GA 304

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER ERZIEHUNG

Erziehungs- und
Unterrichtsmethoden
auf anthroposophischer
Grundlage

Neun öffentliche Vorträge,
gehalten zwischen dem 23. Februar 1921
und 16. September 1922 in verschiedenen Städten

GA 304

1979

Inhaltsverzeichnis


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DIE ANTHROPOSOPHISCHE GEISTESWISSENSCHAFT UND DIE GROSSEN ZIVILISATIONSFRAGEN DER GEGENWART Den Haag, 23. Februar 1921

Meine sehr verehrten Anwesenden! Wer über ein solches Thema spricht, wie dasjenige des heutigen Abends und dasjenige, über das ich am 27. Februar sprechen werde, muß sich gerade gegenüber dem Geistesleben der Gegenwart bewußt sein, daß es heute zahlreiche Seelen gibt, welche sich nach einem neuen Einschlag, nach einer Auffrischung und Meta­morphose wichtiger Teile unseres zivilisatorischen Lebens sehnen, her­aus aus manchem, was heute deutlich das Kennzeichen an sich trägt, daß, wenn es fortgesetzt würde, die Menschheit in den Niedergang der Zivilisation geführt würde, heraus aus manchem, was zivilisatorische Strömung seit ein, zwei oder mehr Jahrhunderten ist. Das finden wir gerade bei denjenigen Seelen, die in der Gegenwart versuchen, am tiefsten in ihr eigenes Inneres hineinzublicken. Das jenige, was über die übersinnlichen Welten zu sagen ist, kann jederzeit zu jeder Menschenseele gesprochen werden. Es kann gesprochen werden, man möchte sagen, um ein Extrem zu nennen, zu dem Einsiedler, der sich ganz von der Welt zurückgezogen hat, und nur noch an seiner allernächsten Umgebung Interesse hat; es kann auch gesprochen werden zu Persön­lichkeiten, die voll darinnenstehen im Leben. Denn dasjenige, um was es sich handelt, ist ja durchaus eine ganz allgemein menschliche Angelegen­heit.

Aber nicht von diesen Gesichtspunkten aus allein möchte ich zu Ihnen heute und am 27. sprechen, sondern ich möchte zu Ihnen sprechen von jenem Gesichtspunkte aus, der sich ergibt, wenn man die hauptsächlich­sten zivilisatorischen Fragen der Gegenwart auf seine Seele wirken läßt. Und da finden gerade führende Seelen manches, was sie im tiefsten Inneren erschüttert, was sie im tiefsten Inneren zur Sehnsucht nach einer Erneuerung gewisser Partien des Geisteslebens treibt.

Wenn wir dasjenige überblicken, worin wir als Menschen in dem geistigen Leben der Gegenwart stehen, können wir es zurückführen auf zwei Hauptfragen, möchte ich sagen. Die eine leuchtet von dem wissenschaftlichen

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Leben her, von jener Gestalt des wissenschaftlichen Lebens, die innerhalb der zivilisierten Welt seit drei bis vier Jahrhunderten zu verzeichnen ist. Die andere dieser Fragen leuchtet her unmittelbar von der Lebenspraxis, die aber auch von der neueren Wissenschaft ihre tiefsten Einflüsse erfahren hat.

Sehen wir uns zuerst dasjenige an, was die neuere Wissenschaft heraufgebracht hat. Gerade um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich sagen, daß dasjenige, was ich hier vertrete als anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, durchaus in keinen Gegensatz gebracht werden sollte zu den, was moderner Wissenschaftsgeist ist. Die großen Triumphe und die bedeutsamen Ergebnisse dieser modernen Wissen­schaftlichkeit sollen gerade von der hier gemeinten Geisteswissenschaft ganz und voll anerkannt werden. Allein gerade aus dem Grunde, weil diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft mit unbefange­ner Seele eindringen will in den Geist dieser Wissenschaft, muß sie über dasjenige hinausgehen, was heute von diesem Wissenschaftsgeiste aus Gegenstand einer allgemeinen Menschheitsbildung geworden ist. Uber vieles in der menschlichen Umgebung gibt diese Wissenschaft in ihren speziellen Disziplinen eine genaue, eine gewissenhafte Auskunft. Wenn aber dann die Menschenseele nach ihren höchsten Angelegenheiten frägt, nach demjenigen was ihre tiefste, ihre ewige Bestimmung ist, kann sie innerhalb dieses Wissenschaftsgeistes eine Auskunft doch nicht erhalten, gerade dann nicht erhalten, wenn sie ganz ehrlich und ganz unbefangen mit sich zu Rate geht. Daher finden wir heute zahlreiche Seelen, welche aus mehr oder weniger religiösen Bedürfnissen heraus sich sehnen nach einer Erneuerung alter Weltanschauungen.

Die äußere Wissenschaft, insbesondere die anthropologische Wissen­schaft, macht ja heute schon in einer gewissen Weise darauf aufmerksam, wie unsere Vorfahren vor Jahrhunderten das nicht gekannt haben, was heute die Menschenseelen zerspaltet und zerklüftet: eine gewisse Dishar­monie zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und religiöser Empfin­dung, religiöser Sehnsucht. - Wenn man zurückblickt in alte Zeiten, es waren dieselben Menschheitsträger, welche eine allerdings uns heute kindlich erscheinende Wissenschaft, aber eben nur kindlich erscheinende Wissenschaft pflegten, welche aus dieser Wissenschaft heraus zu gleicher

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Zeit den religiösen Geist in der Menschheit anfachten. Einen Zwiespalt zwischen diesen zwei Geistesströmungen gab es nicht.

Nach so etwas sehnen sich zahlreiche Seelen heute zurück. Allein man kann doch nicht sagen, daß eine Erneuerung, sei es alter chaldäischer Weisheit, alter ägyptischer, alter indischer oder sonstiger Weisheitsleh­ren, dem heutigen Zeitalter einen besonderen Segen bringen würde. Wer das glaubt, der verstünde nicht im rechten Sinn den eigentlichen Geist der Menschheitsentwickelung, der übersieht, daß die Menschheitsent­wickelung als solche einen Sinn hat, daß es unmöglich ist, dieselben Wege des Geistes heute zu gehen, die vor Jahrtausenden gegangen worden sind. Die Menschheitsentwickelung verläuft durchaus so, daß jedem Zeitalter ein besonderer Charakter eigen ist, daß in jedem Zeitalter die Menschenseelen von etwas anderem befriedigt sein wollen. Und dasjenige, was wir für unsere Seelen bedürfen, einfach dadurch, daß wir im 20. Jahrhundert stehen und unsere Erziehung aus dem 20. Jahrhun­dert heraus bekommen haben, es muß etwas anderes sein als dasjenuge, was die Menschen einer grauen Vergangenheit für ihre Seelen gebraucht haben. Daher kann der Gegenwart eine Erneuerung alter Weltanschau­ungen nicht frommen. Aber orientieren kann man sich an demjenigen, was alte Weltanschauungen waren. Man wird dann sehen, woraus eigentlich die Befriedigung, welche die Menschenseelen innerhalb jener alten Weltanschauungen gehabt haben, geflos sen ist. Da muß man sagen:

Diese Befriedigung floß den Menschenseelen dazumal dai"aus, daß sie im Grunde genommen ein ganz anderes Verhältnis zur wissenschaftlichen Erkenntnis hatten, als wir es heute haben.

Auf eine Erscheinung möchte ich hinweisen. Weist man heute auf sie hin, so wird man ja sehr leicht der Paradoxie, der Phantastik geziehen. Allein man muß heute schon vieles sagen, was vielleicht noch vor wenigen Jahren zu sagen gegenüber der allgemeinen Bildung höchst gefährlich gewesen wäre. Denn die letzten katastrophalen Jahre haben doch immerhin einen Umschwung des Gedanken- und Empfindungsle­bens gebracht. Und besser als noch vor zehn Jahren sind heute schon die Seelen vorbereitet darauf, daß die tiefsten Wahrheiten dennoch zunächst vor den Denkgewohnheiten, vor den Empfindungsgewohnheiten einen paradoxen, einen phantastischen Charakter tragen können.

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Von etwas hat man in alten Zeiten gesprochen, das heute gerade gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis kaum schon in Frage kommt, von dem man aber wiederum sprechen wird, wahrscheinlich auch innerhalb der allgemeinen Bildung, in verhältnismäßig recht kurzer Zeit: von dem Hüter der Schwelle; von der Schwelle aus der gewöhnli­chen Welt, in der wir im alltäglichen Leben stehen, in der wir mit der gewöhnlichen Wissenschaft stehen, zu jener höheren Welt hin, in wel­cher der Mensch erkennen kann, wie er selbst mit seiner übersinnlichen, inneren Wesenheit einer übersinnlichen Welt angehört. Zwischen diesen zwei Welten, der Welt die der Mensch mit seinen Sinnen wahrnimmt, deren Tatsachen er mit seinem Verstande zu Naturgesetzen kombinieren kann, und derjenigen Welt, der der Mensch mit seiner eigentlichen Wesenheit angehört, sah man in jenen alten Zeiten einen Abgrund. Über diesen Abgrund mußte man erst hinüberkommen. Und nur diejenigen durften innerhalb der alten Zivilisationen diesen Abgrund überschreiten, welche von den Leitern der damaligen Erziehungsanstalten, die wir heute Mysterien nennen, in einer intensiven Weise dazu vorbereitet waren. Heute haben wir andere Ansichten über das Vorbereiten zur Wissenschaft und zu einem Leben in der Wissenschaftlichkeit. In jenen alten Zeiten sagte man sich: Ein unvorbereiteter Mensch darf die höhe­ren Erkenntnisse über das Wesen des Menschen überhaupt nicht emp­fangen. Warum war dies so?

Warum dies so war, sieht nur derjenige ein, der über die gewöhnliche Geschichtserkenntnis hinaus sich eine Anschauung verschafft über das, was die Menschenseele im Laufe der Menschheitsentwickelung durchge­macht hat. Man hat ja im Grunde genommen heute nur eine Geschichts­erkenntnis über die Äußerlichkeiten der Menschheitsentwickelung. Man sieht nicht hin auf die Seelenverfassung. Man sieht zum Beispiel nicht auf die Seelenverfassung der Menschen, die gestanden haben in jener uralten orientalischen Weisheit, von der heute nur noch dekadente Formen drüben im Oriente leben. Man hat im Grunde genommen gar keine Vorstellung davon, wie anders die Seelen dazumal in der Welt gestanden haben. Die Menschen sahen dazumal geradeso wie wir mit ihren Sinnen die sie umgebende Natur; sie kombinierten in einer gewissen Weise auch dasjenige mit ihrem Verstande, was sie von der Natur sahen. Allein sie

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fühlten sich nicht so getrennt von der sie umgebenden Natur, wie sich die Menschen heute fühlen. Sie fühlten in sich ein Geistig-Seelisches. Sie fühlten diese menschliche Leibesorganisation erfüllt von einem Geistig­Seelischen. Aber sie fühlten ein Geistig-Seelisches auch in Blitz und Donner, in den dahinziehenden Wolken, im Mineral, in der Pflanze, im Tier. Sie fühlten dasjenige, was sie innerhalb ihrer selbst vermuteten, auch draußen in der Natur, im ganzen Weltenall. Geistig-seelisch durch­drungen war ihnen das ganze Weltenall. - Dafür aber hatten sie etwas anderes nicht, was wir Menschen der heutigen Zeit innerhalb unserer Seelenverfassung haben: sie hatten nicht ein so ausgesprochenes, intensi­ves Selbstbewußtsein, wie wir es haben. Ihr Selbstbewußtsein war dumpfer, träumerischer als unser heutiges. Selbst noch innerhalb der griechischen Zeit war das der Fall. Man versteht eigentlich nur höchstens die spätere griechische Kultur, wenn man die Seelen der Menschen innerhalb der Griechenzeit sich in derselben Verfassung denkt, wie unsere Seelen sie haben. In der früheren griechischen Kultur kann gar nicht die Rede sein von einer solchen Seelenverfassung, wie es die unsrige ist. Da war durchaus noch ein dumpfes Fühlen des Menschen innerhalb der Natur. Ich möchte sagen: wie wenn mein Finger ein Bewußtsein häue, und wie er sich dann eins fühlen würde mit meinem ganzen Organismus, wie er sich nicht denken könnte abgetrennt zu sein von meinem Organismus, ohne den er ja absterben würde, so fühlte sich der Mensch innerhalb der ganzen Natur drinnen, ungetrennt von ihr.

Und jene alten Weisen, die die Leiter jener Schulen waren, von denen ich gesprochen habe, die sagten sich: Das ist das Moralische im mensch­lichen Selbstbewußtsein. Dieses Selbstbewußtsein aber, das darf nicht die Welt ansehen so, daß sie ihm geistentleert, seelenlos erscheint. Wenn diese Seelenverfassung sich gegenüber wüßte einer geistleeren Welt -einer Welt, wenn ich jetzt das hinzufüge, wie wir sie in unserer Wissen­schaft, in unserem alltäglichen Leben erfassen -, es würden die Seelen der Menschen von einer seelischen Ohnmacht befallen werden.

Diese seelische Ohnmacht, die sahen herankommen die alten Weis­heitslehrer bei denjenigen Menschen, welche hinkommen sollten zu einer solchen Weltauffassung, wie wir sie haben.

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Ja, kann man denn überhaupt davon sprechen, daß diese alten Weis­heitslehrer sich sagten, die Seelen dürften nicht zu einer solchen Weltan­schauung kommen, von der wir sagen, daß wir sie selbst heute haben? Ja, das kann man sagen. Und dafür möchte ich Ihnen ein Beispiel geben. Man könnte viele Beispiele anführen, aber ich will eines herausheben.

Wir sind heute mit Recht befriedigt davon, daß wir nicht mehr in mittelalterlicher Weise das äußerlich-räumliche Weltengebäude nur nach dem äußeren Augenschein auffassen. Wir stehen auf dem Standpunkte der Kopernikanischen Weltanschauung, die eine heliozentrische ist. Der Mensch des Mittelalters glaubte, die Erde ruhe im Mittelpunkt des Planetensystems, überhaupt des ganzen Sternensystems, die Sonne mit den anderen Sternen bewege sich um die Erde herum. Geradezu eine Umkehrung aller Verhältnisse wurde durch das heliozentrische Sonnen­system bewirkt, und an dieser Umkehrung halten wir heute fest als an etwas, was wir schon aufnehmen in unserer gewöhnlichen Schulbildung, in dem wir drinnenstehen mit unserer ganzen Bildung. Wir sehen zurück auf die Menschen des Mittelalters, auf die Menschen des Altertums, welche in ihrem ptolemäischen Weltensystem dasjenige gesehen haben, was ich eben charakterisiert habe, das geozentrische. Aber keineswegs haben alle Menschen in jenen alten Zeiten bloß das geozentrische Weltensystem angenommen. Man braucht ja - schon die äußere Geschichte zeigt uns das, Geisteswissenschaft macht es völlig klar -, man braucht nur bei Plutarch nachzulesen dasjenige, was er über das Welten-system eines alten griechischen Weisen der vorchristlichen Zeit, des Aristarch von Samos sagt. Dieser Aristarch von Samos versetzt schon die Sonne in den Mittelpunkt unseres Planetensystems; er läßt die Erde um die Sonne kreisen. Und wenn wir, allerdings nicht in den Einzelheiten, über die ja die neuere Naturwissenschaft so Großes gebracht hat, aber in den Hauptzügen, das heliozentrische System des Aristarch von Samos nehmen, so stimmt es im Grunde genommen vollständig mit dem­jenigen überein, das heute das unsrige ist.

Was liegt da eigentlich vor? Nun, dasjenige Weltensystem, das Arist­arch von Samos nur ausgeplaudert hat, das war dasjenige, was in alten Weisheitsschulen gelehrt worden ist. Außerhalb wurde den Menschen das Weltensystem des Augenscheins gelassen. Warum war das so?

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Warum ließ man ihnen dieses Weltenbild des Augenscheins? Nun, man sagte sich: Bevor ein Mensch zu diesem heliozentrischen Weltensystem vorschreitet, muß er erst die Schwelle zu einer anderen Welt überschrei­ten, als die Welt ist, in der er lebt. Er ist behütet in seinem gewöhnlichen Leben von dem unsichtbaren Hüter der Schwelle, unter dem sich diese Alten ein sehr reales, wenn auch übersinnliches Wesen vorstellten. Er ist behütet davor, daß ihm plötzlich die Augen so aufgehen, wie wenn er die Welt entseelt, entgeistigt sehen würde. Denn entseelt und entgeistigt sehen wir heute die Welt. Wir sehen sie an, bilden uns unsere Naturan­schauung über das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich, wir sehen sie entseelt und entgeistigt. Wenn wir auf der Sternwarte mit Hilfe des Teleskops, mit Hilfe der Berechnungen uns Vorstellungen bilden über den Weg, über die Bewegungen der Himmelskörper, wir sehen die Welt entseelt und entgeistigt. Daß man die Welt auch so sehen kann, das wußten die alten Weisheitslehrer der Mysterien. Sie übermittelten nach der Vorbereitung, nachdem sie ihre Schüler am Hüter der Schwelle vorbeigeführt hatten, diese Erkenntnisse, aber sie bereiteten die Schüler vor durch eine strenge Willenszucht. Wodurch wurde diese Willens-zucht den Schülern gegeben? Indem die Schüler durch Entbehrungen geführt worden sind, aber auch indem die Schüler durch lange Jahre hindurch angehalten wurden, in strengem Gehorsam zu folgen einer reinen Moral, die ihnen von den Weisheitslehrern vorgeschrieben wurde. Der Wille sollte streng in Zucht genommen werden, und diese Willens-zucht sollte erstarken das Selbstbewußtsein. Und wenn die Schüler hinausgekommen waren über das träumerisch-dumpfe Selbstbewußtsein zu einem intensiveren Selbstbewußtsein, dann wurde ihnen erst gezeigt, was für sie jenseits der Schwelle lag: Diejenige Welt, die im heliozentri­schen Weltensystem für den äußeren Raum vorliegt; aber auch manches andere, was wir heute als den Inhalt unserer ganz gewöhnlichen Weltan­schauung anerkennen, wurde ihnen gezeigt.

Also das lag vor, daß man die Schüler jener alten Zeiten erst vorberei­tete, sorgsam vorbereitete, bevor man ihnen übermittelte dasjenige, was bei uns heute sozusagen jeder Schulknabe und jedes Schulmädchen aufnimmt. So ändern sich die Zeiten, so ändern sich die Zivilisationen. Man bekommt einfach eine falsche Vorstellung von der Entwickelung

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der Menschheit, wenn man nur die äußere Geschichte, nicht diese Geschichte der menschlichen Seele kennt.

Was hauen die Schüler der alten Weisheitsschulen mitgebracht bis zu ihrer Schwelle in die übersinnliche Welt? Sie hatten mitgebracht eine instinktive Welterkenntnis, die ihnen gewissermaßen aufging aus den Instinkten, aus den Trieben ihres Leibes. Durch die sahen sie - man nennt das heute Animismus - alles Äußere beseelt und durchgeistigt. Sie fühlten die Verwandtschaft des Menschen mit der Welt. Sie fühlten ihren Geist im Geiste der Welt drinnen liegend. Aber um die Welt hier so zu sehen, wie wir sie heute sehen lernen schon in der Elementarschule, mußten diese Alten vorbereitet werden.

Man redet heute in allen möglichen Literaturen, die sich dilettantisch über Mystik hermachen, auch wenn sie sich manchmal einen gelehrten Anschein geben, allerlei über den Hüter der Schwelle, über die Schwelle in die geistige Welt. Und sie finden oftmals um so mehr Glauben, je mehr nebulose Mystik man über diese Dinge ausgießt. Das, was ich Ihnen jetzt dargestellt habe, das ist dasjenige, was sich dem unbefange­nen Geistesforscher gerade über das ergibt, was die Alten die Schwelle genannt haben in die geistige Welt. Nicht jene nebulosen Dinge, von denen heute manche Orden und manche Sekten und dergleichen spre­chen, wurden jenseits der Schwelle aufgesucht, sondern gerade dasjenige, was bei uns heute allgemeine Bildung ist. Aber wir sehen daraus zu gleicher Zeit, daß wir der Welt mit einem anderen Selbstbewußtsein gegenüberstehen. Das fürchteten gerade jene alten Weisheitslehrer, daß ihre Schüler, wenn sie nicht erst das Selbstbewußtsein durch Willens-zucht erstarkt erhalten hätten, seelisch ohnmächtig geworden wären, wenn sie zum Beispiel aufgenommen hätten die Vorstellung: die Erde steht nicht still, sondern sie kreist mit großer Geschwindigkeit um die Sonne herum; man kreist mit der Erde um die Sonne herum. Dieses Verlieren des Bodens unter den Füßen, das hätten die alten Menschen nicht ertragen, das hätte ihnen das Selbstbewußtsein bis zur Ohnmacht herabgedämpft. Wir lernen das von Kindheit auf ertragen. Wir leben gewissermaßen in der Welt als unserer Bildungswelt drinnen, in welche die Alten erst nach sorgsamer Vorbereitung einzudringen hatten. Den­noch, zurücksehnen dürfen wir uns nicht nach den Zuständen der alten

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Zivilisationen. Sie passen nicht mehr zu demjenigen, was heute unsere Seele fordert. Dasjenige, was ich Ihnen heute vortrage als anthroposo­phisch orientierte Geisteswissenschaft, es ist weder eine Erneuerung alter gnostischer Lehren noch eine Erneuerung alter orientalischer Weis­heit, was alles heute nur als etwas Dekadentes an die Menschenseelen herangebracht werden könnte. Es ist etwas, was durch elementarische Schöpferkraft aus dieser menschlichen Seele heraus heute gefunden werden kann auf den Wegen, die ich Ihnen sogleich angeben werde. Vorerst aber möchte ich noch darauf aufmerksam machen, daß wir in gewisser Weise auch wiederum sprechen können von einer Schwelle in die übersinnliche Welt, oder überhaupt in eine andere Welt hinein als diejenige des gewöhnlichen Lebens und der gewöhnlichen Wissenschaft ist.

Die Alten vermuteten jenseits der Schwelle eine andere Welt, als ihnen im Alltagsleben gegeben war. Was aber hören wir gerade von unseren gewissenhaften Naturforschern, von denjenigen, die am meisten in bezug auf ihre Methoden recht haben? Wir hören, daß die Naturwissen­schaft uns vor Grenzen der Erkenntnis stellt. Wir hören von Ignorabi­mus und dergleichen, und zwar - das muß betont werden - innerhalb der Naturwissenschaft mit vollem Rechte. Wenn den Alten fehlte das inten­sive Selbstbewußtsein, das wir heute haben, so fehlt uns etwas anderes.

Wodurch haben wir denn überhaupt dieses intensive Selbstbewußtsein erhalten? Wir haben es ja dadurch erhalten, daß jene Denkweise und jene Anschauungsart in die Menschheit gekommen ist, die mit Kopernikus, Galilei, Kepler, Giordano Bruno und so weiter, ihren Anfang genommen hat. Dadurch haben wir nicht nur eine Summe von Erkenntnissen gewonnen, sondern dadurch hat die moderne Menschheit auch eine gewisse Erziehung ihres Seelenlebens durchgemacht. Alles dasjenige, was wir unter dem Einfluß der Denkweise dieser Geister in der neueren Zeit ausgebildet haben, tendiert darauf hin, vorzugsweise den Intellekt, die Verstandeskräfte zu kultivieren. Gewiß, wir experimentieren heute in der Wissenschaft, wir beobachten sorgfältig und gewissenhaft. Wir verfolgen mit unseren Instrumenten, mit Teleskop, Mikroskop, mit den Röntgenstrahlen, mit dem Spektroskop die Erscheinungen um uns herum, und wir gebrauchen sozusagen unseren Verstand nur, um aus der

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Erscheinung heraus die Naturgesetze zu gewinnen. Allein, was tun wir trotz alledem, auch wenn wir beobachten, wenn wir experimentieren? Wir tun es so, daß wir innerhalb dieser Erkenntnisarbeit nur den Verstand zur Formulierung der Naturgesetzmäßigkeiten sprechen las­sen. Und es ist einmal so, daß vorzugsweise der Intellekt, der Verstand in der menschlichen Entwickelung herangezogen worden ist im Laufe der letzten drei, vier, fünf Jahrhunderte. Der Verstand aber hat die Eigen­tümlichkeit, daß er das menschliche Selbstbewußtsein erstarkt, erhärtet, intensiv macht. Daher können wir heute dasjenige ertragen, was noch ein alter Grieche nicht ertragen hätte: das Bewußtsein, uns mit der Erde im Bodenlosen gewissermaßen um die Sonne herum zu bewegen. Aber wir werden auf der anderen Seite gerade wegen dieses erstarkten Selbstbe­wußtseins, das uns die Welt seelen- und geistlos zeigt, dazu geführt, eine Erkenntnis nicht zu haben, nach der sich die Seelen dennoch sehnen müssen: Wir sehen die Welt in ihren materiellen Erscheinungen, ihren materiellen Tatsachen, wie sie die alten Menschen niemals gesehen haben ohne eine Vorbereitung der Mysterien. Aber wir sehen nicht - und deshalb sprechen gerade gewissenhafte Naturforscher von Ignorabimus und von den Erkenntnisgrenzen -, wir sehen nicht die Welt eines Geistigen um uns herum.

Wir stehen als Menschen in dieser Welt. Wenn wir uns auf uns selbst besinnen, müssen wir uns sagen: Indem wir einfach denken über die Dinge, indem wir die Experimente zusammenfassen, die Beobachtungen zusammenfassen, ist es der Geist, der in uns tätig ist. Aber ist denn dieser Geist jener Einsiedler, der da steht in einer Welt von materiellen Erscheinungen? Ist dieser Geist nur in unserem Leibe vorhanden? Ist die Welt geist- und seelenlos, wie wir sie durch physikalische und biologi­sche Wissenschaften, von ihrem Gesichtspunkte aus mit Recht, auffassen müssen? - So stehen wir einmal heute vor unserer Umwelt. Wir stehen neuerdings vor einer Schwelle. Das ist ja gewiß den weitesten Kreisen der Menschheit noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Aber was die Menschheit sich nicht voll zum Bewußtsein bringt, das ist deshalb nicht ganz in der Seele ausgelöscht. Man denkt nicht nach über die Dinge, aber innerlich sitzen diese Dinge als Empfindungen der Seele. Wir haben ein unbewußtes Seelenleben. Bei den meisten Menschen bleibt es unbewußt.

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Aber aus diesem Unbewußten heraus erwächst die Sehnsucht, wiederum eine Schwelle zu überschreiten, zum Selbstbewußtsein geistige Welt-erkenntnis hinzuzugewinnen.

Nun, wie man auch sonst diese Dinge, die man ja meistens nur unklar empfindet, nennen mag, sie sind doch in Wahrheit von der einen Seite her die tiefsten Zivilisationsrätsel; sie sind doch so, daß die Menschen empfinden: eine geistige Welt um sie herum müsse wieder gefunden werden. Die geist- und seelenleere Welt der gewöhnlichen Wissenschaft kann nicht diejenige sein, mit der auch die menschliche Seele eine Einheit in ihrer tiefsten Wesenheit bildet.

Das ist die erste große zivilisatorische Frage der Gegenwart: Wie finden wir wiederum ein Wissen, das uns zu gleicher Zeit vertieft zur religiösen Empfindung? Wie finden wir eine Erkenntnis, die zu gleicher Zeit die tiefsten Bedürfnisse nach einem Gefühl des Ewigen in der Menschenseele befriedigt?

Man darf sagen: Großes, Gewaltiges hat die moderne Wissenschaft gebracht, aber für den Unbefangenen hat sie eigentlich nicht Lösungen gebracht, sondern man möchte sagen, das Gegenteil von Lösungen. Und auch darüber muß man zufrieden und froh sein.

Was können wir durch die moderne Wissenschaft? Können wir die Fragen der Seele lösen? Nein, aber wir können sie vertieft stellen! Wir haben ja vor uns durch diese moderne Wissenschaft die Welt der materiellen Tatsachen in ihrer Reinheit, frei von dem, was der Mensch aus seiner Subjektivität hereinträgt in die Welt an Seelenhaftigkeit, an Geistigkeit. Wir sehen gewissermaßen die reinen Erscheinungen der äußeren materiellen Welt. Dadurch lernen wir die Fragen der Seele intensiver kennen. Das ist gerade die Errungenschaft des modernen Wissenschaftsgeistes, daß er uns neue Rätsel gebracht hat, vertieftere Rätsel. Das ist die erste große zivilisatorische Frage der Gegenwart: Wie stellen wir uns gegenüber diesen vertieften Rätseln? - Man kann nicht im Haeckelschen, im Huxleyschen, im Spencerschen Geiste die großen Seelenfragen lösen, allein man kann aus diesem Geiste heraus die großen Rätselfragen für das heutige Menschheitsdasein intensiver empfinden, als jemals zuvor.

Da tritt nun Geisteswissenschaft ein. Sie will die heutige Menschheit

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ihren Anlagen gemäß über die erneute Schwelle in eine geistige Welt hineinführen. Der Weg, durch den der moderne Mensch anders als der alte Mensch die Schwelle überschreiten kann, soll heute andeutungs­weise hier geschildert werden. In kurzen Zügen kann ich das nur tun; ausführlicher finden Sie das, was ich nur prinzipiell erläutern will, in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», in meiner «Geheimwissenschaft» und in anderen Schriften geschildert.

Ich möchte zunächst aufmerksam machen auf den Ausgangspunkt, den heute derjenige Mensch nehmen muß, der ein Geistesforscher werden will. Gerade von einem Punkte muß er ausgehen, auf den sich die heutigen Menschen aus der ganzen Zeitbildung heraus am wenigsten gern stellen möchten. Es ist der Punkt in der Seelenverfassung, den ich nennen möchte intellektuelle Bescheidenheit. Trotzdem wir entwickelt haben bis zu einer besonderen Höhe als Menschheit in den letzten drei bis vier Jahrhunderten den Intellekt, zu einer solchen Höhe, wie er vorher niemals in der Menschheitsentwickelung da war, muß man sich als Geistesforscher aufschwingen gerade zur intellektuellen Bescheiden­heit. Durch einen Vergleich möchte ich Ihnen dasjenige verdeutlichen, was ich darunter verstehe. Nehmen wir ein fünfjähriges Kind und geben wir ihm einen Band Shakespeare in die Hand, was würde es damit tun? Es wird damit spielen, darin blättern, ihn zerreißen; es wird nicht dasjenige damit tun, was das Angemessene ist. Wenn das Kind aber dann weitere zehn oder fünfzehn Jahre durchlebt hat, wird es sich ganz anders zu dem Bande Shakespeare verhalten, es wird sich so verhalten, wie es dem Bande angemessen ist. Was ist da geschehen? Nun, Fähigkeiten, die der Anlage nach in dem Kinde gelebt haben, sind durch äußeres Eingrei­fen der Menschen, durch Erziehung und Unterricht ausgebildet worden in dem Kinde. Es ist seelisch ein anderes Wesen geworden im Laufe der zehn bis fünfzehn Jahre. - Intellektuelle Bescheidenheit läßt dem Men­schen sagen, auch dann gerade, wenn er erwachsen ist, wenn er die Zeitbildung in der Wissenschaft dem Intellekt nach aufgenommen hat:

Du könntest in einer gewissen Weise der ganzen Natur, der Umwelt so gegenüberstehen, daß sich dein Gegenüberstehen vergleichen läßt mit dem des fünfjährigen Kindes einem Bande Shakespeare gegenüber. Es könnten in dir noch Anlagen sein, die weiter ausgebildet werden können,

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so daß du geistig-seelisch ein anderes Wesen wirst. - Das ist den heutigen Menschen nicht sehr lieb, sich auf den Standpunkt einer solchen intellektuellen Bescheidenheit zu stellen. Unsere Denk- und Empfindungsgewohnheiten gegenüber dem Bildungsleben sind andere. Derjenige, der heute die gewöhnliche Erziehung genossen hat, wird dann in unsere höheren Bildungsanstalten aufgenommen. Da hat man es nicht mehr zu tun mit einer Entwickelung der Erkenntnisse, der Wil­lensfähigkeiten, der Gemütsfähigkeiten der Seele. Da bleibt man im Grunde genommen innerhalb des wissenschaftlichen Forschens auf dem Standpunkte stehen, den einem Vererbung und die gewöhnliche Erzie­hung geben. Gewiß, in einer unerhörten Weise verbreiterte man durch das Experiment, durch die Beobachtung die Wissenschaft, aber man wandte dieselben Erkenntniskräfte an, die man einmal im sogenannten modernen Geistesleben hat. Man legte nicht die Entwickelung seines Menschen darauf an, diese Erkenntniskräfte weiterzubringen. Man sagte sich nicht: Derjenige, der diese Erkenntniskräfte des Lebens oder der Wissenschaft hat, könnte gegenüberstehen der Natur wie das fünfjährige Kind dem Bande Shakespeare, und er konnte ausbilden in sich Kräfte, Erkenntnisfähigkeiten, die ihn zu einem ganz anderen Verhalten gegen­über der Natur bringen. Das aber sagt sich derjenige, der im Sinne der hier gemeinten anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft ein Forscher in den übersinnlichen Welten werden will. Da handelt es sich wirklich um die Ausbildung von menschlichen Fähigkeiten, die zunächst nur in den Anlagen vorhanden sind, allerdings bei jedem Menschen, aber damit sie entwickelt werden, muß mancherlei durchgemacht werden.

Ich spreche nicht von irgendwelchen wunderbaren oder gar abergläu­bischen Maßnahmen gegenüber der Menschenseele, sondern ich spreche von der Entwickelung von Fähigkeiten, die jeder Mensch gut kennt, die im alltäglichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft ihre große Rolle spielen; die da angewendet werden, die aber nur nicht bis zu ihrem, dem Menschen zwischen Geburt und Tod möglichen Ende getrieben werden.

Es gibt viele solche Fähigkeiten, ich möchte aber heute nur zwei charakterisieren in ihrer Weiterentwickelung. Genaueres darüber finden Sie auch in den genannten Büchern. Da ist zunächst die Erinnerungsfähigkeit.

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Diese Erinnerungsfähigkeit ist dem alltäglichen Leben durchaus notwendig. Man weiß, und besonders diejenigen, die sich mehr für solche Dinge interessieren, werden es aus der psycho-pathologischen Literatur wissen, was es bedeutet für das gesunde Seelenleben, daß die Erinnerung intakt ist bis zu einem Punkte in der Kindheit, der ziemlich früh liegt; daß da nicht eine Strecke ist im Leben, aus der nicht auftauchen Erinnerungsvorstellungen, die uns die Erlebnisse wiederum vor die Seele bringen, die wir durchgemacht haben. Löscht aus dasjenige, was Erinnerung ist, dann ist das Ich des Menschen zerstört; eine schwere Seelenkrankheit ist über ihn gekommen. Dasjenige nun, was uns die Erinnerung gibt, ist ein Wiederauftauchen in blassen oder lebhaften Bildern. Gerade diese Fähigkeit, diese Kraft kann weiter ausgebildet werden. Was ist denn ihre Eigentümlichkeit? Nun, sonst huschen die Erlebnisse vor uns vorbei. Auch die Vorstellungen, die wir an diesen Erlebnissen uns bilden, huschen an unseren Seelen vorüber. Die Erinne­rung bewahrt sie auf. - Ich kann nur skizzenhaft über diese Erinnerung sprechen; in meiner Literatur finden Sie gerade über diese Erinnerungs­fähigkeit eine ausgebildete Wissenschaft.

