muß voll entwickelt sein, wenn man heute zur Initiationserkenntnis kommen will. Dieses Gedankenleben kann ja besonders herangeschult werden, wenn man sich in die naturwissenschaftliche Entwickelung der letzten Jahrhunderte, insbesondere des 19. Jahrhunderts vertieft. Mit diesem naturwissenschaftlichen Erkennen geht es ja den Menschen in verschie­dener Weise. Die einen nehmen die naturwissenschaftlichen Erkennt­nisse auf, hören selbst mit einer gewissen, ich möchte sagen, Naivität, wie sich die organischen Wesen von den einfachsten, primitivsten her­auf entwickelt haben sollen bis zum Menschen. Sie bilden sich über diese Entwickelung Ideen aus, und sie sehen wenig zurück auf sich selber, daß sie da nun eine Idee haben, daß sie da in sich selber etwas in der Anschauung der äußeren Vorgänge entwickeln, was Gedanken-leben ist.

Derjenige aber, der nicht die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse entgegennehmen kann, ohne auf sich selbst kritisch zu sehen, der muß sich allerdings fragen: Was bedeutet das, was ich da selber tue, indem ich Wesen für Wesen vom Unvollkommenen zum Vollkommenen ver­folge? - Oder aber, er muß sich fragen: Indem ich mathematisiere, in­dem ich die Mathematik ausbilde, da bilde ich ja Gedanken rein aus mir heraus. Die Mathematik ist im richtigen Sinne ein Gespinst, das ich aus mir selber heraushole. Ich wende dann dieses Gespinst auf die

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äußeren Dinge an und es paßt. - Da kommen wir zu der großen, zu der, ich möchte sagen, für den Denker geradezu tragischen Frage: Wie steht es mit dem, was ich bei aller Erkenntnis anwende, mit dem Den­ken selber?

Nun kann man nicht finden, wie es mit diesem Denken steht, auch wenn man noch so lange nachdenkt; denn da bleibt das Denken nur immer auf demselben Flecken stehen, da dreht man sich sozusagen nur immer um die Achse, die man sich schon gebildet hat. Man muß mit dem Denken etwas vollziehen. Man muß dasjenige mit dem Denken ausführen, was ich in meiner Schrift: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben habe als Meditation.

Über die Meditation soll man nicht «mystisch» denken, aber man soll auch nicht leicht über sie denken. Die Meditation muß etwas völlig Klares sein in unserem heutigen Sinne. Aber sie ist zugleich etwas, zu dem Geduld und innere Seelenenergie gehört. Und vor allen Dingen gehört etwas dazu, was niemand einem anderen Menschen geben kann:

es gehört dazu, daß man sich selber etwas versprechen und es dann halten kann. Wenn der Mensch einmal beginnt, Meditationen zu machen, so vollzieht er damit die einzige wirklich völlig freie Hand­lung in diesem menschlichen Leben. Wir haben in uns immer die Ten­denz zur Freiheit, auch ein gut Teil der Freiheit verwirklicht. Aber wenn wir nachdenken, werden wir finden: wir sind mit dem einen ab­hängig von unserer Vererbung, mit dem anderen von unserer Erzie­hung, mit dem dritten von unserem Leben. Und fragen Sie sich, inwie­fern wir imstande sind, das was wir durch Vererbung, durch Erziehung und durch das Leben uns angeeignet haben, plötzlich zu verlassen. Wir wären ziemlich dem Nichts gegenübergestellt, wenn wir das plötzlich verlassen wollten. Wenn wir uns aber vornehmen, abends und morgens eine Meditation zu machen, damit wir allmählich lernen, in die über­sinnliche Welt hineinzuschauen, dann können wir das jeden Tag unter­lassen. Nichts steht dem entgegen. Und die Erfahrung lehrt auch, daß die meisten, die mit großen Vorsätzen an das meditative Leben heran­gehen, es sehr bald wieder unterlassen. Wir sind darin vollständig frei. Es ist dieses Meditieren eine urfreie Handlung. Können wir uns trotz­dem treu bleiben, versprechen wir uns, nicht einem anderen, sondern nur

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uns selber einmal, daß wir diesem Meditieren treu bleiben, dann ist das an sich eine ungeheure Kraft im Seelischen, dieses sich einfach treu bleiben können.

Nun, nachdem ich das auseinandergesetzt habe, möchte ich auf­merksam darauf machen, wie die Meditation selber in ihren einfachsten Formen vollzogen wird. Ich kann mich ja heute nur mit dem Prin­zipiellen beschäftigen.

Es handelt sich darum, daß wir irgendeine Vorstellung oder einen Vorstellungskomplex in den Mittelpunkt unseres Bewußtseins rücken. Es kommt gar nicht darauf an, welches der Gehalt dieses Vorstellungs­komplexes ist; aber er soll unmittelbar sein, er soll so sein, daß er keine Reminiszenzen aus der Erinnerung oder dergleichen vorstellt. Daher ist es gut, wenn wir ihn nicht aus unserem Erinnerungsschatze herauf-holen, sondern uns von einem anderen, der erfahren ist in solchen Dingen, die Meditation geben lassen, nicht, weil der auf uns irgendeine Suggestion ausüben will, sondern weil wir sicher sein können, daß das­jenige, was wir dann meditieren, etwas Neues für uns ist. Wir könnten ebensogut irgendein altes Werk, das wir ganz sicher noch nicht gelesen haben, nehmen, und uns einen Meditationssatz daraus suchen. Es han­delt sich darum, daß wir uns nicht aus dem Unterbewußten und Un­bewußten einen Satz heraufholen, der uns überwältigt. Das ist nicht überschaubar, weil sich alle möglichen Empfindungsreste und Gefühls­reste hineinmischen. Es handelt sich darum, daß es so überschaubar sein soll, wie ein Mathematiksatz überschaubar ist.

Nehmen wir etwas ganz Einfaches, den Satz: Im Lichte lebt die Weisheit. - Das ist zunächst gar nicht darauf zu prüfen, ob es wahr ist. Es ist ein Bild. Aber es kommt nicht darauf an, daß wir irgendwie mit dem Inhalte als solchem uns anders beschäftigen, sondern daß wir ihn innerlich seelisch überschauen, daß wir darauf ruhen mit dem Bewußt­sein. Wir werden es anfangs nur zu einem sehr kurzen Ruhen mit dem Bewußtsein auf einem solchen Inhalte bringen. Immer länger und länger wird die Zeit werden.

Worauf kommt es denn an? Es kommt darauf an, daß wir den gan­zen seelischen Menschen zusammennehmen, um all das, was in uns Denkkraft, Empfindungskraft ist, auf den einen Inhalt zu konzentrieren.

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Geradeso wie die Muskeln der Arme stark werden, wenn wir mit ihnen arbeiten, so verstärken sich die seelischen Kräfte dadurch, daß sie immer wieder und wieder auf einen Inhalt gerichtet werden. Möglichst sollte dieser eine Inhalt durch Monate, vielleicht durch Jahre derselbe bleiben. Denn die seelischen Kräfte müssen zur wirklichen übersinnlichen Forschung erst gestärkt, erkraftet werden.

Wenn man in dieser Weise fortübt, dann kommt der Tag, ich möchte sagen, der große Tag, an dem man eine ganz bestimmte Beobachtung macht, die Beobachtung, daß man allmählich in einer seelischen Tätig­keit ist, die ganz unabhängig vom Leibe ist. Und man merkt auch: Vor­her war man mit allem Denken und Empfinden vom Leibe abhängig, mit dem Vorstellen vom Sinnes-Nervensystem, mit dem Fühlen vom Zirkulationssystem und so weiter; jetzt fühlt man sich in einer geistig-seelischen Tätigkeit, welche völlig unabhängig von jeder Leibestätig­keit ist. Und das merkt man daran, daß man nunmehr in die Lage kommt, etwas im Kopfe selber in Vibration zu versetzen, das vorher ganz unbewußt geblieben ist. Man macht nämlich jetzt eine merk­würdige Entdeckung. Man macht die Entdeckung, worin der Unter­schied des Schlafens vom Wachen besteht. Dieser Unterschied besteht nämlich darin, daß wenn man wacht, etwas in dem ganzen mensch­lichen Organismus vibriert, nur nicht im Haupte: da ist dasselbe, was sonst im übrigen menschlichen Organismus in Bewegung ist, in Ruhe.

Um was es sich da handelt, werden wir besser einsehen, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß wir ja als Menschen nicht diese robusten, festen Körper sind, die wir gewöhnlich zu sein glauben. Wir bestehen nämlich zu 90 Prozent ungefähr aus Flüssigkeit, und die festen Bestandteile sind nur zu etwa 10 Prozent in diese Flüssigkeit ein­getaucht, schwimmen da darinnen. So daß wir vom Festen im Men­schen nicht anders als in einem unbestimmten Sinne sprechen können. Zu 90 Prozent sind wir, wenn ich so sagen darf, Wasser. Und zu einem gewissen Teile pulsiert in diesem Wasser Luft, und dann wiederum Wärme.

Wenn Sie sich so vorstellen, daß der Mensch, der zum geringen Teile ein fester Leib ist, zum großen Teile Wasser, Luft und die darin­nen vibrierende Wärme, so werden Sie es auch nicht mehr so sehr unglaubhaft

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finden, daß da etwas noch Feineres in uns ist. Und dieses Feinere will ich jetzt den Ätherleib nennen. Dieser Ätherleib, der ist feiner als die Luft. Er ist so fein, daß er uns durchzieht, ohne daß wir im gewöhnlichen Leben etwas davon wissen. Dieser Ä therleib, der ist es, welcher im Wachen in innerlicher Bewegung ist, in einer regelmäßigen Bewegung im ganzen übrigen menschlichen Leib, nur nicht im Kopfe. Im Kopfe ist der Ätherleib innerlich ruhig.

Im Schlafe ist das anders. Das Schlafen beginnt damit - und dauert dann in der Art und Weise an -, daß der Ätherleib auch im Kopfe an­fängt in Bewegung zu sein. So daß wir im Schlafe als ganzer Mensch, nach Kopf und übrigem Menschen, einen innerlich bewegten Ätherleib haben. Und wenn wir träumen, sagen wir, beim Aufwachen, dann ist es so, daß wir die letzten Bewegungen des Ätherleibes gerade im Auf­wachen noch wahrnehmen. Die stellen sich uns als die Träume dar. Die letzten Kopf-Ätherbewegungen nehmen wir beim Aufwachen noch wahr; das heißt, beim schnellen Aufwachen kann das nicht der Fall sein.

Wer lange in der Weise, wie ich es angedeutet habe, meditiert, der kommt aber in die Lage, in den ruhigen Ätherleib des Kopfes allmählich Bilder hinein zu formen. Das nenne ich in dem Buche, das ich ange­führt habe, Imaginationen. Und diese Imaginationen, die unabhängig vom physischen Leibe im Ätherleib erlebt werden, sind der erste über­sinnliche Eindruck, den wir haben können. Er bringt uns dann in die Lage, ganz abzusehen von unserem physischen Leibe, und unser Leben bis zu der Geburt hin in seinem Handeln, in seiner Bewegung wie in einem Bilde anzuschauen. Was oftmals von den Leuten beschrieben wird, die im Wasser untersinken, am Ertrinken sind: daß sie ihr Leben rück­wärtsschauend in bewegten Bildern sehen, das kann hier systematisch ausgebildet werden, so daß man alle Ergebnisse unseres gegenwärtigen Erdenlebens darinnen sehen kann.

Das erste, was die Initiationserkenntnis gibt, ist die Anschauung des eigenen seelischen Lebens. Das ist allerdings jetzt anders, als man es gewöhnlich vermutet. Gewöhnlich vermutet man in der Abstraktion dieses seelische Leben als etwas, das aus Vorstellungen gewoben ist. Wenn man es in seiner wahren Gestalt entdeckt, ist es etwas Schöpfe­risches, da ist es zugleich dasjenige, was in unserer Kindheit gewirkt

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hat, was unser Gehirn plastisch gebildet hat, was den übrigen Leib durchdringt und in ihm eine plastische, bildsame Tätigkeit bewirkt, indem es unser Wachen, sogar unsere Verdauungstätigkeit jeden Tag bewirkt.

Wir sehen dieses innerlich Tätige im Organismus als den Ätherleib des Menschen. Das ist kein räumlicher Leib, das ist ein zeitlicher Leib. Daher können Sie auch als Raumesform den Ätherleib nur beschreiben, wenn Sie sich bewußt sind, Sie tun dabei dasselbe, wie wenn Sie einen Blitz abmalen. Wenn Sie den Blitz abmalen, malen Sie natürlich einen Augenblick; Sie halten den Augenblick fest. Den menschlichen Äther­leib kann man auch nur so räumlich festhalten, daß das ein Augenblick ist. In Wirklichkeit haben wir einen physischen Raumesleib und einen Zeitleib, einen Ätherleib, der immer in Bewegung ist. Und es bekommt nur einen Sinn, von dem Ätherleib zu sprechen, wenn wir von diesem Zeitleib sprechen, den wir als Einheit überschauen bis zu unserer Geburt hin, von dem Augenblicke ab, wo wir in die Lage kommen, diese Ent­deckung zu machen. Das ist das erste, was wir an übersinnlichen An­lagen in uns selbst zunächst entdecken können.

Was in der Entwickelung der Seele bewirkt wird durch solche See­lenvorgänge, wie ich sie geschildert habe, das zeigt sich vor allen Din­gen an der ganzen Veränderung der Seelenstimmung, der Seelenver­fassung desjenigen Menschen, der nach der Initiationserkenntnis hinstrebt. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen. Ich meine nicht, daß der zur Initiation Kommende nun plötzlich ein vollständig ausgewech­selter, anderer Mensch wird. Im Gegenteil, die moderne Initiations­erkenntnis muß den Menschen voll in der Welt drinnen stehenlassen, so daß er auch, wenn er zur Initiation kommt, sein Leben so fortzu­setzen vermag, wie er es einmal begonnen hat. Aber für diejenigen Stunden und Augenblicke, in denen übersinnliche Forschung getrieben wird, ist der Mensch allerdings durch die Initiationserkenntnis ein an­derer geworden, als er im gewöhnlichen Leben ist.

Vor allen Dingen möchte ich ein wichtiges Moment hervorheben, das die Initiationserkenntnis auszeichnet. Das ist dies, daß der Mensch immer mehr und mehr fühlt, je weiter er vordringt in dem Erleben des

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Übersinnlichen, wie ihm seine eigene Leiblichkeit entschwindet, das heißt mit Bezug auf das, woran diese Leiblichkeit im gewöhnlichen Leben beteiligt ist. Fragen wir uns einmal, wie unsere Urteile im Leben zustande kommen. Wir wachsen auf, entwickeln uns als Kind. Es setzt sich in unserem Leben Sympathie und Antipathie fest. Sympathie und Antipathie mit Naturerscheinungen, Sympathie und Antipathie vor allen Dingen mit anderen Menschen. An alledem ist unser Leib, ist unser Körper beteiligt. Wir legen selbstverständlich da hinein diese Sympathie und Antipathie, die zum großen Teil sogar in physischen Vorgängen unseres Leibes ihren Grund haben. In dem Augenblicke, in dem der zu Initiierende in die übersinnliche Welt aufsteigt, lebt er sich in eine Welt ein, worin ihm diese Sympathie und Antipathie, die mit der Körper­lichkeit zusammenhängen, für das Verweilen im Übersinnlichen immer fremder und fremder werden. Er ist demjenigen entrückt, womit er durch seine Leiblichkeit zusammenhängt. Er muß, wenn er wiederum das gewöhnliche Leben aufnehmen will, sich gewissermaßen erst wieder hineinstecken in seine gewöhnlichen Sympathien und Antipathien, was sonst ja selbstverständlich geschieht. Wenn man des Morgens auf­wacht, steckt man in seinem Leibe darinnen, entwickelt dieselbe Liebe zu den Dingen und Menschen, dieselbe Sympathie oder Antipathie, die man vorher gehabt hat. Das geschieht von selbst. Wenn man nun im Übersinnlichen verweilt und wiederum zu seinen Sympathien und Anti­pathien zurück will, dann muß man das mit Anstrengung tun, dann muß man gewissermaßen untertauchen in seine eigene Leiblichkeit. Dieses Entrücktwerden der eigenen Leiblichkeit, das ist eine der Er­scheinungen, die zeigt, daß man wirklich etwas vorwärtsgekommen ist. Überhaupt ist das Auftreten von weitherzigen Sympathien und Antipathien, was dem Initiierten allmählich sich einverleibt.

In einem zeigt sich die Entwickelung zur Initiation hin ganz beson­ders stark; das ist in der Wirkung des Gedächtnisses, der Erinnerung während der Initiationserkenntnis. - Wir erleben uns im gewöhnlichen Leben. Unsere Erinnerung, unser Gedächtnis ist manchmal ein bißchen besser, manchmal ein bißchen schlechter, aber wir erwerben uns das Gedächtnis. Wir haben Erlebnisse; wir erinnern uns später an diese Erlebnisse. Mit dem, was wir in den übersinnlichen Welten erleben,

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ist es nicht so. Das können wir erleben in Größe, in Schönheit, in Bedeut­samkeit - wenn es erlebt worden ist, ist es vorbei. Und es muß wieder erlebt werden, wenn es wiederum vor der Seele stehen soll. Es prägt sich nicht im gewöhnlichen Sinne der Erinnerung ein. Es prägt sich nur dann der Erinnerung ein, wenn man erst mit aller Mühe das, was man im Übersinnlichen schaut, in Begriffe bringt, wenn man seinen Ver­stand mit hinüberschickt in die übersinnliche Welt. Das ist ganz schwie­rig. Man muß drüben nämlich geradeso denken, ohne daß einem der Leib bei diesem Denken hilft. Daher muß man vorher seine Begriffe gefestigt haben, muß vorher ein ordentlicher Logiker geworden sein, damit man diese Logik nicht immer vergißt, wenn man hineinsieht. Gerade die primitiven Hellseher können manches schauen, aber sie vergessen die Logik, wenn sie drüben sind. Und so ist es, daß gerade dann, wenn man übersinnliche Wahrheiten jemand anderem mitzu­teilen hat, man diese Veränderung des Gedächtnisses in bezug auf über­sinnliche Wahrheiten merkt. Und man sieht daran, wie unser physischer Leib daran beteiligt ist bei der Ausübung des Gedächtnisses, nicht beim Denken, aber bei der Ausübung des Gedächtnisses, das ja immer ins Übersinnliche hineinspielt.

Wenn ich etwas Persönliches sagen darf, so ist es das: wenn ich selbst Vorträge halte, so ist das anders, als man sonst Vorträge hält. Da wird aus der Erinnerung oftmals gesprochen; was man gelernt hat, was man gedacht hat, wird aus der Erinnerung oftmals entwickelt. Derjenige, der wirklich übersinnliche Wahrheiten entwickelt, der muß sie eigentlich immer in dem Momente, wo er sie entwickelt, erzeugen. So daß ich selber dreißig-, vierzig-, fünfzigmal denselben Vortrag halten kann, und er ist für mich nie derselbe. Das ist auch natürlich schon sonst der Fall, aber in erhöhtem Maße ist es der Fall, dieses Unabhängigsein vom Gedächtnis, dieses Hineintragen in ein inneres Leben, wenn eine innere Stufe des Gedächtnisses erreicht ist.

Was ich Ihnen jetzt erzählt habe von der Fähigkeit, in den Äther-leib seines Hauptes die Formen hineinzubringen, die einem dann mög­lich machen, den Zeitleib, den Ätherleib bis zu seiner Geburt hin zu durchschauen, das bringt schon überhaupt in eine ganz besondere Stim­mung gegenüber dem Kosmos. Man verliert sozusagen seine eigene

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Leiblichkeit, aber man fühlt sich hineinlebend in den Kosmos. Das Bewußtsein dehnt sich gewissermaßen in der Weite des Äthers aus. Man schaut keine Pflanze mehr an, ohne daß man untertaucht in ihr Wachstum. Man verfolgt sie von der Wurzel bis zur Blüte. Man lebt in ihren Säften, in ihrem Blühen, in ihrem Fruchten. Man kann sich ver­tiefen in das Leben der Tiere nach ihrer Form, insbesondere aber in das Leben des anderen Menschen. Der leiseste Zug, der einem entgegentritt am anderen Menschen, führt einen sozusagen hinein in das ganze Seelen-leben, so daß man fühlt, man ist jetzt nicht in sich, sondern man ist, während dieses übersinnlichen Erkennens, außer sich.

Aber man muß immer wieder - das ist notwendig - zurückkehren können, sonst ist man ein träger, nebuloser Mystiker, ein Schwärmer und kein Erkenner der übersinnlichen Welten. Man muß zu gleicher Zeit in den übersinnlichen Welten leben können und zu gleicher Zeit sich wiederum zurückversetzen können, so daß man fest auf seinen beiden Beinen stehen kann. Daher muß ich schon, wenn ich solche Dinge über die übersinnlichen Welten auseinandersetze, betonen, daß für mich eigentlich zu einem guten Philosophen noch mehr als die Logik, das gehört, daß man weiß, wie ein Schuh oder ein Rock genäht wird, daß man praktisch im Leben wirklich drinnensteht. Man sollte eigentlich nicht über das Leben denken, wenn man nicht praktisch im Leben wirklich drinnensteht. Das aber ist in einem noch erhöhten Maße der Fall für denjenigen, der übersinnliche Erkenntnisse sucht. Über­sinnliche Erkenner können keine Träumer, keine Schwärmer werden, keine Menschen, die nicht auf beiden Beinen dastehen. Sonst verliert man sich, weil man ja tatsächlich außer sich kommen muß. Aber dieses Außer-sich-Kommen darf nicht dazu führen, daß man sich verliert. Aus einer solchen Erkenntnis, wie ich sie geschildert habe, ist das Buch geschrieben: «Geheimwissenschaft im Umriß».

Dann aber handelt es sich darum, daß man in dieser übersinnlichen Erkenntnis weiterdringen kann. Das geschieht dadurch, daß man die Meditation jetzt weiter ausbildet. Man ruht zunächst mit der Medi­tation auf bestimmten Vorstellungen oder Vorstellungskomplexen und verstärkt dadurch das Seelenleben. Das genügt noch nicht, um völlig in die übersinnliche Welt hineinzukommen, sondern dazu ist notwendig,

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daß man sich auch noch darin übt, nicht nur auf Vorstellungen zu ruhen, nicht nur gewissermaßen die ganze Seele hin zu konzentrieren auf diese Vorstellungen, sondern sie immer nach Willkür auch aus dem Bewußtsein herauswerfen zu können. So wie im sinnlichen Leben man auf irgend etwas hin- und wieder wegschauen kann, so muß man lernen, in der übersinnlichen Entwickelung sich auf einen Seeleninhalt scharf zu konzentrieren und ihn wiederum aus der Seele herauswerfen zu können.

Das ist manchmal schon im gewöhnlichen Leben nicht leicht. Denken Sie, wie wenig der Mensch es in der Hand hat, seine Gedanken immer wieder wegzutreiben. Manchmal verfolgen Gedanken, namentlich wenn sie unangenehm sind, den Menschen tagelang. Er kann sie nicht weg­werfen. Es wird das aber noch viel schwieriger, wenn wir uns erst daran gewöhnt haben, uns auf den Gedanken zu konzentrieren. Ein Gedan­keninhalt, auf den wir uns konzentriert haben, der beginnt uns zuletzt festzuhalten, und wir müssen alle Mühe aufwenden, ihn wieder weg­zuschaffen. Wenn wir uns darin lange geübt haben, dann bringen wir uns dahin, diesen ganzen Rückblick auf das Leben bis zur Geburt hin, diesen ganzen Ätherleib, wie ich ihn nenne, diesen Zeitleib, auch weg­zuschaffen, herauszuwerfen aus unserem Bewußtsein.

Das ist natürlich eine Entwickelungsstufe, zu der wir es bringen müssen. Wir müssen erst reif werden; durch Wegschaffen von medi­tierten Vorstellungen müssen wir uns die Kraft aneignen, diesen see­lischen Koloß, diesen seelischen Riesen wegzuschaffen; der ganze furchtbare Haifisch unseres bisherigen Lebens zwischen unserem jetzigen Augenblick und der Geburt steht vor uns - den müssen wir wegschaffen. Schaffen wir den weg, dann tritt für uns etwas ein, was ich nennen möchte «wacheres Bewußtsein». Dann sind wir bloß wach, ohne daß in dem wachen Bewußtsein etwas darinnen ist. Aber das füllt sich jetzt. Geradeso wie einströmt in die Lunge die Luft, deren sie bedürftig ist, so strömt jetzt in das leere Bewußtsein, das auf die Weise, wie ich es geschildert habe, entstanden ist, die wirklich geistige Welt ein.

Das ist die Inspiration. Da strömt jetzt etwas ein, was nicht etwa ein feinerer Stoff ist, sondern was sich zum Stoffe verhält, wie sich zu dem Positiven das Negative verhält. Was das Entgegengesetzte des

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Stoffes ist, das strömt jetzt in die vom Äther frei gewordene Mensch­lichkeit herein. Das ist das Wichtige, daß wir gewahr werden können: Geist ist nicht nur ein noch feinerer, ein noch ätherischer gewordener Stoff; das ist nicht wahr. Wenn wir den Stoff das Positive nennen, dann mussen wir den Geist in bezug auf das Positive das Negative nennen. Es ist so, wie wenn ich, sagen wir, das große Vermögen von 5 Schilling im Portemonnaie habe. Ich gebe einen aus, dann habe ich noch 4; ich gebe noch einen aus, habe noch 3 und so weiter, bis ich keinen mehr habe. Dann kann ich Schulden machen. Wenn ich einen Schilling Schul­den habe, habe ich weniger als keinen Schilling.

Wenn ich durch die Methode, die ich ausgebildet habe, den Äther­leib weggeschafft habe, komme ich nicht in einen noch feineren Äther hinein, sondern in etwas, was dem Äther entgegengesetzt ist, wie die Schulden dem Vermögen. Und jetzt weiß ich erst aus Erfahrung, was Geist ist. Der Geist kommt durch Inspiration in einen herein, und das erste, was wir jetzt erleben, das ist dasjenige, was vor der Geburt be­ziehungsweise vor der Empfängnis mit unserer Seele und mit unserem Geiste in einer geistigen Welt war. Das ist das präexistente Leben un­seres Seelisch-Geistigen. Vorher haben wir es im Äther geschaut bis zu unserer Geburt hin. Jetzt schauen wir über die Geburt beziehungsweise Empfängnis hinaus in die geistig-seelische Welt, und kommen dazu, uns wahrzunehmen, wie wir waren, bevor wir heruntergestiegen sind aus geistigen Welten und einen physischen Leib durch die Vererbungslinie angenommen haben.

Diese Dinge sind für die Initiationserkenntnis nicht philosophische Wahrheiten, die man erdenkt, sie sind Erfahrungen, aber Erfahrungen, die erst erworben werden müssen, indem man sich so für sie vorbereitet, wie ich es jetzt angedeutet habe. Und so ist das erste, was uns wird, indem wir in die geistige Welt eintreten, die Wahrheit von der Prä­existenz der Menschenseele beziehungsweise des Menschengeistes, und wir lernen jetzt das Ewige unmittelbar anschauen.

Seit vielen Jahrhunderten hat die europäische Menschheit die Ewig­keit immer nur nach der einen Seite angesehen, nach der Seite der Un­sterblichkeit. Sie hat immer nur gefragt: Was wird aus der Seele, wenn sie den Leib verläßt mit dem Tode? - Es ist das ja das egoistische Recht

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der Menschen, denn die Menschen interessieren sich dafür, was dann folgt, wenn der Tod eingetreten ist, aus egoistischen Gründen. Wir werden gleich nachher sehen, daß wir auch über die Unsterblichkeit sprechen können; aber zumeist wird über die Unsterblichkeit aus ego­istischen Gründen gesprochen. Das, was vor der Geburt war, dafür interessieren sich die Menschen weniger. Sie sagen sich: Wir sind ja da. - Was vorhergegangen ist, hat nur einen Erkenntniswert. Aber einen wahren Erkenntniswert gewinnt man nicht, wenn man nicht seine Er­kenntnis auf das richtet, was unser Dasein vor der Geburt beziehungs­weise vor der Konzeption enthält.

Wir brauchen in den modernen Sprachen ein Wort, wodurch das Ewige erst vollständig wird. Wir sollten nicht nur von Unsterblichkeit reden, wir sollten auch - das wird etwas schwer zu übersetzen sein -, wir sollten auch von Ungeborenheit sprechen, denn die Ewigkeit besteht aus Unsterblichkeit und Ungeborenheit, und die Ungeborenheit ent­deckt die Initiationserkenntnis vor der Unsterblichkeit.

Eine weitere Stufe der Entwickelung nach der übersinnlichen Welt hin kann dadurch erreicht werden, daß wir in unserer geistig-seelischen Betätigung noch weiter loszukommen suchen von der leiblichen Stütze. Das kann dadurch geschehen, daß wir nun die Übungen der Meditation und Konzentration mehr hinüberlenken nach Willensübungen.

Nun möchte ich Ihnen eine einfache Willensübung als konkretes Beispiel vor die Seele führen, an der Sie das Prinzip, das hier in Betracht kommt, studieren können. - Wir sind im gewöhnlichen Leben daran gewöhnt, mit dem Verlauf der Welt zu denken. Wir lassen die Dinge, wie sie geschehen, an uns herantreten. Das, was früher an uns heran­trat, denken wir früher, was später an uns herantrat, denken wir später. Und selbst wenn wir in dem mehr logischen Denken nicht mit dem zeitlichen Verlauf mitdenken, so ist doch im Hintergrunde die Be­mühung vorhanden, uns an den äußeren, wirklichen Verlauf der Tat­sache zu halten. Um uns im geistig-seelischen Kräfteverhältnisse zu üben, müssen wir loskommen von dem äußerlichen Verlauf der Dinge. Und da ist eine gute Übung, die zugleich eine Willensübung ist, diese, wenn wir versuchen unsere Tageserlebnisse, wie wir sie vom Morgen

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bis zum Abend erleben, eben nicht vom Morgen bis zum Abend, son­dern vom Abend zum Morgen hin rückwärts durchzudenken, und dabei möglichst auf die Einzelheiten einzugehen.

Nehmen wir an, wir kommen bei einer solchen Rückschau auf das Tagesleben dazu: wir gingen eine Treppe hinan. Wir stellen uns vor, wir sind zuerst oben, dann auf der letzten, vorletzten Stufe und so weiter. Wir gehen umgekehrt herunter. - Wir werden anfangs nur in der Lage sein, uns Episoden vom Tagesleben auf diese Weise rückwärts vorzustellen, etwa von sechs bis drei, von zwölf bis neun Uhr und so weiter, bis zum Momente des Aufwachens. Aber wir werden uns all­mählich eine Art Technik aneignen, durch die wir in der Tat wie in einem rückwärts gewendeten Tableau am Abend oder am nächsten Morgen in der Lage sind, das Tagesleben oder das vorherige Tages-leben vor unserer Seele in Bildern nach rückwärts vorüberziehen zu lassen. Wenn wir in der Lage sind - und darauf kommt es an -, mit unserem Denken ganz loszukommen von der Art, wie die Wirklichkeit verläuft, dreidimensional, dann werden wir sehen, wie eine ganz unge­heure Verstärkung unseres Willens eintritt. Wir werden das auch er­reichen, wenn wir in die Lage kommen, eine Melodie umgekehrt zu empfinden, oder wenn wir uns ein Drama von fünf Akten vorstellen, rückwärts verlaufend vom fünften, vierten Akt und so weiter zum ersten. Durch alle diese Mittel stärken wir den Willen, indem wir ihn innerlich erkraften und äußerlich losreißen von seinem sinnlichen Ge­bundensein an die Ereignisse.

Dazu können solche Übungen treten, wie ich sie schon in früheren Vorträgen angedeutet habe, daß wir uns anschauen, wie wir die eine oder die andere Gewohnheit haben. Wir nehmen uns fest vor und wen­den eisernen Willen an, um in ein paar Jahren in dieser Richtung eine andere Gewohnheit angenommen zu haben. Ich erwähne zum Beispiel nur, daß jeder Mensch in der Schrift etwas hat, was man den Charakter derselben nennt. Wenn wir uns mit eisernem Willen anstrengen, eine andere Schrift zu bekommen, die gar nicht mehr der früheren ähnlich ist, so gehört dazu eine innere starke Kraft. Nur muß uns dann die zweite Schrift ebenso habituell, ebenso geläufig werden wie die erste. Das ist nur eine Kleinigkeit; so gibt es vieles, wodurch wir die ganze

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Grundrichtung unseres Willens durch unsere eigene Energie ändern können. Dadurch bringen wir es allmählich dahin, nun nicht nur die geistige Welt als Inspiration in uns hereinzubekommen, sondern wirk­lich mit unserem, vom Leibe frei gewordenen Geiste in die anderen geistigen Wesen, die außer uns sind, unterzutauchen. Denn wirkliches geistiges Erkennen ist ein Untertauchen in Wesenheiten, die ja geistig um uns sind, wenn wir physische Dinge anschauen. Wenn wir Geistiges erkennen wollen, müssen wir erstens aus uns heraus. Das habe ich ge­schildert. Dann aber müssen wir uns auch die Fähigkeit aneignen, uns wiederum in die Dinge, nämlich in die geistigen Dinge und Wesen­heiten hineinzuversenken.

Das können wir nur, nachdem wir auch solche Initiationsübungen gemacht haben, wie ich sie eben jetzt beschrieben habe, wo wir in der Tat gar nicht mehr gestört werden durch unseren eigenen Körper, son­dern wo wir in das Geistige der Dinge untertauchen können; wo uns auch nicht mehr die Farben der Pflanzen erscheinen, sondern wo wir in die Farben der Pflanzen selber hineintauchen, wo wir auch nicht mehr die Pfanzen gefärbt, sondern sich färben sehen. Indem wir wissen, daß die Zichorie, die am Wege wächst, nicht nur blau ist, wenn wir sie anschauen, sondern daß wir in die Blüte innerlich untertauchen kön­nen, so daß wir das Blauwerden mitmachen, stehen wir intuitiv in die­sem Prozesse drinnen, und dann können wir, von da ausgehend, unsere geistige Erkenntnis immer mehr und mehr ausdehnen.

Daß wir wirklich vorwärtsgekommen sind mit solchen Übungen, können wir dann an einzelnen Symptomen sehen. Ich möchte zwei an­führen, aber es gibt viele. Das erste besteht darin, daß wir über die moralische Welt ganz andere Anschauungen bekommen, als wir sie vorher haben. Die moralische Welt hat für den reinen Intellektualis­mus etwas Unreales. Gewiß, der Mensch fühlt sich verpflichtet, wenn er noch anständig geblieben ist innerhalb der materialistischen Zeit, das, was althergebrachtes Gutes ist, pflichtgemäß zu tun, aber er denkt doch, wenn er es sich auch nicht gesteht: damit, daß man das Gute getan hat, ist nicht so etwas geschehen, wie wenn ein Blitz durch den Raum fährt oder ein Donner durch den Raum rollt. An Reales in sol­chem Sinne denkt er nicht. Wenn man sich in die geistige Welt hineinlebt,

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wird man gewahr, daß die moralische Weltordnung nicht nur eine solche Realität hat wie die physische, sondern daß sie eine höhere Reali­tät hat. Man lernt allmählich verstehen, daß diese ganze Zeit mit ihren physischen Ingredienzen und Vorgängen zugrunde gehen kann, sich auflösen kann; aber das, was moralisch aus uns fließt, besteht fort in seinen Wirkungen. Die Realität der moralischen Welt geht uns auf. Und physische und moralische Welt, Sein und Werden, das wird Eines. Wir erleben wirklich, daß die Welt auch moralische Gesetze als objektive Gesetze hat.

Das steigert die Verantwortlichkeit gegenüber der Welt. Das gibt uns überhaupt ein ganz anderes Bewußtsein, ein Bewußtsein, das die mo­derne Menschheit gar sehr braucht. Diese moderne Menschheit, die hin­schaut auf den Erdenanfang, wie die Erde sich herausgebildet hat aus einem Urnebel, wie da aufgestiegen ist aus diesem Urnebel das Leben, der Mensch, und aus diesem heraus wie eine Art Fata Morgana die Ideenwelt; diese Menschheit, die hinschaut auf den Wärmetod, so daß alles, worin die Menschheit lebt, wiederum untergetaucht wird in ein großes Gräberfeld: diese Menschheit braucht die Erkenntnis von der moralischen Weltordnung. Sie wird im Grunde genommen durch spiri­tuelle Erkenntnis voll errungen. Das kann ich nur andeuten.

Das andere aber ist, daß man nicht zu diesem intuitiven Erkennen, zu diesem Untertauchen in die äußeren Dinge kommen kann, ohne daß man durch ein gesteigertes Leiden, durch gesteigerten Schmerz durch­gegangen ist, gesteigert gegenüber demjenigen Schmerz, den ich schon früher bei der imaginativen Erkenntnis charakterisieren mußte, indem ich sagte, daß man sich ja mit Mühe erst wiederum hineinfinden muß in seine Sympathien und Antipathien, was eigentlich immer, wenn es geschehen muß, Schmerz macht. Jetzt wird der Schmerz zu einem kosmischen Miterleben alles Leidens, das auf dem Grunde des Da­seins liegt.

Man kann leicht sagen, warum die Götter oder Gott das Leiden schaffen. Das Leiden muß da sein, wenn sich die Welt in ihrer Schön­heit aus dem Leiden erheben soll. Daß wir Augen haben - ich will mich populär ausdrücken -, rührt nur davon her, daß zuerst in einem noch undifferenzierten Organismus gewissermaßen ausgegraben worden ist

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dasjenige an Organischem, was zur Sehkraft geführt hat, was dann umgewandelt zum Auge geführt hat. Würden wir heute noch die kleinen, unbedeutendsten Prozesse wahrnehmen, die in unserer Netzhaut beim Sehen vor sich gehen, so würden wir wahrnehmen, daß selbst das ein auf dem Grunde des Daseins ruhender Schmerz ist. Auf dem Grunde des Leidens ruht alle Schönheit, Schönheit kann sich nur aus dem Schmerz heraus entwickeln. Diesen Schmerz, dieses Leiden, man muß es fühlen können. Nur dadurch kann man sich wirklich hineinfinden in die übersinnliche Welt, daß man durch Schmerz hindurchgeht. Das kann man schon in einem minderen Grade auf einer niederen Stufe der Erkenntnis sagen. Jeder, der sich ein wenig Erkenntnis erworben hat, wird ein Geständnis machen können, er wird sagen: für das, was ich Glückliches, Erfreuliches im Leben gehabt habe, bin ich meinem Schick­sal dankbar. Meine Erkenntnisse aber habe ich nur durch meine Schmer­zen, nur durch meine Leiden errungen.

Fühlt man das schon im Anfange niederer Erkenntnis gegenüber, so kann man es durchleben, indem man sich überwindet, indem man sich durch den Schmerz, der als kosmischer Schmerz gefühlt wird, hin­durchwindet zum neutralen Erleben im geistigen Kosmos. Man muß sich zum Miterleben des Geschehens und Wesens aller Dinge hindurch-arbeiten; dann ist die intuitive Erkenntnis da. Dann ist man aber auch vollständig in einem erkennenden Erleben drinnen, das nicht mehr an den Leib gebunden ist, das frei zurückkehren kann zum Leibe, um wie­derum in der sinnlichen Welt zu sein bis zum Tode, das aber jetzt voll weiß, was es heißt, real sein, geistig-seelisch wirklich sein außerhalb des Leibes.

Hat man das begriffen, dann hat man ein Erkenntnisbild desjenigen, was geschieht, wenn man im Tode den physischen Leib verläßt, dann weiß man, was es heißt, durch die Pforte des Todes gehen. Die Realität, die einem entgegentritt, daß das Geistig-Seelische in eine geistig-see­lische Welt übertritt, wenn es den Leib zurückläßt, das erlebt man er­kennend vor, wenn man bis zur intuitiven Erkenntnis aufgestiegen ist, das heißt, wenn man weiß, wie es ist in der Welt, wenn man keinen Leib hat, der einem zur Stütze dient. Man kehrt dann mit dieser Erkenntnis, wenn man sie zum Begriffe gebracht hat, wiederum in den Leib zurück.

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Aber das Wesentliche ist, daß man auch ohne den Leib leben lernt, und damit sich auch eine Erkenntnis erwirbt, wie es ist, wenn man einmal den Leib nicht mehr brauchen kann, wenn man ihn ablegt mit dem Tode und übertritt in eine geistig-seelische Welt.

Wieder ist es nicht eine philosophische Spekulation, die von der Initiationserkenntnis über die Unsterblichkeit gegeben wird, sondern es ist eine Erfahrung, die, ich möchte sagen, eine Vorerfahrung, ein Vor-erlebnis ist. Man weiß, wie es dann sein wird. Man erlebt nicht die volle Realität, aber man erlebt ein reales Bild, das sich in einer gewissen Weise deckt mit der vollen Realität des Sterbens. Man erlebt die Un­sterblichkeit. Es ist also auch in dieser Beziehung ein Erlebnis, das hereingeholt wird in die Erkenntnis.

Nun habe ich versucht, Ihnen zu schildern, wie man aufsteigt durch Imagination zur Inspiration und Intuition, und wie man dadurch zu­nächst sich selbst als Menschen in seiner vollen Realität kennenlernt Im Leibe lernt man sich erkennen solange man eben im Leibe ist. Mit dem Geistig-Seelischen frei werden muß man vom Leibe, dann löst man erst den ganzen Menschen. Denn was man erkennt durch den Leib, durch seine Sinne, durch das, was sich anschließt an die Sinnes-erfahrungen als Denken, und was für das gewöhnliche Denken doch an den Leib, nämlich an das Sinnes-Nervensystem gebunden ist: mit dem lernt man nur ein Glied des Menschen kennen. Den ganzen vollen Menschen lernt man nur erkennen, wenn man den Willen hat, aufzu-steigen zu denjenigen Erkenntnissen, die eben aus der Initiationswissen-schaft kommen. Noch einmal möchte icb betonen: sind die Dinge er­forscht, dann kann jeder, wenn er mit unbefangenem Sinn an sie heran­geht, sie mit dem gewöhnlichen gesunden Menschenverstand einsehen. Ebenso wie man das, was die Astronomen, was die Biologen über die Welt sagen, mit dem gesunden Menschenverstand nachprüfen kann. Und man wird dann finden, daß dieses Nachprüfen die erste Stufe der Initiationserkenntnis ist. Man muß zuerst, weil der Mensch nicht auf Unwahrheit und Irrtum, sondern auf Wahrheit angelegt ist, einen Wahrheitseindruck haben von der Initiationserkenntnis, dann wird man, soweit es das Schicksal möglich macht, schon in diesem Erden-leben immer weiter in die geistige Welt eindringen können. Es muß sich

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auch in der neueren Zeit, und zwar in einer höheren Weise erfüllen, was über dem griechischen Tempel als Aufforderung stand: «Mensch, er­kenne dich selbst!» Damit war gewiß nicht gemeint ein Hineintreten in das menschliche Innere, sondern eine Aufforderung, zu forschen nach der menschlichen Wesenheit: dem Leib; nach dem Wesen der Un­sterblichkeit, nach dem Wesen der Ungeborenheit: unsterblicher Geist, und nach der Vermittlung zwischen der Erde, dem Zeitlichen und dem Geiste: Seelisches. Denn der wahre, der wirkliche Mensch besteht aus Leib, Seele und Geist. Den Leib kann der Leib, die Seele kann die Seele, den Geist kann nur der Geist erkennen. Daher muß versucht werden, selber den Geist in sich als tätig zu finden, damit der Geist auch in der Welt erkannt werden kann.

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FÜNFTER VORTRAG Oxford, 21. August 1922 Die Erziehung der jüngeren Kinder Der Lehrer als Erziehungskünstler (I)

Wie sich der Zahnwechsel beim Kinde um das 7. Jahr herum all­mählich vollzieht, so ist das auch in einem noch höheren Grade mit dem großen Umschwung im körperlichen, seelischen und geistigen Organis­mus, von dem ich in dieser Darstellung gesprochen habe. Und daher muß auch bei Erziehung und Unterricht darauf Rücksicht genommen werden, daß das Kind aus einem nachahmenden Wesen allmählich ein solches wird, das auf die Autorität des Erziehenden, des Unterrich­tenden hin sich heranbildet. Deshalb darf auch nicht ein schroffer Über­gang gemacht werden in der Behandlung des Kindes um das 7. Jahr herum, also in dem Lebensalter, in dem man es zum Erziehen in die elementare Schule bekommt. Das weiter hier über den Anfang der Er­ziehung in der Elementarschule Gesagte muß in diesem Sinne aufge­faßt werden.

In der Erziehungskunst, von der hier die Rede ist, soll alles darauf angelegt sein, dasjenige in seiner Entwickelung zu pflegen, was im Kinde veranlagt ist. Daher muß aller Unterricht in den Dienst der Erziehung gestellt sein. Eigentlich erzieht man, und den Unterricht benützt man gewissermaßen, um zu erziehen.

Das hier vertretene Erziehungsprinzip erfordert, daß das Kind im richtigen Lebensalter die richtige Orientierung im Leben ausbildet. Allein das ist nur in befriedigender Weise möglich, wenn man das Kind nicht von vornherein zu etwas Unnatürlichem in seiner Betätigung veranlaßt.

Es ist aber in einem gewissen Sinne etwas durchaus Unnatürliches, wenn man in der gegenwärtigen Zeit auf einer vorgerückten Zivili­sationsstufe der Menschheit das Kind in seinem 6. oder 7. Lebensjahre unmittelbar veranlaßt, die Formen der Lesezeichen und des Schreibens nachzubilden, die üblich sind.

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Wenn man dasjenige in Betracht zieht, was man heute als Buch­staben hat für das Lesen und Schreiben, so muß man sich sagen, daß kein Zusammenhang besteht zwischen demjenigen, was das Kind in seinem 7. Jahre aus seiner Veranlagung heraus gestalten will, und diesen Buchstaben. Man bedenke, daß die Menschheit, als sie angefangen hat zu schreiben, sich malerischer Zeichen bedient hat, die eine Sache oder einen Vorgang der Außenwelt nachahmten; oder es wurde aus dem Willen heraus geschrieben so, daß die Schriftformen Wil­lensvorgänge zum Ausdruck brachten, wie zum Beispiel bei der Keil­schrift. Aus dem, was als Bilderschrift entstanden ist, entwickelten sich erst die ganz abstrakten Buchstabenformen, auf die heute das Auge geheftet wird oder die aus der schreibenden Hand heraus sich formen.

Bringen wir dem ganz jungen Kinde diese Buchstaben bei, so fügen wir ihm etwas ganz Fremdes zu, was gar nicht seiner Natur entspricht. Wir müssen uns aber klar sein darüber, was das bedeutet, wenn wir etwas Fremdes in das Kind, in den ganzen kindlichen Organismus einfach hineinschieben. Es ist so, wie wenn wir das Kind frühzeitig daran ge­wöhnen würden, ganz enge Kleider zu tragen, die ihm nicht passen, und die dann seinen Organismus ruinieren. Heute, wo man, ich möchte sagen, nur oberflächlich beobachtet, sieht man eben nicht ein, was im späteren Alter an Hemmungen im eigenen Organismus da ist, einfach aus dem Grunde, weil man in falscher Weise mit dem Lesen und Schrei­ben an das Kind herangekommen ist.

Erziehungskunst, die auf Menschenerkenntnis beruht, geht so vor, daß sie wirklich alles aus dem Kinde heraus entwickelt, nicht bloß sagt, es soll die Individualität entwickelt werden, sondern es auch wirklich tut. Das erreicht man dadurch, daß man zunächst überhaupt nicht vom Lesen ausgeht. Das Kind geht auch vom Zappeln aus, von Willensäußerungen, nicht vom Anschauen. Das Anschauen kommt erst später. Und so ist es nötig, nicht vom Lesen auszugehen, sondern vom Schreiben, aber das Schreiben auch so zu betreiben, daß es aus der gan­zen Menschenwesenheit als etwas Selbstverständliches herauskommt. Daher beginnen wir mit dem Schreibunterricht, nicht mit dem Lese-unterricht, und versuchen allmählich dasjenige, was das Kind in der

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Nachahmung selber entwickeln will durch seinen Willen, durch seine Hände, auch hinzuleiten zum Schreiben.

Ich möchte es Ihnen anschaulich machen an einem Beispiel. Denken Sie sich, wir veranlassen das Kind dazu, das Wort «Fisch» zu sagen, und indem wir es dazu veranlassen, das Wort zu sagen, versuchen wir, mit ganz einfachen Linien die Form des Fisches ihm vor Augen zu führen, etwa so (es wird gezeichnet), daß wir in einfacher Weise so etwas dem Kinde vormalen, was die Form des Fisches imitiert, und dann auch versuchen, das von dem Kinde nachmalen zu lassen. Und dann bringen wir das Kind dazu, zu empfinden vom Wort «Fisch», das F. Vom «Fisch» gehen wir über zu F, und wir haben aus der Form des Fisches die Möglichkeit, nach und nach das F zu gestalten. Wir lassen also künstlerisch aus demjenigen, was aus der Anschauung in den Willen hineingeht, die Buchstabenform entstehen.

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Auf diese Weise bringen wir nicht ein fremdes F; das ist ein Dämon für das Kind, das ist etwas, was als ganz Fremdes in seinen Leib hin­eingestopft wird; wir bringen dasjenige, was das Kind auf dem Markte gesehen hat, aus dem Kinde heraus. Wir verwandeln das nach und nach in das F.

Wir kommen dadurch nahe der Entstehung der Schrift, denn so, in ähnlicher Weise, ist auch die Schrift entstanden. Aber es ist nicht nötig, daß der Lehrer antiquarische Studien macht und gleichsam wie­derholt dasjenige, wie die Bilderschrift entstanden ist, um nun wieder­um das dem Kinde beizubringen. Das, um was es sich handelt, ist, eine lebendige Phantasie walten zu lassen, und das heute noch entstehen zu lassen, was vom Gegenstand, vom unmittelbaren Leben in die Buchstabenformen

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hineinführt. Sie werden da jede mögliche Gelegenheit haben, dem Kinde Buchstabenformen aus dem Leben heraus abzuleiten. Lassen Sie es M sprechen, lassen Sie es fühlen, wie das M auf den Lippen vibriert, und versuchen Sie ihm dann die Form der Lippe als Form beizubringen, dann werden Sie von dem M, das auf der Lippe vibriert, übergehen können nach und nach zu dem Zeichen M.

Und so werden Sie, wenn Sie nicht intellektualistisch, sondern spiri­tuell, imaginativ vorzugehen versuchen, alles aus dem Kinde heraus­holen können, was nach und nach dazu führt, daß das Kind schreiben lernt. Es lernt langsamer schreiben, als es heute oftmals schreiben lernt. Aber wenn dann die Eltern kommen und sagen: Mein Kind ist acht Jahre alt, neun Jahre alt, und kann noch nicht gut schreiben! - so müssen wir ihnen immer sagen: Alles dasjenige, was langsamer gelernt wird in einem gewissen Lebensalter, das lebt sich sicherer und gesunder in den Lebensorganismus hinein, als was hineingepfropft wird.

Wichtig ist dabei, daß auf diese Weise durchaus auch die Indivi­dualität des Lehrers zum Ausdrucke kommt. Da wir in der Waldorf­schule schon viele Schüler haben, mußten wir Parallelklassen errichten, wir haben zwei 1. Klassen, zwei 2. und so weiter. Sie können, wenn Sie in die eine 1. Klasse kommen, sehen, wie da der Schreibunterricht aus dem Malen, aus dem Zeichnen herausgeholt wird, Sie können da sehen, wie die Lehrkraft das in einer gewissen Weise macht. Sagen wir, in der einen Klasse finden Sie, daß das gerade so gemacht wird, wie hier jetzt gezeigt worden ist. Sie gehen in die andere Klasse, in die 1. Klasse B hinein; Sie finden eine andere Lehrkraft; da wird derselbe Unterricht erteilt, Sie sehen aber etwas ganz anderes. Sie sehen, daß da die Lehr­kraft die Kinder in einer Art eurythmischer Bewegung herumlaufen läßt, aus der eigenen Körperbewegung heraus die Form entstehen läßt. Und dasjenige, was das Kind abläuft, das wird dann als Buchstabe fixiert. Und so ist eine dritte Art, eine vierte Art und so weiter möglich.

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Sie können denselben Unterricht in den verschiedenen Parallel-klassen in der verschiedensten Weise erteilt sehen. Warum? Ja, weil es nicht gleichgültig ist, ob eine Lehrkraft mit diesem Temperament und eine andere Lehrkraft mit einem anderen Temperament den Unterricht erteilt. Nur dann, wenn der richtige Kontakt ist zwischen der Lehr­kraft und der ganzen Klasse, kann der Unterricht heilsam sein. Daher muß jede Lehrkraft so, wie es ihr entspricht, den Unterricht erteilen. Aber so, wie das Leben in den verschiedensten Formen erscheinen kann, so kann auch ein Unterricht, eine Erziehung, die auf das Leben gebaut ist, in den verschiedensten Formen erscheinen.

Wenn man pädagogische Grundsätze aufstellt, dann verlangt man, sie sollen befolgt werden. Man schreibt sie in ein Buch. Und derjenige ist ein guter Lehrer, der diese Grundsätze: 1, 2, 3 und so weiter befolgt. Nun, ich bin ganz davon überzeugt, wenn sich heute 12 oder sonst eine Anzahl von Menschen eben zusammensetzen - die Menschen sind heute alle furchtbar gescheit und klug -, sie bringen das wunderbarste Pro­gramm zusammen über dasjenige, was in der Erziehung geschehen soll:

1., 2., 3. und so weiter. Ich spreche nicht Hohn aus, ich meine das wirk­lich; man kann in abstrakten Grundsätzen das Wunderbarste aus­denken. Aber ob man dieses, was man ausgedacht hat, auch verwirk­lichen kann, das ist eine ganz andere Frage. Da kommt es auf das Leben an. Und beim Leben - ich frage Sie, in Ihnen allen ist Leben, Sie sind alle Menschen, aber Sie sehen doch alle anders aus. Keiner gleicht aufs Haar dem anderen. Das Leben vermannigfaltigt sich in der mannigfal­tigsten Gestalt. Jeder trägt ein anderes Antlitz. Wenn man abstrakte Grundsätze aufstellt, geht man in die Schulklasse hinein, und überall möchte man wünschen, daß dasselbe gemacht werde. Wenn man aus dem Leben heraus Grundsätze aufstellt, weiß man, wie das Leben man nigfaltig ist, wie sich das eine in der allerverschiedensten Weise ver­wirklicht. Denn selbst die Neger müssen wir als Menschen ansehen, und in ihnen ist ja die menschliche Gestalt in einer ganz anderen Weise ver­wirklicht als in uns, zum Beispiel. Und so handelt es sich darum, daß jede Art von Pedanterie, aber auch jede Art von Schematismus fern­gehalten werden muß, wenn Erziehungskunst als etwas Lebendiges auf­gefaßt wird, was eben dadurch unterstützt wird, daß die Erziehungskunst

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zu einer wirklichen Kunst gemacht wird, der Lehrer zu einem Künstler gemacht wird. So sind wir in der Waldorfschule in der Lage, aus dem Künstlerischen heraus das Schreiben zu lehren. Dann läßt sich das Lesen nachher wie von selbst lernen. Es kommt etwas später als gewöhnlich, aber es läßt sich wie von selbst lernen.