Dasjenige, was die Erinnerung macht aus den sonst vorüberhuschen­den Vorstellungen, das ist, daß sie ihnen Dauer verleiht. Das ist dasje­nige, was man in der geisteswissenschaftlichen Methode zunächst auf­greift und weiterbildet; weiterbildet durch das, was ich in den genannten Büchern Meditation und Konzentration nenne. Es besteht darin, daß man sich entweder raten läßt von jemand, der in diesen Dingen Erfah­rung hat, oder daß man sich aus der Literatur selber den Rat herausholt, daß man Vorstellungskomplexe ins Bewußtsein nimmt, die leicht über­schaubar sind; solche überschaubaren Vorstellungskomplexe, wie etwa die geometrischen oder mathematischen Figuren sind, die man völlig übersieht, von denen man weiß: das sind nicht Reminiszenzen aus dem Leben, die aus dem Unterbewußten herauftauchen, sondern alles was man im Bewußtsein hat, das hat man durch eigene Willkür im Bewußt­sein; man unterliegt keiner Autosuggestion, keiner Träumerei; man überschaut dasjenige, was man in den Mittelpunkt des Bewußtseins rückt. Dann verharrt man im Bewußtsein längere Zeit mit völliger innerer Ruhe auf dieser Vorstellung. Geradeso wie die Muskeln sich

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entwickeln, wenn sie eine besonders geartete Arbeit verrichten, so entwickeln sich gewisse Seelenkräfte, wenn sich die Seele hingibt dieser ungewohnten Tätigkeit des Verharrens auf solchen Vorstellungen. Es sieht einfach aus, und nicht nur glauben manche, daß der Geisteswissen­schafter dasjenige, was er zu sagen hat, aus irgendwelchen Einflüssen hervorhole, sondern es glauben auch manche, dasjenige, was ich hier schildere als Methoden, die sich im inneren, intimen Seelenleben selber abspielen, das sei leicht. Nein, auch dasjenige, was ich Ihnen jetzt erzähle, erfordert eine lange Zeit; der eine Mensch kann es leichter, der andere kann es schwerer verrichten. Die Tiefe der Verrichtung ist viel wichtiger als die lange Zeit, die man mit einer solchen Meditation zubringt. Allein man muß solche Übungen jahrelang machen. Und was man da verrichten muß im Inneren der Seele, es ist wahrhaftig nicht leichter als dasjenige, was man im Laboratorium, im Physiksaal, auf der Sternwarte vollbringt. Äußerliche Forschungen eignet man sich nicht etwa schwerer an als dasjenige, was so in der Seele sorgsam und gewissenhaft durch lange Jahre heranerzogen wird. Dann aber erstarken gewisse innere Seelenkräfte, die wir sonst nur als Erinnerungskräfte kennen, und dadurch ersteht in uns etwas als Seelenkraft, was wir vorher überhaupt nicht gekannt haben. Dadurch gelangen wir dazu, nun deut­lich zu erkennen gerade dasjenige, was der Materialismus sonst über die Gedächtniskraft, die Erinnerungskraft sagt. Der Materialismus sagt uns:

Diese Erinnerungskraft des Menschen ist ja an den materiellen Leib gebunden; ist irgend etwas im Nervensystem nicht in der richtigen Weise konstituiert, so geht auch die Erinnerungskraft zurück, auch mit dem Alter geht sie zurück. Überhaupt, die Geisteskräfte hängen von der leiblichen Entwickelung ab. - Das leugnet für das Leben zwischen Geburt und Tod Geisteswissenschaft nicht. Denn derjenige, der gerade seine Erinnerungskraft so entwickelt, wie ich es eben geschildert habe, der weiß durch unmittelbare Anschauung, wie die gewöhnliche Erinnerungskraft, die uns die Bilder unserer Erlebnisse vor die Seele zaubert, allerdings abhängig ist von dem menschlichen Leibe. Aber dasjenige, was er jetzt entwickelt, das wird ganz unabhängig von dem menschlichen Leibe. Und der Mensch erfährt, wie man in einem Seelischen leben kann so, daß man in diesem Seelischen übersinnliche Erfahrungen hat, wie man in dem

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physischen Leibe sinnliche Erfahrungen hat. Ich möchte Ihnen auf die folgende Weise erklären, wie diese übersinnlichen Erfahrungen sind.

Sie wissen, das menschliche Leben wechselt rhythmisch zwischen Wachen und Schlafen. Es stellen sich die Momente des Einschlafens und Aufwachens und die dazwischenliegende Schlafenszeit in unser waches Leben hinein. Was liegt da vor? Da liegt das folgende vor für das ge­wöhnliche Bewußtsein: Durch das Einschlafen wird das Bewußtsein her­abgedämpft, bei den meisten Menschen bis zum Nullpunkt; die Träume schäumen manchmal aus diesem halbgedämpften Bewußtsein auf. Da lebt der Mensch allerdings, sonst müßte er ja vergehen und neu entstehen; seelisch-geistig lebt er allerdings, aber sein Bewußtsein ist herabgelähmt. Das hängt damit zusammen, daß der Mensch vom Einschlafen bis zum Aufwachen sich nicht seiner Sinne bedient, sich nicht derjenigen Impulse bedient, die seine organischen Willensimpulse darstellen.

Gerade dasselbe aber kann derjenige ausschalten, der aus der Erinne­rungsfähigkeit heraus die höhere Fähigkeit entwickelt hat, von der ich eben jetzt gesprochen habe. Ein solcher Geistesforscher kommt in die Lage, nun auch nicht sehen zu brauchen mit den Augen, wie man im Schlafe nicht sieht mit den Augen; nicht hören zu brauchen mit den Ohren, wie man auch im Schlafe nicht hört mit den Ohren; selbst die Wärme nicht zu empfinden in der Umgebung, nicht zu gebrauchen die Willensimpulse, die durch die Muskeln, überhaupt durch die menschli­che Organisation wirken. Er kann ausschalten alles Leibliche. Und doch ist sein Bewußtsein nicht wie im Schlafe herabgedämpft, sondern er kommt dazu, sich Zuständen hinzugeben, in denen sonst der Mensch nur im Schlafe ist, aber bewußtlos; der Geistesforscher ist vollständig bewußt. Wie der schlafende Mensch umgeben ist von einer dunklen Welt, die für ihn ein Nichts enthält, so ist der Geistesforscher von einer Welt umgeben, die nichts zu tun hat mit unserer sinnlichen Welt, die aber ebenso voll, ebenso intensiv ist wie unsere sinnliche Welt. Unserer sinnlichen Welt stehen wir gegenüber durch unsere Sinne; der übersinn­lichen Welt steht der Geistesforscher gegenüber, wenn er vom Leibe bewußt sich befreien kann, wenn er in einem Zustande ist, wie sonst der Mensch zwischen Einschlafen und Aufwachen; aber er ist voll bewußt in diesem Zustande.

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In dieser Weise lernt man erkennen, daß eine ubersinnliche Welt uns immerfort umgibt, wie uns sonst eine sinnliche Welt umgibt. Allerdings, es tritt gerade ein bedeutsamer Unterschied auf: In der sinnlichen Welt nehmen wir durch unsere Sinne Tatsachen wahr und innerhalb der Tatsachen auch Wesenheiten. Die Tatsachen überwiegen, die Wesenhei­ten treten im Laufe dieser Tatsachen auf. In der übersinnlichen Welt, die wir uns so eröffnen, treten wir zuerst an die Wesenheiten heran. Wirkliche Wesenheiten sind es, die uns umgeben, wenn wir uns also das Geistesauge öffnen zu einem Schauen der übersinnlichen Welt. Und es ist zunächst diese Welt ganz konkreter, realer, übersinnlicher Wesenhei­ten, in der wir sind, noch nicht eine Welt von Tatsachen zu nennen; die müssen wir uns durch noch etwas anderes erobern.

Das ist also die Errungenschaft der modernen anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, daß der Mensch wiederum eine Schwelle überschreitet und in eine andere Welt eintreten lernt, als diejenige ist, die ihn sonst umgibt.

Und wenn der Mensch so erkennen lernt, wie er da unabhängig ist vom Leibe, dann kommt er endlich auch dazu, sich zu sagen: Nicht nur indem die Seele einschläft, hebt sie sich gewissermaßen aus dem Leibe heraus und geht wiederum in den Leib zurück beim Aufwachen, durch die Begierde nach dem Leibe, der im Bette liegt, geht sie zurück. Man kommt auch dazu, wirklich kennenzulernen durch solche übersinnliche Erkenntnis die Wesenheit der Seele, wie sie durch diese Begierde zu dem Leibe wieder zurückkehrt beim Aufwachen. Eignet man sich aber solche realen Begriffe von Einschlafen und Aufwachen an, so erweitern sich diese Begriffe endlich auch zu dem, daß man die Menschenseele erken­nen lernt in ihrer Wesenheit wie sie war, bevor sie durch die Geburt oder Empfängnis in einen physischen Leib, der ihr durch die Vererbung gegeben ist, heruntergestiegen ist aus geistigen Welten. Wenn man einmal erfaßt hat und verfolgen lernt die Seele außerhalb des Leibes zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, wie man erkennen lernt die geringeren Kräfte, die die Seele nach dem Leibe im Bette hinziehen, so lernt man erkennen die Seele wie sie lebt, indem sie vom Leibe befreit ist, nachdem sie durch die Pforte des Todes gegangen ist. Namentlich die folgenden Vorstellungen nimmt man auf: Man lernt erkennen, warum

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im Schlafe die Menschenseele nur ein dumpferes Bewußtsein hat. Sie hat es deshalb, weil in ihr die Begierde nach dem Leibe lebt. Diese Begierde nach dem Leibe dämpft bis zur Ohnmacht herab das Bewußtsein zwischen dem Einschlafen und Aufwachen. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, ist diese Begierde nicht mehr vorhanden. Und indem man die Seele kennenlernt durch das entwickelte Erinnerungsver­mögen, lernt man sie gerade in dem Zustand kennen, wie sie entwickelt wird, nachdem sie durch die Pforte des Todes schreitet; wie sie dann ein Bewußtsein haben kann, weil sie nicht an einen physischen Leib gebun­den ist, weil sie nach einem solchen keine Begierde mehr hat. Dieses Freisein von einer Begierde macht das Bewußtsein möglich. Indem der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, erlangt er ein andersartiges Bewußtsein als dasjenige ist, was ihm gegeben war durch das Werkzeug des Leibes. Dadurch lernt man auch erkennen, wie in der Seele die Kräfte waren, die sie hingezogen haben zu einem physischen Leibe, als sie in einer geistigen Welt war, aber zu einem physischen Leibe, der nur im allgemeinen als physischer Leib ihr vorgeleuchtet hat, der nicht ein bestimmter war. Man lernt die Seele erkennen, wie sie die Begierde aufnimmt, in das physische Erdenleben wieder herunterzukommen. Man lernt, mit anderen Worten zunächst, das Ewige der Menschenseele in seiner wahren Bedeutung kennen. Und das ist das eine, was man auf diese Weise kennenlernt. Man lernt aber noch etwas anderes kennen dadurch.

Indem man so in Bildern, ich nenne es in meinen Büchern Imaginatio­nen, erkennen lernt das Ewige in der Menschenseele, das durch Gebur­ten und Tode geht, lernt man erkennen, daß diese Menschenseele angehört einer übersinnlichen Welt; daß die Seele so einer übersinnli­chen Welt angehört, wie der Leib der sinnlichen Welt angehört. Und so wie man durch den Leib diese sinnliche Welt beschreiben kann, so kann man in ihrer Geistigkeit die übersinnliche Welt beschreiben. Man lernt zu der sinnlichen Welt hinzu eine übersinnliche Welt erkennen. Man muß sich allerdings dazu hergeben, noch eine zweite Seeleneigenschaft weiter auszubilden, als sie im gewöhnlichen Leben ist, eine Seeleneigen­schaft, bei deren bloßer Nennung als einer Erkenntniseigenschaft der heutige Wissenschafter zurückzuckt. Man kann vollständig würdigen die

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Gründe, warum er das tut; allein dennoch ist dasjenige wahr, was ich Ihnen zu erzählen habe über die Weiterentwickelung dieser menschli­chen Seelenfähigkeit.

Die erste Kraft, die entwickelt werden mußte, war die Erinnerungsfä­higkeit, die zu einer selbständig waltenden Kraft wird. Die zweite Kraft ist die Kraft der Liebe. Im gewöhnlichen Leben zwischen Geburt und Tod wirkt die Liebe durch den körperlichen Organismus; sie ist innig verbunden mit Instinkten und Trieben der Menschennatur. Und nur in den erhabensten Augenblicken löst sich etwas von dieser Liebe los von der Leiblichkeit. Dann hat der Mensch jenen erhebenden Augenblick, wo er von sich selber frei wird, welches der Zustand der wahren Freiheit ist, wo der Mensch sich nicht hingibt den Trieben, sondern wo er sich vergißt, wo er nach den äußeren Tatsachen, nach der Notwendigkeit der Tatsachen seine Handlungen einrichtet. Weil die Liebe innerlich zusam­menhängt mit der Freiheit, habe ich bereits im Jahre 1892 in meiner «Philosophie der Freiheit», durch die ich philosophisch geradezu eine Soziologie begründen wollte für die Gegenwart, gewagt zu sagen, die wahre Liebe mache den Menschen nicht blind, sondern gerade sehend, das heißt frei. - Sie führt ihn über dasjenige hinaus, was ihn sonst blind macht, wenn er abhängig ist von dem, was in ihm ist. Die Liebe läßt uns hingegeben sein an die Außenwelt, und sie befreit uns dadurch von dem, wovon wir befreit werden müssen, wenn wir frei handeln sollen. Aber diese Liebe, die nur in wirklich freien Handlungen in unser gewöhnli­ches Leben hineinleuchtet, muß gerade der moderne Geistesforscher ausbilden. Die Liebe muß allmählich sich so vergeistigen, wie die Erinnerungsfähigkeit sich vergeistigen muß; sie muß zu einer Kraft werden, die nur seelisch ist, die ganz und gar ihn als seelisches Wesen unabhängig macht vom Leibe, so daß er lieben kann, ohne daß der Leib durch sein Blut, durch seine ganze Organisation die Gründe für diese Liebe gibt. Dadurch kommt das Versenken in die äußere Welt, in den Menschen; dadurch wird man eins mit der äußeren Welt. Diese entwik­kelte Liebekraft, die bringt uns nun ein zweites; die setzt uns wesenhaft hinein in die geistige Welt, die wir durch die entwickelte Erinnerungsfä­higkeit betreten. Und wir lernen jetzt Wesenheiten kennen, lernen geistige Tatsachen kennen. Wir lernen die Welt so zu schildern, daß wir

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nicht bloß sagen, wie einmal aus irgendeiner alten Nebeiwelt unser gegenwärtiges Planetensystem entstanden ist, was dann auch wiederum einmal zerstäuben oder in die Sonne fallen wird. Wir sehen nicht auf eine solche geistfremde Natur. Und wenn der Mensch ehrlich ist, so muß er empfinden, wie dieser naturwissenschaftlich angeschauten Welt gerade das Wertvollste im Menschen gegenübersteht. - Man hat die bedrängten Seelen im modernen Geistesleben kennenlernen können, die uns immer wieder sagen: Da erzählt uns die Naturwissenschaft von einer Welt der rein natürlichen Notwendigkeit, daß unsere Welt herkomme aus Welten, die Nebelwelten waren, die sich zusammenballten zu den vier Naturrei­chen, dem Mineralreich, dem Pflanzenreich, dem Tierreich bis zum Menschen. Aber im Menschen entsteht etwas im tiefsten Inneren, dem er den größten Wert beilegen muß: seine moralische, seine religiöse Welt. Die steht vor seiner Seele, die macht ihn eigentlich erst zum Menschen. Aber er muß sich sagen, wenn er ehrlich ist gegenüber der rein naturwis­senschaftlichen Weltanschauung: Diese Erde, auf der du stehst wie ein Einsiedler des Weltalls mit deinen moralischen Idealen, sie wird zerfal­len, wird zurückfallen in die Sonne, wird eine Schlacke werden. Ein großer Kirchhof wird da sein, die Ideale werden begraben sein. - Da tritt die Geisteswissenschaft jetzt ein. Sie tritt nicht aus Glaube und Hoff­nung bloß, sondern aus wirklichem Wissen, das auf diese Weise entwik­kelt wird, wie ich es angedeutet habe, dem gegenüber und sagt: Nein, die bloße naturwissenschaftliche Weltanschauung bietet eine Abstraktion von der Welt. Die Welt ist durchgeistigt, die Welt ist von übersinnlichen Wesenheiten durchzogen. Und blicken wir zurück auf die Vorzeit, so ist das, was materiell auf der Erde ist, aus Geistigem hervorgegangen; und was jetzt materiell ist, es wird ein Geistiges werden in der Zukunft. Geradeso wie der Mensch seinen Leib abstreift und geistig in eine geistige Welt hineingeht mit Bewußtsein, so wird das, was an der Erde materiell ist, wie ein Leichnam abfallen, und das, was auf der Erde geistig-seelisch ist, was in den Menschen geistig-seelisch ist, es wird sich erheben in der Zukunft, auch wenn die Erde untergegangen sein wird. Man könnte sagen, mit einer gewissen Variante bewahrheitet sich hier das christliche Wort: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Der Mensch kann sagen: Alles, was meine

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Augen sehen, wird untergehen, wie der menschliche Leib untergeht gegenüber der menschlichen Individualität. Aber aus dem Untergehen­den erhebt sich dasjenige, was als Moralisches im Menschen lebt. Der Mensch empfindet eine geistige Welt um sich herum, er lebt sich in eine geistige Welt hinein.

Dadurch, daß anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft in dieser Weise unser Wissen vertieft zum Geistigen hin, dadurch tritt sie den zivilisatorischen Bedürfnissen der Gegenwart in einer anderen Form gegenüber, als die äußere Wissenschaft das kann. Sie kann wiederum das Wissen, die Erkenntnis vertiefen zur religiösen Inbrunst, zu religiösem Bewußtsein. Sie gibt dem Menschen ein geistiges Selbstbewußtsein.

Das ist im Grunde genommen die erste große zivilisatorische Frage der Gegenwart. Wenn der Mensch nicht den rechten inneren Halt hat, wenn er sich vorkommt wie im Leeren schwebend als bloß materielle Wesenheit, kann er kein starkes inneres Wesen entwickeln, und auch im sozialen Leben kann er nicht als ein starkes Wesen auftreten. Die äußeren Einrichtungen, die äußeren sozialen Zustände muß der Mensch schaffen. Es liegt in den äußeren Einrichtungen, den äußeren sozialen Zuständen etwas Bedeutungsvolles in bezug auf die großen zivilisatori­schen Fragen der Gegenwart und der Zukunft, und es führen uns diese zivilisatorischen Fragen zurück zum Aufsuchen des großen, wahren Menschheitsbewußtseins. Denn erst Menschen, die einen solchen inne­ren Halt haben, den ihnen das Ruhen im Geiste geben kann, werden sich in das soziale Leben richtig hineinstellen können.

Das ist die erste Frage: Wie kann sich der Mensch mit innerem Halt, mit Lebenssicherheit hineinstellen in unsere sozialen Verhältnisse? Das zweite ist das, was wir nennen könnten das Gegenübertreten des Men­schen dem Menschen, den menschlichen Verkehr. Und da betreten wir ein Gebiet, wo nicht weniger als auf dem Erkenntnisgebiet die moderne Zivilisation dem Menschen nicht neue Lösungen, sondern neue Rätsel gebracht hat. Bedenken Sie nur, welche Weite der Technik, dem techni­schen Leben gerade die Errungenschaften der modernen Naturwissen­schaft gebracht haben. Technisches Leben, kommerzielles Leben, Ver­kehrsleben, wie sie uns heute von Stunde zu Stunde umgeben, sie sind die Errungenschaften dieser großartigen neueren Naturanschauung. Was

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wir aber innerhalb der modernen Technik gerade nicht gefunden haben, was als neue Lebensfrage uns aufgegeben ist, das ist: Wie sollen die Menschen leben in diesem komplizierten technischen, kommerziellen und Verkehrsleben? Diese Frage ist aufgeworfen von der modernen Zivilisation selbst. Daß sie noch nicht gelöst ist, das zeigen jene furchtba­ren Bewegungen, die um so schlimmer sich darstellen, je weiter wir nach dem Osten hinüberkommen, bis nach Asien hinein, wo aus menschli­chen Instinkten heraus nicht Aufwärtsgehendes erzeugt wird, sondern, weil die großen zivilisatorischen Fragen nicht gelöst sind, Zerstöreri­sches geschaffen wird. Es würde zweifellos durch dasjenige, was im Osten auftaucht, die ganze moderne Zivilisation zugrunde gehen müs­sen. Viel furchtbarer, als es sich die Menschen im Westen vorstellen, ist dasjenige, was da lauert, um in den Niedergang der modernen Zivilisa­tion hineinzuführen. Aber es bezeugt auch, wie etwas anderes notwen­dig ist zur Lösung der zivilisatorischen Fragen der Gegenwart.

Wir müssen nicht nur arbeiten in der modernen Technik, die aus der modernen Naturanschauung hervorgegangen ist, sondern wir müssen auch eine andere Möglichkeit gewinnen: Der Mensch ist der alten Natur entfremdet worden, er ist selber hineingestellt worden praktisch, mit seinen Handlungen, seinem ganzen Beruf in ein entseeltes, entgeistigtes Mechanistisches; er ist von dem Umgang mit der Natur zum Umgang mit der geistlosen Maschine, mit dem geistlosen Verkehrsmechanismus geführt worden; und wir müssen die Wege finden, dem Menschen wieder etwas zu geben, das er empfinden kann wie früher durch die Natur Gegebenes. Das muß eine Weltanschauung sein, die mit starker Kraft zu seiner Seele spricht und die ihm sagt, daß der Mensch etwas anderes noch ist, als was er hier erlebt; daß er angehört einer geistig-seelischen, einer übersinnlichen Welt, die ihn umgibt, die man erfor­schen kann in ebenso exakter Wissenschaft, wie die äußere Wissenschaft ist, die zur Technik führt. Aber nur eine solche Wissenschaft wird auch das richtige Verhältnis von Mensch zu Mensch wiederum begründen können. Eine solche Wissenschaft wird uns im Menschen begegnen lassen ein Wesen, das uns nicht nur erscheint, wie es uns gegenübertritt, wie es erscheint zwischen Geburt und Tod, sondern so, daß wir das Ewige, das Unvergängliche, den Zusammenhang mit einer übersinnlichen

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Welt immerdar achten lernen. Durch ein solch vertieftes Wissen muß die Empfindung von Mensch zu Mensch anders werden.

Und auf ein Drittes kommt es noch an. Darauf kommt es an, daß der Mensch wiederum lernt, daß sein Leben nicht erschöpft ist mit dem Leben zwischen Geburt und Tod, wie es der moderne Proletarier glaubt aus seiner «Ideologie» genannten Weltanschauung heraus, sondern daß das, was wir hier tun in jedem Augenblick, nicht nur eine irdische, sondern auch eine kosmische Bedeutung hat. Denn tatsächlich, wenn die Erde zugrunde gegangen sein wird, dann wird dasjenige, was wir aus unseren Seelen in die alltägliche Arbeit hineintragen aus moralischen, geistig-seelischen Grundlagen heraus, aufgehen in einer anderen Welt: es wird die Durchgeistigung in der Metamorphose mitmachen.

Dreifach also macht sich die anthroposophisch orientierte Geisteswis­senschaft an die Fragen der Gegenwart heran. Sie bringt den Menschen zu einem geistigen Selbstbewußtsein. Sie bringt den Menschen dazu, in seinem Mitmenschen, dem Nächsten, wiederum ein Geistwesen zu sehen. Sie bringt den Menschen dazu, seiner Arbeit, seinen irdischen Verrichtungen eine kosmische, eine universelle, eine geistige Bedeutung zu geben, wenn diese auch noch so materiell sind.

Über dasjenige, was man so erarbeiten kann, hat Geisteswissenschaft heute schon nicht nur theoretische Anschauungen, sondern sie hat sich bereits an die Praxis des Lebens heranbegeben. Wir haben in Stuttgart die Waldorfschule, die von Emil Molt begründet wurde, die ich zu leiten habe, und an der eine Pädagogik, eine Didaktik ausgebildet wird durch dasjenige, was man an Menschenerkenntnis erhalten kann durch die Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist. Wir haben ferner in Dor­nach bei Basel das Goetheanum, eine Freie Hochschule für Geisteswis­senschaft. Dieses Goetheanum in Dornach ist noch nicht fertig, aber wir konnten in dem unfertigen Bau im Herbst des vorigen Jahres eine große Anzahl von Kursen abhalten. - Ich durfte auch früher schon hier in Holland über Geisteswissenschaft sprechen. Ich konnte damals nur so sprechen, daß diese Geisteswissenschaft vorhanden ist als eine For­schung, eine Forschungstendenz, als dasjenige, was bei einzelnen Men­schen lebte. Seit jener Zeit hat diese Geisteswissenschaft eine andere Gestalt angenommen. Sie hat ihre eigene Freie Hochschule in Dornach

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zu errichten begonnen. Ich selber habe im Frühjahr des vorigen Jahres gezeigt, wie dasjenige, was ich Ihnen heute nur skizzenhaft in seinem Anfang als geisteswissenschaftliche Forschung dargestellt habe, in seiner Ausführung auf alle Wissenschaften angewendet werden kann. Ich habe damals Ärzten und Medizin Studierenden gezeigt, wie in die Heilkunde, in die Therapie dasjenige hineinwirken kann, was aus dieser Geisteswis­senschaft in streng exakter Methode gewonnen werden kann. - Diejeni­gen Fragen in der Medizin, die Grenzfragen werden gegenüber der Gesundheitsfrage der Menschheit, diejenigen praktischen Fragen der Medizin, die jeder gewissenhafte Arzt als Kulturtatsache empfindet, diese Fragen sind es, die heute Rätseifragen sind, weil die heutige Wissenschaft sich nicht aus dem Sinnlichen ins Geistig-Übersinnliche erheben will. Wie Medizin befruchtet werden kann, wie alle Wissen­schaften befruchtet werden können von der anthroposophisch orientier­ten Geisteswissenschaft, das bemühten sich Fachleute aus allen Gebie­ten, aus der Jurisprudenz, aus Mathematik, Geschichte, Soziologie, Biologie, Physik, Chemie, Pädagogik, in diesem Herbstkurs zu zeigen. Dann waren es auch Persönlichkeiten, welche der Kunst, dem künstleri­schen Schaffen angehören, die die Befruchtung des künstlerischen Schaf­fens aus der Geisteswissenschaft heraus darstellten. Es waren vertreten Menschen des praktischen Lebens, des kommerziellen, des industriellen Lebens, die zeigten, wie ihr Leben, geleitet durch die Geisteswissen­schaft, nicht mehr bloß in der alten Routine, die uns in die Katastrophen hineingeführt hat, steht, sondern wie der Mensch dadurch gerade im höheren Sinn in die Lebenspraxis hineingebracht wird. Gerade das sollte durch diese Kurse gezeigt werden, wie Geisteswissenschaft nicht irgend­welchen Dilettantismus, nicht eine nebulose Mystik pflegen will, son­dern wie sie in die einzelnen Wissenschaften befruchtend eingreifen kann. Aber indem sie das tut, erhebt sie zu gleicher Zeit dasjenige, was in diesen Wissenschaften ist, zu einer geistig-übersinnlichen Gesamtauffas-sung vom Menschen. - Über die praktische Seite werde ich ja noch hier zu sprechen haben; dann werde ich über Unterrichts- und Erziehungs­fragen sprechen und über die soziale Frage. Dann werden Sie sehen, wie die hier gemeinte Geisteswissenschaft, die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft nicht in einer lebensfremden Sphäre irgendwelche

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nebulose Mystik sucht, sondern wie sie den Geist aus anderen Gründen erfassen will: Erstens, weil der Mensch sich bewußt werden muß seines Zusammenhanges mit dem wahren geistigen Ursprung; zweitens aber, weil der Geist eingreifen will gerade in das materielle, in das lebensprak­tische Leben. Wer einen Strich macht zwischen dem geistlosen prakti­schen Leben und einem in Lebensfremdheit erfaßten Geiste, der erfaßt ganz sicherlich nicht den Geist anthroposophisch orientierter Geistes­wissenschaft, aber auch nicht dasjenige, was der Gegenwart am notwen­digsten ist.

Wir haben Menschen gefunden, die Verständnis hatten für das, was in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach gerade nach der charakterisierten Art für die Menschheitsentwickelung geleistet wer­den soll, und dafür, wie notwendig es ist gegenüber den großen zivilisa­torischen Fragen der Gegenwart, daß das geleistet werden könne. Die schwierigen Verhältnisse haben den Bau sehr verlangsamt. Wir sind heute noch nicht fertig, und die Fertigstellung wird wesentlich davon abhängen, daß uns auch weiterhin zu Hille kommen Menschen, die Herz und Sinn haben für allen menschlichen, heute notwendigen Fort-schritt. Im unfertigen Zustande versammelten wir bei der Eröffnung unserer Kurse mehr als tausend Menschen. Diejenigen, die hinkommen nach diesem Dornach, werden sehen, daß diese Geisteswissenschaft herausarbeiten will aus dem vollen Menschentum: daß sie nicht nur zum Kopf des Menschen sprechen will, daß sie nicht nur dasjenige gewinnen will, was durch Experimentieren, durch Beobachtung dargeboten wer­den kann, sondern daß sie zu gleicher Zeit nach wahrhaft künstlerischem Ausdruck strebt, ohne daß sie in stroherne Symbolik oder abstrakt pedantische Allegorien verfällt. Daher konnte nicht ein beliebiger Baustil in Dornach angewandt werden, sondern der Baustil mußte auch aus denjenigen Quellen geschöpft werden, aus denen diese Geisteswissen­schaft selber erfließt. Sie ist nicht in so einseitiger Weise Wissenschaft wie die heutigen, sich ans Experiment und an die Beobachtungen al­lein haltenden Wissenschaften, sondern sie will aus dem vollen Men­schen heraus schöpfen. Sie will, trotzdem sie so exakt ist, wie nur irgendeine Wissenschaft sein kann, doch zum vollen, ganzen Menschen sprechen.

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Über die praktische Ausgestaltung werde ich also noch zu sprechen haben, aber ich mußte heute vorausschicken, was eigentlich als geistige Forschung zu diesen Dingen hinführt, gerade um dann an den prakti­schen Gebieten zu zeigen, wie notwendig die heutige Zeit das hat, was gerade aus der Beobachtung der Geschichte dieser Zeit heraus diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft will. Sie will zu der gewissenhaften und methodischen Erforschung der materiellen Welt, die sie mehr anerkennt als irgendeine geistige Richtung, hinzufügen die Wissenschaft des Geistes, die wiederum zu religiöser Vertiefung und zu künstlerischer Gestaltungskraft führen kann, wie die alte instinktive Wissenschaft, die wir nicht mehr erneuern können, zur Kunst und zur Religion in den Mysterien geführt hat.

Daß diese Geisteswissenschaft nicht wider Religion und Christentum ist, das werde ich noch bei der Ausführung der praktischen Seite zu zeigen haben. Sie strebt dasjenige an, wonach jede wahre, religiöse Vertiefung zu streben hat, sie strebt nach dem Geiste. Daher haben wir die Hoffnung: all diejenigen Menschen, die heute noch dieser Geistes­wissenschaft widerstreben, sie werden sich doch dazu finden, denn diese Geisteswissenschaft strebt etwas allgemein Menschliches an: sie strebt nach dem Geist, und die Menschheit braucht den Geist.

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ERZIEHUNGS-, UNTERRICHTS- UND PRAKTISCHE LEBENSFRAGEN VOM GESICHTSPUNKTE Den Haag, 27. Februar 1921

Meine sehr verehrten Anwesenden! Ich habe mir erlaubt, im letzten Vortrag hinzuweisen auf das eigentliche Wesen anthroposophisch orien­tierter Geisteswissenschaft. Ich habe darauf hingewiesen, wie innerhalb dieser Geisteswissenschaft nach Methoden gesucht worden ist, um so in eine übersinnliche Welt einzudringen, wie man durch seine Sinnesorgan? und durch den die Ergebnisse dieser Sinnesorgane kombinierenden Verstand in die äußerliche, physisch-sinnliche Welt eindringt. Ich habe diese Methoden das letzte Mal geschildert und ich habe darauf aufmerk­sam gemacht, wie es außer der gewöhnlichen heutigen Wissenschaft eine andere Wissenschaft gibt, eine Wissenschaft mit geistigen Methoden, die den vollen Beweis liefert durch Anschauung und Erfahrung, daß uns eine übersinnliche Welt ebenso umgibt, wie uns eine sinnliche Welt umgibt. Ich möchte nun auf ein Ergebnis nochmals hinweisen, das ich im letzten Vortrage schon herausgearbeitet habe, und das ja in einer gewis­sen Art die Grundlage bilden muß für das, was ich heute werde zu sagen haben.

Die hier gemeinte anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft steht in keinem Gegensatz zu dem, was naturwissenschaftliche Weltan­schauung der letzten drei bis vier Jahrhunderte geworden ist. Sie ist, wie ich das letzte Mal hervorgehoben habe, im Gegensatz nur zu einer, nicht mit diesen naturwissenschaftlichen Ergebnissen rechnenden, für die heutige Zeit mehr oder weniger dilettantischen Weltanschauung gewor­den. Geisteswissenschaft will eine Fortsetzung sein des naturwissen­schaftlichen Denkens. Nur kommt man durch diese geisteswissenschaft­liche Fortsetzung dazu, eben diejenige Erkenntnis zu erringen, die den bedeutsamsten Seelensehnsuchten des modernen Menschen entgegen­kommt. Man kommt dazu, den Menschen wirklich kennenzulernen.

Gerade die von der Geisteswissenschaft voll anerkannte Naturwissen­schaft der neueren Zeit hat uns in der Entwickelungslehre eine wunderbare

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Übersicht gebracht über die allmähliche Entfaltung der Organismen bis hinauf zum Menschen; allein zuletzt steht doch der Mensch nur wie der Schlußpunkt dieser Entwickelung da.

Wir wissen innerhalb der Naturwissenschaft zu sagen: Ein Muskel, der in einer bestimmten Weise geformt ist, findet sich in der Tierreihe in dieser oder jener Form. Wir wissen: Der Mensch hat so und so viele Knochen; die Zahlen der Knochen stimmen überein mit denen der höheren Tiere. Wir gewöhnen uns, das Hervorgehen des ganzen Kno­chenbaus der höheren Tiere und des Menschen durch Entfaltung aus den niedrigeren zu erklären. Was aber der Mensch an sich trägt als Wesen­heit, darüber kann man sich im Grunde keine Idee machen. Wer die Sache unbefangen durchschaut, muß das anerkennen. Man verfolgt die Naturerscheinungen und Naturwesen bis zum Menschen hinauf und sagt: So gliedert sich im Menschen dasjenige zusammen, was man in der übrigen Natur findet. Aber man kann nicht hinblicken auf die eigentli­che Menschenwesenheit.

Was wir so in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis haben, wir haben es auf der anderen Seite, wahrhaftig als eine Folge derselben Kräfte, die auch in der Erkenntnis wirken, im praktischen Leben. Wir haben es wirkend in dem, was mit solcher Not, in solcher Rätselhaftig­keit das moderne Leben durchzieht; wir haben es vor uns in dem, was man gewöhnlich die soziale Frage nennt. Millionen und Millionen von Menschen, welche der proletarischen Welt angehören, die die alten, traditionellen Religionen und Weltanschauungsbekenntnisse verlassen haben, geben sich dem Glauben hin, daß das einzig Wirkliche nicht der Mensch sei mit seinem Seelenleben, sondern das einzig Wirkliche sei das materielle, in den Produktionsprozessen der äußeren Wirtschaftlichkeit bestehende Leben. Dasjenige, was die menschliche Seele hervorbringt als Sitte, Religion, Wissenschaft, Kunst, das sei weiter nichts als, wie man so sagt, ein Überbau, ein ideologischer Überbau auf einem rein materiellen und sogar wirtschaftlich-materiellen Unterbau; gewissermaßen eine Art Rauch, der von dem nur Materiell-Wirklichen aufsteigt. Auch da wird das eigentliche Seelisch-Geistige des Menschen ausgeschaltet.

Das ist dasjenige, was das moderne Leben charakterisiert, daß weder die Erkenntnis wirklich heraufkommt bis zum Menschen, noch daß man

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das Menschliche schauen kann, empfinden kann, in seine Willensimpulse aufnehmen kann im sozialen Leben.

Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft empfindet voll, was nach dieser Richtung für die tiefsten, aber oftmals so unbewußt wirkenden Sehnsuchten der besten, modernen Menschenseelen zu lei­sten ist; zu leisten ist erstens auf dem Wege wahrer Menschenerkenntnis, zweitens auf dem Wege einer solchen menschlichen Erfüllung, daß der Mensch aus seiner Seele heraus wahre, soziale Impulse in das öffentliche Leben hineintragen kann. Denn ohne daß wir solche Impulse hineintra­gen, die aus dem tiefsten Menschlichen herauskommen, wird die beste Einrichtung im äußeren Leben nicht zu dem führen, was weiteste Kreise heute glauben entbehren zu müssen, was sie aber anstreben in sozialer Beziehung: ein menschenwürdiges Dasein.

Dasjenige, was ich nun vor ein paar Tagen hier als einen Weg in die geistige Welt charakterisiert habe, wird von vielen Menschen als etwas empfunden, was eher vom Leben wegführt, als daß es zu den zwei großen Lebensfragen hinführt, die ich heute noch einmal vor Sie hingestellt habe. Deshalb war es von so großer Bedeutung, daß diese posophisch orientierte Geisteswissenschaft ihre Pflege in dem allerdings noch nicht vollendeten Goetheanum in Dornach in der Schweiz findet; daß diese Geisteswissenschaft unmittelbar auch an praktische Einrich­ tungen herangeht, um durch diese Einrichtungen ihre Menschenkenntnis und ihre Fähigkeit, in das menschliche praktische Leben einzugreifen, zu erweisen.

Ein wichtigstes praktisches Gebiet ist zweifellos das Erziehungs- und das Schulwesen. Indem wir die Kinder erziehen, haben wir im Grunde genommen zu handhaben dasjenige, was durch die nächste Generation erst in die Welt kommen soll, und das heißt außerordentlich viel. Es ist der Weg, in die nächste Zukunft hineinzuwirken, wenn wir durch das Erziehungs- und Schulwesen auf die Kinder wirken. Indem anthroposo­phisch orientierte Geisteswissenschaft gerade die Wege zum Menschenwesen sucht, gelangt sie dazu, auch das werdende Menschenwesen, das Kind, in umfassender Weise kennenzulernen. Und aus einer solchen umfassenden Erkenntnis des werdenden Menschenwesens, des Kindes, sucht die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft eine wirkliche

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Erziehungs- und Unterrichtskunst zu gewinnen. Denn dasjenige, was aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft heraus zur Auffassung und zum Durchdringen der Menschenwesenheit führt, erschöpft sich nicht in abstrakten Begriffen, in theoretischen Vorstellun­gen, sondern es bildet sich zuletzt aus zu einem künstlerischen Erfassen zunächst der menschlichen Gestalt, dann aber auch der menschlichen Seelenfähigkeit und Geistesfähigkeit. Man kann lange sagen, wirkliche Wissenschaft müsse in nüchterner, trockener Weise, wie man das so nennt, mit objektiven Begriffen allein arbeiten. Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn die Natur, wenn die Welt aber nicht in solchen Begriffen schafft! Wenn die Welt spouet dem Verlangen, ihr Schaffen in solche Gesetze zu bannen, wie wir unsere Naturgesetze haben wollen, wenn sie nicht in nüchterne, bloß äußerliche, leichtgeschürzte, logische Begriffe zu fassen wäre! Wir können unsere Forderungen aufstellen, aber ob wir dadurch eine wirkliche Erkenntnis erlangen, das hängt davon ab, ob die Natur in einer solchen Weise schafft. Und die neuere Wissen­schaftsgesinnung konnte deshalb nicht an den Menschen herankommen, weil sie nicht berücksichtigt: Indern die Natur hinaufsteigt durch das Mineralreich, das Pflanzenreich, das tierische Reich bis zum Menschen, wird ihr Schaffen auf jeder Stufe so, daß man es nicht mehr mit bloßen logischen Begriffen, mit nüchternem Verstande erfassen kann, sondern daß man es immer künstlerischer und künstlerischer erfassen muß. Vieldeutig, mannigfaltig ist dasjenige, was zuletzt im Menschenwesen lebt. Und weil Geisteswissenschaft in ihrer Art wiederum die innere Harmonie sucht zwischen Erkenntnis, religiöser Vertiefung, künstleri­scher Ausgestaltung, so gelangt sie auch dazu, dieses so rätselhafte aber so bewundernswerte menschliche Wesen, wie es sich hereinstellt in die Welt, in der richtigen Weise ins Auge zu fassen, ich meine ins Geistes-auge.

Ich habe ja das letzte Mal ausgeführt, wie wir ganz wissenschaftlich hinschauen auf die Welt, in der dieses Menschenwesen war, bevor es durch die Empfängnis oder Geburt in das physische Dasein herunter-steigt. Ich habe darauf hingewiesen, wie mit mathematischer Klarheit sich vor anthroposophische Geisteswissenschaft hinstellt das Geistig-Seelische, das aus geistigen Welten heruntersteigt und innerlich arbeitet

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an der physischen Menschengestalt, und nur die Materialien nimmt aus der Vererbungsströmung der Generationen.

Wenn man solche Dinge bespricht, wird man heute noch vielfach paradox genommen. Allein Geisteswissenschaft geht ja nicht anders vor als eigentlich die Naturwissenschaft selber. Nur daß die Naturwissen­schaft auf ihren Gebieten im Laboratorium, in der Klinik, auf der Sternwarte in entsprechender Weise arbeitet, Geisteswissenschaft aber an das Menschenwesen herantritt, um dieses Menschenwesen so zu betrachten wie es der Naturforscher gewohnt ist auf seinen Gebieten; wo es allerdings wesentlich einfacher um die Dinge steht, wo es einfacher ist, zu beobachten und nach Gesetzen zu forschen.

Ich möchte zunächst darauf hinweisen, wie wir nach ganz naturwis­senschaftlicher Gesinnung hinschauen können in das Werden des Men­schen. Da muß allerdings Geisteswissenschaft aus ihren Voraussetzun­gen heraus ins Auge fassen die allmähliche Entwickelung des Menschen durch verschiedene Lebensepochen hindurch. Wir haben eine solche Lebensepoche, von der Geburt angefangen bis zum Zahnwechsel,so um das siebente Lebensjahr herum. Es könnte leicht scheinen, als ob irgend­ein Hang zur Mystik dazu zwange, gerade um das siebente Jahr herum eine Art Sprung in der menschlichen Entwickelung anzuerkennen. Das ist aber nicht der Fall Ebensowenig wie es irgendeinem mystischen Drang entspringt, sieben Farbennuancen im Regenbogen anzuerkennen, ebensowenig entspringen die Dinge, die ich nun ausführen werde, irgendeinem mystischen Hang, sondern sie entspringen einer objektiven, unbefangenen wissenschaftlichen Beobachtung des Menschenwesens. Zunächst physisch, kann sich der Mensch sagen, geht eine gewaltige Veränderung vor, indem der Mensch so um das siebente Jahr herum etwas aus sich heraustreibt was später nicht mehr aus ihm herausgetrie­ben wird: die zweiten Zähne eine Art von Abschluß ist damit erreicht. Aber ganz klar wird die Sache, wenn wir unsere Beobachtungen nicht beschränken auf den äußeren, physischen Organismus, sondern wenn wir dasjenige beobachten was parallel geht diesem Entwickelungssta­dium im physischen Organismus. Da sehen wir, wenn wir überhaupt beobachten können, wie das ganze Seelenleben des Kindes in dieser Zeit langsam anders wird. Wir sehen, wie das Kind, während es vorher

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verschwommene, verschwimmende Begriffe bildete, nachher allmählich übergeht, Begriffe mit schärferen Konturen zu bilden; wie überhaupt das Begriffebilden in diesem Lebensalter erst eintritt. Wir sehen ferner, wie das Kind eine ganz andere Art von Gedächtnis entwickelt. Es hat zwar oftmals vorher schon ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber das ist rein natürlich ausgebildet, ohne daß das Kind irgendwie eine Kraft aufzu­bringen braucht, um sich etwas zu merken. Jetzt muß es eine Kraft aufbringen, um sich die Dinge, die an es herantreten, wirklich zu merken, um sich an sie zu erinnern. Kurz, es zeigt sich, daß vom Zahnwechsel ab, um das siebente Jahr, dieses Kind dazu kommt, im Vorstellungsgemäßen, im Gedanklichen, im bewußt Willensgemäßen zu arbeiten. Was liegt da eigentlich vor? Sehen Sie, da liegt dieses vor: Dieselbe Kraft, die dann als geistig-seelische Kraft beobachtbar ist im Kinde, indem es Vorstellungen in scharfen Konturen bildet, indem es sich Gedanken bildet, diese Kraft, wo war sie denn vorher? Danach fragen die heutigen abstrakten Seelenforscher oder Psychologen nicht. Wenn der Physiker bei irgendeinem Vorgang sieht, wie Wärme entsteht, ohne daß man irgendwie eine Erwärmung vorgenommen hat, dann sagt er: In dem Körper war vorher latente Wärme, dann wird die Wärme frei. Er sucht dasjenige, was als Wärme frei wird, zuerst im Inneren des Körpers. Diese Denkweise muß auch angewendet werden auf das Leben des Menschen. Dasjenige, was seelisch-geistig nach dem siebenten Jahr beim Kinde auftritt, wo war es vorher? Es war im kindlichen Or­ganismus latent; es war in dem organischen Wachsen, in der organi­schen Gliederung tätig bis zu dem Moment, wo gewissermaßen der Schlußpunkt dieser besonders in den ersten kindlichen Jahren auftreten­den Wachstumsperiode mit dem Heraustreiben der zweiten Zähne erreicht ist.

Wir haben heute eine Seelenkunde, eine Psychologie, die ganz abstrakt ist. Die Leute denken nach, wie sich Leib und Seele zueinander verhal­ten. Sie kommen da zu den merkwürdigsten, phrasenhaftesten Hypothe­sen. Aus diesen phrasenhaften Hypothesen heraus kann man zu keiner pädagogischen Kunst kommen. Geisteswissenschaft zeigt, wie dasjenige, was wir nach dem siebenten Jahr seelisch an dem Kinde hervortreten sehen, vor dem siebenten Jahr, vor dem Zahnwechsel in dem Organismus

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drinnen tätig kt; wie das Seelische erst eine organische Kraft iSt, die dann frei wird.

Und so beobachtet der wirkliche Geistesforscher das ganze menschli­che Leben hindurch in konkreter Art. Ich will gleich auf etwas ganz Bestimmtes hinweisen, damit Sie die besondere Art dieser methodischen Betrachtungsweise erkennen lernen.

Wir können betrachten das kindliche Spiel. Derjenige, der unbefange-nen Sinnes und mit vollem Anteil an der werdenden Menschennatur das spielende Kind beobachten kann, der weiß, daß, trotzdem Spiele typisch sind, doch jedes Kind auf seine individuelle Art spielt. Und man kann auch, wenn man Erzieher Pädagoge ist, in einer gewissen Weise dieses Spiel leiten und lenken Man kann es aus der Natur des Kindes heraus leiten und lenken. Man kann ihm auch, je nachdem man dazu fähig ist, eine vernünftige Richtung zu geben versuchen. Wenn man das alles beachtet, dann kann man die Kinder genau unterscheiden in so spielende und in anders spielende und so weiter. Dann kommt dasjenige Lebensal­ter, wo diese besondere Art, die sich im Spiel ausdrückt, beim Kinde nicht mehr so sichtbar ist. Das Kind betritt die Schule, andere Interessen erfüllen es. Es ist schon so, daß wir dann weniger bemerken können, was eigentlich die Folgen der besonderen Eigenart des Spielens sind. Derje­nige, der nun nicht nur obenhin betrachtet, sondern der weiß, daß das Menschenleben eine Einheit ist, der daher seine Beobachtungen über das ganze Menschenleben ausdehnt, kann bemerken, wie so um das vierun­zwanzigste, fünfundzwanzigste Jahr herum in derjenigen Zeit, wo der Mensch seinen Anschluß an die Welt finden soll, wo er finden soll sein Sich-Hineinfügen in die Welt, der eine mehr oder wemger fur die Lebenspraxis geschickter ist der andere ungeschickter ist, wie der eine ein Träumer wird der nichts Praktisches geschickt anfassen kann, der andere jede Einzelheit mit besonderer Geschicklichkeit anfaßt Die Art und Weise, wie man sich da geschickt oder ungeschickt ins Leben hineinfindet in den Zwanzigerjahren die ist ein unmittelbares Ergebnis der spielenden Tätigkeit des Kindes. ,Es gibt gewisse Flüsse,dieerschei­nen aus ihrer Quelle verschwinden dann unter der Erdoberfläche und treten später wieder hervor an einem anderen Ort. So sind die Fähigkei­ten im Menschenleben. Die Fähigkeit, die beim Kinde im Spiel besonders

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zum Vorschein kommt, wirkt in den ersten Lebensjahren, dann verschwindet sie in den Untergrund der Seele und kommt wiederum hervor in den Zwanzigerjahren in der Art und Weise, wie der Mensch sich in das Leben hineinfindet. Bedenken Sie, in der Art und Weise, wie wir das Spiel des Kindes erzieherisch leiten, greifen wir ein in Glück oder Unglück, in das Schicksal des Menschen in seinen Zwanzigerlebens­jahren.

Dasjenige, was man nennen könnte Verantwortung gegenüber Erzie­hung und Unterricht, es wird in ungeheurer Weise geschärft dadurch, daß man solchen Erkenntnissen nahe tritt. Aber zu gleicher Zeit wird dadurch auch angeregt eine wirkliche Erziehungs- und Unterrichts-kunst. Denn nicht engmaschige Begriffe können an den Menschen heranreichen, sondern nur ein weites Schauen, welches gewonnen wird durch solche Zusammenhänge in der menschlichen Natur. Da finden wir, daß wir in der Tat Epochen, Etappen in der menschlichen Entwik­kelung unterscheiden müssen. Die erste Etappe geht von der Geburt bis zum Zahnwechsel; sie trägt ein ganz besonderes Gepräge.

Hier möchte ich noch erwähnen, daß derjenige, der aus anthroposo­phisch orientierter Geisteswissenschaft heraus zum Lehrer oder Erzieher wird, durchaus von dem Bewußtsein durchdrungen ist: In demjenigen, was uns so wunderbar, so rätselvoll in dem werdenden Menschen, dem Kinde entgegentritt, ist eigentlich eine Botschaft der geistigen Welt enthalten. Wir schauen das Kind an, wie es zuerst seine unbestimmten Züge hat, wie diese aber bestimmter werden; wie es besonders auch in seinen Bewegungen und seinen Lebensregungen zunächst unbestimmt ist, und wie immer mehr und mehr aus den Tiefen der Seele heraus Bestimmtheit in diese Lebensregungen kommt. Derjenige, der zum Lehrer und Erzieher aus anthroposophisch orientierter Geisteswissen­schaft heraus vorbereitet ist, der ist sich bewußt: In dem, was da von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr sich in dem Antlitz des Kindes immer mehr und mehr zur deutlichen Physiognomie umprägt, in dem, was durch die Regsamkeit der Hände hindurchwirkt, in dem, was in die Sprache hinein sich zaubert, in dem lebt dasjenige, was aus geistigen Welten heruntersteigt. Und daß man erkennen lernt diese Tätigkeit in der geistigen Welt, die ganz anders geartet ist als die in der

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physischen Welt, daß man mit dieser Gesinnung, mit dieser Empfindung als Erzieher dem Kinde gegenübertritt, das heißt, ein Heil in dem Erzieherberufe sehen; das heißt, in dem Erzieherberufe etwas sehen, was sich etwa mit den Worten umschreiben läßt: Mir ist aus den geistigen Welten heraus eine Menschenwesenheit gegeben; ich habe ihre Rätsel mit zu lösen; ich habe ihr Wege ins Leben hineinzuweisen durch eine wirkliche Menschenerkenntnis-Kunst.

Diese Menschenerkenntnis-Kunst aber zeigt, daß der Mensch in der ersten Epoche seines Lebens das ist, was ich nennen möchte: ein nachahmendes Wesen. Ich habe diese besondere Eigentümlichkeit des werdenden Menschen in meiner kleinen Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» besonders darge­stellt. Indem der Mensch aus der geistigen Welt in die physische Welt tritt, gelangt er ja dazu dasjenige, was er zuletzt in der geistigen Welt erlebt hat, wie in einem Nachkiang in der physischen Welt zum Aus­druck zu bringen. Wenn wir als Anthroposoph das Kind erziehen, so sagen wir uns allerdings es ist kindlich primitiv, wie das Kind seinem Triebe nach dasjenige nachahmt, was in seiner Umgebung vorgeht; es bildet in seinen Bewegungen dasjenige nach, was ihm vorgemacht wird. Die Sprache lernt es ja nur durch Nachahmung, nicht durch etwas anderes. Aber auch da sjenige, was in seiner Umgebung in moralisc her, in sonstiger Beziehung durch die Eltern oder durch andere,in seiner Nähe befindliche Menschen vorgeht, das ahmt das Kind in der Zeit bis zum Zahnwechsel nach. Da liegt etwas vor, was sich nur durch Geisteswis­senschaft begreifen läßt. Das Kind war ja, bevor es empfangen oder geboren wurde, in der geistigen Welt; in der geistigen Welt, die man, wie ich das das letzte Mal dargelegt habe, durch die Ausbildung der besonde­ren Kraft der Erinnerungsfähigkeit und durch die Entwickelung der Liebekraft erkennt. In dieser geistigen Welt ist jedes Wesen so drinnen, daß es nicht außen von anderen Wesen steht, sondern daß es sich in jedes andere Wesen objektiv liebevoll hinüberleben kann. Dieses Stehen in der Welt, das bringt das Kind mit wie in einem Nachkiang, und wir beobachten dann, wie das Kind ein nachahmendes Wesen wird wie es, alles, was es lernt, was es sich aneignet in den ersten sieben Lebensjahren, als nachahmendes Wesen sich aneignet. Und wir müssen bei einer

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richtigen pädagogischen Kunst auf dieses Prinzip der Nachahmung besonders hinschauen. In dieser Beziehung gibt man sich mancher Täuschung hin. Zunächst möchte ich als Beispiel eine solche Täuschung erwähnen, deren ich Hunderte anführen könnte. Es kam einmal der Vater eines etwa fünfjährigen Knaben zu mir und sagte, er habe rechtes Unglück mit seinem Kinde, sein Kind habe gestohlen. Ich sagte: Nun, das wollen wir doch erst untersuchen, ob das Kind wirklich gestohlen hat. Der Vater sagte: Ja, der Junge hat Geld genommen aus der Schub­lade, wo das Geld der Mutter ist; er hat für das Geld Näschereien gekauft und sie unter andere Kinder auf der Straße verteilt. - Ich frug:

Was geschieht denn sonst mit dem Geld, das in der Schublade ist? - Der Vater sagte: Da nimmt die Mutter für den Hausgebrauch jeden Morgen das Nötige heraus. - Da sagte ich dem Vater: Dann hat das Kind auch nicht gestohlen. Das Kind ist fünf Jahre alt, also im vollsten Sinne noch ein nachahmendes Wesen. Etwas ist für das Kind richtig und gut zu tun, was es in seiner Umgebung tun sieht; die Muuer tut das täglich, also tut es das auch einmal. Das ist nicht gestohlen, sondern das entspricht demjenigen, was das Grundprinzip der Entwickelung in den ersten sieben Lebensjahren des Menschen ist.

Sehen Sie, diese Dinge muß der wirkliche Erzieher wissen. In den ersten sieben Lebensjahren kann man nicht durch Ermahnungen, nicht durch irgendwelche Gebote das Kind lenken und leiten; sondern man lenkt und leitet das Kind durch dasjenige, was man selber tut. Aber es gibt im Menschenwesen geradeso wie in der Natur Imponderabilien. Nicht nur durch dasjenige lenkt und leitet man das Kind, was man selber tut, sondern auch durch dasjenige, was man selber empfindet, was man selber denkt. Ist man ein Mensch, der sich nicht gestattet, gemeine und kleinliche Vorstellungen und Empfindungen in sich zu haben in der Nähe seiner Kinder, dann wird aus den Kindern auch etwas Edles, etwas Gutes. Gestattet man sich neben den Kindern - weil man denkt, es ist doch die menschliche Organisation da, und es wirkt nicht hinüber -, gestattet man sich unedle Gedanken, unedle Empfindungen, sie wirken hinüber. Es gibt Imponderabilien auf diesem Gebiet.

Diese Imponderabilien zeigen sich auch in der zweiten Lebensepoche, die nun nach dem Zahnwechsel beginnt und bis zur Geschlechtsreife

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dauert, um das vierzehnte Jahr herum. In dieser Lebensepoche betritt ja das Kind die Schule. Wir mußten ganz besonders den Übergang studie­ren von der einen Lebensepoche, von der nachahmenden, zu dieser zweiten Lebensepoche, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, indem begründet werden mußte eine richtige geisteswissenschaftliche und geisteskünstierische Pädagogik für die von Emil Molt in Stuttgart gegründete und von mir geleitete Waldorfschule. An dieser schule soll ja so unterrichtet und erzogen werden, wie es durchaus sich ergibt aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft. Da soll die Erziehung und der Unterricht gehandhabt werden als eine wirkliche Kunst, aus wahrer Menschenerkenntnis heraus. Deshalb, weil man um die Zeit, wo der Mensch aus einem nachahmenden Wesen ein anderes Wesen wird, was ich gleich noch charakterisieren will, das Kind in die Schule übernimmt, mußte man diese Zeit des Überganges besonders studieren.

In dieser zweiten Lebensepoche bis zur Geschlechtsreile hin ist es nicht mehr das bloße Nachahmen welches die Fähigkeiten, die ganze Wesenheit des Kindes heranbildet: da tritt aus der Tiefe der kindlichen Seele heraus ein anderer Trieb. Es ist der Trieb: Es will in seinem Lehrer und Erzieher eine selbstverständliche Autorität neben sich haben. Sehen Sie, heute, wo man alles demokratisieren will, heute fordert man leicht, daß schon in der Schule demokratisiert werde. Einige wollen sogar den Unterschied zwischen dem Lehrer und dem zu Erziehenden abschaffen in den Gemeinschaftsschulen und wie diese schönen Dinge alle heißen. Das ist aus Parteianschauungen heraus, das ist nicht aus einer Erkenntnis der menschlichen Natur und Wesenheit heraus. Nicht weil man diese oder jene parteirichtung hat, soll man in diesen Dingen urteilen, sondern aus der Sache selbst heraus soll man urteilen. Und da zeigt sich, daß einfach vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife der Mensch in sich den Trieb hat, nun nicht bloß nachzuahmen die Umgebung, sondern zu hören von einem geliebten als Autorität selbstverständlich anerkannten Wesen, was gut und böse was richtig und unrichtig ist. Wohl dem Menschen, der durch das ganze Leben hindurch sich zurückerinnern kann an solche selbstverständliche Autoritäten, die neben ihm gestanden haben. Wohl dem Menschen, der sich sagen kann: Ich hatte einen

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Erzieher; wenn ich zu ihm kam, war es so, daß ich schon Scheu hatte, nur die Türklinke aufzumachen zu seinem Zimmer, so selbstverständlich erschien es mir, daß er eine Quelle des Wahren und des Guten sei. - Es handelt sich gar nicht darum, über diese Dinge in sozialer oder sonstiger Beziehung zu diskutieren, sondern es handelt sich darum, die menschli­che Natur kennenzulernen und sich zu sagen: So wie die besondere Artung des Spieltriebes in den Zwanzigerjahren in dem geschickten oder ungeschickten Sich-ins-Leben-Hineinstellen zum Vorschein kommt, so kommt gerade in der Zeit, in der Freiheitsempfindung, Freiheitsgefühl die Grundnuance des sozialen Zusammenlebens sein muß, das richtige Freiheitsgefühl, die richtige Freiheitsempfindung dadurch zustande, daß der richtige Au ton tätsglaube ungefähr vom siebenten bis zum fünfzehn­ten Jahr im Kinde voll zur Entfaltung gekommen ist. Niemand kann im wirklichen Sinne des Wortes später frei werden, der nicht in dieser Weise an Autoritäten sich herangebildet hat; geradesowenig wie jemand zu sozialer Menschenliebe später getrieben werden kann, der nicht durch den Nachahmungstrieb das Anschmiegen an seine Umgebung einmal durchgemacht hat. Wir haben später nicht dieses Anschmiegen, aber wir brauchen soziale Gefühle. Die hängen davon ab, wie der wirkliche Erzieher und Unterrichter in den ersten sieben Lebensjahren vom Kinde sein eigenes Wesen nachahmen läßt. Wir brauchen Menschen, die sich mit einer echten Freiheitsempfindung heute ins Leben hineinstellen sollen. Das sind aber diejenigen, denen man gegenübergestanden hat als Erzieher und Unterrichter vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife so, daß man eine selbstverständliche Autorität war.

Wer wie ich bereits im Jahre 1892 mit meiner «Philosophie der Freiheit» in der Freiheitsempfindung, in dem Freiheitsgefühl die grund­sätzliche soziale Tatsache hingestellt hat, der wird ganz gewiß nicht gegen Freiheit und Demokratie sprechen; aber gerade weil er für sie sprechen will, muß er anerkennen, daß Erziehungskunst die Autorität braucht für die Lebenszeit, die vom Zahnwechsel bis zur Geschlechts-reife verläuft. - Außerdem ist das dann noch die Zeit, in der sich das Kind allmählich aus dem bildhaften Vorstellen in das mehr verstandes­mäßige, intellektualistische Vorstellen hineinarbeiten muß. Das geht über einen gewissen wichtigen Zeitpunkt im Leben hinweg.

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Sehen Sie, solche Dinge im Leben, die muß eine wirkliche Erziehungs-kunst, eine wirkliche Didaktik durchschauen.

Ungefähr um das neunte Jahr herum - es kann bis zum zehnten, ja bis zum elften Jahr dauern - ist für das Kind ein außerordentlich wichtiger Abschnitt seiner Entwickelung. Wenn wir das Kind in der Schule haben, machen wir mit ihm, es lenkend und leitend als Lehrer und Erzieher, diesen Zeitpunkt mit. In den ersten Kindesjahren lernt das Kind die Sprache; es lernt allmählich zu sich «ich» sagen. Aber diese Unterschei­dung des eigenen Ich von der Umgebung ist noch etwas Unbestimmtes bis zum neunten Jahr hin. Wer wirklich das Leben beobachten kann, der weiß, daß das Kind da einen Rubikon überschreitet, daß es da zwischen dem neunten und ungefähr elften Lebensjahr sich eigentlich erst unter­scheiden lernt von seiner Umgebung. Wie man an dem Zeitpunkt des Lebens, der für das eine Kind früher, für das andere später, aber doch innerhalb des charakterisierten Zeitabschnittes durchgemacht wird, sich zu dem Kinde verhält, davon hängt ungeheuer viel für das ganze folgende Leben des Kindes ab. Hat man ein Gefühl, eine Empfindung: da vollzieht das Kind seine eigentliche Unterscheidung von der äußeren Natur; es fühlt sich nicht mehr wie der Finger sich am Organismus fühlen würde, wenn er bewußt wäre, es fühlt sich jetzt als selbständiges Wesen - kann man sich da in der richtigen Weise einstellen, dann erzeugt man in dem Kinde einen Quell fortdauernder Lebensfreude und Lebens-frische. Dagegen kultiviert man Lebensöde und Lebensverdrossenheit, wenn man an diesem Zeitpunkte sich dem Kinde gegenüber nicht richtig einstellt. Es ist zu berücksichtigen, daß bis zu diesem Zeitpunkte hin das Kind vom Bilde ausgeht, von dem, womit seine eigene Natur verwandt ist. Diese Natur unterscheidet sich noch nicht von der Umgebung, sie geht noch auf in der Umgebung. Man muß berücksichtigen, daß man von dem ausgehen muß, was bildhaft ergriffen wird als Zusammenhang des Menschen mit der Umgebung.

Wir bekommen die Kinder herein aus dem Elternhaus in die Schule. Heute leben wir in einem Zeitalter, wo unser Schreiben und Lesen bereits konventionelle Zeichen hervorgebracht hat, die in keiner Unmit­telbaren, inneren Beziehung zum Menschen stehen. Vergleichen Sie die abstrakten Buchstaben unserer Schrift mit demjenigen, was in älteren

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Zeiten die Menschheit als Bilderschrift gehabt hat. Da wurde noch dasjenige fixiert in der Schrift, was man wirklich vorstellte. Heute ist die Schrift abstrakt geworden. Bringen wir diese abstrakte Schrift unmittel­bar an das Kind heran im Lesen und Schreiben, so bringen wir etwas Fremdes an das Kind heran, etwas was jedenfalls nicht für das sechste, siebente oder achte Jahr taugt. Daher erfolgt bei uns in der Waldorf­schule der Unterricht in einer anderen Weise. Wir beginnen überhaupt nicht mit den abstrakten Buchstaben im Lesen und Schreiben, sondern wir arbeiten aus dem Künstlerischen heraus. Wir lassen das Kind zunächst sogar malen und zeichnen, mit Farben arbeiten, in Formen arbeiten. Da wird nicht bloß der Kopf beschäftigt, was eine große Schädlichkeit wäre für das Kind, sondern da wird der ganze Mensch beim Kinde beschäftigt. Aus diesen Formen, die sogar farbig sind, lassen wir dann die Buchstaben entstehen. Dadurch lernt das Kind schreiben, und nach dem Schreiben lernt es erst lesen, da ja unsere Lesebuchstaben noch abstrakter sind als unsere Schreibbuchstaben. So entwickeln wir aus dem Künstlerischen heraus, das dem Leben nahesteht, das abstrakte Element, das wir heute auch brauchen. - Ährlich machen wir es auch mit anderen Gegenständen. Dadurch erlangen wir eine lebensvolle, kunstartige Pädagogik; dadurch kommen wir wirklich an die Seele des Kindes heran. Was wir im gewöhnlichen Leben Begreifen von Pflanze oder Stein und dergleichen nennen, das kann erst nach dem Zeitpunkte beim Kinde eintreten, den ich eben charakterisiert habe, in dem sich das Kind von seiner Umgebung unterscheiden lernt.

Vielleicht lernt manches Kind in unserer Waldorfschule später lesen und später schreiben als an anderen Schulen. Das ist kein Nachteil, das ist im Gegenteil ein großer Vorteil; denn man kann dem Kinde das abstrakte Lesen und Schreiben eintrichtern, und man kann dabei nicht nur etwa das Herplappern desjenigen entwickeln, worauf die Augen fallen, sondern man kann auch etwas ertöten, und was man im kindli­chen Lebensalter ertötet, ist für das ganze menschliche Dasein zwischen Geburt und Tod ertötet. Was wir lebensfähig lassen und lebensfähig machen, ist dasjenige, was im Menschen das ganze Leben hindurch als Frisches, Blühendes da sein soll, und das zu entwickeln ist die Aufgabe eines wirklichen Erziehers.

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Sie werden immer gehört haben, daß ja auch die Pädagogik des 19. Jahrhunderts vielfach betont hat, man solle aus der Individualität des Kindes heraus entwickeln; man soll nicht etwa bloß in das Kind hinein­pfropfen wollen, sondern man solle dasjenige, was im Kinde veranlagt ist, aus dem Kinde herausholen. Gewiß, auch die Pädagogik hat große Genien, das soll nicht geleugnet werden; vieles ist schon auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Pädagogik ausgesprochen worden. Allein wenn man noch so oft den abstrakten Satz und alles dasjenige Abstrakte, was sonst schon gesagt worden ist, vor sich hinstellt, das Kind solle als Individualität entwickelt werden - man hat ja erst etwas davon, wenn man nun konkret von Tag zu Tag beobachten kann, wie diese kindliche Individualität sich entfaltet; wenn man weiß, wie das Nachahmungsprin­zip in den ersten sieben Lebensjahren herrscht, wie in der nächsten Lebensepoche vom siebenten bis vierzehnten Lebensjahr das Autoritäts­prinzip vorherrscht in Verbindung mit demjenigen Prinzip des Übergan­ges vom bildlich-symbolischen, gedächtnismäßigen Vorstellen zu dem Vorstellen aus dem Intellekt heraus, aus dem Begriff heraus, das dann im elften, zwölften Jahr eintritt. Wenn man das alles beobachten kann, wenn man aus geisteswissenschaftlich-künstlerischer Weltbeobachtung lernt, wie man das befolgen soll, dann ist mehr erreicht, als was man da durch abstrakte Forderung aufstellen kann, man soll das Kind aus seiner Individualität heraus entwickeln. - Anthroposophisch orientierte Gei­steswissenschaft stellt keine Abstraktionen, keine bloßen Forderungen hin, sondern sie sieht darauf hin, was durch den Geist, durch den allseitig geschärften Beobachtungssinn sich zur Kunst ausbilden kann, wie ich das auch das letzte Mal geschildert habe.

Ich konnte nur in einzelnen Zügen dasjenige charakterisieren, was aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft als Menschener-kenntnis hervorgehen und die Grundlage bilden kann für diejenige Lebenspraxis, die sich in Erziehung und Unterricht auslebt. Die großen sozialen Forderungen der Gegenwart zeigen uns, daß wir so etwas brauchen. Geisteswissenschaft leitet überall von der bloßen unwirklich­keitsgemäßen Erfassung des äußeren Lebens zu der konkreten Wirklich­keit hin, indem sie zu dem äußeren Materiellen auch das Übersinnlich-Geistige fügt. Dadurch aber wird der Mensch überall in den Mittelpunkt

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des Weltenwesens hineingestellt, sowohl in realer Betrachtung wie auch im Wirken. Und das ist notwendig. Das will ich noch erhärten an einem Beispiel der Erziehungskunst. Ich möchte etwas Charakteristisches anführen: Denken Sie sich, wir wollen einem Kinde einfache religiöse Vorstellungen beibringen, zum Beispiel eine solche von der Unsterblich­keit der Seele. Wir können, wenn wir dieses dem Kinde vor dem neunten, zehnten Jahr beibringen wollen, aus dem Bildlichen herausar­beiten. Wir müssen dem Kinde zum Beispiel sagen: Sieh dir einmal die Schmetterlingspuppe an; da bricht die Umhüllung durch, der Schmetter­ling flattert heraus in die Luft. So ist es auch mit dem Menschen. Die unsterbliche Seele wohnt im physischen Leibe. Der Tod zerbricht diesen Leib. Die unsterbliche Seele ist dem Schmetterling vergleichbar, nur unsichtbar flattert sie aus dem physischen Leibe in die übersinnliche Welt hinein, wie der Schmetterling aus der Puppe in die Luft fliegt. -Sehen Sie, wenn man solch eine Sache gerade mit Rücksicht auf leben­dige Erziehungskunst studiert, so kommt man auf die Imponderabilien des Lebens. Ich kann als Lehrer oder Erzieher mir sagen: Ich bin sehr gescheit, ich bin alt geworden; das Kind ist noch jung, es ist sehr dumm. Also denke ich mir einen solchen Vergleich von Puppe und Schmetter­ling aus. Ich mache dem Kinde an dem, was ich selber nicht glaube, was ich selber für eine Dummheit ansehe, etwas vor als gescheiter Mensch, damit es die Unsterblichkeit der Seele begreift. - Viel wird man nicht damit erreichen. In einem materialistischen Zeitalter erscheint das als paradox, aber wahr ist es doch: viel wird man damit nicht erreichen. Indem der anthroposophisch orientierte Geistesforscher die Sache anschaut, wird sie etwas anderes. Der glaubt selber an das, was er als Bild hinstellt. Er sagt nicht: Ich bin der Gescheite und mache dem Kinde etwas vor -, sondern er sagt: Die ewigen Wesenheiten und Mächte, die als Geistiges in der Natur wirken, haben im Schmetterling ganz objektiv das Bild des unsterblichen Menschen hingestellt. Und indem ich selber mit jeder Faser meines Wesens glaube an dieses Bild, und von diesem meinem Glauben aus zu dem Kinde spreche, erwecke ich im Kinde eine wirklich religiöse Vorstellung. - Nicht darauf kommt es an, was ich dem Kinde sage, sondern wie ich selbst bin, wie ich selbst zu den Dingen stehe. Das wird immer mehr und mehr in die Erziehungskunst hereinkommen.

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Und in solcher Weise müssen Sie es auch verstehen, wenn ich sage: In die Waldorfschule kommen manche Menschen, um sie anzuschauen, um einmal an einer Reihe von Unterrichtsstunden teilzunehmen und der­gleichen. Das ist gerade so, wie wenn Sie aus einem Gemälde von Rembrandt ein Stück herausschneiden wollten und glaubten, daraus könne man eine Vorstellung bekommen von dem ganzen Gemälde. Das kann man niemals, wenn etwas so als ein Ganzes gedacht und aufgebaut ist, wie es die Waldorfschule ist, wenn etwas so herausgegliedert ist aus dem Ganzen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft. -Welche Lehrer sind da zu brauchen? Diejenigen, die ihr ganzes Leben aus jener Geist-Erkenntnis geformt haben, von der ich das letzte Mal hier gesprochen habe. Die beste Art, die Waldorfschule kennenzulernen, die beste Art, die Pädagogik der Waldorfschule kennenzulernen, ist, anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft kennenzulernen zunächst. Denn sich die Dinge anzuschauen und in der Waldorfschule hospitieren zu wollen, dadurch wird man von der Waldorfschule nicht viel erfahren können.

Diese Dinge müssen schon ausgesprochen werden, weil sie zeigen, wie jener neue Geist beschaffen sein muß, der gerade in das praktische Leben von dem Geiste der Dornacher Freien Hochschule für Geisteswissen­schaft aus in das soziale, in das künstlerische, in das erzieherische Leben, in die ganze Lebenspraxis hineinkommen solL

Nun werden Sie, wenn Sie dieses durchdenken, es nicht mehr sonder­bar finden, daß derjenige der sich in ein solches Geistesleben, wie es dieser Erziehungskunst zu'grunde liegt, vertieft, in der Tat auf den Boden eines freien Geisteslebens sich stellen muß. Was wir heute im Geistesle­ben drinnen haben, ist ein gewisser Zug der Abstraktion, es ist ein ge­wisser Zug zum programmäßigen; ein Zug, der dem Geistesleben auf­gedrückt worden ist dadurch, daß das Geistesleben in der neueren Zeit abhängig geworden ist vom Staatsleben auf der einen Seite, vom Wirt­schaftsleben auf der anderen Seite. Dasjenige, was zunächst durch die Weltanschauung, über die ich hier spreche, gefordert werden muß, das ist ein auf sich selbst gestelltes Geistesleben. Dieses Geistesleben würde das erste Glied in dem sein, was ich in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» den dreigliedrigen sozialen Organismus genannt habe.