Ist man unmittelbar so darinnen - und ich werde in den nächsten Tagen etwas von den Malereien unserer Kinder in der Waldorfschule zu zeigen haben -, ist man so darinnen, einerseits das bildnerische Ele­ment an das Kind heranzubringen, so handelt es sich für uns darum, nun auch möglichst früh das musikalische Element im Unterricht zu verwerten. Denn das musikalische Element, namentlich wenn weniger auf das Inhaltliche der Musik, als auf Rhythmus und Takt, und das Erfühlen von Rhythmus und Takt gesehen wird, wird eine gute Grund­lage für die Stärke, für die Energie des Willens geben, namentlich wenn es im Beginne der Elementarschule schon in der richtigen Weise gepflegt wird. Und ich habe in der Einleitung zu der Eurythmievorstellung ja gesagt, daß wir auch die Eurythmie im Kindesunterricht einführen. Da­von, gerade von der Eurythmie im Unterrichte, werde ich noch in einem späteren Vortrage zu sprechen haben. Zunächst wollte ich dieses mehr im einzelnen zeigen, wie der erste Unterricht als Erziehung herausge-holt wird auf künstlerische Weise, aus der Natur des Menschen selbst.

Wir müssen berücksichtigen, daß das Kind in der ersten Zeit seiner Lebensepoche zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife vor allen Dingen noch nicht unterscheiden kann z'wischen dem, was inner­lich Mensch ist und demjenigen, was äußerlich Umgebung, Natur ist. Beides wächst noch für das Kind bis zum 9., 1 10. Jahre in eines zusam­men. Das Kind fühlt innerlich dieses oder jenes. Es schaut äußerlich, sagen wir, einen Vorgang, die Sonne aufgehen oder dergleichen. Die­selben Kräfte, die es in sich vermutet, wenn ihm nlust, Schmerz bereitet wird, vermutet es auch in Sonne und Mond, in Ba m und Pflanze. Wir sollen dem Kinde das nicht ausreden. Wir sollen uns hineinver­setzen in das kindliche Lebensalter, und ebenso in de Erziehung vor dem 9. Jahre alles behandeln, wie wenn eine Grenze ch nicht gezogen wäre zwischen dem Menschen-Inneren und dem atur-Außen. Das

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können wir nur, wenn wir den Unterricht möglichst bildhaft gestalten, wenn wir die Pflanzen menschlich handeln lassen, sie mit der anderen Pflanze menschlich sprechen lassen, wenn wir die Sonne mit dem Mond sprechen lassen, wenn wir überall hinein das Menschliche ver­setzen. Man hat heute eine wahre Scheu vor dem sogenannten Anthro­pomorphismus. Aber dasjenige Kind, das den Anthropomorphismus in seinem Verhältnis zu der Umwelt nicht erlebt hat, dem fehlt ein Teil vom Menschsein im späteren Alter, und der Lehrer muß eine Neigung haben, sich nun auch so in die ganze Umgebung lebendig geistig-see­lisch hineinzuversetzen, daß das Kind durchaus mitgehen kann ver­möge dessen, was in ihm vorhanden ist.

Das allerdings setzt voraus, daß für den Lehrer ungeheuer viel ge­schehen ist, bevor er die Klasse betritt. Auf die Vorbereitung, die der Lehrer zu leisten hat, wird große Anforderung gestellt unter dem Einfluß des Erziehungsprinzipes, von dem wir gesprochen haben. Man muß möglichst viel vorher tun als Lehrer, um nachher möglichst die Zeit ausnützen zu können, in der man in der Klasse ist. Das lernt sich auch für den Lehrer nur langsam und allmählich. Und nur durch dieses langsame und allmähliche Lernen gelangt man dahin, die Individuali­tät des Kindes wirklich zu berücksichtigen.

Vielleicht darf ich dafür ein persönliches Beispiel anführen. Ich habe mich ja, bevor ich mich mit der Waldorfschule zu befassen hatte, lange Zeit früher mit allerlei Erziehungen befassen müssen. So wurde mir einmal, als ich selber noch jung war, ein Knabe zur Erziehung übertragen, der gegen sein ii. Jahr hin im Grunde genommen noch ganz unentwickelt war. Er hatte noch gar nichts gelernt. Als Probe für dasjenige, was er gelernt hatte, wurde mir ein Schulheft gegeben, in dem gezeigt wurde, was der Knabe beim letzten Examen, zu dem man ihn getrieben hatte, geleistet hatte. Darinnen war nur zu sehen ein großes Loch, das er mit dem Radiergummi ausradiert hatte, sonst nichts. Dabei hatte der Knabe wirklich pathologische Lebensgewohnheiten. Die ganze Familie, die nicht darauf angelegt war, den Knaben dem Handwerk zu übergeben - das mag ein Vorurteil sein, aber mit diesen Vorurteilen hat man ja natürlich im sozialen Leben zu rechnen -, die ganze Familie war unglücklich. Der Hausarzt war sich klar, aus dem Knaben könne

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nichts werden. Nun, ich bekam vier Kinder in dieser Familie zu er­ziehen. Die übrigen waren normal - diesen Knaben sollte ich mit-erziehen. Ich sagte: Ich werde den Versuch machen. Versprechen, daß dies oder jenes geschehe, kann man in einem solchen Falle ja nicht, aber es wird alles getan werden, was getan werden kann, nur muß man mir die Erziehung ganz vollständig in Freiheit überlassen. Allein die Mutter hatte ein Verständnis für diese Freiheit, die ich beanspruchte, so daß sogar der ganze Unterricht durchgekämpft werden mußte gegen die übrige Familie, außer der Mutter. Ich bekam aber schließlich den Un­terricht. Und ich hatte nun nötig, möglichst wenig Zeit unmittelbar auf den Unterricht bei dem Knaben zu verwenden. Sagen wir, wenn ich etwa eine halbe Stunde unterrichtlich mich mit dem Knaben be­schäftigen sollte, mußte ich mich drei Stunden vorher beschäftigen, um möglichst ökonomisch viel in den Unterricht hineinzuschieben. Ich mußte aber außerdem genau berechnen, in welche Tageszeit der Musik­unterricht zum Beispiel geschoben wurde. Wenn das Kind überan­strengt wurde, wurde es gleich blaß, und man sah, wie seine Gesundheit herunterging. Aber, indem man die ganze pathologische Eigentümlich­keit des Kindes verstand, indem man wußte, was da auf die Hydro­cephalie zu schieben war, war es möglich, nicht nur das Seelische des Kindes zu fördern, sondern es so weit vorwärts zu bringen, daß der Knabe nach einem und einem halben Jahre, nachdem er vorher nichts anderes gekonnt hatte, als ein großes Loch ausradieren in seinem Schul­heft, das Gymnasium besuchen konnte. Und ich konnte ihm noch durch die Gymnasialklassen helfen, konnte ihn verfolgen bis ziemlich zum Ende des Gymnasiums. Unter dem Einflusse dieser Erziehung, dadurch also, daß man spirituell die Sache leitete, wurde der Kopf kleiner. Ich weiß, daß der Arzt vielleicht sagen wird: Der Kopf wäre auch so kleiner geworden. Gewiß, aber im Kleinerwerden mußte das Richtige seelisch und geistig geschehen. Der Betreffende ist dann ein ganz tüchtiger Arzt geworden. Er ist während des Krieges dann in seiner ärztlichen Tätigkeit gestorben, aber erst, nachdem er schon das 40. Jahr nahezu erreicht hatte.

Es handelte sich eben da ganz besonders darum, durch eine genü­gende Vorbereitung für das Erziehen die Ökonomie des Unterrichts

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zu erreichen. Nun, das muß ein allgemeines Prinzip werden. Das wird innerhalb derjenigen Erziehungskunst angestrebt, von der ich hier sprechen will. Da hat man allerdings nötig, wenn in einem leben soll dasjenige, was dann auf das Kind übergehen soll in einer solchen Be­schreibung, daß die ganze Natur lebendig wird, da hat man nötig, zuerst alles, was man vorbringt, so durcharbeitet zu haben, daß man gar keinen Kampf mehr mit dem Stoff hat, daß man alles darauf ver­wenden kann, durch die Kraft der eigenen Persönlichkeit das zu ge­stalten, was man an das Kind heranbringt. Und da wird man dann schon von selbst dazu kommen, daß einem aller Unterrichtsstoff bild­haft wird, so daß das Kind sich nicht bloß mit seinem Verstande, son­dern mit seinem ganzen Menschen in den Unterrichtsstoff hineinlebt.

Daher gehen wir hauptsächlich aus vom märchenhaften Erzählen, aber auch von erfundenen Erzählungen, die sich auf die Natur beziehen. Wir unterrichten eigentlich zunächst weder Sprache noch irgendeinen anderen Gegenstand, sondern wir lassen einfach die Welt vor dem Kinde bildhaft lebendig werden. Und solch ein Unterricht schließt sich in der besten Weise dann an dasjenige an, was nun auch aus der Bild­haftigkeit heraus zum Schreiben und zum Lesen führt.

So bringen wir das Kind ungefähr zwischen dem 9. und 10. Jahre dazu, daß es sich schreibend ausdrücken kann, daß es auch lesen kann, soviel es heilsam ist für dieses Lebensalter, und wir erreichen damit jenen wichtigen Punkt im Leben des Kindes, auf den ich schon hin-gedeutet habe, der so zwischen dem 9. und 10. Jahre liegt.

Dieser wichtige Punkt im Leben des Kindes offenbart sich ja auch im Äußeren des Menschen. Da tritt ein merkwürdiger Unterschied, eine merkwürdige Differenzierung zwischen Knaben und Mädchen ein. Ich werde noch davon zu sprechen haben, was das für eine Bedeu­tung hat in einer Schule, die Knaben und Mädchen untereinander hat, wie das die Waldorfschule hat. Man muß wissen, daß eine wichtige Differenzierung zwischen Knaben und Mädchen eintritt. So gegen das 10. Jahr hin fangen die Mädchen an, verhältnismäßig schneller zu wachsen als die Knaben. Die Knaben bleiben im Wachstum zurück. Die Mädchen überholen die Knaben im Wachstum. Wenn dann die Mädchen und die Knaben geschlechtsreif geworden sind, dann beginnen

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die Knaben wiederum die Mädchen zu überwachsen. Sie wachsen dann schneller sozusagen gerade in diesem Lebensalter.

Zwischen dem 9. und 10. Lebensjahr ist schon in der äußeren Dif­ferenzierung zwischen Knaben und Mädchen gezeigt, daß man da an einem wichtigen Lebensabschnitt ankommt. Der drückt sich darinnen aus, daß das Kind überhaupt unterscheiden lernt zwischen sich und der Natur. Vorher gibt es eigentlich gar keine Pflanze, sondern ein Wesen, das grün ist und rote Blumen hat, und in dem ein kleiner Geist drinnen ist, wie in ihm selber ein kleiner Geist drinnen ist. Pflanze, dieses Wesen, bekommt erst einen Sinn für das Kind gegen das 10. Jahr hin. Das muß man ihm nur nachfühlen können. Daher darf man den Unterricht erst gegen dieses Jahr hin so gestalten, daß man wie von einer äußeren Welt von der Umgebung spricht.

Dann kann man anfangen mit dem, was man gewöhnlich als die Schulgegenstände ansieht, zum Beispiel Pflanzenlehre. Aber gerade an der Pflanzenlehre kann ich veranschaulichen, wie man realistisch im besten Sinne des Wortes beim gestalteten Erziehen vorgehen muß. Wenn wir eine einzelne Pflanze zunächst einem Kinde vorführen, so handeln wir da ganz unnatürlich, denn das ist nichts Ganzes. Eine Pflanze, ins­besondere wenn sie ausgerissen ist, ist nichts Ganzes. Die Menschen haben in unserer Zeit des Realismus, des Materialismus, wenig ma­teriellen und naturalistischen Sinn, sonst würden sie das fühlen, was ich eben jetzt gesagt habe. Ist eine Pflanze ein Ganzes? Nein, wenn wir sie ausgerissen haben und hierher legen, so geht sie sehr bald zugrunde. Es ist nicht ihre Natur, ausgerissen zu sein. Sie ist nur etwas in dem Erdboden drinnen, mit dem Erdboden zusammen. Ein Stein ist etwas Ganzes für sich. Den kann ich überall hinlegen, er ist dasselbe. Eine Pflanze kann ich nicht überall hintragen; sie ist nicht mehr dasselbe. Sie ist nur unmittelbar dasjenige, was sie ist, mit dem Stammboden, mit den Kräften zusammen, die aus dem Boden heraussprießen, und mit all den Sonnenkräften, die gerade auf diesen Teil der Erde auffallen, da ist die Pflanze ein Ganzes. Eine Pflanze für sich zu betrachten, ist geradeso absurd, wie wenn wir ein Haar ausreißen und das Haar für sich betrach­ten, als ob es ein Ding für sich wäre. Das Haar entsteht ja gar nicht anders, als an einem Organismus und kann nur verstanden werden im

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Zusammenhang mit einem Organismus. Das heißt, man kann bei der Pflanzenlehre nicht ausgehen von der einzelnen Pflanze, namentlich nicht von der Pflanzenwesenheit, sondern von der Landschaft, dem Geographischen, von demjenigen, was die Erde an einem bestimmten Ort ist. Und im Zusammenhang mit der ganzen Erde muß Pflanz­liches behandelt werden.

Wenn wir von der Erde sprechen, sprechen wir als Physiker, höch­stens noch als Geologen. Wir stellen uns vor: Die Erde ist eine abge­schlossene Totalität von physischen Kräften, mineralischen Kräften, und sie könnte auch existieren, wenn gar keine Pflanze, gar keine Tiere und gar keine Menschen darauf wären. Das ist aber ein Abstraktum. Die Erde, die der Physiker, der Geologe im Auge hat, die ist ein Ab­straktum. Die gibt es eigentlich gar nicht in Wirklichkeit. Es gibt nur diejenige Erde, die überall bedeckt ist von Pflanzen. Wir müssen uns bewußt sein, wenn wir eben das Geologische beschreiben, daß wir ein wesenloses Abstraktum nur zur Bequemlichkeit unserer Intelligenz beschreiben. Dem Kinde soll man aber nicht von Anfang an dieses wesenlose Abstraktum beibringen, sondern den Kindern soll man die Erde als einen Organismus lebendig machen. Zunächst natürlich die Landschaft, die das Kind kennt; und dann, wie man ihm ein Tier zeigt, auf dem Haare sind, und man nicht, wenn es gar nichts von dem Tier wüßte, ihm ein Haar verständlich machen könnte, so muß man ihm die Erde als einen lebendigen Organismus auch lebendig machen und dann zeigen, wie auf der Erde die Pflanze west und webt. So also wird man Pflanzenlehre beibringen, indem man die Erde als ein Leben­diges, als einen Organismus ihm vorführt, zunächst das Stück Land­schaft, das es kennt. Dadurch hat man natürlich auch ein Abstrak­tum, denn eine Landschaft ist nicht möglich ohne eine andere auf der Erde; aber man muß sich dann bewußt sein, daß man auch von etwas Mangelhaftem ausgehen muß. Aber trotzdem kann man nach und nach erwecken bei dem Kinde nun wiederum aus der ganzen Bildhaftigkeit heraus dasjenige, was man nötig hat, ihm die Pflanze beizubringen.

Dadurch bringt man das Kind allmählich heran an die Außenwelt. Es bekommt das Kind ein Gefühl für den Begriff «Objektivität». Es

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lebt sich in das Irdische hinein. Das erreicht man am besten, wenn man das Kind in dieser natürlichen Art an die Pflanzenwelt heranführt.

Ganz anders muß es, und zwar etwas später, an die Tierwelt heran­geführt werden. Wiederum, die einzelnen Tiere beschreiben, das ist etwas, was ganz unorganisch ist. Denn schließlich, man könnte doch fast sagen: Es ist ein reiner Zufall, daß ein Löwe ein Löwe, ein Kamel ein Kamel ist. Ja, an der Beobachtung des Löwen, wenn man ihn noch so gut abbildet oder sogar in der Menagerie dem Kinde vorführt, hat das Kind doch nur eine Zufallsbeobachtung; ebenso an dem Kamel. Diese Beobachtung hat gar keinen Sinn zunächst, wenn man auf das Lebendige ausgeht. Wie ist es mit dem Tiere? Nun, derjenige, der nun nicht mit abstrakter Intellektualität an das Tier herantritt, sondern mit bild­hafter Anschauung, der findet in jedem Tiere ein Stück Mensch. Das eine Tier hat besonders stark die Beine ausgebildet, die beim Menschen dem Ganzen dienen. Das andere Tier hat die Sinnesorgane, ein Sinnes­organ im Extrem ausgebildet. Das eine Tier schnüffelt besonders; das andere Tier ist, wenn es in den Lüften ist, für die Augen besonders veranlagt. Und wenn wir die ganze Tierwelt zusammennehmen, so finden wir in Abstraktionen draußen verteilt als Tierwelt dasjenige, was in der Zusammenfassung den Menschen gibt. Wenn ich alle Tiere synthetisch zusammenfasse, so bekomme ich den Menschen. Irgendeine Eigenschaft, eine Fähigkeitsgruppe des Menschen ist einseitig äußerlich ausgebildet in einer Tierart. Wenn wir den Löwen studieren - wir brauchen das dem Kinde nicht so vorzuführen, wir können es ihm in einfachen Bildern vorführen -, so finden wir, daß insbesondere das­jenige, was im Menschen Brustorgane sind, Herzorgane, einseitig im Löwen ausgebildet ist. In der Kuh ist dasjenige, was im Menschen Ver­dauungsorgane sind, einseitig ausgebildet, und wenn ich dasjenige be­trachte, was zum Beispiel in unserem Blute als weiße Blutkörperchen herumschwimmt, so bin ich auf die einfachsten, primitivsten Tiere gewiesen. Das ganze Tierreich bildet zusammen den Menschen, syn­thetisch, nicht summiert, aber synthetisch ineinander verwoben.

Das ist etwas, was ich durchaus in primitiver, in einfacher Weise vor dem Kinde entwickeln kann. Selbst in sehr lebendiger Form kann ich dem Kinde so etwas bringen, indem ich auf die Eigenschaften des

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Löwen hinweise, wie sie kalmiert sein müssen, untertauchen müssen in das, was beim Menschen eine Individualität ist. Ja selbst was moralisch und seelisch beim Kamel lebt, kann man so bringen, daß man zeigt, wie das, was im Kamel lebt, untergeordnet sich in die Menschennatur hin-einfügt. So daß der Mensch eine Synthese ist von Löwe, Adler, Affe, von Kamel, von Kuh und von allem. Das ganze Tierreich betrachtet man als auseinandergelegte Menschennatur.

Das ist die andere Seite, die das Kind dann im 11., 12. Jahre in sich aufnimmt. Nachdem es die Pflanzenwelt von sich abgesondert hat, die Empfindung des Objektiven der Pflanzenwelt, das Zusammenhängen der Pflanzenwelt mit der objektiven Erde in seiner Seele hat wirken lassen, lernt es die enge Beziehung der Tierwelt zum Menschen kennen, das Subjektive. Und so wird das Universum auf eine empfindungs­gemäße Weise mit dem Menschen wiederum zusammengebracht. Das Unterscheidungsvermögen wird gerade dadurch in der richtigen Weise veranlagt. Das heißt, aus dem Lebendigen der Welt heraus das Kind erziehen.

Dann werden wir sehen, daß sich dasjenige, das wir immer als For­derungen stellen, wie von selbst ergibt. Man kann lange in der ab­strakten Pädagogik fordern: Du sollst das Gedächtnis des Kindes nicht überlasten. Es ist nicht gut, das Gedächtnis des Kindes zu überlasten. Das kann jeder aus der Abstraktion einsehen. Weniger klar sieht man aber ein, was Überlastung des Gedächtnisses bedeutet für das Leben des Menschen: dies, daß man im späteren Leben ihn mit Rheumatismus, Gicht beobachten kann. - Man dehnt das medizinische Beobachten leider nicht über den ganzen Lebenslauf des Menschen aus. Man kann manche Menschen mit Rheumatismus, mit Gicht beobachten, wozu sie gar nicht die Anlage hatten; man hat etwas, was als eine ganz spär­liche Anlage vorhanden war, vielleicht nur dadurch heranerzogen, daß man das Gedächtnis viel überlastet hat, daß man zuviel hat erin­nern müssen. Aber auch nicht zu wenig darf man das Gedächt­nis belasten. Denn wenn man wieder zu wenig das Gedächtnis be­lastet, dann entstehen sehr leicht, namentlich schon zwischen dem 16. und 24. Jahre, empfindliche Zustände in dem physischen Organis­mus.

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Und wie soll man die Waage halten zwischen zuviel und zuwenig an Gedächtnisbelastung? Indem man in der Weise, wie ich es geschildert habe, anschaulich bildhaft erzieht, nimmt sich nämlich das Kind so viel aus dem Unterricht, als es vertragen kann. Es entsteht ein Ver­hältnis wie zwischen dem Essen und Sattsein. Dadurch bekommt man allerdings verschieden fortgeschrittene Kinder, und man muß mit ihnen wiederum fertig werden, ohne daß man sie immer in dem Unterricht eine Klasse sitzen läßt. Aber man kann eine verhältnismäßig große Klasse vor sich haben, und das Kind ißt nicht mehr geistig, als es ver­tragen kann, wenn ich so sagen darf, weil der Organismus von selbst dasjenige zurückweist, was es nicht vertragen kann. Man rechnet also auf das Leben, so wie man auch aus dem Leben heraus selber unter­richtet und erzieht.

Früh ist das Kind bereits veranlagt für die ersten Elemente der Rechenkunst. Aber gerade bei der Rechenkunst kann man beobachten, wie nur allzuleicht ein intellektualistisches Element zu früh in das Kind hineinkommt. Rechnen als solches ist ja keinem Menschen in keinem Lebensalter ganz fremd. Es entwickelt sich aus der menschlichen Natur heraus, und es kann nicht eine solche Fremdheit zwischen den mensch­lichen Fähigkeiten und den Rechenoperationen eintreten wie zwischen diesen Fähigkeiten und den Buchstaben in einer folgenden Kultur. Aber dennoch, gerade darauf kommt ungeheuer viel an, daß der Rechen-unterricht in richtiger Weise an das Kind herangebracht wird. Das kann im Grunde genommen nur derjenige beurteilen, der aus einer gewissen spirituellen Grundlage heraus das gesamte menschliche Leben beob­achten kann.

Zwei Dinge liegen logisch scheinbar einander recht fern: Rechen-unterricht und moralische Prinzipien. Man rückt gewöhnlich gar nicht den Rechenunterricht an die moralischen Prinzipien heran, weil man keinen logischen Zusammenhang zunächst findet. Aber für den, der nun nicht bloß logisch, sondern lebensvoll betrachtet, für den stellt sich die Sache so, daß das eine Kind, das in der richtigen Weise an das Rechnen herangebracht worden ist, ein ganz anderes moralisches Ver­antwortungsgefühl im späteren Alter hat, als dasjenige Kind, das nicht

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in der richtigen Weise an das Rechnen herangebracht worden ist. Und, es wird Ihnen vielleicht außerordentlich paradox erscheinen, aber da ich über Wirklichkeiten spreche, und nicht über dasjenige, was sich unser Zeitalter einbildet, so möchte ich, da die Wahrheit unserem Zeit­alter oftmals paradox erscheint, auch nicht zurückschrecken vor sol­chen Paradoxien. Wenn wir nämlich verstanden hätten als Menschen, in den verflossenen Jahrzehnten die menschliche Seele in der richtigen Weise in den Rechenunterricht tauchen zu lassen, hätten wir heute keinen Bolschewismus im Osten von Europa. Das ist dasjenige, was sich ergibt, was man innerlich sieht: mit welchen Kräften diejenige Fähig­keit, die im Rechnen sich auslebt, sich verbindet mit dem, was auch das Moralische im Menschen ergreift.

Nun werden Sie vielleicht mich noch besser verstehen, wenn ich ein klein wenig das Prinzip des Rechenunterrichts Ihnen darlege. Heute geht doch vielfach das Rechnen davon aus, daß wir zunächst damit beginnen, daß wir eins zum anderen hinzufügen. Allein bedenken Sie, welche fremde Betätigung das für die menschliche Seele ist, daß man eine Erbse zu den anderen hinzufügt, und immer wenn etwas hinzu­gefügt ist, man wieder einen neuen Namen gibt. Der Übergang von eins zu zwei, dann wiederum zu drei, dieses Zählen ist ja etwas, was ganz wie willkürlich im Menschen als Tätigkeit sich vollzieht. Aber es gibt eine andere Möglichkeit, zu zählen. Wir finden diese Möglich­keit, wenn wir etwas in der menschlichen Kulturgeschichte zurück­gehen. Denn ursprünglich wurde gar nicht so gezählt, daß man eine Erbse zu der anderen legte, Einheit zu Einheit hinzulegte, und dadurch etwas Neues entstand, was wenigstens zunächst für das Seelenleben außerordentlich wenig mit dem Vorhergehenden zu tun hat. Aber man zählte etwa in der folgenden Weise. Man sagte sich: Was man im Leben hat, ist immer ein Ganzes, das man als Ganzes aufzufassen hat, und es kann das Verschiedenste eben eine Einheit sein. Wenn ich einen Volks-haufen vor mir habe, so ist er zunächst eine Einheit. Wenn ich einen einzelnen Menschen vor mir habe, ist er auch eine Einheit. Die Einheit ist im Grunde genommen etwas ganz Relatives. Das berücksichtige ich, wenn ich nicht zähle 1, 2, 3, 4 und so fort, sondern wenn ich in der folgenden Weise zähle:

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und so weiter, wenn ich das Ganze gliedere, weil ich also von der Ein­heit ausgehe, und in der Einheit als Mannigfaltigkeit die Teile suche. Das ist auch die ursprüngliche Anschauung vom Zählen. Die Einheit war immer das Ganze, und in der Einheit suchte man erst die Zahlen. Man dachte sich nicht die Zahlen entstehend als 1 zu 1 hinzugefügt, sondern man dachte sich die Zahlen alle als in einer Einheit darinnen, aus der Einheit organisch hervorgehend.

Das, angewendet auf den ganzen Rechenunterricht, gibt das Fol­gende: Sie werfen, statt daß Sie Erbse zu Erbse hinzulegen, einen Erb­senhaufen dem Kinde hin. (Es wird gezeichnet.) Der Erbsenhaufe ist das Ganze. Von dem geht man aus. Und jetzt bringt man etwa dem Kinde bei: Ich habe den Erbsenhaufen, oder, sagen wir, damit es für das Kind empfindlich anschaulich wird, einen Haufen von Äpfeln und 3 Kinder, vielleicht 3 Kinder von verschiedenem Alter, die verschieden stark zu essen haben, und wir wollen etwas tun, was mit dem Leben zusammenhängt. Was können wir da tun? Nun, wir können das tun, daß wir den Äpfelhaufen in einer gewissen Weise teilen, und daß wir dann den ganzen Haufen als Summe betrachten gleich den einzelnen Teilen, in die wir ihn aufgeteilt haben. Wir haben den Äpfelhaufen dort, und wir sagen: Wir haben 3 Teile, und bringen so dem Kinde bei, daß die Summe gleich ist den 3 Teilen. Summe =3 Teile. Das heißt, wir

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gehen bei der Addition nicht von den einzelnen Teilen aus und haben nachher die Summe, sondern wir nehmen zuerst die Summe und gehen zu den Teilen über. So gehen wir von dem Ganzen aus, und gehen zu den

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Addenden, zu den Teilen über, um auf diese Weise ein lebendiges Erfas­sen der Addition zu haben. Denn dasjenige, worauf es in der Addition ankommt, das ist immer die Summe, und die Teile, die Glieder sind das­jenige, was in der Summe in einer gewissen Weise drinnen sein muß.

So ist man in der Lage, das Kind heranzubringen an das Leben in der Art, daß es sich hineinfügt, Ganzheiten zu erfassen, nicht immer von dem Wenigen zu dem Mehr überzugehen. Und das übt einen außer­ordentlich starken Einfluß auf das ganze Seelenleben des Kindes. Wenn das Kind daran gewöhnt wird, hinzuzufügen, dann entsteht eben jene moralische Anlage, die vorzugsweise ausbildet das nach dem Begehr­lichen Hingehen. Wenn von dem Ganzen zu den Teilen übergegangen wird, und wenn entsprechend so auch die Multiplikation ausgebildet wird, so bekommt das Kind die Neigung, nicht das Begehrliche so stark zu entwickeln, sondern es entwickelt dasjenige, was im Sinne der pla­tonischen Weltanschauung genannt werden kann die Besonnenheit, die Mäßigkeit im edelsten Sinne des Wortes. Und es hängt innig zusammen dasjenige, was einem im Moralischen gefällt und mißfällt, mit der Art und Weise, wie man mit den Zahlen umzugehen gelernt hat. Zwischen dem Umgehen mit den Zahlen und den moralischen Ideen, Impulsen, scheint ja zunächst kein logischer Zusammenhang, so wenig, daß der­jenige, der nur intellektualistisch denken will, darüber höhnen kann, wenn man davon spricht. Es kann ihm lächerlich vorkommen. Man begreift es auch ganz gut, wenn jemand lachen kann darüber, daß man beim Addieren von der Summe ausgehen soll, und nicht von dem Addenden. Aber wenn man die wirklichen Zusammenhänge im Leben ins Auge faßt, dann weiß man, daß die logisch entferntesten Dinge im wirklichen Dasein einander oftmals sehr nahe stehen.

So ist dasjenige, was sich herausarbeitet in der kindlichen Seele durch die Behandlung mit den Zahlen, von ungeheurer Wichtigkeit für die Art und Weise, wie das Kind uns dann entgegenkommt, wenn wir ihm moralische Beispiele vor die Seele führen wollen, an denen es Gefallen oder Mißfallen, Antipathie oder Sympathie mit dem Guten oder Bösen entwickeln soll. Wir werden ein Kind vorfinden, das empfänglichen Sinn hat für das Gute, wenn wir das Kind in der entsprechenden Weise behandelt haben, mit den Zahlen umzugehen.

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SECHSTER VORTRAG Oxford, 22. August 1922 Die Erziehung der jüngeren Kinder Der Lehrer als Erziehungskünstler (II)

Wie sehr es nötig ist, für die Erziehung und den erziehenden Unterricht den ganzen Menschen zu kennen, das zeigt sich ganz besonders, wenn man beobachtet, welche Entwickelung der Knabe und das Mädchen zwischen dem 11. und 12. Lebensjahre durchmachen. Man beobachtet ja gewöhnlich nur, ich möchte sagen, die gröbere Verwandlung, die gröbere Metamorphose der menschlichen Natur, und man hat kein Auge für die feineren Verwandlungen. Aus diesem Grunde glaubt man, daß man dem Kinde etwas Gutes tut, wenn man nur ausdenkt: Was für körperliche Bewegungen muß das Kind machen, um körperlich stark zu werden. Gerade um das Kind körperlich stark, kräftig und ohne Hemmungen zu machen, muß man im kind­lichen Alter den Körper auf dem Umwege der Seele und des Geistes finden.

Zwischen dem 11. und 12. Jahre geht innerlich im Menschen eine große Verwandlung vor sich. Das rhythmische System, Atmungssystem, Blutzirkulationssystem ist das Herrschende, das Dominierende zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife. Wenn das Kind gegen das 10. Jahr kommt, dann entwickelt sich dasjenige, was im Atmungs- und im Blutzirkulationssystem drinnen waltet; der Takt, der Rhythmus, der da drinnen ist, die entwickeln sich in das Muskelsystem hinein. Die Muskeln werden vom Blut versorgt, und das Blut vibriert in die Muskeln so hinein, wie der Mensch innerlich ist. So daß der Mensch zwischen dem 9. und 11. Jahre sein Muskelsystem so ausbildet, wie es seinen innerlichen rhythmischen Anlagen gemäß ist. Wenn das 11., 12. Jahr herankommt, dann strahlt dasjenige, was im rhythmischen System und im Muskelsystem ist, in das Knochensystem, in das ganze Skelett hinein. Das Skelett ist bis zum 11. Jahre ganz eingeschaltet in das Muskelsystem. Es folgt dem Muskelsystem. Zwischen dem 11.,

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12. Jahre wird das Skelett so, daß es sich an die Außenwelt anpaßt, Mechanik, Dynamik, die vom Menschen unabhängig ist, geht in das Skelett hinein. Wir müssen uns bequemen, das Skelett so zu behandeln, wie wenn es objektiv wäre, gar nicht am Menschen wäre.

Wenn Sie Kinder beobachten unter 11 Jahren, Sie werden sehen, daß alle Bewegungen noch aus dem Inneren herauskommen. Wenn Sie Kinder beobachten nach dem 12. Jahre, Sie werden beobachten, daß sie auf ihre Füße so treten, daß sie immer versuchen das Gleichgewicht zu finden, daß sie das Hebel-Gleichgewicht, das Maschinelle des Skelettsystems innerlich fühlen. Das heißt, zwischen dem ii. und 12. Jahre breitet sich das Geistig-Seelische bis in das Knochensystem hinein aus. Das Geistig-Seelische ist viel innerlicher vorher. Nachher gewinnt der Mensch erst seine völlige Anpassung an die Außenwelt, indem er das­jenige, was er am wenigsten menschlich erlebt, das Knochensystem, erfaßt.

Jetzt wird der Mensch eigentlich erst ein richtiges Weltkind. Jetzt muß er erst mit der Mechanik, mit der Dynamik der Welt rechnen. Jetzt erlebt er erst innerlich dasjenige, was man im Leben die Kausali­tät nennt. In Wirklichkeit hat der Mensch vor dem 11. Jahre gar kein Verständnis für Ursache und Wirkung. Er hört die Worte. Wir glauben, daß der Mensch ein Verständnis hat. Er hat es nicht, weil er vom Muskelsystem aus sein Knochensystem beherrscht. Später, nach dem 12. Jahre, beherrscht das Knochensystem, das sich in die äußere Welt hineinstellt, das Muskelsystem und von da aus Geist und Seele. Und die Folge davon ist, daß der Mensch jetzt ein innerliches, erlebtes Ver­ständnis bekommt von Ursache und Wirkung, von Kraft und von dem­jenigen, was als Aufrechtes gefühlt wird, was als Horizontales gefühlt wird und so weiter.

Sehen Sie, aus diesem Grunde ist es, daß, wenn wir Mineralogie, Physik, Chemie, Mechanik dem Kinde in einer zu intellektuellen Form vor dem ii. Jahre beibringen, wir es in seiner Entwickelung schädigen, denn es kann in seinem ganzen Menschen das Mechanische, das Dyna­mische noch nicht miterleben. Ebensowenig kann es miterleben vor dem 11. Jahre dasjenige, was in der Geschichte, in der Historie Kausal­zusammenhänge sind.

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Sehen Sie, das gibt einem ein Licht, wie man die Kinder behandeln soll, bevor das Knochensystem seelisch erwacht ist. Solange das Kind von seinem Blutsystem aus noch in seinem Muskelsystem lebt, kann es innerlich erleben die Biographie, kann innerlich erleben, wenn wir ihm beibringen ein abgeschlossenes Geschichtsbild, das ihm gefällt oder miß­fällt, mit dem es Sympathie oder Antipathie haben kann, wenn wir ihm beibringen ein Bild von der Erde, wie ich es gestern geschildert habe. Alles das, was Pflanzenwelt ist, kann es als Bild erfassen, weil das Muskelsystem plastisch, innerlich beweglich ist; wenn wir ihm das beibringen, was ich von der Tierwelt gesagt habe, wie die im Menschen lebt, so fühlt das das Kind nach, weil das Muskelsystem weich ist. Wenn wir dem Kinde vor dem ii. Jahre beibringen das Prinzip des Hebels, das Prinzip der Dampfmaschine, dann kann es innerlich nichts davon erleben, weil es Dynamik, Mechanik noch nicht in seinem Leibe, in seinem Körper hat. Wenn wir zur rechten Zeit beginnen mit Physik, Mechanik, Dynamik gegen das 11. und 12. Jahr, da stellen wir im Den­ken etwas vor das Kind hin, das in seinen Kopf hineingeht, und von dem Inneren des Menschen kommt dem entgegen dasjenige, was das Kind vom Knochensystem aus erlebt. Und es verbindet sich das, was wir dem Kinde sagen, mit dem, was aus dem Körper des Kindes heraus will. So entsteht nicht ein abstraktes, intellektualistisches, sondern ein lebendiges Seelenverständnis. Das ist es, was wir anstreben müssen.

Aber wie muß der Lehrer sein, wenn er so etwas anstreben will? Bedenken Sie einmal, wenn der Lehrer aus Anatomie und Physiologie weiß: Dort an der Stelle sitzt der Muskel, dort der Knochen; die Ner­venzellen sehen so und so aus - es ist das alles recht sehr schön, aber es ist intellektualistisch; das alles stellt das Kind neben uns hin, so daß das Kind wie undurchsichtig ist. Es ist wie schwarze Kohle, das Kind, wie undurchsichtig. Wir wissen, was da für Muskeln, für Nerven drinnen sind; das wissen wir alles. Aber wir wissen nicht, wie das Zirkula­tionssystem in das Muskelsystem, in das Knochensystem hineinspielt. Um das zu verstehen, muß unsere Auffassung von dem Bau des Men­schen, von der inneren Gestaltung des Menschen eine künstlerische sein. Und der Lehrer muß imstande sein, das Kind künstlerisch, als Artist zu erleben. Ihm muß alles im Kinde innerlich beweglich sein.

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Da wird die Philosophie kommen und wird sagen: Ja, aber wenn man etwas erkennen will, dann muß eben die Sache logisch sein. Ganz richtig, aber so, wie das Kunstwerk logisch sein muß, wenn wir die Welt vor uns haben, und die Welt kann durch künstlerisches Erfassen repräsentiert werden im Inneren. So müssen wir uns eben zu solchem künstlerischen Erfassen bequemen, müssen nicht dogmatisch diktieren:

Die Welt muß allein logisch ergriffen werden. Nur wenn der Lehrer seine eigenen Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle so innerlich beweglich hat, daß er sieht: Wenn ich dem Kinde dynamische, mecha­nische Vorstellungen beibringe vor dem ii. Jahre, da stocken diese Vorstellungen im Gehirn, da sammeln sie sich an, da machen sie das Gehirn hart, so daß es später in jugendlichen Jahren zur Migräne wird und noch später sich verhärtet. Wenn ich ihm abgeschlossene Ge­schichtsbil der beibringe vor dem 11. Jahre, wenn ich ihm Bilder aus der landschaftlichen Pflanzenwelt beibringe, dann gehen die Vorstel­lungen in das Gehirn hinein, aber durch das übrige Nervensystem in den ganzen Leib hinein. Sie verbinden sich mit dem ganzen Leib, mit dem weichen Muskelsystem. Ich baue mir das, was im Kinde geschieht, liebevoll auf. Die Kohle, die das Kind sonst ist, wenn man nur die tote Anatomie und die Physiologie kennt, wird so durchsichtig. Der Lehrer sieht überall, was in den Bänken vor ihm sitzt, was in dem einzelnen Kinde vor sich geht. Er braucht nicht nachzudenken nach diesen oder jenen didaktischen Grundsätzen, sondern das Kind sagt ihm selber, was mit ihm zu geschehen hat, indem es in seinen Stuhl zurücksinkt, wenn man etwas tut, was dem Kinde nicht angepaßt ist: es wird unaufmerk­sam. Tut man etwas, was dem Kinde angepaßt ist: es wird lebendig.

Allerdings, man hat ja manchmal rechte Mühe, die Lebendigkeit der Kinder etwas zu bewältigen. Aber man bewältigt sie, wenn man etwas hat von dem, was heute in der Welt weniger anerkannt wird: Humor. Der Lehrer muß durch die Türe der Klasse Humor in die Klasse hineintragen. Die Kinder können ja zuweilen recht ungezogen werden. Einer unserer Lehrer in der Waldorfschule, der erlebte es an seinen größeren Kindern gerade, die über das 12. Jahr hinaus waren, daß sie plötzlich anfingen, weniger Interesse zu haben am Unterricht und sich gegenseitig Briefe schrieben unter der Bank. Nun, nicht wahr, ein

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Lehrer, der nicht Humor hat, der wird griesgrämig. Es wird eine schreckliche Szene geben. Was hat unser Lehrer in der Waldorfschule getan? Er ging hin zu den Kindern und erklärte ihnen - das Postwesen. Und die Kinder sahen, er versteht sie. Er ging ein auf ihr gegenseitiges Briefschreiben. Sie bekamen ein leises Schamgefühl, und die Sache war wieder hergestellt.

Es handelt sich darum, daß man tatsächlich Kunst, und insbesondere Menschenkunst ohne Humor nicht bewältigen kann. Das heißt, die pädagogische Kunst besteht auch darinnen, aus der Lehrerschaft das Griesgrämige wegzubringen, und eben starke Freundlichkeit, humo­ristische, humorvolle Liebe zu den Kindern zu entwickeln, damit nicht die Kinder in dem Lehrer das Bild desjenigen sehen, was er ihnen eigent­lich verbietet. Jedenfalls darf das in der Klasse nicht geschehen, daß, wenn das Kind zornig wird und seinen Zorn zum Ausdrucke bringt, der Lehrer geht und sagt: Ich will dir diesen Zorn austreiben! Das ist etwas Furchtbares! - Und er nimmt das Tintenfaß und wirft es auf den Boden, daß es zersplittert. Dadurch bringt man den Zorn nicht aus dem Kinde heraus; nur wenn man dem Kinde zeigen kann, daß sein Zorn Objekt ist, daß er für einen gar nicht da ist, daß man es mit Humor auffaßt, dann erzieht man erst richtig.

Ich habe zunächst geschildert, wie der Mensch im allgemeinen von dem Unterrichtenden und Erziehenden erfaßt werden muß. Aber der Mensch ist nicht nur so etwas im allgemeinen. Und selbst wenn man schon so genau auf den Menschen eingehen kann, daß er einem durch­sichtig wird bis auf die Betätigung des Muskelsystems vor dem ii. Jahre, des Knochensystems nach dem 12. Jahre, so bleibt noch immer das übrig, was ja für eine künstlerisch gemeinte Erziehung und einen künst­lerisch gemeinten Unterricht außerordentlich notwendig ist, die Indivi­dualität des Menschen. Jedes Kind ist ein anderes Wesen, und es kann nur der allererste Schritt sein zum künstlerisch erkennenden Auffas­sen des Kindes, wenn man so vorgeht, wie ich es bis jetzt beschrieben habe.

Man muß immer mehr und mehr in das Persönliche, in das Indivi­duelle hineingehen können. Da bieten sich zunächst Anhaltspunkte

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dadurch, daß wir die Kinder, die uns zur Erziehung und zum Unterricht übergeben werden, nach dem Temperamente verschieden haben. Die Temperamente wirklich innerlich zu durchschauen, das ist etwas, was innerhalb derjenigen Erziehungskunst, von der ich hier spreche, und die in der Waldorfschule geübt wird, vom Anfange an die allerstärkste Bedeutung bekam.

Da haben wir zunächst das melancholische Kind; ein besonderer Menschentypus. Wie tritt es uns entgegen? Es tritt uns zunächst äußer­lich als ein stilles, in sich gezogenes Kind entgegen. Aber mit dieser äußerlichen Charakteristik ist nicht viel anzufangen. Wir kommen dem Kinde, das melancholische Anlagen hat, erst nahe, wenn wir sehen, wie gerade beim melancholischen Kinde die rein physische Körperlichkeit den allerstärksten Einfluß ausübt, wenn wir wissen, daß die Melan­cholie darauf beruht, daß starke Salzablagerungen im Organismus statt­finden, so daß das Kind, das melancholische Anlagen hat, sich schwer fühlt in seinem ganzen physischen Organismus. Ganz anders ist es beim melancholischen Kinde als bei einem anderen, wenn es nur ein Bein heben soll, oder einen Arm heben soll. Da sind Hindernisse, Hem­mungen des Beinhebens, des Armhebens da. Es ist ein Gefühl der Schwere, das der seelischen Intention entgegentritt. Das bringt es all­mählich dazu, daß das Kind mit der melancholischen Anlage nach innen schaut und nicht freundlich nach außen schaut, weil sein Körper sich so stark bemerklich macht, weil es so viel zu tun hat mit seinem Körper. Erst wenn wir wissen, wie die Seele, die hinauf will, der Geist, der in die Weite will, beschwert werden bei einem melancholischen Kinde durch die körperlichen Einlagerungen, die fortwährend aus den Drüsen heraus, den Körper beschwerend, in das übrige Körpergewebe hineinleben, erst wenn wir dieses Schwerwerden und dadurch Gefan­gennehmen der Aufmerksamkeit von seiten des Körperlichen richtig verstehen, dann erst kommen wir dem melancholischen Kinde bei.

Sehr häufig sagt man: Nun ja, das melancholische Kind brütet in sich hinein, ist still, bewegt sich wenig. Und wir veranlassen es dazu, nun gerade recht lebendige Vorstellungen aufzunehmen. Wir wollen es mit seinem Gegenteil heilen. Wir wollen dem melancholischen Kind so beikommen, daß wir es aufmuntern durch allerlei Lustiges, das wir

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an es heranbringen. Das ist die ganz falsche Methode. Da kommen wir dem melancholischen Kinde gar nicht bei.

Wir müssen die Möglichkeit haben, durch Mitgefühl und Mit­empfindung mit seiner körperlichen Schwere gerade in der Art an das Kind heranzutreten, wie es selber ist. Wir müssen gerade versuchen, an das melancholische Kind nicht lustige, komische Vorstellungen her-anzubringen, sondern ernste Vorstellungen heranzubringen, diejenigen, die es selber aus sich herausholt. Wir müssen ihm viel von der Art bei­bringen, was anklingt an seinen eigenen schweren Organismus.

Dann werden wir allerdings Geduld haben müssen mit einer sol­chen Erziehung; denn die wirkt nicht von heute auf morgen, aber sie wirkt durch Jahre hindurch. Sie wirkt so, daß das Kind, indem ihm von außen entgegengebracht wird, was es in sich hat, Heilkräfte da­gegen in sich aufnimmt. Wenn wir ihm von außen etwas ganz Fremdes entgegenbringen, wenn wir dem ernsten Kinde das Lustige entgegen­bringen, bleibt es gleichgültig gegen das Lustige. Aber wenn wir ihm seine eigene Trauer, Kummer, Sorge entgegenbringen, dann nimmt es von außen das wahr, was es im Inneren selbst hat. Dadurch wird im Inneren die Reaktion, das Gegenteil aufgerufen, und wir heilen gerade pädagogisch, indem wir in einer modernen Form den alten goldenen Grundsatz befolgen: Gleiches wird nicht nur von Gleichem erkannt, sondern Gleiches wird auch durch Gleiches richtig behandelt, geheilt.

Dann aber, wenn das Kind ein mehr phlegmatisches Temperament hat, dann mussen wir uns klar sein darüber: dieses Kind, das ein mehr phlegmatisches Temperament hat, das lebt weniger in seinem phy­sischen Leib, mehr in dem, was ich in diesen Tagen den Ätherleib ge­nannt habe, den Leib, der flüchtiger ist. Es lebt in dem Ätherischen. Es sieht sonderbar aus, wenn man vom phlegmatischen Kinde sagt: es lebt im Ätherischen, aber es ist so. Das Ätherische, das läßt dasjenige, was in den menschlichen organischen Funktionen vorgeht, das Verdauen, das Wachsen, das läßt es nicht zum Kopfe kommen. Das phlegmatische Kind hat es nicht in seiner Gewalt, Vorstellungen von dem zu bekom­men, was in seinem Leib vorgeht. Der Kopf wird untätig. Der Leib wird immer mehr und mehr tätig durch das flüchtige Element, das seine Funktionen in alle Welt zerstreuen möchte. Das phlegmatische

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Kind ist ganz hingegeben der Welt. Es geht in der Welt auf. Es lebt wenig in sich. Dadurch bringt es uns eine gewisse Gleichgültigkeit ent­gegen gegenüber dem, was wir mit ihm unternehmen wollen. Wir kön­nen nicht an das Kind heran, weil wir ja doch zuletzt durch die Sinne heran müssen. Die hauptsächlichsten Sinne sind im Kopfe. Das phleg­matische Kind kann den Kopf wenig gebrauchen. Der übrige Organis­mus wird von der Außenwelt in Funktion erhalten.

Wir kommen dem phlegmatischen Kind nur bei, wenn wir nun wiederum, geradeso wie beim melancholischen Kinde, selber zu einer Art Phlegmatiker werden neben ihm, wenn wir uns künstlerisch in seine phlegmatische Stimmung hinein zu versetzen vermögen. Da hat dann das Kind das, was es selber ist, neben sich, und es wird ihm schließ­lich dasjenige, was es da neben sich hat, zu langweilig. Selbst dem Phlegmatiker wird das zu langweilig, wenn er einen Phlegmatiker als Lehrer neben sich hat! Und wenn wir wieder Geduld haben, so wer­den wir bemerken, daß sich da irgend etwas entzündet, wenn wir dem phlegmatischen Kind in Phlegma getauchte Vorstellungen, in Phlegma getauchte Vorgänge auch vorführen.

Besonders schwierig zu behandeln ist das sanguinische Kind. Das sanguinische Kind ist dasjenige, bei dem ganz besonders der rhyth­mische Organismus in einer dominierenden Tätigkeit ist. Der rhyth­mische Organismus, der ja zwischen dem Zahnwechsel und der Ge­schlechtsreife an sich im Menschen das Dominierende ist, der kommt zu einer zu großen Herrschaft, zu einer zu großen Domination bei dem sanguinischen Kinde. Daher will das sanguinische Kind von Eindruck zu Eindruck eilen. Es stockt seine Blutzirkulation, wenn die Eindrücke nicht schnell wechseln. Es fühlt sich innerlich beengt, wenn die Ein­drücke nicht schnell vorübergehen und andere kommen. Und so kann man sagen: Das sanguinische Kind, das fühlt eine innerliche Beklem­mung, wenn es lange seine Aufmerksamkeit auf etwas heften soll; es fühlt, daß es nicht dabei bleiben kann, wendet sich weg, bekommt fremde Gedanken. Es kann schwer gefesselt werden.

Wiederum muß ich ein ähnliches sagen für die Behandlung des san­guinischen Kindes: Man versuche, das sanguinische Kind nicht dadurch zu heilen, daß man es nun zwingt, recht lange bei einem Eindrucke zu

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verweilen, sondern man mache das Gegenteil. Man komme dem San­guinismus entgegen und wechsle die Eindrücke recht stark, zwinge das Kind gerade dazu, rasch hintereinander Eindrücke aufzunehmen. Wie­derum ist es die Reaktion, die sich geltend macht. Dann kann, weil ja das Zirkulationssystem ganz dominierend ist, dann kann es nicht anders als in Antipathie gegen die beschleunigten Eindrücke sich ausleben. Und die Folge davon ist, daß das Kind selber zum Retardieren kommt.

In einer noch anderen Weise ist das cholerische Kind zu behandeln. Das cholerische Kind hat die Eigentümlichkeit, daß es immer ein Stück hinter der normalen Menschenentwickelung zurückgeblieben ist. Es sieht das sonderbar aus. Aber nehmen Sie das folgende Bild. Ein acht-, neunjähriges Kind ist als normaler Mensch von einer bestimmten Art, seine Glieder zu bewegen, schnell und langsam, je nach den äußeren Eindrücken. Vergleichen Sie das acht-, neunjährige Kind mit dem drei-, vierjährigen Kind. Das drei-, vierjährige Kind tänzelt noch durchs Leben, beherrscht viel weniger seine Bewegungen. Es hat noch etwas von dem an sich, was das ganz kleine Kind hat. Das beherrscht gar nicht seine Bewegungen, das zappelt, das hat das Seelische noch nicht ent­wickelt. Aber wenn Säuglinge das Seelische stark entwickelt hätten, dann würden Sie die Säuglinge alle cholerisch finden. Die Säuglinge mit ihrem Zappeln - gerade wenn sie gesund sind, so zappeln sie viel - sind alle cholerisch.

Das cholerische Kind aber behält etwas zurück von dem Toben und Wüten des ganz kleinen Kindes. Dadurch lebt in dem cholerischen Kinde, dem acht-, neunjährigen Knaben oder Mädchen, drinnen noch der kleine Säugling weiter. Dadurch ist dieses Kind cholerisch, und man muß versuchen, dieses cholerische Kind dadurch zu behandeln, daß man das «kleine Kind», das darinnen ist, allmählich zur Ablähmung bringt.

Das muß nun ganz besonders, ich möchte sagen, mit Humor behan­delt werden. Denn hat man so einen richtigen Choleriker mit 8, 9, 10 Jahren, auch noch im späteren Lebensalter vor sich, so kommt man ihm nicht bei, wenn man ihn ermahnt; das macht gar keinen Ein­druck, wenn man ihn ermahnt. Aber wenn ich ihn dazu veranlasse, daß er mir eine Erzählung machen muß, die ich selber zuerst vor-erzähle, und er muß mir dann recht cholerisch voragieren die Erzählung,

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er muß mimen, er muß sich nun in seinen kleinen Menschen hineinleben, dann kommt er allmählich dazu, diesen kleinen Menschen in sich zu beruhigen. Er paßt ihn dem Seelischen an. Und indem ich selber seelisch mit dem cholerischen Kind cholerisch werde, aber natür­lich, indem ich mich humorvoll immer in der Hand habe, werde ich erreichen, daß das cholerische Kind neben mir ruhiger wird. Wenn der Lehrer zu tanzen beginnt - aber ich bitte, das nicht im schlimmen Sinne aufzufassen -, so hört das Toben des Kindes neben ihm nämlich nach und nach auf. Man muß nur die Fähigkeit haben, einem cholerischen Kinde gegenüber nicht einen roten Kopf zu bekommen, den Kopf nicht lang werden zu lassen, aber in eine Art von künstlerischem Nach­empfinden dieses innerlichen Tobens zu kommen. Sie werden sehen, das Kind wird immer stiller und stiller. Es lähmt das innerliche Toben ganz ab.

Aber es muß etwas nicht Gemachtes darinnen liegen. Wenn beim Lehrer etwas Gemachtes, Unkünstlerisches in dem, was er da dem Kinde gibt, liegt, dann wird die Sache eben durchaus keinen Erfolg haben. Der Lehrer muß tatsächlich Künstlerblut in sich haben, damit er das, was er da dem Kinde vormacht, damit er das in einer glaub­haften Weise dem Kinde gegenüber leben läßt; sonst ist es vom Lehrer aus verlogen, und das darf es nicht sein. Es muß durch und durch das Verhältnis des Lehrers zum Kinde wahr sein.

Sehen Sie, man kann aber auch dadurch, daß man überhaupt ein­geht auf die Temperamente, die Klasse, auch wenn sie etwas groß sein muß, in einer gewissen Weise ordentlich halten. Der Waldorflehrer studiert die Temperamente der Kinder, die ihm übergeben werden. Nun weiß er: Ich habe die Melancholiker, die Phlegmatiker, die San­guiniker, die Choleriker. Er setzt, womöglich ganz unvermerkt, ohne daß das natürlich bemerkt wird, die Melancholiker zusammen. Er weiß, er hat sie in dieser einen Ecke. Da setzt er die Choleriker zusammen; er weiß, er hat sie in jener Ecke, und so die Sanguiniker, und so die Phleg­matiker. Durch diese Art sozialer Behandlung schleifen sich die Tem­peramente an ihresgleichen gegenseitig ab. Der Melancholiker wird nämlich munter, wenn er unter Melancholikern sitzt. Und die Cho­leriker, nun, die heilen sich gründlich, denn es ist am allerbesten, wenn

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man die tobenden Choleriker sich aneinander ausleben läßt. Wenn sie dann blaue Flecken haben gegenseitig, dann wirkt das ungeheuer kal­mierend. So daß man dasjenige, was als, ich möchte sagen, Geheim­nisvolles von Mensch zu Mensch wirkt, gerade durch die richtige soziale Behandlung in ein heilsames Fahrwasser bringen kann.

Und wenn man gar noch den Humor hat, wenn ein Junge ganz besonders cholerisch aufgeregt wird, ihn in den Schulgarten zu schicken, und darauf sieht, daß er die Bäume hinauf- und hinabklettert und end­lich dadurch ungeheuer müde wird - wenn er wiederum hineinkommt, hat er sein cholerisches Temperament an sich selber ausgelebt, mit der Natur ausgelebt. Wenn er sich durch Überwindung der Hindernisse ausgelebt hat, dann bekommt man ihn kalmiert nach einiger Zeit zurück.

So, sehen Sie, handelt es sich darum, daß man nun immer mehr und mehr den Weg findet, durch die Temperamente hindurch ganz ins Individuelle des Kindes, in das Persönliche hineinzukommen. Heute sagen sehr viele Leute, man muß individuell erziehen. Ja, aber das Individuum muß man erst finden. Zuerst muß man den Menschen kennen, dann muß man den Melancholiker kennen. Der Melancholiker ist nun nie ein reiner Melancholiker, die Temperamente sind immer vermischt. Ein Temperament ist dominierend. Aber nur, wenn man das einzelne Temperament richtig kennt, findet man den Weg in die Individualität hinein.

Das zeigt doch wirklich, daß Erziehungskunst etwas ist, was in in­timer Weise gelernt sein will. Die Menschen der Gegenwart - ich habe das noch nicht gehört - fangen ja nicht an, eine Uhr zu kritisieren, wie eine Uhr sein soll dem Werke nach innerlich. Warum? Weil sie das nicht wissen, weil sie nicht wissen, wie die Uhr innerlich wirkt. Kritik über den Gang der Uhr hört man sehr wenig so im gewöhnlichen Ge­spräch. Kritiken über die Erziehung - man hört sie allerorten. Aber es ist gerade so oftmals, wie wenn die Menschen reden würden über ein Uhrwerk, von dem sie keine Ahnung haben. Man glaubt nur nicht, daß das Erziehen auch intim gelernt sein muß, und daß es nicht genügt, im Abstrakten zu sagen: man muß die Individualität erziehen. Man muß die Individualität erst finden können, indem man den intimen

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Weg macht durch die Menschenerkenntnis, durch die Erkenntnis der Art und Temperamente. Dann kommt man allmählich an das ganz Individuelle des Menschen heran. Das muß ein Lebensprinzip werden gerade bei dem artistisch gearteten Lehrer und Erzieher.

Es kommt ganz darauf an, daß der Kontakt zwischen dem Lehrer und dem Kinde durchaus in ein künstlerisches Element getaucht ist. Dadurch wird eben in dem Lehrer selber vieles eine Art intuitiven, instinktiven Charakter annehmen, was er in bezug auf die Individuali­tät des Kindes im gegebenen Momente zu tun hat. Nehmen wir, um uns darüber zu verständigen, die Sache möglichst konkret. Stellen wir uns vor, wir haben ein Kind vor uns, das Erziehungsschwierigkeiten dadurch macht, daß wir bemerken: die Anschauungen, die wir ihm vorführen, die Empfindungen, die wir erregen wollen, die Vorstel­lungen, die wir ihm mitteilen wollen, sie bringen in dem Kopfsystem eine so starke Zirkulation und eine so starke Nervenerregung zustande, daß gewissermaßen das, was ich dem Kinde beibringe, nicht durch­kommen kann vom Kopfe aus zu dem übrigen Organismus. Die phy­sische Organisation des Kopfes wird gewissermaßen partiell melan­cholisch. Das Kind hat Schwierigkeiten, dasjenige, was es sieht, was es empfindet, auch was ihm durch andere Impulse beigebracht wird, vom Kopfe zu seinem übrigen Organismus zu leiten. Es bleibt gewissermaßen das Gelernte im Kopfe stecken. Es kann nicht hinunterdringen in den übrigen Organismus. Wenn man mit künstlerischem Sinn das Kind un­terrichtet, dann wird man gerade alles dasjenige, was in der Erziehung und dem Unterricht an künstlerischem waltet, ganz instinktiv danach einrichten. Habe ich ein solches Kind vor mir, so werde ich in ganz anderer Weise ihm das Arbeiten in der Farbe beibringen, das malerische Element, als einem anderen Kinde. Und deshalb, weil das so wichtig ist, wird bei uns in der Waldorfschule von Anbeginne an das malerische Element berücksichtigt. Ich habe ja auseinandergesetzt, wie das Schrei­ben selbst aus dem Malerischen herausgeholt wird; aber innerhalb dieses Malerischen wiederum kann man individualisieren von Kind zu Kind. Denn da hat man ja gerade Gelegenheit zu individualisieren, indem das Kind selber alles machen muß.

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Nun nehmen wir an, ich habe ein solches Kind vor mir, wie ich es eben geschildert habe. Ich übe die Malerziehung. Da wird, wenn der richtige künstlerische, artistische Kontakt ist zwischen Lehrer und Schüler, auf dem Blatt Papier, auf dem das Kind mit den Farben arbeitet, durch meine Anleitung etwas anderes entstehen, als bei einem anderen Kinde.

Ich will Ihnen ungefähr schematisch auf die Tafel aufzeichnen, was bei einem solchen Kinde, bei dem gewissermaßen die Empfindungen, die Vorstellungen im Kopfe stocken, auf dem Blatt Papier, auf dem es malt, entstehen muß. Da muß ungefähr so etwas entstehen: da wird solch ein Farbenfleck sein (gelb), dann wird weitergehend solch ein Farbenfleck irgendwie sein (lila), denn auf die Harmonik der Farben kommt es an. Dann wird ein Übergang sein (orange), der Übergang wird noch weiter verteilt sein, und das Ganze wird vielleicht, um nach

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außen einen Abschluß zu bekommen, etwa so nach außen schließen (blau). So wird es auf dem Blatte aussehen bei dem Kinde, bei dem gewissermaßen die Vorstellungen in dem Kopfe stocken.

Nehmen Sie an, ich habe ein anderes Kind, bei dem ich sehe, daß die Vorstellungen gar nicht im Kopfe stocken, sondern daß sie gewis­sermaßen durch den Kopf wie durch ein Sieb durchsickern und alles in den Leib hineingeht, daß das Kind nicht fassen kann, weil sein Kopf ein Sieb ist. Er hat Löcher, er ist durchlässig. Es sickert alles hinunter. Das muß man eben empfinden, daß das beim Kind so ist, daß das Zirkula­tionssystem des anderen Organismus alles in sich hereinsaugen will.

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Dann kommt man eben instinktiv, intuitiv dazu, dem Kinde die Anleitung zu geben zu etwas, das nun etwas ganz anderes ist. Bei einem solchen Kinde werden Sie etwa folgendes auf dem Papier sehen (es wird gezeichnet): Da werden Sie sehen, wie weniger die Farben

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ineinander sich gestalten, rund; Sie werden mehr sehen, daß die Farben in die Länge gehen, daß das Farbige in das Zeichnerische übergeht, daß Schlingen eintreten, die auf das Zeichnen hinweisen. Sie werden auch sehen, daß die Farben nicht sehr differenziert sind; hier (bei der ersten Zeichnung) sind sie stark differenziert; hier, bei der zweiten Zeich­nung, sind sie weniger differenziert.

Wenn man das dann ausführt mit wirklichen Farben - nicht mit dem ekelhaften Material der Kreide, was das Ganze nicht wiedergeben kann -, dann wird man gerade von diesem Erleben des rein Farbigen auf der einen Seite und des formhaften Farbigen auf der anderen Seite wohltätig heilend zurückwirken auf diejenigen Eigenschaften des Kin­des, von denen ich gesprochen habe.

Ebenso werden Sie, wenn Sie, sagen wir, einen Knaben oder ein Mädchen haben, das die Vorstellung stocken hat im Kopfe, das sie nicht hinunterbringt, mit diesem Knaben oder mit diesem Mädchen mit anderen Absichten in die Turnhalle gehen, als mit einem Kinde, das

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den Kopf wie ein Sieb hat, wo alles hinuntergeht in den übrigen Kör­per und in die Zirkulation des übrigen Körpers hinein. Sie gehen mit den beiden Kindergruppen in die Turnhalle. Die einen Kinder, bei denen alles wie ein Sieb ist, alles hinuntergeht, die lassen Sie so turnen, daß sie abwechselnd die Turnbewegungen machen und dann etwas rezitieren oder singen. Die andere Turngruppe, wo alles in dem Kopfe stockt, die lassen Sie möglichst so die Bewegungen machen, daß die Kinder schwei­gen müssen dabei. Und so können Sie ganz aus der Natur des Kindes heraus den Übergang bilden zwischen der körperlichen Erziehung und der seelischen Eigentümlichkeit. Sie müssen in anderer Weise turnen lassen ein Kind, das stockende Vorstellungen hat und in anderer Weise ein Kind, das Vorstellungen hat, die wie ein Sieb durch den Kopf durchgehen.

Das ist dasjenige, woran man sieht, wie ungeheuer bedeutungsvoll es ist, den Unterricht als Ganzes gestalten zu können. Es ist etwas Furchtbares, wenn auf der einen Seite in der Klasse der Lehrer den Unterricht erteilt, und dann die Kinder in die Turnschule geschickt werden. Der Turnlehrer weiß gar nichts von dem, was in der Klasse vor sich geht, und er hält nun nach einem Schema den Turnunterricht. Der Turnunterricht muß ganz und gar ein Ergebnis desjenigen sein, was man mit den Kindern in der Klasse erfahren hat. So daß eben in der Waldorfschule angestrebt wird, möglichst, soweit es geht, bis in die Nebenfächer in den unteren Klassen alles, wenigstens all dasjenige, was zur Menschenbildung führen soll, nur einer Lehrkraft zu über­geben.

Dadurch wird gerade eben in bezug auf das Artistische allerdings von dieser Lehrkraft das Höchste gefordert, und auch die willigste, liebevollste Hingabe gefordert. Aber man erreicht auf eine andere Weise kein Heilsames für die Menschheitsentwickelung.

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SIEBENTER VORTRAG Oxford, 23. August 1922 Die Waldorfschule als Organismus

Wenn von Organisation gesprochen wird, so meint man heute gewöhn­lich, daß man irgend etwas organisieren soll, irgend etwas einrichten soll. Wenn ich heute sprechen möchte von der Organisation der Wal­dorfschule, so ist es und kann es nicht in diesem Sinne gemeint sein, denn organisieren kann man eigentlich nur dasjenige, was in einem gewissen Sinne mechanisch ist. Man kann die Einrichtung einer Fabrik, irgend­eine andere Institution organisieren, wo die Teile zu einem Ganzen durch den Gedanken, den man hineinprägt, zusammengehalten werden sollen. Aber denken Sie sich nur, wie absurd es sein würde, wenn man verlangen würde, man solle den menschlichen Organismus organi­sieren. Er ist organisiert, er ist da, und man muß ihn als einen Organis­mus hinnehmen. Man muß ihn studieren. Man muß seine Einrichtungen als die eines Organismus, als einer Organisation kennenlernen.

In diesem Sinne ist eine Schule, wie sie die Waldorfschule ist, von vornherein ein Organismus und kann nicht dadurch organisiert wer­den, daß man - ich habe das schon angedeutet - ein Programm ent­wirft, wie nun die Schule eingerichtet sein soll: Paragraph 1, Para­graph 2 und so weiter. Ich habe schon gesagt, ich bin von vornherein völlig überzeugt, ohne Ironie, daß, wenn sich heute 5 oder 12 Menschen zusammensetzen - und heute sind ja die Menschen alle sehr klug, sehr gescheit -, sie werden ein ideales Schulprogramm ausarbeiten können, worinnen gar nichts zu verbessern ist: Paragraph 1, Paragraph 2 und so weiter. Paragraph 12 und so weiter; und die Frage entsteht dann bloß: Kann man das in der Praxis durchführen? - Und da wird sich sehr bald herausstellen, daß sehr schöne Programme gemacht werden können, aber in der Praxis hat man einen vollendeten Organismus vor sich, wenn man eine Schule einrichtet.

Diese Schule besteht dann aus einer Lehrerschaft, die man ja nicht aus Wachs knetet. Paragraph 1 oder Paragraph 5 würde vielleicht

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heißen: der Lehrer soll so oder so sein. Die Lehrerschaft besteht ja nicht aus etwas, was man aus Wachs knetet, sondern man muß den einzelnen Lehrer suchen; man muß ihn hinnehmen mit den Fähigkeiten, die er hat. Man muß vor allen Dingen verstehen, welche Fähigkeiten er hat. Man muß verstehen, ob er zunächst ein guter Elementarlehrer ist, oder ob er ein guter Lehrer für die höheren Klassen ist. Es handelt sich also darum, geradeso wie man beim menschlichen Organismus, um ihn zu verstehen, die Nase oder das Ohr verstehen muß, so muß man den ein­zelnen Lehrer verstehen, wenn man überhaupt etwas machen will. Auf abstrakte Programmgrundsätze kommt es nicht an, sondern auf die Realitäten, die man vor sich hat. Könnte man die Lehrer aus Wachs kneten, so könnte man Programme machen. Aber das kann man nicht. So hat man zunächst als die eine Realität das Lehrerkollegium vor sich. Das muß man genau kennen. Das ist vor allen Dingen der erste Grund­satz in der Organisation der Waldorfschule, daß das Lehrerkollegium mir selbst, da ich die Waldorfschule geistig zu leiten habe, in allen seinen einzelnen Individualitäten genau bekannt ist.

Das zweite sind die Kinder, und in dieser Richtung war es mit einigen praktischen Schwierigkeiten verknüpft, aus der Waldorfschule etwas zu machen. Denn diese Waldorfschule wurde zunächst aus all den Emotionen heraus, die im Jahre 1918, 1919 da waren, nachdem der Krieg beendet war, von Emil Malt in Stuttgart begründet. Sie wurde begründet, weil man glaubte, damit zunächst eine soziale Tat zu tun. Man sah, mit den Erwachsenen ist in sozialer Beziehung nicht außer­ordentlich viel anzufangen; die verstanden sich ein paar Wochen lang in Mitteleuropa nach der Beendigung des Krieges. Nachher verfielen sie sogleich wiederum in diejenigen Urteile, die aus den verschiedenen Klassen sich herausgebildet haben. Daher kam man auf den Gedanken, zunächst für die nächste Generation zu sorgen. Und man brauchte, weil gerade eben Emil Molt, ein Industrieller in Stuttgart, die Schule begrün­dete, zunächst nicht hausieren zu gehen, um Kinder zu bekommen, son­dern man bekam die Kinder seiner Fabrik. Es waren also im wesent­lichen zunächst Proletarierkinder, etwa 150 Kinder aus der Moltschen Fabrik, die wir bekamen. Diese etwa 150 Kinder wurden dann er­gänzt durch weitaus die meisten Kinder aus der Anthroposophischen

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Gesellschaft in Stuttgart und Umgebung; so daß wir also etwa mit gegen 200 Kindern im Beginne zu arbeiten hatten.

Nun war damit aber zugleich ein Moment gegeben, das die Schule im idealen Sinne zu einer Einheitsschule machte. Denn wir hatten einen Grundstock von Proletarierkindern, und die Anthroposophen-kinder waren zunächst nicht Proletarierkinder, sondern aus allen mög­lichen Ständen, von den untersten bis zu den obersten. Es war also von vornherein alles Standesmäßige, Klassenmäßige ausgeschaltet auch durch die soziale Grundlage in der Waldorfschule. Und das wurde ja auch durchaus angestrebt und wird weiter angestrebt, daß in Betracht kommt allein, ganz allein das allgemein Menschliche. Nur pädagogisch-didaktische Grundsätze gibt es für die Waldorfschule, gar keine Rück­sicht darauf, ob ein Kind ein Proletarierkind ist, oder ob es selbst das Kind des ehemaligen Kaisers gewesen wäre, wenn es die Aufnahme in die Waldorfschule gesucht hätte. Bloß pädagogisch-didaktische Grund­sätze galten und werden gelten. So war die Waldorfschule von Anfang an als eine Einheitsschule gedacht.

Aber damit waren natürlich auch Schwierigkeiten gegeben, denn das Proletarierkind bekommt man mit anderen Lebensgewohnheiten im 6., 7. Jahre in die Schule herein als das Kind aus anderen Ständen. Aber in dieser Beziehung zeigten sich sehr bald die Gegensätze als sogar außerordentlich wohltuend, wenn auch von Kleinigkeiten natürlich dabei abgesehen werden muß, die mit einer gewissen Mühe dann zu überbrücken sind. Diese Kleinigkeiten können Sie sich ja auch leicht denken; sie beziehen sich zumeist auf äußere Lebensgewohnheiten, und es ist manchmal nicht leicht, alles dasjenige aus den Kindern heraus­zubringen, was sie in die Schule mit hereinbringen. Aber auch das ist mit einigem gutem Willen durchaus ja zu erreichen, obwohl manche Kinder aus sogenannten höheren Ständen, die nicht gewöhnt sind, das eine oder das andere an sich zu tragen, dann das Unangenehme nach Hause bringen und das von den Eltern in unangenehmer Weise zu Hause bemerkt wird.

Nun, so hatte man also die Kinderschaft auf der anderen Seite. Das waren zunächst, ich möchte sagen, die kleineren Schwierigkeiten. Die größere Schwierigkeit entstand daraus, daß für die Waldorfschule das

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Ideal vorlag, rein im Sinne der Menschenerkenntnis zu erziehen, jede Woche das an das Kind heranzubringen, was das Kind selber forderte.

Nun richteten wir aber die Waldorfschule sogleich ein als eine acht­klassige Elementarschule, so daß wir Kinder drinnen hatten vom 6. oder 7. bis zum 14., 15. Jahre. Diese Kinder bekamen wir zunächst aus den verschiedensten Schulen heraus. Sie hatten die allerverschiedensten Vorbildungen, durchaus nicht diejenige immer, die wir etwa für ein acht- oder elfjähriges Kind für die richtige ansehen mußten. So daß wir also in dem ersten Jahre durchaus nicht mit dem völlig rechnen konnten, was wir als das Ideal der Erziehung ansehen. Da konnte wie­derum nicht nach Paragraph 1, Paragraph 2 gegangen werden, sondern da mußte nach den Individualitäten der Kinder, die man in jede ein­zelne Klasse hereinbekam, vorgegangen werden. Und trotzdem, dieses wäre noch die geringere Schwierigkeit gewesen.

Die größere Schwierigkeit ist diese, daß keine noch so ideale Erzie­hungsmethode den Menschen herausreißen darf aus dem Leben. Der Mensch ist ja nicht irgend etwas Abstraktes, was man durch die Er­ziehung hinstellen kann und dann ist es fertig, sondern der Mensch ist das Kind gewisser Eltern. Er ist herausgewachsen aus der sozialen Ord­nung. Er muß, nachdem er erzogen worden ist, wieder hinein in diese soziale Ordnung. Sehen Sie, wenn Sie ein Kind so erziehen wollten, wie es absolut der Idee entspricht, so werden Sie es mit 14, 15 Jahren so haben, daß das allerdings sehr ideal sein kann, aber das Kind findet sich nicht zurecht im heutigen Leben, es weiß nichts anzufangen. So daß also nicht bloß ein Ideal zu verwirklichen war und auch jetzt noch nicht ist in der Waldorfschule, sondern es handelt sich darum, das Kind so zu erziehen, daß es immer den Anschluß findet an das heutige Leben, an die heutige soziale Ordnung. Da nützt es nichts, zu sagen, diese soziale Ordnung ist schlecht. Wir müssen doch, ob sie nun gut oder schlecht ist, darinnen einfach leben. Und darum handelt es sich, daß wir darinnen leben müssen, daß wir also die Kinder nicht einfach aus ihr herausziehen dürfen. So hatte ich also die außerordentlich schwere Aufgabe vor mir, auf der einen Seite eine Idee der Erziehung zu er­füllen, auf der anderen Seite mit dem vollen Leben der Gegenwart zu rechnen.

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Selbstverständlich mußten die Schulbehörden dasjenige, was in den anderen Schulen geleistet wird, als eine Art Ideal ansehen. Sie sagen zwar immer: das Ideal kann man nicht erreichen, man kann nur das Möglichste tun, die Lebenspraxis fordert das oder jenes. Aber gerade in der Praxis, wenn man mit ihnen zu tun hat, dann sehen sie doch alles dasjenige, was schon eingerichtet ist von seiten der Staatsbehörden oder der entsprechenden Behörden, als etwas außerordentlich Gutes an, und dasjenige, was so eingerichtet wird wie die Waldorfschule, für eine Art Schrulle, für etwas, was man macht, wenn man nicht ganz besonnen ist unter dem Hute!

Nun, nicht wahr, man läßt manchmal solch eine Schrulle gewähren, weil man sich sagt: Na, das wird sich schon zeigen, was es ist. - Aber immerhin, man muß auch damit rechnen, und so versuchte ich durch folgenden Kompromiß zurechtzukommen. Ich schlug vor in einem Memorandum, mir für dasjenige, was meine Schrulle ist, jeweilig drei Jahre Zeit zu lassen, um dann die Kinder so weit zu haben, daß sie den Anschluß an die gewöhnlichen Schulen finden können. So also arbeitete ich ein Memorandum aus dahingehend, daß die Kinder, wenn sie auf­genommen werden, bis zur Vollendung der 3. Elementarklasse, also dem 9. Jahre, das Ziel erreicht haben, daß sie in einer anderen Schule in die 4. Klasse eintreten können. Nur für die Zwischenzeit, sagte ich, wolle ich absolute Freiheit haben, jede Woche dasjenige den Kindern geben zu können, was aus Menschenerkenntnis folgt. Dann wiederum verlangte ich Freiheit vom 9. bis zum 12. Jahre. Nach der Vollendung des 12. Jahres sollten die Kinder wiederum ein solches Ziel erreicht haben, daß sie in die gewöhnliche äußere Schule eintreten können, und wiederum, wenn sie die Schule verlassen haben. Ebenso wird es sein, wenn nun die Kinder, ja, wie gesagt, die jungen Damen und die jungen Herren die Schule verlassen, um an die Universität oder eine andere Hochschule zu kommen, für die Zeit der Geschlechtsreife bis zum Beginn der Hochschulzeit soll völlige Freiheit sein; dann aber sollen sie so weit sein, daß sie in eine beliebige Hochschule, Universität, über­treten können, denn die Dornacher Freie Hochschule wird noch lange nicht als etwas anerkannt sein, in das übergetreten werden kann, wenn die Leute ins Leben hinaus wollen, selbstverständlich.

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So also wurde schon mit diesem Parallelismus mit dem gewöhn­lichen Schulwesen versucht, dasjenige, was eigentlich gewollt werden muß, mit demjenigen, was eben da ist, in Einklang zu bringen, in eine gewisse Harmonie zu bringen. Denn in keinem Punkte wird in der Wal­dorfschule irgend etwas angestrebt, was unpraktisch ist, sondern über­all in jedem Punkte wird durch diese Schrulle zu verwirklichen ver­sucht dasjenige, was wirklich lebenspraktisch ist.

Daher kann es sich auch nicht darum handeln, aus irgendeinem gescheiten Einfall im Kopfe die Schule nun zu konstruieren - denn eine Konstruktion, nicht eine Organisation würde entstehen -, sondern es kann sich nur darum handeln, dasjenige, was man schon als einen Organismus hat, wirklich von Woche zu Woche zu studieren. Und da ergeben sich in der Tat für denjenigen, der nun Menschenbeobachtung, das heißt auch Kinderbeobachtung hat, die konkretesten Erziehungs­maßregeln von Monat zu Monat. So wie schließlich auch der Arzt, wenn er einen Menschen vor sich hat, nicht bei der ersten Untersuchung gleich sagen kann, was alles geschehen soll, sondern erst nach und nach den Menschen studieren muß, weil der Mensch ein Organismus ist, so handelt es sich also auch darum, daß man einen solchen Organismus, wie es die Schule ist, aber noch mehr fortwährend studiert. Denn es kann zum Beispiel sein, daß man durch die besondere Art von Lehrer-schaft und Kinderschaft, die man, sagen wir, im Jahre 1920 vor sich hat, ganz anders vorgehen muß als bei der Lehrerschaft und Schülerschaft, die man im Jahre 1924 vor sich hat, weil unter Umständen die Lehrer-schaft eine andere sein kann durch Zuwachs, und die Kinderschaft wird schon ganz gewiß eine andere sein. Demgegenüber könnten Para­graph 1 bis Paragraph 12 so schön wie möglich sein, aber sie taugten nichts; es taugt nur das, was man wirklich durch die Beobachtung eines jeden Tages aus der Klasse herausträgt.

Und deshalb ist das Herz der Waldorfschule, wenn ich von ihrer Organisation spreche, die Lehrerkonferenz, es sind die Lehrerkonfe­renzen, die von Zeit zu Zeit immer abgehalten werden. Wenn ich selbst in Stuttgart sein kann, geschieht sie unter meiner Leitung, sonst aber finden diese Lehrerkonferenzen auch in verhältnismäßig sehr kurzen Zwischenräumen statt. Da wird wirklich bis ins Einzelnste hinein alles

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vor der gesamten Lehrerschaft verhandelt über die gesamte Schule, was der einzelne Lehrer in seiner Klasse an Erfahrungen machen kann. So daß fortwährend diese Lehrerkonferenzen die Tendenz haben, die Schule so als einen ganzen Organismus zu gestalten, wie der mensch­liche Leib ein Organismus ist dadurch, daß er ein Herz hat. Da handelt es sich allerdings bei diesen Lehrerkonferenzen viel weniger um abstrakte Grundsätze, sondern überall bei den Lehrern um den guten Willen zum Zusammenleben, um das Hintanhalten jeder Art von Rivalität. Und vor allen Dingen handelt es sich darum, daß man etwas, was dem anderen nützt, nur vorbringen kann, wenn man die entsprechende Liebe zu jedem einzelnen Kinde hat. Aber ich meine dabei nicht jene Liebe, von der man oft spricht, sondern jene Liebe, die man gerade als artistischer Lehrer hat.

Diese Liebe, die hat noch eine andere Nuance als die gewöhnliche Liebe. Es ist ja wiederum eine andere Nuance, aber dennoch, wer mit kranken Menschen als Menschen innig Mitleid haben kann, hat zu­nächst die allgemeine Menschenliebe. Aber um einen Kranken zu behan­deln, muß man auch - bitte, mißverstehen Sie das nicht, aber es ist so -die Liebe zur Krankheit haben können. Man muß auch sprechen können von einer schönen Krankheit. Die ist natürlich sehr schlimm für den Patienten, aber sie ist für denjenigen, der sie behandeln muß, eine schöne Krankheit. Eine prachtvolle Krankheit kann sie unter Umständen sein. Sie mag sehr schlimm sein für den Patienten, sie ist aber für den, der sich hineinversetzen muß, der sie mit Liebe behandeln können muß, eine prachtvolle Krankheit. Und so ist auch ein völlig nichtsnutziger Knabe, ein Strick, wie man im Deutschen sagt, der ist unter Um­ständen durch die Art, wie er sein Stricktum auslebt, wie er schlimm ist, wie er nichtsnutzig ist, zuweilen so außerordentlich interessant, daß man ihn außerordentlich lieben kann. Zum Beispiel, wir haben einen sehr interessanten Fall in der Waldorfschule, einen Jungen, der sehr abnorm isti Er saß von Anfang an in der Waldorfschule, er kam gleich in die erste Klasse. Er hatte die Eigentümlichkeit, daß, wenn sich der Lehrer umdrehte, so lief er auf den Lehrer zu und gab ihm einen Schlag. Der Lehrer behandelte mit einer außerordentlichen Liebe und mit einem außerordentlichen Interesse diesen Nichtsnutz. Er streichelte ihn, führte

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ihn an seinen Platz zurück, tat gar nicht, als ob er es bemerkt hätte, daß der ihm hinten einen Schlag gegeben hatte. Dieser Knabe kann nur dadurch behandelt werden, daß man seine ganze Genesis ins Auge faßt. Man muß kennen, aus welchem elterlichen Milieu er herausge­wachsen ist und muß seine Pathologie kennen. Aber dann kommt man auch mit ihm trotz seiner Nichtsnutzigkeit vorwärts, wenn man gerade diese Art von Nichtsnutzigkeit lieben kann. Es hat etwas Liebens­würdiges, wenn jemand ganz besonders stark nichtsnutzig ist.

Das ist also für den Erzieher ganz anders, als es ist für denjenigen, der mehr von außen die Dinge betrachtet. Und so handelt es sich wirk­lich darum, daß man diese besondere Liebe entwickle, von der ich jetzt gesprochen habe. Dann weiß man auch in der Lehrerkonferenz etwas Entsprechendes zu sagen. Denn nichts ist nützlicher für die Maß­nahmen, die man bei gesunden Kindern zu ergreifen hat, als dasjenige, was man bei abnormen Kindern beobachten kann.

Sehen Sie, gesunde Kinder sind verhältnismäßig schwer zu studieren, weil bei ihnen alle Eigenschaften verwaschen sind. Man kommt nicht so leicht darauf, wie die einzelne Eigenschaft da drinnen sitzt, und wie sie sich mit der anderen zusammenschließt. Bei einem kranken Kinde, wo ein Eigenschaftskomplex vorliegt, da kommt man sehr bald darauf, den besonderen Eigenschaftskomplex auch pathologisch zu behandeln. Das kann man dann anwenden bei gesunden Kindern.

Durch solch eine Organisation haben wir es immerhin dazu gebracht, daß die besondere Art der Waldorfschule in kurzer Zeit gewürdigt worden ist dadurch, daß die Zahl der Kinder, die wir im Beginne hatten - gegen 200 sagte ich -, rasch wuchs, und nun haben wir bereits die Zahl von gegen 700 Kindern erreicht, die nun aber aus allen Klassen sind (bis zur 12.), so daß die Waldorfschule jetzt wirklich im besten Sinne des Wortes als eine Einheitsschule organisiert dasteht. Wir muß­ten für die meisten Klassen, namentlich für die unteren, Parallelklassen errichten, so daß wir eine 1. Klasse A, eine 1. Klasse B und so weiter haben, weil wir eben nach und nach zuviel Kinder für die eine Klasse bekommen haben. Dadurch werden ja natürlich immer größere Auf­gaben an die Waldorfschule gestellt. Denn wenn man versucht, die

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ganze Organisation aus dem Leben heraus zu denken, so gibt jedes Kind, das man bekommt, eine neue Lektion und eine neue Art, in welche man sich hineinfinden muß, um wiederum mit dem Organismus, der ein neues Glied bekommen hat, durch das entsprechende Menschenstudium zurechtzukommen.

Wir haben die Waldorfschule so eingerichtet, daß zunächst der Hauptunterricht am Morgen erteilt wird. Im Sommer etwas früher, im Winter etwa um 8 oder 8 1/4 Uhr beginnt der Hauptunterricht. Dieser Hauptunterricht hat die Eigentümlichkeit, daß für ihn das, was man gewöhnlich den Stundenplan nennt, abgeschafft ist. Stundenplan im gewöhnlichen Sinne haben wir nicht, sondern es wird eine Materie zu­nächst für diesen zweistündigen Vormittagsunterricht, der für die klei­neren Kinder noch einmal durch eine Pause unterbrochen wird, es wird eine Materie für diesen zweistündigen Vormittagsunterricht genommen, und die wird in vier oder sechs Wochen vollendet. Dann wird eine an­dere Materie vorgenommen. Das stellt sich dann so heraus, daß die Kinder nicht haben von 8 bis 9 Religion, von 9 bis 10 Naturgeschichte, von 10 bis 11 Rechnen - also immer in etwas anderes hineingeworfen werden, sondern sie haben zum Beispiel im Oktober vier Wochen Rech­nen, dann drei Wochen Naturgeschichte und so weiter.

Dasjenige, was da etwa getadelt werden könnte, weil die Kinder vielleicht etwas vergessen würden, weil das aus dem Gedächtnis wie­derum entschwindet, was als eine zusammenhängende Materie durch-genommen worden ist, das muß ersetzt werden durch die Ökonomie des Unterrichts und die Tüchtigkeit der Lehrerschaft. Nur in den letz­ten Wochen eines Schuljahres werden die Materien wiederholt, so daß eine Art Zusammenfassung für das Schuljahr da ist. Dadurch wächst das Kind ganz mit irgendeiner Materie zusammen.

Eine Ausnahme damit muß gemacht werden für den Fremdsprachen-unterricht, der eigentlich bei uns ein Sprechunterricht ist. Denn in der Waldorfschule wird es so gemacht, daß schon mit dem Kinde, wenn es die Elementarschule betritt, der Unterricht in den fremden Sprachen, soweit wir es jetzt können, Englisch und Französisch, begonnen wird, und das Kind lernt gleich vom Anfange an sprechen in der betreffenden Sprache. Das Kind lernt möglichst mit Umgehung auch nur des Gedankenübersetzens

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die Sprache. Es wird also das Wort in der fremden Sprache angeknüpft an den Gegenstand, nicht an das Wort in der deutschen Sprache. So daß das Kind den Tisch neu kennenlernt in irgendeiner fremden Sprache, nicht an dem deutschen Worte «Tisch» lernt es übersetzungsweise das Fremdwort. Es lernt also tatsächlich, und das zeigt sich insbesondere bei jüngeren Kindern, sich auch hin­einleben in eine Sprache, die nicht seine Muttersprache ist. Dabei be­folgen wir, daß abstrakt Grammatisches, intellektuell Grammatisches an die ganz jungen Kinder überhaupt nicht herangetragen wird. Das Grammatische kann erst von den Kindern verstanden werden zwi­schen dem 9. und 10. Jahre, an jenem wichtigen Punkt, von dem ich schon gesprochen habe.

Dieser Sprachunterricht wird im wesentlichen erteilt zwischen 10 und 12 Uhr vormittags. Diese Zeit ist also diejenige, wo wir, wenn ich so sagen darf, dasjenige unterrichten, was außer den Hauptunterricht, der immer in den ersten Morgenstunden erteilt wird, fällt. In diese Zeit hinein fällt dann auch alles dasjenige, was etwa Religionsunter­richt ist. Über diesen Religionsunterricht, auch über den Moralunter­richt und die Disziplin, werde ich noch später sprechen. Aber jetzt möchte ich vor allen Dingen betonen, daß für die Nachmittagsstunden alles Gesangliche, Musikalische und das Eurythmische gesetzt wird. Da soll das Kind womöglich dasjenige, was in Unterricht und Erziehung ist, mit seinem ganzen Menschen durchmachen.

Und darauf, daß alles, was erzogen und unterrichtet wird, an den ganzen Menschen herankommt, kann nun insbesondere Rücksicht genommen werden, wenn der Unterricht in der Art, wie ich es geschil­dert habe, aus dem Herzen der Lehrerkonferenzen heraus ein Ganzes ist. Das merkt man insbesondere dann, wenn man den Unterricht aus dem mehr Seelischen herüberlaufen läßt in das mehr völlig Physisch-Praktische des Lebens. Und auf dieses Hinüberlaufen in das Physisch-Praktische des Lebens, darauf ist der Waldorfschul-Unterricht in erster Linie angelegt.

Und so wird hingearbeitet, daß immer mehr und mehr die Kinder ihre Hände gebrauchen lernen, wobei herausgearbeitet werden muß aus dem, was Händegebrauch im Spiel erst war bei dem ganz kleinen

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Kinde durch ein gewisses artistisch, künstlerisches Element hindurch, das aber aus dem Kinde selbst hervorgeholt werden soll.

Das erreichen wir dadurch, daß wir die Kinder allerlei praktische Arbeiten machen lassen. Wir sind es jetzt nur in der Lage vom 6. Schul­jahr ab; manche von diesen Dingen gehören in ein früheres Alter, aber - ich habe es schon erwähnt - wir mußten eben Kompromisse schließen, das Ideal wird man erst später erreichen können, dann wird das, was jetzt ein elf- oder zwölfjähriges Kind macht, auch ein neun­jähriges Kind machen können auch in bezug auf praktische Arbeiten. Aber diese praktischen Arbeiten tragen den Charakter des freien Ar­beitens und des Hineintragens ins Künstlerische. Das Kind soll aus dem Willen heraus arbeiten, nicht aus irgend etwas, was ihm vorge­schrieben ist.

So führen wir in einer Art von Handfertigkeitsunterricht das Kind hinein, allerlei Gegenstände zu schnitzen, allerlei Gegenstände zu ver­fertigen, die es aus seiner Idee heraus verarbeitet. Man macht die Er­fahrung, wie in einem auf das Lebendige gebauten Unterricht tatsäch­lich die Kinder die Dinge aus sich herausholen. Ich will ein Beispiel sagen. Wir lassen die Kinder Dinge schnitzen, die halb künstlerisch, halb nützlich sind. Man kann zum Beispiel in diese Schale irgend etwas hineintun. Wir lassen die Kinder das schnitzen in den Formen, so daß die Kinder ein Form-, ein Gestaltungsgefühl aus sich heraus bekommen, so daß die Kinder etwas schaffen, was aus ihrem Willen heraus und aus ihrem Wohlgefallen heraus die Form bekommt. Aber dabei stellt sich etwas sehr Merkwürdiges heraus.

Nehmen Sie einmal an, wir haben zu irgendeiner Zeit menschliche Anatomie in der Klasse getrieben so, wie es für diese Klasse in der Schule ganz besonders notwendig ist. Wir haben den Kindern erklärt die Form des Knochensystems, wir haben den Kindern erklärt auch die Form des äußeren Körpers, die Lebensweise des menschlichen Organis­mus. Die Kinder haben das, indem der Unterricht so artistisch gestaltet wird, wie ich es dargestellt habe in den letzten Tagen, lebendig aufge­nommen. Es ist bis in ihren Willen gegangen, nicht bloß in ihre Gedanken, in ihre Köpfe. Und dann sieht man, wenn sie nun darangehen, so etwas zu machen, daß das in ihren Händen weiterlebt. Die Formen werden

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andere, je nachdem wir im Unterricht das eine oder das andere treiben. Es lebt sich in den Formen aus. Man sieht es dem, was die Kinder plastisch schaffen, an, was in den Stunden morgens von 8 bis 10 Uhr getrieben wird, weil das, was als Unterricht erteilt werden soll, eben in den ganzen Menschen hineingeht.

Das erreicht man nur, wenn man eben Rücksicht darauf nimmt, wie in der Natur gearbeitet wird. Gestatten Sie mir, etwas recht Ketzerisches zu sagen: man liebt es ja, den Kindern Puppen in die Hand zu geben, ganz besonders «schöne» Puppen. Man merkt nicht, daß die Kinder das eigentlich nicht wollen. Sie weisen es zurück, aber man drängt es ihnen auf. Schöne Puppen, schön angestrichene! Viel besser ist es, den Kindern ein Taschentuch zu geben, oder wenn ein Taschentuch zu schade ist, irgend etwas anderes; man macht die Sache zusammen, macht hier einen Kopf, malt eine Nase, zwei Augen und so weiter und damit spielen gesunde Kinder viel lieber als mit «schönen» Puppen, weil da für ihre Phantasie noch etwas übrig bleibt; währenddem, wenn die Puppe möglichst schön gestaltet ist, mit roten Wangen sogar, für die Phantasie nichts übrig bleibt. Das Kind verödet innerlich neben der schönen Puppe.

Das weist aber hin auf die Art und Weise, wie man aus dem Kinde hervorholen soll dasjenige, was es nun selber gestaltet. Und da, sehen Sie, wenn unsere Kinder im 6. Schuljahr herankommen in der Schule, die Dinge nun selber aus ihrem Formgefühl heraus zu entwickeln, dann zeigen sie sich so, wie es in diesen kleinen Musterbeispielen der Fall ist, die wir mitgebracht haben (Holzpuppen). Die Dinge sind so, wie sie ganz aus der Individualität irgendeines Kindes herauswach­sen.

Es handelt sich aber insbesondere darum, daß man Kinder früh darauf aufmerksam macht, wie sie aus der inneren Beweglichkeit her­aus, nicht aus innerer Starrheit heraus eigentlich sich das Leben denken wollen. Daher, wenn man die Kinder allmählich aus dem Spielwesen heraus dasjenige, was ja für sie seriös ist, seinen Ernst hat, gestalten läßt, so muß man versuchen, Beweglichkeit in die Sache hineinzubringen. Sehen Sie, solche Sachen, was, wie ich glaube, ein ganz außerordent­licher Kerl ist (geschnitzter Bär), machen die Kinder ganz von der

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Picke auf, und sie machen auch diese Zugdinge selber daran, ohne daß man sie dazu anleitet, so daß sich dann bei einem solchen Kerl auch die Zunge bewegt, wenn er so getrieben wird. Oder die Kinder tragen ihre Phantasie hinein in die Sache: sie machen eine Katze nicht so, daß sie artig ist, sondern machen das, was sie bemerken, ohne daß sie die tieferen Zusammenhänge kennen, den Katzenbuckel, ganz ordentlich hinein.

Besonderen Wert lege ich immer darauf, daß Kinder auch bei Spiel­zeugen sich schon hineinfinden in das, was sich bewegt, was also nicht bloß ruht, sondern bei dem man handeln lernt. So fabrizieren dann die Kinder Dinge, die ihnen außerordentlich Freude gewähren, wenn sie sie nach und nach fertigbringen. Sie machen nicht bloß realistische Dinge, sondern ganz aus ihrer eigenen Idee heraus machen sie solche Gnomen­geschichten und dergleichen.

Sie finden durchaus auch die Möglichkeit, in komplizierterer Weise solche Dinge zusammenzusetzen; es wird ihnen nicht gesagt, daß man das machen kann, sondern das Kind wird nur darauf geführt, so daß es von selbst solch einen lustigen Kerl (beweglicher Rabe) machen kann, und dann wiederum sieht er griesgrämig aus, traurig.

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Und wenn das Kind dann so etwas fertigbringt (Eule mit beweg­lichen Flügeln), dann ist es ganz besonders befriedigt! Das machen also die Kinder zwischen dem ii. bis 15. Jahre, jetzt noch die älteren, aber

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wir werden es dann allmählich zurückzuführen haben in noch frühere Klassen, wo die Formen dann einfacher werden.

Nun, außer diesem Handfertigkeitsunterricht haben wir einen eigentlichen Handarbeitsunterricht. Und da ist das zu bemerken, daß in der Waldorfschule immer für alles Knaben und Mädchen durchein­andersitzen. Wir haben durchaus bis in die höchste Klasse hinauf Knaben und Mädchen durcheinandersitzen. So daß in der Tat, mit geringen Varianten natürlich, und je weiter wir hinaufkommen wer­den in die höheren Klassen, so muß natürlich differenziert werden, aber es ist so, daß im ganzen tatsächlich der Knabe dieselben Arbeiten lernt, die das Mädchen lernt, und es stellt sich heraus in einer merkwürdigen Weise, wie gern die kleinen Knaben stricken oder häkeln, und wie die Mädchen auch Arbeiten machen, die man sonst nur die Knaben machen läßt. Dadurch wird auch sozial etwas erreicht: das gegenseitige Ver­ständnis der Geschlechter, was ja in erster Linie heute angestrebt wer­den muß, wo wir in dieser Beziehung sozial noch gar nicht vorge­schritten sind, wo wir unter den größten Vorurteilen leben. Und es ist ja tatsächlich so, daß es eine Wohltat ist, wenn so etwas erreicht wird wie das, was ich Ihnen zum Beispiel durch das Folgende zeigen will.

Wir haben auch eine solche kleine Schule in Darnach gehabt. Sie ist uns jetzt wegen der schweizerischen Freiheit ja verboten worden, und wir können da nur anfangen, für vorgeschrittene junge Damen und Herren Unterricht zu erteilen, weil die Freiheit es notwendig macht, daß freie Schulen neben den Staatsschulen eben nicht errichtet werden. Nun, nicht wahr, das ist etwas, was ja nicht mit der eigentlichen Päd­agogik zusammenhängt. Aber wir haben eine Zeitlang versuchen kön­nen, auch in Darnach in einer kleinen Schule zu arbeiten. Es wird ja in der nächsten Zeit wahrscheinlich möglich sein, dennoch eine solche freie Schule in Basel zu bekommen. - Aber in der Waldorfschule, wie gesagt, arbeiten im Handarbeitsunterricht Knaben und Mädchen durcheinander. Da wird alles mögliche dann im Handarbeitsunterricht zustande gebracht. Knaben und Mädchen arbeiten da ganz friedlich zusammen. Sie werden zum Beispiel hier bei diesen beiden Arbeiten nicht leicht unterscheiden können sogar, wenn Sie nicht auf Feinheiten

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eingehen, worinnen die Unterschiede der Knaben- und Mädchenarbeit liegen (zwei Deckchen).

Das einzige, was sich in merkwürdiger Art herausgestellt hat, das ist - wir gehen dann in der höchsten Klasse, die wir bis jetzt gebildet hatten, in der die sechzehn-, siebzehnjährigen Knaben und Mädchen durcheinander sind, über auch zu Spinnen und Weben, so daß tatsäch­lich die Menschen ins praktische Leben eingeführt werden, das Leben auch kennenlernen -, nun ist das Merkwürdige: spinnen wollen die Knaben nicht, dabei wollen sie nämlich den Mädchen helfen. Die Mäd­chen sollen spinnen, und die Knaben wollen dann Zuträger sein, sie wollen da eine Art Ritterschaft ausüben. Das ist das einzige, was sich bis jetzt herausgestellt hat, daß beim Spinnen die Knaben die Mädchen bedienen wollen. Aber im übrigen haben wir gesehen, daß die Knaben alle möglichen Handarbeiten machen.

Es wird nun auch versucht, aus demjenigen, was als Malunterricht angestrebt wird, den Handarbeitsunterricht zu gestalten. Nicht etwa, daß man etwa aufzeichnen und dann sticken läßt, sondern tatsächlich, daß man die Kinder zuerst ganz aus ihrem Menschenwesen heraus die Farbe behandeln läßt. Da ist es natürlich ungeheuer wichtig, daß man zunächst das richtige Erleben des Farbigen im Kinde erzeugt. Wenn Sie die kleinen Farben nehmen, die man gewöhnlich bekommt in den Handlungen, und die Kinder mit dem Pinsel von den kleinen Farben von der Palette herab malen lassen, lernen sie gar nichts. Das ist not­wendig, daß man mit der Farbe leben lernt, nicht von der Palette herab malen läßt, sondern aus dem Tiegel im Wasser aufgelöste Farben nimmt. Da bekommt das Kind das Gefühl, wie Farbe neben Farbe leben kann, das Gefühl für innere Harmonik und für inneres Farbenerleben. Und wenn das auch manchmal Schwierigkeiten bietet - die Klasse sieht manchmal nicht gut aus, nachdem Malunterricht erteilt worden ist, weil nicht alle sehr geschickt sind, manchmal nicht sehr gelehrig sind in dieser Be­ziehung -, wenn das auch Schwierigkeiten macht, es gibt doch unge­heure Fortschritte, wenn man so die Kinder zunächst ins Farbenelement einführt, so daß sie aus dem Farbenerleben heraus, ohne daß sie natura­listisch etwas nachahmen wollen, zunächst malen lernen. Dann gibt sich schon selbst, ich möchte sagen, die Farbenfläche und Farbenform über

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die Papierfläche drüber. Und so wird so gemalt in der Waldorfschule, und auch in Darnach wird so gemalt, daß die Kinder zunächst das Farbenerleben malen. Es kommt überall auf die Nebeneinanderstellung, Übereinanderstellung der Farben an. So lebt sich das Kind in die Farbe ein, und dann kommt es schon nach und nach von selbst dazu, aus der Farbe die Form zu holen. Sie sehen, wie hier - bei allerdings vorge­schrittenen Kindern - schon, ohne daß man auf das Zeichnen ausgeht, hervorgeholt ist aus der Farbe ein Geformtes, ein Gestaltetes. Aber nach demselben Prinzip wird auch bei den kleinen Kindern unterrichtet. Wir haben hier zum Beispiel solche Blätter, welche das Farberleben anstreben. Da wird nicht etwas gemalt, sondern da wird aus der Farbe heraus gelebt. Das Etwas-Malen kann erst viel später kommen. Wenn man zu früh anfängt, etwas zu malen, dann verliert sich der Sinn für das Lebendige, dann kommt der Sinn für das Tote herauf.

Wenn man dann in dieser Weise vorgeht, so ist der Übergang zu irgend etwas Gegenständlichem in der Welt ein viel lebendigerer, als wenn man nicht diese Grundlage schafft. Sehen Sie, Kinder, die erst aus der Farbe heraus haben leben lernen, die malen dann die Insel Sizilien im Zusammenhang mit dem Geographieunterricht zum Beispiel, und es kommt dann eine Landkarte zustande. Und so gliedert sich zu­sammen künstlerisches Arbeiten und sogar geographischer Unterricht.

Wenn man auf diese Weise ein Gefühl für Farbenharmonik hervor­ruft, dann bringt man es zustande, daß die Kinder Gegenstände, die irgendwie dem Leben dienen, dann machen. Dieser Einband ist nicht zuerst aufgezeichnet, sondern das Kind lernt in Farbe zu erleben, und nachher so etwas, was etwa ein Bucheinband ist, zu gestalten. Dabei handelt es sich darum, das wirkliche Lebensgefühl bei dem Kinde zu erwecken. Es gibt die Möglichkeit, gerade durch Form und Farbe stark hineinzuführen in das Leben.

Man kann zuweilen finden, daß das Schreckliche geschieht, daß irgend jemand an ein Kleid ein Halsband machen läßt, dann einen Gürtel, unten einen Kleidersaum, und daran hat er dasselbe Muster. Man kann das zuweilen sehen. Es ist natürlich das Schrecklichste, was im Leben passieren kann, aus künstlerischen Instinkten heraus. Das Kind muß frühzeitig lernen, daß ein Band, das für den Hals angebracht

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ist, die Tendenz hat, nach unten sich irgendwie zu öffnen, nach unten zu wirken; daß der Gürtel beiderseitig wirken muß, und daß der Saum des Kleides unten, daß der nach oben irgendwie streben muß und unten aufstehen muß; daß also nicht das Schreckliche geschieht, daß ein Kind lernt, einfach ein Band künstlerisch ausbilden, sondern es muß wissen, wie das Band aussehen muß, je nachdem es an diesem oder jenem Teil des Menschen sitzt. So zum Beispiel muß man wissen, wenn ein Buch­einband gemacht wird, daß wenn man das Buch anschaut, man es so aufmacht. Es muß zwischen oben und unten ein Unterschied sein. Dieses Raumgefühl, dieses Formgefühl, in das muß das Kind notwendiger­weise hineinwachsen. Das geht dann bis in die Glieder. Das ist ein Unterricht, der zuweilen viel stärker in das Physische hineinwirkt als ein abstraktes Turnen. Und so sehen Sie, wächst aus der Farbenbehand­lung eben dasjenige heraus, was dann allerlei nützliche Gegenstände werden, die dann behandelt werden in der Weise, daß wirklich das Kind empfindet Farbe neben Farbe und Form auf Form, und das Ganze gehört zu etwas, und daher mache ich es so.

Das ist dasjenige, das in jede Einzelheit hineingehört, in das Leben­dige des Arbeitens. Der Unterricht soll eben eine Vorschule für das Leben sein. Sie werden da unter den Arbeiten allerlei interessante Dinge finden, sogar hier etwas, was ein verhältnismäßig sehr kleines Mädchen gemacht hat (Eierwärmer).

Ich kann Ihnen im Vortrag nicht alles zeigen, ich möchte nur noch darauf aufmerksam machen, daß wir hier allerlei Schönheiten aus der

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Waldorfschule mitgebracht haben. Hier finden Sie auch zwei Lieder-bücher von Herrn Baumann, dem Leiter des Musikalischen in der Wal­dorfschule, aus denen Sie entnehmen werden, welche Art von Liedern und Musikstoffen wir überhaupt in der Waldorfschule behandeln. Dann haben wir von einem der Mädchen - weil wir natürlich wegen der Grenzschwierigkeiten nicht viele Dinge mitbringen konnten - noch allerlei Dinge, die Sie hier vervielfältigt sehen. Das ist aber alles plastisch in der Art ausgeführt, wie es hier ist. Sie sehen, die Kinder haben ganz nette Einfälle; sie fassen doch eben das Leben auf; die Sachen sind aus Holz geschnitzt.

Sie können hieran (Landkarte) noch sehen, wie in das volle Leben dann hineingeführt werden kann, wenn man gerade schon lebensvoll von dem ersten Prinzip ausgeht. Das können Sie hier an dieser Land­karte sehen: man hat zuerst das Farbenerleben, und dann erlebt man ganz seelisch, indem man zuerst das Farbenerleben hat, erlebt man seelisch. Sie sehen hier Griechenland, seelisch erlebt. Es wächst das Kind, indem es zuerst in die Farbenerlebnisse hinein sich findet für das­jenige, was es aus dem Geographieunterricht bekommt, wächst es hin­ein, sich zu sagen: die Insel Kreta, die muß ich in einer bestimmten Farbe malen, und die kleinasiatische Küste so, den Peloponnes so. Das Kind lernt durch die Farbe künstlerisch sprechen, und es wird eine Landkarte tatsächlich dadurch ein innerliches seelisches Produkt.

Denken Sie nur, wie die Kinder nacherleben die Erde, wenn sie so aus dem Inneren heraus, nachdem sie zunächst so, wie der hier Kreta angestrichen hat oder den Peloponnes oder das nördliche Griechenland, wenn sie bei jeder solchen Farbe die entsprechende Empfindung haben, dann wird ja in ihrer Seele auch lebendig dasjenige, was Griechenland ist, und es schafft das Kind gewissermaßen Griechenland aufs neue gewissermaßen aus sich selbst heraus. Der Mensch nimmt auf diese Weise die Welt wirklich lebendig in sich auf. Und ganz anders leben die Dinge in den Kindern, wenn man sie auf diese Weise die Realität, die ganz gewöhnliche trockene Realität des Tages nacherleben läßt, nach­dem sie zuerst die Elemente, durch die sie sich aussprechen, ich möchte sagen, die Farbensilben und Worte, künstlerisch erleben lernen an den einfachen Malereien.

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ACHTER VORTRAG Oxford, 24. August 1922 Über physische und moralische Erziehung

Es wird vielleicht aus den Darstellungen, die ich mir bisher zu geben erlaubt habe, klar geworden sein, worauf alles Erziehen und Unter­richten in der Waldorfschule hinstreben soll. Es soll darnach streben, aus Menschenkindern physisch gesunde und starke Menschen zu machen, seelisch freie Menschen zu machen und geistig klare Menschen zu machen. Physische Gesundheit und Stärke, seelische Freiheit und gei­stige Klarheit machen dasjenige aus, was die Menschheit in der zu­künftigen Entwickelung auch in sozialer Beziehung gerade am meisten brauchen wird. Um aber in dieser Weise zu erziehen und zu unterrich­ten, ist es nötig, daß für den Erzieher durchaus das erreicht ist, was ich nun auch in diesen Darstellungen versucht habe klarzulegen.

Eine völlige Durchsichtigkeit des kindlichen Organismus muß der Lehrer haben, namentlich auch eine solche Durchsichtigkeit des mensch­lichen Organismus, welche den Lehrer befähigt, die physische Gesund­heit zu beurteilen. Denn dann, wenn man in die Lage kommt, wirklich die physische Gesundheit zu beurteilen und sie in Einklang bringen kann mit dem Seelischen, dann nur ist man in der Lage, sich auch zu sagen: mit dem einen Kind ist dasjenige, mit dem anderen Kind ein anderes zu tun.