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Was für das Geistesleben gefordert werden muß, was nicht utopistisch ist, sondern was jeden Tag in Angriff genommen werden kann zu erfüllen, das ist, daß derjenige, der im wirklichen Geistesleben, das heißt, gerade im wichtigsten, öffentlichen Teil des Geisteslebens, im Unterricht und in der Erziehung drinnensteht, zu gleicher Zeit im umfassenden Sinne der Verwalter dieses Geisteslebens ist. Im Unterrichts- und Erzie­hungswesen soll derjemige, der in lebendiger Tätigkeit drinnensteht, nur so viele Stunden im Unterricht und in der Erziehung zu tun haben, daß ihm noch Zeit übrigbleibt, mit den anderen zusammen, in kleineren oder größeren Korporationen das Unterrichts- und Erziehungswesen auch zu verwalten. Nicht diejenigen, die aus dem Erziehungs- und Unterrichts­wesen herausgenommen und in Staatsstellen hineingestellt werden oder die pensioniert sind, sondern diejenigen, die im lebendigen Unterrichten drinnenstehen, sind allein berufen, auch die Verwaltung des Unterrichts­wesens als solchem zu besorgen. Denn das, was im Unterrichtswesen, überhaupt im Geistesleben verwaltet wird, darf nur die Fortsetzung desjenigen sein, was auch gelehrt wird, was den Inhalt eines jeden Wortes, einer jeden Tat in der Klasse bildet. Da dürfen nicht von außen her, vom Staate oder vom Wirtschaftsleben her, Vorschriften erfließen. Autonomie, Selbstverwaltung des geistigen Lebens ist notwendig.

Ich weiß es gut, wer bloß leichtgeschürzte, logische Begriffe formen will, oder wer sich auf den Boden einer oberflächlich historischen Betrachtungsweise stellt, der wird mancherlei einzuwenden haben, denn man muß wirklich in der ganzen Natur des Geisteslebens drinnenstehen, um die Notwendigkeit der Befreiung dieses Geisteslebens als eines selbständigen Gliedes des sozialen Organismus zu erkennen. Wer wie ich jahrelang Lehrer gerade an einer Proletarierschule war - an derjeni­gen, die von Wilhelm Liebknecht begründet war -, wer das Proletarier-leben, die in ihm lebende Form der sozialen Frage kennengelernt hat, der weiß, daß diese soziale Frage nicht bloß eine Frage äußerer Einrichtun­gen, nicht bloß eine Frage der Unzufriedenheit mit äußeren Einrichtun­gen ist, der weiß etwas ganz anderes. Der weiß, daß ein Wort, welches immer wieder und wiederum angetroffen wird innerhalb des proletari­schen Lebens, aber weit über dasselbe hinausgehend, das Wort «Ideolo­gie» ist, in der Deutung, wie ich es im ersten Kapitel meiner «Kernpunkte

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der sozialen Frage» auseinandergesetzt habe. Was ist hinter diesem Wort Ideologie verborgen?

Nun, einstmals im alten Orient sprach man von der großen Illusion, von Maja. Man verstand darunter die äußere Sinneswelt, die uns nur ein Scheingebilde liefert, nach alter orientalischer Anschauung, die heute im Orient schon in Dekadenz gekommen und für uns nicht brauchbar ist. Das wahre Wirkliche, dasjenige Wirkliche, das den Menschen voll trägt, war für die alten orientalischen Weisen dasjenige, was in der Seele sich heranentwickelt, was in der Seele lebt; was die äußeren Sinne schauen, das war nur Maja.

Wir leben heute in einem Zeitalter, wo sich gerade die radikalsten Weltanschauungen zur Umkehrung dieses Gesichtspunktes bekennen. Heute gilt in weitesten Kreisen das äußere Naturhafte oder das Mate­rielle, das in den Produktionsprozessen Lebende, als die einzige Wirk­lichkeit, und Maja ist dasjenige, was im Inneren der Menschenseele als Sitte, als Religion, als Kunst, als Wissenschaft aufgeht. Will man das orientalische Wort Maja in der richtigen Weise übersetzen, so muß man sagen: Ideologie. Alle anderen Übersetzungen sind für unsere modernen Menschen nicht zutreffend. Aber Ideologie bezieht sich gerade auf das Umgekehrte von dem, was die Maja für den alten Orientalen war. Maja nennt heute der weiteste Umkreis der modernen Bevölkerung dasjenige, was der alte Orientale die einzige Wirklichkeit genannt hat. Und das hat eine wichtige Bedeutung für das Leben.

Ich habe sie kennengelernt, solche Menschen, welche aus den führen-den Klassen heraus unter dem Einfluß einer Weltanschauung lebten, die zu einer solchen Ideologie kam. Menschen habe ich kennengelernt, die sich sagten: Die Naturwissenschaft, wenn wir ihr vertrauen müssen, leitet die ganze Entstehung des Kosmos auf einen Urnebel zurück. Da sind die verschiedenen Wesen der Natur entstanden. Auch der Mensch hat sich da herausgeballt. Indem er sich herausballte, entwickelte er etwas in seiner Seele wie eine große Illusion, wie Seifenblasen. Die Naturwissenschaft zeigt uns keine Realität desjenigen, was als Sitte, als Religion, als Wissenschaft, als Kunst aus der Seele des Menschen auf­steigt. Und schaut man wiederum hin auf das Ende der Erdenentwicke­lung, dann bietet sich dem Aspekt der große Kirchhof dar. Auf der Erde

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erfolgt Vereisung oder der Wärmetod, jedenfalls der große Kirchhof für die Ideale, für dasjenige, was wir als das eigentliche Menschenwerte, als das Wichtigste und Wesentlichste im Menschen betrachten. Da ist nur ein Verschwinden des Daseins, wenn wir der Naturwissenschaft ehrlich Vertrauen wollen.

Ich habe die ganze Tragik, den ganzen Schmerz bei solchen materiali­stisch gesinnten Seelen der führenden Menschheit der modernen Zeit sehen können, die nicht entkommen konnten der Lebenslage, ernst zu nehmen die naturwissenschaftlichen Folgerungen, und die deshalb alles dasjenige, was dem Menschen als sein Inneres seinen größten Wert gibt, für Illusion genommen haben. Ich habe jenen Pessimismus, der aus einer wirklich ehrlichen Verfolgung naturwissenschaftlicher Weltgesinnung entspringt, bei vielen Menschen kennengelernt.

Diese Anschauung aber hat ihre besondere Gestaltung gefunden in dem Materialismus der modernen Arbeiterschaft. Da gilt alles dasjenige, was Geistiges ist, als Überbau, als ein Rauch, ein Dunst, als Ideologie. Und das, was dadurch als Seelenverfassung in den modernen Menschen hineinkommt - wenn man auch immer anderes erfindet und anderes hinstellt, wodurch man sich selber täuscht -, das ist der eigentliche Ursprung des modernen antisozialen Empfindens; das ist der eigentliche Ursprung jener furchtbaren Katastrophen, die für die meisten Menschen noch ungeahnt heraufdämmern im ganzen Osten, die in Rußland zunächst beginnen, und die heute schon sehr verheerende Dimensionen angenommen haben, die aber noch größere Dimensionen annehmen werden, wenn man sich nicht entschließen wird, an die Stelle einer Ideologie eine lebendige Erfassung des Geistes zu setzen.

Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gibt uns nicht bloß Ideen und Begriffe über ein Wirkliches, sondern sie gibt uns auch Ideen und Begriffe, durch die wir wissen: Wir denken nicht nur über etwas Geist-Erfülltes - lebendigen Geist, nicht bloß gedachten Geist gibt uns Geisteswissenschaft. Sie zeigt den Menschen so, daß ihn lebendiger Geist erfüllt. Wie die alten Religionen ihm lebendigen Geist gegeben haben, wie sie ihm nicht gesagt haben: Du sollst nur etwas wissen -, sondern wie sie ihm gesagt haben: Du sollst etwas wissen, wodurch die göttliche Wissenschaft in dir lebt. Wie dein Blut in dir pulst, so pulsieren göttliche

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Kräfte durch ein wirkliches Wissen in dir. - Solch ein Wissen, solch ein Geistesleben will anthroposophische Geisteswissenschaft, wie sie in Dornach vertreten wird, der Menschheit überliefern.

Aber sie braucht die Unterstützung der Menschen der Gegenwart. Man wird nicht dadurch etwas erreichen, daß man im Kleinen auf diesem Boden wirkt, man braucht ein Wirken im Großen. Geisteswissenschaft hat nichts Sektiererisches in sich; sie will die großen Aufgaben der Gegenwart auch im praktischen Leben erfassen. Aber sie braucht dazu das lebendige Verständnis der Zeitgenossenschaft. Es genügt nicht, daß man da oder dort nach dem Muster der Waldorfschule Winkelschulen errichtet, wie so manche wollen. Nicht darauf kommt es an, denn dadurch wird unser Geistesleben nicht freier.

Ich habe oftmals zu meinem großen Schmerz erleben müssen, wie die Menschen ein gewisses Mißtrauen hatten gegen die gewöhnliche, mate­rialistische Medizin. Dann wollen sie zu einem kommen und zur Kur­pfuscherei verleiten. Durch Hintertüren sozusagen wollen sie geheilt werden. Ich habe das bis zum Abstoßenden erfahren; habe erfahren, daß ein preußischer Minister vor seinem Parlament die materialistische Me­dizin vertreten hat, der er die einzige Autorität zugeschrieben hat; dann ist er aber selber durch Hintertüren gekommen, und hat sich von allen möglichen Leuten kurieren lassen wollen, die er aufs heftigste bekämpft haue im Parlament.

Diejenige Gesellschaft, die von einer gewissen Seite aus mit Recht als opferwillig bezeichnet werden kann, die sich der Pflege anthroposophi­scher Geisteswissenschaft gewidmet hat, sie strebt nach einem durch­greifenden Impuls, der bis ins große Volle zu wirken vermag. Heute handelt es sich um nichts Geringeres, als daß ein wirkliches Geistesleben, wie es die moderne Menschheit braucht, nur geschaffen werden kann dadurch, daß zunächst die Interessenten für das Geistesleben - und das sind im Grunde genommen alle Menschen, zum Teil haben die Men­schen auch Kinder -, ein Geistesleben brauchen, das die Kinder für die Zukunft zu freien Menschen macht, die ein menschenwürdiges Dasein sich schaffen. Jeder Mensch ist ein Interessent für das Geistesleben und muß mitarbeiten an demjenigen, was die Zukunft bringen soll durch das Geistesleben. In weitesten Kreisen sollte das Anklang finden, was ich

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nennen möchte: einen durch solche Ideen, wie ich sie heute dargestellt habe, geforderten Weltschulverein. Im Grunde genommen müßten aus allen Nationen diejenigen Menschen, die heute einsehen, daß ein freies, emanzipiertes Geistesleben dem Erziehungs-, dem Schulsystem zu­grunde liegen muß, sich vereinigen zu einem internationalen Welt­schulverein, der mehr wirklich reale Lebenskräfte zur Einigung der Völker bringen würde als mancher andere Bund, der aus alten Verwal­tungsgrundsätzen und aus alten abstrakten Prinzipien heraus heute gegründet wird. Ein solcher Völkerbund, wie er liegen würde spirituell-geistig in einem Weltschulverein, würde die Menschen über das weite Erdenrund in einer großen, einer Riesenaufgabe für ein Stück zusam­menführen.

Es handelt sich darum, daß im Verlaufe der neueren Zeit mit Recht aus den alten Konfessionen heraus der moderne Staat die Schule übernom­men hat. Aber dasjenige, was dazumal, als der Staat dieses geleistet hat. ein Segen war, das würde fernerhin kein Segen sein, wenn es so bliebe. Der Staat kann nicht etwas anderes aus der Schule machen als seinen Diener. Er kann Theologen als Staatsbeamte, Juristen und so weiter als Staatsbeamte ausbilden lassen. Wenn aber das Geistesleben auf seinem Eeignen Grund und Boden stehen soll, so muß jeder Lehrende und Erziehende einzig und allein verantwortlich sein der geistigen Welt, zu der er aufschauen kann aus anthroposophisch orientierter Geisteswis­senschaft heraus. Ein Weitschulverein müßte gegründet werden auf ganz internationalem Boden von seiten aller derjenigen, welche auf der einen Seite Verständnis haben für ein wirklich freies Geistesleben, und auf der anderen Seite Verständnis haben für dasjenige, was die Zukunft der Menschheit in sozialer Beziehung fordert. Ein solcher Weltschulverein wird allmählich über die ganze zivilisierte Welt hin die Anschauung erzeugen, daß die Schulen wiederum frei sein mussen; daß in den Schulen die freie Lehrerschaft auch die Verwaltung selber besorgen muß. In solchen Dingen kann man nicht so kleinlich und phlliströs denken, wie viele denken. Sie sagen: Werden denn in diese freien Schulen die Kinder auch hineingeschickt werden? - So darf man nicht denken. Man muß sich klar sein: Diese freie Schule ist eine Forderung der Zukunft. Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, wie man die Kinder, selbst

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wenn es auch in der Zukunft noch abgeneigte Eltern geben sollte, in die Schule hineinbringt ohne Staatszwang. Es handelt sich nicht darum, daß man sagt: Es ist die freie Schule aus einer solchen Rücksicht heraus zu bekämpfen; sondern es handelt sich darum, daß man Mittel und Wege für die freie Schule findet, trotzdem vielleicht von dieser Seite her manches gegen sie spricht, was eben in der entsprechenden Weise dann ausgebildet werden muß. Ich bin überzeugt davon, daß die wichtigste Angelegenheit für die soziale Menschheitsentwickelung die Begründung eines solchen Weltschulvereins ist, der in den weitesten Kreisen den Sinn für reales, konkretes, freies Geistesleben erweckt. Wenn solche Stim­mung über die Welt hin existieren wird, dann wird man nicht Waldorf­schulen als Winkelschulen errichten müssen, die von Staatsgnaden beste­hen, sondern dann werden die Staaten gezwungen sein, da wo freies Geistesleben wirklich Schulen begründet, aus ihren eigenen Bedingun­gen heraus diese Schulen voll anzuerkennen, ohne von staatlicher Seite aus irgendwie hineinzureden.

Dasjenige, was ich Ihnen hier für das freie Geistesleben entwickele, daß es aus sich selbst heraus gestaltet werden muß, gilt auch für die­jenige Gestaltung des öffentlichen Lebens, welche sich anthroposo­phisch orientierte Geisteswissenschaft für das Wirtschaftsleben denken muß. Geradeso wie das Geistesleben auf die Fähigkeit der einzelnen Menschenindividualität gestellt sein muß, so muß das Wirtschaftsleben gestellt sein auf etwas anderes, nämlich darauf, daß wir im Grunde genommen im Wirtschaftsleben gar nicht als einzelne ein Urteil fällen können, welches sich in Handlungen, in wirtschaftliche Handlungen umsetzen läßt. Sehen Sie, in bezug auf das Geistesleben müssen wir anerkennen: Nach Totalität, nach innerer Harmonie strebt die menschli­che Seele. Die Individualität des Lehrers, des Erziehers muß nach dieser inneren Totalität streben. Dem Kinde muß man so beikommen, daß man nach dieser Totalität strebt. - Im Wirtschaftsleben stehen wir so drinnen, daß wir fach- und sachtüchtig nur in den engeren Branchen sein können, und daß etwas Gedeihliches nur herauskommen kann, wenn man sich

vereinigt mit Leuten anderer Branchen. Und so hat man zu denken, daß mit einer ebensolchen Notwendigkeit, wie das freie Geistesleben sich herausbilden muß als ein Glied des sozialen Organismus, sich das auf das

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assoziative Prinzip gebaute Wirtschaftsleben herausbilden muß als ein anderes selbständiges Glied des dreigliedrigen sozialen Organismus. Wir werden in Zukunft aus anderen Grundlagen heraus das Wirtschaftsleben gestalten müssen, wie wir es aus der Vergangenheit herein gewöhnt sind. Man gestaltet heute das Wirtschaftsleben nur aus der Vergangenheit; man hat ja keinen anderen Maßstab für den Erwerb, das Erträgnis; und an die Umgestaltung dieser Erwerbs-Wirtschaftsgesellschaft in etwas anderes denken die Menschen heute doch nicht. Ich möchte dies an einem Beispiel erörtern, das ja vielleicht noch nicht aus dem reinen Wirtschaftsleben hergenommen ist, das aber doch seine wirtschaftliche Seite hat, und zeigt, wie auch auf ganz materiellem Gebiete in das assoziative Prinzip des Wirtschaftens hineingegangen werden kann. Ich möchte da darauf aufmerksam machen: Wir haben die Anthroposophi­sche Gesellschaft. Viele Menschen mögen sie ja nicht besonders lieben, mögen sie als etwas Sektiererisches betrachten, was sie ganz gewiß nicht ist, oder als etwas Nebulos-Mystisches, was sie auch ganz gewiß nicht ist. Diese Gesellschaft widmet sich der Pflege anthroposophisch orien­tierter Geisteswissenschaft. Nun hat diese Anthroposophische Gesell­schaft vor vielen Jahren in Berlin den Philosophisch-Anthroposophi­schen Verlag begründet; eigentlich zwei Menschen haben ihn zunächst begründet, aber aus der Denkweise der Anthroposophischen Gesell­schaft heraus. Dieser Verlag nun arbeitet nicht wie eine Erwerbsgesell­schaft, wie ein anderer Verlag, der aus der wirtschaftlichen Denkweise der modernen Zeit hervorgeht. Wie arbeiten die anderen Verlagsunter­nehmungen? Sie drucken Bücher. Das bedeutet: Man muß so und so viele Leute in Anspruch nehmen, die an der Papierbearbeitung beteiligt sind, so und so viele Setzer, Drucker, Einbinder und so weiterc Nun bitte, schauen Sie sich jedes Jahr jene merkwürdigen Gebilde an, welche man im Buchhandel die Krebse nennt. Es sind diejenigen Bücher, die bei den Sortimentern draußen nicht gekauft werden, sondern bei der näch­sten Ostermesse wieder zurückwandern an den Verleger zum Einstamp­fen. Da hat man auf den Markt hinausgebracht Waren, für die man ein ganzes Heer von Menschen beschäftigt hat, und unnötig beschäftigt hat.

Das ist eine wesentliche Seite der sozialen Frage: die unnötigen, die nicht zweckentsprechenden Arbeiten. Man redet heute allzuviel, weil

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man in Phrasen, nicht in Sachkenntnis leben will, von erwerbslosem Einkommen. Man sollte vielmehr in die realen Verhältnisse hinein­schauen. Denn auf dem Gebiet des ganzen äußerlich-materiellen Lebens ist in vieler Beziehung auch solches vorhanden. Der Philosophisch­Anthroposophische Verlag hat bis jetzt kein einziges Buch vergeblich gedruckt, höchstens einige, die wir aus besonderer Liebenswürdigkeit für Mitglieder gedruckt haben, und von denen wir von vorneherein wußten, sie sind nur aus Liebenswürdigkeit gedruckt, wo wir die Sache also gewissermaßen geschenkt haben. Aber was sonst gedruckt wurde, dafür war von vorneherein der Konsum da, waren die Konsumenten dac Unsere Bücher waren immer rasch ausverkauft, nichts wurde unnötig gedruckt. Kein Arbeiter wurde unnötig in Anspruch genommen, keine unnötige Arbeit wurde geleistet im sozialen Verkehr. So etwas läßt sich auf dem ganzen weiten Gebiet des Wirtschaftslebens erreichen, wenn man zusammengliedert diejenigen Menschen, die auf der einen Seite ein Verständnis haben für die Bedürfnisse auf irgendeinem Gebiet, mit denjenigen, die Handel treiben mit gewissen Produkten, mit denjenigen, die produzieren. Aus den Konsumenten, denjenigen, die Handel treiben und den Produzenten werden sich Assoziationen bilden, die vor allen Dingen mit der Regelung des Preises sich zu schaffen machen werden. Es würden diese Assoziationen, die sich ihre eigene Größe geben - wenn sie zu groß sind, würden sie unübersichtlich, wenn sie zu klein sind, würden sie zu teuer-, wiederum vereinigen zu großen Assoziationen; sie werden dann sich erweitern können zu dem, was man die Weltwirtschaftsasso­ziation nennen muß. Denn das ist ja das Charakteristikon der neueren Wirtschaft, daß sie zur Weltwirtschaft geworden ist.

Ich müßte noch viel sagen, wenn ich das, was ich nur dem Prinzip nach dargestellt habe, ausführen wollte. Das assoziative Leben ist nicht gemeint als ein organisatorisches. Trotzdem ich aus Deutschland komme

- ich habe ja vielfach in Deutschland gelebt, habe allerdings jetzt meinen Wirkungskreis in Dornach, in der Schweiz -, so wirkt doch auf mich das Wort Organisation wie etwas, was mir schrecklich ist Denn Orgamsie­ren bedeutet: etwas von oben herab bestimmen, von oben herab einrich­ten, von einem Zentrum aus einrichten. Das verträgt das Wirtschaftsle­ben nicht. Indem die mitteleuropäischen Staaten ihr Wirtschaftsleben

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organisieren wollten, haben gerade sie, die eingepfercht waren zwischen Westen und Osten, einem gesunden Wirtschaftsleben entgegengearbei-tet Das assoziative Wirtschaftsleben, das angestrebt werden muß, das läßt die Industrien, auch die industriellen Genossenschaften bestehen, es schließt sie nur zusammen nach Produktion und Konsumtion, die durch die Tätigkeit derjenigen, die die Assoziationen verwalten, geregelt wer­den; geregelt werden durch freie Verträge vom Einzelnen zum Einzelnen oder von Assoziation zu Assoziation.

Dasjenige, was hier zu sagen ist, finden Sie näher ausgeführt in meinen «Kerupunkten der sozialen Frage» oder in anderen Schriften, zum Beispiel in dem Buche, das diese «Kernpunkte» ergänzt: «In Ausführung der Dreigliederung.»

So fordert dasjenige, was gerade den modernsten Bedürfnissen ent­gegenkommt als anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, aus Lebenspraxis, zwei selbständige Glieder des sozialen Organismus:

Das freie Geistesleben; das assoziativ gestaltete Wirtschaftsleben. Diese muß gerade der fordern, der es mit einer Grundkraft des ganzen mo­dernen Menschenwesens, mit einer Grundsehnsucht der neuesten Zeit vollständig ernst und ehrlich nimmt, mit der Sehnsucht nach Demo­kratie.

Meine sehr verehrten Anwesenden, ich habe meine halbe Lebenszeit, dreißig Jahre, in Österreich zugebracht, habe gesehen, was es heißt:

nicht Ernstnehmen im ganzen sozialen Wesen dasjenige, was die modernste Forderung, die Forderung nach Demokratie ist. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde in diesem Experimen­tierlande Österreich, das gerade aus dem Grunde, weil es nicht verstan­den hat, in einer richtigen Weise die sozialen Verhältnisse herbeizufüh­ren, das erste war, das in der großen Weltkatastrophe völlig untergegan-gen ist, in diesem Österreich erhob sich in den sechziger Jahren auch der Ruf nach Parlamentarismus. Man bildete ein Parlament. Aber wie setzte man dieses Parlament zusammen? Aus vier Kurien: Der Kurie der Großgrundbesitzer, der Kurie der Handelskammer, der Kurie der Städte, Märkte und Industrieorte, der Kurie der Landgemeinden. Also lauter Wirtschaftsinteressen; vier Gruppen von Wirtschaftsinteressen. Die schickte man ins Parlament. Da sollten sie über die politischjuristischen,

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über allgemeine staatliche Verhältnisse entscheiden. Sie entschieden immer aus ihren wirtschaftlichen Interessen heraus, daraus bildeten sie eine Majorität. Solche Majoritäten können aber niemals etwas konkret Fruchtbares in die Menschheitsentwickelung, in die soziale Entwickelung hineinbringen. Solche Majoritäten entstehen ja nicht aus dem Sachverständnis heraus. Ehrlich muß man es meinen mit dem Ruf nach Demokratie, mit dem Ruf nach Menschenfreiheit.

Aber man muß sich da durchaus auch klar sein, daß parlamentarisiert werden darf nur über gewisse Dinge, daß Demokratie wirken kann nur über gewisse Dinge, über dasjenige, worüber ein jeder mündig gewor­dene Mensch kompetent ist. Das demokratische Gebiet bleibt als drittes Glied zwischen dem geistigen Gebiet, das auf freien geistigen Boden gestellt ist einerseits, und zwischen dem wirtschaftlichen Gebiet, das auf assoziativ gestalteten Boden gestellt wird auf der anderen Seite. Es bleibt dazwischen dieses dritte, das staatlich-rechtliche Glied des sozialen Organismus, wo jeder Mensch dem anderen als Gleicher gegenübersteht. In einer solchen Frage wie zum Beispiel der Frage der Arbeitszeit, des Maßes und der Art der Arbeit ist jeder mündig gewordene Mensch als solcher kompetent.

Gehen wir entgegen einer Zukunft, in der über das Geistesleben aus der freien Geistigkeit heraus entschieden wird, in der angestrebt wird eine freie Schule, die aus dem Geiste heraus arbeitet und deshalb auch geschickte und praktische Menschen erzeugt - denn auch die praktischen Schulen werden aus einem solchen Geistesleben heraus sich entwickeln; gehen wir einer Zukunft entgegen, in der ein solches Geistesleben als freies Geistesleben wirkt, in der ein Staatsleben sich auf das beschränkt, wofür jeder mündig gewordene Mensch kompetent ist, in der ein Wirtschaftsleben in Assoziationen gegliedert ist, wo ein Kollektivurteil entsteht dadurch, daß der eine Mensch das in die Assoziation hinein-bringt, worinnen er sachtüchtig ist und Verträge abschließt mit dem anderen Menschen, der auf seinem Gebiete sachtüchtig ist - gehen wir einer solchen Zukunft entgegen, dann gehen wir etwas anderem entge­gen,.als heute sehr viele Menschen glauben, die sich nicht in etwas Neues hineinfügen können.

Es wird viele Menschen geben, die glauben, von Dornach ginge ein

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nebuloses Geistesleben, ein lebensfremdes Geistesleben aus. Nein, das ist nicht der Fall, in Dornach herrscht der Geist, der mit einer gewissen Paradoxie, die aber berechtigt ist, sagt: Keiner kann ein wirklicher Philosoph werden, der nicht auch versteht Holz zu hacken und Kartof­feln auszunehmen, der nicht Hand anlegen kann an die äußere, prakti­sche Welt. Aus Geisteswissenschaft können keine lebensfremden Men­schen hervorgehen, sondern nur solche Menschen, die zu gleicher Zeit für das Leben geschickt sind. Denn Geisteswissenschaft ist nicht eine Abstraktion, sie ist eine Wirklichkeit. Sie durchdringt den Menschen mit einer wirklichen Kraft. Sie macht ihn nicht nur denkerischer, sondern auch geschickter. Sie steht zugleich im Zusammenhang mit dem, was der Mensch als seine Würdigung, seine Moralität empfinden muß, mit Moralität, mit Religion, mit der Kunst. Davon kann jeder sich überzeu­gen, der den Dornacher Bau sich anschaut. Er ist noch lange nicht fertig; verständnisvolle Menschen haben, damit er bis zum heutigen Punkte gebracht werden konnte, Opfer genug bringen müssen. Dieser Bau ist nicht so entstanden, daß man bei einem Baumeister einen Bau bestellt hätte, der dann aufgeführt worden wäre etwa in gotischem Stil, in Renaissancestil oder dergleichen. Das hätte das Lebensvolle der Geistes­wissenschaft, wie sie hier gemeint ist, nicht ertragen. Die Geisteswissen­schaft bringt aus sich selber auch ihren Stil in den Kunstformen hervor. So wie die Nuß aus denselben Wachstumskräften, aus denen der Kern entsteht, um sich herum die Nußschale bildet, und wie die Nußschale nicht anders aufgebaut sein kann, wie sie eben ist, aus dem im Nußkern wirkenden Prinzip, so konnte die äußere Bauhülle für das, was in Dornach gewollt wird, aus nichts anderem hervorgehen als aus densel­ben geistigen Quellen, aus denen in Dornach geforscht und gelehrt wirdc Das Wort, das verkündet wird, die Ergebnisse, die erforscht werden, gehen aus denselben Quellen hervor, aus denen künstlerisch die Formen der Säulen, die Ausmalung der Kuppeln, hervorgegangen sind. Gebild­hauert, als Architekt gewirkt, gemalt wird dort aus denselben geistigen Impulsen, nicht in strohernen Symbolen oder Allegorien, sondern in mit wahrer Kunst arbeitenden Impulsen, wie gelehrt und geforscht wird. Und dadurch, daß das alles zusammenhängt mit dem lebendigen Geistesleben, das im Menschen rege gemacht werden soll, ist auch

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das dritte Element, das Element des Religiösen in eine Einheit mit Kunst und Wissenschaft verbunden.

Und so wird das, was hier als Geisteswissenschaft angestrebt wird, indem es praktisch in die Welt eintritt, durch die Dreigliederung des sozialen Organismus verwirklichen dasjenige, was als drei Devisen herübertönt auf eine herzergreifende, Menschengeist erweckende Art aus dem 18. Jahrhundert. Da klingen zu uns herüber die drei großen Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber gescheite Menschen haben im 19. Jahrhundert immer wiederum eingewendet: In dem Staate läßt sich nicht zu gleicher Zeit Freiheit und Gleichheit und auch wie­derum die Brüderlichkeit pflegen. Gescheite Menschen haben das gesagt, haben das gegen diese drei Ideale eingewendet. Sie haben es mit Recht eingewendet. Aber das beruht auf etwas anderem, als man gewöhnlich denkt; es beruht darauf, daß wohl als drei große berechtigte soziale Ideale aus dem 18. Jahrhundert herüberklingen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, daß man aber bis heute gestanden hat unter der Sugge­stion des Einheitsstaates; daß man nicht daran gedacht hat, daß dieser Einheitsstaat sich naturgemäß gliedern muß in die drei sozialen Glieder, den freien Geistesorganismus, den auf Gleichheit gebauten Staats- und Rechtsorganismus, und den auf das assoziative Prinzip gebauten Wirt­schaftsorganismus.

Man hat mir einmal eingewendet von einer gewissen Seite, die ernst genommen werden will in sozialen Fragen, daß ich die Einheit zerspren­gen würde, indem ich eine Dreiheit verlange. Ebensowenig wie die Einheit des menschlichen Organismus zersprengt wird dadurch, daß er dasjenige erfüllt, was ich auseinandergesetzt habe in meinem Buche «Von Seelenrätseln», dadurch daß er auch von Natur in drei Glieder zerfällt, ebensowenig wie die Einheit des Menschen dadurch gestört wird, daß das Blut von einem anderen Teile des menschlichen Organis­mus her in rhythmischer Zirkulation durch den Leib erhalten wird, als von dem die Nerven ausgehen, ebensowenig wie dadurch die Einheit zerstört wird, ja wie sie sogar zerstört würde, wenn der Kopf neben dem, daß er die Nerven ausschickt, auch das Blut erzeugen müßte, ebensowenig wie die Einheit des menschlichen Organismus durch diese Dreiheit gestört wird, ebensowenig wird die Einheit des sozialen Organismus

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durch diese Dreiheit gestört. Und ich möchte die Betrachtung über Geisteswissenschaft und ihre soziale Lebenspraxis damit beschlie­ßen, daß ich darauf hinweise, wie die drei großen Ideale der Menschheit nicht im Einheitsstaate verwirklicht werden können, wie ihre Verwirkli­chung da eine Illusion werden würde, wie aber diese drei Ideale in das menschliche Leben eindringen können im dreigegliederten sozialen Organismus, in dem herrschen wird: volle Freiheit im freien Geistesle­ben; Gleichheit der Menschen in demjenigen Gebiet, wo ein jeder kompetent ist, wo als mündig gewordener Mensch jeder als gleicher dem anderen mündig gewordenen Menschen entgegentritt. Die Brüderlich­keit wird im Wirtschaftsleben praktisch erfüllt sein durch das assoziative Prinzip. Nicht die Einheit wird zerstört sein, denn der Mensch steht in allen drei Gliedern drinnen und bildet die lebendige Einheit. Und dazu ist doch im Grunde genommen alle Weltentwickelung da, daß die einzelnen Wirkungsweisen und Wirkungskräfte zuletzt in dem Gipfel der Weltorganisation, im Menschen zusammentreffen. Wie die Natur-kräfte, wie sich der ganze Makrokosmos im Mikrokosmos Mensch zusammentreffend wiederfinden im Kleinen, so müssen sich auch die drei großen Ideale, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nicht äußerlich abstrakt treffen im sozialen Organismus, sondern in Wirklichkeit, damit sie zusammenwirken, in der einheitlichen Menschennatur. Der Mensch wird angehören als ein freier Mensch dem freien Geistesleben, zu dem jeder Mensch gehört. Dadurch, daß er ein gleicher dem anderen Men­schen gegenüber ist, gehört er an dem staatlich demokratischen Leben, dem Leben der Gleichheit. Dadurch, daß er dem Wirtschaftsleben ange­hört, steht er in der Brüderlichkeit drinnen.

Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Staats- oder Rechtsleben, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben - ihr harmonisches Zusammenwir­ken führt zum Heil und zur wahrhaftigen Weiterentwickelung der Menschheit, führt in Aufgangskräfte hinein, die die Niedergangskräfte bekämpfen.

Ein Zusammenwirken durch die drei Glieder des echten sozialen Organismus, ein Zusammenwirken von Freiheit, Gleichheit und Brüder­lichkeit in der einheitlichen Menschennatur, das scheint das Zauberwort und Losungswort für die Zukunft der Menschheit werden zu müssen.

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DIE PÄDAGOGISCHE BEDEUTUNG DER ERKENNTNIS VOM GESUNDEN UND KRANKEN MENSCHEN Dornach, 26. September 1921

Meine sehr verehrten Anwesenden! Die Pädagogik, welche sich ergibt aus dem ganzen anthroposophischen Welterkennen und die ja praktisch geübt wird in der Stuttgarter Waldorfschule und in einigen kleineren Versuchen, die nach dieser Richtung hin gemacht werden, diese Pädago­gik muß eine viel umfassendere sein als dasjenige, was man in der Gegenwart unter diesem Namen betreibt. Und vor allen Dingen, sie muß etwas in einem viel engeren Sinne an den ganzen Menschen und sein Wissen Gebundenes sein. Man wird, wenn man einmal dasjenige, was man anthroposophische Pädagogik und Didaktik nennen kann, in richti­gem Sinne verstehen wird, weniger von etwas Objektivem sprechen, von Pädagogik und Didaktik als Wissenschaft oder Kunst, man wird mehr von den erziehenden und unterrichtenden Menschen sprechen, wird mehr wissen, was eigentlich der Mensch für den Menschen überhaupt und insbesondere der lehrende und unterrichtende Mensch für den aufwachsenden Menschen, für das Kind bedeutet. Gerade dieses bedeut­samste Verhältnis von Mensch zu Mensch, das da ist zwischen dem erziehenden, dem lehrenden und dem aufwachsenden Menschen, hat ja gelitten unter der Tendenz, die immer mehr und mehr in der neueren Zeit in alles geistige Arbeiten und alles geistige Streben eingezogen ist, nämlich unter dem Spezialistentum. Dieses Spezialistentum hat es ja dahin gebracht, daß man immer mehr und mehr es für nötig hält, daß einen gewissen Einfluß gewinne in der Schule auf die aufwachsende Jugend nicht nur der Lehrer, sondern weil man es ja zu tun hat mit demjenigen, was in gesunder und kranker Weise sich an dem Kinde heranentwickelt, daß ei . sen Einfluß in der Schule auch haben soll der Arzt. Und in der neuesten Zeit betrachtet man es ja sogar auch noch als eine Notwendigkeit, daß der gelehrte Psychologe, der Seelen­kenner, derjenige also, der sich gewisse Erkenntnisse verschafft, so wie man sie nach den gewöhnlichen heutigen schulmäßigen Methoden sich verschaffen kann über die Seele des Menschen, daß der nun auch

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irgendwie beratend in die Schulverfassung eingreife. So also müßte gewissermaßen der Lehrer dann dastehen, beraten auf der einen Seite vom Arzt, beraten auf der anderen Seite von dem Psychologen. Das aber ist ja nichts anderes als eben ein Hineintragen des Spezialistentums in die Schule. Wer einen genügenden Begriff sich davon verschafft, ein wie enges Verhältnis sich herausbilden muß zwischen dem zu erziehenden und zu unterrichtenden Kind und dem Lehrer, wie intim der Lehrer kennen muß dasjenige, was im Kinde heranwächst, der wird kaum zugeben können, daß es irgendwie ersprießlich ist, wenn in äußerlicher Weise zusammenwirken Menschen, die ja eigentlich auch unter sich nur ein gewisses äußerliches Verhältnis haben, die gewissermaßen jeder einen Teil der menschlichen Entwickelung verstehen, und die dann äußerlich ihre Ratschläge sich geben sollen, um in äußerlicher Weise zusammenzu-wirken. Aber es ist das, was da auftreten will, eben nur eine allgemeine Folge des Spezialistentums überhaupt. Wer glaubt, daß die Seele des Menschen etwas ist, was irgendwie eine außerliche Beziehung zum körperlich-leiblichen Organismus habe, der kann ja unter Umständen meinen, daß der Lehrer eben auf das Seelische zu wirken hat, und daß für das Körperliche dann von außen her Ratschläge gegeben werden können von dem Arzte.