Man hat heute vielfach die Meinung, daß in die Schule hineinkom­men müsse der Arzt. Man möchte geradezu das System des Schularztes immer weiter ausbilden. Aber geradeso wie es nicht gut ist, wenn man die verschiedenen Zweige, die verschiedenen Gegenstände des Unter­richtswesens an verschiedene Lehrer, die keinen Zusammenhang haben, abgibt, ebensowenig ist es förderlich für die Erziehung, wenn man die physische Gesundheit an jemanden übergibt, der nicht im ganzen Lehr­körper, im ganzen Lehrerkollegium drinnensteht. Es ist allerdings damit eine Schwierigkeit verknüpft. Die Schwierigkeit möchte ich Ihnen bei­spielsweise zum Ausdruck bringen.

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Während einer Führung in der Waldorfschule besuchte einmal jemand, der sonst Schulinspektor ist, unsere Waldorfschule, und ich sprach von demjenigen, was zu beobachten ist auch in bezug auf die physische Gesundheit, die physische Organisation der Kinder, sprach ihm von dem einen Kinde, bei dem irgendwie ein Fehler am Herzen ist, von einem anderen Kinde, bei dem dort ein Fehler liegt und so weiter, und da sagte der Mann ganz erstaunt: Ja, da müßten ja die Lehrer medizinische Kenntnis haben, wenn das in der Schule überhaupt eine Geltung haben soll!

Ja, wenn es eben nötig ist zu einer heilsamen Erziehung, daß die Lehrer bis zu einem gewissen Grade gute medizinische Kenntnisse haben, so müssen sie sie eben haben, dann müssen sie sie eben erreichen. Man kann nicht das Leben nach den Schrullen der Menschen formen, sondern man muß die Einrichtungen unter den Menschen nach den An­forderungen des Lebens bilden. Geradeso wie man sonst etwas lernen muß, um etwas zu können, so muß man auch als Erzieher etwas lernen, um etwas zu können.

So ist es notwendig für den Erzieher, daß er sich eine genaue Einsicht verschafft, namentlich für das ganz kleine Kind, in den Zusammen­hang desjenigen, was das Kind auslebt im Spielen. Im Spiel lebt ein ganzer Komplex von Seelenbetätigungen, Freude, zuweilen auch Schmerz, Sympathie, Antipathie; namentlich auch liegt im Spiel Neu­gierde, Wißbegierde. Das Kind will die Spielgegenstände genau unter­suchen, sehen, was drinnen ist. Und was da seelisch in einer ganz freien Betätigung, noch nicht hineingezwungen in die Form der menschlichen Arbeit, was da seelisch aus dem Kinde herauskommt, daran muß man beobachten können, wie es aus dem Gefühl kommt, wie es befriedigt oder nicht. Denn wenn man das Spiel des Kindes so leitet, daß das Kind eine gewisse Befriedigung hat am Spiel, so fördert man nament­lich diejenige Tätigkeit in gesundheitlicher Beziehung, die sich an das Verdauungssystem des Menschen anschließt. Und wie man das Spiel leitet, so ist im spätesten Lebensalter noch der Mensch in be­zug auf seine Blutzirkulation, in bezug auf seine Verdauungstätigkeit mehr oder weniger Hemmungen oder Nichthemmungen ausgesetzt. Da ist ein feiner intimer Zusammenhang zwischen dem, wie das Kind

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spielt und dem, was aus dem physischen Organismus des Menschen wird.

Man darf nicht sagen: der physische Organismus, das ist was Ge­ringes; ich bin ein Idealist; da hat man nichts zu tun mit diesem nie­deren physischen Organismus. Dieser physische Organismus ist von den göttlich-geistigen Mächten der Welt in die Welt hereingestellt, ist gött­liche Schöpfung, und man muß sich bewußt sein dessen, daß man an seiner göttlichen Schöpfung gerade als Erzieher mitzuarbeiten hat. Ich möchte weniger in allgemeinen abstrakten Sätzen sprechen, als in einem konktreten Beispiel.

Nehmen Sie einmal an, dasjenige tritt in einer, ich möchte sagen, etwas pathologischen Weise auf bei Kindern, was man eine melan­cholische Anlage nennen könnte, oder das tritt in einer pathologischen Weise auf, was man eine sanguinische Anlage nennen kann. Der Lehrer muß nun wissen können, wo die Grenze ist zwischen dem noch bloß Physischen und dem Pathologischen. Merkt er - das ist viel häufiger der Fall, als man denkt in solchen Dingen -, daß bei einem melancho­lischen Kinde die Sache ins Pathologische übergeht, wird er eine Verbin­dung mit den Eltern suchen, und er wird versuchen, sich erzählen zu lassen, wie das Kind im Hause ernährt wird. Er wird dann einen Zu­sammenhang zwischen dieser Ernährung und der pathologischen Melan­cholie finden. Denn wahrscheinlich - es könnten auch andere Ur­sachen sein, aber ich führe ja nur ein Beispiel an, um konkret zu spre­chen -, wahrscheinlich wird er entdecken, daß einem solchen Kinde im Hause zu wenig zuckerreiche Nahrung gegeben wird. Dadurch, daß zu wenig Zucker in der Nahrung gegeben wird, wird die Lebertätigkeit nicht in der richtigen Weise reguliert. Denn bei diesem melancholischen Kinde liegt die Eigentümlichkeit vor, daß ein gewisser Stoff, der sonst in den Pflanzen gebildet wird - wir nennen es im Deutschen Stärke -, zwar in der Leber gebildet wird, aber doch nicht in Ordnung ist. Bei jedem Menschen wird in der Leber Stärke gebildet, aber solche Stärke, die nicht Pflanzenstärke ist wie die andere, sondern animalische Stärke, die gleich in der Leber umgewandelt wird in Zucker. Diese Tätigkeit ist ein sehr wichtiger Bestandteil der Lebertätigkeit, die Verwandlung der animalischen Stärke in Zucker. Und das ist beim melancholischen

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Kinde nicht in der Ordnung, und man muß nun der Mutter raten, dem Kinde mehr Zucker in die Nahrung hineinzugeben, dann wirkt man regulierend auf die - wie man das nennt - Glycogentätigkeit der Leber, und man wird sehen, daß durch diese rein hygienische Maßregel außer­ordentlich viel erreicht werden kann. Es muß eben die Erziehung auf den ganzen Menschen ausgedehnt werden.

Oder beim sanguinischen Kinde wird man gerade das Gegenteil finden. Das wird sehr häufig zu einem Zuckerschlecker gemacht. Man gibt ihm viel Bonbons. Man gibt ihm zu viel Zucker in die Nahrung. Wenn es zu einem Zuckerschlecker gemacht wird, kommt gerade die entgegengesetzte Tätigkeit zustande. Die Leber ist überhaupt ein un­endlich wichtiges Organ, aber ein Organ, das viel ähnlicher ist den Sinnesorganen, als man denkt. Die Leber ist nämlich da, um den gan­zen Menschen innerlich wahrzunehmen, innerlich aufzufassen. Die Leber hat eine Sensitivität für den ganzen Menschen. Daher ist sie auch anders organisiert als andere Organe. In andere Organe geht ein gewis­ses Quantum von Arterienblut hinein und Venenblut heraus. Die Leber hat eine Extraanordnung. Es geht eine besondere Vene in die Leber hinein, die die Leber mit besonderem Venenblut versorgt. Das bewirkt, daß die Leber gerade im Menschen drinnen eine Art Außenwelt ist. Daher ist der Mensch durch die Leber befähigt, sich wahrzunehmen, aber das wahrzunehmen, was auf seinen Organismus wirkt. Die Leber ist ein außerordentlich feines Barometer für die Art und Weise, wie der Mensch der Außenwelt gegenübersteht. Wenn man der Mutter den Rat gibt, ein wenig den Zucker zu entziehen dem pathologisch sanguinischen Kinde, das flatterhaft ist, das nervös herumflattert von Eindruck zu Eindruck, kann man außerordentlich Günstiges bewirken.

Und so kann man durch dasjenige, was da nicht im Unterricht und in der Erziehung geschieht, sondern zwischendurch, wenn man ein ordentlicher Erzieher ist, das Kind in der richtigen Weise leiten, so daß es wirklich gesund und stark und kräftig in seiner physischen Beschaf­fenheit wird. Und man wird bemerken, wie das gerade von außer­ordentlich großer Bedeutung ist für die Gesamtentwickelung des Menschen.

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Wir haben bei den Knaben und Mädchen der Waldorfschule gerade die allerintensivste Erfahrung gemacht in dem Alter, in dem sie 15, 16 Jahre alt waren. Wir haben zuerst die Waldorfschule mit 8 Elemen­tarklassen gehabt, aber dann immer eine Klasse rückwärts darauf-gestülpt, also eine 9., 10. Klasse, dann kommt eine 11. Klasse. Diese Klassen, diese höchsten, die also nicht mehr Elementarklassen sind, sondern Fortschrittsklassen, die haben nun die Knaben und Mädchen eben in diesem fünfzehn-, sechzehnjährigen Alter. Da gibt es ganz besondere Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten sind zuweilen auch physisch-moralisch. Von denen werde ich nachher sprechen. Aber auch in physischer Beziehung merkt man, wie die menschliche Natur fort­während nach dem Pathologischen hinneigt und vor dem Patholo­gischen geschützt werden muß.

Bei den Mädchen sieht man ganz leise unter Umständen die Gesamt-entwickelung nach der Chlorose, nach der Anämie gehen. Das Mäd­chen wird blutarm, wie man sagt, im Organismus, bleichsüchtig, an­ämisch. Das rührt wirklich davon her, daß in diesem 14., 15., 16. Jahre das Geistige herausgesondert wird aus der gesamten menschlichen Or­ganisation; und dieses Geistige, das früher im ganzen Menschen drinnen wirkte, das regulierte das Blut. Jetzt ist das Blut sich selber überlassen. Da muß es ordentlich vorbereitet sein, damit es aus seiner eigenen Kraft heraus das Weitere besorgt. Bei den Mädchen tritt das ein, daß sie blut­arm, bleichsüchtig werden, und man muß wissen, daß diese Bleichsucht dann kommt, wenn man nicht genügend Interesse erweckt hat mit den Anregungen, die man den Mädchen vorher gegeben hat. Wenn man die Aufmerksamkeit, das Interesse wach erhält, dann ist auch der ganze physische Organismus in der Tätigkeit, die durch das Menschenwesen selbst gefordert wird, und dann wird die Bleichsucht nicht in derselben Weise eintreten.

Bei den Knaben ist das Gegenteil der Fall. Bei den Knaben kommt eine Art Neuritis zustande, eine Art von zu viel Venenblut im Gehirn haben. Dadurch funktioniert gerade in diesen Jahren das Gehirn so, als ob es blutüberfüllt wäre. Bei den Mädchen hat man es mit Blut­armut im Leibe, im Körper zu tun, bei den Knaben mit einer Art Blut-überfüllung, leiser Blutüberfüllung, namentlich mit einer Art unrichtigem

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Arterien- und Venenblut, namentlich im Kopfe zu tun. Das rührt davon her, daß man die Knaben mit Eindrücken überreizt hat, Ein­drücke so an die Knaben herangebracht hat, daß sie von Eindruck zu Eindruck eilen mußten und nicht zur Ruhe kommen konnten. Und man wird sehen, wie die Unarten bei den Vierzehn-, Fünfzehn-, Sech­zehnjährigen eben durchaus so auftreten und im Zusammenhange stehen mit der ganzen physischen Entwickelung.

Wenn man so, das Physische nicht verachtend, hinschaut auf das Wesen des Menschen, dann kann man in der Lenkung des Gesundheits­wesens gerade außerordentlich viel als Lehrer, als Erzieher erreichen. Der Grundsatz muß der sein: Spiritualität ist in jedem Augenblicke dann falsch, wenn sie vom Materiellen in ein abstraktes Wolken­kuckucksheim führen soll. Wenn man zum Verachten des Physischen kommt, wenn man dazu kommt, zu sagen: Ach was, der Körper, das ist die niedere Natur, das muß unterdrückt, muß unberücksichtigt wer­den -, dann kommt man ganz gewiß nicht dazu, den Menschen heilsam zu erziehen. Denn sehen Sie, wenn Sie die physische Natur unberück­sichtigt lassen beim Menschen, dann können Sie ja vielleicht sein Gei­stiges zu einer hohen Abstraktion bringen, aber es ist dann wie ein Luft­ballon, der davonfliegt. Von dem Geistigen, das nicht gehalten wird vom Physischen im Leben, hat die soziale Entwickelung auf der Erde zunächst nichts. Man muß auch für den Himmel vorbereitet sein, wenn man in den Himmel stark hineinfliegen will. Diese Vorbereitung muß auf der Erde geschehen.

Es ist allerdings für die heutige materialistische Zeit wenig beobacht­bar, daß die Menschen, indem sie in den Himmel kommen wollen, das Examen abzulegen haben beim Tode, daß sie hier auf der Erde das­jenige, was als göttlich-geistiges Geschöpf auf die Erde gestellt ist, als Höchstes, der menschliche physische Organismus, daß sie das auch geist-gemäß gepflegt haben. Von dem mehr Physisch-Moralischen will ich nun in der nächsten Serie sprechen und in der dritten dann über die Eurythmie.

So wie außerordentlich vieles gewissermaßen zwischen den Maß­nahmen, die man in der Schule selber trifft in bezug auf die Erziehung,

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auf dem physischen Gebiete liegen muß, so auch im Seelischen, so auch im Physischen und im Geiste. Es handelt sich vor allem darum, daß man schon während der Schulzeit beginnt, den Menschen richtig in das Leben hineinzustellen. Ich möchte wiederum dasjenige, was innerhalb des Waldorfschul-Prinzipes angestrebt wird, an Beispielen konkret erläutern, nicht in abstrakten Sätzen.

Man hat es ja nötig, dasjenige, was man mit dem Kinde in einem Schuljahre erarbeitet, festzustellen, wenn das Schuljahr abgeschlossen ist. Man nennt das heute: Zeugnis darüber ausstellen, ob und inwiefern das Kind das Lehrziel erreicht hat. In manchen Ländern wird die Art und Weise, wie das Lehrziel von dem Kinde erreicht worden ist in einem Jahre oder manchmal sogar in Zwischenpausen, den Eltern und den für das Kind verantwortlichen Menschen so mitgeteilt, daß man Zahlen aufgestellt hat: 1, 2, 3, 4; jede Zahl bedeutet, daß das Kind in bezug auf gewisse Gegenstände eine gewisse Fähigkeit erlangt hat. Manchmal, wenn man nicht weiß, ob eine 3 oder eine 4 das richtige Maß ausdrückt, wie das Kind diese Fähigkeit erreicht hat, so schreibt man 31/2 und manche Lehrer haben es gar zu der großen Kalkulationskunst gebracht, 31/4 zu schreiben. Ich gestehe Ihnen, daß ich diese Kunst, in solchen Zahlen die menschlichen Fähigkeiten auszudrücken, mir nie aneignen konnte.

Das Zeugniswesen in der Waldorfschule wird in einer anderen Weise gehandhabt. Gerade wenn der Lehrkörper, das Lehrerkollegium eine solche Einheit ist, daß jedes Kind in der Schule von jedem Lehrer in einem gewissen Sinne gekannt ist, dann ist es auch möglich, aus dem Ganzen des Kindes heraus ein Urteil über das Kind abzugeben. Daher sieht ein Zeugnis, das wir am Ende eines Schuljahres dem Kinde aus­stellen, so wie eine kleine Biographie aus, wie Aperçus aus, über die Erfahrungen, die man mit dem Kinde in und außer der Klasse während des Jahres gemacht hat.

Das Kind hat dann, und die Eltern, die verantwortlichen Vor-münder haben vor sich ein Spiegelbild desjenigen, wie das Kind in diesem Lebensalter ist. Und wir haben sogar in der Waldorfschule die Erfahrung gemacht, daß man herben Tadel in dieses Spiegelzeugnis hineinschreiben kann, die Kinder nehmen das mit Zufriedenheit auf.

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Und dann schreiben wir in das Zeugnis noch etwas anderes hinein. Wir verbinden Vergangenheit mit Zukunft. Wir kennen das Kind, wissen, ob es in der Willenstätigkeit, im Gefühlsleben, in der Denkaktivität fehlt, wissen, ob die oder jene Emotionen prädominieren. Darnach for­men wir für jede einzelne Kindesindividualität in der Waldorfschule einen Kernspruch. Den schreiben wir in das Zeugnis hinein. Der soll eine Richtschnur für das ganze nächste Schuljahr sein. Das Kind nimmt diesen Kernspruch so auf, daß es immer daran denken muß. Und dieser Kernspruch hat dann die Eigenschaft, auf den Willen oder auf die Affekte oder Gemütseigenschaften in entsprechender Weise aus­gleichend, kontrollierend einzuwirken.

So hat das Zeugnis nicht nur einen intellektuellen Ausdruck dafür, was das Kind geleistet hat, sondern es hat eine Kraft in sich, es wirkt, bis das Kind wiederum ein neues Zeugnis bekommt. Aber gerade dar­aus können Sie entnehmen, wie genau man eindringen muß in die kind­liche Individualität, um bis zu einem gewissen Grade das Kind mit einem solchen tatkräftigen Zeugnisse zu entlassen.

Sie sehen daraus zugleich, daß es uns in der Waldorfschule nicht darauf ankommt, eine Schule zu begründen, die ganz besondere äußere Einrichtungen braucht. Wir legen allen Wert auf dasjenige in der Päd­agogik und Didaktik, was aus den Lebensverhältnissen heraus heute jedem Schulwesen eingeimpft werden kann. Wir sind nicht Revolutio­näre, die einfach sagen: Stadtschulen taugen nichts, man muß alle Schu­len hinausverlegen auf das Land und dergleichen, sondern wir sagen:

das Leben aus seinen Verhältnissen heraus gibt dies oder jenes; wir neh­men die Verhältnisse, wie sie sind, und bringen in jede Art von Schul­wesen dasjenige hinein, was aus diesen Verhältnissen heraus in richtiger pädagogisch-didaktischer Weise zum Menschenheile wirken kann.

Dadurch kommen wir auch in die Lage, möglichst wenig Gebrauch von dem machen zu müssen, was man sonst im Leben nennt «sitzen bleiben», daß das Kind in der Klasse, in der es ein Jahr war, noch ein Jahr verweilen muß, damit es darinnen noch gescheiter wird. Man hat uns sogar in der Waldorfschule getadelt, weil wir in den höheren Klas­sen solche Kinder haben, von denen die äußeren Schulbehörden mein­ten, sie hätten sitzen bleiben müssen. Bei uns ist es außerordentlich

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schwierig, schon aus gewissen menschlichen Gründen, dieses Sitzen-bleiben durchzuführen, weil unsere Lehrer so sehr an den Kindern hängen, daß manche Tränen vergießen würden, wenn sie ein Kind zu­rücklassen müßten. Es ist so, daß tatsächlich ein inniger Kontakt zwi­schen den Kindern und dem Lehrer hervorgerufen wird, und dadurch wird tatsächlich auch dieses ominöse Sitzenbleiben vermieden. Man kann ohnedies nichts Vernünftiges mit diesem Sitzenbleiben anfangen. Denn nehmen wir an, wir lassen einen Jungen oder ein Mädchen mit 9 Jahren sitzen in einer vorhergehenden Klasse; das Mädchen oder der Knabe ist aber so veranlagt, daß ihm, wie man sagt, der Knopf im ii. Jahre aufgeht, dann bringen wir das Kind in die Klasse des ii. Jahres um ein Jahr zu spät. Das ist ein viel größerer Schaden, als wenn der Lehrer mit diesem Kinde einmal Mühe gehabt hat, indem es schwächer sich in die Gegenstände eingelebt hat und es in der nächsten Klasse doch mitnehmen muß.

Nur für die allerschwächsten Schüler haben wir eine Hilfsklasse eingerichtet. Wir haben nur eine Hilfsklasse, in der wir die schwachen Schüler aller übrigen Klassen haben müssen, weil wir zu einer großen Anzahl von Hilfsklassen kein Geld haben. Wir haben eine Hilfsklasse, allerdings mit einer ausgezeichneten Lehrkraft, Dr. Schubert. Von dem konnte man sagen, als es sich darum handelte, eine Hilfsklasse einzu­richten: es ist mit axiomatischer Sicherheit zu sagen, Sie müssen diese Hilfsklasse leiten. Das liegt in seinen Anlagen. Er kann aus dem Patho­logischen der Kinder etwas herausbekommen. Er behandelt jedes Kind ganz individuell bis zu dem Grade, daß er es am liebsten hat, wenn er die Kinder nun nicht in einzelne Bänke zu sitzen bekommt, sondern um einen runden Tisch herum zu sitzen bekommt. Die schwachen Kinder, die entweder im Kopfe schwach sind, oder irgendwie zurückgeblieben sind, die werden dann so behandelt, daß sie nach einiger Zeit wiederum mit ihrem Jahrgang mitgehen können. Das kann natürlich nur langsam erreicht werden. Aber auch mit diesem Versetzen in die Hilfsklasse sind wir außerordentlich sparsam, und wenn ich versuchen will, einer Not­wendigkeit zufolge irgendein Kind aus einer Klasse in die Hilfsklasse zu versetzen, so muß ich gewöhnlich erst den Kampf mit dem Lehrer der Klasse ausfechten, weil er das Kind nicht hergeben will. Manchmal

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ist das gerade in außerordentlich wunderbarer Weise hervor­tretend, wie zusammenwachsen können die Lehrerindividualitäten mit den Schülerindividualitäten. Damit erreicht man wirklich dieses, daß Unterricht und Erziehung etwas Innerliches werden bei den Kindern.

Sie sehen, es beruht alles bei uns auf der Ausbildung der Methodik, weil wir realistisch und nicht nebulose Mystiker sind. Wenn wir auch mit dem anderen Leben eben Kompromisse schließen müssen, so bringen wir es doch durch die Methodik dazu, dasjenige, was in den Kindern indivi­duell veranlagt ist, wirklich aus ihnen herauszuholen; wenigstens für die paar Jahre, die wir wirken konnten, hat sich ja manches Gute gezeigt.

Uns ist allerdings, weil wir die Kompromisse schließen müssen, zum Beispiel für viele Kinder der Religionsunterricht nicht ermöglicht. Wir können das Kind durch das Moralische führen. Das Moralische bringen wir dem Kinde dadurch nahe, daß wir es vor allen Dingen aus der Dankbarkeit heraus erwachsen lassen. Die Dankbarkeit ist das kon­krete Erleben dem Menschen gegenüber im Moralischen. Was im Men­schengemüte nicht von der Dankbarkeit ausgehen kann, bringt es in der Moralität auch höchstens zu abstrakten Grundsätzen. Aber aus der Dankbarkeit entwickelt sich alles heraus. Und wir entwickeln dann die Liebefähigkeit der Menschen und die Pflichtfähigkeit aus der Dank­barkeit heraus. Dadurch führt man das Moralische zum religiösen Leben. Aber es machten die äußeren Verhältnisse notwendig, daß wir nicht als Himmelstürmer auftraten, daß wir also den katholischen Un­terricht in die Hände der katholischen Religionsgemeinde gaben. Die schickt uns in die Schule ihren Vertrauensmann. Und wir lassen die katholischen Kinder von dem katholischen Pfarrer, die evangelischen Kinder von dem evangelischen Pfarrer unterrichten. Es ist die Waldorf­schule keine Weltanschauungsschule, sondern eine Methodenschule.

Es hat sich nur herausgestellt, daß eine Anzahl von Kindern Dissi­dentenkinder waren, die gar keinen Religionsunterricht auf diese Weise bekommen würden. Aber durch den ganzen Geist, der in die Waldorf­schule hereinzog, entstand gerade bei denjenigen Eltern, die sonst ihre Kinder in keinen Religionsunterricht geschickt hätten, das Bedürfnis, daß das Moralische ins Religiöse übergeführt wurde. So waren wir genötigt, einen besonderen Religionsunterricht zu geben vom anthroposophischen

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Gesichtspunkte aus. Das ist nicht, um Anthroposophie in die Schule hineinzutragen. Selbst im anthroposophischen Religions­unterricht lehren wir den kleinen Kindern nicht Anthroposophie, son­dern wir versuchen in der Natur diejenigen Symbole und Gleichnisse zu finden, die nach dem Religiösen hinleiten. Wir versuchen das Evan­gelium in der Weise, wie man es verstehen muß aus einer spirituellen Erfassung der Religion, dem Kinde beizubringen und so weiter. Wer meint, daß es uns mit der Waldorfschule um eine Anthroposophenschule zu tun ist, der versteht weder die Waldorfschul-Pädagogik, noch ver­steht er die Anthroposophie.

Aber Anthroposophie, wie wird sie denn sehr häufig verstanden? Wenn die Menschen von Anthroposophie reden, dann denken sie sich darunter irgend etwas Sektiererisches, weil sie höchstens noch im Lexi­kon nachschauen, was wörtlich Anthroposophie bedeutet. Es ist unge­fähr so, wie heute von der Welt Anthroposophie aufgenommen wird, wie ich es durch einen Vergleich ausdrücken kann. Nehmen Sie an, jemand hört: Max Müller aus Oxford - was kann das für ein Mensch gewesen sein? Ein Müller, ja, der kaufte Korn, und dann brachte er das Korn in die Mühle, und dann mahlte er aus dem Korn Mehl und das lieferte er dann an den Bäcker. Sehen Sie, ich glaube nicht, daß die Menschen, die nach dem Namen Müller so viel von Max Müller in Oxford er­zählen würden, daß die sehr viel Treffendes über ihn erzählen würden! So ungefähr ist es, wenn heute die Leute über Anthroposophie reden, geradeso wie wenn sie so über Max Müller reden würden, denn sie schälen sich aus dem Wortverhältnis dasjenige heraus, was Anthropo­sophie nach ihrer Meinung ist. Sie sehen in ihr so eine Sekte vom Hinter­land; während eben jedes Ding einen Namen haben muß.

Anthroposophie ist dasjenige, was wirklich aus allen Wissenschaften und aus dem Leben herauswächst und gar keinen Namen brauchte; aber nun, weil schon einmal die Menschen Namen haben müssen in dieser irdischen Welt, weil das Ding schon einen Namen haben muß, heißt es Anthroposophie. Aber ebensowenig wie das Wesen des Gelehr­ten aus seinem Namen Max Müller folgt, ebensowenig folgt etwas aus dem Namen «Anthroposophie» für die Sache. So ist es, indem wir hin-eintragen in die Schule anthroposophischen Religionsunterricht, daß

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wir uns ebenso hinstellen neben die anderen Religionsunterrichte als etwas, was sich hineinfügt, wie das bei den anderen Religionsunter­richten der Fall ist.

Nun, wirklich, ich meine es nicht böse, aber andere haben es uns zum Bösen ausgelegt. Der anthroposophische Religionsunterricht, der vergrößert sich; immer mehr Kinder kommen dazu. Und es sind sogar schon Kinder von den anderen fortgelaufen, sind zu dem anthropo­sophischen Religionsunterricht herübergekommen. Es ist doch dann ganz verständlich, daß die Leute sagen: Was sind die Anthroposophen für schlechte Menschen! Sogar die Kinder verführen sie, daß sie aus dem evangelischen oder katholischen Religionsunterricht fortlaufen und dort Religionsunterricht haben wollen. - Wir tun alles, um die Kinder womöglich davon abzuhalten, denn es ist außerordentlich schwierig, gerade auf unserem Gebiete Religionslehrer zu finden. Aber trotzdem wir niemals versucht haben, diese Sache auf etwas anderes hin als auf die Anforderungen der Eltern und der unbewußten Anfor­derungen der Kinder selbst einzurichten, breitet sich, ich möchte sagen, zu meinem Jammer das Bedürfnis nach diesem anthroposophischen Religionsunterricht immer mehr und mehr aus. Und da handelt es sich wirklich darum, daß durch diesen anthroposophischen Religions­unterricht die Waldorfschule einen durch und durch christlichen Cha­rakter bekommen hat.

Sie werden das fühlen aus dem ganzen Auswirken des Milieus in der Waldorfschule, daß über allem Unterricht ein christlicher Charak­ter liegt, daß also tatsächlich religiöses Leben in der Waldorfschule waltet, trotzdem wir vom Anfange an es nicht darauf angelegt haben, aus der Waldorfschule irgend etwas zu machen, was mit Konfessio­nellem etwas zu tun hat. Ich muß es wiederholt und wiederholt sagen:

das Waldorfschul-Prinzip ist nicht ein Prinzip, das eine Welt­anschauungsschule machen will, sondern eine Methodenschule. Was erreicht werden soll durch eine Methode, die auf Menschenerkenntnis beruht, ist dasjenige, daß man aus Kindern physisch gesunde und kräf­tige, seelisch freie und geistig klare Menschen macht.

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Gestatten Sie, daß ich noch ein paar Worte spreche über die Bedeu­tung des eurythmischen Unterrichts und der Erziehung, welche für das Kind gerade aus dem Eurythmieunterricht hervorgehen kann. Ich möchte das erläutern an den Figuren, die im Atelier in Dornach gemacht worden sind, und die in einer gewissen künstlerischen Weise darstellen sollen dasjenige, was eigentlich der Inhalt des Eurythmischen ist. Zu­nächst sind diese Figuren allerdings mehr bestimmt, eine Grundlage zu geben für die künstlerische Anschauung der Eurythmie. Ich werde aber auch in der Lage sein, in bezug auf das Pädagogisch-Didaktische gerade aus diesen Figuren heraus einzelnes vor Ihnen klarzumachen. Es handelt sich darum, daß ja die Eurythmie wirklich eine sichtbare Sprache ist, keine mimische Äußerung, keine pantomimische Äußerung und auch keine gewöhnliche Tanzkunst. Geradeso wie der Mensch partielle Organe in Regsamkeit, in Tätigkeit bringt, wenn er singt oder wenn er spricht, so kann man auch den ganzen Menschen in diejenigen Bewegungen bringen, die eigentlich der Kehlkopf und seine Nachbar-organe ausüben wollen. Aber sie kommen nicht dazu, sie unterdrücken sie gleich, und da werden die anderen Bewegungen, die dann so ver­laufen, daß sich dasjenige, was eigentlich im Kehlkopf, sagen wir, diese Bewegung werden will, so daß sich die Kehlkopfflügel nach außen öffnen: A, das wird im Moment des Entstehens, im Status nascendi untergraben, wird in eine solche Bewegung verwandelt, in die der Gedankeninhalt der Sprache hineinversetzt werden kann, und in eine Bewegung, die dann in die Luft übergehen kann und gehört werden kann. Die zugrundeliegende Bewegung, die eigentlich innermenschliche Bewegung, sagen wir das A, Sie haben sie hier (die Figur wird gezeigt). Das will der ganze Mensch machen, wenn er in A ausbricht. Und so kann man jede Äußerung des Gesanges und der Sprache in der Bewe-gung, die eigentlich der ganze Mensch ausführen will, aber im Status nascendi aufhält, sichtbar machen. So kann man zu jeder solchen Bewegungsform kommen.

Geradeso wie es Formungen gibt des Kehlkopfes und der anderen Sprachorgane für A, I, L, M, so gibt es die entsprechenden Bewegungen, Bewegungsformen. Diese Bewegungsformen, sie sind daher diejenige Offenbarung des Willens, für die sonst die Offenbarungen des Gedankens

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und des Willens, im Sprechen und Singen bestehen. Das Gedank­liche, das rein abstrakte Gedankliche, das in der Sprache ist, wird hier herausgenommen, und alles, was sich aussprechen will, in die Bewe­gung selbst hineinversetzt; so daß die Eurythmie im weitesten Sinne eine Bewegungskunst ist. Genau ebenso wie Sie das A hören können, können Sie das A anschauen, wie Sie das I hören können, können Sie das I anschauen.

Nun ist in diesen Figuren das angestrebt, daß in der plastischen Gestaltung des Holzes die Bewegung vor allen Dingen festgehalten ist. Die Figuren sind nach einem Dreifarbenprinzip gebildet. Es ist die Grundfarbe da, die eigentlich überall die Bewegungsform zum Aus­druck bringen soll. Aber wie in unsere Lautsprache das Gefühl hinein-strömt, so kann das Gefühl auch hinunterströmen in die Bewegung. Denn wir sprechen ja nicht nur einen Laut, sondern wir geben dem Laute eine Gefühlsfärbung. Das können wir auch in der Eurythmie. Und da wirkt ein stark unterbewußtes Moment in die Eurythmie hinein. Wenn der Akteur, der Darsteller imstande ist, dieses Gefühl künstlerisch in seine Bewegungen hineinzulegen, dann wird man dieses Gefühl auch mitfühlen, wenn man die eurythmischen Bewegungen sieht. Hier ist noch das in Betracht gezogen, daß der Schleier, der getragen wird, diesen Gefühlen folgen soll. So daß also dasjenige, was hier (bei den Figuren) als zweite Farbe vorzugsweise auf den Schleier verwendet ist, darstellt die Gefühlsnuance für die Bewegung. Sie haben also eine erste Grundfarbe, die drückt die Bewegung selber aus, eine zweite daraufgesetzte Farbe, die vorzugsweise im Schleier zum Aus­drucke kommt, die drückt die Gefühlsnuance aus. Aber der euryth­mische Akteur muß die innere Kraft haben, dieses Gefühl in die Bewe­gung hineinzulegen, so wie es einen Unterschied macht, ob ich zu jeman­dem sage: Komm zu mir! - befehlend - oder: Komm zu mir! - freund­lich auffordernd. Das ist die Gefühlsnuance. So stellt dasjenige, was hier in der zweiten Farbe zum Ausdrucke kommt, und was dann in den Schleier hinein fortgesetzt wird, die Gefühlsnuance der eurythmischen Sprache dar.

Und das dritte bringt Charakter, das starke Willenselement hinein. Das kommt nur dadurch in die Eurythmie hinein, daß der eurythmische

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Akteur in der Lage ist, mitzuempfinden seine Bewegungen und daß er sie in sich selbst ausdrückt. Der Kopf eines eurythmisierenden Akteurs sieht ganz anders aus, ob er die Muskeln im linken Haupte etwas spannt und im rechten etwas schlaff läßt, wie es zum Beispiel hier angedeutet ist durch die dritte Farbe. Sie können das beobachten, immer die dritte Farbe zeigt das Willensmäßige an. Hier zum Beispiel wird an der linken Seite etwas gespannt, und hier über den Mund hinüber; hier (bei einer anderen Figur) wird die Stirne etwas gespannt, die Muskeln der Stirne etwas gespannt. Das gibt dann - ausstrahlend von dieser leisen Spannung, denn das strahlt in den ganzen Organismus aus, was da leise gespannt wird -, das gibt dem Ganzen einen innerlichen Charakter. Und aus dieser Bewegung, die durch die Grundfarbe ausgedrückt ist, aus der Gefühlsnuance, die durch die zweite Farbe ausgedrückt wird, und aus diesem Willenselemente - das ganze Element ist Willensele­ment, aber da wird der Wille noch besonders daraufgesetzt -, aus dem setzt sich die eigentliche eurythmische Kunst zusammen.

Will man daher irgend etwas eurythmisch festhalten, so muß man aus dem Menschen heraussondern dasjenige, was bloß eurythmisch ist. Würden hier Figuren stehen mit schön gemalten Nasen und Augen und schönem Mund, das könnten ja schöne Malereien sein; aber bei der Eurythmie handelt es sich nicht darum, hier ist nur das gemalt und gebildet, was das Eurythmische am eurythmisierenden Menschen ist.

Der eurythmisierende Mensch ist so, daß es bei ihm auf das spezielle Gesicht nicht ankommt. Es kommt nicht darauf an. Es ist natürlich so, daß von selbst bei einem gesunden Eurythmisierenden nicht zu einer freudigen Bewegung ein griesgrämiges Gesicht gemacht wird, aber das ist ja sonst auch, wenn man spricht, der Fall. Aber eine Physiognomie des Gesichtes, die nicht eurythmisch ist, die wird nicht angestrebt. Zum Beispiel: es kann einer eine A-Bewegung dadurch machen, daß er die Augenachse nach außen hält. Das ist eurythmisch, das geht. Aber es geht nicht, daß irgendeiner, so wie es in der mimischen Kunst ist, beson­dere Kinkerlitzchen - so sagt man im Deutschen - mit den Augen macht, und das sieht aus wie eine Grimasse, was man oftmals verlangt als einen besonderen mimischen Ausdruck des Gesichtes. Es muß am Eurythmisierenden alles eurythmisch sein.

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Daher wurde hier einmal in einer Art Expressionskunst dasjenige aus dem Menschen herausgeholt, was nur Eurythmie ist, alles andere weggelassen, und man bekommt eigentlich auf diese Weise nur einen künstlerischen Ausdruck. Denn es ist ja in aller Kunst so, daß man nur mit gewissen Kunstmitteln dasjenige zum Ausdrucke bringt, was eben eine Kunst darstellen kann. Sie können eine Statue nicht sprechen lassen; Sie müssen also in der Formung des Mundes, des ganzen Gesichtes dasjenige ausdrücken, was Sie als seelischen Ausdruck haben wollen. So nützt es auch nichts, hier naturalistische Menschen zu malen, sondern das zu malen, was unmittelbar als Eurythmisches herauskommt.

Nun ist es natürlich, daß wenn ich hier vom Schleier spreche, man nicht nach jedem Laut den Schleier wechseln kann; aber man findet all­mählich heraus, daß wenn man einmal in diese Gefühlsnuance, in diese Stimmung sich hineinversetzt für ein Gedicht, dann hat ein ganzes Gedicht eine A-Stimmung oder eine B-Stimmung. Dann kann man für das ganze Gedicht in irgendeiner Schleierfarbe die Sache zurecht­machen.

Ebenso ist es mit der Farbgestaltung. Hier habe ich für jeden ein­zelnen Laut Schleier, Form, Farbenzusammenstellung und so weiter dargestellt. Man muß bei einem Gedicht gewissermaßen die Grundnote haben. Diese Grundnote gibt dann die Schleierfarbe, überhaupt die ganze Zusammenstellung, die man durch das Gedicht festhalten muß, sonst müßten sich die Damen die Schleier fortwährend wechseln, fort­während Schleier abwerfen, andere Schleier anziehen, und die Sache würde noch komplizierter werden als sie schon ist, und die Leute wür­den sagen, sie verstehen sie noch weniger. Aber es ist durchaus so: hat man einmal die Lautstimmung, kann man sie auch durch ein ganzes Gedicht festhaltend und nur durch die Bewegungen variierend den Über­gang von einem Laut zum anderen, einer Silbe zur anderen, von einer Stimmung zu der anderen und so weiter machen.

Nun, ich habe, da ich heute pädagogisch-didaktische Zwecke habe, hier die Eurythmiefiguren so aufgestellt, daß Sie sie in der Reihenfolge sehen, wir das Kind die Laute lernt. Das Kind lernt von klein auf die Laute so, daß der erste Laut im wesentlichen derjenige ist, der als A tönt. In dieser Reihenfolge fortgeschritten, ungefähr natürlich, es gibt

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alle möglichen Abweichungen bei Kindern, aber in dieser Reihenfolge ungefähr: A, E, 0, U, I, werden die Vokale durchschnittlich normal an­geeignet von dem Kinde. Wenn man in dieser Weise wiederum diese sichtbare Sprache der Eurythmie von dem Kinde ausüben läßt, dann ist es wie eine Auferstehung desjenigen, was das Kind erlebt hat beim Lautelernen als ganz kleines Kind, wie eine Resurektion, wie eine Auf­erstehung auf einer anderen Stufe. Das Kind erlebt noch einmal das, was es früher erlebt hat, in dieser eurythmischen Sprache. Und es ist das eine Befestigung desjenigen, was in dem Worte lieg, durch die Mittel des ganzen Menschen.

Dann, bei den Konsonanten ist es so, daß die Kinder lernen M, B, P, D, T, L, N; da würde noch ein NG sein müssen, wie zum Beispiel in gingen, das ist noch nicht gebildet; dann F, H, G, 5, R. R, dieser ge­heimnisvolle Buchstabe, der eigentlich drei Formen in der mensch­lichen Sprache hat, wird in Vollkommenheit erst zuletzt von den Kin­dern ausgeführt. Es gibt ein Lippen-R, ein Zungen-R, und ein R, das ganz rückwärts gesprochen wird.

So also kann man dasjenige, was das Kind in der Sprache in einem Parti alorganismus, im Sprachorganismus und im Gesangsorganismus lernt, das kann man auf den ganzen Menschen übertragen, zur sicht­baren Sprache ausbilden.

Wir werden dann, wenn einiges Interesse vorhanden sein sollte für solch eine expressionistische Kunst, auch weiteres ausbilden können, wie zum Beispiel Freude, Traurigkeit, wie Antipathie, Sympathie und anderes, was ja alles in Eurythmie darzustellen ist. Nicht nur die Gram­matik, sondern auch die Rhetorik kommt in der Eurythmie zurecht. Wir werden das alles ausbilden können. Dann wird man sehen, wie tatsächlich auch dieses geistig-seelische Turnen, das nicht nur in den physischen Menschen physiologisch hineinwirkt, sondern geistig­seelisch und leiblich-körperlich den Menschen bildet, in der Tat auf der einen Seite seinen pädagogisch-didaktischen Wert, auf der anderen Seite seinen künstlerischen Wert haben kann.

Nun, gestatten Sie, daß ich nur in Parenthese eben hinzufüge, daß diese Figuren von dem Eurythmielernenden nach dem Eurythmie­unterricht zum memorieren dienen können. Denn man soll nur ja nicht

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glauben, daß Eurythmie etwas so Leichtes ist, daß man es in ein paar Stunden sich beibringen kann. Eurythmie muß wirklich gründlich er­lernt werden; aber zum Wiederholen können solche Eurythmiefiguren auch für diejenigen dienen, die eurythmische Kunst suchen, zu dem Wei­ter-sich-Hineinvertiefen. Man wird schon sehen, daß in den Formen selber, die hier verhältnismäßig einfach geschnitzt und bemalt sind, sehr viel liegt.

Das ist dasjenige, was ich heute sagen wollte über die eurythmische Kunst, namentlich insofern sie sich einfügen kann in das pädagogisch-didaktische Prinzip, wie wir es in der Waldorfschule zu pflegen suchen.

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NEUNTER VORTRAG Oxford, 25. August 1922 Die Erziehung des Menschen im Reifealter und die Lebensbedingungen des Lehrers

Gestern erlaubte ich mir schon anzudeuten, zu welchem Punkte in der Erziehung der Jugend man kommt, wenn die Knaben und Mädchen das 14. oder 15. Jahr, die Geschlechtsreife erreicht haben. Da ergeben sich für den Erzieher, der seine Verantwortlichkeit fühlt, große Schwie­rigkeiten. Und insbesondere in einer Schule oder Erziehungsanstalt, in welcher aus dem Wesen des Menschen erzogen wird, treten diese Er­scheinungen ganz besonders zutage. Aber es kann sich dabei nicht dar­um handeln, durch irgendwelche unnatürliche Erziehungsmaßnahmen diese Schwierigkeiten zurückzudrängen. Denn, drängt man sie für dieses Lebensalter zurück, dann ergeben sie sich im späteren Leben im mas­kierten Zustande in aller möglichen Weise. Es ist viel besser, wenn man mit klaren Augen den Schwierigkeiten, die entstehen, entgegenschaut, und wenn man sich dazu anschickt, sie auch in der richtigen Weise als etwas, was im Menschenleben da sein muß, zu behandeln. Gerade in einer Schule wie der Waldorfschule, in der sich Knaben und Mädchen nebeneinander und im unmittelbaren freien Verkehre miteinander befin­den, gerade in einer solchen Schule treten eben diese Schwierigkeiten ganz besonders auf.

Wir konnten schon darauf hinweisen, welche Differenz eintritt zwischen Knaben und Mädchen so gegen das 10. Lebensjahr hin. Da beginnen die Mädchen stärker zu wachsen, namentlich auch stärker in die Höhe zu wachsen. Die Knaben bleiben im Wachstum etwas zurück bis zum Geschlechtsreifealter. Da überholen wiederum die Knaben die Mädchen.

Für denjenigen, der aus einer wirklichen Menschenerkenntnis her­aus, die Geist, Seele und Leib umfaßt im innigen Miteinanderwirken, beobachtet, für den bedeutet das sehr viel; denn es ist in dem Wachsen, namentlich in der Überwindung der Schwerkraft der Erde durch das

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Wachsen etwas Fundamentales aus der Menschennatur gegeben. Und wiederum auf der anderen Seite ist etwas Fundamentales damit ge­geben, ob irgend etwas in den Lebenserscheinungen des Menschen in der einen oder in der anderen Lebensepoche eintritt. Es ist deshalb so, daß gewisse kosmische, außermenschliche Wirkungen, die von der Außenwelt in dem Menschen ausgeübt werden, auf den weiblichen Organismus in einer intensiveren Weise zwischen dem 10. und 14. Jahre wirken als auf den männlichen Organismus. Gewissermaßen lebt sich der weibliche Organismus zwischen dem 10. und 14. Jahre in eine über­sinnliche Welt auch körperlich hinein.

Ich bitte das als etwas ganz besonders Wichtiges zu betrachten. Es lebt sich der weibliche Organismus zwischen dem 10. und 12., 13., 14. Lebensjahr als Organismus in etwas Geistiges hinein. Er wird durch­geistigt in dieser Zeit. So daß ihm für diese Zeit bei Mädchen etwas ganz besonderes mit der Blutentwickelung gegeben ist. Die Blutzirku­lation steht, man möchte sagen, in diesen Lebensjahren der ganzen Welt gegenüber. Sie muß sich gewissermaßen an der ganzen Welt, an dem Universum regulieren. Und Beobachtungen einfach auch mit äußeren Instrumenten, die etwa feststellen würden, wie sich das Ver­hältnis zwischen Pulsschlägen und Atemzügen verändert zwischen dem 10. und 14. Jahre, die würden etwas ganz anderes ergeben für die Mäd­chennatur als für die Knabennatur.

Der Knabe beginnt mit dem 13., 14. Jahre ein anderes Wesen zu zeigen, als er früher gezeigt hat, und da beginnt er auch das Mädchen an Größe zu überwachsen. Er wächst hinaus. Er holt das wiederum nach, was er früher versäumt hat, aber er holt das nach in einem Zu­stande, in dem der Mensch ganz anders der Welt gegenübersteht, als er in früheren Lebensjahren gegenübergestanden hat. Daher wird beim Knaben jetzt mehr engagiert das Nervensystem als das Blutsystem. Und so ist es beim Knaben leicht der Fall, daß sein Nervensystem gerade in diesen Jahren überreizt wird, wenn man nicht in der richtigen Weise die Eindrücke des Schulwesens an den Knaben heranbringt. Denn in diesen Jahren hat einen ungeheuren Einfluß auf den Knaben dasjenige, was in der Sprache oder in den Sprachen, die er gelernt hat, liegt. Die menschlichen Vorstellungen, die in der Sprache oder in den Sprachen

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niedergelegt sind, die dringen gewissermaßen, während der Körper schwächer wächst, sie dringen in den Knaben ein. Und so beginnt mit diesem Lebensalter in dem Knaben die Welt zu rumoren, innerlich zu toben, aber die Welt, die auf der Erde die Umgebung bildet.

Man möchte sagen: dem Mädchen wird etwas von dem ganzen Kos­mos, von dem Universum eingepflanzt, etwas früher; dem Knaben wird die Umgebung auf der Erde auf dem Umwege durch die Sprache ein­gepflanzt. Sie können äußerlich an Symptomen das dadurch wahr­nehmen, daß der Knabe seine Stimme verändert. Es geht auf diesem Umwege der Stimmbildung mit der ganzen Organisation des Knaben ungeheuer viel vor sich. Beim weiblichen Organismus tritt diese Stimm-veränderung nur in leiser Weise hervor. Dagegen innerlich im Organis­mus hat sich etwas vorbereitet, was eben mit dem schnellen Aufschießen zusammenhängt, was mehr, ich möchte sagen, überirdische Welt in das Mädchen hineingießt. Gerade die Fortschritte der materialistischen Erkenntnis der Welt kommen vor einer spirituellen Anschauung zur Geltung.

Sehen Sie, wenn die Rede davon ist, daß spirituelle Gesichtspunkte oder spirituelle Werte irgendwo vertreten werden, so sagt man leicht:

nun ja, das sind solche sonderbare Käuze, die schweben weit von der Erde weg, die wollen das Materielle verachten. Und dann kommt wohl der Naturforscher und hebt die großen Fortschritte der rein materiellen Erkenntnisse hervor, die die letzten Jahrhunderte gemacht haben. Und dann glaubt man, daß diejenigen, die von so etwas Weltfremdem - ich meine jetzt nicht, die Anthroposophie ist weltfremd, aber die Welt ist die Anthroposophie fremd -, wenn dann so etwas Weltfremdes auf­tritt, wie die Anthroposophie, dann glaubt man, die kümmert sich nicht um die Materie, um die praktische Welt. Sie ist es gerade, welche die großen Fortschritte der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf­nimmt, mit ungeheurer Liebe aufnimmt und sie dann durchtränkt mit dem, was man aus der geistigen Welt heraus erkennen kann. So daß man tatsächlich eine richtige Einschätzung des Materialismus gerade bei den Bekennern einer spirituellen Philosophie finden wird, eine rich­tige Einschätzung des Materialismus. Der Spiritualist darf Materialist sein. Aber der bloße Materialist verliert mit dem Geiste auch die Erkenntnis

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der Materie, denn er hat nichts mehr vor sich als den äußeren Schein von der Materie. Gerade der Materialist verliert jede Einsicht in das materielle Geschehen. Das ist dasjenige, was ich als etwas besonders Bedeutungsvolles hervorheben möchte.

Und, sehen Sie, derjenige, der nun in der Weise den Kindern gegen­übersteht wie der Waldorflehrer, der beurteilt nun den Menschen, der geschlechtsreif geworden ist, der also hinübergekommen ist in seiner Lebensentwickelung über das, was in der Lebensepoche geschehen ist, die ich eben jetzt angedeutet habe, der beurteilt diesen Menschen in einer ganz anderen Weise, als wenn man nichts von alledem weiß, namentlich wenn man es nicht vom spirituellen Gesichtspunkte aus weiß.

In dem Knaben, so um das 14., 15. Jahr herum, tritt einem ent­gegen ein Mensch, in dem die äußere Umgebung rumort. Ich möchte sagen: die Worte mit ihrem bedeutungsvollen Inhalte, die sind in sein Nervensystem unbewußt eingezogen, die rumoren in seinen Nerven. Er weiß mit sich selber nichts anzufangen, der Knabe. Er hat ja etwas in sich aufgenommen, das ihm gerade im 14., 15. Lebensjahr anfangt, fremd zu erscheinen. Er kommt in ein Staunen hinein, in ein Kritisieren, Skeptizieren gegenüber sich selbst; er kommt in eine Haltlosigkeit gegenüber sich selbst. Und wer die Menschennatur versteht, der weiß, daß dieses merkwürdige zweibeinige Wesen, das auf der Erde herum-wandelt und das man Anthropos nennt, daß dieses für keinen Philo­sophen jemals ein so großes Rätsel war, als es oftmals ist für den fünf-zehnjährigen Knaben; denn es umfaßt da das Rätselvolle alle Kräfte der menschlichen Seele. Denn dasjenige, was am meisten entfernt liegt vom gewöhnlichen Bewußtsein, der Wille, der ist es, der förmlich an-stürmt gegen das Knaben-Nervensystem im 14., 15. Lebensjahre.

Anders ist es beim Mädchen. Und gerade wenn man das recht an­streben will, was mit Recht in der Gegenwart angestrebt wird, und was in der Zukunft kommen muß, die völlige Gleichheit, die Gleichberech­tigung der beiden Geschlechter für die Welt, dann muß man einen klaren, unbefangenen Blick haben für die Differenzierung. Nur da­durch kann die Gleichheit realisiert werden, daß man einen klaren un­befangenen Blick für die Differenzierung hat. Und in demselben

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Sinne, wie der Knabe sich selber ein Rätsel wird, etwas, das er bestaunt, wird dem Mädchen gerade in diesen Jahren die Außenwelt ein Rätsel. Das Mädchen hat aufgenommen etwas Überirdisches in sich. Es gestaltet sich die ganze Menschenwesenheit unbewußt in dem Mädchen. Dann hat man ein Menschenwesen vor sich mit dem 14., 15. Lebensjahre, das nun vor der Welt erstaunt, das in der Welt die Rätsel findet, das in der Welt vor allen Dingen die Realisierung von Werten finden möchte.

Und so beginnt für das Mädchen gerade mit dieser Lebensepoche an der Außenwelt manches unverständlich zu werden. Beim Knaben wird dann in der Innenwelt viel unverständlich. Beim Mädchen wird in der Außenwelt viel unverständlich.

Man muß ein Gefühl dafür haben, eine Empfindung, daß man mit dem 14., 15. Jahre ganz neue Menschenkinder vor sich hat, nicht die­selben, die man früher hatte. Und verhältnismäßig sehr rasch vollzieht sich für das eine und für das andere Individuum die Umwandelung, so daß es sein kann, daß der Lehrer, der da schläft und keinen Sinn hat für die Umwandelung, die die Menschen, die ihm anvertraut sind, neben ihm durchmachen, diese Umwandelung eben verschläft, daß er nicht sieht, wie er oftmals plötzlich vor einem neuen Menschenwesen steht.

Sehen Sie, das ist dasjenige, was vor allen Dingen bei den Lehrern und Erziehern der Waldorfschule selber heranerzogen werden muß, und wohinein gerade sich diese Lehrer aus Gründen, die ich dann darzu­legen haben werde, verhältnismäßig schnell hineingelebt haben: Unbe­fangenheit gegenüber dem Wandel in der Menschennatur. Der Waldorf-lehrer - wenn ich mich jetzt etwas paradox ausdrücke - ist unter Um-ständen stets bereit, das Morgen ganz anders zu finden, als das Gestern war. Das ist dasjenige, was im Grunde genommen sein Erziehungs­geheimnis ist. Man möchte sagen, der Mensch sonst denkt am Abend:

Morgen wird doch wieder die Sonne aufgehen, es wird so sein, wie es heute war und so weiter. - Nun, es ist etwas paradox selbstverständlich ausgesprochen, aber dennoch möchte ich, um gewissermaßen sympto­matisch die Sache auszudrücken, sagen: Der Waldorflehrer muß darauf vorbereitet sein, daß auch einmal ein Tag kommen könnte, an dem die Sonne nicht aufgeht. - Denn nur, wenn man in dieser Weise, ohne

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durch die Vergangenheit zu Vorurteilen getrieben zu werden, die Men­schennatur betrachtet, dann kann man diese Menschennatur in ihrem Werden wirklich verstehen. Denn draußen im Kosmos, da können wir uns in einer gewissen Weise beruhigen, daß doch die Dinge ein bißchen konservativ bleiben. Aber wenn es in der Menschennatur von den frü­heren Kinderjahren über das 14., 15., 16. Jahr kommt, da, meine Damen und Herren, geht manchmal die Sonne nicht auf, die früher aufge­gangen ist, da ist eine so große Veränderung in bezug auf diesen rätsel­haften Mikrokosmos eingetreten, der der «Mensch» ist, daß wir in der Tat ebenso unbefangen dem Menschen gegenüber sein müssen, wie wir einer Natur gegenüber sein würden, die es einmal von einem gewissen Tage an finster sein läßt in der Welt, so daß wir unser Auge nicht mehr gebrauchen könnten. Diese Unbefangenheit, dieses Sich-Hineinstellen in die Welt, um mit jedem Tage neue Weisheit zu empfangen, und sich stets wollen mit voller Leerheit des Gemütes dem Neuen gegenüber­stellen, das ist dasjenige, was ja auch den Menschen gesund und frisch und kraftvoll erhält. Und dieses unbefangene Wesen gegenüber dem Wandel im Leben und dieses Frischsein, das einem wird durch die Empfindung des Wandels, das ist es, was das innerste Wesen und die innerste Gesinnung des Waldorflehrers ausmachen soll.

Welche Bedeutung der Eintritt in dieses oben charakterisierte Le­bensalter für die Knaben und Mädchen in ihrer Beziehung zur Lehrer-schaft hat, das wurde so recht anschaulich an einer Tatsache, die gerade eben im Laufe des letzten Schuljahres in der Waldorfschule sich zuge­tragen hat. Eines Tages, als ich wiederum einmal in der Waldorfschule war, um, wie ich ja immer nur kann, sporadisch die Leitung des Unter­richts und der Erziehung zu besorgen, da kam zwischen den Stunden an mich heran in einem, ich möchte sagen, gedämpft-aggressiven Zu­stande ein Mädchen der letzten Schulklasse, das sehr aufgeregt war, und das aber aus einer ungeheuer starken inneren Überzeugungskraft heraus sagte: Dürfen wir noch heute - es ist sehr wichtig -, dürfen wir noch heute, die ganze Klasse (es war also die höchste Klasse) mit Ihnen sprechen? Aber wir wollen es nur, wenn Sie selbst es wollen. - Also solch eine Führerin hatte sich an die Spitze der Klasse gestellt und

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wollte mit mir im Beisein der ganzen Klasse sprechen. Was war der Grund? Der Grund war eben der, daß die Knaben und Mädchen dazu gekommen waren, ihrerseits nun zu empfinden: sie werden mit der Lehrerschaft nicht mehr ganz fertig; es wird ihnen schwer, mit der Lehrerschaft fertig zu werden, die richtige Stellung zu gewinnen.

Das ging nicht hervor aus irgendeiner Ranküne gegen die Lehrer­schaft, denn so ist es schon in der Waldorfschule, daß eine Ranküne nicht da ist, sondern daß die Kinder tatsächlich auch schon in der kurzen Zeit, seit die Waldorfschule besteht, eine innige Liebe zu den Lehrern gefaßt haben. Aber diese Schüler der höchsten Klasse, diese fünfzehn-, sechzehnjährigen Knaben und Mädchen, die standen vor einer Höllenangst, sie könnten durch irgend etwas in dem ganz neuen Verhältnis, das da eingetreten ist zwischen Schülern und Lehrern, sie könnten diese Liebe verlieren, sie könnte schwächer werden. Sie hatten eine ganz außerordentliche Angst. Und ich tat in einem solchen Falle nicht das, was vielleicht einmal in alten Zeiten getan worden wäre, daß man, wenn die Kinder herausrückten mit so etwas, sie in ihre Schranken gewiesen hätte, sondern ich nahm die Klasse zu mir und sprach mit der Klasse. Und zwar sprach ich so, daß ich die Kinder fühlen ließ - ja, man muß ja in diesem Alter eben schon von jungen Ladies und Gentlemans sprechen, nicht wahr, wie ich öfter sagte -, daß ich die Kinder fühlen ließ, ich will über das, was vorliegt, in Gemein­schaft mit ihnen jetzt ein Urteil bilden. Wir wollen ganz unbefangen miteinander reden und wollen das Urteil erst bilden und wollen sehen, was da herauskommt.

Und sehen Sie, da kam eben das heraus, was ich jetzt eben charak­terisiert habe; es war die Angst da, daß die Lehrer nicht mehr in der Weise geliebt werden konnten wie vorher. Denn ein ungeheures Stau­nen, eine ungeheure Neugierde zu gewissen Weltendingen war da in den Kindern. Und da die Waldorfschul-Pädagogik etwas ist, was sich von Tag zu Tag entwickelt, so müssen erst die Erscheinungen sorgfältig studiert werden, und aus dem Leben selbst heraus entwickelt man die Maßnahmen, um die es sich handelt.

Nun, die Kinder sagten allerlei, was im Grunde genommen nicht sehr belangvoll war, was aber in ihrem Empfinden, in ihrem Fühlen

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eine ungeheuer große Rolle spielte. Ich sprach ihnen dann von allerlei Dingen, nicht wahr, wie das Leben eben das oder jenes Ding bringt, worauf die Kinder außerordentlich gerne eingingen, und ich hatte nichts nötig, als eine kleine Verschiebung in der Lehrerschaft für das nächste Schuljahr eintreten zu lassen. Als wir dann das nächste Schuljahr er­öffneten, gab ich den Sprachunterricht an einen anderen Lehrer; ich wechselte etwas mit den Lehrern. Außerdem wurden wir uns im Lehrer-kollegium darüber klar, wie eben durchaus auch sonst in der Schule nach dieser Methode gearbeitet werden muß, im Zusammenwirken das Urteil zustande kommen zu lassen. Um aber dafür, ich möchte sagen, das rechte Herz zu haben, daß sich jetzt in diesem Lebensalter die jungen Damen und Herren so neben den Lehrer hinstellen werden, der ihnen früher Autorität war, um dazu das rechte Verhältnis zu haben, muß man eben, wie es bei den Waldorflehrern der Fall ist, ein offenes Urteil für die Welt überhaupt haben, als Weltmensch in der Welt drinnen stehen; im Deutschen sagt man, eine Weltanschauung haben, nicht bloß eintrainiert haben Unterrichtsmethoden, sondern selber sich Fragen zu beantworten nach den Zielen der Menschheit, nach dem Inhalt der einzelnen Menschheitsepochen, nach dem Sinn des Lebens in der Gegenwart und so weiter. Und man muß diese Fragen nicht im Kopfe wälzen, sondern im Gemüte tragen, dann wird man sie auch im Gemüte mit der Jugend wirklich erleben. Denn wir haben uns doch nun einmal - das merken nur die meisten Menschen nicht - seit drei bis vier bis fünf Jahrhunderten in der abendländischen Zivili­sation schon in den Intellektualismus hineingelebt. Der Intellektualis­mus wird aber für die Menschen eigentlich erst etwas, was ihrer Natur entspricht im späteren Lebensalter. Das Kind ist eigentlich seiner Natur nach dem Intellektualismus ganz abgeneigt. Aber alles, was wir denken heute, ist intellektualistisch gefärbt. Eigentlich nicht intellektualistisch sind die Leute nur noch in Asien drüben und in Rußland bis nach Moskau herein. Aber alles, was von Moskau aus nach Westen liegt, bis nach Amerika hinein, denkt intellektualistisch. Man ist sich dessen nicht bewußt, aber man denkt dadurch gerade, wenn man den soge­nannten gebildeten Ständen angehört, so eine Gedankensprache, die die Kinder nicht mehr verstehen. Daher ist tatsächlich heute ein Abgrund

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zwischen Erwachsenen und Kindern. Er muß eben bei einer solchen Lehrerschaft, wie es die Waldorf-Lehrerschaft ist, wiederum ausge­füllt werden.

Man füllt ihn nur aus, wenn man tief innerlich hineinsieht in die menschliche Natur. Deshalb müssen Sie mir schon gestatten, daß ich jetzt etwas Physiologisches sage, was gewöhnlich nicht berücksichtigt wird, was man aber erst richtig würdigt, wenn man es als Tatsache vor sich sieht aus spiritueller Wissenschaft, aus spiritueller Erkenntnis her­aus. Sehen Sie, die Menschen glauben, daß so etwas Besonderes getan ist, wenn irgendeine Sache zum Begriffe gebracht ist, wenn eine Idee da ist, eine Vorstellung von irgend einer Sache. Das glauben aber nur die­jenigen Menschen, die den Menschen nach dem Kopfe beurteilen. Manchmal sind Wahrheiten furchtbar paradox - wenn man auf das Unbewußte eingeht, wenn man auf die Herznatur des Menschen, auf die Gemütsnatur des Menschen eingeht, dann sind eigentlich alle Begriffe, alle Ideen etwas, was mit einem leisen Antipathiegefühl ver­knüpft ist bei jedem Menschen, auch beim Philosophen, leises Anti­pathiegefühl. Immer ist etwas Ekel in der Formulierung von Ideen, ob man sich es zum Bewußtsein bringt oder nicht, es ist immer etwas Ekel. Daher ist es so ungeheuer wichtig, daß man weiß, man soll diesen verborgenen unterbewußten Ekel in den Kindern nur ja nicht überstim­men dadurch, daß man sie mit Begriffen überfüttert. Es kommt davon her, ja, sehen Sie, wenn ein Mensch so recht einmal gedacht hat, Schwie­riges gedacht hat - ich kann Ihnen das leider nur in den Ergebnissen schildern, ich müßte viele Vorträge halten, wenn ich es Ihnen aus der Physiologie heraus schildern würde, kann aber nur Ergebnisse hin-stellen -, wenn ein Mensch so recht viel gedacht hat, dann ist im Inneren sein Gehirn ein recht merkwürdiges Gebilde geworden. Dann ist es überall durchsetzt mit Ablagerungen, namentlich mit Phosphor­verbindungen, die so herumliegen im Gehirn. Das hat sich abgesondert während des Denkens. Gerade wenn man aus sich selber nachdenkt und selber die Ideen bildet, dann ist das Gehirn - verzeihen Sie das harte Wort - voller Unrat, voller Absonderungsprodukte, namentlich Phosphorsäureverbindungen; die schmieren sich dann so durch das Gehirn. Diese Schmierprodukte, diese Absonderungsprodukte, die müssen

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nun erst durch Schlaf, dasjenige, was der Mensch an Ruhe hat, wiederum weggeführt werden aus dem Organismus.

Das Denken hat nämlich als seinen Parallelprozeß im Gehirn nicht einen Wachstumsprozeß, nicht einen Verdauungsprozeß, sondern einen Absonderungsprozeß. Und wenn ich mit jemanden einen Urteil-gedanken erst bilde, wenn er so reif geworden ist, daß er das 14., 15., 16. Lebensjahr hat, dann bilde ich mit ihm zusammen diesen Abson­derungsprozeß. Es kommt bis zu der Absonderung. Dann fühlt er seinen Menschen drinnen in diesem Absondern.

Wenn ich ihm aber einfach Begriffe diktiere, dogmatisch hingegeben fertige Begriffe bringe, dann stelle ich an ihn eine sonderbare Zu­mutung. Diese fertigen Begriffe greifen nämlich nicht ein in die mensch­liche Natur, stoßen sich, drängen sich, können nicht hinein in das Gehirn, aber sie stoßen an das Gehirn, und so veranlassen sie das Gehirn, in seiner Nerventätigkeit die alten Absonderungsprodukte, die schon herumliegen, noch einmal zu benützen.

Das ist dasjenige, was alles fertige Intellektualistische als Eindruck von sich hervorruft, daß der Mensch alles dasjenige, was er schon abge­sondert hat, was da noch herumliegt, daß er das zwangsweise noch ein­mal benützen soll; das empfindet der Mensch mit einem leisen Ekelgefühl, das nicht ins Bewußtsein herauftritt, das aber um so mehr die ganze Verfassung des Menschen beeinflußt. Sehen Sie, ehe man nicht diese Dinge weiß, würdigt man sie gar nicht richtig, denn die Menschen denken nicht daran, daß das Denken ein Absondern ist, und daß das Denken in bloßen Ideen dem Menschen zumutet, dasjenige, was er schon abgesondert hat, noch einmal notdürftig zu benützen, all seine phosphorsauren Salze noch einmal zu durchkneten.

Sehen Sie, das ist das ungeheuer Wichtige bei der Moralerziehung:

wenn wir dem Kinde fertige Gebote beibringen, die schon Begriffe sind, dann muten wir ihm zu, die Moral in Ideenform aufzunehmen, und da kommt die Antipathie; gegen Moralgebote, die abstrakt formuliert sind, stemmt sich der innerliche Organismus des Menschen, macht Oppo­sition. Wenn ich das Kind veranlasse, selbst erst aus dem Leben heraus, aus dem Gemüte, aus dem Beispiel, aus alledem heraus die moralische Empfindung zu formulieren, und dann es bis zum Absondern kommen

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lasse, so daß das Kind selber die Gebote bildet, sich selber autonom, in Freiheit die sittlichen Gebote formuliert, dann bringe ich es in eine Tätigkeit hinein, die sein ganzer Mensch fordert. Daher verekle ich den Kindern die Moral mit moralischen Geboten, und das spielt eine un­geheuer bedeutungsvolle Rolle in unserem gegenwärtigen sozialen Leben. Man ahnt gar nicht, wie viel an den schönsten, an den herr­lichsten, an den majestätischsten Moralimpulsen der Menschheit ver­ekelt worden ist, weil es ihr intellektualistisch gegeben worden ist in Form von Geboten, in Form von intellektualistischen Ideen. Das, sehen Sie, sind die Dinge, in die gerade durch eine spirituelle Wissenschaft der Waldorflehrer hineinwächst. Er lernt gerade dadurch dieses ma­terielle Wirken kennen. Noch einmal muß ich sagen: der Materialismus bekommt erst seine Stellung im Leben durch den spirituellen Gesichts­punkt. Da sieht man erst hinein, was da eigentlich drinnen vorgeht in diesem Menschen. Dadurch wird man erst ein richtiger Erzieher im physisch praktischen Sinne, daß man den spirituellen Standpunkt ein-nehmen kann.

Das ist aber nur möglich, wenn der Lehrer, der Erzieher, durchaus eine Weltanschauung hat, wenn er der Welt so gegenübersteht, daß für ihn selbst die Frage Mensch und Welt eine tiefe Bedeutung hat.

Da muß ich noch einmal etwas Abstraktes sagen, das aber sehr konkret eigentlich in Wirklichkeit ist. Es ist nur scheinbar abstrakt. Sehen Sie, der Mensch steht den Weltenrätseln gegenüber, und er sucht nach einer Lösung der Weltenrätsel. Aber heute denkt man darüber:

die Lösung des Weltenrätsels muß in einem Buche stehen können, muß da drinnen stehen können mit irgendwelchen Ideen, die man ausdrückt. Denken Sie nur einmal, daß es Leute gibt - ich habe schon solche kennengelernt -, die eine ganz außerordentliche Angst haben vor einer solchen Lösung der Weltenrätsel. Denn sie sagen: Um Gottes willen, wenn es einem nun wirklich einmal gelingen würde, das Weltenrätsel zu lösen und in ein Buch zu schreiben, was sollen denn alle anderen, die nachkommen, machen? - Es würde ja ungeheuer langweilig sein. Alles, was man an Lösung des Weltenrätsels erstrebt hat, das ist ja da, das braucht man ja nur zu lernen. Ungeheuer langweilig stellen sich die Menschen das vor. Ich kann nicht ganz unrecht geben diesen Menschen;

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es wäre ungefähr so langweilig in der Welt, wenn nun einmal einer ein richtiges Buch geschrieben hätte, worinnen das Weltenrätsel gelöst ist, und dann liest man das Buch, und dann - ja, was soll man eigentlich noch in der Welt, nicht wahr!

Nun, sehen Sie, es muß also irgend etwas geben, wonach die Lösung, die sogenannte Lösung einen erst recht auffordert, weiterzugehen, wei­terzuarbeiten. Das Weltenrätsel darf nicht so lauten, daß man nun fertig ist, sondern man muß, wenn man die Lösung des Weltenrätsels hat, gewissermaßen erst wiederum nun anfangen können. Das ist aber nur dann der Fall, wenn man richtig sich zu diesem Weltenrätsel ver­hält. Die Welt gibt uns viele Fragen auf. Wir können gar nicht über­sehen zunächst, wie viele Fragen sie uns aufgibt. Ich meine mit Fragen nicht nur das, was sich theoretisch beantworten läßt, sondern auch, was wir tun sollen, die Betätigung des Willens, die Betätigung der Ge­fühle, alle Einzelheiten des Lebens, alles frägt mit, wenn ich spreche:

Die Welt gibt uns viele Rätsel auf. - Was ist denn die eigentliche Ant­wort auf die vielen Fragen? Die eigentliche Antwort ist eben kei­ne andere als: Der Mensch. - Die Welt gibt uns die Rätsel auf, und der Mensch steht dann da. Er ist eine Synthese, eine Zusammenfassung, und aus dem Menschen springt uns die Lösung des Weltenrätsels ent­gegen.

Aber den Menschen kennen wir erst recht nicht. Da müssen wir wiederum anfangen. Das ist eben eine Antwort, die uns nun wiederum an den Anfang stellt. Man muß den Menschen, der einem nun geworden ist als Antwort, kennenlernen, den Ödipus. So müssen wir uns selbst wiederum als neues Rätsel empfinden. Jeder neue Mensch ist wieder ein Rätsel, an dem man arbeiten muß.

Dieses geheimnisvolle Verhältnis des Menschen zur Welt, das muß einem ganz ins Gemüt übergegangen sein, wenn man ein Waldorflehrer sein will, das heißt, vom Standpunkte einer wirklichen Weltanschauung aus wirken will. Gewiß, es ruft heute noch eine Art Horror hervor, wenn man sagt: Die Waldorflehrer gehen von der Anthroposophie aus. Die gibt ihnen selber eine Anschauung. - Ja, aber vielleicht ist diese Anthroposophie sehr unvollkommen. Das mag ja sein. Dann schaffe man nur die anderen Weltanschauungen, die man geben will! Aber eine

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Weltanschauung braucht derjenige, der nun wirklich als Künstler Men­schen behandeln will. Das ist es, um was es sich dabei handelt.

Inwiefern tatsächlich in der anthroposophischen Gesinnung etwas liegt, was nun auch dem Unterricht dienen kann und der Erziehung, davon will ich dann im dritten Teil der heutigen Betrachtung sprechen.

Wenn ich nun auf die neun Vorträge zurückblicke, so habe ich gewiß an ihnen manches zu tadeln, manches als unvollkommen zu erklären, aber dasjenige, was ich, man möchte sagen, am meisten daran zu tadeln habe, das ist, daß ich sie überhaupt in der Form, in der ich sie gehalten habe, gehalten habe. Es wäre mir gewissermaßen - so paradox Ihnen das scheinen wird - lieber, wenn ich solche Vorträge gar nicht zu halten hätte. Das ist, aus dem Zeitbewußtsein heraus gesprochen, so aus dem Zeitbewußtsein heraus gesprochen, daß ich selber fühlen muß, daß heute in diesem unserem Zeitalter über das Erziehungswesen und über das Unterrichtswesen unglaublich viel gesprochen wird, viel zu viel gesprochen wird, daß man sich gedrängt fühlt, viel zu viel zu reden darüber: wie soll man unterrichten, wie soll man erziehen? Und wenn man dann selber noch in diese Fragen hineinsprechen soll von einem allerdings anderen Gesichtspunkte aus, dann kommt es einem erst recht als zu viel vor.

Ja, warum ist das eigentlich, daß heute gar soviel über Erziehung und Unterricht gesprochen wird? Man kann ja kaum in das kleinste Städt­chen kommen, ohne daß da überall angekündigt wird: Wie soll man erziehen, unterrichten? - daß da überall geredet wird, verhandelt wird, daß darüber Kongresse abgehalten werden und so weiter. Warum ist das? Wenn wir auf ältere Zeiten der Menschheitsentwickelung zurück­blicken, da redete man durchaus nicht so viel über Unterricht und Er­ziehung. Da war das Unterrichten, Erziehen etwas, was die Leute aus ihrer Naivität, ihrem Instinkt heraus taten, und sie wußten, was sie tun sollten.

Wenn ich nun dargestellt habe, wie eine nun wirklich heilsame Erziehung, heilsamer Unterricht gestellt sein müsse auf Menschen-erkenntnis, wie diese Menschenerkenntnis, wie ich gezeigt habe, ge­rade von dieser Lehrerschaft der Waldorfschule angeeignet werden

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soll, so muß man fragen: Haben denn die früheren Menschen, die Menschen früherer Zeitalter so unendlich viel mehr Menschen­kenntnis besessen als wir? - Und so sonderbar es klingen mag, es muß bejaht werden. Allerdings die Menschen früher waren in naturwissenschaftlicher Beziehung nicht so aufgeklärt wie wir; aber in der Art, wie diese älteren Menschen etwas gewußt haben über die Welt, haben sie mehr gewußt als wir. Ich habe es schon einmal in diesen Vor­trägen auseinandergesetzt, der Mensch ist uns nach und nach ein Schluß­punkt geworden. Wir betrachten alle übrigen Geschöpfe der Welt und sagen: Die haben sich hinentwickelt bis zum Menschen-Schlußpunkt; da hören wir auf und reden über den Menschen außerordentlich we­nig. - Unsere Physiologie, sie sucht ja sogar im Tierversuch sich auch über den Menschen aufzuklären. Wir haben die Möglichkeit verloren, den Menschen als eine wirkliche, in sich begründete Wesenheit in die Welt hineinzustellen. Menschenwissen haben wir zum größten Teil verloren.

Sehen Sie, das ist dasjenige, was Anthroposophie wiederum der Menschheit zurückbringen möchte, daß man ein Wissen hat über die Welt, aber daß der Mensch nicht davon ausgeschlossen ist, oder höch­stens als Schlußpunkt dann hingestellt ist, daß aus alldem, was man über die Welt wissen kann, nun auch wirklich die Kraft kommt, auch in den Menschen wirklich hineinzuschauen nach Seele, Körper und Geist, daß man auch wirklich wissen kann, was der Geist im Menschen macht, daß man wissen kann: der Geist in intellektueller Form sondert im Menschen allerlei Stoffe ab, wie ich es eben geschildert habe. Dazu kommt ja unsere heutige Weltbetrachtung nicht. Sie bleibt vor dem Menschen stehen bis zum Tier hin, macht eine Biologie, gliedert diese dann um zu Physiologie; aber der Mensch wird nicht erfaßbar. Daher wirkt der Mensch gewiß heute aus den Instinkten heraus noch viel; aber aus dem Wissen, aus der Erkenntnis heraus wird der Mensch nicht mehr geliebt.

Der Lehrer braucht eine Wissenschaft, aus der heraus er Menschen noch lieben kann, weil er zuerst sein eigenes Wissen, seine eigene Er­kenntnis lieben soll. Es steckt ein tiefer Sinn dahinter, daß ursprünglich einmal man nicht gesprochen hat von bloßer Erkenntnis als demjenigen,

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das sich der Mensch erringen soll, sondern von Philo-Sophie, von der Liebe zur Weisheit. Das ist dasjenige, was Anthroposophie den Men­schen wiederum zurückgeben will, wiederum die Erkenntnis an den Menschen heranzuführen.

Nun, wenn man den Menschen erkennt, wenn alles Wissen, alle Erkenntnis hintendiert zum Menschen, dann beantwortet man sich pädagogisch-didaktische Fragen überall in der ganzen Weltanschauung. Überall stecken die Erkenntnisse, auch über das Kind, darinnen. Das ist dasjenige, was wir brauchen. Weil unsere übrige Wissenschaft uns so gar nichts über die Erziehung und über den Unterricht sagen kann, begründen wir extra etwas und haben so viel zu reden über Unterricht und Erziehung. Solche Vorträge, wie die, die ich gehalten habe, werden erst dann ihr Ziel erreicht haben, wenn sie nicht mehr gehalten zu wer­den brauchen, wenn man nicht mehr dieses spezielle Thema zu behan­deln haben wird, sondern wenn man wiederum eine Weltanschauung haben wird, eine Erkenntnis, in der schon die Erziehung so enthalten ist, daß wenn der Lehrer, wenn der Erzieher diese Weltanschauung hat, daß er dann wiederum, und zwar aus seiner vollen Naivität heraus, die instinktive Kunst des Erziehens kann. Daß wir so viel über Erziehung und Unterricht reden, ist ein Beweis dafür, daß so wenig wirklicher Erziehungsimpuls in unserer übrigen Erkenntnis drinnensteckt. Hier brauchen wir eine Umkehr gegenüber dem, wozu wir allmählich in der neueren Zeit gekommen sind.

Und sehen Sie, das ist dasjenige, was im eigentlichen Sinne macht, daß die Waldorf-Lehrerschaft nicht eine abgesonderte Pädagogik und Didaktik hat, sondern eine Weltanschauung, und die leitet sie fort­während an, indem sie den Menschen zuletzt erkennen lehrt, instinktive Erziehungsimpulse zu bekommen, naiv wiederum zu werden in bezug auf das Erziehen. Und das ist dasjenige, was eben darauf hinweist, wie, wenn man vom Waldorflehrer spricht, man von seinem ganzen Men­schen sprechen soll.

Dadurch wird aber auch dasjenige aus dem Waldorfschul-Unterricht und der Waldorfschul-Erziehung ausgeschaltet, was heute so vielfach die Menschen beherrscht: Fanatismus. Das schlimmste im Leben und besonders in der Erziehung und im Unterricht ist der Fanatismus, wenn

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man sich in irgendeine Richtung hinein verrennt und nun nichts anderes mehr kennt und nun durchdringen will mit seiner einen Richtung, die man in bestimmte Schlagwörter hineingebracht hat.

Ja, wer die Welt unbefangen betrachtet, der weiß: mit Richtungen und mit Standpunkten ist es eben so, daß es eben Standpunkte sind. Wenn ich einen Baum hier habe und ihn photographiere, gebe ich Ihnen ein Bild. Das Bild ist bestimmt gestaltet von hier; das Bild schaut anders aus von hier, das Bild schaut wieder anders aus von dort; während Sie sagen können: Das ist ja nicht derselbe Baum -, wenn Sie ihn nur nach dem einen Bilde beurteilen. So gibt es in der Welt Standpunkte, Weltan­schauungen. Sie sind immer nur von der einen Seite aus gefaßt. Nur der­jenige wird nicht fanatisch, sondern lebt sich ein in Allseitigkeit, in eine notwendige Universalität, der weiß, daß man die Dinge von den ver­schiedensten Seiten betrachten muß.

Meine Damen und Herren, wenn man sieht, was die Menschen in der Welt sagen, ist es ja meistens gar nicht falsch, sondern nur einseitig. Man muß nur die andere Seite auch sehen. Man wird, wenn man mit einer solchen Gesinnung die Sachen betrachtet, das Gute überall suchen. Daher ist es so sonderbar, wenn man von Waldorf-Pädagogik redet, so kommt der A und sagt: Ja, das haben wir schon, aber der B, der macht das alles schlecht. - Dann kommt der B und sagt: Das haben wir schon, aber der A macht das schlecht. - Der Waldorflehrer sagt: Der A hat sein Gutes und der B hat sein Gutes, und wir versuchen, dasjenige, was universell in der Welt lebt, zu nehmen. - Daher hört man so oft: Die Waldorfschul-Pädagogik spricht so wie wir selber. - Aber das ist nicht so, sondern man spricht so, wie auch der andere wiederum spricht, weil wir wissen, daß man durch ein fanatisches Verfolgen einer bestimmten Richtung das allerschlimmste Unheil in der Welt bewirkt. Und gerade das, was der Waldorflehrer haben muß, ist, daß von ihm jeder Fanatis­mus weg ist, daß er nur die Realität des werdenden Menschen, des Kin­des, vor sich hat.

Gewiß, es kann mancher sagen: Da gibt es eine anthroposophische Bewegung, darinnen haben wir schon Fanatiker kennengelernt. - Wenn Sie genauer zusehen, so werden Sie finden: Anthroposophie will nichts anderes, als die Erkenntnis allseitig machen und spiritualisieren. Daß sie

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Anthroposophie heißt, ist ihr, wie ich ausgeführt habe, höchst gleich­gültig. Sie will tatsächlich nichts anderes, als dasjenige, was allmählich einseitig geworden ist, wiederum universalistisch machen. Wenn man trotzdem Fanatismus, sogar Dogmatismus, Eingeschworensein auf be­stimmte Formeln in der anthroposophischen Bewegung findet, so ist das von außen hineingetragen, nicht von innen heraus gestaltet; denn es wird sehr vieles in die Bewegung hineingetragen, was gar nicht der Natur und dem Wesen der Bewegung entspricht. Daher, wenn gesagt wird, daß das auch so eine Sekte ist hinter dem Waldorfschul-Prinzip, wo sich die Leute so allerlei Schrullen machen, so muß man eben auf sie eingehen, auf das Tatsächliche, in dem sie lebt, und man wird dann sehen, daß sie ganz besonders im Unterrichts- und Erziehungswesen leben kann, und daß sie tatsächlich nun nichts anderes will, als nun nicht schrullenhaft und falsch idealistisch, nicht abstrakt, sondern in Praxis das Menschheitsideal in dem lebenden Menschen verwirklichen.

Mit diesem Hinweis darauf, daß in der Waldorfschule hauptsächlich die Gesinnungsatmosphäre es ausmacht, das Lebendige, das aus den Lehrern sprechen soll, das ist es, womit ich zunächst diese Erziehungs-vorträge ja werde abschließen müssen.

Ich darf auf der anderen Seite, wenn ich gesagt habe, ich habe zu tadeln, daß sie gehalten worden sind, doch auch sagen, daß mir diese Erziehungsvorträge außerordentlich lieb gewesen sind, und daß ich der verehrten Zuhörerschaft sehr, sehr danke für die Aufmerksamkeit, die sie auf diese Vorträge verwendet hat, und für das Interesse, das sie ihnen entgegengebracht hat.

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DIE SOZIALE FRAGE

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ZEHNTER VORTRAG Oxford, 26. August 1922 Die Entwickelung des sozialen Lebens in der Menschheit

Meine Damen und Herren! Es ist in der Gegenwart eine allgemeine Angelegenheit der ganzen Menschheit geworden, die soziale Frage zu betrachten, und innerhalb der sozialen Frage diejenigen Antworten zu finden, welche gerade in der Gegenwart geeignet sind, ein Handeln der Menschen hervorzurufen, das unsere sozialen Verhältnisse derjenigen Richtung zuführen kann, die als ein Unbestimmtes, ich möchte sagen, nebelhaftes Zukunftsgebilde vielen Menschen vorschwebt, über die aber keineswegs heute schon irgendwelche klaren Begriffe vorhanden sein können, ich sage: können, und nicht: vorhanden sind.

Wenn ich mir erlaube, in drei kurzen Vorträgen über die soziale Frage zu sprechen, so ist es ja selbstverständlich, daß ich nur einige recht unbefriedigende Gesichtspunkte werde geben können, und daß manches von dem, was ich nur vage andeuten kann wegen der Kürze der Zeit, erst wird Gestalt gewinnen müssen, in dem, was die verehrten Zuhörer aus meinen Worten machen werden. Die Vorträge bitte ich daher nur als ganz vage Andeutungen zu betrachten, die einige An­regungen geben wollen.

Die soziale Frage, wie liegt sie uns denn eigentlich heute vor? Sie liegt uns durchaus nicht, wenn wir unbefangen das Menschenleben der Gegenwart betrachten, so vor, daß wir eine klare Formulierung von ihr haben, daß wir wüßten, das ist die soziale Frage, und so kann man sie lösen. Das ist ja gar nicht der Fall. Was uns vorliegt, ist eine große Summe von differenzierten Lebensverhältnissen über die Erde hin, welche Klüfte und Abgründe zwischen den inneren menschlichen Er­fahrungen und Erlebnissen und dem äußeren wirtschaftlichen Lebens-stande innerhalb der Menschheit hervorgerufen haben. Diese mannig­faltig differenzierten Verhältnisse sind da. Wie mannigfaltig sie dif­ferenziert sind, das kann derjenige sich leicht vor die Seele rücken, der hinschaut auf die ganz verschiedene Art, wie diese Lebensverhältnisse

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waren vor dem furchtbaren Weltkriege, und wie sie jetzt sind nach dem Weltkriege. Wenn man nur ein wenig ein größeres Territorium der Erde in Betracht zieht, dann wird man bald finden, daß die Dif­ferenzierung in den sozialen Lebensverhältnissen vor und nach dem Kriege etwas Grundverschiedenes ist gegenüber auch den Verhältnis­sen, wie sie etwa noch vor fünfzig Jahren auf demselben Territorium waren.

Wir schauen vielleicht heute, und man muß sagen, Gott sei Dank, mehr mit unserem Herzen in diese Lebensverhältnisse hinein, empfinden das Tragische; aber der Verstand, der Intellekt, so sehr er auch aus­gebildet worden ist in den letzten Jahrhunderten, er kam nicht nach. Das ist das Eigentümliche in allen sozialen Verhältnissen der Gegen­wart, daß die Frage der Wirklichkeit, des unmittelbaren Lebens un­geheuer drängen, und daß das Begreifen der Menschen nicht nach­kommen will.

Wenn wir uns fragen: Wo sind die fruchtbaren sozialen Ideen? -dann werden wir wenig finden, was wir bei völliger Unbefangenheit so bezeichnen können. Gerade die Gedanken der Menschen pflegen, wenn es sich um das soziale Leben handelt, zu versagen.

Nun, heute ist infolge der sozialen Entwickelung, die die Menschheit genommen hat, die Frage des sozialen Zusammenlebens unmittelbar geknüpft an eine andere Frage, in der nur Sachkenntnisse den Ausschlag geben können, nur die wirkliche Einsicht in das Konkrete den Ausschlag geben kann.

Meine Damen und Herren, über ein Paradies auf Erden, in dem die Menschen gut leben können, in dem alle Menschen zufrieden sein kön­nen, zu denken, ist sehr leicht. Das ergibt sich, man möchte sagen, von selbst. Zu sagen, wie aus der Konfiguration unseres Wirtschaftslebens, aus den einzelnen konkreten Tatsachen, die sich aus der Natur, aus der menschlichen Arbeit, aus dem menschlichen Erfindungs-und Kombi­nationsgeist ergeben, zu sagen, wie da heraus für die Menschen all­mählich ein menschenwürdiges Dasein sich entwickeln soll, das erfor­dert eine so eingehende tiefe Sachkenntnis, wie kein Zweig der Wissen­schaft, wie kein Zweig innerhalb der Naturerkenntnis. Denn gegen­über der Komplikation der sozialen wirtschaftlichen Tatsache ist dasjenige,

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was wir unter dem Mikroskop sehen und durch das Teleskop am Himmel beobachten, außerordentlich einfach.

So muß man sagen: Gerade auf dem Gebiete der sozialen Frage möchte heute jeder mitreden, und die wenigsten Menschen haben die Geduld und die Ausdauer und auch nur die Gelegenheit, sich die kon­kreten Sachkenntnisse zu erwerben. Daher haben wir hinter uns ein Zeitalter in bezug auf die soziale Frage, von dem wir sagen müssen:

Wir danken Gott, daß es hinter uns ist. - Es ist das Zeitalter der Utopie, das Zeitalter, wo man, ich möchte sagen, in romanhafter Weise aus­gedacht hat, wie die Menschen in der Zukunft leben sollen, damit sie eine Art Paradies auf Erden finden. Ob man diese Utopie niederge­schrieben hat, oder ob man sie in der Wirklichkeit begründen will, wie das Owen in England oder Oppenheimer in Deutschland wollen, das ist es nicht, worauf es ankommt. Ob man Utopien in ein Buch schreibt, bei dem man einsehen kann, das läßt sich nicht verwirklichen, oder ob man irgendwo in einer kleinen Kolonie einen wirtschaftlichen Para­siten gründet, der nur bestehen kann, weil noch die andere Welt da ist, und der nur bestehen kann, solange als er sich als Parasit der Wirt­schaftswelt erhält und dann zugrunde geht, das ist im Grunde genom­men in bezug auf das gegenwärtige Leben der Menschheit, in bezug auf das Soziale ganz das gleiche.

Nun handelt es sich darum, daß man vor allen Dingen, will man über die soziale Frage sprechen, sich ein Auge, einen Sinn aneignen muß für dasjenige, was in den Untergründen der Menschheit sozial pulsiert, was in der Vergangenheit war, was in der Gegenwart da ist, was in die Zukunft hineinwirken will, denn das, was in die Zukunft hineinwirken will, ist zum großen Teile im Unbewußten der Menschen überall vorhanden. Wir werden daher in diesen Vorträgen gerade auf dieses Unbewußte in den Menschen außerordentlich stark hinweisen müssen. Aber vor allen Dingen ist es notwendig, daß man sich einen Begriff davon macht, wie die Verhältnisse über die Erde hin in bezug auf das soziale Leben im großen sind, wie sie sich geschichtlich ent­wickelt haben.

Denn, meine Damen und Herren, dasjenige, was einstmals vor langen Zeiten war, das ist ja noch immer unter uns als Tradition, als Rest, und

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wir können das, was unter uns dasteht, nur verstehen, wenn wir das­jenige verstehen, was einmal vor langen Zeiten da war. Und dasjenige, was Gegenwart ist, vermischt sich immer schon mit etwas, was hin-tendiert nach der Zukunft, und wir müssen verstehen, was da schon Zukünftiges, Keimhaftes in unserer Gegenwart herinnensteckt. Wir dürfen die Vergangenheit nicht bloß als etwas betrachten, was vor Jahrhunderten war, sondern was vielfach noch unter uns lebt, und was auch wirkt, und was wir nur verstehen als ein gegenwärtig Vergan­genes oder vergangenes Gegenwartiges, wenn wir es richtig zu taxieren verstehen. Da ergeben sich nur Einsichten, wenn wir die äußeren Symptome auf die tieferliegenden Gründe zurückführen können.

Mißverstehen Sie mich nicht, meine Damen und Herren, man muß, wenn man solche Dinge ausspricht, manchmal etwas stark auf die Dinge hinweisen, und es könnte scheinen, als ob man manches tadeln wollte, was man nur charakterisieren will. Also, ich will nicht tadeln, wenn das Vergangene heute in der Gegenwart noch drinnensteckt, ich kann sogar dieses Vergangene bewundern und außerordentlich sympathisch finden, indem es sich in die Gegenwart hineinstellt, aber ich muß wissen, wenn ich sozial denken will, daß es ein Vergangenes ist, und sich auch als Vergangenes eben richtig in die Gegenwart hineinstellen muß. So muß sich ein Gefühl für das unmittelbare soziale Leben mir aneignen können.

Zum Beispiel - Sie verzeihen, wenn ich aus der unmittelbarsten Gegenwart ein vielleicht etwas merkwürdiges, aber ganz gewiß nicht irgendwie verletzend gemeintes Symptom Ihnen anführe - gestern be­gegnete uns auf der Straße der verehrte Chairman im Talar und mit dem Barett. Er sah sehr schön aus. Ich mußte ihn bewundern. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hatte nicht nur das Mittel­alter vor mir, sondern ich dachte, es käme mir jemand entgegen aus den alten orientalischen Theokratien in der unmittelbaren Gegenwart.

Nicht wahr, in dem Talar steckte ja in diesem Falle eine ganz gegen­wärtige Seele, sogar eine Anthroposophenseele, die sich vielleicht sogar noch zuschreibt, Zukunft in sich zu haben; aber dasjenige, was unmittel­bar symptomatisch physiognomisch, möchte ich sagen, sich ausdrückte, das ist Geschichte, das ist Geschichte in der Gegenwart.

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Und so müssen wir, wenn wir das soziale Leben verstehen wollen, wenn wir selbst die wirtschaftlichen Verhältnisse verstehen wollen, die tagtäglich auf unserem Kaffeetisch am Morgen wirksam sind, die bewirken, wieviel wir aus unserem Portemonnaie nehmen müssen, um diesen Frühstückstisch zu besorgen, wir müssen, um diese Verhält­nisse zu verstehen, einen Überblick haben über die soziale Entwickelung der Menschheit. Und diese soziale Entwickelung der Menschheit wird heute, gerade wenn man die soziale Frage anschaut, fast nur im ma­terialistischen Sinne behandelt.

Man muß zuerst hinschauen auf ganz andersartige Verhältnisse, die einmal innerhalb der geschichtlichen und vorgeschichtlichen Entwicke­lung der Menschheit waren. Man muß schon hinschauen auf jene so­zialen Gemeinschaften, die man gerade als die orientalischen, noch stark nach Westen herüberwirkenden Theokratien auffassen kann.

Das waren ganz andere soziale Gemeinschaften. Das waren soziale Gemeinschaften, in denen die Struktur der menschlichen Verhältnisse bewirkt worden war durch die Inspiration einer den übrigen Verhält­nissen der Welt fremden Priesterschaft. Da hat man herausgeholt aus demjenigen, was sich einem an geistigen Impulsen ergab, die Impulse für die äußere Welt. Wenn Sie noch sehen, wie in Griechenland, in Rom, die soziale Struktur ist: ein ungeheures Sklavenheer, darüber eine in sich selbst zufriedene, wohlhabende - die Worte sind natürlich relativ gemeint - Oberschicht, dann können Sie diese soziale Struktur nicht verstehen, ohne daß Sie hinschauen auf deren Ursprung, auf den theo­kratischen Ursprung, innerhalb dessen es möglich war, diese soziale Struktur als ein Gottgegebenes oder Göttergegebenes den Menschen glaubhaft zu machen, glaubhaft nicht nur für den Kopf, glaubhaft für das Herz, glaubhaft für den ganzen Menschen; so daß der Sklave tat­sächlich sich in der richtigen Weise durch die göttliche Weltenordnung einmal an seinen Platz hingestellt fühlte. Nur aus dem Durchsetztsein der äußeren materiell-physischen sozialen Struktur mit inspirierten Geboten ist das soziale Leben in alten Zeiten der Menschheit zu er­klären.

Und aus diesen Geboten, die eine der Welt entzogene Priesterschaft von außerhalb der Welt zu bekommen suchte, aus diesen Geboten ging

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nicht nur dasjenige hervor, was der Mensch für sein Seelenheil haben sollte, nicht nur, was er über Geburt und Tod dachte und empfand, sondern es ging dasjenige hervor, was das Verhältnis bilden sollte zwischen Mensch und Mensch. Aus dem weiten Orient herüber tönt nicht nur das Wort: «Liebe Gott über Alles», sondern auch das andere:

«und deinen Nächsten als dich selbst.» Wir nehmen heute ein solches Wort «deinen Nächsten als dich selbst» sehr abstrakt auf. Es war nicht so abstrakt in der Zeit, als von dem inspirierten Priester dieses Wort in die Menge klang. Da wurde es zu etwas zwischen den Menschen Wir­kendem, wofür später alle diejenigen konkreten Verhältnisse traten, die wir unter dem Namen des Rechtes und der Moral zusammenfassen. Denn diese Verhältnisse des Rechtes und der Moral, die sich erst später der Menschenentwickelung eingliedern, die waren in dem ursprüng­lichen göttlichen Gebote: «Liebe deinen Nächsten als dich selbst» ent­halten durch die ganze Art und Weise, wie sie durch die inspirierte Priesterschaft in der Theokratie in die Welt hineingetragen wurden.

Ebenso waren die Verrichtungen des Wirtschaftslebens, dasjenige, was der Mensch tun sollte, was er tun sollte mit dem Vieh, was er tun sollte mit Grund und Boden - Sie finden den Nachklang dazu noch in der mosaischen Gesetzgebung -, das war aus den göttlich gedachten Eingebungen heraus festgestellt. Der Mensch fühlte sich als von den göttlichen Mächten in bezug auf sein geistiges Leben, in bezug auf sein Rechtsleben und moralisches Leben, in bezug auf sein Wirtschaftsleben in das Irdische hineingestellt. Eine einheitliche Struktur, wo die Glieder deshalb, weil ein Impuls in ihnen steckte, zusammenwirkten, war die Theokratie. Die drei Glieder: Geistesleben, Rechts-, dasjenige was wir heute auch Staatsleben nennen, dasjenige was wir Wirtschaftsleben nennen, war in einem einheitlichen Organismus, der durchpulst wurde von dem, was nicht auf der Erde zu finden war an Impulsen, zu­sammengefaßt.

In der weiteren Entwickelung der Menschheit ist das das Eigen­tümliche, daß diese drei Impulse, Geistesleben, staatlich-juristisch-mo­ralisches Leben, und wirtschaftliches Leben, auseinanderdrängten, sich differenzierten. Aus dem einen Strom, der in den Theokratien als ein­heitliches Menschenleben dahinfloß, wurden allmählich zwei, wie ich

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gleich nachher zeigen werde, und nachher drei; und diesen drei Strö­men stehen wir heute gegenüber.

Dasjenige, was sich aus diesem einen Strom der Theokratie ergeben hat, will ich nachher in dem zweiten Teile nach der Übersetzung be­sprechen.

Meine Damen und Herren, die Theokratie, so wie sie in alten Zeiten bestanden hat mit der Inspiration der Mysterienpriester, die hineinfloß in die soziale Struktur, in das juristisch-moralische und auch in das wirtschaftliche Leben, diese Theokratie wird, um nur das eine anzu­führen, im wirtschaftlichen Leben bloß fertig, kann nur zustande kommen mit demjenigen, was im wirtschaftlichen Leben bis zur Land­wirtschaft geht, mit demjenigen, was zu tun hat mit dem Verhältnis des Menschen zu Grund und Boden. Es lassen sich gebotartige Ver­haltungsmaßregeln für das wirtschaftliche Leben herausgestalten aus der Inspiration, wenn das wirtschaftliche Leben in seiner Hauptsache im Grund und Boden, in der Landwirtschaft, Viehzucht und so weiter begründet ist.

Das beruht darauf, daß eben ein eigentümliches Verhältnis besteht zwischen dem Menschen, der an den Grund und Boden sich anschmiegt. Er hat in seinem Herzen dasjenige, was entgegenkommen kann dem, was aus der Theokratie herauskommt.

In dem Augenblicke, wo in der Entwickelung der Menschheit an­fangen Handel und Gewerbe eine größere Rolle zu spielen, in dem Augenblicke wird es anders. Die alten, die ältesten Theokratien, sie können nur verstanden werden, wenn man weiß, daß im wesentlichen alles wirtschaftliche Leben auf der Zugehörigkeit des Menschen zu Grund und Boden beruht, daß Handel und Gewerbe gewissermaßen nur oben aufgesetzt waren. Sie waren ja da, aber sie entwickelten sich so, daß sie sich im Anschluß an die Verhältnisse in bezug auf Grund und Boden, die Landwirtschaft entwickelten. Wir sehen in der Entwickelung der Menschheit, wie Handel und Gewerbe sich gewissermaßen eman­zipieren von dem Landwirtschaftlichen, erst ganz in seinem Anfange im alten Griechenland, und dann deutlicher in dem alten römischen Reiche. Da sehen wir, wie gewissermaßen herauswächst wie etwas Selbständiges

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in der sozialen Struktur die Betätigung des Menschen im Han­del und Gewerbe, und das gibt dem ganzen romischen Leben nament­lich seine Konfiguration.

Als dasjenige, was sich für die Menschen aus dieser Emanzipation ergab im römischen Reiche, tief zu Herzen ging den Gracchen, Tiberius Sempronius Gracchus, Ca jus Gracchuss als es in deren Herzen Wort annahm, zur Tat wurde, da entstanden die großen sozialen Kämpfe des alten Rom. Die erste Streikbewegung war im Grunde genommen im alten Rom, als die Menschen hinauszogen auf den und ihre Rechte verlangten, da entstand das Drängen nach einer Neugestal­tung in die Zukunft hinein.

Und dasjenige, was man jetzt erst als etwas Selbständiges bemerktes was früher hineingegliedert war in die ganze soziale Struktur, das ist die menschliche Arbeit, die ein besonderes Verhältnis von Mensch zu Mensch begründet. Wenn aus den Geboten heraus der Mensch weiß, er steht als ein Niedriggestellter einem Höhergestellten gegenüber, so fragt er nicht, wie er die Arbeit gestalten soll; dies ergibt sich aus dem menschlichen Verhältnis. In dem Augenblicke, wo die Arbeit als etwas Emanzipiertes, Selbständiges auftritt, ergibt sich die Frage: Wie stelle ich mich zu meinem Mitmenschen, damit meine Arbeit in der richtigen Weise sich hineingliedert in die soziale Struktur? - Handel, Gewerbe, Arbeit, das sind die drei wirtschaftlichen Faktoren, aus denen dann der Mensch angeregt wird, hervorzutreiben aus sich dasjenige, was das Recht ist, und auch, was die abgezogene Moral ist, die aus der Religion herausgezogene Moral. Und der Mensch fühlt sich dadurch veranlaßt, aus dem einen Strome der Theokratie zwei hervorgehen zu lassen: die alte Theokratie weiter gehen zu lassen und einen zweiten Strom, den Strom, der im wesentlichen der Strom des Kriegerischen und nament­lich des Juristischen ist, daneben fließen zu lassen.

Daher sehen wir, wie, indem die orientalische Kultur sich herüber-entwickelt nach Europa unter dem Einflusse von Handel, Gewerbe und Arbeit, das alte theokratische Denken übergeht in das juristische Den­ken, wie an die Stelle der alten Verhältnisse, die gar nicht Rechtsver­hältnisse waren - versuchen Sie sich das klarzumachen noch aus der mosaischen Gesetzgebung -, sich entwickeln die Rechtsverhältnisse des

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Eigentums, die Verhältnisse, die ausdrücken sollen die Beziehungen von Mensch zu Mensch.

Man sieht das entstehen im Keime zur Zeit der Gracchen, später mehr aufgehen zur Zeit des Diokletian; man sieht da, wie der zweite Strom neben den ersten sich hinstellt, und man sieht dieses im ganzen menschlichen Leben sich ausdrücken.

Man kann sagen: Im Oriente drüben, in den alten Theokratien war das, was die Menschen als Geistiges über die übersinnlichen Welten wissen sollten, alles selbstverständliche Theosophie. Theo-Sophia ist die konkrete Weisheit, die empfangen wurde durch Inspiration.

Als der Strom nach Europa herübergeht, stellt sich neben ihn die Jurisprudenz. Die Jurisprudenz kann keine Sophia mehr sein, denn sie handelt nicht von etwas, was einem eingegeben wird, sondern von etwas, was der Mensch selbst immer mehr und mehr im Verkehr von Mensch zu Mensch entwickelt. Da wird das Urteil maßgebend. Da tritt an der Stelle der Sophia die Logik auf, und die Jurisprudenz, in die jetzt alle soziale Struktur hineingegossen wird, wird vorzugsweise logisch. Die Logik, die Dialektik entwickeln ihre Triumphe, nicht etwa in der Naturwissenschaft, sondern gerade in dem juristischen Leben, und alles menschliche Leben wird in diesen zweiten Strom, in die Logik hineingezwängt. Begriff des Eigentums, Begriff des persönlichen Rech­tes, all das sind ja realisierte logische Kategorien.

Und die Sache hat eine so starke Kraft in dieser zweiten Strömung, daß diese Kraft auf die erste Strömung abfärbt. Aus der Theosophia wird eine Theologia. Der erste Strom wird also durchaus beeinflußt von dem zweiten Strom. Und wir haben jetzt nebeneinander ein Alt-bewahrtes, eine alte Theosophia, die, indem sie weniger lebendig, etwas dürrer, etwas magerer auch geworden ist, als sie in ihrer Jugend war, nun Theologia wird, und daneben die Jurisprudentia, die eigentlich in dieser Art alles umfaßt bis ins 15., 16., 17. Jahrhundert hinein, was in den verschiedenen Masken auftritt, die auch noch wirkt in dem gesam­ten wirtschaftlichen Leben der Menschheit.

Jurisprudenz wirkte auch in Adam Smith, auch wenn er das wirt­schaftliche Leben in Betracht ziehen will. Lesen Sie Adam Smith einmal mit dem Gefühl, da rumort juristisches Denken; aber das wirtschaftliche

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Leben kommt herauf. Nun will er in die alten Begriffe des Juristischen - damals waren sie ja schon wiederum alt geworden -, da will er hineinzwängen, was als wirtschaftliches Leben in Komplika­tionen heraufkommt, nachdem das naturwissenschaftliche Denken die Technik und so weiter ergriffen hat.

Und so sehen wir, wie eine Zeitlang innerhalb der eigentlichen zivilisierten Menschheit die zwei Ströme sich herausbilden, die Theo­logia, die dann auf der einen Seite in die Wissenschaft einmündet -denn es ist ja überall nachzuweisen, wie die späteren Wissenschaften, auch die Naturwissenschaft, sich aus der Theologia heraus entwickeln. Aber die Menschen haben mittlerweile das dialektisch-logische Denken gelernt, das tragen sie jetzt in alles hinein, auch in die Wissenschaft. Und so entwickelt sich die neuere Zeit. Mit überwältigender Kompli­kation kommen die sozialen Verhältnisse, die wirtschaftlichen Ver­hältnisse herauf. Die Menschen sind gewohnt noch an das theologisch juristische Denken, und das tragen sie nun noch extra in die Natur­wissenschaft hinein. In der Naturwissenschaft bemerkt man es nicht mehr. Man glaubt nicht, wenn man das Auge über das Mikroskop hält, oder wenn man durch das Teleskop in den Sternenhimmel hinein-schaut, oder wenn man gar ein niederes Tier zergliedert, um daran den Organismus zu studieren, man glaubt es nicht, daß man eine historische Phase des menschheitlichen Denkens da hineingetragen hat, und nicht etwas Absolutes. Und so nimmt in der neueren Zeit dieses naturwissen­schaftliche Denken durchaus die Menschheit, die Zivilisation in An­spruch: es soll über alles so gedacht werden, wie naturwissenschaftlich gedacht wird. Das ist heute nicht etwa bloß in den Gebildeten sitzend, das sitzt in der ganzen Menschheit, bis in den primitivsten Menschen hinein.

Ich möchte nicht mißverstanden werden auch hier, aber ich möchte eine Bemerkung machen. Wenn heute so etwas auseinandergesetzt wird, wie ich es zum Beispiel in bezug auf die Erziehung in den verflossenen Tagen tat, da muß auch dasjenige hineingebracht werden, was vom Spirituellen aus die Naturwissenschaft beleuchtet. Wenn der heutige Mensch, der an der Naturwissenschaft herangebildet ist, an diese Dinge herankommt, dann findet er: Ja, was da gesagt wird, das steht nicht in

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einem Physiologiebuch; was da gesagt wird, das habe ich nicht gehört vom physiologischen Katheder herunter, also ist es falsch. - Man setzt nicht voraus, daß dasjenige, was dort nicht gesagt werden kann, daß all das, was von mir in bezug auf Naturwissenschaftliches gesagt ist, durchaus nachgeprüft ist, daß es voll berücksichtigt dasjenige, was im Physiologiebuch steht, und was vom Katheder herunter als Physiologie gelehrt wird. Aber es ist die Menschheit heute so gestaltet, daß man gar nicht weiß, wie das eine aus dem anderen heraus sich ergibt. Und so ist heute die glänzende Naturwissenschaft, die ja voll anerkannt wird innerhalb des Anthroposophischen, diese Naturwissenschaft ist heute -nicht durch das, was sie selber sagt, sondern durch die Menschen, durch die Art, wie die Menschen sie auffassen - ein Hemmnis. Und ich möchte sagen, man kann es in der Entwickelung der neuesten Menschheit hand­greiflich machen, wie sie ein Hemmnis ist.

Sehen Sie, da gab es einen Menschen, der Ihnen seinem Namen nach gut bekannt ist, Karl Marx, der in der neueren Zeit besonders eindring­lich für Millionen und Millionen von Menschen über das soziale Leben geredet hat. Wie hat er geredet? Nun, er hat geredet, wie der repräsen­tative Mensch des naturwissenschaftlichen Zeitalters über das soziale Leben reden muß.

Stellen wir uns einmal vor Augen, wie dieser repräsentative Mensch reden muß. Der Naturwissenschafter, der hat die Gedanken im Kopfe. Darauf gibt er nicht viel; er gibt erst etwas auf die Gedanken, wenn sie sich ihm verifiziert haben unter dem Mikroskop oder durch einen an­deren Versuch oder durch irgendeine Beobachtung. Aber dasjenige, was er beobachtet, das muß ganz vom Menschen abgesondert sein, das darf nicht irgendwie verknüpft sein, das muß herangetragen sein. Und so muß derjenige, der naturwissenschaftlich denkt, einen Abgrund sehen zwischen seinem Denken und dem, was ihm herangetragen wird.