Selbstverständlich rede ich, indem ich heute über das Thema der pädagogischen Bedeutung einer Erkenntnis vom gesunden und kranken Menschen rede, nicht von den Fällen, wo die zu erziehenden Kinder wirklich in akute oder chronische Krankheiten verfallen. Da ist ja die ärztliche Behandlung etwas, was außerhalb des Erziehens selbst liegt. Ich rede von demjenigen, was durchaus innerhalb des Ganges der Erziehung und des Unterrichtes selber liegt. Und da muß gesagt werden, daß gerade dadurch, daß man glaubt, für das Hygienische, für das Sanitäre der Schulführung könne der Arzt als Spezialist dem Lehrer zur Seite stehen, daß man gerade dadurch das fördert, daß wiederum andererseits die Pädagogik und Didaktik einseitig werden, herausgebracht werden aus dem konkreten Verhältnisse zu dem vollen Menschen im Kinde, der ja geistig-seelisch auf der einen Seite, leiblich-physisch auf der anderen Seite ist. Die Pädagogik und Didaktik wird in eine gewisse Abstraktheit heraufgehoben und vom Menschen entfernt, wenn man sich verläßt

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darauf, daß ja dasjenige, was in leiblich-physischer Beziehung gesorgt werden soll, von dem Spezialisten besorgt werden kann.

Und unter der Tendenz, die sich da entwickelt hat, ist es ja in der Tat dahin gekommen, daß man heute von mancher Seite Verwunderung äußert, wenn man in die pädagogische und didaktische Kunst nicht nur die gewöhnlichen abstrakten Erziehungs- und Unterrichtsregeln hinein-bringt, sondern wenn man diese Erziehungs- und Unterrichtsregeln so gestaltet, daß sie zu gleicher Zeit herausgedacht sind aus dem Ganzen des Menschen, also auch aus dem Leiblich-Physischen. Was hier als eine Abirrung zu charakterisieren ist, schreibt sich ja im Grunde genommen davon her, daß unsere neuere Wissenschaft überhaupt ins Unklare gekommen ist über das Verhältnis des Geistig-Seelischen zu dem Leib­lich-Physischen, wenn sie von dem ersteren überhaupt als etwas Selb­ständigem spricht.

Ein deutlicher Beweis dafür ist ja das, daß unsere Seelenkunde vielfach heute spricht von einem psycho-physischen Parallelismus. Man sieht sich genötigt, von einem Geistig-Seelischen zu sprechen; man sieht sich auf der anderen Seite natürlich genötigt, von einem Leiblich-Physischen zu sprechen. Aber da man das lebendige Ineinanderwirken, das leben­dige Wechselspiel zwischen beiden nicht durchschaut, redet man von einem Parallelismus, als wenn auf der einen Seite eben abliefen die geistigen Erscheinungen, auf der anderen Seite die leiblich-physischen Erscheinungen. Aber was da zwischen beiden spielt, darauf läßt man sich nicht ein.

Dieses äußerliche Verhältnis, das da allmählich in die Anschauung eingetreten ist, das hat durchaus auch abgefärbt auf alles dasjenige, was Pädagogik und Didaktik ist. Man muß sich nur klar sein - und das kann ich ja hier nur aus der allgemeinen Anthroposophie, ich möchte sagen, hereinziehend charakterisieren -, man muß sich nur klar sein darüber, daß wenn wir vom Körperlich-Leiblichen etwa so sprechen, wie das die gewöhnliche heutige Physiologie, Biologie tut, daß wir dann von etwas sprechen, was am lebendigen Menschen, so wie wir es ja charakterisie­ren, eigentlich gar nicht vorhanden ist. Das ganze Leiblich-Physische ist ein Ergebnis, ein Aufbau des Seelisch-Geistigen.

Und wiederum, wenn wir vom Seelisch-Geistigen in einer gewissen

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Abstraktheit sprechen, sprechen wir eben wiederum nicht von etwas Wirklichem, denn es ist am lebendigen Menschen lebendig, möchte ich sagen, eben das Geistig-Seelische, indem es den Leib durchorganisiert, indem es den Leib baut, gestaltet. Und es ist so, daß durchaus nicht in einer gewissen Allgemeinheit gesprochen werden kann von der Bezie­hung des Seelisch-Geistigen zu dem Physisch-Leiblichen, sondern derje­nige, der nun wiederum das Seelisch-Geistige in seiner Konfiguration schaut, der es nicht als ein bloßes Abstraktum vor sich hat, sondern der es in seiner inneren Gestaltung vor sich sieht, der weiß zugleich, daß jede Einzelheit des Seelisch-Geistigen eine gewisse Beziehung hat zu einer Einzelheit in dem Physisch-Leiblichen. Wir können zum Beispiel durch­aus sagen, ich will das eben nur als ein Beispiel heranziehen: Wenn wir den Sehprozeß ins Auge fassen, so hat dieser Sehprozeß seine physisch-leibliche Lokalisation sehr abgeschlossen in dem menschlichen Haupt-Organ, in dem menschlichen Kopfe, und wir studieren den Sehprozeß, indem wir vorzugsweise seine lokalisierten Organe im menschlichen Haupt studieren.

Anders ist das zum Beispiel schon, wenn wir den Gehörprozeß studieren. Wenn wir den Gehörprozeß studieren, müssen wir das rhyth­mische System studieren. Wir müssen, um den Gehörprozeß zu verste­hen, eigentlich ausgehen von dem Atmungsprozeß. Wir können ja nicht den Gehörprozeß für sich lokalisiert im Kopfe studieren, wie das in einer heutigen abstrakten Physiologie vielfach geschieht, und so ist es mit allem. Was wir als Geistig-Seelisches studieren, müssen wir in konkreter Weise beziehen können wiederum auf konkrete organische Systeme. Das heißt, eine wirkliche geistig-seelische Erkenntnis ist gar nicht möglich ohne eine Erkenntnis des Leiblich-Physischen. Und wiederum: eine richtige Erkenntnis des Leiblich-Physischen ist zu gleicher Zeit eine Erkenntnis des Seelisch-Geistigen. Es muß eben eine Erkenntnis ange­strebt werden, wo diese beiden, das Seelisch-Geistige und das Leiblich-Physische so ineinandergehen in der Erkenntnis, wie sie auseinanderge­hen im lebendigen Menschen.

Diejenigen, die diese Vorträge hier hören als anthroposophisch Inter­essierte, wissen ja, wie hier nicht gesprochen wird von irgendeinem abstrakt-theoretischen Geistig-Seelischen, sondern wie gerade wirkliche

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Erkenntnis des Geistig-Seelischen im vollen innerlichen Zusammenhang steht mit einer Erkenntnis des Leiblich-Physischen.

Nun aber, wenn wir an das Leiblich-Physische des Menschen heran-treten, dann tritt uns ja sogleich eigentlich die Frage entgegen nach dem Verhältnis des Gesunden und des Kranken im Menschen. Gewiß, die extremen Fälle des Krankseins gehören auf ein anderes Blatt als das pädagogische, und sie gehen uns heute hier nichts an, aber all dasjenige, was, ich möchte sagen, in tausendfältiger Weise in dem eigentlich sonst gesund zu nennenden Menschen doch in einer gewissen Weise nach dem Kranken hinneigt, in dem haben wir ein Gebiet, das gerade innerhalb des Pädagogischen und Didaktischen in hervorragendem Maße gekannt sein muß, und das sogar außerordentlich wichtig ist für die pädagogische und didaktische Erkenntnis. Und um begreiflich zu machen, was damit eigentlich gemeint ist, möchte ich ausgehen von einem in Goethes Weltanschauung auftretenden, außerordentlich wichtigen Begriff.

Goethe hat ja in seiner Metamorphosenlehre versucht, eine Art Anschauung des Organischen zu gewinnen, und dasjenige, was er in seiner Metamorphosenlehre gewonnen hat, wird ganz gewiß in der Zukunft noch viel unbefangener gewürdigt werden, als es bis heute schon gewürdigt werden kann, da ja die gegenwärtige Wissenschaftsrich­tung vielfach sich in einer in bezug auf Goethe entgegengesetzten Richtung bewegt.

Goethe hat verfolgt, wenn wir das am einfachsten Beispiel ins Auge fassen, wie, sagen wir, am Pflanzenstengel Blatt nach Blau sich entwik­kelt, und wie aber jedes folgende Blatt, das eine andere Form zeigt als das darunterstehende, doch nur eine Metamorphose des darunterstehenden ist. So daß Goethe sagt: Die einzelnen Organe der Pflanze, die unteren einfacheren Blätter, dann die komplizierteren Stengelbläuer, dann die Kelchblätter, die wieder ganz anders gestaltet sind, die Blumenblätter, die sogar eine andere Farbe haben als die Stengelbläuer, sie sind eigent­lich alle so, daß sie äußerlich in der Form voneinander verschieden sind, innerlich in der Idee aber gleich sind, so daß dasjenige, was in der Idee gleich ist, sich dem äußeren sinnlichen Scheine nach vermannigfaltigt, in den verschiedenen Gestalten auftritt. Goethe sieht deshalb in dem einzelnen Blatte die ganze Pflanze und in der Pflanze wiederum nur die

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komplizierte Ausgestaltung des einzelnen Blattes. Jedes Blatt ist für Goethe eine ganze Pflanze, nur daß die Idee der Pflanze, der Typus der Pflanze, die Urpflanze, eben im äußeren physischen Ausgestalten eine bestimmte Gestalt annimmt, vereinfacht ist und so weiter, so daß Goethe gewissermaßen sich sagt (es wird gezeichnet): Indem der Pflanzenstengel ein Blatt treibt, will er eigentlich eine ganze Pflanze treiben. Hier ist durchaus die Tendenz vorhanden, eine ganze Pflanze zu treiben. Aber diese pflanzenbildnerische Kraft gestaltet sich gewissermaßen nur in beschränktem Maße aus, hält sich zurück. Im nächsten Blatte gestaltet sie sich wiederum in einem in gewissem Sinne beschränkten Maße aus und so weiter. Hier will diese pflanzenbildnerische Kraft eine ganze Pflanze werden, hier wieder eine ganze Pflanze. In jedem Blatte will eigentlich eine ganze Pflanze entstehen, und es entsteht nur immer etwas wie ein Fragment einer Pflanze; aber die ganze Pflanze ist doch da und ist wiederum eine Realität. Und diese unsichtbare ganze Pflanze, die hält nun all das in Harmonie zusammen, was immer viele Pflanzen werden will. Jede Pflanze möchte eigentlich viele Pflanzen werden; aber jede von diesen vielen Pflanzen wird nicht eine volle Pflanze, sondern nur eine beschränkte Ausgestaltung, ein Organ. Jedes Organ will eigentlich der ganze Organismus sein, und der ganze Organismus hat die Aufgabe, diese einzelnen fragmentarischen Ausbildungen seiner selbst wiederum zu einer größeren Harmonie zusammenzuhalten, so daß wir dasjenige haben, was im einzelnen Organ wirkt und dasjenige, was die einzelnen Organe zusammenhält.

Nun, Goethe geht nicht aus auf abstrakte Begriffe. Er gestaltete zum Beispiel nicht den ganz abstrakten Begriff: Man sieht einzelne fragmen­tarische Pflanzen sich gestalten wollen und dann die Einheitspflanze, die das zusammenhält , das wäre noch Abstraktion. Er will erfassen, wie diese pflanzenbildnerische Kraft wirkt. Er möchte erfassen, was da eigentlich sich ausgestaltet, und namentlich, was sich in einem solchen einzelnen Blatte zurückhält. Er möchte das anschauen, er möchte nicht beim Begriff bleiben, er möchte bis zu der Anschauung kommen. Deshalb wird ihm ganz besonders wichtig, wenn er, wie er es nennt, irgendwo Mißbildungen auftreten sieht, wenn also zum Beispiel an einer bestimmten Stelle nicht ein Blatt auftritt, wie man es erwartet, sondern

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wenn sich der Stengel meinetwillen verdickt, eine Mißbildung entsteht, oder wenn irgendwo die Blüte, statt sich in Blättern zu runden, schlank auswächst und dergleichen.

Wenn Mißbildungen auftreten, sagte sich Goethe, dann tritt an der Pflanze die pflanzenbildnerische Kraft so auf, daß dasjenige sich verrät, äußerlich sichtbar wird, was sich eigentlich zui ückhalten sollte; wenn das Blatt mißgestaltet wird so hat sich eben die Kraft nicht zurückgehal­ten, dann ist sie ins Blatt hi neingeschossen. Und so sagte sich Goethe: Also sieht man, wenn eine Mißbildung auftritt, wie physisch wird dasjenige, was eigentlich geistig ist; was sich zurückhalten sollte, was nur als Wachstumskraft auftreten sollte, wird sichtbar. In der Mißbildung liegt etwas vor, was man gerade studieren sollte, denn an der Mißbildung sieht man, was in der Pflanze drinnen ist. Ist diese Mißbildung nicht da, so bleibt etwas zurück, was dann in den folgenden Blättern oder in den folgenden Organen überhaupt zum Ausdrucke kommt. - So werden für Goethe die Mißbildungen für sein Studium ganz besonders wichtig. Er sagt sich das in bezug auf den ganzen Organismus. Man kann sagen, es ist durchaus im Sinne Goethes gedacht, wenn wir zum Beispiel nun nehmen den Hydrocephalusi die Wasserkopfbildung beim Kinde; da haben wir eine Mißbildung. Aber Goethe würde sagen: Diese Mißbil-dung richtig studiert, zeigt mir etwas in der Anschauung, was in jedem kindlichen Kopfe ist, aber nur zurückgehalten wird im Geistigen. Ich kann also, wenn eine Mißbildung auftritt, sagen: Hier zeigt sich mir im Physisch-Sinnlichen dasjenige, was eigentlich im Geistig-eelischen seine richtige Stellung hat.

Sehen wir nun herauf bis zum Menschen oder auch bis zum Tiere, dann haben wir nicht nur solche augenscheinlich auftretenden Mißbil­dungen, sondern wir haben dann Krankheiten oder wenigstens Krank­heitsanlagen. Jede Krankheit im Goetheschen Sinne betrachtet, verrät einem etwas, was ganz regulär im Menschen drinnen ist, aber sich nur, gleich einer Mißbildung, auch nach der einen Seite sich ausbildet, während es zurückgehalten werden sollte im ganzen organischen System. Während es gewissermaßen im Geiste zurückbleiben sollte, schlägt es in die äußere Bildung hinein. So daß man sagen kann: bemerkt man irgendwo eine Krankheitsanlagei so verrät einem diese Krankheitsanlage

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gerade etwas Besonderes für die menschliche Organisation, und wer das Kranksein nach der einen oder der anderen Seite versteht, beginnt gerade an dem Kranksein den menschlichen Geist zu studieren, wie Goethe an den Mißbildungen den Typus, die Urpflanze studiert. Es ist außerordentlich bedeutsam, hinschauen zu können, namentlich auf die feineren krankhaften Ausartungen, sagen wir beim Kinde, die nicht zu wirklichen Krankheiten werden, sondern die solche Neigungen nach der einen oder der anderen Seite darstellen, da oder dorthin krankhaft auszuarten. Das ist dasjenige, was gewissermaßen äußere Signatur dar­stellt für dasjenige, was nun auch im normalen Menschen arbeitet. Man möchte sagen: das Wasserkopfsein ist im Kopfe eines jeden Kindes, und man muß den Wasserkopf studieren können, um eben im Studium des Wasserkopfes zu erfahren, wie man das nun zu behandeln hat, was in den Wasserkopf schießt, wenn es gesund bleibt und ein Geistig-Seeli­sches ist Natürlich ist das etwas, was im eminentesten Sinne mit allem, ich möchte sagen, wissenschaftlichen Zaitgefülil zu behandeln ist, was nicht im groben Sinne gedeutet werden darf, sondern mit außerordentli­chem Zartgefühl behandelt werden muß, so daß man hier hingewiesen wird auf dasjenige, was im Menschen wirkt, was als Krankheit erscheint, was aber eigentlich, wenn es an seiner richtigen Stelle im Inneren bleibt, zu den normalen Entwickelungskräften des Menschen gehört. Und Sie werden nun selbst ermessen können, da das Kind im Wachstum ist, und die Tendenz hat, nach jeder Richtung hin auszuarten, wie man, wenn man fähig ist zu wissen, wohin die Ausartungen geschehen können, auch fähig werden kann, nun diese Dinge zu harmonisieren, wie man fähig werden kann, die Gegenkräfte hervorzurufen, wenn Ausartungen dro­hen und dergleichen.

Aber etwas anderes kommt noch in Betracht. Sehen Sie, wenn man von Pädagogik und Didaktik spricht, so haben die Leute meistens das Gefühl, da muß man ein Ideal einhalten, das bis in alle Einzelheiten hinein auch theoretisch ausgearbeitet werden kann oder dergleichen, und da gibt es so etwas, was man in starre Formen und Regeln bringen kann. Aber eigentlich fällt einem gerade dann, wenn man mit Pädagogik und Didaktik selber zu arbeiten hat, wie es einem geht, wenn man zum Beispiel wie ich die Waldorfschule zu leiten hat, da fällt einem immer

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wiederum eines ein. So etwas gefälh ja den Menschen, wenn man ihnen eine einleuchtende pädagogische und didaktische Kunst vortragt, es gefällt den Menschen. Ja, aber derjenige, der nun ganz ehrlich iSt - und Anthroposophie muß in allem absolut innerlich ehrlich sein -, der sagt sich: Gewiß, so etwas wie solch eine Pädagogik und Didaktik muß ja da sein. Dann kommen die Leute und sagen: Das ist schön, hätten wir nur auch in solchen Schulen sein können, wo so gelehrt worden ist! - Aber sehen Sie, sehr häufig haben gerade diejenigen, die dann eine solche Pädagogik und Didaktik ausarbeiten, gerade in den schlechtesten Schu­len ihre Erziehung, ihren Unterricht gehabt, und sie kommen gerade vielleicht aus den allerkorrumpiertesten Erziehungssystemen heraus, und sie sind nicht eigentlich schlecht dabei gefahren; sie sind sogar so gut dabei gefahren, daß sie ganz ordentliche Erziehungssysteme aufstellen können. Und dann kommt sogar vielleicht die Idee: Haben wir denn ein Recht, bis in alle Spezialitäten hinein auszudenken und auszugestalten. wie wir die Kinder unterrichten sollen? Wäre es nicht vielleicht am allerbesten, wenn sie in mogichst hohem Grade als Wildlinge heran-wachsen könnten, wie man vielen Biographien entnehmen kann,. daß nicht gerade diejenigen die in steife padagogische und didaktische Erziehungssysteme gepreßt sind die entwickeltsten und befähigtsten Menschen geworden sind? Beleidigen wir mcht eigentlich das aufwach sende Kind, wenn wir ein so ganz ins einzelnste ausgearbeitetes padago gisches System aufstellen?

Sie sehen, erwägen muß man nach allen Seiten und gerade wenn man dieses erwägt, dann kommt man eben zu der;emgen Padagogik und Didaktik, die eigentlich weniger von dem redet, wie man dies oder jenes am Kinde machen soll sondern die vor allen Dingen darauf bedacht ist. dem Lehrer selbst das zu geben, wodurch er das vorhin angedeutete intime Verhältnis zum heranwachsenden Kinde haben kann.

Aber dazu ist noch etwas anderes notwendig. Wenn das Kind uns übergeben wird im Volksschulalter, sollen wir es erziehen, wir sollen es unterrichten. Indem wir mit dem einen oder mit dem anderen. mit Schreiben, mit Lesen mit Rechnen herankommen, führen wir ja eigent-lich lauter Attacken auf das Kind aus. Wir unterrichten, sagen wir Leseunterricht - es ist eine Einseitigkeit. Der volle Mensch wird durchaus

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nicht eigentlich in Anspruch genommen beim gewöhnlichen Lese­unterricht. Wir fördern im Grunde genommen eine Mißbildung. wir fördern sogar eine Krankheitsneigung; und wiederum, wenn wir den Schreibunterricht erteilen, fördern wir nach einer anderen Richtung eine Krankheitsneigung. Wir führen eigentlich fortwährend Attacken aus gegen die Gesundheit des Kindes, wenn das auch nicht immer ersichtlich wird, da es sich eben nur, im Status nascendi möchte ich sagen, im Entstehungszustande sich äußert. Aber wir müssen fortwährende Attak­ken im Grunde genommen auf das Kind ausführen. Nun können wir im Zivilisationszeitalter nicht anders, als diese Attacken ausführen; aber wir müssen dasjenige, was wir da fortwährend unternehmen, gegen die Gesundheit des Kindes - man kann es schon so sagen -, das müssen wir immer wieder und wiederum gutzumachen verstehen. Wir müssen uns klar sein: Rechnen = eine Mißbildung; Schreiben = zweite Mißbil-dung; Lesen = dritte Mißbildung, und nun erst Geschichte, Geogra­phie! Da hört es ja gar nicht mehr auf, da geht es schon ins Schrecklichste hinein. Und demgegenüber müssen wir fortwährend dasjenige stellen, was wiederum zurücknimmt in den ganzen Menschen harmonisierend dasjenige, was auseinander will. Das ist so außerordentlich wichtig, daß wir uns dessen bewußt sind, daß wir eigentlich immer auf der einen Seite dem Kinde etwas beizubringen haben und auf der anderen Seite dafür zu sorgen haben, daß es ihm nichts schadet. Eine richtige Pädagogik muß darauf sehen, sich zu fragen: Wie heile ich das Kind gegenüber den fortwährenden Attacken, die ich auf es ausführe? Das muß in jeder richtigen Pädagogik immer drinnenstecken.

Das aber kann nur drinnenstecken, wenn man einen Einblick hat in die ganze menschliche Organisation, wenn man wirklich versteht, wie es sich mit dieser menschlichen Organisation verhält. Nur wenn man wirklich dieses Prinzip des Mißbildens und des wiederum Harmonisie­rens zu erfassen vermag, kann man ein richtiger Lehrer und Erzieher sein. Denn dann steht man dem aufwachsenden Menschen so gegenüber, daß man immer wissen kann: Was tust du, indem du ihm das eine oder das andere beibringst und dadurch das eine oder das andere Organsy­stem besonders in Anspruch nimmst, wie paralysierst du dasjenige, was du da nach einer einseitigen Richtung hin tust? Das ist es, das eine

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wirkliche konkrete Pädagogik und Didaktik, die der Lehrer brauchen kann, die den Lehrer im richtigen Sinne zum Menschenkenner macht, fragt. Sie kann eigentlich nur entstehen, wenn man wirklich dahin kommt, den ganzen Menschen nach seinen Gesundheits- und Krank­heitsmöglichkeiten zu erkennen.

Da tritt nun etwas auf, was die heutige mehr materialistisch gesinnte Medizin weniger zu berücksichtigen braucht, was aber sofort bedeutsam wird, wenn man den Menschen nach seiner Neigung zum Kranksein auf der einen Seite und, ich sage vorläufig, nach seiner Neigung zum Gesundsein nach der anderen Seite betrachtet, so, daß das einfließt, was man über den Menschen erkennt, in das pädagogische und didaktische Anschauen.

Man betrachtet ja heute Gesundheit und Krankheit eigentlich als zwei Gegensätze. Der Mensch ist entweder gesund oder krank. Aber so ist überhaupt die Sache gar nicht, ihrer Realität, ihrer Wirklichkeit nach gedacht. So ist es gar nicht. Gesundheit und Krankheit stehen nicht etwa einander polar entgegen, sondern das Gegenteil der Krankheit ist etwas ganz anderes als die Gesundheit. Von der Krankheit bekommt man einen Begriff - natürlich, es ist dann nur ein abstrakter, ein allgemeiner Begriff, man hat es ja nur mit einzelnen Erkrankungen und eigentlich im Grunde genommen nur mit einzelnen kranken Menschen zu tun; aber man würde auch auf dieses geführt, wenn man die Sache in einer konkreten Allgemeinheit betrachtet -, von der Krankheit bekommt man schon einen Begriff, wenn man aufsteigt von diesen Mißbildungen und dann sich allmählich eine Anschauung verschafft von dem, wie solche Mißbildungen zunächst äußerlich weniger bemerkbar auftreten im tieri­schen, im menschlichen Organismus. Aber dasjenige, was bei der Krank­heit auftritt, daß ein einzelnes Organ, ein Organsystem herausfällt aus der ganzen Organisation, daß es gewissermaßen als Einzelnes sich besonders hervortut, dem steht entgegen, daß das einzelne Organ in der Gesamtorganisation untergeht.

Nehmen Sie im Sinne des Goetheschen Prinzips: statt daß an dieser . Stelle hier (es wird gezeichnet) ein gesundes Blatt entsteht, entsteht, sagen wir, eine Mißbildung. Aber es kann ja auch etwas anderes entste­hen. Es kann das entstehen, daß die Pflanze, statt daß sie in ihr Organ

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schießt, mehr die harmomsierende Grundtendenz, die eigentlich irn Geistigen zurückbleiben sollte, entwickelt, daß dieses Aufgehen des einzelnen Organs in dern ganzen Organismus überwuchert, daß das Organ gewissermaßen nicht zuviel hervortritt im Physisch-Leiblichen, sondern zuwenig, daß das Ganze viel zu geistähnlich aussieht, daß es also vergeistigt ist, daß das Geistige zu stark das Physisch-Leibliche durchdringt. Das kann auch geschehen. Es kann also auch nach der entgegengesetzten Seite ausarten. Und das ist der Gegensatz der Krank­heit. Die Krankheit hat eine Polarität, die eigentlich darinnen liegt, daß das einzelne Organ gewissermaßen aufgesogen wird vom Gesamtorga­nismus und zu seiner besonderen Wollust, zu seiner besonderen inneren Befriedigung beiträgt. Ein, ich möchte sagen, Überlust-Erlebnis ist eigentlich der polarische Gegensatz der Krankheit,

Nehmen Sie die Sache selbst sprachlich. Wenn Sie das Verbum bilden von krank, so haben Sie kränken; kränken: Schmerz bereiten. Nehmen Sie ein Zeitwort, das das polarische Gegenteil bedeuten würde, so hätten

Sie: Lust bereiten. Und zwischen diesen zwei Extremen, zwischen dem Kranksein und Lustvollsein, muß der Mensch das Gleichgewicht halten. Das ist die Gesundheit. Der Mensch hat nicht die polarischen Gegen­sätze Krankheit und Gesundheit, sondern Krankheit und einen ganz anderen polarischen Gegensatz, und die Gesundheit ist der Gleichge­wichtszustand, den wir uns fortwährend organisch bemühen müssen zu erhalten. Wir pendeln gewissermaßen hin und her zwischen Kranksein und innerlich Lustvollsein, organisch lustvoll sein. Das Gesundsein ist der Gleichgewichtszustand zwischen den beiden Polaritäten. Das ist die Realität.

Und das ist ganz besonders wichtig, wenn wir das heranwachsende Kind vor uns haben; denn wie haben wir eigentlich das heranwachsende Kind? Nun, nehmen wir zunächst einmal das Kind im Volksschulalter. Wir haben es zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife. Was bedeutet der Zahnwechsel?

Sehen Sie, der Zahnwechsel bedeutet, daß erwas, was als Kraftprinzip

- ich habe das einmal in einem der hiesigen Hochschulkursvorträge ausgeführt -, was als Wachstumskräfte den Organismus durchtränkt, was in dem Menschen lebt, bis die zweiten Zähne herauskommen, was in

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ihm organisch lebt, was am Leibe organisierend ist, daß das so, wie die latente Wärme in die äußerlich fühlbare Wärme übergeht, daß das, was als Geistig-Seelisches im Menschen organisierend ist. auch geistig-see-lisch wird. Nachdem die zweiten Zähne heraus sind, braucht der Mensch eine gewisse Wachstumskraft eine gewisse innere durchorganisierende Kraft nicht mehr. Die wird jetzt frei wird geistig-seelisch, lebt sich in alledem aus, was wir im Alter, wenr' wir das Kind in die Volksschule hereinbekommen, verwenden können.

Wenn ich schematisch zeichnen soll, möchte ich sagen: Wenn dies hier der physische Orgarismus . o haben wir diesen physischen Organis­mus durchzogen von ein Kraft die ihn durchorganisiert. die in ihm ihren Abschluß findet im Zrahnwechsel, und später ist dasjenige, was da in ihm noch gewirkt hat im früheren Leben, während des schulpflichti­gen Lebens freigeworden. tritt im Geistig Seelischen auf als veränderte Vorstellungskraft. als veränderte Erinnerungskraft und so weiter. Das heißt, innerlich erkennen den Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem physisch-Leiblichen wenn man zum Beispiel weiß, daß dasjenige gerade, womit man es z ,iin hat im kindlichen Volksschulalter. daß dads wie freigewordene Wärme so freigewordenes Seelenwesen ist; währen dieses Seelenwesen früher am Leibe beschäftigt war, haben wir es Jetzdt freigeworden, können es erfüllen mit demjenigen, was eben das Kin nach dem betreffenden Kulturzustand irgendeiner Epoche lernen muß, denn der Kulturzustand kommt ja doch in Betracht.

Da stehen wir vor dem Kinde so, daß wir uns sagen: In diesem Momente, wo du das Kind bekomst, da zieht sich etwas geistigseelisch gewissermaßen heraus aus dem Leiblich-Physischen. Ein Teil der organisierenden Kraft wird geistig-seelisch, hat gewissermaßen noch die Nachformen des physisch-Leiblichen; der ist noch eingewöhnt, in seinem ganzen Bilden das physisch-Leibliche nachzubilden. Du tust dem Kinde nichts Gutes wenn du ihm jetzt etwas ganz Fremdes beibringst, wenn du zum Beispiel ihm jetzt beibringst die Buchstaben-formen, die dem Kinde ganz fremd sind , die schon viele Veränderungen durchgemacht haben on der alten gemalten Schrift.

Deshalb führen wirveinen künstlerisch aufgefaßten Unterricht von der Waldorfschule ein, lehren das Kind nicht einfach schreiben, sondern

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lehren es zuerst zeichnend Malen, so daß es aus den Formen, wo es den ganzen Menschen in Bewegung bringt, dasjenige herausgestalten muß, was aus dem Zahnwechsel herausgestaltet ist; gewissermaßen in den ganzen Menschen in Gemäßheit seiner Leibesform verlegt wird, wo versucht wird, die Hände, die Finger in solche Bewegung zu bringen, indem sie zeichnen, indem sie malen, daß dasjenige, was in dem Seeli­schen gewebt hat, während das Seelische noch organisierend war, daß das weiter weben kann.

Sehen Sie, wir bedenken dadurch, womit wir es eigentlich zu tun haben. Wir haben es zu tun damit, daß von der Geburt bis zum Zahnwechsel das Kind das Geistig-Seelische, das später herauskommt, noch stark im Leiblichen drinnen hat. Jetzt zieht sich das Geistig-Seelische zurück. Das Leibliche entwickelt sich einseitig. Wir haben mit dem ganzen Leiblichen einen ähnlichen Vorgang wie bei der Mißbil­dung. wo die ganze pflanzenbildende Kraft in das einzelne Organ hineinschießt. Bei der Mißbildung wird es eben, man kann sagen eine Mißbildung; normal, wie man sagt, verläuft es, indem der menschliche Organismus abgesondert wird mit dem Zahnwechsel. Wir haben es richtig zu tun mit dem Zahnwechsel, eigentlich mit dem Beginnen derjenigen Prozesse, die, wenn sie sich einseitig fortentwickeln, zu Krankheitsprozessen werden. Daher auch die begleitenden Krankheits­prozesse beim Zahnwechsel; die sind nichts anderes als davon herrüh­rend. Man kann ganz genau hineinsehen in den kindlichen Organismus, wenn das Kind den Zahnwechsel hat, wenn da herausgesondert wird dieses Leiblich-Seelische und der Leib sich vereinseitigt, verhärtet, wie da eigentlich dieselben Kräfte, aber in den höheren, normalen Grenzen wirken, die, wenn sie überwuchern, eigentlich in den Krankheitsprozes­sen wirken. Immer sind in den normalen Prozessen diejenigen vorhan­den, die, wenn sie überwuchern, eben ins Kranksein hineinführen. So daß wir sagen: an der Kippe des Krarliseins ist der Mensch, wenn er Zähne bekommt, und wir wirken um so gesundender auf das Kind, je mehr wir nun dasjenige, was als Geistig-Seelisches jetzt frei wird - wir nennen es in anthroposophischer Terminologie den ätherischen Leib -, je mehr wir das so beschäftigen, daß die Beschäftigung ganz dem Leiblich-Physischen des Kindes angemessen ist, daß wir gewissermaßen

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nachbilden in diesem Geistig-Seelischen das Leiblich-Physische. Wir müssen erkennen den zum Kranksein und zum Gesundsein neigenden Leib, denn wir müssen ihn hineinbilden in dasjenige, was da beim Kinde herauskommt.

Betrachten wir das andere Ende des Volksschulalters, die Geschlechts­reife. Wir haben genau den umgekehrten Prozeß. Während sich heraus-zieht etwas aus dem kindlichen Organismus im Zahnwechsel, während gewissermaßen der Leib abgestoßen wird von dem Geistig-Seelischen, das dann frei wird, haben wir in der Geschlechtsreife das nunmehr entwickelte Geistig-Seelische, das wiederum zurück will in den Leib, das den Leib durchdringt und durchtränkt. In der Geschlechtsreife haben wir eben umgekehrt ein Untertauchen des Geistig-Seelischen in das Leibliche. Der Leib wird von dem instinktiv wirkenden Geistig-Seeli­schen durchtränkt, durchwuchert. Das ist der umgekehrte Prozeß; das ist der Prozeß, der nach der entgegengesetzten Seite des Krankwerdens geht, der nach dem innerlichen Wohisein, nach dem Durchfreudetsein, möchte ich sagen, hintendiert. Das ist der entgegengesetzte Pol. Und wir haben, indem wir das Kind in dem Volksschulalter erziehen, fortwäh­rend eigentlich in der Hand zu haben diese Gleichgewichtslage zwischen dem, was nach dem Geistig-Seelischen hinstrebt vom Zahnwechsel an, um frei zu werden, was vom Geistig-Seelischen wiederum zurückitrebt in den Körper. Wir müssen fortwährend in diesem Hin und Her, das ja in dem ganzen Volksschulalter da ist, versuchen, den Gleichgewichtszu­stand zu erhalten.

Das wird ganz besonders eine wichtige, eine spannende Aufgabe zwischen dem neunten und zehnten Jahr, wo das Kind dann infolge dieses Gegeneinanderschießens der zwei Kräfte in einem Zustand ist, so daß es tatsächlich nach allen möglichen Richtungen hintendiert, und daß es von dem Erzieher und Lehrer abhängt, ob er vielleicht im richtigen Augenblicke zwischen dem neunten und zehnten Jahr dem Kinde ein richtiger Berater ist, das richtige Wort zu ihm spricht, oder sich auch dessen enthält und so weiter. Es kommt ungeheuer viel darauf an für das ganze Leben, ob der Lehrer sich in richtiger Weise zu dem Kinde zwischen dem neunten und zehnten Jahr zu verhalten weiß.

Aber, sehen Sie, nur wenn man in der richtigen Weise dieses Ineinanderwirken

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des Geistig-Seelischen und des Physisch-Leiblichen versteht, versteht man eigentlich erst dasjenige, was das Kind ist und was man in dem Kinde heranzubehandeln hat. Es ist gar nicht möglich, überhaupt über Pädagogik und Didaktik zu sprechen ohne diese auf- und abstei­genden Prozesse, die nur einseitig sind, wenn wir sie geistig-seelisch oder leiblich-physisch nennen, weil sie immer ein Ineinanderfluten der beiden sind; die Realität ist das Ineinanderfluten. Es kann das Kind nur verstan­den werden, wenn man dasjenige, was man als die beiden Seiten erkennt, so wie es zusammengewirkt hat, im Behandeln des Kindes auch als eine Einheit zu gestalten weiß.

Daher, was hat man vom Zahnwechsel an mit dem Kinde zu tun? Man hat dasjenige zu tun, daß man fortdauernd sieht, daß nun wirklich dasjenige, was da frei wird an Geistig-Seelischem, daß das im Sinne des Menschenwachstums sich gestaltet; daß wir gewissermaßen nachbilden dasjenige, was im Organismus heraus will, auch im Geistig-Seelischen, daß wir den Menschen kennen und ihm dasjenige beibringen, was die ganze Harmonie seines Wesens in Regsamkeit bringt. Aus dem Inneren des Menschen haben wir ja alles hervorzuholen.

Und nähern wir uns dem Geschlechtsreifealter, dann haben wir dasjenige, was der Mensch ist, in dem zu suchen, daß er sein Geistig­Seelisches untertauchen läßt in den Leib. Er wird unnormal sich entwik­keIn, er wird innerlich ein aufgeregter, ein nervöser oder neurastheni­scher Mensch werden - ich will die anderen Zustände nicht schildern -, wenn wir für dieses Alter nicht die Möglichkeit haben, einzusehen, wie wir dasjenige, was da in seine leiblich-physische Organisation unter-taucht, mit Interessen durchsetzen sollen gegenüber der Außenwelt. Wir müssen den Menschen hinlenken darauf, daß er sich für die Außenwelt interessiert, damit er moglichst viel von dem, was ihn mit der Außenwelt verbindet, hinunternimmt in seine Leiblichkeit. Während wir also wis­sen müssen beim Kinde, was da heraus will, wenn es uns übergeben wird für die Volksschule, damit wir es ihm nachbilden, müssen wir Weltener­kenner sein, damit wir wissen, für was der Mensch sich interessieren kann, wenn wir mitgeben wollen dem untertauchenden Geistig-Seeli­schen dasjenige, was den Menschen nicht ins Fleischliche hinein unter-tauchen läßt, nicht wollüstig in sich selber untergehen läßt, sondern

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wenn wir ihn zu einem Menschen machen wollen, der mit der Welt mitlebt, der von sich loskommen kann, der nicht im Egoismus aufgeht, der nicht innerlich erglüht vor Egoismus, sondern der ein richtiges harmonisches Verhältnis zur Welt hat.

Das sind die Dinge, die Ihnen zeigen können, wie eine real gedachte, eine aus dem ganzen Menschenwesen heraus gedachte Pädagogik und Didaktik vorgehen muß. Ich konnte Ihnen natürlich diese Dinge nur andeuten. Es ist einem schmerzlich, wenn man, wie ich das neulich wiederum erlebt habe, von solchen Dingen zu heutigen Erziehern oder Pädagogen oftmals spricht, und sie einem sagen: Ja, das ist merkwürdig, da liegen ja zufällig auch medizinische Erkenntnisse vor! - Die liegen natürlich nicht «zufällig» vor, sondern die gehören ganz notwendig ins pädagogische System hinein. Ohne diese ist ein gesundes pädagogisches System überhaupt nicht zu denken, sondern verliert sich in inhaltsleere Abstraktionen, mit denen man dann das Kind behandelnd, nichts anfan­gen kann.

Geisteswissenschaft führt nicht in ein nebuloses, mystisches Wolken­kuckucksheim, sondern Geisteswissenschaft führt gerade in die wirkli­che Erkenntnis des realen, des materiellen Lebens hinein, weil den Geist nur derjenige erkennt, der erkennt, wie der Geist an dem Materiellen und im Materiellen schafft. Nicht derjenige, der irgendwie fort will vom Materiellen, erhebt sich ins Geistige, sondern derjenige, der im Geiste die Macht erblickt, wie der Geist im Materiellen schafft. Das ist auch einzig und allein das, was die Grundlage abgeben kann für eine gesunde Pädagogik und Didaktik. Und wenn man nur im einzelnen einsehen würde, wie diese anthroposophische Geisteswissenschaft überall im Realen arbeiten will, wie sie weit, weit entfernt ist von all den ungesun­den Dingen, die heute so vielfach wuchern in allen möglichen Mystizis­men und Spiritismen und so weiter, wenn man einsehen würde, wie wirkliche Geist-Erkenntnis eben Wirklichkeit erkennt, auch zugleich Erkenntnis des Materiellen ist, dann würde man ein gesünderes Urteil über die anthroposophische Geisteswissenschaft gewinnen können. Denn, schließlich, das ist dasjenige, was immer wieder und wieder gesagt werden muß: unsere Naturwissenschaft hat ihre großen Triumphe gefei­ert in der neueren Zeit, sie hat große, bedeutende Ergebnisse für die

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Menschheitsentwickelung gezüchtet, aber sie ist dasjenige, was eigent­lich so dasteht, wie der Körper des Menschen, ohne Seele betrachtet , dasteht. Wie der Körper des Menschen nur etwas ist mit der Seele, so ist die Naturwissenschaft nur etwas mit der Geisteswissenschaft.

Das läßt sich vielleicht weder einsehen noch kritisieren, wenn man nur einiges aus der Geisteswissenschaft kennt; aber das wird derjenige immer mehr und mehr einsehen, der gerade in die Spezialkapitel der Geisteswis­senschaft sich einläßt. Und speziell auf pädagogisch-didaktischem Gebiete zeigt sich, wie diese Geisteswissenschaft dadurch, daß sie über­haupt zu universellen Begriffen kommt, vor allen Dingen dem Lehrer dasjenige auch in der Erkenntnis des gesunden und kranken Menschen gerade aus ihren Prinzipien heraus geben kann, was er in der Schule braucht. Wie Geisteswissenschaft sonst das Spezialistentum überwindet, so wird sie auch dasjenige, was Erkenntnis vom gesunden und kranken Menschen in der Schule leisten soll, dem Lehrer als solche zurückgeben; denn es könnte doch nur ein äußerliches Zusammenwirken da sein, wenn der Arzt neben dem Lehrer stehen müßte. Gesundes Wirken kann nur da sein, wenn im Lehrer zu gleicher Zeit die lebendige Erkenntnis des gesunden und des kranken Menschen auch in das Pädagogische hineinwirkt. Das kann aber allerdings nur dann wirken, wenn eine lebendige Wissenschaft, wie sie durch Anthroposophie angestrebt wird, auch vom gesunden und kranken Menschen da ist.

Wie oft habe ich betont, anthroposophische Geisteswissenschaft geht in den ganzen, in den vollen Menschen über; der ganze Mensch bekommt ein Verhältnis zu dem, was ihm ein einzelner Wissenszweig der Geisteswissenschaft sagt. Und indem der Lehrer in lebendiger Weise eingeführt wird in das gesunde und kranke Wachstum des Kindes und in das Harmonisieren der beiden, so bekommt er einen innigen Gefühlsan-teil. Jeder steht dann jedem einzelnen Kinde mit seinen besonderen Veranlagungen wie ein ganzer Mensch auch gegenüber. Lehrt er dem Kinde dasjenige, was aus dem Künstlerischen heraus zum Schreiben führt, so führt er allerdings das Kind zu einer Einseitigkeit, die einer Mißbildung sehr ähnlich wird: aber dann steht er wiederum als der ganze Mensch da, der mit dem ganzen Kinde fühlt, und er ist selbst als die lebendige Pädagogik die Gegenwirkung gegen diese Einseitigkeit.

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Meine sehr verehrten Anwesenden, wenn ich das Kind zu einer Einseitigkeit im Lesen bringen muß, indem ich als ein Mensch, der mit allem, was an den Menschen herantritt, ein lebendiges Verhältnis habe, wirke ich in der Einseitigkeit so, daß ich das Kind, indem ich es nach der Einseitigkeit hinführe, zugleich wiederum harmonisiere im Ganzen. Immer muß der Lehrer, der als Ganzes wirkt, neben dem dastehen, was er im einzelnen am Kinde zu verrichten hat. Beides muß immer dastehen in der Pädagogik; auf der einen Seite das einzelne Unterrichtsziel, auf der anderen Seite die tausend Imponderabilien. die intim von Mensch zu Mensch wirken. Indem der Lehrer durchdrungen ist von Menschener-kenntnis und Welterkenntnis und diese lebendig in ihm werden und er so dem Kinde gegenübersteht. dann ist es geradeso wie bei der Pflanze:

wie da die Gesarntbildungskraft ins einzelne Organ schießt und in der richtigen Weise wieder zurückgeht, um in das andere Organ zu schießen, so hält der Lehrer diese Gesamtheit, diese Gesamtkraft, diese Totalkraft in seinem ganzen Wesen und führt das Kind von Stufe zu Stufe.

Zu solcher Führung kann aber die anthroposophische Geisteswissen­schaft anregen, denn sie ist einmal für alle Zweige des menschlichen Lebens dasjenige. was sich zu der äußeren Naturwissenschaft verhält, wie die Seele sich zu dem Leibe verhält. Und wie in einem gesunden Leib nach einem alten Spruch eine gesunde Seele zu finden ist, so ist auch in einer gesunden Naturwissenschaft und durch eine gesunde Naturwissen­schaft eine gesunde Geisteswissenschaft, eine gesunde Anthroposophie zu finden.

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Fragenbeantwortung

Frage: Begabte Erzieher haben für die Erziehung und den Unterricht instinktmäßig ein Gefühl gehabt, was man mit einem Kind machen muß, wenn es zur Schule kommt. Nun ist mir nicht ganz deutlich geworden, wie sich die anthroposophisch orientierte Pädagogik zu dieser instinktiven verhält. Ich möchte mir die Frage erlauben, ob diese anthroposophische Pädagogik in einen gewissen Gegensatz treten muß zum Instinktiven, oder ob sie dieses auf einen Weg fördern kann?

Frage: Ich möchte fragen, was unter Kranksein des Kindes zu verstehen ist, ob Sie irgend etwas darunter begreifen, was man in der akademischen Medizin als Kranksein bezeichnet, was man unter Konstitutionsanomalien und dergleichen etwa bezeichnet, irgendwelche Mißstimmungen, Übellaunigkeit und dergleichen?

Dr. Steiner: Was zunächst das Verhältnis einer gewissen instinktiven Pädagogik zu demjenigen betrifft, wovon ich heute hier gesprochen habe, so möchte ich das Folgende sagen. Ein Gegensatz zwischen diesen beiden braucht ja gar nicht angenommen zu werden. Man muß sich nur klar sein darüber, wie der Gang der Menschheitsentwickelung ist. Je weiter wir zurückkommen, desto mehr tritt ja überhaupt das bewußte Wirken zurück. Das Wirken wird immer mehr und mehr, je weiter wir zurückgehen in der Menschheit, instinktiv, wie wir ja bei den Tieren ausschließlich ein instinktives Wirken finden. Aber das ist eben der Gang der Menschheitsentwickelung, daß allmählich herausgekommen wird aus dem instinktiven Leben und das Instinktive ersetzt werden muß durch ein gesundes, besonnenes Auffassen der Wirklichkeit. Daß das durchaus in der richtigen Weise in Bahnen gebracht werden muß, das bezeugt uns ja eben, wie die Instinkte gerade in unserer Übergangszeit in hohem Grade in Unordnung kommen. Während man ganz gut sehen kann, daß zu jener Harmonie, die notwendig ist, sagen wir, die Kinder auf dem Lande auch ohne viel Schulbildung heranwachsen, finden wir, daß in unseren Städten, wenn man sich auf die Instinkte verlassen würde, und namentlich dann, wenn man diese Instinkte so leiten würde, wie man es nach manchen pädagogischen Anleitungen getan hat, daß dann das Abträglichste zustande kommen würde. Wir würden, wenn wir nicht wiederum hineinlaufen würden in eine sichere Richtung, die wir durch unser Inneres geführt werden, wir würden schon nicht die Mög­lichkeit haben, etwa einfach durch ein abstraktes Berufen auf die

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Instinkte, denen wir ja doch in der neueren Zeit nur den Verstand entgegensetzen, zu etwas Ueilsamem zu kommen. Gewiß, es ist vielfach noch das instinktive Leben vorhanden, aber es verliert sich immer mehr und mehr. Man braucht ja nur sich zu erinnern, um etwas recht Eklatantes zu sagen, an so etwas, was mir einmal begegnete, es tritt einem ja sonst vielfach entgegen, aber einmal bereitete es mir eine ganz besondere Überraschung. Ich war eingeladen bei einem guten Freund, den ich früher als einen ganz gesunden Esser gekannt habe, der wußte, wann er genug hat. Nun war ich nach Jahren einmal wiederum in seinem Hause eingeladen und siehe da neben seinem Teller stand eine Waage mit Gewichten, und er wog sich jedes Stückchen zu. Das war doch wohl ein deutlicher Beweis, daß da die Instinkte recht sehr zurückgegangen waren! Nun, solche Dinge aber, die man ja ganz symptomatisch beob­achten kann, die findet man auch, wenn man zum Beispiel die heutigen Lehrpläne durchstudiert. Da ist durchaus nicht in das achte Jahr, in das neunte Jahr dasjenige eingereiht, was da drinnen sein sollte, was auch drinnen wäre, wenn gesunde Instinkte wirkten, sondern da wird nach ganz anderen, ganz abstrakten unmenschlichen oder außermenschlichen Regeln die Sache besorgt und wir müssen wiederum zurückkommen, wir müssen wiederum in k'onkreter Weise erfassen dieses Ineinanderwir­ken von den konkreten gesundenden und kränkenden oder erkranken-den Tendenzen im Menschen. Das ist dasjenige, was gerade für die Ausbildung einer modernen Pädagogik von ganz besonderer Wichtigkeit ist.

Ich möchte sagen, gleich zeigt sich ja das, wenn manche Fragen aufgeworfen werden: Was meint man unter gesundendem und kränken-dem? Da wurde gesagt, Übellaunigkeit oder Mißstimmungen. Da sind wir ja mitten im Abstrakten drinnen. Das ist natürlich nicht gemeint, da waren wir mitten im Abstrakten drinnen und würden das ganze Kind beurteilen nach dem Abstrakt-Seelischen. Das ist ja gerade dasjenige, was durch eine gesunde anthroposophische Pädagogik überwunden wird, daß wir nicht nach dem Abstrakt-Seelischen gehen, sondern daß wir wissen, was da, wenn das Kind zum Beispiel an besonderen Miß­stimmungen krankt, was da für unregelmäßige Drüsenabsonderungen sind, und die unregelmäßigen Drüsenabsonderungen sind uns viel wichtiger,

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als die äußerlich hervortretenden Mißstimmungen, die schon aufhören, wenn wir dem Organismus beikommen. Also es handelt sich darum, viel tiefer hineinzuschauen in den ganzen Zusammenhang zwi­schen dem Geistig-Seelischen und zwischen dem Physisch-Leiblichen.

Natürlich handelt es sich, wenn man es mit dem Kinde zu tun hat innerhalb der Pädagogik, überall durchaus um die Tendenzen, um die, ich sagte ja eben, um die Zustände eigentlich eines Status nascendi, des Entstehungszustandes. Man hat es mit feinen Zuständen zu tun, nicht mit groben; die würden ja dann eben ins Pathologische hinüberführen und dann entsprechend auch behandelt werden müssen. Aber ich glaube, man konnte verstehen aus dem, was ich sagte, daß man es überall zu tun hat mit den Neigungen nach der einen und anderen Seite, und mit dem Suchen nach dem Gleichgewichtszustande.

Frage: Das Kind im Geschlechtsreifealter soll an die Dinge der Welt gebracht werden von seinem Geistigen weg. Was ist damit konkret gemeint, was sofl der Lehrer machen?

Dr. Steiner: Nicht habe ich gesagt: von seinem Geistigen weg! - Ich bemühe mich, jedes einzelne Wort abzuwägen. Es ist immer nur eindeu­tig, was ich meine. Ich habe nicht gesagt, von seinem Geistigen weg, sondern von sich weg, so daß es nicht das Geistige in sein Inneres zu stark hineinpreßt, daß es innerlich durchlustet wird gewissermaßen. Wir müssen also versuchen, wenn das Kind heranrückt in das Geschlechts­reifealter, sein Interesse für die äußeren Welterscheinungen zu erwecken. Das wird den Lehrplan ergeben. Wir werden vorzugsweise dasjenige, was das Kind abhält davon sich viel mit sich selbst zu beschäftigen, was seine Interessen in die große Welt hinausführt, geographische Interessen, historische Interessen und andere Dinge, die nichts zu tun haben mit dem Brüten in sich selber, die werden wir da an das Kind heranbringen, und es handelt sich dabei durchaus um das konkrete Gestalten des Lehrplanes.

Auf eine weitere Frage:

Dr. Steiner: Ich habe das ja schon angedeutet, der Lehrer soll versu­chen, dasjenige, was er geistig ausbildet, nachzubilden dem gesunden Wachstum des Organismus. Nicht wahr, wer das gesunde Wachstum des

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Organismus zu studieren versteht, der weiß, wie der Mensch eigentlich, indem er eine gewisse Form hat, aus der Form fortwährend herausstrebt in die Bewegung hinein. Wenn man mit unbefangenem Sinn eine Hand anschaut - die Hand hat ja gar keinen Sinn, wenn sie ruht; jeder Finger beweist, daß er bewegt sein will. Und indem ich in der Form schon die Anlage zur Bewegung sehe, die Bewegung, wenn sie ruht, will in die Form kommen, damit ist jetzt nur ein Äußerliches angedeutet, aber bis in die innerliche Organisation sind die Tendenzen des menschlichen Wachstums des Organismus zu verfolgen. Wenn ich also lebendige Anatomie, lebendige Physiologie kenne, dann weiß ich, was gewisserma­ßen angemessen ist den inneren Bewegungsmöglichkeiten des Kindes. Es ist ganz sicher nicht angemessen, wenn ich es veranlasse, etwas, wozu ja eigentlich gar keine Veranlassung ist, das hinzukratzen! Es besteht keine Beziehung zwischen dem, wie sich die Finger bewegen wollen und diesem Zeichen, das durch viele Zwischenstadien hindurchgegangen ist. In früheren Entwickelungsepochen hat man etwas ganz anderes hinge-malt, wenn man dasjenige, was der Mensch seiner Organisation gemäß hat ausdrücken wollen, als Schrift betrachtet hat; jetzt stehen unsere heutigen konventionellen Zeichen der inneren Organisation fern, und deshalb müssen wir wiederum zuerst dasjenige aus dem Kinde herausho­len, was in seiner Organisation veranlagt ist. Wenn man das, vielleicht nicht dem einzelnen Lehrer heute, der nimmt es sogar sehr gern auf, weil er sieht, welche Perspektiven es eröffnet, aber namentlich wenn man es den Schulautoritäten mitteilt, dann wird ihnen angst und bange, denn sie sagen sich: Ja, woher soll man das alles wissen, was der menschliche Organismus will? Wie, wie soll man da im siebenten Jahr künstlerisch unterrichten? Und so weiter.

Ja, da gibt es eben nur eine Antwort: Lernen Sie es! Und darauf muß eben schon aufmerksam gemacht werden. Anthroposophie ist nicht da, um in abstrakten Formeln irgendeine Weltanschauung, an der man Befriedigung haben kann, zu verbreiten, die man so nachplappern kann, auch innerlich sich vorpiappern kann, damit man so eine Befriedigung daran hat, sondern Anthroposophie ist ein weitverzweigtes Feld, das tatsächlich in die intimste Erkenntnis der menschlichen Wesenheit hin­einführen kann. Es ist schon eine Wahrheit, daß Anthroposophie die

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einzelnen Wissenschaften befruchten kann gerade nach den Seiten hin, die ihnen heute vorenthalten werden.

Und so kann man sagen, man muß den Menschen erkennen, um zu wissen, sagen wir, wenn man das Kind hereinbekommt in die Volks­schule, wie man zunächst an seinem ganzen Organismus zu erkennen hat, wie man seine Hände, seine Finger in Bewegung versetzen soll, damit es schreiben lernt, wie es denken lernen soll. Ich hatte neulich Veranlassung, jemanden anschauen zu lassen, wie in der ersten Klasse der Schreibunterricht und der Leseunterricht erteilt werden. Diese Dinge kann man auf hunderterlei Weise machen. In der Waldorfschule ist alles absolut frei. Die Pädagogik ist eine absolut freie Kunst. Es ist immer dasselbe, aber jeder Lehrer hat die Möglichkeit, nach seiner Individualität und nach der seiner Schüler die Dinge auszubilden. Nun, die Zusammenhänge zwischen dem einen und dem anderen sehen die Leute ja manchmal nicht ein.

Wie wurde da unterrichtet, nachdem ein paar Monate vergangen waren, seitdem man diese Kinder in die erste Klasse hereinbekommen hatte? Es wurde ein Kind herausgerufen, es mußte einen Kreis ablaufen

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mit einer bestimmten Anzahl von Schritten. Dann wurde ihm klarge­macht, wie das, was es am eigenen Leibe erlebt, aussieht, wie das, was der Lehrer an die Wandtafel zeichnete. Dann wurde ein anderes Kind herausgerufen, das mußte in zwei Schritten einen kleinen Kreis ablaufen,

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der aber im großen drinnen war. Ein anderes wurde herausgerufen, dasselbe mit drei Schritten zu machen. Die Kinder waren immer mit ihrem ganzen Menschen dabei und übertrugen immer dasjenige, was sie aus ihrem ganzen Menschen heraus erlebten, auf dasjenige, was sie dann in der Zeichnung sahen. Sie wurden nicht auf die Augen hin interessiert, sondern auf den ganzen Menschen. Also drei Kreise; beim vierten merkte das Kind, wenn er wieder größer wurde, wie das durchkreuzte. Und so ging das dann weiter. Und auf diese Weise bekommt das Kind eine Möglichkeit, aus dem ganzen Menschen heraus etwas zu gewinnen, was es dann ins Gesehene übersetzen kann. Währenddem wenn man das Kind bloß zeichnen läßt, da ist sein Kopf beschäftigt, da weist man es auf eine Einseitigkeit hin. Die Kinder sollen alles aus dem ganzen Menschen herausholen, sollen auch die Schrift aus dem ganzen Menschen heraus­holen.

Natürlich darf man nun nicht glauben, daß das jetzt jeder nachmachen muß, sondern die einzelne Lehiperson hat das aus sich heraus gemacht, weil das Prinzip so ist. Dasjenige, was ich als einen Seminarkurs habe vorangehen lassen dem Waldorfschul-Unterricht, ist eben so, daß jeder Lehrer tatsächlich etwas Lebendiges bekommt, daß in dem Vortrage nicht etwas steht, das man dann pedantisch nachmacht, sondern daß er etwas bekommt, was lebt. Und so wird die Schule dann etwas Lebendi­ges. Währenddem Vorschriften - ja, die kann man natürlich immer machen, denn das ist nun schon einmal so: wenn sich drei Menschen oder dreißig oder zwölf zusammensetzen, sie brauchen gar nicht einmal besonders gescheit zu sein, sie können mittlere Gescheitheit, sogar unter dem Mittel haben, so werden sie, wenn sie erstens, zweitens, drittens aufschreiben, wie eine Musterschule sein soll, paragraphenmäßig etwas Wunderschönes herausbringen; darüber kann man dann parlieren und wunderschöne Verordnungen herausgeben. Aber man kann in der Schule gar nichts damit anfangen. Es kommt eben überall auf das Herausarbeiten in der Wirklichkeit an.

Frage: Wie muß man sich in der Erziehung einstellen bei einem nervösen Kinde?

Dr. Steiner: Da handelt es sich darum, nicht wahr, daß der Ausdruck «nervöses Kind» ein außerordentlich unbestimmter ist, und es kann

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natürlich da durchaus nicht gesagt werden, man muß sich so oder so stellen, sondern es handelt sich darum, wie das Kind eigentlich ist, auch darum, daß man genau weiß, wie alt das Kind ist. Man muß, wenn so etwas vorliegt, die Dinge wirklich im Zusammenhang betrachten kön­nen. So kann es vorkommen, daß einem jemand ein Kind zeigt, sagen wir von drei, vier Jahren, welches außerordentlich zappelig ist, tobend ist. Es gibt ja solche Kinder, die werfen sich auf die Erde, toben fürchterlich; sie sind sehr unangenehm und die Eltern können dann mehr oder weniger unglücklich sein. Dann fragen sie: Was soll man eigentlich mit diesem Kinde tun? - Man möchte dann oftmals, nicht immer, aber oftmals bitten, nun ja nichts zu tun, denn das schlimmste was man tun kann, ist, etwas zu tun und das Kind nicht austoben zu lassen; denn das Kind muß nämlich eine gewisse Summe von Energie loswerden auf diese Art, um eben später gerade in normaler Weise, wie man so sagen kann, sich zu entwickeln. Also oftmals ist es durchaus notwendig, aufmerksam darauf zu machen, daß man dieses Herumerziehen unterläßt, denn es handeit sich darum, daß man immer weiß aus der Gesamtkonstit,ition eines Menschen heraus, was im einzelnen für ihn gut ist.

So ist es ja, nicht wahr, wirklich auch bei gesunden und kranken Menschen als solchen. Wie sehr häufig erklären Leute, die immer den abstrakt-pedantischen Sinn der Normalität im Kopfe haben: der Mensch hat einen unregelmäßigen Pulsschlag oder so etwas, den muß man so und so kurieren. Gewiß, man muß es oftmals, aber oftmals eben nicht, weil der gerade nach seiner Gesamtkonstitution diesen Pulsschlag braucht! Und so auch hier; man muß das Kind in seiner gesamten Konstitution kennen, wenn man überhaupt etwas aussagen will, wie überhaupt Anthroposophie darauf ausgeht, die Menschen von Abstraktionen zu befreien. Es ist eine Abstraktion, wenn man sagt: Was soll man mit einem nervösen Kind machen? Man hat eben nicht etwas Allgemeines, sondern immer ein ganz bestimmtes konkretes Kind vor sich und muß eigentlich immer etwas Individuelles machen.

Frage: Wie kann die Anthroposophie hinsichtlich der Berufswahl wegleitend werden?

Dr. Steiner: Ja, meine sehr verehrten Anwesenden, ich weiß eigentlich wirklich nicht, was mit der Frage gemeint ist? Denn, sollte ich mit einer

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gewissen Abstraktheit darauf antworten, so würde ich sagen: Ein Milieu, das aufgebaut ist auf anthroposophischer Gesinnung, wird eben einfach diejenigen Neigungen im Menschen erzeugen, die ihn in einen richtigen Beruf, das heißt, in einen für ihn richtigen Beruf hineinbringen. Aber nicht wahr, Berufswahl - es ist etwas, was überhaupt viel zu schematisch behandelt wird. Man hat ja in der Regel es zu tun mit einem schon in die Wege geleiteten Schicksal, wenn man in einen Beruf hinein will, und man ist manchmal als Mensch wirklich zuwenig elastisch und glaubt, daß nur ein einzelner Beruf einen befriedigen kann. Das kann ja gewiß bei sehr ausgesprochenen, individuell gestalteten Berufen der Fall sein; aber eine besondere Anleitung zur Berufswahl zu suchen durch Anthroposophie, das ist natürlich etwas, was eigentlich lebensfremd, muß ich sagen, klingt, so daß ich eigentlich nicht recht sehen kann, was mit der Frage gemeint ist.

Der versammlungsleiter fragt, ob noch weitere Fragen gestellt werden wollen. Dies ist nicht der Fall.

Dr. Steiner: Dann hoffe ich, daß doch mein Vortrag in aller Kürze und Skjzzenhaftigkeit, in der er hat gehalten werden müssen, über das ausgebreitete Thema, einiges wiederum im Speziellen möchte dazu beigetragen haben, zu erkennen, wie Anthroposophie tatsächlich nichts Lebensfremdes und Weltfernes sein will, sondern etwas, was, wenn es voll ergriffen wird, durchaus in Wirklichkeit und Leben hineinführen kann.

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DIE PÄDAGOGISCHE GRUNDLAGE DER WALDORFSCHULE Aarau, 11. November 1921

Als in Stuttgart nach dem Zusammenbruche Deutschlands eine gewisse soziale Arbeit begann, die sich die Aufgabe stellte, aus den Wirrnissen heraus Zielen entgegenzuarbeiten, die eine gewisse Hoffnung auf die Zukunft gestatteten, da entstand aus den mancherlei sozialen Erwägun­gen und Maßnahmen heraus bei einem der ältesten Freunde der anthro­posophischen Bewegung die Idee der Gründung der Waldorfschule in Stuttgart, bei unserem Freunde Herrn Emil Molt. Er hatte die Möglich­keit, sogleich nach der Entschlußfassung eine solche Schule wirklich ins Leben zu rufen, denn er stand einer industriellen Unternehmung mit einer zahlreichen Arbeiterschaft vor, und bei dem außerordentlich guten Einvernehmen zwischen der Direktion jenes Unternehmens und der Arbeiterschaft war es möglich, fast die gesamte Kinderzahl der Stuttgar­ter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in diese Schule hineinzubringen. Und so wurde denn vor jetzt mehr als zwei Jahren diese Waldorfschule gegründet, zunächst mit einer proletarischen Kinderschar.

Aber im Laufe der letzten zwei Jahre vergrößerte sich die Schule, man möchte sagen, von Monat zu Monat, und heute steht die Sache bereits so, daß wir in der Schule, deren Leitung mir anvertraut ist, nicht nur die ursprüngliche Zahl der proletarischen Kinder haben, sondern aus allen Ständen und allen Klassen Kinder zu unterrichten und zu erziehen haben. Heute betrifft allerdings die Zahl derjenigen, die von allen Seiten zugeströmt sind, schon mehr als der ursprüngliche Stamm der aus der Waldorf-Astoria-Fabrik entstammenden Proletarierkinder.

Die Waldorfschule ist damit in der Praxis als eine wirkliche Einheits­schule dastehend. Es sitzen eben in dieser Schule Kinder aller Bevölke­rungsklassen nebeneinander und können auch nach den Methoden, die dort angewendet werden, nebeneinander unterrichtet werden.

Herausgewachsen der Idee nach ist nun diese Stuttgarter Waldorf­schule aus der anthroposophischen Bewegung, aus jener Bewegung, welche heute von manchen Seiten so viel angefeindet wird, weil man sie mißversteht. Für die heutigen Zwecke will ich einleitungsweise von

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einem einzigen Mißverständnis sprechen. Das ist dasjenige, daß man immer glaubt, wenn von Anthroposophie und anthroposophischer Gei­steswissenschaft die Rede ist und von all dem, was sich an sozialen ßewegungen daranschließt, es handle sich um irgend etwas Umstürz­lerisches oder dergleiche n, während das alles nicht der Fall ist. Das hebe ich aus dem Grunde einleitungsweise hier hervor, weilesfürmeinpäd­agogisches Thema von heute von ganz besonderer Bedeutung ist. Ge­radeso wie zum Beispiel mit Bezug auf die verschiedenen Wissen­schaften, welche aus dem modernen Geistesleben im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte herauswuchsen, anthroposophische Geistes-wissenschaft auf alle diese einzelnen Wissenschaften bis in die Me­dizin hinein befruchtend wirken will, Anregungen nach allen Seiten geben will, will sie aber durchaus nicht in irgendeinen Gegensatz zu diesen modernen Wissenschaften treten. Sie will durchaus nicht von irgendeiner Seite her einen Dilettantismus in den modernen Wissen­schaftsbetrieb hineinbringen, sondern gerade dasjenige, was aus den eigenen Voraussetzungen dieser modernen Wissenschaftlichkeit selber folgt, nur aber von dieser Wissenschaft selbst nicht angestrebt wird, das will sie, vertiefend diese Wissenschaften und erweiternd in diese Wissen­schaften hineintragen.

Ebensowenig stellt sich dasjenige, was als eine pädagogische Konse­quenz sich aus anthroposophischer Geisteswissenschaft ergibt, nun in irgendeine Opposition oder in ein dilettantisches Verhältnis zu dem, was durch die Pädagogik der neueren Zeit und ihre großen Vertreter ange. strebt worden ist. Gerade anthroposophische Geisteswissenschaft hat, so wie sie moderne Naturwissenschaft würdigt, auch allen Grund, in ausgiebigstem Maße anzuerkennen dasjenige, was an Ausgezeichnetem in die Welt gebracht worden ist durch die großen hervorragenden Pädagogen und pädagogischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts und des Beginnes des 20. Jahrhunderts. Sie will nicht in einen Gegensatz zu alledem treten, sonde n sie will aus dem heraus, was sie auf anthroposo­phischem Boden erfJrschen und finden kann, vertiefend und erweiternd wirken, sie will sich auch ganz auf den Boden moderner pädagogischer Denkweise stellen. Nur findet sie, daß gerade dieser modernen pädago­gischen Denkweise die Vertiefung und Erweiterung notwendig ist, von

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der ich mich bemühen werde, heute Abend in einigen kurzen Strichen einiges zu zeichnen.

Wenn die Waldorfschule ihren Ausgangspunkt genommen hat von anthroposophischer Geisteswissenschaft, so ist sie deshalb keineswegs, und das bitte ich durchaus zu berücksichtigen, eine Weltanschauungs-schule. Am wenigsten handelt es sich bei dieser Waldorfschule darum, die anthroposophische Dogmatik, wenn ich mich so ausdrücken darf, die anthroposophische Überzeugung als solche in die Schule hineinzu­tragen. Weder eine Weltanschauungsschule möchte die Waldorfschule sein noch irgendeine sektiererische Schule, denn das alles liegt eigentlich nicht, trotzdem man es zumeist glaubt, im Charakter der anthroposo­phischen Geisteswissenschaft.

Dasjenige aber, was aus anthroposophischer Grundlage aus der Wal­dorfschule gemacht werden soll, das ist eine Methodenschule, eine Schule, welche die gewöhnlichen Anregungen für die Pädagogik, für die Methodik, für die Didaktik aus anthroposophisch orientierter Geistes­wissenschaft heraus holt. Wir waren ja nicht in der Lage, uns auf einen so radikalen Boden zu stellen, wie viele moderne Pädagogen das tun, indem sie sagen: Will man eine Kinderschar wirklich ordentlich erziehen und unterrichten, so muß man Landerziehungsheime oder dergleichen begründen. Es gibt ja viele solche Bestrebungen der neueren Zeit. Gegen sie alle soll nichts eingewendet werden, man kann sie von ihrem Stand­punkte aus durchaus verstehen, aber wir waren mit der Waldorfschule nicht in dieser glücklichen Lage. Wir hatten gegebene Tatsachen. Wir hatten vorliegend nur die Möglichkeit, innerhalb einer Stadt ins ganze Leben der Stadt hineinzustellen, zu begründen dasjenige, was eben aus der Waldorfschule werden sollte. Da kam es nicht darauf an, erst das äußere Milieu zu schaffen für diese Schule, sondern da kam es darauf an, dasjenige, was erreicht werden sollte, eben durch Pädagogik und Didak­tik selbst zu erreichen mit den gegebenen Mitteln und in der gegebenen Umgebung zu wirken.

Das aber liegt auch durchaus im Charakter anthroposophischer Gei­steswissenschaft, daß sie sich einer jeglichen Lebenslage anpassen kann, denn sie will aus dem unmittelbaren Leben heraus wirken. Sie will nicht in irgendeiner Weise utopistischen Ideen nachjagen, sondern sie möchte

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aus der unmittelbaren Daseins- und Lebenspraxis heraus dasjenige schaf­fen, was veranlagt ist in dem Menschen, aus den Verhältnissen, die man eben vorliegend hat.