Nun, Karl Marx hat dieses Denken, das man nicht heranlassen will an die äußere Welt, zwar nicht ganz im Sinne der neuesten Natur­wissenschaft gelernt, möchte ich sagen, aber er hat es in einer älteren Form gelernt als Hegelsche Dialektik. Es ist im Grunde genommen nur eine andere Färbung des naturwissenschaftlichen Denkens. Da, als er dieses Denken des modernen Menschen lernte, da stand er in seinem

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Milieu drinnen. Aber er war Repräsentant des naturwissenschaftlichen Zeitalters, da konnte er ja gar nichts damit anfangen. Er war ein Deutscher, er stand drinnen in der deutschen logisch-dialektischen Denkweise. Aber aus der heraus konnte er nichts anfangen, geradeso wie der Naturwissenschafter nichts anfangen kann mit seinen Gedan­ken. Er wartet, was ihm das Mikroskop oder Teleskop zeigt. Das muß von außen kommen. Karl Marx konnte mit seinen Gedanken nichts anfangen. Und da er schon einmal aus seiner Haut nicht herausfahren konnte, fuhr er aus Deutschland heraus und ging nach England. Da traten ihm die sozialen Verhältnisse von außen gegenüber, wie dem Naturwissenschafter das Mikroskop oder Teleskop. Da hatte er eine Außenwelt. Da konnte er so reden und eine soziale Theorie nach natur-wissenschaftlichem Muster begründen, wie der Naturwissenschafter seine Theorie begründet. Und weil diese Denkweise den Leuten tief im Leibe sitzt, wurde das ungeheuer populär. Und weil nun schon einmal das, was sich bloß auf die äußere Natur bezieht, maßgebend ist, wenn man über den Menschen so redet wie über die äußere Natur, wie es Karl Marx getan hat, so schaut das alles, was man über den Menschen sagt, auch über seine sozialen Verhältnisse, so aus, wie wenn es Natur wäre. Was ich über den Jupiter sage, was ich über das Veilchen sage, was ich über den Regenwurm sage, das kann ich in Island ebenso sagen wie in Neuseeland, und in England ebenso wie in Rußland. Das gilt für die ganze Welt. Da brauche ich mich nicht zu konkretisieren, das muß all­gemein gelten.

Wenn man also nach dem Muster des Naturwissenschaftlichen eine soziale Theorie begründet, so begründet man scheinbar etwas, was über die ganze Erde hin gilt, was überall daraufgesetzt werden kann. Das ist überhaupt die Eigentümlichkeit der juristisch-staatlichen Denkweise, die nur ihren Gipfelpunkt in dem Marxismus gefunden hat, daß sie das Allgemein-Abstrakte wie ein allgemeines Kleid überall draufsetzen will. Das finden Sie schon da, wo noch gar nicht sozialistisch, sondern nur juristisch-logisch gedacht wird, zum Beispiel bei Kant mit dem kategorischen Imperativ, der Ihnen ja vielleicht auch als etwas Aus­ländisches bekannt sein wird.

Meine Damen und Herren, dieser kategorische Imperativ, der sagt:

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Handle so, daß die Maxime deines Handelns für jeden Menschen gelten kann. - Im konkreten Leben läßt sich das nicht anwenden, denn man kann niemandem sagen: Laß dir vom Schneider deinen Rock so machen, daß er für jeden Menschen passen kann. Aber nach diesem Muster, das überhaupt das logische Muster ist, nach diesem Muster ist schon das alte juristisch-staatliche Denken geformt. Das erreicht seinen Gipfel­punkt im marxistisch-sozialen Denken.

Und so sieht man, wie zuerst realisiert, verwirklicht wird dasjenige, was durch Marx auf naturwissenschaftliche Art beobachtet ist, indem er deutsches Denken betätigte am englischen Wirtschaftsdasein.

Nun wird es wieder zurückgetragen nach Mitteleuropa. Da lebt es sich in den Willensimpulsen der Menschen aus.

Und dann wird es noch weitergetragen ganz nach dem Osten. Im Osten nun ist sogar vorbereitet dieses Überstülpen des rein Abstrakten über die konkret menschlichen Verhältnisse. Denn im Osten sehen wir, wie dem Marx schon vorgearbeitet hat Peter der Große. Peter der Große hat schon den Westen in das russische Leben hineingeschoben, während Rußland in seiner Seele vielfach orientalischen Charakter trägt und die Menschen die Theokratie noch stark im Leibe haben, wurde durch ihn das Juristisch-Staatliche hineingetragen und Petersburg mehr im Westen, neben Moskau gesetzt.

Man verstand nicht, daß das zwei Welten sind, Petersburg Europa ist und Moskau Rußland ist, wo noch tief hineinspielt die orientalische Theokratie in ihrer Reinheit. So daß, als dann Solowjow eine Philo­sophie bildete, sie natürlich nicht so wurde wie die dialektisch-natur-wissenschaftliche Philosophie des Herbert Spencer, sondern sie wurde theosophisch. Aber Solowjow ist Moskau. Solowjow ist nicht Peters­burg. Ich meine auch nicht, daß in Rußland nur so die Dinge geogra­phisch getrennt werden können. Dostojewski, er mag noch so sehr an Moskau gekettet sein, Dostojewski, er mag noch so weit nach Osten gehen, ist Petersburg. Und die Erlebnisse in Rußland verlaufen zwi­schen Petersburg und Moskau. Moskau ist Asien, theokratisch ange­schaut, heute noch; Petersburg ist Europa.

Und in Petersburg wurde bereits vorbereitet auf staatlich-juristische Art dasjenige, was dann der Leninismus vollständig an Rußland verbrochen

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hat, wo etwas dem russischen Wesen so Fremdes, aber als die letzte Konsequenz des westeuropäischen Wesens aufgeprägt wurde, als etwas Abstraktes, so Fremdes, daß man sagen kann: Ebensogut hätte man dasjenige, was Lenin da in Rußland gemacht hat, auf dem Monde oder irgendwo anders machen können. Es kam gar nicht in Betracht, daß das Rußland ist, wo gerade Lenin regieren wollte.

So haben sich allmählich die Verhältnisse ergeben, daß man gar nicht sich konkretisiert, indem man auf das Soziale hinsieht. Aber das muß man, meine Damen und Herren. Man muß sich klar sein darüber, daß in der Entwickelung der Menschheit das geistige Leben früher entstanden ist als das juristisch-staatliche, daß das als ein zweiter Strom sich neben den ersten gestellt hat, und daß vielleicht jetzt auch etwas anderes ein­treten muß, als dieses bloße Abfärben der Jurisprudenz auf die Theo-sophie, so daß sie sie in die Theologie verwandelt; daß vielleicht das geistige Leben neu erwachen muß in einer neuen Form.

Denn die Sache ist doch so, daß die Evolution der Menschheit so vor sich ging, daß mancherlei aus dem geistigen Leben der alten Zeit seine Form in sich noch behalten hat. Es hat nicht bloß den Talar und das Barett, es hat auch die Gedankenformen behalten. Diese Gedanken-formen, die passen nicht mehr auf eine Welt, in die Handel, Gewerbe und Arbeit hineingetragen wurden als emanzipiert, so daß das geistige Leben heute vielfach als ein abgesondertes Glied neben dem übrigen Leben steht, am meisten, je mehr man nach Westen kommt.

In Rußland, in Moskau-Rußland ist es noch am wenigsten der Fall. In Mitteleuropa drehen sich alle Kämpfe, auch die sozialen, darum, daß man kein rechtes Verhältnis findet zwischen dem dialektisch-juristisch-staatlichen Element und dem theokratischen Element. Man weiß nicht, ob man nun den Talar und das Barett behalten kann, wenn man sich als Richter hinsetzt, oder ob man sie ausziehen soll. Die Rechtsanwälte schämen sich heute schon damit, die Richter finden noch etwas sehr Würdiges dabei, den Talar anzuhaben. Man weiß es nicht. In Mittel­europa ist ein starker Kampf; in Westeuropa ist das Theokratische sehr stark konserviert in dem geistigen Leben, sehr stark in den Gedanken-formen konserviert.

Aber der zweite Strom in der Menschheit hat sich ja heraufentwickelt.

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Wir haben auf der einen Seite den Menschen, wenn wir das als Symptom betrachten, wunderbar konservierend das Alte - Talar, Barett -, und nun möchte man sehen, daß er Talar und Barett ausziehe und darunter etwas anderes hätte, ein zweites, ob es nun ein Königsmantel oder ein Kriegermantel sei, aber es müßte etwas sein, was nun in das Rechts­verhältnis, in das Staatsverhältnis sich hineinstellt. Und so, ich möchte sagen, wenn man ihm auf der Straße heute begegnet, möchte man ihm, um ihn als einen vollständigen Menschen zu sehen, Talar und Barett ausziehen und darunter etwas wie eine Art Kriegermantel finden, oder etwas, was in die Juristenstube paßt; dann würde man die zwei Strö­mungen im Menschen nebeneinander lebend haben.

Ich muß Ihnen gestehen - nicht wahr, es ist scherzhaft ausgesprochen, aber es ist doch sehr real gemeint -, wenn ich heute einem Menschen in Talar und Barett auf der Straße begegne, so kommt mir der Gedanke:

Ja, wenn du jetzt einen Brief schreiben solltest, du wüßtest doch nicht, sollst du 768 vor Christi Geburt schreiben, oder sollst du schreiben, weil doch wiederum vielleicht in diesem Talar drinnen ein Rechts-gelehrter ist, 1265 nach Christi Geburt? Man kommt mit dem Datum nicht zurecht, weil Vergangenheit, ältere und mittlere Vergangenheit -Gegenwart braucht man dabei noch gar nicht zu berücksichtigen, auf das heutige Datum würde ich zuletzt kommen bei der Sache - weil sich weiter zurückliegende Vergangenheit und weniger weit zurückliegende Vergangenheit nebeneinanderstellen als zwei Strömungen. Und sie stellen sich so nebeneinander wie Moskau und Petersburg.

Und man hat die Frage vor sich: Wie kommt wirkliche Organisation, wirkliche Gliederung hinein in dasjenige, was heute nebeneinander steht? Diese Zweigliederung, die ich bis jetzt angeführt habe, werden wir dann auslaufen sehen in eine Dreigliederung in der modernen Zeit, wo die drei Glieder ebenso nebeneinander stehen.

Dreigliederung, meine Damen und Herren, ist ja nicht so gemeint, daß man jetzt eine schöne Einheit hat im sozialen Leben und nun drei Schnitte machen soll, daß die drei Glieder sich nebeneinander ent­wickeln, sondern die Dreigliederung ist so gemeint, daß sie da ist, wie im Menschen die drei Glieder sind: Kopf-Nervensystem, das rhyth­mische System und das Stoffwechselsystem. Nur müssen die ordentlich

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zusammenwirken, und es muß jedem das Seine zugeteilt werden. Wenn der Verdauungsorganismus wenig arbeitet und zuviel von seiner Arbeit an den Kopf abgibt, dann entstehen allerlei migräneartige Krankheiten.

Wenn das geistige Glied des sozialen Organismus nicht ordentlich arbeitet, zuviel, sagen wir, an das Wirtschaftliche abgibt, denn das ist der Kopf heute des sozialen Organismus, dann entstehen allerlei soziale Krankheiten.

So muß man diese Dinge mit der Entwickelung, mit der Evolution der Menschheit in Zusammenhang bringen, wenn man hineinsehen will in das soziale Leben. Dieses gestattet am allerwenigsten eine Ober-flächenansicht. So müssen wir schon dahin kommen, in Talar und Barett solche Formen hineinzubringen, die einem nun auch möglich machen, die zwei geschichtlichen Daten ineinander zu denken. Das ist dann Gegenwart. Sonst bleibt Vergangenheit Vergangenheit mit den nebeneinanderlaufenden Strömungen, die heute eben gerade als der Urgrund der sozialen Krankheit in der Welt dastehen, wenn es auch die Menschen nicht glauben. Das Weitere will ich dann im dritten Teile meines heutigen Vortrages sagen.

Meine Damen und Herren, da die Zeit vorgeschritten ist, werde ich dasjenige, was ich heute noch zu Ihnen zu sagen habe, sehr kurz halten. Es führt uns ja auch bereits in die Gegenwart, in diese Tage herein, und daher werde ich mir das Wesentlichste aufzusparen haben auf den näch­sten Vortrag. Was ich heute noch sagen möchte, ist dieses: Zu jenen zwei Strömungen, die ich charakterisiert habe, kommt immer mehr und mehr von dem Beginn des 15. bis 16. Jahrhunderts an, am deutlichsten aber im 19. Jahrhundert, ein dritter Strom. Er kommt um so deutlicher hinzu, je mehr sich die Kultur nach dem Westen bewegt. Es kommt zu demjenigen, was ursprünglich theokratisch angepaßt war dem Grund und Boden, der Landwirtschaft, zu dem kommt hinzu in den mittleren Gegenden das Juristische, das angepaßt ist Handel, Gewerbe, Arbeit. Und im Westen kommt nun hinzu immer mehr und mehr das, was man später begreift unter dem Namen des Industriellen, des eigentlich In­dustriellen mit all dem, was technisch sich diesem Industriellen einfügt.

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Bedenken Sie nur, was die Einfügung des eigentlichen industriellen Elements in die Evolution der Menschheit bedeutet. Die heutigen Ver­hältnisse ließen sich leicht umrechnen auf dasjenige, was ich jetzt an­führen will, aber ich will es für einen etwas früheren Zeitpunkt an­führen, ungefähr für die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Da konnte man schon sagen: Wenn man die physischen Menschen auf der Erde zählen würde, man würde etwa 1500 Millionen Menschen finden. Aber das ist nicht die richtige Bevölkerung der Erde. Das wäre nur die richtige Bevölkerung der Erde, wenn wir noch im tiefen Altertum drin­nen lebten, wo die Menschen im wesentlichen alle Arbeit verrichteten durch ihre Hände oder durch dasjenige, was etwa zusammenhing mit dem Menschen, so wie die Hand beim Führen des Pfluges oder beim Führen des Pferdes und so weiter. Es war bereits im 19. Jahrhundert eingezogen in die Erdenwelt eine ganz neue Bevölkerung; die Ma­schinen, die dem Menschen einen Teil der Arbeit abgenommen haben. Und wenn man rechnet, auch schon für die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, wieviel an menschlicher Arbeit die Maschine dem Men­schen abgenommen hat, dann kommt man dazu, daß man als Erden-bevölkerung dann anzusehen hat 2000 Millionen Menschen, 25 Prozent mehr. Heute ist es, wenigstens vor dem Kriege war es noch viel mehr so, daß wir, wenn wir bloß physisch die Menschen heute anschauen auf der Erde, eine ganz falsche Erdenbevölkerungszahl bekommen. Wir müssen 500 Millionen mehr Menschen auf der Erde annehmen nach der verrichteten Arbeit.

Das hat in der Tat zu dem alten theokratischen und juristischen Strome ein ganz neues Element gebracht, einen ganz neuen Strom in den realen Verhältnissen, denn es hat den Menschen nicht etwa näher hingebracht an die Außenwelt, sondern es hat den Menschen mehr auf sich selbst zurückgewiesen. Der Mensch stand im Mittelalter so, daß ein Teil von ihm war, was er, sagen wir, als einen Schlüssel machte zu einem Schloß oder das Schloß selber. Da ging, was der Mensch betätigte, in die Arbeit über. Wenn der Mensch an der Maschine steht, es ist ihm ganz einerlei, etwas relativ gesprochen, wie sein Verhältnis zur Ma­schine ist. Dadurch wird er um so mehr auf sich zurückgewiesen. Seine Menschlichkeit empfindet er. Der Mensch tritt als ein ganz

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neues Wesen in die Entwickelung ein. Er löst sich los von seiner äußeren Betätigung.

Das ist es, was im Westen als das demokratische Element in den letzten Jahrhunderten heraufkommt, aber erst als eine Forderung, als ein Postulat, nicht wie irgend etwas Realisiertes. Denn die Verhältnisse überwältigen den Menschen. Die Menschen können nur theokratisch oder juristisch denken. Aber das Leben wird industriell-wirtschaftlich mit überwältigenden Forderungen. Da hinein gehen noch nicht die Gedanken. Selbst ein solcher Mensch wie Marx hat nur juristisch ge­dacht. Und das Verständnis, das er gefunden hat bei Millionen und Millionen, ist nur juristisch.

Und so kann man sagen: Dadurch trat eine dritte Strömung, über die wir namentlich im nächsten Vortrag werden zu sprechen haben, neben die zwei anderen hin. Der proletarische Mensch wird geboren. Das, was im proletarischen Menschen rumort, das lebt sich aus als eine bestimmte Auffassung über Kapitalismus, über Arbeit. Die Menschen sind ge­zwungen, diese Probleme aus dem Leben heraus sich vorzuhalten. Jetzt ist die Evolution der Menschheit eigentlich erst Gegenwart.

Man könnte sagen: da steht der Mann mit dem Talar und Barett, wunderbar schön, herrlich; er ragt herein aus der Vergangenheit. Da steht der Mann mit dem Kriegermantel und mit dem Degen als Ver­körperung des Juristischen - das Kriegerische ist nur eine andere Seite des Juristischen -, die spätere Vergangenheit, noch nicht Gegenwart. Und wenn ich den Mann in Talar und Barett sehe, so kann er ja noch, weil sich die Menschheit schon jahrhundertelang da hinein gewöhnt hat, unter Umständen ein guter Rechtsanwalt, ein guter Advokat sein. Da werde ich die Disharmonie noch nicht so stark empfinden. Aber wenn er nun ins wirtschaftliche Leben hineingestellt sein soll - da habe ich fast die Vermutung, wenn er nicht trotz Barett und Talar gerade dazu befähigt ist, sich ins wirtschaftliche Leben aktiv hineinzustellen, daß er bloß sein Geld verlieren wird! Denn die Menschheit ist im allge­meinen noch nicht hineingewachsen in dasjenige, was diese dritte Strö­mung im Leben bedeutet. Und das ist sie auch im großen nicht. Daher steht die soziale Frage vor uns als eine Menschheitsfrage. Denn neben die Maschine ist der Mensch hingestellt. Wir müssen heute die soziale

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Frage nicht als eine Wirtschaftsfrage, wir müssen sie als eine Mensch­heitsfrage erfassen können, und wir müssen verstehen, daß wir sie innerhalb der Menschheit lösen müssen.

Dazu fehlen aber noch die Gedankenimpulse, wie sie vorhanden waren für das Theokratische und für das Juristische. Für das Wirt­schaftliche fehlen sie noch. Und die Kämpfe der Gegenwart gehen darum, Gedankenimpulse zu finden für das Wirtschaftliche, wie man sie gefunden hat für das Theokratische und für das Juristische. Das ist im wesentlichen heute noch der Inhalt der sozialen Frage. Im großen ist man dabei noch weniger auf einem heilsamen Wege als im kleinen. Die Staaten, die plötzlich empfangen sollten dieses industrielle Wirtschaftsleben, die haben es sich in ihre alten juristischen Formen eingliedern wollen. Und da sie das nicht gekonnt haben, verfielen sie auf dasjenige, was eine Art Ventil war, um es nicht nötig zu haben zu­nächst, das Wirtschaftsleben wirklich neben das Staatsleben hinzuent­wickeln. Und dieses Ventil ist das Kolonisieren. Weil man nicht die Möglichkeit fand zu starken sozialen Ideen im Inneren, machte man sich zunächst etwas wie einen Ausweg im Kolonisieren.

Das ging bei England. Bei Deutschland ging es nicht. Deutschland konnte sich seine Industrie nicht eingliedern, unzweifelbar deshalb, weil das Kolonisieren nicht ging. Und die große Frage steht heute vor der Menschheit: Wie macht es der Mensch mit dem wirtschaftlichen Leben, ebenso wie er es einstmals mit dem theokratischen, wie er es mit dem Juristischen gemacht hat.

Diese große Frage glaubt man heute, könne auf rein materialistische Weise gelöst werden. Jeder will sie aus dem Wirtschaftsleben heraus lösen. Hier soll gezeigt werden in bescheidenen Anfängen, daß sie nur auf spirituellem Wege gelöst werden kann. Das soll dann der Inhalt meiner zwei nächsten Vorträge sein.

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ELFTER VORTRAG Oxford, 28. August 1922 Soziale Impulse in der Gegenwart

Meine Damen und Herren! Wer in der Gegenwart über die soziale Frage denken will, der muß vor allen Dingen berücksichtigen, daß in der wirk­lichen Welt die Wirkungen aus Ursachen herkommen, an die man gewöhnlich, wenn man nur eine Oberflächenbetrachtung anstellt, gar nicht denkt. Man sieht bei einer solchen Betrachtung dasjenige, was sich an der Außenseite der Wirklichkeit abspielt, und man sieht nicht die eigentlichen tieferen Ursachen, die tieferen Gründe. Deshalb sind aufgetreten und treten noch immer auf so viele gut gemeinte utopisti­sche Vorstellungen, mit denen man glaubt, das soziale Leben, wie es heu­te fordernd auftritt, bewältigen zu können. Es ist von mir nun der Ver­such gemacht worden, in einem sehr wichtigen Momente, in dem Mo­mente zwischen dem Kriegsabschlusse und dem Versailler Friedens-versuch in einigen Linien darzustellen, wie man sich denken könnte die Gliederung als eine organische im gegenwartigen sozialen Organis­mus nach den drei Teilen des sozialen Lebens, die ich mir erlaubte, im letzten Vortrag zu charakterisieren.

Ich habe im letzten Vortrage darauf aufmerksam gemacht, wie im Laufe der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit drei stark von­einander geschiedene Strömungen aus einer ursprünglichen Strömung, aus der theokratischen Strömung heraus, entstanden sind, wie gegen­wärtig nebeneinanderliegen im sozialen Organismus das geistige Leben, das juristisch-staatliche Leben und das wirtschaftliche Leben. Ich hatte ausdrücklich bemerkt, daß ich nicht etwa die Meinung habe, man brauche theoretisch erst den sozialen Organismus in diese drei Glieder zu teilen. Das käme mir in meiner wirklichkeitsgemäßen, nicht theo­retischen Ansicht so vor, als wenn jemand nachdenken wollte, wie er den Menschen in Kopf, Brust und Gliedmaßen erst teilen sollte. Die Teilung im sozialen Organismus ist eine geschichtlich gewordene und ist einfach heute da, und es handelt sich heute nicht darum, nachzudenken

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darüber, wie man den sozialen Organismus in drei Glieder trennen soll, sondern wie man die Verbindungsglieder finden soll zwi­schen den drei Gliedern, die da sind.

Wenn man über diese Frage als die soziale Grundfrage in unserer Zeit richtig denken will, dann muß man ganz wirklichkeitsgemäß denken, nur aus den Tatsachen heraus denken. Dann aber denkt man für einen bestimmten Zeitpunkt und für einen bestimmten Ort. Und ich habe in meinem Buche: «Die Kernpunkte der sozialen Frage», weil das Buch vom südlichen Deutschland, von Stuttgarter Freunden aus von mir gefordert worden ist - ich habe es nicht aus eigenem Antrieb geschrie­ben, es ist mir abgefordert worden -, ich habe dieses Buch geschrieben für jenen Zeitpunkt Frühjahr 1919, Ort Süddeutschland, weil ich mir vorgestellt habe, daß, wenn die Menschen zum Willen kommen, der Wil­le in der Zeit und an dem Orte gerade so geartet sein könne, daß man Verständnis finden werde für dasjenige, was nun nicht als Programm­punkte, sondern als Willensrichtungen in diesem Buche angedeutet ist.

Nun liegt die Sache so, daß die Frage, die in diesem Buch berührt wird, eine ganz andere ist für den Osten der zivilisierten Welt, für Ruß­land, Asien, eine ganz andere ist für Mitteleuropa, und eine ganz andere ist für den Westen, für England und Amerika. Das ergibt sich aus einem wirklichkeitsgemäßen Denken. Denn dasjenige, was ich im letzten Vor­trag charakterisiert habe, das Hervorgehen der industriellen Weltord­nung aus den beiden früheren, so daß sie neben ihnen als eine besondere Strömung weiterläuft, das hat sich vorzugsweise unter dem Einfluß der westlichen Länder entwickelt. Es hat sich entwickelt unter dem Einflusse desjenigen, was im 18. Jahrhundert in den westlichen Län­dern Sitte, Gewohnheit, soziale Ordnung war, hat sich da hinein­gepaßt. Will man es konkreter, genauer charakterisieren, so muß man sagen: England ist im Laufe der neueren geschichtlichen Entwickelung die große Handelsnation geworden. Dasjenige, was, ich möchte sagen, jedes dritte Wort heute in der sozialen Proletarierfrage ist, das Kapital, das hat sich für Westeuropa unter dem Einflusse der großen Handels-verhältnisse entwickelt als kommerzielles Kapital.

Ja, meine Damen und Herren, das gibt einer Sache einen ganz be­stimmten Charakter, denn das kommerzielle Wesen hat sich organisch

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herausentwickelt in der neueren Zeit aus den westlichen Lebensgewohn­heiten und Lebenssitten. Es hat tatsächlich Karl Marx in England etwas anderes angeschaut, als was er in Deutschland um sich hatte. Er hat von Deutschland nur die Theorie gebracht, das Denken, die Dia­lektik. Er hat hier ein fremdes soziales Strukturgebilde angeschaut. Und so muß man sagen: Alles dasjenige, was dann als industrielle Ord­nung aufgetaucht ist, das ist in kontinuierlicher Fortentwickelung als ein nächstes Glied der kommerziellen Entwickelung im Westen auf­getaucht. Industrielles hat sich in organischer Weise aus dem Handel heraus entwickelt.

In Mitteleuropa und in dem repräsentativen Lande Mitteleuropas, in Deutschland, war das nicht der Fall. Deutschland war noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen ein Agrarland, ein Land, in dem die Landwirtschaft weitaus dominiert hat. Und das­jenige, was da war als die moderne Industrie, diese moderne indu­strielle Strömung, die sich als dritte neben die beiden anderen hinge-stellt hat, das war ein staatliches Gefüge, ein Gefüge, das sich staatlich immer mehr und mehr konsolidierte, und das daher die Tendenz ent­wickelte, den Industrialismus in das Staatsgebilde hineinzugliedern, zu absorbieren.

Vergleichen Sie nur einmal wirklichkeitsgemäß Mitteleuropa, wie es vor dem Kriege war, mit Westeuropa vor dem Kriege. In West­europa hat sich das wirtschaftliche, das ökonomische Wesen in einer gewissen Emanzipation vom Staate erhalten, und das geistige Wesen erst recht. Das steht in einer gewissen Selbständigkeit den anderen bei­den Gliedern gegenüber.

In Mitteleuropa entstand eine kompakte Masse aus Geistesleben, juristischem Staats- und Verfassungsleben und Wirtschaftsleben. In Deutschland mußte man daher daran denken, wie man die drei Glieder auseinanderbringt, um sie dann organisch zum Zusammenwirken zu bringen, wie sie sich nebeneinander zu stellen haben, um sie nebenein­ander zur Wirksamkeit zu bringen, um die Bänder zwischen ihnen zu­sammenzubringen.

Hier im Westen handelt es sich darum, daß die drei Glieder neben­einander daliegen, daß sie deutlich voneinander gesondert sind, daß

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man selbst räumlich das geistige Leben so zusammengefaßt findet wie hier in Oxford, wo man das Gefühl hat, als ob es draußen überhaupt keine Staats- und keine wirtschaftliche Welt mehr gäbe, als ob alles Geistige souverän und autonom dastünde. Aber man hat auch das Ge­fühl, dasjenige, was in diesem souveränen Geistesleben sich entwickelt, das hat nicht mehr die Kraft, hinauszuwirken in die beiden anderen Glieder. Das ist etwas, was nur in sich selber lebt, was nicht organisch eingewebt ist in die beiden anderen Glieder.

In Deutschland hat man das Gefühl: Das geistige Leben steckt so drinnen im staatlichen Leben, daß man ihm erst auf die Beine helfen muß, daß es selbständig stehen kann. Hier hat man das Gefühl, das geistige Leben steht so selbständig da, daß es sich überhaupt nicht irgendwie kümmert um die anderen Glieder. Das gibt eine wesentlich andere Färbung, wenn man wirklichkeitsgemäß denkt gegenüber der ganzen sozialen Frage der Gegenwart und dem Grundimpuls der so­zialen Frage in unseren Tagen.

Aus diesem Grunde meine ich, daß meine «Kernpunkte der sozialen Frage», wenn sie heute in Deutschland fast vergessen sind es ist ja ein bißchen übertrieben, aber es ist fast so-, wenn sie heute in Deutschland fast vergessen sind, und im Jahre 1919 eine ungeheuer schnelle Verbrei­tung gefunden haben, daß das ganz natürlich ist. Denn der Zeitpunkt, wo man das, was in den «Kempunkten der sozialen Frage» steht, reali­sieren sollte, der ist vorüber für Mitteleuropa. Der ist in dem Augen­blicke vorüber gewesen, als jener starke Valutaniedergang eingetreten ist, der der deutschen Wirtschaft völlig die Hände bindet.

Ich bin damals, als die «Kernpunkte der sozialen Frage» erschienen waren, von vielen Leuten gefragt worden: Ja, das wäre alles recht schön, aber jetzt handelt es sich vor allen Dingen darum, wie wir die Valuta verbessern. - Sie war dazumal verhältnismäßig noch gut gegen den heutigen schändlichen Stand. Ich konnte nur sagen: Da drinnen in den «Kernpunkten» steht es, wie man die Valuta verbessern kann. -Aber die Leute sahen es nicht. Sie wußten nicht, wo die Antwort sitzt auf die Frage, sondern sie suchten die Antwort extra irgendwie an der Oberfläche behandelt, nicht in den Tiefen. Daß gerade das Buch die Antwort war, das verstanden die Leute nicht.

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Nun, das ist einer der Grundimpulse im sozialen Leben unserer Zeit. Wenn man versucht, aus der Wirklichkeit heraus zu denken, den Menschen Antworten zu geben aus der Wirklichkeit heraus, so ver­stehen sie sie nicht, denn sie kommen mit Theorien, mit einem Kopf, der ganz gespickt ist mit «Kapital» und «Mehrwert» » und «Klassen-kampf» und allem möglichen, und mit allen alten Vorurteilen. Sie kommen mit demjenigen, was alte Denkgewohnheiten sind. Und heute schlagen gerade im praktischen Leben die Theorien die Wirklichkeit tot. Das ist das eigentümliche Rätsel unserer Zeit, daß die Praktiker alle Theoretiker geworden sind, daß sie alle Ideen im Kopfe haben, die sie gerade, meinetwillen, aus einer Fabrik heraus zusammengeschmiedet haben, und mit diesen theoretischen Ideen das ganze soziale Leben meistern wollen.

Deshalb glaube ich, daß in der Zukunft meine «Kernpunkte» mehr gelesen werden sollten im Westen und in Rußland, daß sie in Deutsch-land heute eigentlich ohne eine Möglichkeit des Wirkens dastehen. Denn im Westen zum Beispiel kann man trotzdem an diesem Buche sehr viel sehen, denn es stellt ohne Utopie einmal hin, wie die drei Glieder eben nebeneinanderstehen und ineinandergreifen sollten. Da ist es für den Westen ganz gleichgültig in bezug auf den Zeitpunkt, denn auch da ist noch viel zu tun in bezug auf die richtige Gliederung der drei Strö­mungen, Geistesleben, Wirtschaftsleben, staatlich-rechtliches Leben.

Aber wir müssen vor allen Dingen lernen, wirklich modern zu den­ken, um im modernen Sinne zu einer sozialen Urteilsbildung zu kom­men - fassen wir das doch nicht oberflächlich auf, meine Damen und Herren -, um im modernen Sinne zu einem sozialen Urteil, zu einer sozialen Urteilsbildung zu kommen. Das können wir nur, wenn wir unter die Oberfläche der sozialen Erscheinungen hineinsehen in die Tiefen. Und da ergibt sich heute eine eigentümliche Tatsache. Da ergibt sich die Tatsache, daß der einzelne überhaupt, wenn er noch so gescheit ist, wenn er ein noch so intelligenter und meinetwillen auch idealisti­scher und praktischer Mensch ist - ich möchte das «Praktisch» dreimal unterstreichen -, daß er als einzelner überhaupt ein soziales Urteil nicht gewinnen kann. Es ist ein, ich möchte sagen, soziales Mysterium, meine Damen und Herren, daß jedes soziale Einzelurteil falsch ist.

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Studieren Sie einmal, welche ungeheuer gescheiten Urteile gefällt worden sind, als in Europa die Goldwährung eingeführt werden sollte. Wer sich vertieft in das, was dazumal in Handelsverbänden, in den Parlamenten geredet worden ist - ich sage das nicht mit Ironie, sondern aus voller Überzeugung heraus -, das ist ein exzellentes Beispiel von menschlicher Gescheitheit. Man bekommt förmlich einen tiefen Re­spekt, wenn man sich vertieft in das, was von all den ungeheuer geschei­ten Menschen geredet worden ist von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab über den Einfluß der Goldwährung auf die soziale Gliederung der Welt. Vor allen Dingen, man hat strikte bewiesen, so logisch und so praktisch das nur möglich sein kann, daß es einen ungeheuren Respekt einflößt, man hat strikte bewiesen, wenn die Goldwährung komme, dann werde der Freihandel blühen.

Das Gegenteil ist eingetreten. Man hat sich sogar genötigt gesehen, gerade als Konsequenz der Goldwährung, die Zollschranken wieder aufzurichten. Das heißt: die gescheitesten Leute haben bei ihrem Blick in die Zukunft Unsinn geredet. Das ist nicht ein Tadel. Das kommt daher, daß in bezug auf das soziale Urteil die gescheitesten Leute viel­leicht in dem Maße großen Unsinn reden, je gescheiter sie sind, wenn sie als einzelne reden; wenn sie bloß urteilen mit dem, was aus der einzelnen menschlichen Individualität hervorgehen kann.

Daher handelt es sich heute gar nicht darum, daß wir auf uns wirken lassen dasjenige, was als soziales Elend verbreitet ist. Der einzelne ver­mag sich kein Urteil zu bilden zwischen Ursache und Wirkungszusam­menhang im sozialen Leben. Wir müssen tiefer gehen. Wir müssen hin­einschauen bis in die Gliederung der Menschheit. Wir müssen uns fragen: Wie kann ein wirkliches soziales Urteil zustande kommen?

In den alten sozialen Urteilsfällungen, die wir nicht wieder her­aufbeschwören wollen, die einer alten Zeit angehörten, der Zeit der Theokratien, in diesen alten Urteilsfällungen war das soziale Urteil nicht bewußt, sondern es wurde unbewußt gefällt; aber es wurde von Menschengruppen gefällt.

Es ist gar nicht wahr, daß die Familie etwa das erste war in der sozialen Ordnung. Die Familie ist ein Spätprodukt, das erst später im Sozialen erschien. Die Urmenschen, die haben nicht nachgedacht, was

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das soziale Urteil sein soll, sie haben sich die Inspiration der Priester-schaft geben lassen und diese aufgefaßt mit dem Unbewußten. Aber diese sozialen Urteilsfällungen, diese unbewußten, sind nur entstanden, wenn Menschen eben in einer Gliederung standen - durch die Bluts- und anderen Bande in der Gliederung standen. Soziale Gruppen haben ein Verständnis gehabt, soziale Gruppen, nicht die einzelnen; soziale Grup­pen, die miteinander gelebt haben. Und aus dem Zusammenleben der Gruppen ist das richtige Soziale entstanden. Im Geist der Menschen hat sich aus der Gruppe heraus das Richtige entwickelt, auch die Demo­kratie entwickelt, und damit der demokratische Gedanke. Das erreichte seine Kulmination erst im Laufe der Zeit. Der einzelne Mensch trat auf den Plan der Weltgeschichte. Er konnte aber noch mitbringen das­jenige, was die Gruppen gebildet hatten. Es lebte in der Tradition fort. Das ging auch noch hinein in die juristisch-staatliche Ordnung, aber ging nicht mehr hinein in dasjenige, was vom Menschen losgelöst ist, in die maschinelle, in die industrielle Ordnung. Da greift es nicht an, da geht es nicht mehr hinein.

Nun, so sehen wir, daß notwendig wird, wiederum etwas zu bilden gerade innerhalb der Wirtschafts-, der ökonomischen Ordnung, das jetzt bei vollbewußtem Menschtum ähnlich ist den ursprünglichen so­zialen Gruppen. Das habe ich genannt in meinem Buche «Die Kern­punkte der sozialen Frage» die Assoziationen, wo das soziale Urteil nicht aus dem einzelnen hervorgeht, sondern aus dem, was in der As­soziation zusammenlebt, sich zusammen auslebt, in jenen Assoziationen, die die Konsumenten, die Produzenten und die Händler untereinander bilden. So daß man wiederum soziale Gruppen hat, aus denen sich jetzt bei vollem Bewußtsein das Urteil bildet, das der einzelne nicht bilden kann. Man kann noch so lange über eine Lösung der sozialen Frage nachdenken, alles Nachdenken ist Unsinn. Sinn hat nur, soziale Grup­pen zu bilden, von denen man erwarten kann, daß Partiallösungen der sozialen Frage entstehen, daß die Leute, die zusammen urteilen, etwas bringen, was der Partiallösung der sozialen Frage für irgendeinen Ort und irgendeine Zeit nahe kommt, so daß es sich hineinstellt in die Menschheit.

Das ist dasjenige, was heute besonders notwendig ist, und was man

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so wenig versteht. Ich habe es verspürt, wie wenig man das versteht, als ich im Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts meine «Philosophie der Freiheit» erscheinen ließ. Auf einem ganz partiellen Gebiet der sozialen Frage hatte ich das zu empfinden bekommen.

Ich mußte dazumal kurz auch die Frauenfrage berühren als eine soziale Frage, und dazumal - es ist jetzt dreißig Jahre her - sagte ich nicht: So löst man die Frauenfrage, denn das ist ganz gleichgültig, was sich der einzelne heute vorstellt, das kann eine feuilletonistische Bedeu­tung haben, damit kann man Romane schreiben, aber damit greift man nicht in die Wirklichkeit hinein; deshalb sagte ich dazumal: Man muß ja erst die Frauen ordentlich fragen, wie sie sich das denken, dann kann man aus der Wirklichkeit heraus eine Unterlage gewinnen für das­jenige, was geschehen kann.

Die Frauen waren dazumal nicht in Wirklichkeit gefragt; denn die paar Frauen, die bis dahin gesprochen hatten, die hatten ja nur Männer-urteile gefällt, indem sie die Männerart, die immer geherrscht hat von der untersten Volksschulklasse bis in die Universitäten hinauf, einfach angewendet haben. Diese Frauen haben gar nicht das soziale Urteil in das soziale Gefüge einfügen wollen. Sie haben gar nicht gefragt, wie das soziale Leben herauskommt, nachdem wie der Rock ausschaut, den man anzuziehen hat; sie haben gestrebt darnach - verzeihen Sie, daß ich das erwähne, wenn es auch in England sonst verpönt ist -, sie haben gestrebt darnach, nun auch Beinkleider anzuziehen wie die Männer, haben gestrebt, geradeso nun auch Mediziner, Juristen, Kleriker und Schul­meister zu werden, wie die Männer geworden sind; nicht, das Frauen-hafte einzufügen in den sozialen Organismus, nicht die Wirklichkeit zu nehmen, sondern von einer Theorie auszugehen. Denn die Theorie ist bis zur größten Unfruchtbarkeit in der heutigen Zeit heraufge­bracht. Auch das muß man einsehen, daß man sich nicht theoretisch ein Urteil bilden soll in der Frauenfrage, sondern erst einmal die wirk­lichen Frauen hören. Denn um die Wirklichkeit handelt es sich.

Und so in der ganzen sozialen Frage, nicht wiederum theoretisch beantworten: Wie muß sich Unternehmer und Arbeiter stellen? Wie muß die Fabrik gegliedert werden in der sozialen Beziehung? - sondern einmal die richtigen Assoziationen, die richtigen Menschengruppen zu

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bilden, aus denen dann erst die Antwort kommen wird. Die Fragen, die soll man richtig stellen, und warten, wie aus den Zusammengliederungen der Menschen dann die Antworten kommen.

Man muß also, wenn man schon Bücher schreiben will, solche Bücher schreiben, die gar nicht abgeschlossene Antworten geben, sondern die darauf hinweisen, wie Menschengruppierungen Antworten geben wer­den, wenn diese Menschen in der richtigen Weise zusammengebracht sind. Ein Buch muß schon aus sozialer Denkweise und Gesinnung her­vorgehen, wenn es die sozialen Impulse in unserer Zeit richtig berühren will. Davon will ich dann in der zweiten Sektion weitersprechen.

Meine Damen und Herren, es ist in der gegenwärtigen Zeit außer­ordentlich schwierig, über praktisches Denken zu sprechen. Die Men­schen glauben alle Realisten zu sein, aber im Grunde genommen trifft man überall krause Theorien, die allerdings dann im Leben drinnen wirken. Um mich ganz verständlich zu machen für dasjenige, was ich hier noch zu sagen haben werde, gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung.

Ich glaube, daß dasjenige, was in bezug auf die Dreigliederung des sozialen Organismus zu sagen ist, allerdings heute aus meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» gelesen werden kann, gerade außerhalb Deutschlands; aber ich selbst war gedrängt, durch prak­tisch-wirklichkeitsgemäßes Denken die Dinge anders auszudrücken, als ich einmal die Sache niederschrieb für ein Gebiet außerhalb von Deutschland, für eine schweizerische Zeitschrift. Und da finden Sie dann denjenigen Aufsatz, der jetzt in «The Hibbert Journal» abge­druckt ist. Der ist international geschrieben, weil er von vornherein für alle Menschen geschrieben ist. So faßt man aber heute die Dinge nicht auf. Deshalb muß ich diese persönliche Bemerkung machen, damit die folgenden Dinge, die für die Erfassung des sozialen Lebens in der Gegenwart wichtig sind, damit die folgenden Dinge, die ich zu sagen habe, richtig verstanden werden.

Mir ist jede Theorie ganz gleichgültig, und deshalb gilt mir jede Formulierung von Ideen und Begriffen bloß als eine Sprache, um die Realität auszudrücken. Wenn ich finde, daß man die Realität mit

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den Begriffen ausdrückt, die die Materialisten geformt haben, dann drücke ich das, was als Wirklichkeit zu sagen ist, materialistisch aus. Finde ich, daß die Idealisten passende Begriffe haben, um irgend etwas wirklich auszudrücken, dann drücke ich es eben idealistisch aus. Mir ist Materialismus, Idealismus, Realismus alles in der Theorie ganz gleich; ich betrachte es als eine Sprache, um die Wirklichkeiten aus­zudrücken. Daher kann man sehr leicht finden, wenn ich einmal in einer Zeit dasjenige, was ich habe ausführen wollen, mit den Worten Ernst Haeckels ausdrückte, daß gerade die Schriften, die ich in dieser Zeit schrieb, eine Form haben, die Anlaß geben kann, mich einen Materialisten zu nennen; und so kann man Widerspruch über Wider­spruch finden.

Allein so ist das Leben, und das kompliziert gewordene Leben der neueren Zeit namentlich. Wenn wir über das Soziale praktisch denken wollen, dann muß man berücksichtigen, daß all das, was wir als Na­turalismus, Idealismus, Materialismus, Spiritualismus haben, dem ju­ristisch-logischen Denken enstammt, daß das alles für die Gegenwart nicht mehr paßt; aber ebensowenig paßt «Industrialismus», «Kom­munismus», «Sozialismus». Alle diese Dinge sind gut um das eine oder das andere auszudrücken, aber sie sind, wenn man sie als Theorien, Schlagworte, als Agitationsdirektiven nimmt, alle bereits verbraucht. Deshalb ist es so schwer, Titel zu finden. Ich habe zum Beispiel für meinen morgigen Vortrag einen Titel gewählt, der mir im Grunde ekelhaft ist, weil er im Grunde eben auf alte Schlagworte reflektiert, aber die gelten heute nicht mehr. Heute müssen wir in das wirkliche Leben untertauchen. Das ist nicht ideell, das ist eben real, und das for­dert angesehen zu werden von den verschiedensten Gesichtspunkten. Ich habe es schon gesagt: Den Baum photographiert man von der einen Seite = «Materialismus»; den Baum photographieren wir von der an­deren Seite = «Idealismus»; den Baum photographiert von der dritten Seite = «Naturalismus». Man photographiert das soziale Leben von der einen Seite = «Sozialismus»; von der anderen Seite = «Autokratie»; von der dritten Seite = «Kommunismus». Aber all das sind nicht Dinge, mit denen man heute operieren sollte. Man hat eben nicht heute einen richtigen Instinkt dafür, Begriffe zu finden, die aus dem heutigen

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Leben, das überall durchsetzt ist von Industrialismus, gewonnen wer­den müssen. Man sollte nur sich überlegen, wie intensiv das Leben ge­wirkt hat in den verflossenen Menschheitsepochen. Theokratie war einmal so intensiv allem sozialen Leben aufgedrückt, daß auch das Ökonomische, wie ich vorgestern sagte, unmittelbar aus den theokra­tischen Direktiven herauswuchs. Da geht es aber nur bis zu der Land wirtschaft. Die Landwirtschaft läßt sich in einen sozialen Organismus voll hineingliedern, der theokratisch gedacht ist, denn es lebt im mensch­lichen Herzen, Grund und Boden mit dem Theokratischen zusammen-zubringen. Fragen Sie den Menschen, der mit dem Lande, mit dem Grund und Boden zusammengewachsen ist, was ihm das Brot ist. Das Brot ist ihm in erster Linie eine Gabe Gottes. Da sehen Sie im Wort-gebrauche dasjenige, was er auf dem Tische hat, zusammenhängen mit demjenigen, was er in der Theokratie erlebt.

Und dann bilden sich die sozialen Ordnungen, die ich vorgestern auseinandergesetzt habe, die begründet sind auf das Händlertum, auf das Gewerbe. Die Frage der Arbeit tritt auf. Ich habe es vorgestern in seiner Entstehung im Römertum zu erörtern gesucht. Und dann tritt auf ein ganz anderes Denken. Alle Begriffe, die wir haben, Eigentum, menschliches Recht gegenüber menschlichem Recht, bekamen damals eine juristisch-dialektisch-logische Färbung. «Gott hat es gewollt», das war die soziale Devise der Theokratien. «Menschen haben es unter­einander abzumachen» - das wurde die soziale Devise in der juristisch-staatlichen Ordnung.

Und das wirkte so intensiv, daß es allem Leben den Stempel auf-drückte. Nicht nur, was ich vorgestern gesagt habe, daß die Theosophie eine Theologie wurde, sondern viel intensiver noch ging das in das Leben hinein.

Bitte, sehen Sie sich das grandiose Bild an, das heute in der Six­tinischen Kapelle in Rom von Michelangelo gemalt ist: Christus, der Weltenrichter, aus der Zeit heraus, in der am intensivsten das juristisch-staatliche Leben alles erfaßt hat. Aber ein religiöses Geheimnis sollte an die Wand gemalt werden der religiösen zentralen Wirkungsstätte.

Glauben Sie, wenn man aus dem alten orientalischen Theokratismus den Christus gemalt hätte, der wäre so geworden, wie ihn Michelangelo

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gemalt hat? Nimmermehr! Er wäre derjenige geworden, der in irgend­einer Weise die Weltengaben, die Gnaden, die der Mensch erhalten kann, mit segnenden Händen hinunterreicht, und der wäre der Welten­gott geworden, der den Menschen segnend gibt.

Was ist der Christus auf dem Bilde von Michelangelo ? Der Welten-richter, der große Weltenjurist, der die Guten belohnt, die Bösen be­straft. Das ganze Bild ist juristisch, ist getaucht in die Zeit, aus der es herausgeboren ist. Das ganze soziale Impulsieren der Zeit schaut man in diesem Bilde noch künstlerisch an. Die einstmalige Anschauung der Götterwelt, wo Gott eben Gott war, hat sich so verwandelt, daß die Welt-Anschauung eine Welt-Jurisprudenz geworden ist. Gott ist der große Jurist auf dem Bilde des Michelangelo Jurisprudenz zieht sich hinein in die intimsten Fäden des Denkens, auch der Religion. Die Religion wird eine Empfindung desjenigen, was gerecht, ungerecht, gut und böse ist, und wie das zu belohnen oder zu bestrafen ist. Die Welt geht nicht aus in etwas, wohinein sie gegangen ist im alten Oriente: Wiedervereinigung der Menschheit mit der göttlichen Sub­stanz, sondern die Welt naht sich an ihrem Ende der großen juris­tischen Session, wo juristisch entschieden wird über das Schicksal der Welt.

Michelangelo hat so gemalt. Adam Smith hat so gedacht. Aber er hat gedacht nach der anderen Seite hin. Michelangelo hat gemalt nach der Seite der Theokratie hin, und die theokratische Ordnung ist ihm als Künstler in die juristische hineingerutscht. Adam Smith hat ganz juristisch gedacht; Ricardo ebenso und noch Karl Marx ebenso, und sie wollten dieses juristische Denken über die neue industrielle Ord­nung stülpen, die nun nicht mehr den Menschen so hinstellt, wie die früheren Ordnungen den Menschen hingestellt haben.

Der Mensch in der theokratischen Ordnung war hingestellt zum Boden, zum Grund und Boden; mit dem war er zusammengewachsen. Und er fühlte, wie er mit diesem Boden zusammenwachsen kann, wenn eben die theokratische soziale Ordnung hinter ihm ist. Das Zentrum, der Mittelpunkt, war die Stätte, wo die Inspirierten die Direktive ab­gaben, was in späterer Zeit das Dorf wurde mit dem umliegenden Grund und Boden und mit der Kirche. Im Laufe der menschheitlichen Entwickelung

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kam die Stadt. Die Stadt ist aus der sozialen Ordnung der Jurisprudenz heraus entstanden. Jetzt hat man nicht den Gegensatz Bauer und Priester, jetzt hat man den Gegensatz Stadt und Land.

Das ist aber ganz in juristische Kategorien hinein verwebt. Aus diesen juristischen Kategorien heraus haben aber auch noch diejenigen gedacht, die dann den sozialen Organismus Stadt und Land zusammen-faßten als Staat; so haben sie auch noch gedacht von Adam Smith und John Stuart Mill bis Karl Marx. Da herrschen überall abstrakte, ju­ristische Kategorien, wenn sie auch kritisch behandelt werden bei Karl Marx - bei Adam Smith positiv, bei Karl Marx negativ -, aber er arbeitet ganz in juristischen Begriffen. Diese juristischen Begriffe sind Allgemeingut geworden jetzt derjenigen Menschheit, die mit nichts mehr verknüpft ist.

Der Bauer war verknüpft mit dem Grund und Boden. Der Händler, der Gewerbetreibende war verknüpft mit dem anderen Menschen. Man studiert das nur nicht ordentlich, wie der Mensch dem anderen Men­schen wert wurde, wenn er ihm etwas kaufte oder verkaufte, das er selber verfertigt hatte, mit dem er noch zusammenhing. Da war maß­gebend dasjenige, was juristisch gedacht war. Da war maßgebend für den gerechten Preis dasjenige, was von Mensch zu Mensch wirkt, was sich abspielte zwischen Stadt und Land, die Gegenseitigkeit, dasjenige, was Mensch und Mensch untereinander abzumachen haben.

Nun kam die Zeit, wo die Menschheit der Maschine, der Technik gegenüberstand. Der Mensch insbesondere, der nun hineingestellt ist in die maschinelle Welt, der ist herausgerissen aus allen früheren Ver­hältnissen, hängt nicht mehr mit Grund und Boden zusammen, hängt nicht mehr zusammen mit dem, was gegenseitig spielte zwischen Mensch und Mensch, in der Zeit, wo Handel und Gewerbe dominierten. Er ist auf seine Menschlichkeit gestellt.

Und dabei ist das so, daß sich die soziale Struktur mit großer Ab­straktheit entwickelt. Der Unternehmer steht da, und er hat im Grunde genommen bloß die Möglichkeit, mit der Bilanz zu rechnen, mit dem­jenigen zu rechnen, was sich ergibt aus der Unternehmung, denn alle übrigen Faktoren entziehen sich seiner Beobachtung. Er steht ja gar nicht mehr in Beziehung zum Menschen; er steht in Beziehung zu dem,

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was vom Menschlichen in die Bücher hineingegangen ist. Deshalb wird man gerade von sogenannten Praktikern heute außerordentlich schwer verstanden mit einem wirklich richtigen Denken.

Das konnte sich herausstellen, als versucht wurde im Praktischen etwas zu begründen, was wiederum hineinarbeitet ins konkrete Leben, wo diejenigen, die etwas leiten, nicht bloß nach den Büchern leiten, son­dern in den wirklichen konkreten Unternehmungen mit ihrem Denken drinnenstehen. Aber man fand keine Mitarbeiter. Die Mitarbeiter, die stellten sich in der Mehrzahl hin und sagten: Das ist der Theoretiker, der denkt etwas aus; wir sind die Praktiker. Wir als Praktiker wissen, wie es ist. - Aber was hatten diese Praktiker im Kopfe? Ein paar Be­griffe, ganz theoretische Begriffe, aus denen heraus sie sich einbildeten, wie es gerade zunächst da und dort sein muß just. Das waren ja die Philosophen, aber die Philosophen von den wenigen Begriffen, die sich just aus einer Ecke des ökonomischen Lebens heraus ein paar Begriffe bildeten bloß, und nun breit sagten: Diese theoretischen Begriffe, das ist die Praxis, und wenn irgend jemand mit etwas anderem kommt, dann versteht er halt gar nichts von allem.

Es ist deshalb so ungeheuer schwer, heute mit «praktischem» Den­ken in der Welt etwas anzufangen, weil die Praktiker alle Theoretiker sind, und zwar die abstraktesten Theoretiker.

Und so haben wir durchaus heute den Menschen dastehen, den Men­schen aller Stände dastehen, denn auch die Begriffe «Bourgeoisie» und «Proletariat», «Arzttum» und «Priestertum», sie sind durchaus heute alle nicht mehr gültig. Wir können mit diesen alten Begriffsscheide­münzen nichts mehr anfangen. Denn wenn wir realistisch urteilen -verzeihen Sie, daß ich das ohnedies schon totgetretene Bild noch einmal gebrauche -, ich konnte wirklich, als ich unserem verehrten Mit-vorsitzenden in den Straßen begegnete mit Talar und Barett, nicht mehr unterscheiden: ist er ein Priester oder ist er etwas anderes. Es gelingt nicht, die Dinge auseinanderzuhalten, weil wir im Leben drinnen mit den festgewordenen Begriffen stehen.

Wir müssen alles wiederum in Bewegung bringen, müssen unter-tauchen in das Leben, müssen nun sehen, wie der Industrialismus ge­worden ist, wie er sich abgelöst hat vom Menschen. In jedem Türschloß

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ebenso wie in der gotischen Kirche war früher etwas Menschliches dar­innen. Davon strahlten die sozialen Impulse aus.

In dem, was heute der Arbeiter in der Fabrik macht, und in dem, was der Architekt aufführt als Warenhaus in seiner ästhetischen Scheußlichkeit - die aber der Gegenwart gerade richtig angemessen ist, denn das Warenhaus ist der Stil, der Baustil der Gegenwart -, in dem drückt sich gar nichts mehr aus, was in irgendeiner Beziehung zum Menschen steht. Darum brauchen wir etwas, was wieder ausstrahlt von innen.

Vom Grund und Boden strahlte das Essentielle des Geistes so aus, daß der Mensch sagte: Was mir der Grund und Boden gibt, das Brot, das ist eine Gabe Gottes. Ja, meine Damen und Herren, es wuchs die Theokratie nicht nur vom Himmel auf die Erde herunter, es wuchs die Theokratie mit jedem Weizenhalm aus dem Boden heraus. Das lebte doch in den menschlichen Seelen. Und später, indem der Mensch das­jenige, was er erworben hatte, dem anderen abgab, begründete sich in Handel und Gewerbe ein menschliches Verhältnis.