Wie gesagt, nicht Dogmen sollen hineingetragen werden in die Schule; aber dasjenige, was der innerhalb der anthroposophischen Bewegung stehende Mensch gewinnt, ist eine Erkenntnis die ihn als Ganzen, als Volimenschen ergreifen kann während doch im wesentlichen das Bil­dungsleben der neueren Zeit mehr auf einen gewissen Intellektualismus hinausläuft. Deshalb braucht man durchaus nicht zu glauben, daß die Waldorfschule die Kinder lehren soll, der Mensch bestehe, so wie man das in den Schriften über Anthroposophie findet, aus seinem physischen Leib nicht allein, sondern er trage in sich auch noch einen ätherischen Leib, der die Bildekräfte die organischen Bildekräfte des physischen Leibes enthält; er trage seinen astralischen Leib in sich, der dasjenige in die menschliche Leiblichkeit die auf der Erde lebt zwischen Geburt und Tod, hineinträgt, was sich entwickelt in dem präexistenten Sein des Menschen, in demjenigen was der Geburt oder sagen wir, der Empfäng­nis vorangeht und so weiter. Nicht diese Überzeugungen werden in die Schule hineingetragen Aber der)enige Mensch, der weiß, wie die menschliche Persönlichkeit wenn man sie nicht bloß äußerlich, sondern wenn man sie nach Leib Seele und Geist wirklich wissenschaftlich erfaßt, derjenige, der begreift wie sich diese menschliche Personlichkeit auch als werdender Mensch als Kind vor die Seele hinstellt, der erlangt vor allen Dingen eine tiefere Menschenerkenntnis, als sie die heutige Naturwissenschaft geben kann Aus dieser tieferen Menschenerkenntms heraus, aus demjenigen was anthroposophische Geisteswissenschaft über den Menschen selbst erkennen lernt, aus dieser Menschenerkennt­nis heraus, die nicht bloß das Denken, sondern die den ganzen Menschen nach Fühlen und Wollen ergreift, aus dieser Geisteswissenschaft heraus soll nun nicht dasjenige werden für die Waldorfschule, was man nennen könnte eine angelernte Methodik, sondern es soll dasjenige werden, was aus Menschenerkenntnis in dem Lehrer den Willen erzeugt, dem wer­denden Kinde gegenüber alles das zu tun, was gewissermaßen die menschliche Organisation selber von dem Lehrer, von dem Erzieher, von dem Unterrichtenden fordert. Der großte Lehrer für die Waldorfschule

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ist nämlich, so paradox das klingen mag, das Kind selbst. Und indem der Waldorflehrer in seiner Brust die Überzeugung trägt: dasje­nige, was dir von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr in dem Kinde entgegentritt, das ist der Ausdruck einer göttlich-geistigen Wesenheit, die heruntersteigt aus einem rein geistig-seelischen Dasein, die sich so entwickelt, wie sich das Physisch-Leibliche hier zwischen Geburt und Tod entwickelt und die sich verbindet mit demjenigen, was durch die Vererbungsströmung von Eltern und Voreltern an den Menschen phy­sisch-ätherisch herankommt - diese ungeheure, tiefe Ehrfurcht, die man hat vor dem werdenden Menschen, der einem schon vom ersten Tage seines Daseins im physischen Leben zeigt, wie das Innerlich-Seelische hervortritt in den Offenbarungen der Physiognomie, in den ersten Bewegungen, im Lallen und in der werdenden Sprache, all dasjenige, was da durch wirkliche anthroposophische Menschenkenntnis hineinkommt an Ehrfurcht für dasjenige, was das Göttliche in die Welt heruntergesen­det hat, all das ist das Wesentlichste, mit dem der Waldorflehrer die Pforte seiner Klasse jeden Morgen neu betritt. Und er lernt von den täglichen Offenbarungen dieses geheimnisvollen geist-seelischen Wesens dasjenige, was er tun soll.

Daher kann man die Methodik der Waldorfschule nicht in abstrakte Lehrsätze fassen. Man kann nicht ein erstens, zweitens, drittens sagen, sondern man kann nur sagen: durch anthroposophische Geisteswissen­schaft wird der Mensch bekannt mit dem werdenden Menschen, lernt beobachten, was aus dem Auge des Kindes blickt, was aus den stram­pelnden Beinen spricht. Und dadurch, daß er mit dem Menschen bekannt ist, wird diese Anthroposophie nicht nur den Intellekt ergreifen, der systematisieren kann, sondern den ganzen Menschen, der empfindet, fühlt und will. Der Lehrer wird so vor das Kind hingestellt, daß die Methode für ihn ein lebendiges Dasein gewinnt, ein solches Dasein, daß er gegenüber jeder kindlichen Individualität, selbst in größeren Klassen, immer modifizieren und metamorphosieren kann, was er für dieses Kind gerade nötig hat. Man kann, wenn man abstrakt hört, sagen: Diese verdrehten Anthroposophen, die nehmen an, daß der Mensch nicht nur jenen physischen Leib hat, mit dem sich unsere Physiologie, unsere Biologie beschäftigt, den sie so sorgfältig untersucht, wenn er als Leichnam

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vor ihr liegt, sondern er habe auch einen ätherischen Leib, einen astralischen Leib; den lerne man kennen, wenn man ganz besondere innere seelische Übungen macht, wenn man das Denken so erstarkt, daß der ganze Mensch zu einer Art von übersinnlichem Sinnesorgan wird, wenn ich mich dieses Goetheschen Ausdrucks bedienen darf, so daß er mehr sieht, als er sonst im gewöhnlichen Leben von dem Äußeren und von dem menschlichen Dasein sieht. Man kann sich lustig machen, wie gesagt, über die verdrehten Anthroposophen, die so von den übersinnli­chen Wesen in dem Sinnlichen des Menschen sprechen. Aber ohne daß diese nicht auf irgendwelchen Phantasmen, sondern auf gründlicher Erkenntnis beruhende Überzeugung etwa in die Schule hineingetragen wird, gewinnt derjenige, der das Kind erziehen und unterrichten soll, die Möglichkeit, aus dem, was er im Konkreten lernt über den Menschen nach Leib, Seele und Geist, den werdenden Menschen so anzuschauen, wie er angeschaut werden muß, damit man wirklich dem innersten Wesen des anderen, also in unserem Falle dem innersten Wesen des Kindes nahetreten kann.

Nicht das Geringste soll hier von mir gesagt werden gegen dasjenige, was man heute etwa experimentelle Psychologie und experimentelle Pädagogik nennt. Ich kenne durchaus dasjenige, was diese wissenschaft­lichen Zweige leisten können und kann es auch würdigen. Allein gerade daß diese wissenschaftlichen Zweige vorhanden sind, macht auf der anderen Seite durchaus notwendig, daß eine Vertielung unseres Bil­dungslebens überhaupt eintritt. Denn neben all dem Verdienstvollen, das experimentelle Psychologie und experimentelle Pädagogik leisten, sind sie doch ein Beweis dafür, daß man im Grunde genommen in unmittel­barer, elementarer Art dem menschlichen Wesen nicht nähergekommen ist durch die moderne Bildung, sondern eigentlich diesem menschlichen Wesen gegenüber in die Ferne gerückt ist. Man experimentiert äußerlich an den Kindern herum, wie das Denken, wie das Gedächtnis sogar wie der Wille wirkt. Man soll sich dann pädagogische Regeln und Gesetze darnach bilden nach den verschiedenen Tabellen, die man sich gemacht hat über dieses oder jenes. Gewiß, gerade dem anthroposophischen Denker und anthroposophischen Erzieher werden solche Tabellen nütz­lich. Aber wenn man in ihnen das Ein und Alles sieht desjenigen, was wir

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heute etwa pädagogisch und didaktisch zur Grundlage machen können, so liefert man doch nur den Beweis dafür, daß man eigentlich dem wahren, inneren Wesen des Kindes fernsteht. Warum muß man denn experimentieren? Man muß experimentieren, weil die einstmals in älte­rer, wenn ich sie so nennen darf, patriarchalischer Zeit vorhandene unmittelbare Beziehung, die imponderable Beziehung der Lehrerseele, der Erzieherseele zur Kinderseele unter dem Einflusse der modernen materialistischen Bildung verlorengegangen ist. Man experimentiert äußerlich herum, weil man kein unmittelbares Anschauen und Empfin­den von demjenigen hat, was eigentlich innerlich in dem Kinde vor sich geht. Und eben gerade das äußerliche Experimentieren ist ein Beweis dafür, daß wir diesen innerlichen elementaren Bezug verloren haben und ihn wieder mit aller Kraft zu gewinnen suchen müssen.

Wenn man heute experimentelle Psychologie und experimentelle Päd­agogik betrachtet, so ist es eigentlich so, als ob irgend jemand, sagen wir, einen Reiter betrachtet, wie der über einen glatten Weg hinkommt, oder wie er über einen schwierigen Weg hinkommt, und nun statistische Aufnahmen darüber macht: auf dem glatten Wege kommt er in einer Viertelstunde so weit vorwärts, auf einem schlüpfrigen Wege so weit, auf einem unebenen Wege so weit und so weiter. So ungefähr sind auch die Experimente, die man anstellt darüber, ob das Kind sich nach einer Viertelstunde dieses oder jenes merkt, so und so viel Worte ausläßt in seiner Erinnerung und so fort. Wenn man die statistischen Aufnahmen über den Reiter machen würde, so hätte man es zu tun mit dem äußeren Wege, außerdem aber damit, was das Pferd leisten kann auf diesem Wege; aber man kommt dem Wesen des Reiters nicht näher, obwohl es natürlich durchaus möglich ist, unter diesen Umständen solche statisti­schen Aufnahmen zu machen. Aber darauf kommt es an, daß man nicht bloß an der äußeren Oberfläche des zu Erziehenden äußerlich Untersu­chungen anstellt, sondern daß man unmittelbar hineindringt in das Innere.

In der anthroposophischen Geisteswissenschaft nun lernt man kennen dasjenige, was uns mit der Geburt des Kindes gegeben wird. Es trägt in sich nicht nur dasjenige, was sich den Sinnen offenbart, sondern es trägt in sich ein geistig-seelisches Wesen, das sich mit dem physischen Menschenkeim

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verbunden hat. Und man lernt ganz genau kennen, wie sich dieses geistig-seelische Wesen entwickelt, ebenso wie man in der physi­schen Wissenschaft lernt, wie sich in der Vererbungsströmung der physische Keim entwickelt. Man lernt einsehen, wie in die menschliche Organisation, unabhängig von den vererbten Merkmalen, etwas über-sinnlich Geistig-Seelisches eintritt. Ohne daß man - ich muß das immer wieder erwähnen - ein solches Dogma in die Schule hineinträgt, betrach­tet man es als eine Orientierungsrichtung, als dasjenige, was einem in der richtigen Weise Anleitung gibt, das Kind schon vor der Schule zu beobachten.

Bei dem Kinde, das zum Beispiel die Sprache lernt, nützt einem diese Voraussetzung: du mußt nicht nur dasjenige beobachten, was in der Vererbungsströmung liegt, du mußt dasjenige beobachten, was aus geistigen Untergründen heraus in dem Kinde sich entwickelt, und dazu gehört die Sprache. Und nun, indem man den Menschen durch anthro­posophische Geisteswissenschaft wirklich kennt, indem man unterschei­den lernt zwischen dem mehr innerlichen astralischen Leibe und dem mehr äußerlichen ätherischen Leibe, lernt man in ganz anderer Weise noch das Wesen des Willens kennen, der mehr an den astralischen Leib gebunden ist, und das Wesen des Denkens zum Beispiel, das mehr an den ätherischen Leib gebunden ist, in ihrem Zusammenwirken im Sprechen. Denn beim Beobachten, beim Erfahren handelt es sich nicht darum, daß man bloß die äußeren Tatsachen beobachtet, sondern darum, daß man diese äußeren Tatsachen in das richtige Licht stellen kann.

Und nun nehme man einen solchen geschulten Beobachter des Lebens, einen solchen durch Anthroposophie geschulten Menschenken­ner, und stelle ihn hin neben das Kind, das allmählich die Sprache lernt. Mehr als durch alle statistischen Aufnahmen, die zum Beispiel der ausgezeichnete Psychologe Wilhelm Preyer über die Psychologie des Kindes gemacht hat, lernt derjenige, der nun wirklich hineinschauen gelernt hat in das Seelenleben des Kindes, durch die imponderablen Kräfte, die von dem Erwachsenen zu dem Kinde hinüberspielen. Er lernt erkennen, welch ungeheurer Unterschied es ist, ob ich, sagen wir, höre, wie die Mutter oder der Vater des Kindes zu ihm spricht, um es zu beruhigen: Ei, ei -, oder indem man mit dem Kinde sich darüber

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unterhält, wie der Raum, in dem sie sich befanden, ist, und sagt: Husch, husch! - Mit jedem Vokalischen spreche ich unmittelbar zu dem Emp­findungs-, zu dem Gefühlsleben des Kindes. Ich wende mich an das Innerste der Seele. Ich lerne durch anthroposophische Geisteswissen­schaft, wie ich da ein gewisses Gebiet der Seele errege, so daß eine gewisse Verbindung zwischen dem Erziehenden, dem Pflegenden und dem Kinde herbeigeführt wird, die unmittelbar eine Strömung von dem Pflegenden zu dem innersten seelischen Empfindungsleben des Kindes hervorruft.

Wenn ich, sagen wir, die Kälte der Umgebung bespreche und das Kind sich hineinfindet in das Husch, husch, so wirke ich unmittelbar auf den Willen. Und ich sehe, wie das eine Mal das Empfindungs- und Gefühls­leben des Kindes erregt wird, das andere Mal, wie es in das Bewegungsle­ben des Kindes hineinspielt, wie Willensimpulse zugrunde liegen.

Ich wollte mit diesem Beispiel nur andeuten, wie in den elementarsten Lebensäußerungen bei einer wirklichen Lebenserkenntnis Licht hinein­gestellt wird in alles. Wir stehen heute vor einer großartigen Sprachwis­senschaft, aus der ganz gewiß die Pädagogik auch Ungeheures lernen kann. Aber diese Sprachwissenschaft betrachtet die Sprache wie etwas vom Menschen Abgesondertes. Derjenige, der durch anthroposophische Geisteswissenschaft geschult ist, lernt die Sprache nicht, wie etwas, ich möchte sagen, über den Menschen Schwebendes kennen, das sie auf­nimmt, das sie in seine ganze Strömung hineinbringt, sondern derjenige, der anthroposophische Geisteswissenschaft, die immer auf das Voll-menschliche geht, auf das Leben wirklich anzuwenden versteht, der lernt, wie alles Vokalisieren, wie das ganze Sich-Hineinfinden in das Vokalisieren der Sprache bei dem Kinde verquickt ist mit einem innerli­chen Durchwärmen vom Gefühlsleben; währenddem alles Konsonantie­ren, alles dasjenige, was das Kind an den Konsonanten lernt, verknüpft ist mit Willensregungen.

Das ist es, daß man in der intimsten Weise das Kind beobachten lernt. Und eben diese intime Beobachtung, dieses intim Sich-Hineinfühlen in den Menschen, ist uns abhanden gekommen. Wir gehen gewissermaßen um den Menschen herum, um ihn zu erziehen, während wir den unmittelbaren Kontakt im Laufe der Zeit gerade durch die moderne

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Erziehungswissenschaft verloren haben. Wir wissen nicht, wie mit allen Wachstumsvorgängen, mit alledem, was im Kinde sonst vorgeht, inner­lich organisch die Sprache zusammenhängt, denn wir wissen im Grunde genommen nichts davon, wie der Mensch innerlich warm und gefühivoll wird, wenn wir ihn zu einem richtigen Nachahmer erziehen. Das Kind ist bis zu seinem Zahnwechsel um das siebente Jahr herum ganz auf die Nachahmung angewiesen. Alle Erziehung beruht im Grunde genommen auf der Nachahmung. Nur wenn wir die Nachahmungsfähigkeit des Menschen in den ersten Lebensjahren richtig verstehen, sie von Jahr zu Jahr konkret verfolgen können, können wir wirklich tiefer hinein­schauen in das Wesen des Menschen und aus diesem Wesen heraus dann auch in einer Weise erziehen, die den Menschen dann als Vollmenschen später in das Leben hineinstellen kann.

So ist es nicht nur mit der Sprache, sondern so ist es mit alldem, was wir auch in den ersten Lebensjahren, bevor das Kind zur Schule geht, ihm beizubringen haben. Das Kind ist bis zum Zalinwechsel im wesent­lichen auf die Nachahmung angewiesen. Und dieses Studieren der Nachahmung, die Sprache selbst bildet sich ja durchaus durch Nachah­mung, dieses Studieren der Nachahmung auf allen Lebensgebieten, das macht anthroposophische Geisteswissenschaft möglich. Aber man sieht auch sonst tiefer in das Wesen des Menschen hinein. Und während un­sere heutige Psychologie immerfort herumdenkt: Welche Beziehung be­steht eigentlich zwischen der Seele des Menschen oder, wie man auch sagt, zwischen dem Geiste des Menschen und dem Physisch-Leiblichen? -ist die heutige Psychologie gar nicht in der Lage, sich Vorstellungen zu bilden über die Beziehung des Seelisch-Geistigen zu dem Physisch-Leiblichen, weil sie ja im Grunde genommen das Leibliche zwar kennt, aber erst kennenlernt richtig, wenn dieses als Leiche von dem Seelisch-Geistigen verlassen ist, und weil auf der anderen Seite eben jene Entfer­nung eingetreten ist von dem Seelisch-Geistigen, von der ich soeben gesprochen habe. Das sieht man am besten an einem einzelnen Beispiele.

Solche Ereignisse, wie der Zahnwechsel um das siebente Jahr herum, werden von der heutigen Wissenschaft nicht in einer Weise, die tief genug ist, gewürdigt. Denn derjenige, der solche Beobachtungsgabe hat, wie sie anthroposophische Geisteswissenschaft in den Menschen heranerzieht,

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sieht, wie sich die seelischen Kräfte des Menschen durchaus umändern, wandeln, wenn der Mensch, das Kind, diesen Zahnwechsel durchmacht. Das Gedächtnis, die kindliche Denkfähigkeit, auch das kindliche Empfindungsvermögen, sie werden in diesen Jahren ganz andere, als sie vorher gewesen sind. Und eigendich sieht man eine gewisse Konfiguration des Seelenlebens erst mit diesem siebenten Jahre, es ist approximativ natürlich, aus dem Kinde heraussprießen. Wo war denn dasjenige, das da aus dem Kinde heraussprießt, das wir in der Schule eigentlich erst behandeln, wo war das vorher?

Sehen Sie, die Denkweise der heutigen Wissenschaft ist auf dem unorganischen Gebiet durchaus auf einem richtigen Wege. Wenn ich irgendwo einen Körper habe und durch irgendwelchen Vorgang geht Wärme aus diesem Körper hervor, so studiere ich als heutiger Physiker, wie diese Wärme vorher in dem Körper schon enthalten war als latente, als verborgene Wärme, und wie sie durch einen gewissen Vorgang als freie Wärme aus dem Körper herausgetreten ist. Ich werde nicht sagen:

Diese Wärme ist dem Körper irgendwie angeflogen, sondern ich suche die Bedingungen, unter denen sie schon vorher in dem Körper drinnen war. Die Denkrichtung, welche die Wissenschaft in dieser Beziehung schon inauguriert hat, die kann auch übertragen werden auf die kompli­zierteren Verhältnisse, vor allen Dingen auf die menschlichen Lebens­verhältnisse selber.

Derjenige, der im anthroposophischen Sinne studiert, wie Gedächtnis, Denkvermögen, Willensvermögen des Kindes die eigentümliche Konfi­guration im siebenten Jahre annehmen, der kommt nach und nach darauf, daß dieses alles ja auch nicht dem Kinde angeflogen ist, sondern daß es sich aus dem Kinde selbst heraus entwickelt hat. Wo war es denn vorher? Es war in dem kindlichen Organismus. Und dasjenige, was ich dann in der Schule zu behandeln habe, das war vorher als eine latente, als eine verborgene Kraft in dem Inneren des Menschen; es ist frei gewor­den. Es war in dem Inneren des Menschen, so lange der Mensch jene Kraft brauchte, die dann ihren Schlußpunkt findet in dem Hervorstoßen der zweiten Zähne. Sind die zweiten Zähne hervorgestoßen, dann wird dieser Vorgang im Leben des Menschen nicht wiederholt. Dasjenige, was zuerst im Inneren des Menschen organisierend gewirkt hat, was seinen

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Abschluß gefunden hat mit dem Hervorstoßen der ersten Zähne, das wird frei, so wie aus gewissen Körpern die Wärme frei wird. Das tritt dann als seelisch-geistiges Vermögen, als die Fähigkeiten einem entge­gen, welche man in der Schule erziehend und unterrichtend zu behan­deln hat. Man lernt das Zusammenwirken von Seele und Leib nur kennen, wenn man ins Konkrete eingeht. Philosophisch-spekulativ kann man lange herumdenken: wie verhalten sich Seele und Leib. Man muß im Konkreten anschauen von der Geburt an bis zum siebenten Lebens­jahre, da haben die Kräfte, die ich nachher kennenlerne, nachher als Erziehender und Unterrichtender selber zu gestalten habe, die frei geworden sind, die haben im Organismus drinnen gewirkt, die sind aus dem Organismus hervorgetreten.

Und so ist es durch das ganze menschliche Leben hindurch. Alle Spekulationen, die man heute in Philosophie- oder Psychologiebüchern findet über das Verhältnis von Seele und Leib, die sind nutzlos, wenn nicht ein konkretes Anschauen nach wirklicher wissenschaftlicher Methode zugrunde gelegt wird.

Beobachtet man dann so etwas weiter und weiß: dasjenige, was dir als Lehrer in dem Kinde entgegentri tt, das ist dieselbe Kraft, die vorher in dem Organismus gewirkt hat, ann sagt man sich: jetzt muß sie eine andere Form annehmen, diese raft; ich muß sie, indem ich zu unter­richten und zu erziehen habe in dieser anderen Form kennenlernen. Ich muß sie aber auch in ihre rständen kennenlernen, wie sie vorher im Organismus drinnen g irkt hat. Nun, darüber ließe sich vieles sagen. Ich will nur darauf aufmerksam machen: diese Kraft, die also in den Tiefen des Organismus drinnen lebenbetätigend wirkt, die ist es, die zunächst das Kind zum Nachahmer macht bis zum siebenten Lebens­jahre, und man muß schon hinschauen auf dieses nachahmende Vermö­gen in dem Kinde, wenn man das Kind vor dem schulpflichtigen Alter richtig verstehen will.

Da kommen zum Beispiel Eltern, die sagen: Mein Kind hat gestohlen. Sie suchen Rat. Man frägt dann: Ja, wie alt ist denn das Kind? Vier, fünf Jahre alt. Ein vier-, fünfjähriges Kind, so paradox das klingen mag, stiehlt in Wirklichkeit nicht. Ein vier-, fünfjähriges Kind ist ein Nachah­mer. Und wenn man weiter frägt, so wird einem zum Beispiel gesagt:

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Dieses Kind hat täglich gesehen, wie die Mutter aus einem Schrank heraus Geld nimmt. Es ahmt nach, es nimmt auch Geld. Ich habe sogar den Fall erlebt, wo ein solches Kind Geld herausgenommen hat aus dem Schrank und es nicht selber vernascht hat, sondern Sachen gekauft hat, die es an andere Kinder verteilt hat. Es war durchaus nichts Unmorali­sches dabei, sondern etwas Amoralisches, Nachahmerisches.

Das aber bringt einen dazu, richtig zu erkennen, wie man bei dem Erziehen mit Imponderabilien zu tun hat. Bis in die Gedankenverfas-sung hinein muß man wissen, daß, indem man dem Kinde als Nachah­mer gegenübersteht, man in seiner Umgebung nur dasjenige tun und sprechen, ja sogar denken darf, was das Kind nachahmen kann. Auf die Nachahmung muß vor dem schulpflichtigen Alter die Erziehung gebaut sein. Das mag zunächst paradox klingen, das ist aber dasjenige, was einer wirklich gesunden Erziehung zugrunde liegen muß.

Diejenigen Kräfte, die hier vorzugsweise den ganzen Menschen zum Nachahmer machen, die ihn bis zu dem Grade zum Nachahmer machen, daß er die leiseste Handbewegung seiner Umgebung nachahmt, die treten mit dem siebenten Lebensjahre, indem sie gleichsam frei werden, als diejenigen Kräfte hervor, die wir eben als Erzieher und Lehrer zu gestalten haben. Und wenn man diesen Gedanken weiter ausbaut, dann sagt man sich: Während das Kind bis zum siebenten Jahre ein Nachah­mer ist, ist es durch das schulpflichtige Alter hindurch bis zur Geschlechtsreife darauf angewiesen, daß ihm als selbstverständliche, richtunggebende Macht die Autorität des Lehrenden, des Erziehers gegenübersteht. Das ist dasjenige, um was es sich von dem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife handelt, daß man gründlich versteht, wie allein dieses auf selbstverständliche Autorität zwischen dem Kinde und dem Unterrichtenden und Erziehenden bestehende Verhältnis in der richti­gen Weise leiten kann.

Dieses Autoritäsverhältnis ist in abstracto leicht ausgesprochen. Man muß aber wirklich auf Anthroposophie gegründete Menschenerkenntnis in sich tragen, wenn man in jedem Augenblicke dieses Autoritätsverhält­nis in die richtigen Bahnen leiten will.

Sehen Sie, man redet heute in einem gewissen Sinne mit Recht davon -ich sage ausdrücklich in einem gewissen Sinne mit Recht -, Anschauungsunterricht

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müsse sein. Gewiß, es muß auch Anschauungsunterricht sein für gewisse Gebiete. Aber dasjenige, was nicht anschaulich ist, das kann eben nicht durch den Anschauungsunterricht an das Kind herange­bracht werden. Das ist vor allen Dingen die sittliche Weltordnung, das sind die religiösen Empfindungen, das ist alles dasjenige, was in der Welt das Geistige ist. Das Geistige ist zunächst für die äußeren Sinne unan­schaulich, und wenn man den sogenannten Anschauungsunterricht zu weit treibt, dann erzieht man das Kind direkt zu dem bloßen Glauben an das äußerlich sinnlich Anschauliche, das heißt zum Materialismus. Das­jenige, worauf es aber ankommt im schulpflichtigen Alter, das ist, daß das Kind durch das selbstverständliche Verhältnis zum Lehrer und ) Erzieher das Gefühl hat: der Mensch, der neben mir steht - es ist, wenn man das ausspricht, natürlich etwas anderes, als es im Kinde lebt, aber das Kind hat es in elementarer Weise -, derjenige, der neben mir steht, der weiß, was richtig ist, der verhält sich so, wie man sich zu verhalten hat, dem muß ich folgen. Während das Kind in den ersten sieben Lebensjahren seine ganze Betätigungsweise nachahmend in die Richtung seiner Umgebung hineinbringt, also ich möchte sagen, vorzugsweise auf Gebärden, auch auf jene inneren Gebärden hin, die in der Sprache hervortreten, sich bildet, bildet sich das Kind im schulpflichtigen Alter unter dem Einfluß desjenigen, was auf das Wort der selbstverständlichen Autorität ihm übertragen werden kann. Und da muß man gründlich hineingeführt werden durch wahre Menschenerkenntnis in dasjenige, was diese selbstverständliche Autorität sein kann.

Sie werden demjenigen, der wie ich vor vielen Jahren eine «Philoso­phie der Freiheit» geschrieben hat, nicht zumuten, daß er etwa im sozialen Leben einem reaktionären Autoritätsglauben das Wort rede. Das ist nicht aus irgendeiner solchen Absicht heraus, sondern aus pädagogischen und didaktischen Untergründen heraus, daß ich sage:

Das wesentlichste Erziehungsprinzip, die wesentlichste erziehende Kraft zwischen dem siebenten Lebensjahr und der Geschlechtsreife liegt in alle dem, was unter dem Glauben, daß die Autorität das Richtige weiß und das Richtige tut, in das Kind sich hineinsenkt. - Und ohne daß wir auf Autorität hin uns entwickeln, können wir später nicht in einer heilsamen Weise in das soziale Leben eintreten.

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Man muß nur wissen, was es heißt, auf Autorität hin etwas annehmen. Ich weiß, daß ich für viele damit etwas außerordentlich Paradoxes sage, allein im Grunde genommen doch nur für diejenigen, die nicht den Willen haben, das Leben in seiner Ganzheit zu betrachten.

Denken Sie nur, wenn die Natur im zweiten Lebensjahre des Men­schen nicht, sagen wir, unsere Fingerformen so anlegte, daß sie wachsen und gedeihen, wenn die Natur unsere Finger so anlegte, daß sie gewis­sermaßen in feste, schablonenhafte Formen gegossen wären, was mit uns wäre! Wir müssen wachsende, fortwährend in metamorphosierender Organisation sich befindliche Wesen sein als Menschen. Solches Wesen müssen wir auch, indem wir Erzieher sind, in die Seele des Kindes hineingießen. Wir müssen dem Kinde nichts beibringen, was ihm Vor­stellungen, Empfindungen, Willensimpulse erweckt, die gewissermaßen scharfe Konturen haben. So wenig als unsere Finger so bleiben mit ihren Konturen, wie sie im zweiten Lebensjahre sind, sondern durch ihre eigene Kraft wachsen, so müssen alle Vorstellungen, alle Empfindungen, die wir in das Kind hineingießen während der Schulzeit, in sich das Wesen des Wachstums tragen.

Wir müssen uns klar sein darüber: was du heute dem achtjährigen Kinde beibringst, das darf nicht eine scharf umrissene Kontur haben, das muß innerliche Wachstumsfähigkeit sein; das muß im vierzigsten Lebensjahre etwas ganz anderes geworden sein können. Du mußt den ganzen Menschen ins Auge fassen können. Derjenige, der das Auton­tätsprinzip für diese Kindesjahre nicht in der richtigen Weise würdigt, hat niemals eine Erfahrung darüber gemacht, was es eigentlich heißt, wenn man zum Beispiel in seinem fünfunddreißigsten Jahre, wie aus einer dunklen Erinnerung heraus einen Begriff bekommt über Geschichte, Geographie oder irgend etwas anderes, oder auch nur einen Begriff aus dem Leben, den man auf die Autorität eines geliebten Lehrers oder Erziehers in seinem neunten Jahre angenommen hat, dazumal noch gar nicht verstanden hat, den man eben nur auf Autorität hin angenom­men hat. Wenn der heraufkommt und mit dem reiferen Verstande begreift man ihn nach Jahrzehnten erst, das ist belebendes Prinzip, das ruft in einem das unbestimmte Gefühl hervor, man braucht es sich gar nicht einmal zum Bewußtsein zu bringen: du hast etwas von deinen

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jüngsten Jahren Lebendes in dir auch in deinem Seelenleben. Wir müssen durchaus in dieser Beziehung den Wachstumskräften der Natur nachge­hen können.

Unsere Erziehungsprinzipien, die Methoden, müssen nicht in Para­graphen eingeschnürt werden, sie müssen gewissermaßen aus lebendiger Menschenkenntnis heraus dem Menschen, der zu erziehen, zu unterrich­ten hat, im Blute liegen; dann werden sie so sein, daß sie den Menschen behandeln und nicht, daß sie in den Menschen etwas hineinpfropfen. Dasjenige, was von den großen Pädagogen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gesagt worden ist, wird damit nicht negiert; im Gegenteil, es wird erst in der richtigen Weise befolgt.

Derjenige, der ein Waldorflehrer werden will, weiß sehr wohl, daß er nicht in dilettantischer Weise sich einfach in die Schule hineinstellen darf. Er muß alle die Anregungen empfangen, die die Pädagogik des 19. Jahrhunderts, des 20. Jahrhunderts gebracht hat, aber er muß zu gleicher Zeit diese lebendige Menschenerkenntnis, von der ich eben spreche, in die Schule hineintragen. Da möchte man das Goethe-Wort aussprechen:

«Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.» In bezug auf das Was, das heißt in bezug auf die Grundsätze und Prinzipien, wie unterrichtet werden soll, steht in der Tat in unseren pädagogischen Theorien und didakti­schen Lehr- und Unterrichtsbüchern Ausgezeichnetes. Es steht auch manchmal in ganz kurzen Anleitungen etwas geradezu Idealisches. Aber das ist das Was. Das Was bedenke, mehr bedenke Wie. Es handelt sich gar nicht darum, daß man abstrakte Grundsätze aufstellt, sondern es handelt sich darum, daß man als lebendiger Mensch mit innerlicher Seelenwärme, mit starken Lebensimpulsen diese Grundsätze ins Leben überführen kann.

Ich bin vollständig davon überzeugt, wenn sich heute drei oder zwölf, es können auch mehr oder weniger sein, gar nicht beträchtlich gescheite Menschen zusammensetzen und aus ihrem Verstande heraus eine ideale Schule konstruieren, sie wird auf dem Papier mit erstens, zweitens, drittens und so weiter ganz ausgezeichnet sein. Man wird gar nichts Besseres ausdenken können. Die schönsten Ideale kann man ausdenken und zu parteimäßigen Prinzipien von großen Bewegungen, Reformbe­wegungen und so weiter machen. Aber auf all das kommt es ja nicht an

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im Leben, sondern worauf es im Leben ankommt, das ist, das Leben selbst darauf anzusehen, daß man den lebendigen Menschen hat, der dasjenige tut, was eben gerade unter gegebenen Verhältnissen möglich und notwendig ist. Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.

Und so kommt es darauf an, daß tatsächlich überall die Liebe zu dem Kinde zugrunde liegt, daß aus diesem lebendigen Erleben heraus an das Unterrichten und an das Erziehen gegangen wird. Dann begründet man selbstverständlich alles in anderer Weise, als es sonst begründet wird. Und da darf ich gewissermaßen noch als einen allgemeinen Grundsatz etwa das Folgende aussprechen. Ich möchte wiederum anschaulich an einem Beispiel davon sprechen.

Sehen Sie, man soll dem Kinde veranschaulichen: das Kind kann sich in abgezogene abstrakte Begriffe durch Anschauung hineinfinden, aber man kann auch mit der Anschauung über Abstraktes, über Ethisches, Religiöses in verschiedener Weise verfahren. Nehmen wir zum Beispiel an, ich will einem Kinde in dem entsprechenden Alter einen Begriff beibringen von der Unsterblichkeit der Menschenseele. Ich tue das durch einen Vergleich. Ich kann das aber in zweifacher Weise tun. Die eine ist die, daß ich mir sage: Ich bin der Lehrer, also bin ich sehr gescheit, furchtbar gescheit; das Kind ist noch jung, furchtbar dumm. Also bilde ich einen Vergleich. Ich sage: Sieh dir einmal an, da ist die Schmetterlingspuppe; aus der kommt der Schmetterling heraus. Ich zeige dem Kinde diesen Vorgang anschaulich und sage ihm dann: So wie der Schmetterling aus dieser Puppe herauskommt, so wird einstmals, wenn der Mensch an die Pforte des Todes tritt, die unsterbliche Seele in die geistige Welt sich hineinbegeben. So kann ich an das Kind herantre­ten, diesen Vergleich ausdenken, mir furchtbar gescheit vorkommen dem Kinde gegenüber, aber ich werde nicht viel erreichen. Da kommen eben die Imponderabilien in Betracht. Bin ich aber geschult durch anthroposophische Geisteswissenschaft über das Wesen der Welt, so daß ich weiß: in allem Materiellen ist Geist, dann sage ich gar nicht: ich bin furchtbar gescheit und das Kind ist furchtbar dumm und ich muß etwas ausdenken, sondern ich glaube selbst daran, daß dasjenige, was auf einer höheren Stufe die aus dem Leibe hervorkommende Seele ist, auf einer niederen Stufe durch Naturgesetzmäßigkeit sich hinstellt als das Herauskriechen

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des Schmetterlings aus der Puppe. Ich glaube selbst an meinen Vergleich. Das ist für mich heilige Überzeugung. Das sind zwei verschie­dene Dinge. Rede ich aus heiliger Überzeugung zu dem Kinde, nun, da berühre ich auf imponderable Weise das Innerste des Kindes. Da rufe ich in ihm dasjenige hervor, was ein lebendiges Empfinden, ein lebendiger Begriff ist; und so kann man sagen, ist es in allen Dingen. Man muß nur weder unterschätzen noch überschätzen dasjenige, was moderne, auf das Äußere gerichtete Wissenschaft sein kann.

Lassen Sie mich ein etwas weithergeholtes Beispiel anführen, nur zum Beleg. Sie wissen ja, es war einmal viel die Rede von den sogenannten rechnenden Pferden. Diese rechnenden Pferde führten ganz besondere Kunststücke auf. Nun, ich habe die Elberfelder nicht gesehen, aber ich habe das Pferd des Herrn von Osten selber gesehen und habe gesehen, wie dieses Pferd tatsächlich mit seinem Fuß, mit seinem ßein auf­stampfte: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs und so weiter, wenn irgend einfache Rechnungsaufgaben gegeben worden sind. Man muß schon Beobachtungs sinn für solche Dinge haben, wenn man nicht auf der einen Seite in nebulose Mystik und auf der anderen Seite in Rationalismus verfallen will - man kann ja da alles erklären. Sehen Sie, da gab es zum Beispiel einen Privatdozenten der Psychologie, der Physiologie, der sah sich auch dieses Pferd des Herrn von Osten an. Der sagte: Ja, dieses Pferd, das stampft mit dem Fuße bei irgendeiner Zahl auf, weil es ganz bestimmte feine Bewegungen in den Mienen, die der Herr von Osten macht, sieht. Und wenn der Herr von Osten dann bei drei mal drei ist neun, die entsprechende Miene macht, dann hört das Pferd auf, mit dem Bein aufzustoßen. Nun mußte natürlich der betreffende gelehrte Mann auch plausibel machen, daß es solche Mienen gibt in dem Antlitz des Pferdebesitzers. Aber es ließen sich solche Mienen in Herrn von Osten nicht nachweisen. Da sagte der gelehrte Mann in einer sehr gelehrten Abhandlung eben: Ja, die Mienen sind so fein, daß sie eben ein Mensch nicht sieht; und ich kann selber nicht sagen, sagte er, worinnen diese Mienen bestehen. - Sie sehen also, diese Gelehrsamkeit, die bestand eigeiatlich darin, daß er sagte: Ja, ich bin nicht so gescheit, um die Mienen herauszubringen; das ist aber das Roß. Das ist also wesentlich gescheiter als ich oder hat wesentlich feineres Empfindungsvermögen.