Ein menschliches Verhältnis aber zur Maschine - es ist unmöglich. Die Maschine ist kalt, lebt kalt da. Und wir kommen nicht zu einer sozialen Urteilsbildung, weil wir nicht verstehen, dem Menschen von ganz woanders her nun einen menschlichen Inhalt zu geben, der aus der Maschine nicht so hervorkommen kann, wie aus dem Grund und Boden. Aus dem Grund und Boden wachsen Weizenhalme hervor, die eine Gabe Gottes sind für den Menschen; aus Handel und Gewerbe wächst das hervor, was zwischen Mensch und Mensch spielt, wo der Mensch das Gefühl hat: Du mußt anständig sein zu dem anderen, aus der Maschine wächst nicht gerade eine Gabe Gottes hervor; aber auch mit dem Anstand gegenüber der Maschine geht es nicht recht. Und so braucht gerade ein solches Zeitalter, das vom Industrialismus durch­setzt ist, einen Menscheninhalt, der nun nicht von dieser Erde ist, der gar nicht von dieser Erde ist, der die Seelen erfüllt aus der spirituellen Welt heraus.

So lange die Erde dem Menschen die Spiritualität gegeben hat, brauchte man nicht in freier Geistigkeit die Spiritualität zu erringen. So lange noch stark war das Gefühl von Mensch zu Mensch, brauchte

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man nicht in freier Geistigkeit die Spiritualität zu erringen. Heute sind wir darauf angewiesen, nachdem die Natur, die die Gaben Gottes gibt, sich zum großen Teil umgewandelt hat in die Welt der Produk­tionsmittel, die vom Menschen in abstrakter Weise als eine zweite Natur geschaffen worden ist, heute brauchen wir zu den Produktions­mitteln die Welt der freien Geistigkeit, die uns einen Inhalt gibt.

Mit diesem Inhalt kommt man auch heran an diejenigen, mit denen man zusammen Assoziationen bilden will. Sehen Sie, ich habe gerade von Dornach, wo wir auch ein kleines Arbeiterheer, eine kleine Arbeiter­Kompagnie haben, neuere Erfahrungen. Diese Arbeiter, die wollen nicht nur arbeiten, sie wollen auch etwas Menschliches haben. Und man ist ja auch darauf gekommen, Arbeitern etwas Menschliches zu geben. Aber man spricht ihnen von allerlei ökonomischen Dingen, von Kapitalismus, Sozialismus, Bourgeoisismus, Kommunismus und so wei­ter. Man glaubt anfangs, daß das die Leute packt. Und die Arbeiter-führer glauben am meisten, daß sie den Leuten nur davon sprechen sollten. Nun, ich fing auch zunächst an - als ich zum Schluß diese Sache selbst in die Hand nehmen mußte in Dornach -, ich fing auch zunächst an, mehr über Ökonomisches zu sprechen. Eines Tages tauchte aus der Masse der Arbeiter, die ich jedesmal das Thema selber geben lasse am Beginn der Stunde, ich rede unter diesen Leuten nicht über ein Thema, das ich selbst wähle, sondern ich lasse mir das Thema sagen am Anfang der Stunde und rede dann über das Thema - es stand einer auf, der zog unsere Zeitschrift «Die Drei» aus der Tasche und sagte, er wolle wissen, wie das eigentlich wäre, als die Erde noch ein Mond war, also unter einer ganz anderen Entwickelung stand. Und seit jener Zeit entwickelte sich die Sache so, daß über das Wesen des Menschen, über die Eingliederung des Menschen in den Kosmos, auf die Weise, wie sie die Dinge verstehen, gesprochen wird. Ich konnte unter Proletariern heute schon, denken Sie sich, so daß sie es als selbst­verständlich ansehen, von den Einflüssen aus den Tierkreisrichtungen sprechen.

Wir müssen erst die Möglichkeit finden, zu erkennen, was in den anderen drinnensitzt an Seelischem und Geistigem und was in uns drin­nen sitzt, wenn wir uns zusammensetzen wollen mit ihnen in den Assoziationen.

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Wir müssen die Klüfte überbrücken, die sich gebildet haben. Das ist dasjenige, was die erste Anforderung ist.

Daher ist die soziale Frage in ihrem tiefsten Sinne zuallererst eine geistige Frage: Wie breiten wir eine einheitlich wirkende Geistigkeit unter den Menschen aus? Dann werden wir auf wirtschaftlichem Ge­biete uns in Assoziationen zusammenfinden können, aus denen her­aus sich erst die soziale Frage in einer konkreten Weise wird gestalten und partiell - muß ich immer sagen - lösen lassen.

Aber wir denken heute noch ganz in den alten Kategorien. Wir bil­den juristisches Denken, aber wir bilden noch nicht ökonomisches Den­ken, weil - so paradox es klingt - ökonomisches Denken bedeutet: in Freiheit denken. Man braucht gerade in der Zeit, in der eine zweite Natur in den Produktionsmitteln aufgetaucht ist, in dieser Zeit, wo der Geist aus den Arbeitsmitteln, aus den Produktionsmitteln ganz ge­wichen ist, braucht man gerade eine Geistigkeit, die nun nicht geschöpft ist mehr aus der Natur, die nicht geschöpft ist in der Weise, wie sie in der Theokratie geschöpft wurde aus demjenigen, was noch mehr phy­sisch im Menschen lebte, sondern die frei errungen ist, und die aber einen Inhalt hat.

Ich weiß, daß das heute den Menschen gerade amAllerutopistischesten klingt, es ist aber das Allerpraktischeste. Sie können noch so viele soziale Gemeinschaften gründen, noch so viele Vereinigungen in die Welt schaffen, noch so viele Gewerkschaften und Genossenschaften schaf­fen - mit den Begriffen, mit dem Denken, das sich aus dem Mittelalter heraus in die neuere Zeit eingeschlichen hat, mit dem Denken kommt die soziale Frage nicht einmal in Fluß, geschweige denn zu einer par­tiellen Lösung. Die soziale Frage ist heute die Weltfrage geworden.

Aber was hat sich angeschlossen an das Denken, das den sozialen Organismus ganz im Sinne des Juristisch-Dialektischen und gewohn­heitsmäßig Moralischen beurteilt? Es hat sich angeschlossen die schöne, die erfreuliche, die wunderbare Charitas, die menschliche Barmherzig­keit, das menschliche Mitleid. Jetzt, wo die soziale Frage zu einer bren­nenden Weltfrage geworden ist, jetzt sehen wir in Westeuropa überall auftauchen die Sammelbüchsen für den Osten. Es wird gesammelt. Sehr, sehr schön! Nichts soll dagegen eingewendet werden, und ich

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möchte sagen, je mehr man beitragen kann zu diesem Sammeln, desto mehr sollte man es tun. Aber was dadurch geschieht, ist Vergangenheit, ist nicht Zukunft. Es ist das alles, auch dieses Mitleid, auch diese Cha­ritas, noch heraus gedacht aus dem Denken des Mittelalters. Und ich sehe zwei Bilder: den mittelalterlichen gotischen Dom, worinnen die prunkvollen Meßgewänder der Prälaten lagerten, jener Prälaten, die, mittlerweile ihre Meßgewänder in den Domen lagerten, in ihren eige­nen Behausungen zusammensaßen und etwas taten, was in einer merk­würdigen Weise zutage getreten ist, als eine schweizerische Zeitung vor einigen Monaten das Menu veröffentlicht hat, das Weihnachtsmenu für die Prälaten, welche in einem schweizerischen Dom einst versorgt wor­den sind während Weihnachten. Sie würden erstaunen, wenn ich Ihnen die Zahl der Schweine nennen würde, die dazumal in den heiligen Weih­nachtstagen von den Prälaten verspeist worden sind. Um diese Dome herum lagerten Heere von Armen, denen Almosen gegeben wurden. Es war ganz im Stil und Sinne des Mittelalters; anders konnte es nicht sein. So war es für die damalige Zeit das Selbstverständliche. Ob man das im heutigen Sinne schön oder häßlich findet, darauf kommt es nicht an, denn es war für die damalige Zeit das Selbstverständliche.

Aber ist es nicht dasselbe, wenn heute das Elend in Rußland auf der einen Seite steht - das sind die Armen, die vor den Domen lagern -und auf der anderen Seite gesammelt wird? Gut, sehr gut und brav. Aber die heutige soziale Frage wird damit nicht einmal berührt, ge­schweige denn auch nur irgendwie partiell gelöst. Denn man sollte nicht überhören, daß durch die Impotenz unseres sozialen Denkens heute ja überall die Stimmen hörbar sind, die nicht sagen: Wir sind dankbar für dasjenige, was man uns als Almosen gibt -, sondern die da sagen: Das ist das Allerschlimmste, daß man uns Almosen gibt, denn daraus sehen wir ja, daß es noch Menschen gibt, die Almosen geben können. Die soll es gar nicht mehr geben!

Das ist dasjenige, was man mit seinem ganzen Herzen fühlen muß als den Grundimpuls des sozialen Organismus in unserer Zeit, der eigentlich schon der Weltorganismus ist, den man aber überall bloß eigentlich im nationalen Sinne sieht. Und das ist dasjenige, was doch heute der Menschheit klar werden sollte, daß man vor allen Dingen

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etwas braucht, was die Brücke schafft zwischen den Abgründen, die in der sozialen Ordnung da sind.

Warum reden wir heute so viel von der sozialen Frage? Weil wir durch und durch antisozial geworden sind. Man redet gewöhnlich theoretisch am allermeisten von dem, was in der Empfindung und in dem Instinkt nicht da ist. Was in der Empfindung und im Instinkt da ist, darüber redet man theoretisch nicht. Wäre soziale Empfindung in der Menschheit, würde man furchtbar wenig von sozialen Theorien und sozialen Agitationen hören. Theoretiker auf irgendeinem Gebiete wird der Mensch, wenn er etwas nicht hat. Die Theorien sind eigent­lich immer über dasjenige da, was nicht real ist. Aber wir müssen heute das reale Leben suchen, darauf kommt es vor allen Dingen an. Das er­fordert mehr Mühe, als eine Theorie ausdenken. Aber der menschliche Fortschritt kommt auch in nichts weiter, wenn er sich nicht in das Leben wirklich hineinfindet, denn der theoretische Geist ist es, der unsere Welt heute zerklüftet hat, der unsere Zivilisation heute dem Chaos nahe bringt; der theoretische Geist ist es. Und der Lebensgeist, er wird uns einzig und allein weiterführen können.

Das ist es, ich muß es noch einmal sagen, was man tief im Herzen fühlen sollte als den Grundimpuls der sozialen Frage der Gegenwart. Wenn wir verstehen, wie die Menschen wiederum die Menschen finden, dann werden wir die Möglichkeit haben, auch das Soziale in die richtige Richtung zu bringen.

Was haben die höheren Stände auf einem Gebiete getan? Ja, sie haben ihre Nase hineingesteckt in das proletarische Elend und Kunst­werke daraus geformt. Vom theokratischen Gott, dem Christus, kann man eine deutliche Vorstellung haben - den Weltenrichter hat Michel­angelo gemalt. Wie derjenige aussehen muß, der aus der industriellen Ordnung heraus gestaltet wird - in Dornach versuchen wir es zu machen. Man versteht es aber heute noch nicht, weil man die spiri­tuelle Welt noch nicht mit der kaltgewordenen maschinellen Welt in eine Beziehung zu setzen vermag. Man hat noch kein Denken, das sich ebenso wie das juristische und theokratische Denken früher an die Wirklichkeit sich angelehnt hat, an die heute kalt gewordene Wirk­lichkeit anlehnen kann, diese kaltgewordene Wirklichkeit durchdringen

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kann. Deshalb haben die höheren Stände ihre Nase hineingesteckt in das Elend und so irgend etwas geformt, nun ja, wie die Dichter, Bildhauer und Maler der Gegenwart es geformt haben: Soziale Kunst. Abscheuliche Sentimentalität ist daraus geworden, weil eben die Men­schen noch nichts erfüllt von dem, was wirklich aus der freien Geistig­keit heraus sich hinzugesellen kann zu der menschlichen Ordnung. «Komm, Herr Jesu, sei unser Gast», heute gemalt, ist wirklich ein Sentimentales, Ekelhaftes, wenn man nicht mit Vorurteilen daran­geht, mit Vorempfindungen darangeht. Es handelt sich darum, daß man mit derselben Kraft aus dem Industrialismus heraus wirkt, zu dem man aber jetzt freie Geistigkeit hinzubringen muß, wie man einstmals durch die Theokratie mit der Landwirtschaft, wie man einstmals durch die Jurisprudenz mit dem Händlertum hat wirken können. So kommt es darauf an, daß der Mensch zu sozialer Denkweise, zu sozialen Kennt­nissen und Begriffen kommt, die man nicht bekommt, wenn man nicht absieht von abstrakten Begriffen wie «Kapital», «Mehrwert» und so weiter. Soziale Begriffe kann man einzig und allein bekommen, wenn man zu dem kalten Maschinellen das Warme, das offenbarende Gei­stige hinbringt. Und gerade diejenigen, die heute zwischen den Maschi­nen herumlaufen, die wollen, wenn sie es auch nicht wissen, eine wirk­liche Geistigkeit, damit sie nicht allein den alten Materialismus haben, mit dem sie sonst ihr Herz einzig und allein anfüllen.

Zum Dorf und zur Kirche ist das Land und die Stadt hinzugekom­men. Die wurden beherrscht mit einem sozialen Denken. Die Fabrik gehört nicht mehr zur Stadt. Die Fabrik ist ein neues soziales Gebilde. Die Fabrik ist aber auch herausgestellt wie ein besonderer Dämon aus der ganzen Weltordnung. Die Fabrik hat nichts Geistiges mehr an sich. Da muß das Geistige von der anderen Seite hergebracht werden. Daher ist gerade die soziale Frage heutigen Tages im eminentesten Sinne eine spirituelle Frage. Wir müssen die Möglichkeit finden, nicht nur unsere Nase hineinzustecken in das proletarische Elend, sondern wir müssen eine Geistigkeit finden, die aus unserem Herzen herauskommt in ganz naturgemäßer Weise, die aber auch aus dem Herzen desjenigen heraus­kommt, und wenn es der Mensch des untersten Standes ist, zu dem man spricht. So wie die Sonne allen Menschen scheint, so scheint dasjenige,

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was wirkliche Geistigkeit ist, nicht diesem oder jenem Stand, nicht die­ser oder jener Klasse, führt nicht diesen oder jenen Standes- oder Klas­senkampf, sondern ist für alle Menschen. Und daß alle Menschen als Einzelne in die Geschichte eintreten können, das fordert der große welthistorische Augenblick der Gegenwart.

Man hatte es früher mit Ständen, mit Klassen zu tun. Man hat es heute und wird es in der Zukunft zu tun haben mit dem Menschen; mit dem Menschen, der aus sich selber heraus eine Welt gebiert. Dazu müssen wir helfen, nicht indem wir die alten Dinge fortpflanzen und fortwursteln, sondern indem wir tatsächlich in das Tiefste des Men­schen hinuntersteigen, um das Weiteste der Welt in spiritueller Weise zu finden. Das dringt dann ganz gewiß ein in die soziale Frage.

Sehen Sie, so etwas ist gewollt worden in den «Kempunkten der sozialen Frage», weil gerade der gegenwärtige Zeitpunkt derjenige ist, wo man meinen muß, daß die Menschen nicht bloß aus ihrem theoretischen Verstande, sondern aus ihrem Herzen, aus ihrem Wollen heraus so etwas verstehen können. Derjenige, der die «Kernpunkte der sozialen Frage» als ein Buch des Verstandes nimmt, versteht es nicht. Allein derjenige versteht es, der es als ein Willensbuch, als ein Herzens-buch nimmt, das gesprochen ist aus dem Leben heraus, aus demjenigen, was heute überall unter der Oberfläche des Daseins als die wichtigsten sozialen Impulse der Gegenwart genommen werden können.

Die Materie hat es notwendig gemacht, statt einer Dreigliederung eine Zweigliederung des Vortrages zu machen, ich werde daher abschlie­ßen und mir dasjenige, was ich zur Abrundung des sozialen Problems zu sagen habe, auf morgen aufsparen.

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ZWÖLFTER VORTRAG Oxford, 29. August 1922 Der Mensch in der sozialen Ordnung: Individualität und Gemeinschaft

Meine Damen und Herren, wenn ich heute noch versuche, die Schilde­rung des sozialen Lebens der Gegenwart und der sozialen Forderungen der Zeit in einer gewissen Weise abzuschließen, so bin ich mir bewußt, daß alles dasjenige, was ich hier sagen konnte und werde sagen können über das soziale Leben und die sozialen Fragen, nur ganz spärliche Richtlinien sein können. Denn die soziale Frage in unserer Zeit ist eine sehr umfassende, sehr universelle, und vor allen Dingen sind zwei Be­trachtungen notwendig für denjenigen, der einen Gesichtspunkt ge­winnen will in der sozialen Frage. Zuerst ist es notwendig, ins Auge zu fassen den gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick der Mensch­heit, und auf der anderen Seite ist es notwendig, die unmittelbaren äußeren, irdisch-räumlichen Verhältnisse ins Auge zu fassen.

Der gegenwartige geschichtliche Augenblick der Menschheit ist ein solcher, der mit dem denkbar unbefangensten Verständnis angesehen werden muß. Man geht sehr leicht aus Vorurteilen und namentlich Vor­gefühlen über dasjenige hinweg, was in den Tiefen, ich sage nicht einmal der Menschenseelen, sondern der Menschennaturen in der Ge­genwart geschieht.

Man wird sehr leicht mißverstanden, wenn man so etwas sagt, weil fast zu jeder Zeit die Menschen es gesagt haben und es auch heute sagen:

Wir leben in einer Übergangszeit. Gewiß, wir leben immer in einer Übergangszeit, nämlich von der Vergangenheit in die Zukunft, und es handelt sich eben nicht darum, zu wissen, man lebe in einer Übergangs­zeit - das ist selbstverständlich, das ist eine Trivialität -, sondern es handelt sich darum, worinnen der Übergang charakterisiert ist, worinnen der Übergang besteht. Und da muß man sagen: Gegenwart umfaßt nicht etwa das jetzige Jahr oder auch nur das jetzige Jahrzehnt, sondern Gegenwart umfaßt einen langen Zeitraum. Vorbereitet hat

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sich dieser Zeitraum seit dem 15. Jahrhundert, und das 19. Jahrhundert bedeutete seine Kulmination. Wir stehen heute in diesem Zeitraum drin­nen, aber die Menschheit im allgemeinen hat sich noch wenig Verständ­nis erworben für das Eigentümliche dieses weitgeschichtlichen Augen­blicks, in dem wir drinnenstehen.

Man muß sagen: Was gegenwärtig, wenn man überhaupt in das soziale Leben hineinsehen will, anzuschauen notwendig ist, das ist, daß der Mensch aus alten Bildungen überall herausstrebt und lediglich Mensch sein will, freier Mensch sein will.

Daher brauchen wir heute vor allen Dingen eine Weltanschauung -wie man im Deutschen sagen kann -, eine Weltanschauung der Freiheit, hier muß man sagen, weil das Wort Freiheit hier eine andere Bedeutung hat: Eine Weltanschauung der spirituellen Aktivität, des Handelns, des Denkens, des Fühlens, aus der menschlichen geistigen Individualität heraus.

Ich versuchte im Beginn der neunziger Jahre das Bild des Menschen, wie er gegenwärtig strebt, wie er ist, wenn man nicht auf seinen Kopf, sondern auf sein Unterbewußtes sieht, in meiner «Philosophie der Frei­heit» zu zeichnen, die ja hier ins Englische übersetzt ist. Der Mensch war früher in Bindungen drinnen, die sein Denken und sein Handeln bestimmten. Man sehe sich einen Menschen des Mittelalters an: Er ist ja nicht in dem Sinne Mensch, wie der heutige, er ist vor allen Dingen der Angehörige eines Standes, einer Kaste. Er ist nicht Mensch, er ist Christ, er ist Adeliger, er ist Bürger. Alles, was er denkt, ist bürgerlich oder adelig oder priesterhaft. Der Mensch wurde erst im Laufe der letzten Jahrhunderte aus solchen Zusammenhängen gelöst. Man fragte in früheren Zeiten, wenn es sich darum handelte, sich sozial hineinzu-stellen in die menschliche Gemeinschaft als Individuum, man fragte:

Was ist gut priesterhaft? Wie verhält man sich als Priester zu den an­deren Menschen? Wie verhält man sich als Bürger zu den anderen Menschen? Wie verhält man sich als Adeliger zu den anderen Men­schen? - Heute frägt man: Wie verhält sich der Mensch, wenn er sich seiner Menschenwürde und seiner Menschenrechte voll bewußt sein kann?

Da muß aber dann der Mensch in sich etwas finden. Er muß die

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Antriebe, die ihm früher das Bürgertum, das Adelstum, das Priestertum gegeben und die ihn zu seinem sozialen Handeln getrieben haben, er muß diese Antriebe in sich selber finden. Und er kann sie nicht in seinem Körper finden, er muß sie in dem Geiste, der eingeprägt ist seiner Seele, finden. Deshalb bezeichnete ich in meiner «Philosophie der Freiheit» den sittlichen Impuls, der zu gleicher Zeit der tiefste soziale Impuls ist, das moralisch Impulsierende im Menschen, das be­zeichnete ich als moralische Intuition. Es muß etwas aufgehen in dem Menschen drinnen, was ihm sagen soll im konkretesten Falle des Lebens:

So sollst du handeln.

Sehen Sie, da ist alles auf die menschliche Individualität gestellt. Da muß man den einzelnen Menschen, die Individualität anschauen und muß voraussetzen: In diesem Herzen, in dieser Seele sind moralische Intuitionen. Darauf muß alle Erziehung hinauslaufen, diese mora­lischen Intuitionen zu wecken, so daß jeder Mensch fühlt von sich: Ich bin nicht von dieser Erde allein, ich bin nicht bloß ein Produkt der physischen Vererbung, ich bin aus den geistigen Welten herunterge-stiegen auf die Erde und habe etwas zu tun auf dieser Erde als dieser einzelne individuelle Mensch.

Aber da muß man wissen nicht bloß, daß man etwas zu tun hat, sondern was man zu tun hat. Man muß in sich finden in der einzelnen konkreten Situation darinnen, was man zu tun hat. Das muß einem die Seele sagen. Das unbestimmte Gewissen muß zur moralischen indivi­duellen Intuition werden. Das heißt: Frei werden als Mensch, das heißt: Nur bauen auf dasjenige, was in dem Menschen selber drinnen ist.

Und das haben manche Menschen sehr übelgenommen, weil sie ge­meint haben, dann sei alles Moralisch-Soziale in die Willkür des ein­zelnen Individuums gegeben. Das ist es nicht, sondern es ist gestellt auf diejenige Basis, auf der allein das soziale Leben stehen kann; näm­lich einerseits auf der Basis des Vertrauens. Dieses Vertrauen, wir müs­sen es gewinnen können auch den großen Angelegenheiten des Lebens gegenüber. Den kleinen Angelegenheiten des Lebens gegenüber, da haben wir es; denn wenn ich hier hinausgehe zur Tür, und Mr. K. begegnet mir draußen, habe ich ein unbewußtes Vertrauen, daß er nicht auf mich loskommt und mich niederstößt, indem er gerade seinen Weg

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geht; ich richte mich selber nach diesem Vertrauen ein und wir weichen einander gegenseitig aus, damit wir uns nicht stoßen. Das tun wir in den kleinen Details des Lebens. Das ist etwas, was, wenn sich der freie Mensch richtig versteht, überall in allen Angelegenheiten des Lebens angewandt werden kann. Aber es ist notwendig, daß Vertrauen herrscht von Mensch zu Mensch. In diesem Vertrauen - was ein gol­denes Wort ist -, in der Erziehung zu diesem Vertrauen, zu dem Glau­ben an den einzelnen Menschen, nicht bloß an die Nation oder an die Menschheit, in dieser Erziehung zu dem Glauben an den einzelnen Men­schen liegt dasjenige, was allein Impuls sein kann für das soziale Leben der Zukunft; denn von dem einzelnen Menschen zur Gemeinschaft führt auf der einen Seite nur dieses Vertrauen.

Und die andere Basis ist diese: wir müssen, wenn niemand dasteht, der uns zwingt, irgend etwas zu tun, den Antrieb in uns selber finden. Auch den Gefühls-, den Gemüts-, den Seelenantrieb müssen wir in uns selber finden.

Was heißt das? Wenn ich früher Priester gewesen bin, so wußte ich, wie ich eingeordnet bin in das soziale Leben. Ich brauchte da nicht gerade in ein Buch hineinzuschauen, aber ich habe gewußt: So habe ich mich zu verhalten. Hatte ich das Ordenskleid an, so wußte ich, indem ich das Ordenskleid anhabe, das legt mir ganz bestimmte Pflichten auf. Hatte ich den Adelsdegen, so wußte ich, daß der Adel meine Mensch­lichkeit bestimmt. Ich war gerichtet, ich war geordnet im sozialen Leben. War ich Bürger, war das ebenso.

Das ist etwas, was, man kann es nun tadeln oder loben, darauf kommt es nicht an, in dem gegenwärtigen Augenblick der Menschheit wegfällt. Sie können noch so viele Menschen finden, die das alles wieder zurückhaben möchten, die Weltgeschichte sagt eben anderes. Da nützt es nichts, abstrakte Programme aufzustellen für allerlei Gemein­schaften, da nützt es nur, die Weltgeschichte sich anzuschauen.

Und da kommen wir zu der Frage: Was soll jetzt der Gefühlsimpuls werden für dasjenige, was soziales Handeln ist, wenn nicht mehr die Priestertugend, nicht mehr die Bürgertugend, nicht mehr die Adelstugend, die Tugend des vierten Standes von hinten treibt?

Es kann nur das werden: wenn wir zu dem, was wir zu tun haben,

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namentlich gegenüber anderen Menschen, ein solches Vertrauen fassen können, wie wir es zu einem Menschen fassen, wenn wir ihn lieben. Frei sein heißt: in Handlungen sich ausleben, die man liebt.

Vertrauen ist das eine goldene Wort, das in der Zukunft das soziale Leben beherrschen muß. Liebe zu dem, was man zu tun hat, ist das andere goldene Wort. Und in der Zukunft werden diejenigen Hand­lungen sozial gut sein, die aus allgemeiner Menschenliebe gemacht werden.

Aber man muß diese allgemeine Menschenliebe erst verstehen ler­nen. Man muß sich nicht in bequemer Weise einreden, sie ist schon da. Sie ist eben nicht da. Und je mehr man sich sagt: sie ist nicht da, desto besser ist es. Denn diese allgemeine Menschenliebe, die muß eben die Liebe zu Taten sein, die muß aktiv werden, die muß sich in Freiheit ausleben können. Dann wird sie aber allmählich aus einem Urteil des häuslichen Herdes oder der Kirchturmnähe zu einem Universellen, zu einem Welturteil.

Und nun frage ich Sie von diesem Gesichtspunkte aus: Wie stellt sich ein solches Welturteil zum Beispiel zu dem, was jetzt als, ich möchte sagen, die furchtbarste Illustration des sozialen Chaos herzzerbrechend zu uns spricht, zu der furchtbaren Not in Osteuropa, in Rußland? Wie stellt es sich dazu?

Da handelt es sich darum, einer solchen Angelegenheit gegenüber die richtige Frage zu stellen. Und die richtige Frage ist diese: Gibt es heute auf der Erde - und die Erde muß hier angezogen werden, denn wir haben seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr Na­tionalwirtschaft, sondern Weltwirtschaft, das ist das Wichtige, was im sozialen Leben zu beachten ist -, gibt es heute auf der Erde zuwenig Nahrungsmittel für die gesamte Menschheit? Das wird niemand be­jahen. Es gibt nicht zuwenig Nahrungsmittel auf der Erde für die gesamte Menschheit! Mag einmal die Zeit kommen, dann müssen die Menschen aus ihrem Genius heraus andere Mittel finden. Heute müssen wir noch sagen: Wenn an einem Fleck der Erde unzählbare Menschen hungern, dann sind es die menschlichen Einrichtungen der letzten Jahrzehnte, die das bewirkt haben. Denn dann sind diese menschlichen Einrichtungen nicht so, daß auf den hungernden Fleck der Erde in der

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richtigen Zeit die richtigen Nahrungsmittel hinkommen. Es kommt darauf an, wie die Menschen auf der Erde diese Nahrungsmittel im richtigen Augenblick in der richtigen Weise verteilen.

Was ist geschehen? In einem historischen Augenblicke ist in Ruß­land ein großes Gebiet der Erde durch eine aus reinem Intellektualis­mus, aus reiner Abstraktion geborenen Fortsetzung des Zarentums ab­geschlossen worden von der Welt, eingesperrt worden. Ein für ein großes, aber doch für ein Territorium sich festlegendes Nationalgefühl hat Rußland abgesperrt von der Welt und verhindert, daß jene sozialen Einrichtungen über die Erde hin herrschen, die es möglich machen, daß, wenn einmal die Natur an einem Orte versagt, die Natur an einem an­deren Orte durch Menschenhände in ausgiebiger Weise eingreifen kann.

Es müssen die Blicke, die heute das soziale Elend schauen, wenn man den richtigen Gesichtspunkt hat, dahin führen, daß die Menschen «mea culpa» sagen, daß jeder Mensch «mea culpa» sagt. Denn daß der einzelne Mensch als Individualität sich fühlt, schließt nicht das aus, daß er auch mit der ganzen Menschheit sich verbunden fühlt. Man hat in der Menschheitsentwickelung nicht das Recht, sich als Individualität zu fühlen, wenn man sich nicht zu gleicher Zeit als Angehöriger der gan­zen Menschheit fühlt.

Das ist, ich möchte sagen, der Grundton, die Grundnote, die aus einer jeden Philosophie der Freiheit kommen muß, die den Menschen in einer ganz anderen Art hineinstellen muß in die soziale Ordnung. Die Fragen werden dann ganz anders.

Was ist alles gefragt worden in sozialer Beziehung in den letzten Jahrhunderten, namentlich im 19. Jahrhundert, und was ist aus diesen Fragen, die zuerst aufgetaucht sind in den höheren Ständen, bei dem Millionenproletariat geworden? Warum ist das Millionenproletariat heute auf Abwegen nach der Ansicht vieler? Weil es falsche Lehren an­genommen hat von den höheren Ständen. Es war der Schüler der höheren Stände; das Proletariat hat diese Lehren nicht selber geprägt.

Worauf es ankommt, ist, daß man einmal klar sieht. Die Leute haben gesagt: Der Mensch ist das Produkt der Verhältnisse; wie die sozialen Verhältnisse, die sozialen Einrichtungen ringsherum sind, so ist der Mensch. Andere haben gesagt: Die sozialen Verhältnisse sind so,

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wie die Menschen sie sich gemacht haben. - Alle diese Lehren sind un­gefähr so klug, als wenn jemand sagt oder frägt: Ist der physische Mensch das Produkt seines Kopfes oder das Produkt seines Magens? Der physische Mensch ist eben weder das Produkt seines Kopfes noch das Produkt seines Magens, sondern das Produkt der fortwährenden Wechselwirkung zwischen Kopf und Magen. Die müssen immer zu­sammenwirken. Der Kopf ist Ursache und Wirkung; der Magen ist Ursache und Wirkung. Und wenn wir tiefer eingehen auf die mensch­liche Organisation, so finden wir sogar, daß der Magen vom Kopf gemacht wird; denn im embryonalen Leben entsteht zuerst der Kopf, und dann bildet sich erst der Magen; und dann wiederum macht der Magen den Organismus. So müssen wir nicht fragen: Sind die Ver­hältnisse, das Milieu die Ursache, daß die Menschen so und so sind? Oder sind es die Menschen, die das Milieu, die Verhältnisse gemacht haben? Wir müssen uns klar sein, daß jedes Ursache und Wirkung ist, daß alles ineinanderwirkt, und daß wir vor allen Dingen heute die Frage aufwerfen müssen: Was für Einrichtungen müssen da sein, damit die Menschen die richtigen Gedanken haben können in sozialer Be­ziehung? Und was für Gedanken müssen da sein, damit im Denken auch diese richtigen sozialen Einrichtungen entstehen?

Die Menschen haben nämlich gerade, wenn es auf das äußere prak­tische Leben ankommt, die Ansicht: Erst kommt dieses, dann kommt dieses. Damit kommt man in der Welt nicht vorwärts. Man kommt nur vorwärts, wenn man im Kreise denkt. Da denken aber die meisten Menschen: Da geht einem ein Mühlrad im Kopfe herum. Das können sie nicht. Man muß im Kreise denken; man muß sich denken, wenn man die äußeren Verhältnisse anschaut, sie sind vom Menschen gemacht, aber sie machen auch die Menschen; oder wenn man die menschlichen Handlungen anschaut, sie machen die äußeren Verhältnisse, aber wer­den auch wiederum getragen von den äußeren Verhältnissen. Und so müssen wir fortwährend mit unseren Gedanken hin- und hertanzen, wenn wir die Wirklichkeit haben wollen. Und das wollen die Menschen nicht. Die Menschen möchten, wenn sie irgend etwas anordnen, vor allen Dingen ein Programm: Erstens, zweitens, drittens bis zwölftens meinetwegen, und zwölf ist das letzte und eins ist das erste. Aber das

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ist leblos. Denn jedes Programm muß so sein, daß man es auch um­kehren kann, daß man auch bei zwölf anfangen kann bis eins zurück, geradeso wie der Magen den Organismus ernährt, und wenn die Ner­ven, die unter dem kleinen Gehirn liegen, nicht ordentlich sind, kann nicht ordentlich geatmet werden. Geradeso wie das sich umkehrt im Leben, so hat man auch im sozialen Leben hinzuschauen darauf, daß alles sich umkehrt.

Und so hat mein Buch: «Die Kernpunkte der sozialen Frage» aus den sozialen Verhältnissen heraus Leser voraussetzen müssen, welche mit ihren Gedanken sich umkehren können. Aber das wollen die Men­schen nicht, sie wollen vom Anfang bis Ende lesen und dann wissen: Jetzt haben sie das Ende erreicht. Daß das Ende der Anfang ist, darauf wollen sie nicht eingehen. Und so war das das ärgste Mißverständnis dieses sozial gemeinten Buches, daß man es falsch gelesen hat. Und man fährt fort, es falsch zu lesen. Man will sich nicht mit den Gedanken dem Leben anpassen, sondern man will, daß das Leben sich dem Denken an­passe. Das ist aber ganz und gar nicht die Voraussetzung der sozialen Einrichtungen, die diesen Darstellungen zugrunde liegen. Ich werde dies dann gleich im nächsten Teile fortsetzen.

Meine Damen und Herren, als die Dreigliederung des sozialen Organismus anfing etwas besprochen zu werden unter den Menschen, da konnte ich ein merkwürdiges Urteil hören. Die Dreigliederung wirft ihren Blick auf die drei Strömungen im sozialen Leben, die ich in diesen Tagen charakterisiert habe, auf das Geistesleben als solches, wie es heute besteht als Erbschaft der Theokratie; denn alles geistige Leben ist zum Schluß zurückzuführen auf dasjenige, was in den Theokratien zunächst als Ursache gelegen hat. Zweitens auf dasjenige, was ich juristisch-staatliches Leben nenne; drittens auf dasjenige, was ökonomisches, wirtschaftliches Leben zu nennen ist. Als der Blick auf die drei Ideen der Dreigliederung, den Impuls der Dreigliederung geworfen wurde, da kamen zunächst diejenigen Menschen, die vielleicht mit ihrem Kör­per ganz gut in der Welt drinnenstehen, vielleicht sogar Fabrikanten sind in ihrem äußeren Leben, Pastoren sind in ihrem äußeren Leben, also mit ihrer Leiblichkeit irgendwo im äußeren Leben lokalisiert sind,

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sie kamen und sie dozierten nun: Ach ja, nun können wir froh sein, nun taucht eine neue Idee auf, die endlich wieder die alte grandiose Plato-­Idee zur Geltung bringt, denn es ist ja nur ein Aufwärmen desjenigen, was Plato als Gliederung der Menschen hingestellt hat in Nährstand, Wehrstand, Lehrstand. Da haben wir den alten Plato wiederum zu Ehren gebracht.

Nun, meine Damen und Herren, ich hatte nichts anderes zu sagen, als: Für all jene Menschen, die zunächst, wenn eine neue Idee auf­taucht, in die Bibliothek gehen und nachschauen, wo die registriert ist, mag das so sein; für denjenigen, der die Dreigliederung versteht, ist die Dreigliederung das Gegenteil von dem, was Plato geschildert hat als Nährstand, Wehrstand und Lehrstand, das genaue Gegenteil. Und zwar, weil Plato so und so viel Jahre vor dem Mysterium von Golgatha gelebt hat. Für die damalige Zeit war die Gliederung im Nährstand, Lehrstand und Wehrstand richtig; heute sie wiederum auffrischen zu wollen, ist absurd. Denn bei der Dreigliederung des sozialen Organis­mus handelt es sich nicht darum, daß hier wiederum die Menschen gegliedert werden, so daß einer drinnensteckt in dem Lehrstand, der andere in dem Wehrstand, in dem juristischen und Kriegerstand, der andere drinnensteckt in dem Nährstand, sondern es handelt sich um Einrichtungen, um Institutionen, in denen abwechselnd jeder drinnen sein kann, weil wir es in der neueren Zeit mit Menschen zu tun haben, und nicht mit Ständen. So daß es sich darum handelt, daß eine Insti­tution da ist, in welcher universell das geistige Leben des Menschen gepflegt wird, das lediglich auf die Fähigkeiten der Individualitäten gebaut sein muß; daß zweitens da ist die staatlich-juristische Insti­tution in ihrer Selbständigkeit, ohne Intentionen, die anderen Glieder des sozialen Organismus zu verschlingen, und daß drittens da ist eine Institution, die rein wirtschaftlich ist.

Die staatlich-juristische wird es zu tun haben mit all dem, was der einzelne Mensch mit dem anderen abzumachen hat, was von Mensch zu Mensch festzusetzen ist.

Im geistigen Leben kann nicht jeder ein Urteil haben; im geistigen Leben kann jeder nur das Urteil haben, zu dem er befähigt ist. Da muß alles aus der Individualität herauskommen. Das geistige Leben muß auf

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die Individualitäten gebaut sein. Das geistige Leben macht notwendig, daß es ein in sich geschlossener, einheitlicher Körper ist. - Sie werden sagen: Das ist es nicht. - Aber ich werde gleich darauf zu sprechen kommen.

Das staatlich-juristische Leben macht es notwendig, daß die Men­schen im Sinne der schon einmal heraufgekommenen Demokratie, wo der Mensch als Mensch Gelegenheit hat, von Mensch zu Mensch sich verständigen zu können über dasjenige, worüber jeder Mensch ein Urteil haben muß, worüber es nicht Sach- und Fachkenntnis gibt, son­dern worüber jeder Mensch ein Urteil haben muß. Es gibt ein solches Gebiet des Lebens, das ist das Juristisch-Staatliche.

Und drittens das ökonomische Gebiet. Da zeigt sich, wie da alles nicht von dem einzelnen Urteil ausgehen kann - das Urteil des ein­zelnen ist gleichgültig, denn es kann niemals richtig sein -, sondern von den Assoziationen, von den Gemeinschaften der Menschen, die aus dem Zusammenfluß ihrer Urteile ein gemeinschaftliches Urteil heraus zustande bringen. Nicht darauf kommt es an, daß man sagt, man solle den Staat oder sonst irgendeine Gemeinschaft in drei Glieder teilen, sondern darauf kommt es an, daß von diesen drei Gliedern jedes dasjenige tun kann, was es tun soll, damit der soziale Organismus richtig wirkt.

Mit der Denkweise, die ich hier vertrete, meine Damen und Herren, kann man drinnenstehen in der Welt. Man kann unter Umständen ich will jetzt nur hypothetisch das anführen -, man kann aus seinen Fähigkeiten heraus das oder jenes wollen, man kann vielleicht sogar die Geschicklichkeit, die Technik dazu haben, das oder jenes zu wollen; aber dasjenige, was man selber als Mensch tut, wird ja weiter getan durch andere Menschen. Ich handle; darauf kommt etwas an, aber nicht alles und nicht die Hauptsache. Es kommt darauf an, daß meine Handlung von dem anderen verständig weitergeführt wird, daß sie weiter von einem dritten, vierten, xten geführt wird. Dazu muß aber der soziale Organismus so geführt werden, daß die Spuren meiner Handlung nicht verschwinden. Sonst tue ich etwas in Oxford; es wird weiter getan, weiter getan; aber in Whitechapel ist keine Spur mehr davon vorhanden. Dann sehen wir nur das äußere Symptom, dann

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sehen wir nur, daß dort Elend ist. Das Elend muß aber hervorgehen, wenn die menschlichen Kräfte nicht in der richtigen Weise eingehen können in den sozialen Organismus.

Wir schauen nach Rußland - Elend. Warum? Weil die sozialen Kräfte nicht richtig eingreifen können in den sozialen Organismus; weil der soziale Organismus nicht in der richtigen Weise nach seinen naturgemäßen drei Gliedern gegliedert ist. Wenn ein sozialer Organis­mus so gegliedert ist, daß darinnen das Geistesleben frei auf die Indivi­dualitäten gestellt ist, daß ein juristisch-staatliches Leben da ist, welches alle die Angelegenheiten ordnet, wofür jeder Mensch kompetent ist, gleichgültig was er für einen Bildungsstand und so weiter hat, und wenn drittens ein selbständiges wirtschaftliches Leben da ist, das es nur zu tun hat mit Produktion, Warenkonsumtion und Zirkulation, dann ist dieser Organismus so gegliedert, daß die einzelne Handlung, die einer tun kann, wirklich so durchfließt durch den sozialen Organismus, wie das Blut durch den Menschen durchfließt.

Ja, das kann man aus einer wirklichen realen Welterkenntnis her­aus. Aber aus einer solchen realen Welterkenntnis heraus müssen es auch die Menschen verstehen. Wenn heute so etwas gesagt wird, und es kommt dann jemand und erklärt es theoretisch mit doktrinärem Marxismus und Intellektualismus, dann wird das natürlich gar nicht aufgefaßt, dann weiß man gar nicht, was der nun meint, der nun nicht an der Oberfläche bleibt und an der Oberfläche das Elend sieht, und sagt: Da kann man nichts bessern, man muß erst die Menschen in solche soziale Zusammenhänge hineinbringen, daß aus den Zusammenhängen der Menschen heraus das Elend verschwindet. Das ist es.

Und da müssen wir uns klar sein, allmählich hat das, was ursprüng­lich Theokratie war, vom Leben sich entfernt. Denn in denjenigen Stätten, wo die ursprünglichen Theokraten gelebt haben, da gab es keine Bibliotheken, da war nicht die Wissenschaft in Bibliotheken ein­gereiht; da setzte man sich nicht hin, wenn man sich vorbereitete, um eine Wissenschaft zu beherrschen, und studierte alte Bücher, sondern da lebte man mit dem lebendigen Wesen des Menschen. Da sah man den Menschen an. Da fragte man sich: Was ist da draußen mit dem Men­schen zu tun. Die Bibliothek war die Welt. Man schaute nicht in Bücher,

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sondern auf die menschliche Physiognomie, man achtete auf mensch­liche Seelen, man las in ihnen; man schaute nicht in die Bücher hinein, sondern man schaute auf die Menschen. In die Bibliotheken ist all­mählich unsere Wissenschaft hineingegangen oder sonst irgendwie aufgespeichert, vom Menschen getrennt.

Wir brauchen ein Geistesleben, das wiederum ganz in der Welt drin­nensteht, wir brauchen ein Geistesleben, wo die Bücher aus dem Leben heraus geschrieben sind, ins Leben hinein wirken und nur Anregungen sind für das Leben, nur Mittel und Wege sein wollen für das Leben. Wir müssen aus der Bibliothek heraus. Wir müssen gerade im geistigen Leben in das Leben hinein. Und wir müssen ein Erziehungswesen haben, das nicht nach Regeln verfährt, das nach den Kindern verfährt, die real da sind, nach Menschenkenntnis; aus Menschenkenntnis heraus die Kinder kennenlernt und aus dem Kinde selbst herausliest, was zu tun ist jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr.

Wir brauchen ein staatlich-juristisches Leben, in dem Mensch dem Menschen gegenübersteht, wo nur nach dem geurteilt wird, wozu eine berechtigte Kompetenz jeder einzelne hat, wie ich schon sagte, gleich­gültig in welchem Beruf, in welcher sonstigen Situation er drinnensteht. Das gehört in das staatlich-juristische Leben hinein; was alle Men­schen gleich macht.

Was wird dann in das geistige Leben hineinkommen, wenn das gei­stige Leben so aufgefaßt wird, wie ich es jetzt beschrieben habe? Vom wirtschaftlichen Leben wird von selbst nach und nach die Kapitalver­waltung in das geistige Leben hineinkommen. Schimpft man heute über den Kapitalismus - man kann ja nichts machen gegen den Kapi­talismus, man braucht doch den Kapitalismus. Es handelt sich nicht dar­um, daß Kapital da ist, Kapitalismus da ist, sondern: welche sozialen Kräfte in dem Kapital und Kapitalismus wirken. Der Kapitalismus ist entstanden aus der geistigen Erfindungsgabe der Menschheit. Er ist schon aus dem Geistigen heraus entstanden durch Arbeitsteilung und geistige Erkenntnis. Ich habe nur zur Illustration, weil ich keine Utopie geben wollte, in meinen «Kernpunkten» gesagt, wie etwa dieses Hin-strömen des Kapitals zum geistigen Glied des sozialen Organismus ge­schehen könnte, indem derjenige, der zunächst Kapital erworben hat

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und dadurch Kapital arbeitend hat, und mit seiner eigenen Person bei dieser Arbeit des Kapitals dabei ist, indem der so, wie man es heute mit den Büchern macht, die nach dreißig Jahren an die Allgemeinheit übergehen, dafür sorgt, daß das Kapital an die Allgemeinheit über­geht. Ich habe es nicht als einen utopischen Standpunkt aufgestellt, sondern gesagt, so könnte man vielleicht dazu kommen, dem Kapital diese Strömung zu geben, so daß es, statt daß es überall stockt, in die Blutzirkulation des sozialen Lebens hineinkomme. Alles das, was ich gesagt habe, ist gesagt als Illustration, sind nicht Dogmen, nicht uto­pische Begriffe, sondern ich wollte etwas anführen, was vielleicht durch die Assoziation geschehen wird.

Es kann vielleicht aber etwas ganz anderes geschehen. Derjenige, der lebensvoll denkt, setzt nicht Dogmen hin, die ausgeführt werden sollen, sondern rechnet mit Menschen, die aus ihrem Zusammenhang dasjenige herausbringen, was sozial ziel- und zweckvoll ist, wenn diese Menschen in der richtigen Weise in den sozialen Organismus hinein­gestellt sind. Überall ist gerechnet mit Menschen und nicht mit Dogmen. Aber ich habe es ja erleben müssen: Dasjenige, was eigentlich gemeint war mit den «Kernpunkten», ist gar nicht diskutiert worden. Dagegen haben die Leute gefragt: Wie wird man es dahin bringen, daß das Kapital sich nach so und so viel Jahren an den Fähigsten vererbt? Und so weiter. Die Menschen wollen ja nichts Wirkliches, wollen nur Utopien. Das ist es aber, was gerade gegen die unbefangene Aufnahme eines solchen Impulses spricht, wie er in der Dreigliederung vorliegt.

Und so wird man sehen, wenn das juristisch-staatliche Leben in der richtigen Weise sich auswirken kann, daß dieses juristisch-staatliche Leben vor allen Dingen dann die Arbeit des Menschen einbezieht. Die Arbeit des Menschen steckt ja heute ganz im wirtschaftlichen Leben drinnen. Sie wird nicht behandelt als etwas, was von Mensch zu Mensch bestimmt wird. Ich habe etwa 1905 einen Aufsatz geschrieben über die soziale Frage, und habe da klarmachen wollen, daß unter unserer heu­tigen Arbeitsteilung Arbeit nur eine Ware wird, indem sie hineinfließt in den ganzen übrigen Organismus. Für uns selber hat in Wirklichkeit unsere Arbeit nur einen Scheinwert. Nur was die anderen für uns tun, hat einen Wert; während das, was wir tun, für die anderen einen Wert

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haben soll. Das ist etwas, was die Technik schon erreicht hat. Nur sind wir mit unserer Moral noch nicht nachgekommen. Technisch, inner­halb der heutigen sozialen Ordnung, kann man nichts für sich machen, nicht einmal einen Rock. Sogar wenn man sich den Rock selber macht, so hat er einen solchen Preis, wie er ihn haben würde, wenn er innerhalb der ganzen sozialen Ordnung von einem anderen gemacht wird. Das heißt, was den Rock ins Ökonomische hineinstellt, das ist universell, ist aus der Gemeinschaft heraus bestimmt. Es ist nur ein Scheingebilde, wenn man meint, der vom Schneider für sich selbst hergestellte Rock sei billiger. Man kann das ausrechnen mit Zahlen, da erscheint es bil­liger. Würde man es aber hineinstellen in eine Gesamtbilanz, so würde man sehen: Ebensowenig wie man aus seiner eigenen Haut herausfahren kann, ebensowenig kann man, indem man sich selber ein Kleidungs­stück macht, das Ökonomische ändern oder ausschalten. Auch das Kleidungsstück, das man für sich selbst gemacht hat, muß insgesamt bezahlt werden. Die Arbeit ist dasjenige, was der Mensch für den Men­schen macht, die nicht darnach geordnet werden kann, wieviel Arbeits­zeit man in der Fabrik braucht. Die Bewertung der Arbeit führt im eminentesten Sinne hinein in das Gebiet des Rechts, der staatlich-juristischen Ordnung.

Daß das nicht unzeitgemäß, sondern zeitgemäß ist, das können Sie daraus entnehmen, daß die Arbeit überall geschützt wird, gesichert wird und so weiter. Aber das sind alles nicht halbe, das sind Viertelsmaß­regeln, die nur dann voll zur Geltung kommen können, wenn eine richtige Dreigliederung des sozialen Organismus da ist. Denn dann wird erst der Mensch dem Menschen gegenüberstehen und wird erst die Arbeit eine richtige Regelung finden, wenn Menschenwürde gegen Menschenwürde sprechen wird, aus dem heraus, für das alle Menschen kompetent sind.

Dann werden Sie sagen: Ja, da kann einmal nicht genügend Arbeit da sein, wenn auf diese Weise im demokratischen Staat dann die Arbeit bestimmt wird. Ja, da ist einer der Punkte, wo das Soziale hineinführt in das Allgemein-Historische, in die allgemeine Menschheitsentwicke­lung. Das wirtschaftliche Leben darf nicht die Arbeit bestimmen. Es muß eingeschlossen sein auf der einen Seite zwischen der Natur, auf

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der anderen Seite zwischen der staatlich festgesetzten Arbeit. Geradeso­wenig wie ein Komitee jetzt bestimmen kann, wie viele Regentage im Jahre 1923 da sein sollen, damit man richtig wirtschaften kann im Jahre 1923, wie man das hinnehmen und damit rechnen muß als einem Gegebenen, mit demjenigen, was die Natur gibt, so wird man auch im selbständigen wirtschaftlichen Organismus rechnen müssen mit dem Gegebenen als mit einer Arbeitsmenge, die innerhalb des staat­lich-juristischen Organismus sich ergibt. Das kann ich nur im allge­meinen erwähnen als eine Charakteristik.

Im ökonomischen Glied des sozialen Organismus werden die As­soziationen dastehen, in denen werden Konsumenten und Produzenten und Händler in gleicher Weise aus ihren Lebenserfahrungen heraus ein assoziatives Urteil - nicht ein individuelles, das gar keine Bedeu­tung hat -, ein assoziatives Urteil abgeben. Das kann man heute nicht erreichen, wenn man die kleinen Ansätze nur verfolgt, welche da sind. Daß diese kleinen Ansätze da sind, beweist, daß unbewußt in der Menschheit die Intention besteht, es so zu machen. Man gründet Genos­senschaften, Gewerkschaften, alle möglichen Gemeinschaften. Gewiß, das bezeugt, daß der Drang da ist. Aber wenn sie heute eine Genossen­schaft gründen neben der übrigen sozialen Ordnung, so muß diese Ge­nossenschaft entweder hineinwachsen in die übrige soziale Ordnung, gerade solche Preise haben, geradeso die Ware auf den Markt bringen, wie dies üblich ist, oder aber sie muß zugrunde gehen. Dasjenige, um was es sich bei der Dreigliederung des sozialen Organismus handelt, ist nicht, aus einem utopistischen Gedanken heraus Wirklichkeiten zu schaffen, sondern das, was wirklich ist, anzufassen; diejenigen Insti­tutionen, die gegenwärtig da sind, diejenigen, die konsumieren, die produzieren, der Unternehmer, das, was da ist selber ohne Neugrün­dung, das soll in Assoziationen zusammengefaßt werden. Man soll gar nicht fragen: Wie gründet man neue Assoziationen? - Sondern: Wie faßt man die wirtschaftlichen Verbände, die wirtschaftlichen Insti­tutionen, die da sind, in Assoziationen zusammen? - Dann wird vor allen Dingen innerhalb dieser Assoziationen aus der wirtschaftlichen Erfahrung heraus eines richtig erfolgen, woraus tatsächlich eine so­ziale Ordnung kommen kann - wie aus dem gesunden menschlichen

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Organismus eben die menschliche Gesundheit kommt im menschlichen Leben -, eine ökonomische Zirkulation: Produktionsgeld, Leihgeld und Schenkungsgeld, Stiftung. Ohne daß diese drei Glieder darinnen sind, gibt es keinen sozialen Organismus. Man kann heute noch so viel wettern gegen die Stiftungen, Schenkungen, sie müssen da sein. Die Menschen machen sich nur etwas vor. Sie sagen sich: Ja, in einem gesunden sozialen Organismus gibt es keine Schenkungen. Aber sie zahlen ihre Steuern. Die Steuern sind ja nur der Umweg; denn darin sind die Schenkungen, die wir an die Schulen und so weiter abgeben, das sind die Schenkungen.

Die Menschen sollten aber eine solche soziale Ordnung haben, wo sie immer sehen, wie die Dinge laufen, und sich nicht etwas vormachen. Wenn sie das soziale Leben herauskriegen allmählich aus demjenigen, was jetzt konfundiert alles in sich enthält, dann werden sie, wie sie jetzt in dem gesunden menschlichen Organismus das Blut laufen sehen, so das Geld laufen sehen als Produktionsgeld, Leihgeld, Schenkungs-geld. Und sie werden sehen, wie mit dem Menschen zusammenhängt auf der einen Seite im Handels-, Zirkulations-, Produktions- und Er-werbsgeld dasjenige Geld, das angelegt wird, damit es auf dem Wege des Leihens, indem es verzinst wird, wiederum in die Produktion über­geht, und auf der anderen Seite das Schenkgeld, das zufließen muß dem, was freies Geistesleben ist.

So nur können die Menschen am sozialen Geschehen teilnehmen, daß jeder in der freien Assoziation sieht: So läuft das Leben - dann kann Gesundheit hineinkommen in den sozialen Organismus. Dieser Dreigliederungsidee gegenüber ist alles abstrakte Denken verpönt. Da gibt es nur lebendiges Denken.

Aber wir haben ja heute auch im Ökonomischen nicht mehr leben­diges Denken. Wir haben überall abstraktes Denken. Denn wo lebt denn die heutige Ökonomie? Wie hat sie begonnen, als sie sich herausge­arbeitet hat aus der Zeit, wo man noch irgendeinen schmutzigen Fetzen Papier genommen hat und sich seine Einnahmen und Ausgaben aufge­schrieben hat. Als die Sache komplizierter geworden ist, da nahm man dafür diejenigen, die im Priestertum waren, die Kleriker; die wurden die Schreiber. Die leiteten nun von ihren Kenntnissen aus dasjenige, was

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sie verstanden von dem äußeren Leben. Heute - wer ist der Nach­folger des Klerikers, des Schreibers, der aus der Kirche heraus genom­men wurde, um die Ökonomie des Fürsten zu registrieren? Das ist der Buchhalter. Der Buchhalter, er hat in seinem Kassabuch, in seinem Hauptbuch nur noch eine ganz kleine Erinnerung daran, die auch nur noch in wenigen Gegenden vorhanden ist. Wenn man aufschlägt die erste Seite - ich weiß nicht, ob es hier auch noch so ist - da steht: «Mit Gott.» Solche Buchhaltungsbücher gibt es in gewissen Gegenden. «Mit Gott» steht da. Es erinnert noch an alte Zeiten. Wenn man weiter-blättert, da findet man wenig, was «mit Gott» ist. Nun, da ist hinein abstrahiert alles dasjenige, was aber volles Leben sein muß, was in den Assoziationen als Leben dastehen muß, was nicht in die Bücher hin­einkommen kann.

Und so handelt es sich bei der Dreigliederung wirklich nicht darum, wiederum in alter Weise, diese Begriffe, die wir haben: Geistesleben, Staatsleben, wirtschaftliches Leben so herumzukollern, und ein bißel anders herumzukollern, als man es in der jüngsten Zeit versucht hat, herumzukollern; sondern es handelt sich darum, überhaupt einmal den Begriff des Organismus zu erfassen, und dasjenige, was allmählich so ungeheuer stark hineingedrängt hat in das Abstrakte, wiederum zum Leben zurückzuführen. In diesem Zurückführen zum Leben liegt das­jenige, worauf es ankommt. Denn in den Assoziationen des Wirt­schaftslebens werden alle sitzen; auch die Vertreter des geistigen Lebens werden drinnensitzen, denn sie essen. Es werden die Staatsvertreter drinnensitzen. Und umgekehrt werden in den anderen Gliedern alle drinnen sein.

Dann aber ist etwas die notwendige Folge, was die Leute furcht­bar schockiert, wenn man in der Gegenwart davon spricht - natürlich setzt man manchmal etwas Paradoxes hin, um die Sache genauer zu charakterisieren. Ich habe einmal einem Industriellen, der ein ausge­zeichneter Mensch auf seinem Gebiete ist, gesagt: Wir werden erst recht ins Leben hineinkommen, wenn Sie in der Fabrik einen Menschen haben, der sich ins volle Leben der Fabrik hineinstellt, der mit seinem ganzen Wesen dadrinnen steht; dann kommt irgendeine Hochschule, eine technische Hochschule, die nimmt sich diesen Menschen aus der

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Fabrik heraus, nicht den, der gerade zubereitet ist, sondern diesen aus dem Leben heraus nimmt sie. Sie stellt ihn hin, damit er nun fünf oder zehn Jahre dasjenige den Jungen oder Mädchen zu sagen hat, was zu sagen ist aus dem Leben. Dann, wenn das ein bißchen altbacken ge­worden ist, mag er wieder zurückgehen in die Fabrik. - Es wird das Leben kompliziert, aber das fordert die Zeit, das läßt sich nicht anders machen.

Geradeso wie immer neues Leben die soziale Ordnung durchströmen wird, oder die soziale Ordnung wird in die Dekadenz kommen, so muß man sagen: Entweder muß der Mensch wirklich Mensch werden, das heißt, er muß mit seinen Fähigkeiten zirkulieren können im sozialen Organismus, oder wir kommen in die Dekadenz hinein. Man kann ja die Dekadenz wählen, wenn man will, wenn man auf dem alten Stand­punkt stehenbleiben will; aber Stehenbleiben, das läßt uns eben die Evo­lution nicht. Das ist es, auf was es ankommt.

Abschließend möchte ich sagen: Ich konnte mehr in einem Gefühle entwickeln, was von dem Gesichtspunkte aus, von dem ich hier sprach, zu sagen war. Dieser Gesichtspunkt soll nicht in einseitiger Weise als ein spiritueller aufgefaßt werden, sondern spirituell nennt er sich nur deshalb, weil er aus dem Geiste des Lebens heraus sein will. So konnte ich mehr nach dem Gefühl den Impuls nur charakterisieren, der ja leben soll durch diese soziale Idee. Mehr kann man nicht in drei Vor­trägen.

Aber, meine Damen und Herren, daß ich dieses konnte und durfte hier, das ist dasjenige, wofür ich Ihnen jetzt, wo ich diese Vorträge ab­schließen werde, auf das allerherzlichste danke. Ich empfinde diesen Dank wirklich im tiefsten Herzen in erster Linie gegenüber Mrs. Mackenzie an der Spitze dieses Komitees, ohne deren Bemühungen die ganze Oxforder Unternehmung unmöglich hätte zustande kommen können. In erster Linie sei Mrs. Mackenzie der aufrichtigste, herzlichste Dank ausgesprochen, und dann dem ganzen Komitee, das ihr hilfreich zur Seite gestanden hat. Insbesondere danke ich auch dafür, daß das­jenige, was wir durften einordnen als Künstlerisches dem Streben, das wir von Dornach aus in die Welt hineinschicken möchten, daß auch das

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Eurythmisch-Künstlerische in konkreter Art hat hier zur Geltung kom­men dürfen in Oxford während dieses Meetings. Dafür allen den­jenigen, die sich dafür Verdienste erworben haben, herzlichsten Dank! Sie werden fühlen, daß dieser Dank ein ernster sein muß, wenn ich Ihnen sage, daß ja doch das Goetheanum in Dornach hingestellt worden ist als ein Ausgangspunkt für dasjenige, was erst real wird, wenn solche Dinge geschehen, wie sie jetzt hier in Oxford geschehen sind. Und daß das Verständnis und gute Herzen braucht, das werden Sie aus dem er­sehen können, was ich nicht als Anspielung sage, wirklich nicht, aber erwähnen doch möchte, daß wir wohl werden im November unseren Bau unterbrechen müssen, nicht werden fortsetzen können, weil wir nicht die nötigen Geldmittel haben. Wir glauben aber, daß sie noch in der Welt vorhanden wären, und daß also auch da irgendwo etwas stockt. Wenn die Sachen so weitergehen, wie sie im richtiggehenden sozialen Organismus weitergehen würden, dann - aber das ist etwas, was uns in Dornach gerade mit der allergrößten Sorge bedrückt, daß dieses Werk unternommen wurde und durch die Ungunst der Zeitverhält­nisse, wenn nicht zur rechten Zeit sich Verständnis für die Fortsetzung findet, unterbrochen werden müßte. Ich will das aus dem Grunde er­wähnen, damit Sie sehen, wie herzlich der Dank gemeint ist, den ich Ihnen hier ausspreche.

Wenn ich den Versuch gemacht habe, auf der einen Seite das Er-ziehungsmäßige auseinanderzusetzen, auf der anderen Seite das So­ziale, so möchte ich doch darauf aufmerksam machen, daß das von Dornach aus gepflegt werden soll als ein Universelles. Zunächst ist ja vom Weltanschauungs-, vom Erkenntnisstandpunkte ausgegangen wor­den, als die anthroposophische Bewegung gegründet worden ist. Und erst als Menschen gesehen haben und gefühlt haben in unserer Zeit aus dem, was in unserer Zeit an Niedergangskräften lebt, daß in erzie­herischer Weise und auch in sozialer Weise etwas geschehen muß, da sind die Menschen herangekommen an mich mit der Frage: Was hat Anthroposophie zu sagen für Schulgründungen, die mit dem vollen Leben rechnen, mit einer Zukunft, die aus den tieferen Menschen-kräften hervorgeht? Denn aus der Oberfläche der Menschenkräfte läßt sich für die Zukunft zunächst nichts gewinnen.

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Nicht aus irgendeiner Schrulle heraus, auch nicht aus einer ab­strakten Idee ist die erzieherische Strömung entstanden, sondern weil Menschen gekommen sind, die an die Anthroposophie diese Frage ge­stellt haben, die wissen wollten, was Anthroposophie da zu sagen habe aus dem Leben heraus, nicht aus einer sektiererischen Bestrebung.

Und in noch höherem Maße war das der Fall mit der sozialen Frage. Auch da sind Menschen, denen das Herz brach über dasjenige, was in der Gegenwart in den Niedergang hineinführt, gekommen und wollten wissen, was anthroposophische Erkenntnis an wirklichem Eindringen in die Realität zu sagen hat über Impulse, die von der Gegenwart in die Zukunft hineingeschickt werden sollen.

Daß ich hier Verständnis dafür fand, dafür sage ich am Schlusse meinen herzlichsten Dank, indem ich noch betone, daß dasjenige, was gerade so gesagt werden muß, darauf angewiesen ist, daß es aufge­nommen wird in das volle Leben, daß es aus dem College hinauswirkt in die Welt, wo die Menschen stehen, daß es also nicht antiquarische Wissenschaft sei, sondern daß gerade in den Stätten des geistigen Lebens die Impulse entstehen, die bewirken, daß auch in den Fabriken die richtigen Menschen stehen, die gerade das Kapital verwalten, von denen Leben ausgeht. Daß das charakterisiert wurde mit Beispielen, die sich darbieten, wird man mir nicht übelnehmen, wenn ich auf der anderen Seite wiederhole, was ich schon mehrmals gesagt habe, daß es mir mit ein ganz besonderes beglückendes Gefühl war, diese Im­pulse hier in Oxford auseinandersetzen zu können, wo jeder Schritt auf die Straße inspirierend wirkt aus dem ehrwürdigen Alter heraus, wo das ganz besonders wirkt> was derjenige braucht, der aus dem Geiste heraus sprechen will.

In älteren Zeiten war nicht der Geist lebendig, der heute lebendig werden muß, und der in die Zukunft hinein wirken soll, aber es war Geist lebendig. Und dieser Geist kann inspirierend wirken. Deshalb war es mir auch tief befriedigend, gerade hier unter dem Eindruck des Altehrwürdigen, des Verehrungswürdigen in Oxford diese Vorträge halten und diese Anregungen geben zu dürfen.

Ich muß zum Schluß noch einen Dank aussprechen. Sie werden alle verstehen, daß ich außerordentlich dankbar bin Mr. Kaufmann, der

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mit großer Liebe hier die Übersetzungen geleistet hat. Wenn man weiß, wieviel Mühe die Übersetzung verhältnismäßig schwieriger Dinge macht, wieviel das von den Kräften des Menschen auch in kurzer Zeit wegnehmen kann, dann weiß man zu würdigen, welche Arbeit gerade Mr. Kaufmann in den letzten Wochen in Oxford für diese Holiday-Konferenz geleistet hat. Ich spreche ihm hier, und hoffentlich tun das auch noch viele, diesen Dank aus, und bitte, daß er mir diesen letzten Übersetzerdienst noch tut, und dasjenige, was ich eben hier gesagt habe, auch so treu und wörtlich noch übersetzt, wie er das vorige über­setzt hat.

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ANSPRACHE zu einer Eurythmie-Aufführung Oxford, 18. August 1922 Über die künstlerische Formensprache der Eurythmie

Meine sehr verehrten Anwesenden, gestatten Sie, daß ich mit ein paar Worten unsere Eurythmieaufführung einleite. Es soll das nicht ge­schehen, um die Vorstellung etwa zu erklären, denn jede Interpretation eines Kunstwerkes ist ja etwas Unkünstlerisches. Kunst muß durch sich selbst wirken und wird durch unmittelbare Anschauung ihren Eindruck machen. Da es sich aber bei unserer Eurythmie um eine Kunst­form handelt, welche sich gewisser Kunstmittel bedient, die heute noch ungewohnt sind, und welche aus künstlerischen Quellen schöpft, die ebenfalls heute noch ungewohnt sind, so gestatten Sie mir, daß ich über diese künstlerischen Quellen und diese künstlerische Formen-sprache ein paar Worte sage.

Man kann leicht Eurythmie verwechseln mit gewissen Nachbar-künsten, gegen die durchaus hier nichts gesagt werden soll, die voll anerkannt werden sollen, nur will eben Eurythmie etwas anderes sein, nicht Tanzkunst, nicht mimische Kunst, nichts Pantomimisches und dergleichen, sondern Eurythmie will durch das Kunstmittel einer wirk­lichen sichtbaren Sprache wirken. Es sind nicht Gebärden, es ist nicht mimischer, pantomimischer Ausdruck, was Sie hier auf der Bühne sehen werden, sondern es sind Bewegungen des einzelnen Menschen in seinen Gliedern, oder Bewegungen und Stellungen von Menschengruppen, die eine wirkliche sichtbare Sprache darstellen. Man kann nämlich das­jenige studieren, was innerlich im Menschen übersinnlich geschieht, wenn der Mensch singt, also wenn sich der Ton herausgestaltet aus sei­nem Organismus, und man kann studieren, was im Menschen geschieht, wenn sich der Laut der Sprache herausgestaltet aus seinem Organismus. Durch eine Art sinnlich-übersinnlichen Schauens entdeckt man da, daß Bewegungsabsichten, ich sage nicht Bewegungen, sondern Bewegungs­absichten, den ganzen Menschen durchwellen und durchweben.

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Diese Bewegungsabsichten werden im Momente ihres Entstehens aufgehalten und verwandeln sich in einzelne Organbewegungen des Kehlkopfes und seiner Nachbarorgane, die dann mitgeteilt werden der Luft und so den Gesangston, das Musikalische oder auch den Sprach-ton, das Lautliche vermitteln.

Dasjenige, was durch ein übersinnliches Schauen als Bewegungs-absichten im Menschen entdeckt werden kann, kann als Anfangs-entfaltung, als sichtbarer Anfang sich entfalten als eine sichtbare Sprache, wenn man die entdeckten Bewegungsabsichten auf den gan­zen Menschen oder auf Menschengruppen überträgt. So daß Sie sehen werden, namentlich ausdrucksvollste Glieder des menschlichen Orga­nismus, die Arme, die Hände sich bewegen.

Das soll nicht in der einzelnen Gebärde gedeutet werden. Es sollen nicht einzelne Gebärden bezogen werden auf irgend etwas Seelisches, geradesowenig wie der einzelne Laut auf irgend etwas Seelisches be­zogen werden soll unmittelbar, sondern in seiner Konfiguration, in seinem Zusammenhang mit den anderen Lauten und so weiter. Und so ist es auch mit der Eurythmie. Sie soll durch dasjenige, was als Bewe­gung vorgeführt wird, ihren unmittelbaren Eindruck machen.

Und auf diese Art kann man, wenn Eurythmie begleitet wird von dem Musikalischen, sichtbar singen. Man kann, wenn es sich handelt um Dichterisches, wenn Gedichte deklamiert und rezitiert werden, mit der sichtbaren Sprache der Eurythmie die Dichtungen zum Ausdruck, zur Offenbarung bringen. Nichts Nebuloses ist dabei, sondern durch­aus etwas, was mit derselben Selbstverständlichkeit als Bewegung aus dem ganzen Menschen kommt, wie der Laut und der Ton aus dem Kehlkopf kommen.

Daher sollte man auch ein Gefühl, eine Empfindung entwickeln mehr für die Aufeinanderfolge der Bewegungen als für die einzelnen Bewegungen. So wie es sich im Musikalischen um den melodischen oder um den harmonischen Zusammenklang der aufeinanderfolgenden Töne handelt, nicht um den einzelnen Ton, so handelt es sich hier nicht um die einzelne Bewegung, sondern um dasjenige, was aus der Bewe­gung heraus gestaltet wird.

Dann aber, wenn man also diesen sichtbaren Gesang oder diese

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sichtbare Sprache hat, muß man sie erst künstlerisch gestalten. Euryth­mie ist zunächst bloß Sprache, bloß Ton. Das künstlerisch Geschaute, das soll dann zustande kommen, indem nachgefühlt wird einem Musi­kalischen, oder nachgefühlt wird einem Dichterischen dasjenige, was darinnen ist schon an verborgener Eurythmie. Denn das muß immer betont werden: Der wahre Dichter hat diese verborgene Eurythmie, die hier sichtbarlich zum Ausdrucke kommt, schon in seiner Seele, wenn auch unbewußt. Er gestaltet aus dem ganzen Menschen heraus, nicht bloß aus einem einzelnen Organ, seine Dichtung, wenn sie ein wirkliches Kunstwerk sein soll. - Daher, wenn Gedichte parallelgehend der Eurythmieaufführung deklamiert oder rezitiert werden, handelt es sich darum, daß auch da Deklamations- und Rezitationskunst in einer anderen Form auftreten muß als etwa in einer bloßen Betonung des Prosainhaltes.

Bei der Dichtung handelt es sich um die Gestaltung des Sprachlichen, so daß dasjenige, was im Sprachlichen musikalisch ist, oder im Sprach­lichen bildhaft, lautbildhaft gestaltet ist, bei der Deklamation und Rezi­tation herauskommen muß, sonst würden diese Künste, diese Sprech­künste nicht begleiten können das Eurythmische. Mit einem Pointieren des Prosainhaltes kommt man daher nicht zurecht. Daher mußten wir auch auf ältere, mehr künstlerische Zeitalter zurückgehen, als das heu­tige ist, die Rezitations- und Deklamationskunst besonders ausbilden, so daß bei ihr auf das Musikalische, auf die Gestaltung der Sprache mehr Gewicht gelegt wird als auf das Pointieren des Prosainhaltes.

Gerade aber weil die Rezitation und Deklamation besonders auf­fallen muß, ist es notwendig, daß ich hier eine Entschuldigung vor Ihnen anbringe. Frau Dr. Steiner, welche deklamieren wird in einer ihr sonst nicht völlig gewohnten Sprache, wenigstens als Rezitation nicht völlig gewohnten Sprache, muß im Englischen rezitieren und deklamieren aus dem Grunde, weil es sich hier zugleich handelt um die Vorführung einer besonderen Kunstgestaltung der Deklamation und Rezitation, und diese eben erst selbst ausgearbeitet worden ist. Wir müssen abwarten, bis sie in den verschiedenen Sprachen, diese Rezi­tations- und Deklamationskunst, erst voll ausgebildet sein wird. Daher läßt sich Frau Dr. Steiner entschuldigen, daß sie als Nicht-Engländer

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in englisch rezitieren und deklamieren wird. Dies möchte ich nur vor­ausschicken.

Was Sie hier sehen werden auf der Bühne, zu dem möchte ich nur hinzufügen, daß die Eurythmie noch zwei andere Seiten hat. Eine Seite, die ich nur ganz kurz erwähnen will, ist die therapeutisch-hygienische Seite. Da alle Bewegungen, welche Sie ausgeführt sehen, obwohl sie hier nur künstlerisch gestaltet sind, mit einer elementaren Selbstver­ständlichkeit und Notwendigkeit herausgeholt sind aus der mensch­lichen Organisation, wie die Sprache selber, so kann man sagen: Diese Bewegungen sind die Offenbarung der gesunden Menschennatur. -Nicht die Bewegungen, die Sie hier sehen, aber andere Bewegungen, metamorphosierte, umgestaltete Bewegungen kommen als Heileuryth­mie in Betracht. Daher haben wir in unseren medizinisch-therapeu-tischen Instituten in Arlesheim in der Schweiz und in Stuttgart bereits die Heileurythmie als eine besondere therapeutische Form ausgebildet, und es hat sich gezeigt, wie sehr sie zum Hygienischen und zum Heilen verwendet werden kann, wenn sie in anderen Formen, als sie hier, wo sie rein künstlerisch auftreten soll, sich offenbaren wird.

Die dritte Seite ist die pädagogisch-didaktische Seite. Da wir aber morgen das große Vergnügen haben werden, Ihnen mit Kindern hier Eurythmisches vorzuführen, so kann ich heute verzichten, für die pädagogisch-didaktische Seite, die dritte Seite, zu sprechen und werde morgen einige Worte der Kinderaufführung vorausschicken über den pädagogischen und didaktischen Wert der Eurythmie, der sich schon gezeigt hat, wie er ist, seit die Waldorfschule in Stuttgart besteht, in der die Eurythmie als ein pädagogisch-didaktischer Lehrgegenstand, neben dem Turnen, als obligatorischer Lehrgegenstand eingeführt ist. Und ebenso selbstverständlich wachsen die Kinder in diese sichtbare Sprache hinein, in diesen sichtbaren Gesang, wie in jungeren Jahren die ganz kleinen Kinder in Lautsprache und Gesang hineinwachsen.

LJnd so möchte ich nur noch anfügen, was ich niemals unterlasse zu sagen, daß die verehrten Zuschauer um Entschuldigung gebeten werden und Nachsicht haben möchten, denn Eurythmie ist heute noch durch­aus im Anfange ihrer Entwickelung, und jede Kunstform, die erst an­fängt, muß notwendigerweise unvollkommen sein. Wir sind selbst

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unsere strengsten Kritiker, kennen dasjenige, was noch mangelhaft an der Eurythmie ist, aber wir versuchen auch, ich möchte sagen, von Monat zu Monat immer weiterzukommen.

Sie werden zum Beispiel heute hier schon sehen, was man vor einem Jahr noch nicht sehen konnte, wie das ganze Bühnenbild eurythmisch gestaltet sein soll, so daß Sie nicht nur den bewegten Menschen in der Eurythmie sehen, sondern zugleich die Beleuchtungskräfte, die sich offenbaren noch innerhalb der einzelnen Szenen der Darstellung. Da wird nun auch der Hauptwert gelegt werden müssen nicht auf die ein­zelne Farbenbeleuchtung, sondern auf die Aufeinanderfolge, ich möchte sagen, dynamische Aufeinanderfolge der Beleuchtungseffekte, die sich eurythmisch auch hineinfügen sollen in das ganze übrige eurythmische Bild.

Und so darf man, wenn man auf der einen Seite gerade das Mangel­hafte noch dieser Eurythmie erwähnt aus dem Bewußtsein heraus, mit welchen künstlerischen Mitteln gearbeitet und aus welchen künst­lerischen Quellen noch geschöpft werden kann, sagen, daß sie einer unermeßlichen Vervollkommnung in die Zukunft hinein fähig sein wird. Denn sie bedient sich eines Werkzeuges, das im Grunde genom­men das höchste künstlerische Werkzeug sein muß, sie bedient sich als eines Werkzeuges des Menschen selber, des gesamten Organismus des Menschen. Und alle Weltengeheimnisse, alle Gesetzmäßigkeiten des Kosmos sind im Menschen enthalten. Wenn man daher eine sichtbare Sprache aus dem ganzen Menschen herausholt, holt man zu gleicher Zeit etwas aus ihm heraus, was von der ganzen Summe der Weltengeheim­nisse und der Weltengesetzmäßigkeit spricht. Der Mensch ist einmal ein Mikrokosmos, und so kann, wenn dieser Mikrokosmos als künst­lerisches Werkzeug verwendet wird, zum Ausdrucke kommen dasjenige, was ausgebreitet ist an Geheimnissen, an Mysterien durch das ganze Weltenall hindurch. Deshalb darf man trotz der Unvollkommenheit hoffen, in der sich Eurythmie heute noch befindet, daß sie sich in die Zukunft hinein so vervollkommnen wird lassen und als vollberechtigte Kunstform einstmals neben die älteren vollberechtigten Kunstformen wird hintreten können.

Nur noch ein paar Worte über die Aufführung selbst. Wir teilen das

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Programm in zwei Teile. Am Schlusse des ersten Teiles wird eine Szene aus einem meiner Mysterienspiele dargestellt werden. Das Mysterien-drama hat es zu tun mit der Entwickelung eines Menschen, der sich allmählich einlebt in die übersinnliche Welt selbst. Zur Darstellung desjenigen, was den Menschen verbindet mit dem Übersinnlichen, ist ja Eurythmie ganz besonders geeignet. - Nun zeigt die Szene, welche hier am Schluß des ersten Teiles zur Darstellung kommt [«Der Seelen Erwachen», viertes Bild], wie dem Johannes Tliomasius, weil in seinem Gedächtnis alles dasjenige aufsteigt, was er erlebt hat mit lieben Freun­den, Capesius, Strader und so weiter, dieses in seiner Seele sich so ver­tieft, daß es ihm in der Gestalt des Doppelgängers erscheint, daß seine eigene Jugend vor ihm auftritt, daß dasjenige, was man den Hüter der Schwelle nennt, jenen Hüter, vor dem der Mensch steht, wenn er in die geistige Welt eintritt, erscheint, daß die andere Gestalt, die Gestalt des Ahriman, die Verkörperung des Schlauen, des Bösen auftritt. Es sind innere Vorgänge, die in der Seele des Johannes Thomasius selber erlebt werden. Alles dasjenige, was ins Übersinnliche hinaufweist, wird in Eurythmie dargestellt und von Frau Dr. Steiner deklamiert. Der Jo­hannes Thomasius selbst aber als naturalistische Figur wird bühnen-mäßig gespielt werden, denn alles dasjenige, was naturalistisch gefaßt ist, muß auch bühnenmäßig zum Ausdrucke kommen. Dagegen alles dasjenige, was ins Übersinnliche spielt, kann gerade durch die Euryth­mie in einer höheren Weise zur Vorführung kommen.

Dies ist also am Schlusse des ersten Teiles. Im Beginn des zweiten Teiles wird ebenfalls eine Szene aus einem meiner Mysteriendramen [«Der Hüter der Schwelle», sechstes Bild] vorgeführt, wo dargestellt wird, daß die Mächte der Mystik, der Schwärmerei, die luziferischen Mächte auf der einen Seite, auf der anderen Seite die ahrimanischen Mächte des Bösen, der Schlauheit, der Klugheit, der List vor Johannes Thomasius auftreten, der aber diesmal nicht auf der Szene erscheint, die ihm im Traume erscheinen, was angedeutet wird durch eine beson­dere Gestalt, die vor dem Erwachen dieser Traumanschauung des Jo­hannes Thomasius spricht. Wir haben es also mit Szenen aus Mysterien-dramen zu tun, und ich bitte Sie, das zu berücksichtigen.

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ANSPRACHE zu einer Eurythmie-Aufführung Oxford, 19. August 1922 Das pädagogische Element der Eurythmie

Ich habe mir gestern erlaubt, einige Worte der eurythmischen Vor­stellung vorauszuschicken, um die besondere Kunstform der Eurythmie zu erklären. Heute möchte ich über diese Kunstform nichts weiter sprechen. Dasselbe, was ich gestern gesagt habe, würde ich voraus-schicken müssen dem zweiten Teile unserer heutigen Vorstellung. Der erste Teil umschließt eine Vorstellung mit Kindern, die hier kurze Zeit Eurythmie gelernt haben, und da darf ich einiges über die pädagogisch-didaktische Seite dieser Eurythmie sagen.

In erster Linie - das muß immer festgehalten werden - soll Euryth­mie nicht Gymnastik, nicht Tanz sein, aber sie soll eine Kunstform sein. Da sie aber in einer wirklichen sichtbaren Sprache besteht, die herausgeholt ist aus der gesunden Organisation des Menschen, so kann sie auch ausgebildet werden so, daß sie gewissermaßen als ein geistiges Turnen im Unterricht und in der Erziehung verwendet wird. Wir haben gleich mit der Gründung der Waldorfschule in Stuttgart die Eurythmie als einen obligatorischen Lehrgegenstand neben dem Turnen eingeführt. Man kann sehen, daß jetzt, nach einigen Jahren der Führung der Wal­dorfschule, sich durchaus herausgestellt hat, welchen großen pädago­gischen und didaktischen Wert diese Eurythmie hat.

Erstens hat sie dadurch ihre besondere Bedeutung, daß sie allem Sprachunterricht zu Hilfe kommt. Es ist immer so, daß sich die Kinder wie selbstverständlich hineinfinden in diese sichtbare Sprache, mit Wohlgefallen, mit innerer Befriedigung hineinfinden wie in etwas, was aus der menschlichen Organisation folgt, geradeso wie die ganz kleinen Kinder sich in die Lautsprache und in den Gesang hinein-finden. Indem die Kinder sich hineinfinden in diese sichtbare Sprache, fühlen sie das Wesen der Sprache in der menschlichen Organisation, und von da aus strahlt dann auch ein Verständnis in dasjenige, was

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man schulmäßig in der eigentlichen Lautsprache den Kindern beizu­bringen hat.

Dann ist aber Eurythmie eine besondere Hilfe für die Willens-erziehung. In dieser Beziehung wird man einmal wohl unbefangener urteilen als heute noch, wo man das gewöhnliche Turnen, ich möchte sagen, das körperliche Turnen etwas überschätzt. Ich möchte nichts über dieses körperliche Turnen, das aus den Gesetzen der Physiologie zu schöpfen ist, hier sagen; ich erkenne es vollständig an. Ich möchte nur erwähnen, nur als Beispiel anführen, daß, als ich einmal über die Eurythmie und ihre pädagogische und didaktische Seite in unserer freien Waldorfschul-Methodik im Goetheanum einleitende Worte sprach, ich das Merkwürdige erlebte, daß ein sehr berühmter Physio-loge der Gegenwart, der sich diese Worte anhörte, in denen ich auch sagte, daß ich das Turnen durchaus anerkenne, daß aber Eurythmie als beseeltes Turnen eine wichtige Vollendung ist desjenigen, was durch das körperliche Turnen nur in einseitiger Weise erreicht wird, zu mir sagte:

Sie sehen also das Turnen als ein Erziehungsmittel an? Ich als Physio­loge sehe es an als eine Barbarei.

Nun, wie gesagt, das sage nicht ich, das sagt ein berühmter Physio­loge der Gegenwart. Und immerhin, wenn wir auch das gewöhnliche Turnen in der Waldorfschule durchaus gelten lassen als ein körper­liches Erziehungsmittel, so stellen wir daneben die Eurythmie als ein seelisches, als ein geistiges Turnen. Und als solches zeigt sie sich ganz besonders für den Willen, für die Initiative des Willens. Man bekommt die Möglichkeit, in das Seelische des Kindes deshalb einzuwirken, weil das Kind bei einer jeglichen Bewegung, die es ausführt, zu gleicher Zeit fühlt, wie es in seinem ganzen Menschen, mit Leib, Seele und Geist, sich betätigt, wie jede einzelne leibliche Bewegung, die es ausführt, zu gleicher Zeit eine innere seelische und geistige Bewegung hervor­ruft. Das Kind fühlt gewissermaßen, wie Leib, Seele und Geist zusam­menrücken, wie sie verbunden sind in diesem eurythmisch-geistigen Turnen.

Und dann - es wird Ihnen vielleicht geradezu paradox erscheinen, aber wahr ist es doch, insbesondere in einer höheren Kultur, wie die­jenige des Abendlandes heute ist, kann man mit der gewöhnlichen

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Lautsprache selbstverständlich mit der Wahrheit auch die Unwahrheit sagen. Unwahrhaftig, lügenhaft kann der Mensch leicht werden gerade in der Lautsprache. In der sichtbaren Sprache der Eurythmie kann man nicht lügen. Das hat sich als eine Erfahrung herausgestellt. Daher ist zugleich diese Eurythmie ein Erziehungsmittel in die Wahrhaftigkeit hinein. Der Mensch, das Kind findet nicht leicht die Möglichkeit, in die sichtbare Sprache der Eurythmie hinein zu lügen.

Damit habe ich einiges angedeutet von der Eurythmie aus in der Kindererziehung. Ich möchte noch das eine bemerken: Oftmals hat man bei einem Kinde diesen oder jenen Mangel im Seelischen, im Geisti­gen oder im Körperlichen beobachtet. Da kommen gewöhnlich die Lehrer der Stuttgarter Waldorfschule zu mir und sagen: Dieses Kind hat diesen oder jenen seelischen oder körperlichen Fehler. - In einem solchen Falle ist es nur notwendig, mit einer gewissen übersinnlichen Kraft des Sehens, mit einer gewissen Kraft des Schauens intuitiv zu erkennen, was man nun für eurythmische Übungen gerade diesem Kinde angibt, eurythmische oder Eurythmie-ähnliche Übungen. Und in der Tat, wir haben manchmal überraschende Resultate erreicht in der Ver­besserung körperlicher oder seelischer Fehler, wenn wir gerade für das Kind besondere eurythmische Übungen anraten konnten und wenn sie durch unsere Lehrer in der Waldorfschule durchgeführt worden sind. Da muß dann, wie gesagt, Eurythmie nach ihrer pädagogisch-didaktischen Seite ausgebildet werden. Sie ist in erster Linie eine Kunst, sie kann aber auch in den Dienst der Pädagogik und Didaktik gestellt werden.

Zum Schluß möchte ich nur noch erwähnen, daß die Kinder, die Sie heute im ersten Teile der Aufführung sehen werden, nur kurze Zeit Eurythmie erlernt haben, daß daher für sie um ganz besondere Nach-sicht gebeten werden muß. Die Lehrerinnen hier haben nur in wenigen Lektionen eigentlich diese Kinder unterrichten können, und als wir dann angekommen sind, haben wir einige Nummern des heutigen Pro­gramms wie eine Improvisation hinzugefügt. So daß Sie auch in dieser Kindervorstellung nichts Vollkommenes erwarten dürfen, sondern, wie wir auch für die andere Vorstellung um Nachsicht gebeten haben, nur etwas, was im Anfange der Entwickelung ist, aber doch so, daß

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man das Prinzip, daß man das Wesen erkennt. Ich denke, das wird sich auch in dieser Kindervorstellung in dem ersten Teil unseres heutigen Programms zeigen. Nach einer Pause wird dann vorgeführt, wie Eu­rythmie als Kunstform sein wird.

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SCHLUSSWORT anläßlich einer Gründungsversammlung einer Vereinigung, die in England im Sinne dieser Vorträge wirken wollte Oxford, 28. August 1922

Meine Damen und Herren, aus der Art, wie ich mir erlaubte, diese Vorträge hier vor Ihnen zu halten, werden Sie ja entnehmen können, wie ernst mir die Summe der Impulse ist, welche durch die besondere Erziehungsmethode ja nur, ich möchte sagen, einen partiellen Ausdruck finden für das Gebiet desjenigen, was nach meiner Meinung im gegen­wärtigen Augenblicke der Menschheitsentwickelung durch eine ver­tiefte Lebensauffassung, durch eine wirklichkeitsgemäße Lebensauf­fassung geschehen soll. Und wenn Sie den Grundton nehmen, den ich glaube eingehalten zu haben in diesen Vorträgen, dann werden Sie mir glauben, daß es aus dem tiefsten Herzen heraus gesprochen ist, wenn ich Ihnen herzlich dafür danke, nicht so sehr selber als im Namen der Sache, für die ich ja mein ganzes Dasein einstellen möchte, wenn ich Ihnen herzlich danke dafür, daß Sie sich entschlossen haben, hier für diese Gegend die Sache in die Hand zu nehmen.

Es ist zu wünschen, daß innerhalb der Gemeinschaft, die Sie zu bil­den beschlossen haben, aus den Entschlüssen heraus, die Sie sich vor­genommen haben, eine Anzahl von Persönlichkeiten sich einfindet, welche mit ihrer Kraft dasjenige tragen, von dem Sie sich nach dem heutigen Meeting einiges versprechen.

Es handelt sich bei einer solchen Sache immer, meine Damen und Herren, darum, daß Persönlichkeiten die Sache tragen. Und dasjenige, was anthroposophische Bewegung genannt wird, kann nur dadurch in der Welt vorwärtskommen, daß einzelne Persönlichkeiten sie tragen. Vereinigungen, Gesellschaften müssen da sein; aber das Wichtigste ist, daß Persönlichkeiten herauswachsen aus den Gesellschaften, die mit der unmittelbaren Kraft des Menschen dasjenige tragen, was als das Richtige eingesehen werden muß.

Wenn wir an die so wichtige Position denken, in der sich insbeson­dere die Bevölkerung dieses Landes im gegenwärtigen welthistorischen

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Augenblicke befindet, und wenn wir ernst nehmen die Verantwortung, die aus dieser Position hervorgeht, dann können wir uns auch sagen, daß aus einem solchen Beschlusse, wie Sie ihn heute gefaßt haben, etwas außerordentlich Wichtiges hervorgehen kann. Denn mag auch heute das Häuflein der Menschen noch klein sein, die sich sagen: Die Welt braucht einen Einschlag ins Geistige -, es wird davon abhängen, ob das kleine Häuflein zu einer immer größeren Masse wird, daß die Welt überhaupt durch neue Impulse in ihrer Entwickelung vorwärtskomme.

Was ich heute morgen im Vortrag mir zu sagen erlaubte: Die alten Impulse, sie sind im Grunde genommen alle abgelaufen. Wir reden noch in den alten Worten; Zahlen, und starke Parteien reden in den alten Worten. Versuchen wir in neuen Worten zu reden, und versuchen wir, daß die Sache in die Wirklichkeit eindringe. Berauschen wir uns nicht daran, daß wir spirituelle Werte hineintragen wollen in die Ent­wickelung. Berauschen wir uns nicht daran! Seien wir uns klar darüber, daß «Hineintragen spiritueller Werte in die Wirklichkeit», geradeso Schlagwort werden kann, wie irgend etwas anderes Schlagwort ge­worden ist.

Es kommt darauf an, daß wir mit vollem Herzen mit ganzem Ge­müte einstehen für dasjenige, was aus dem Leben, durch das Leben, für das Leben geführt, gedacht und gewollt werden soll. Das ist es, worauf es ankommt.

Und wenn zunächst aus dieser Vereinigung hervorgeht dasjenige, was der Erziehung gegeben werden kann, und ich glaube, heute gegeben werden muß, so wird sicher etwas außerordentlich Schönes, und etwas, was mit den Entwickelungsbedingungen der Menschheit im gegenwär­tigen Zeitraum zusammenhängt, aus diesen Ihren Entschlüssen her­vorgehen.

Das ist es, was ich mir nur als ein paar Worte des herzlichsten Dankes erlauben wollte zu sagen dafür, daß Sie heute Ihre Herzen vereinigt haben mit demjenigen, was in diesem Kursus vielleicht in Ideen aus­gesprochen worden ist, aber was eigentlich durchaus ernstlich gemeint war und durch fühlendes Menschenwesen herausgeholt werden sollte aus der Entwickelung der Menschheit, um einen Impuls abzugeben für die Entwickelung in die Zukunft hinein.

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HINWEISE

Der Kongreß in Oxford über «Spintual Values in Education and Social Life> vom 15. bis 29. August 1922, zu dem Rudolf Steiner eingeladen war zu sprechen, stand unter dem Patronat des englischen Unterrichtsministers Dr. H. A. Pisher, des Leiters des Manchester College der Urnversität Oxford, Principal L. P. Jacks und weiterer Per­sönlichkeiten, die im öffentlichen Leben Englands wirkten und teils auch am Kon­greß sprachen. Es war vor allem die bekannte Pädagogin Mrs. M. Mackenzie, Pro­fessor für Erziehungswissenschaft am University College, Cardiff, der die Initiative und Einladung Dr. Steiners zu diesem Kurs zu danken ist. Außer zahlreichen Teil­nehmern aus England, darunter gegen 200 Studenten, nahmen auch Persönlichkeiten teil, die mit der anthroposophischen Bewegung verbunden und mit Rudolf Steiner nach England gereist waren. Es waren Menschen aus zwanzig Nationen anwesend.

Rudolf Steiner sprach Deutsch. Seine Ausführungen, meist in drei Sektionen ge­gliedert, wurden unmittelbar von Mr. Gorge Adams-Kaufmann übersetzt. Die Unter­brechungen sind durch Zwischenräume im Text gekennzeichnet.

Die Textgestaltung der Vorträge vom 26., 28. und 29. August 1922 beruht auf ei­nem erneuten Vergleich mit der Übertragung der stenographischen Nachschrift von Helene Finckh.

Bei den in den Hinweisen angeführten Werken Rudolf Steiners, welche inner­halb der Rudoll Steiner Gesamtausgabe erschienen sind, ist neben der Bibliographie-Nr. jeweils das Erscheinungsjahr der letzten Auflage (GA 19..) angegeben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

zu Seite

12 Emil Molt: Kommerzienrat Dr. h. c. Emil Molt, 1876-1936, Industrieller (Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik, Stuttgart), Gründer der Freien Waldorf-schule Stuttgart (1919).

Waldorlschule: Einheitliche Volks- und höhere Schule, 1919 begründet im Zu­sammenhang mit der Bewegung für die Dreigliederung des sozialen Organis­mus. Die Leitung der Schule hatte Rudolf Steiner bis zu seinem Tode (1925) inne.

13 Thomas Henry Huxley, 1825-1895, englischer Naturforscher, Mediziner, Bio­loge und Philosoph.

18 Es gibt eine naturwissenschaftliche Entdeckung: Der französische Arzt und Philosoph Paul Broca (1824-1880) fand 1861, «daß das Werkzeug des Spre­chens in der dritten [linken] Stirnwindung liegt und daß dieses Werkzeug in der Ordnung sein muß, wenn der Mensch die Sprachlaute verstehen will, und ebenso ein anderer Teil, wenn er sie aussprechen soll...>. Rudolf Steiner im Vortrag München, 27. August 1911, im Band «Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen>, Bibl.-Nr. 129, GA 1977, S.215.

24 Ernst Haeckel> 1834-1919, Zoologe.

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34 «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>, Bibl.-Nr. 10, GA 1975 (auch als Taschenbuchausgabe, Dornach 1978).

44 «Die Geheimwissenschaft im Umriß,» Bibl.-Nr. 13, GA 1977 (auch als Taschen­buchausgabe, Dornach 1976).

45 Jean Paul, 1763-1825, in «Levana oder Erziehlehre>, 6. Bruchstück, 4. Kap., § 123.

47 obwohl ich mich vorher viel mit Erziehung und Unterricht beruflich abgegeben hatte: Siehe Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang>, Bibl.-Nr. 28, GA 1962.

48 «Von Seelenrätseln» Bibl.-Nr. 21, GA 1976.

«Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft>: Ab­gedruckt in «Luzifer-Gnosis. Gesammelte Aufsätze und Berichte aus der Zeit­schrift und 1903-1908>, Bibl.-Nr. 34, GA 1960; Son­derdruck Dornach 1978.

56 ff. Der vierte Vortrag und die zwei ersten Seiten des fünften sind von Rudolf Steiner selbst für die Drucklegung bearbeitet worden. Sie werden hier nach sei­nen eigenhändigen Korrekturen wiedergegeben. Im vierten Vortrag hat er ver­schiedene Stellen bezeichnet, zu denen er Anmerkungen schreiben wollte. Diese fehlen. Es war die Absicht, den Kurs bald nach dem Kongreß gedruckt heraus­zubringen. Außeren Umständen ist es zuzuschreiben, daß Rudolf Steiner in Oxford nur der erwähnte Vortrag zur Bearbeitung übergeben werden konnte. Später kam er durch die ständige Arbeitsflut nicht mehr dazu, daran weiter zu arbeiten.

64 Clifford Allbutt: Sir Thomas Clifford Allbutt, geb. 1836, schrieb u. a. Diseases of the Arteries and Angina Pectoris, 1915; Science in the School, 1917; Notes on Composition of Scientific Papers, 3rd ed. 1923. Auf welche Publikation sich Rudolf Steiner hier bezieht, ließ sich bisher nicht feststellen.

76 Der so freundlichen Einladung> heute hier zu sprechen...: Von den Veranstal­tern der «Oxford Holiday Conferences> wurde Rudolf Steiner auch aufgefor­dert, in einem Sondervortrag über die «Methode, forschend in übersinnliche Welten hineinzukommen> zu sprechen.

86 «Die Geheimwissenschaft im Umriß>: Siehe Hinweis zu S.44.

101 in der Einleitung zu der Eurythmievorstellung: Siehe S. 245 ff. in diesem Band Enthalten in «Eurythmie - Die Offenbarung der sprechenden Seele«, Bibl.-Nr. 277, GA 1972,S. 292ff.

102 ein persönliches Beispiel: Siehe Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang>, Bibl.-Nr

28, GA 1962, und «Briefe 1>, Dornach 1955.

129 Emil Molt: Siehe Hinweis zu S.12.

141 eine solche kleine Schule in Dornach: Das solothurnische Gesetz erlaubte damals keine privaten Volksschulen. Sie wurde dann in eine Internatsschule für Vier­zehn- bis Achtzehnjährige umgewandelt und trug den Namen «Friedwart­schule>.

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141 freie Schule in Basel: Sie konnte im Jahre 1926 eröffnet werden.

145 zwei Liederbücher von Herrn Baumann: Paul Baumann, «Lieder der Waldorf-schule>, Erstes und zweites Heft.

154 Dr. Karl Schubert, 1889-1949; im Februar 1920 von Rudolf Steiner an die Freie Waldorfschule Stuttgart berufen zur Leitung der Hilfsklasse.

158 an den Figuren: Die Eurythmiefiguren werden nach den Angaben von Rudolf Steiner hergestellt und können käuflich erworben werden. Dazu bemerkte Ru­dolf Steiner in Oxford: «Nun gestatten Sie, daß ich nur in Parenthese eben hin­zufüge, daß diese Figuren auch dazu dienen können, wenn Eurythmieunterricht erteilt wird, nachher zu memorieren; bei den Eurythmie-Lernenden dazu dienen können, zu memorieren. Man soll nur ja nicht glauben, daß Eurythmie etwas so leichtes ist, daß man es in ein paar Stunden sich beibringen kann, sondern Eurythmie muß wirklich gründlich erlernt werden. Aber zum Wiederholen kön­nen solche Eurythmiefiguren auch für diejenigen dienen, die eurythmische Kunst suchen, zu dem weiter sich Hineinvertiefen. Man wird schon sehen, daß in den Formen selber, die hier verhältnismäßig einfach geschnitzt und bemalt sind, daß in den Formen selber sehr viel liegt.

Zu diesem Zweck, auch eventuell zu pädagogisch-didaktischen Zwecken -das sage ich eben nur in Parenthese - können solche Figuren auch gekauft wer­den. Und werden sie gekauft, dann können sie eventuell in Dornach gemacht werden. ... Die Figuren, die hier ausgestellt sind, werden in ihrer Gesamtheit etwa kosten 10 Pfund 10 Shilling. Das ist zunächst der Preis für dasjenige, was hier ist. Denn es wird wahrscheinlich noch lange keine Art Maschinenfabri­kation eintreten können, sondern Handarbeit sein müssen. Und so können sie zunächst nicht billiger gemacht werden. Wir haben ausgerechnet, wenn wir etwa 3000 Bestellungen haben, dann können wir die Sache mehr maschinell machen und zu größerer Billigkeit kommen. Aber dazu müssen wir eben, wie gesagt, die vielen Bestellungen haben.

Das ist dasjenige, was ich heute sagen wollte über die eurythmische Kunst, namentlich insofern sie sich einfügen kann in das pädagogisch-didaktische Prin­zip, wie wir es in der Waldorfschule zu pflegen suchen.>

185 Robert Owen> 1771-1858. Sozialreformer. Seine sozialen Ideen verwirklichte er in seinem Fabrikdorf New Lanark.

Franz Oppenheimer> 1864-1943. Er gründete Siedlungsgenossenschaften, um das Bodenmonopol des Großgrundbesitzes zu brechen.

188 Aus dem Orient... tont das Wort Siehe 3 Mose 19, Vers 18

Sie finden den Nachklang... in der mosaischen Gesetzgebung: Siehe 2. Mose 21 und 22.

190 Tiberius Sempronius Gracchus> 162-133v. Chr. und Cajus Sempronius Gracchus>

153-121 vi Chr. Als Volkstribunen versuchten sie eine Agrarreform durchzu­führen.

auf den «Heiligen Berg>: 494 v. Chr.

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191 Diokletian> 248-305 n.Chr., römischer Kaiser. Über seine Staatsreformen siehe Theodor Mommsen «Abriß des römischen Staatsrechts».

Adam Smith> 1723-1790. Begründer der wissenschaftlichen Nationalökonomie. Hauptwerk: «An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Na­tions», 1776.

193 Karl Marx> 1818-1883. «Das kommunistische Manifest» 1848, «Zur Kritik der politischen Ökonomie» 1859, «Das Kapital» 1. Band 1867. Band 2 und 3 her­ausgegeben von Friedrich Engels 1885 und 1894.

194 Immanuel Kant> 1724-1804. Wörtlich: Handle so, daß die Maxime deines Wil­lens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. - In «Kritik der praktischen Vernunft» I. Teil.

195 Peter der Große> 1672-1725.

Wladimir Solowjow, 1853-1900, russischer Philosoph.

Herbert Spencer> 1820-1903, englischer Philosoph. «System der synthetischen Philosophie», 10 Bände 1862-1896.

Fedor Michailowitsch Dostojewski> 1821-1881.

196 Wladimir Iljitsch Lenin> 1870-1924. Errichtete 1917 die Diktatur der bolsche­wistischen Partei in Rußland.

197 Dreigliederung: Die physisch-physiologische Dreigliederung des Menschen hat Rudolf Steiner zum ersten Mal dargestellt in «Von Seelenrätseln» (1917). Bibl.­Nr.21, GA 1976, im Kapitel: «Die physischen und die geistigen Abhängigkei­ten der Menschen-Wesenheit». Die Dreigliederung des sozialen Organismus ist im Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt» im Januar/Februar 1919 erstmals knapp skizziert, dann ausführlich behandelt in «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft», (1919). Bibl.-Nr. 23, GA 1976 (auch als Taschenbuchausgabe, Dornach 1973).

202 in einigen Linien darzustellen: Siehe Hinweis zu S.197.

203 von Stuttgarter Freunden aus von mir gefordert worden ist: Darüber schreibt Roman Boos: «Die waren Industrielle und Kaufleute, Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in Stuttgart. Ergriffen von den seit 1917 von Rudolf Steiner immer eindringlicher ausgesprochenen Mahnungen, daß das deutsche Volk nur durch Besinnung auf die Wurzeln seines geistigen Wesens und durch Betätigung dieses Wesens zu einem heilsamen Frieden kom­men könnte, hatten sie in Stuttgart versucht, Voraussetzungen dafür zu schaf­fen, daß - nach dem Sturz Ludendorffs und der Abdankung des Kaisers - in Deutschland und vor der Kulturwelt der Wille zu Wort und Wirksamkeit komme, das deutsche Volk auch politisch und wirtschaftlich in die Gemeinschaft der Völker organisch so einzugliedern, wie ihr das deutsche Geistesleben durch seine positiven Leistungen eingegliedert ist.

Die drei Freunde legten am 25. Januar 1919 Rudolf Steiner in Dornach die Entwürfe für Maßnahmen, die sie planten, vor. Die Besprechung verlief so, daß

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sie an Rudolf Steiner die dringende Bitte richteten, ihnen als Instrument für die beabsichtigte Wirksamkeit einen Aufruf und eine diesen ausführlich begrün­dende Schrift in die Hand zu geben.

Auf diese Bitte hin verfaßte Rudolf Steiner den Aufruf Etwas gekürzt entnommen den Anmerkungen von Roman Boos, die er den sechs Vorträgen Rudolf Steiners vor englischen Zuhörern beigefügt hatte. Sie waren veröffentlicht worden unter dem Titel «Geschichte und Überwindung des Imperialismus» im Europa-Verlag Zürich 1946. Die Vorträge vom 20., 21. und 22. Februar 1920 sind jetzt abgedruckt in «Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung», Bibl.-Nr. 196, GA 1966. Die Vorträge vom 26., 28. und 29. August 1922 wurden in die Neuausgabe des hier vorliegenden Bandes aufgenommen.

205 wie hier in Oxford: Neben Cambridge die älteste Universität Englands. Sie bewahrte noch lange etwas von der scholastischen Eigenart, während sich Cambridge im Studiengang der modernen Naturwissenschaft geöffnet hatte.

209 «Die Philosophie der Freiheit»> (1894), Bibl.-Nr. 4, GA 1978 (auch als Taschen­buchausgabe, Dornach 1977). Die Frauenfrage ist behandelt im Kapitel «Indi­vidualität und Gattung».

210 in «The Hibbert Journal»: Siehe «The Hibbert Journal», Juli 1921, No. 4. Der Aufsatz ist erschienen in der Zeitschrift «Soziale Zukunft« Heft 3. Abgedruckt in «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921», Bibl.-Nr. 24, GA 1961.

211 Ernst Haeckel> 1834-1919, Zoologe und Naturphilosoph.

212 Michelangelo Buonarroti, 1475-1564. Es handelt sich um das Bild «Das Jüngste Gericht» an der Altarwand der Siztinischen Kapelle, gemalt zwischen 1536 und 1541.

213 David Ricardo> 1772-1823. Schüler von Adam Smith (1723-1790).

214 John Stuart Mill> 1806-1873, englischer Philosoph.

217 ich fing ... an> mehr über Ökonomisches zu sprechen: Diese Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau in Dornach, Schweiz, die Rudolf Steiner in den Jahren 1922 bis 1924 hielt, sind innerhalb der Gesamtausgabe veröffentlicht unter Bibl.-Nrn. 347-354.

220 in Dornach versuchen wir es zu machen: Die plastische Gestaltung des Mensch­heitsrepräsentanten. Sie war vorgesehen als Abschluß des kleinen Kuppelrau­mes sm Ersten Goetheanum. Da Rudolf Steiner noch an ihr schnitzte, stand sie sn sesnem Atelier, als der Goetheanumbau in der Silvesternacht 1922/23 brannte. Dadurch blieb sie erhalten und ist heute im Zweiten Goetheanum auf­gestellt. Näheres über das Erste Goetheanum und diese Plastik siehe Rudolf Steiner, «Der Baugedanke des Goetheanum», Stuttgart 1958.

224 «Die Philosophie der Freiheit»: Siehe Hinweis zu S.209.

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225 das bezeichnete ich als moralische Intuition: Siehe «Die Philosophie der Frei­heit», Kapitel IX «Die Idee der Freiheit» und Kapitel XII «Die moralische Phantasie».

235 Ich habe etwa 190S einen Aufsatz geschrieben: «Theosophie und soziale Frage», erschienen in der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis» Oktober 1905, abgedruckt in «Luzifer-Gnosis. Gesammelte Aufsätze und Berichte aus der Zeitschrift und 1903-1908», Bibl.-Nr. 34, GA 1960 unter dem Titel «Gei­steswissenschaft und soziale Frage» (auch als Sonderdruck, Dornach 1977).

240 Mrs. Mackenzie: Professor für Erziehung am University College Cardiff/ Wales, die Initiantin des Kurses in Oxford und Präsidentin des Komitees.

242 Mr. Kaufmann: George Adams-Kaufmann, 1894-1963. Mathematiker und Phy-siker. Dank seiner einzigartigen Sprachbegabung vermochte er auf Grund seiner Notizen in freier Rede die Vorträge Rudolf Steiners unmittelbar wiederzu­geben.

245 Eurythmie .. Kunstmittel einer wirklichen sichtbaren Sprache: Siehe Rudolf Steiner, «Eurythmie als sichtbare Sprache. Laut-Eurythmie-Kurs», Bibl.-Nr. 279, GA 1968.

246 Eurythmie ... sichtbar singen: Siehe Rudolf Steiner, «Eurythmie als sichtbarer Gesang. Ton-Eurythmie-Kurs», Bibl.-Nr. 278, GA 1975.

247 Deklamations- und Rezitationskunst: Siehe Rudolf Steiner, «Die Kunst der Rezitation und Deklamation«, Bibl.-Nr. 281, GA 1967.

250 meiner Mysterienspiele: Siehe Rudolf Steiner, «Vier Mysteriendramen: Die Pforte der Einweihung / Die Prüfung der Seele / Der Hüter der Schwelle / Der Seelen Erwachen», Bibl.-Nr. 14, GA 1962 (auch als Taschenbuchausgahen, Dornach 1973).

251 welchen ... pädagogischen und didaktischen Wert diese Eurythmie hat: Ver­gleiche auch Vortrag vom 24. August, S.158 ff. in diesem Band. 252 ein ... berühmter Physiologe der Gegenwart: Emil Abderhalden, 1877-1950.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.