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Wer unbefangener als solch ein gelehrter Mann die Sache betrachtete, der beobachtete, wie der Herr von Osten aus seiner rechten Rocktasche, die sehr groß war, fortwährend Zuckerstückchen herausnahm und, während das Pferd diese Bewegungen machte, seine Rechnungen aus-führte, fortwährend ihm Zuckerstückchen zuführte, so daß das Pferd während seiner Rechnerei fortwährend Zucker schleckte. Und dieses Behandeln des Pferdes bringt nämlich ein ganz besonderes - bitte, mißverstehen Sie mich nicht - Liebesverhältnis hervor, ein besonderes inneres Verhältnis. Das liegt dann den innersten Wirkungen zugrunde, die nun tatsächlich ausgehen. Da muß man schon ausgehen von jener Strömung, die entsteht durch ein solches Anregen der Liebe, wie es mit den Zuckerstückchen geschieht, wenn man einsehen will, welches unter der Oberfläche der gewöhnlichen Beobachtung liegende Verhältnis da ist. Und tatsächlich, man kann nicht im groben Sinne von Hypnotismus und Suggestion sprechen, sondern man muß von ganz anderen feinen Beziehungen sprechen, wenn man auf diese Dinge kommen will. Diese Dinge lassen sich weder mit nebuloser Mystik, noch mit Rationalismus begreifen, sondern nur, wenn man wirklich Seelenerkenntnis hat, in diesem Falle nicht nur menschliche Seelenerkenntnis, sondern auch Seelenerkenntnis für das Tier.

Und das ist es, worauf es nun vor allen Dingen ankommt, wenn man eine lebendige Pädagogik begründen will im Gegensatze zu einer auf bloßen Prinzipien, auf bloßer äußere, intellektualistisch gefaßte Sätze begründete Pädagogik oder Didaktik. Diese Pädagogik führt einem dazu, dann wirklich das Kind von Jahr zu Jahr beobachten zu können. Und auf dieses Wie kommt es an, auf das individuelle Behandeln eines jeden Kindes selbst in einer größeren Klasse. Man kann das. Das hat die Waldorfschule durchaus gezeigt, schon in den wenigen Jahren, seit denen sie besteht.

Ich kann jetzt bloß in großen Linien zeigen, was aber im Konkreten, Einzelnen ausgeführt werden könnte. Da haben wir dann das, daß das Kind in die Schule gebracht wird und zunächst schreiben und nach und nach lesen lernen soll, vielleicht auch rechnen und so weiter; aber -nehmen wir zunächst das Lesen. Das Lesen ist zunächst etwas, das im heutigen Zustande, im heutigen Menschenleben dem Kind eigentlich

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recht fremd liegt. Wenn wir in Urzeiten, in frühere Zeiten zurückgehen, da haben wir noch eine Bilderschrift, da liegt noch in dem einzelnen Schriftzug etwas, was bildhaft zu dem Gegenstande, der bezeichnet werden soll, hinführt. In unserer Zeichenschrift haben wir nichts mehr, was in unmittelbarer Weise anknüpfend an die unmittelbaren Seelen-kräfte, das Kind hinführen würde zu dem, was bezeichnet wird. Daher darf man auch nicht, wenn das Kind mit dem sechsten, siebenten Jahre in die Schule kommt, anfangen, in dieser Weise die Schriftzüge beizubrin­gen. Bei uns in der Waldorfschule geht aller Unterricht, auch der des Schreibens, der dem Lesen vorangeht, aus von einem gewissen appellie­ren an den künstlerischen Sinn des Kindes. Wir bringen dem Kinde zunächst, und zwar von allem Anfang an eine gewisse Möglichkeit bei, sich zeichnerisch mit Farben, nicht bloß mit den Stiften malend zu betätigen, so daß wir aus dem Zeichnen, aus dem Malen, aus dem Künstlerischen, wie wir es in der einfachen Weise an das Kind heran­bringen können, etwas geben, woraus wir dann die Buchstabenformen entstehen lassen. Gewiß, solche Dinge werden auch sonst schon beob­achtet; aber es kommt hier wiederum auf das Wie an. Vor allen Dingen kommt es darauf an, daß wir an dasjenige, was nicht auf den Intellekt wirkt, bei dem man sich etwas merken muß, sondern was vor allen Dingen auf den Willen wirkt, an das Kind heranbringen, und aus dem heraus, was Zeichnerisch und Malerisch ist, das Kind allmählich führen zu dem, was aus dem Willen aufsteigen kann zu dem intellektuellen Begreifen der Sache.

Und so führen wir die Kinder von Stufe zu Stufe, indem wir alles aus der Natur des Kindes heraus entwickeln. Bis auf den Lehrplan hin kann tatsächlich der werdenden Natur des Kindes alles abgelesen werden, was mit ihm zu geschehen hat. Dazu gehört eben anthroposophische Men­schenkenntnis.

Da möchte ich nun darauf aufmerksam machen, daß man zum Beispiel genau beobachten kann wie man das Kind verdirbt, man bringt ihm nicht wachsende Begriffe und wachsende Empfindungen und wachsende Willensimpulse bei, wenn man zu früh damit anfängt, das Kind aufmerk­sam zu machen auf den Unterschied der äußeren Welt mit dem eigenen Seelenleben. Bis ungefähr zum neunten Jahre unterscheidet sich das

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Kind überhaupt nicht von der Welt. Nur muß man nicht solche abstrak­ten Begriffe anwenden, wie es manche heute tun, die da sagen: Nun ja, ein Kind, wenn es sich anstößt an einer Tischecke, schlägt den Tisch, weil es den Tisch auch für etwas Lebendiges hält. Das ist natürlich ein Unsinn. Das Kind hält den Tisch gar nicht für etwas Lebendiges; es behandelt den Tisch so wie ein anderes Kind, weil es nicht unterscheidet zwischen sich und dem Tisch; das Lebendige spielt dabei noch gar keine Rolle. Der Begriff dafür ist noch nicht da. Man muß überall mit realen, mit wirklichen Begriffen rechnen, nicht mit dem, was man sich einbildet. Was man bis zum neunten Jahr an das Kind heranbringt, muß durchaus einen rein menschlichen Charakter haben, muß sozusagen überall vor­aussetzen, daß das Kind sich in die Welt hereinstellt und alles dasjenige, was es sieht, gerade so zu sich rechnet, wie seinen eigenen Organismus. Gewiß, wenn man in grober Weise unterscheiden will, kann man auf das oder jenes hinweisen, wo das Kind sich unterscheidet von seiner Umge­bung; aber die feinere Ausbildung kann man nicht haben, wenn man nicht alles wirklich belebt, wenn man nicht alles zu einem Gleichnis macht, nicht zu einem toten, sondern zu einem lebendigen Gleichnis macht, was man dem Kinde über Leben und Tod zwischen dem sieben­ten und neunten Jahre beibringt.

Zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre tritt etwas außeror­dentlich Wichtiges für das Kind ein. Das Kind lernt eigentlich erst dann sich von seiner Umgebung richtig unterscheiden. In diesem Lebensjahr können wir dem Kinde eigentlich erst die vQm Menschen unabhängige Pflanzen- oder Tieresnatur wirklich nahebringen. Aber da geht über­haupt etwas sehr Erhebliches in der Kindesnatur vor. Und da handelt es sich darum, daß der Lehrer oder Erzieher tatsächlich zu beobachten versteht, wie es bei dem einen Kinde früher, bei dem anderen etwas später kommt; da geht im tiefsten Gemüte des Kindes etwas vor. Es wird ein anderes Wesen. Es lernt sich gefühlsmäßig, nicht durch Begriffe, von der Welt unterscheiden. Wenn man den Zeitpunkt in der richtigen Weise beobachtet, dadurch, daß man das rechte Wort, das rechte Verhalten gerade zwischen dem neunten und zehnten Jahre findet, kann man dadurch etwas tun, was dann für das ganze Leben des Kindes von ungeheurer Wichtigkeit ist. Man kann in diesem Zeitabschnitte des

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kindlichen Lebens etwas zur Verödung bringen, so daß das Kind unter Zweifeln, unter innerer Verödung, unter innerer Unbefriedigtheit das ganze Leben hindurchgeht. Oder aber man kann, wenn man selber die innere Lebendigkeit hat, wenn man so viel Mitgefühl hat, daß man in der richtigen Weise diesen Zeitpunkt auffaßt, daß man gewissermaßen in das kindliche Wesen untertaucht und aus dem Kinde selbst heraus die richtigen Worte, das richtige Tun findet, dann kann man für das Kind ungeheuer Bedeutsames in diesem wichtigsten Zeitpunkte tun. Und auf die Beobachtung der richtigen Zeitpunkte im kindlichen Lebensalter für das oder jenes, auf dieses kommt es bei so etwas, wie es die Waldorf­schul-Pädagogik und -Didaktik ist, besonders an.

Von diesem Zeitpunkt an ist durchaus die Möglichkeit vorhanden, an das Kind schon dasjenige heranzubringen, was einfache Beschreibung von Pflanzen, einfache Beschreibung von Tieren ist und so weiter; während man vorher das alles gleichnismänig behandeln muß. Und zwischen dem elften und zwölften Jahre, eigentlich erst um das zwölfte Lebensjahr herum beginnt die Möglichkeit, dem Kinde dasjenige beizu­bringen, was dann Gegenstand des Physikalischen, des Unorganischen ist. Erst da, nachdem das Kind alles dasjenige innerlich aufgenommen hat, was es so recht ins Leben hineinstellt, erst da kann man dann durch das Lebendige hindurch auf das Unlebendige hinweisen.

Und so führt man das Kind - ich erwähne nur einzelne charakteristi­sche Dinge, die ich mehr beispielsweise herausgreife - bis zu demjenigen Alter, mit dem auch in der Regel die Volksschule abschließt, zum Alter der Geschlechtsreife.

Was wird heute alles über die Geschlechtsreife diskutiert, philoso­phiert, psychoanalysiert und so weiter. Dasjenige aber, um was es sich handelt, ist, daß man sieht: geradeso wie mit dem Zahnwechsel ein wichtiger Lebensabschnitt dasteht, so steht mit der Geschlechtsreife ein wichtiger Lebensabschnitt da. Die Geschlechtsreife selbst ist nur ein Glied in einer Metamorphose, die vieles, das ganze Menschliche in diesem Lebensalter umfaßt. Was beim Kinde durch den Zahnwechsel aufgetreten ist, das ist, daß seine inneren Seelenkräfte frei geworden sind, die früher im Organismus gewirkt haben. Zwischen dem siebenten und etwa dem vierzehnten Jahre hat man es zu tun mit dem, was man so

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recht aus dem Kinde entwickeln kann auf die Art, wie ich heute davon gesprochen habe. Mit der Geschlechtsreife tritt das Kind in dasjenige Lebensalter ein, wo es gewissermaßen erst in der richtigen Weise der Außenwelt gegenüber urteilsfähig auftritt. Während es früher sein eige­nes Wesen aus den Tiefen seines Organismus heraus an die Oberfläche gebracht hat, wird es jetzt fähig, das Geistige der Welt als solches aufzunehmen. Das ist eines der größten Erziehungsprobleme, und auch eines der bedeutendsten Probleme einer wirklichen lebenskräftigen Didaktik, wie man das Kind zu erziehen hat zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre, um es in einer ganz selbstverständlichen Weise heranzubringen an das Alter, wo es eigentlich erst zu einem selbständi­gen, individuellen Verhalten zur Welt, zu dem Verhalten, das in der geschlechtlichen Liebe eben nur einen Ausschnitt hat, bringen kann. Dasjenige, was in der geschlechtlichen Liebe, in der Liebe zu einem anderen Menschen hervortritt, das ist eben nur ein Glied in dem gesamten sozialen Leben des Menschen.

Wir müssen den Menschen dazu bringen, daß er sein Inneres so weit reif macht, daß er nun mit Interesse die Dinge der Außenwelt verfolgt, daß er nicht an den Dingen vorübergeht, zu denen er in Liebe sich hingetan fühlen soll. Wir müssen den Menschen zum sozialen Wesen entwickeln bis zur Geschlechtsreife hin. Wir müssen den Menschen aber auch in einer gewissen Weise zum frommen Wesen entwickeln, fromm nicht im muckerischen Sinne, sondern in dem Sinne, daß der Mensch tatsächlich jenen Ernst in sich entwickelt, durch den er hineinwächst in ein Leben, das überall das äußerliche Sinnlich-Physische von dem Geisti­gen durchdrungen weiß; das nicht sich begnügt an der Beobachtung des bloßen äußerlich Physisch-Sinnlichen, sondern das die geistigen Grund­lagen überall zu sehen vermag.

Wir müssen dem Menschen in der Zeit, in der er uns sein eigenes Wesen entgegenbringt und an unsere Autorität glaubt, in uns selbst das entgegentragen, was für ihn gewissermaßen die Welt ist. Hat er in uns eine Welt gefunden, indem wir seine Lehrer und Erzieher sind, dann steht er in der richtigen Weise vorbereitet zum frommen, vorbereitet zum sozialen Wesen vor der Welt. Wir entlassen ihn aus unserer Autorität, die für ihn die Welt gab, in die Welt selber.

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Ich deute mit wenigen Worten eines der bedeutsamsten Erkenntnis­probleme an. Wer ein Kind zu früh zum Urteil entwickelt, zum selbstän­digen Urteilen, der bringt Todeskräfte statt lebendige Kräfte in das sich entwickelnde Kind hinein. Allein derjenige, der mit seiner Autorität so wirkt, daß er dem Kinde wirklich den selbstverständlichen Glauben erweckt, er tue das Richtige und er sage das Richtige, und es dürfe hin­genommen werden, wer also in diesem Sinne der Repräsentant der Welt ist für das Kind, der bereitet es nicht durch Beherrschung seines Verstandes, nicht durch Beherrschung irgendwelcher Urteilsfähigkeiten, sondern der bereitet es durch seinen lebendigen Menschen selber darauf vor, an der Welt nun wie ein lebendiger Mensch sich weiter zu entfalten. Leben muß an Leben entwickelt werden. Nicht indem wir von abstrakter Anschaulich­keit, von abstrakten intellektualistischen Begriffen ausgehen, sondern indem wir dem Kinde entgegenbringen eine Welt in einem lebendigen Menschen, machen wir es zu einem wirklichen Weltbürger.

Das alles läßt sich in einigen Strichen ja charakterisieren, aber es setzt eben voraus, daß man in die Einzelheiten der sich entwickelnden Kin­deskräfte, ich möchte sagen, von Tag zu Tag hineinschauen kann. Dann wirkt die Art und Weise, wie man selber irgend etwas durch die Türe in die Klasse hineinträgt so, daß das Kind in der Tat an dem Leben des Erziehenden, des Lehrenden sich heraufrankt zum eigenen Leben. Dann braucht man auch nicht solch Dilettantisches etwa zu sagen wie: Das Lernen soll den Kindern Freude machen. - Das sagen ja heute viele. Man versuche es nur einmal, wie weit man mit solch einem abstrakten Grundsatz k6mmt! Das Lernen kann in vielen Beziehungen den Kindern nicht Freude machen; aber man soll durch dasjenige, was man an Leben hineinbringt in die Arbeit der Schule, die Kinder so heranerziehen, daß sie auch an dasjenige, was ihnen nicht Freude macht, mit einer gewissen Neugierde, mit einer gewissen Wißbegierde herantreten, daß ihnen die ganze Art und Weise wie der Lehrer vorgeht, eine Vorbereitung dafür ist, was sie durch ihn wissen können.

Dann kommt es zur selbstverständlichen Entwickelung des Pflichtge­fühles. Damit weisen wir aber auf etwas, was überhaupt viel tiefer noch liegt als innerhalb des bloßen Erziehungsgebietes. Damit weisen wir auf etwas hin, wo eine wirklich aus einem geistigen Untergrunde hervorgeschöpfte

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Pädagogik und Didaktik unmittelbar in eine Befruchtung unse­res gesamten Kulturlebens ausreifen kann.

Wir verehren ganz gewiß in Schiller und Goethe tonangebende Gei­ster, und demjenigen, der sich durch mehr als vierzig Jahre, wie ich, mit Goethe und mit Schiller beschäftigt hat und manches über die beiden geschrieben hat, dem werden Sie nicht zumuten, daß er nicht mit voller, innigster, wärmster Anerkennung diesen Geistern gegenübersteht. Al­lein eines ist es, auf das ich hier in diesem Zusammenhange aufmerksam machen möchte.

Als Schiller, nachdem er sich zuerst entfernt hatte von Goethe aus allerlei menschlichen Gründen, in den neunziger Jahren des 18. Jahrhun­derts Goethe dann in inniger Freundschaft nahetrat, da schrieb Schiller seine berühmten, aber leider heute viel zuwenig gelesenen und studierten «Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen». Er schrieb sie unter dem Eindruck dessen, wie Goethe arbeitete, wie Goethe dachte, wie Goethe sich in der Welt verhielt. In diesen Briefen über ästhetische Erziehung befindet sich ein merkwürdiger Satz: Der Mensch ist nur dann ganz Mensch, wenn er spielt, und er spielt nur, wenn er im vollsten Sinne des Wortes Mensch ist. - Schiller will damit hinweisen darauf, wie das äußere Leben den Menschen im Grunde genommen in eine Art Skiavenzustand versetzt, wie der Mensch unter der äußeren Lebensnot­wendigkeit seufzt, wie er gewissermaßen untertauchen muß unter etwas, das ihn ins Joch zwingt, während er nur als Verrichter des Künstleri­schen, als Schöpfer des Künstlerischen, als künstlerisch Genießender seinen eigenen Antrieben folgt; wenn er etwa sich so verhält wie das spielende Kind, das dasjenige, was es verrichtet, nur aus innerstem Lebenstriebe heraus tut. Schön ist es, wunderschön und echt menschlich gedacht, was Schiller in diesen ästhetischen Briefen vorbringt.

Allein es zeigt doch auf der anderen Seite nur, daß, indem die moderne naturwissenschaftliche Kultur, die moderne technische Kultur herauf-rückte, solch auserlesene Geister wie Goethe und Schiller für die rechte Würdigung des Menschen glaubten die Anforderung stellen zu müssen, der Mensch müsse aus dem Leben heraus, er müsse gewissermaßen aus der Arbeit heraus ins Spiel herein, um voll Mensch zu werden. Wir fühlen heute, wenn wir die sozialen Verhältnisse, die uns das 20. Jahrhundert

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geschaffen hat ins Auge fassen, ganz anders dem Leben gegen­über. Wir fühlen: wir haben die unendliche Last der Schwere auf uns, die ja davon herkommt, daß wir begreifen lernen müssen, wie jeder Mensch sich in die Arbeit des Lebens hineinstellen müsse, wie das Leben lebenswert sein muß in sozialer Beziehung, in individuell menschlicher Beziehung, indem wir uns nicht in das Spiel bloß, indem wir uns in die Arbeit in einer menschenwürdigen Weise hineinfinden. Deshalb beginnt heute die soziale Frage bei der Erziehungs-, bei der Unterrichtsfrage, weil wir lehren müssen, weil wir erziehen müssen in dem Sinne, daß der Mensch zum Arbeiter wird, weil wir den Pflichtbegriff schon in der Schule in der richtigen, in der selbstverständlichen Weise, nicht durch Ermahnungen und Predigten, heranerziehen müssen. Das können wir nur auf eine solche Art, wie das angedeutet worden ist aus einer richtigen, mit guter Grundlage versehenen Menschenerkenntnis heraus.

Da begründen wir dann wahre Arbeitsschulen, nicht Schulen, in denen etwa der Grundsatz aufgestellt wird, daß man möglichst das Unterrichten und Erziehen in Tändelei verwandeln soll, sondern wo durch das Leben, das die Autorität in die Schule hineinträgt, auch das Schwerste von dem Kinde hingenommen wird, das Kind gerade sich herandrängt zu dem, was zu überwinden ist, nicht zu dem, was es nur gerne tut.

Darauf ist nun auch gerade die pädagogische Grundlage der Waldorf­schule angelegt, daß das Kind in der richtigen Weise arbeiten lernt, daß das Kind mit seinem ganzen vollen Menschen herangeführt wird an die Welt, die in sozialer Beziehung die Arbeit fordert, die auf der anderen Seite aber auch fordert, daß der Mensch dem Menschen selbst in der richtigen Weise, und vor allem sich selbst in der richtigen Weise gegen­übersteht. Aus diesem Grunde haben wir zum Beispiel in der Waldorf-schule neben dem gewöhnlichen Turnen, das aus der Physiologie des Leibes heraus erwachsen ist und in dieser Beziehung außerordentlich günstig wirkt, eingeführt die Eurythmie, welche Leib, Seele und Geist ausbildet, welche eine sichtbare Sprache ist.

Man kann in Dornach kennenlernen, was man unter Eurythmie versteht, wie es tratsächlich, geradeso wie es hörbare Sprachen und den Gesang gibt, so ein Sprechen gibt d'irch Gesten und Gebärden, nicht

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durch Mimik, sondern durch regelmäßige, aus der Organisation des Körpers herausgeholte Bewegungen der menschlichen Glieder oder Bewegungen von Menschengruppen, wodurch dasselbe ausgedrückt werden kann, was durch die hörbare Sprache oder den Gesang ausge­drückt wird. Und wir haben in der Waldorfschule in den letzten zwei Jahren durchaus schon sehen können, wie von der untersten bis in die obersten Schulklassen die Kinder, wenn diese Eurythmie richtig gepflegt wird, sich mit derselben Selbstverständlichkeit in sie hineinfinden, wie sich das kleinere Kind in die Sprache hineinfindet.

Ich habe dieses einmal auseinandergesetzt in einer Einleitung zu einer Eurythmieaufführung in Dornach. Da war einer der berühmtesten Phy­siologen der Gegenwart dabei - wenn ich Ihnen den Namen nennen würde, würden Sie erstaunt sein -, der sagte mir, nachdem ich gesagt hatte: Wir wollen das Turnen nicht verkennen, aber eine zukünftige Zeit wird unbefangener urteilen, wird das geistig-seelische Turnen der Eurythmie in seinem Werte einsehen neben dem gewöhnlichen Turnen -der kam zu mir und sagte: Sie haben gesagt, daß sich das Turnen in günstiger Weise in die moderne Erziehung hineinstellt, daß es auf Physiologie begründet ist. Ich als Physiologe sage, das Turnen ist eine Barbarei. - Das sage nicht ich, das sagt einer der berühmtesten Physiolo­gen der Gegenwart.

Gerade so etwas kann einen dazu führen, daß der Satz richtig ist: Das Was bedenke, mehr bedenke Wie. - Man kann wirklich innerlich aufjauchzen manchmal bei demjenigen, was in unseren pädagogischen und didaktischen Handbüchern steht, was die großen Pädagogen gelei­stet haben; aber man muß das richtige Wie finden, muß finden, wie das richtig Gedachte richtig ins Leben eingeführt werden kann.

Das aber muß gerade der Waldorflehrer jeden Tag aufs neue finden. Denn dasjenige, was Leben haben soll, das muß eben auf Leben begrün­det sein. Geisteswissenschaft selbst führt den Menschen zuletzt dahin, daß er Wahrheiten durchschaut, welche jeden Tag aufs neue, selbst wenn sie jeden Tag dieselben sind, jeden Tag aufs neue ihn ergreifen. Mit unserem gewöhnlichen, auf die materiellen Dinge bezüglichen Wissen rechnen wir auf die Erinnerung. Was einmal aufgenommen ist, daran erinnert man sich dann, das ruft man hervor aus dem Schatz seines

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Gedächtnisses. Was man einmal gelernt hat, das hat man, das ist dann mit einem verknüpft. Gewiß, für das gewöhnliche Leben ist das notwen­dig, daß der Mensch seinen Erinnerungsschatz hat. Aber das Lebendige stimmt nicht überein mit diesem Intellektualistischen. Das Intellektuali­stische rechnet mit der Erinnerung, das Lebendige nicht, schon auf seinen niederen Gebieten nicht. Bedenken Sie nur einmal, wenn Sie sagen würden: Ich habe ja als kleines Kind gegessen, das ist für das ganze Leben -, so wie Sie sagen: Ich habe als kleines Kind gelernt, das ist für das ganze Leben. - Sie müssen jeden Tag aufs neue essen, weil ein lebendiger Prozeß vorliegt und dasjenige wirklich verarbeitet wird, was im lebendigen Organismus aufgenommen wird. So aber werden auch die geistigen Dinge in lebendiger Weise aufgenommen, und aus diesem lebendigen Geiste heraus muß in einer anthroposophisch orientierten Pädagogik gearbeitet werden.

Das ist es, was ich Ihnen habe schildern wollen in kurzen Strichen, nur hinweisend eben auf dasjenige, was dann in den anthroposophischen Büchern, auch in denjenigen Teilen, die das Pädagogische behandeln, weiter ausgeführt worden ist. Das ist dasjenige, auf das ich Sie habe hinweisen wollen als auf die pädagogische Grundlage der Waldorfschule, dieser von unserem Freunde Emil Molt gegründeten Versuchsschule, die durchaus nicht rebellisch sich hineinstellen will in das pädagogische und didaktische Erziehungswesen der Gegenwart, sondern die nur zur Aus­bildung bringen will dasjenige, was freilich in einer mehr abstrakten Weise vielfach angedeutet und gefordert worden ist. Daß aber in unserer Zeit manches wird vertieft werden müssen, das wird derjenige, der unbefangen das Leben, in das die moderne, namentlich die europäische Menschheit allmählich hineingeraten ist, einsehen. Nach der furchtba­ren, die schönsten Früchte des Menschlichen zermalmenden Katastro­phe vom zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wird zugegeben wer­den müssen, daß es wichtig ist, den kommenden Generationen etwas anderes geistig-seelisch und körperlich-physisch mitzugeben, als unsere Zeitgenossen bekommen haben, die es dafür in so vielen Repräsentanten so teüer haben bezahlen müssen. Und derjenige, der wohl am meisten das Recht hat von der Pädagogik, von der Erziehungskunst aus in das Leben hineinzuschauen, der wird einem solchen Streben schon durchaus

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unbefangen gegenüberstehen können, das ist derjenige, der als Vater oder Mutter zu sorgen hat für seine Söhne oder Töchter. Diejenigen, die die großen katastrophalen Tatsachen des gegenwärtigen Lebens als Eltern kennengelernt haben, die werden ohne Zweifel jeden Versuch begrüßen, der aus tieferen sozialen und geistigen Untergründen heraus der kommenden Generation etwas Besseres sichern will, als es viele in der Gegenwart haben können. Daß diese kommende Generation Besse­res haben könne, als man vielfach in der Gegenwart haben kann, das haben vor allen Dingen Grund die Eltern für ihre Kinder zu wünschen, das haben vor allen Dingen die Eltern das Recht von den Lehrern, von den Erziehern zu verlangen. Solch ein Gedanke, solch ein Ideal schwebte uns vor, als wir versuchten, die pädagogische Grundlage der Waldorf-schule zu legen.

Aus der Diskussion

Frage: Herr Dr. Steiner hat von der Bedeutung der Autorität gesprochen, und das ist so eine Sache, mit der unsere Jugend herzlich wenig zu tun haben will. Jeder Lehrer und nicht zum wenigsten jeder Pfarrer kann das erleben. Wir haben in unserer Jugend so mancherlei Strömungen, es ist ein gewisses Sich-Hinwegbegeben von jeglicher Autorität zu bemerken, sowohl von der Autorität des Elternhauses als von der Autorität der geistigen Welt. Die Eltern haben manchmal das Gefühl: man hat ja da rein nichts mehr dazu zu sagen, man muß die Leute gehen lassen. Auf der anderen Seite sieht man dann auch freilich manchmal, wie die Sache herauskommt und es tut einem weh, daß die Jugend gar nicht immer zu dem Ziele kommt, das sie sucht. Es ist etwas da, was der Jugend das Gefühl zur Autorität verbietet, einen Stachel gegen sie eingepflanzt hat. - Vielleicht ist Herr Dr. Steiner so freundlich und sagt uns etwas darüber, woher es kommt, daß es bei unserer Jugend so eigentümlich gärt, daß sie gar nicht mehr zufrieden ist, ganz besonders gern schimpft; und daß wir eben nicht mehr recht an die Jugend herankommen, das tut uns leid. Ich habe schon manches Buch darüber studiert, aber den Weg, der eigentlich gangbar ist, den habe ich noch nicht in irgendeinem Buch gefunden. Und so hätte ich gerne, wenn Herr Dr. Steiner etwas sagen würde, was den Einblick gestattet in die Jugendseele.

Dr. Steiner; Das ist natürlich ein Kapitel, das einen Vortrag in Anspruch nehmen würde, wenn man es erschöpfend behandeln wollte, der mindestens ebenso lange sein müßte wie derjenige, den ich zu meinem Leidwesen in solcher Länge eben habe halten müssen, nicht zu meinem Leidwesen seiner Absicht nach, sondern es tut mir leid, daß Sie

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so lange haben zuhören müssen! Aber wenigstens ein paar Worte wollte ich an die Bemerkungen des Herrn Vorredners anknüpfen.

Sehen Sie, ich habe wirklich versucht, in meinem doch jetzt schon nicht mehr kurzen Leben gerade solche Dinge zu verfolgen, wie sie der Herr Vorredner eben angeschlagen hat. Ich habe auf der einen Seite wirklich kennengelernt, was es heißt, wenn man einmal durchgemacht hat in seiner Kindheit, daß zum Beispiel gesprochen worden ist von einem verehrten Verwandten, den man bis dahin nicht gesehen hatte, es ist einem viel von ihm erzählt worden, man hat alles dasjenige kennenge­lernt, wie die Leute, mit denen man selbst jeden Tag als mit seinen Eltern, Erziehern aufwächst, an diesen verehrten Verwandten denken. Ich habe es kennengelernt, was es heißt, das erste Mal hingeführt zu werden zu einem solchen verehrten Verwandten und mit heiliger Scheu die Türklinke in die Hand genommen zu haben. So etwas zu erleben, ist etwas, was einern das ganze Leben hindurch als ein Wichtiges bleibt. Und es gibt im Leben kein wirklicher Menschenwürde entsprechendes Freiheitsgefühl, das nicht auf der Grundlage einer solchen Ehrfurcht und Verehrung in der Kindheit aufgebaut ist.

Ich habe allerdings auch etwas anderes gesehen. Ich habe in Berlin eine sehr berühmt gewordene Sozialistin kennengelernt, die viele sozialisti­sche Reden gehalten hat. Eines Tages las ich von ihr auch einen Artikel in einer sonst ganz angesehenen Zeitung, der überschrieben war: «Die Revolution der Kinder.» Und da wird entwickelt in einer ganz sozialisti­schen Weise, wie, nachdem die älteren Leute alle Revolution gemacht haben oder wenigstens von der Revolution reden, nun auch die Kinder von der Revolution reden sollten also die Kinder Revolution machen sollten. Und es war sogar nicht einmal ganz deutlich zu entnehmen, ob nicht auch schon vor dem schulpflichtigen Alter stehende Kinder gemeint waren. Das ist ein anderes Beispiel für das, was man in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiete erleben konnte.

Ein drittes Beispiel ist daß ich von einem Pädagogen die ernstgemetn­ten Vorschläge lesen ko'nnte daß in der Schule vorgezeichnete Bücher aufliegen sollten, in welche am Ende, ich glaube einer Woche oder eines Monats, die Schüler einschreiben sollten, wie sie über ihre Lehrer denken. Das Ganze lief darauf hinaus, daß eine Zukunft erstrebt werde,

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wo eigentlich nicht die Lehrer die Schüler, sondern die Schüler die Lehrer zensurieren sollen.

Nun, alle diese Dinge kann man nicht in der richtigen Weise beurtei­len, wenn man sie nicht im Zusammenhange mit unserem ganzen Leben betrachtet. Und vielleicht wird Ihnen auch das paradox erscheinen, aber ich glaube doch, daß man gerade die angeregte Frage in einem größeren Zusammenhange wird beantworten müssen. Sehen Sie, wir haben all­mählich durch die andererseits so großartige naturwissenschaftlich-tech-nische Kultur, die aber notwendig durch ihre eigene Wesenheit nach dem Intellektualistischen hinneigt, wir haben allmählich verloren die wirkliche Durchdringung der Menschenseele mit dem lebendig Geisti­gen. Was der Mensch heute unter dem Geistigen sich gewöhnlich vorstellt, das sind ja nur Begriffe und Ideen, das sind ja eigentlich nur Vorstellungen von irgendeinem Geistigen. Die tonangebendsten Phi­losophen reden, indem sie Begriffsdeduktionen machen, so vom Geisti­gen. Das ist dasjenige, was gerade anthroposophische Geisteswissen­schaft überwinden will. Sie will nicht, daß der Mensch nur vom Geiste rede, das Geistige in Begriffe und Vorstellungen hineinbringe, sondern sie will, daß der Mensch gerade mit dem lebendigen Geistigen sich durchdringe. Wenn der Mensch aber sich mit diesem lebendig Geistigen durchdringt, dann kommt er sehr bald darauf, daß wir nach und nach dieses lebendige Geistige verloren haben, und daß wir heute gar sehr nötig haben, zu diesem lebendigen Geistigen auch als erwachsene Men­schen wiederum zurückzukehren. Wir haben ja das lebendige Gei­stige als erwachsene Menschen besonders dann nicht, wenn wir so recht aufgeklärte sind. Dann sind wir höchstens Agnostiker, dann sagen wir höchstens: die Naturwissenschaft kann bis zu einem gewis­sen Punkte kommen, da aber sind die Grenzen der Naturerkenntnis. Daß an diesen Grenzen erst das Ringen mit der Erkenntnis beginnt, und dieses Ringen dann durch das Leben in die geistige Welt hineinführt, davon hat ja die heutige Bildung im Grunde genommen nicht viel Ahnung.

Und was ist dadurch gekommen, oder wodurch ist das gekommen, daß wir aus unserem Sprechen den Geist verloren haben? Sie können heute Unzähliges lesen und Sie werden finden: im Grunde genommen

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hat man es nur mit Worten zu tun, die eigentlich mehr oder weniger automatisch aus den menschlichen Seelen abrollen. Wer heute mit ein wenig Unbefangenheit das geistige Leben kennt, der braucht oftmals von einem Artikel oder von einem Buche nur die ersten Zeilen zu lesen, oder die ersten Seiten, und er weiß, was der Betreffende über die betreffenden Fragen denkt; denn er denkt dasjenige, was sich aus der Entwickelung der Worte von selbst ergibt. Es verwandelt sich das Leben, wenn es den Geist verliert, in ein Leben in der Phrase, und das ist dasjenige, was wir heute in unserem Kulturleben so vielfach haben. Wir haben nicht den lebendigen Geist, der aus dem ganzen vollen Menschen spricht, sondern wir haben vielfach, wenn wir vom geistigen Leben reden oder im geistigen Leben drinnenstehen wollen, die Phrase. Aber nicht nur etwa in dem Sinne wie viele denken, sondern vor allen Dingen ist die Phrase in dem gloriosen öffentlichen Unterricht, den wir haben. Ich bitte, denken Sie nur einmal nach, wie viel von Leben bei dieser oder jener Partei ist, die die schönsten Parteiphrasen hat. Die Leute berauschen sich an Parteiphrasen. Dadurch wird vielleicht dem Intellekt allerdings eine gewisse Befriedigung gebracht, aber das ergreift nicht das Leben. Und so muß man sagen, dasjenige, was gerade in der Kulmination des Agnosti­zismus sich zeigt, der schon allmählich auch in die breitesten Schichten eingedrungen ist, das ist reichlich von Phrase durchsetzt. Wir wollen in unserem heutigen Leben zum Beispiel, weil wir in der Phrase leben, gar nicht mehr das Lebendige des Wortes, weil das Wort nicht tief genug aus unserer Seele herauskommt. Darinnen kann nur Wandel geschaffen werden, wenn wir uns wiederum mit dem Geistigen durchdringen. Ich habe vor vierzehn Tagen für unsere Zeitschrift «Das Goetheanum» einen Aufsatz geschrieben: «Das verschüttete Geistesleben»; ich habe auf­merksam darauf gemacht, welch Großartiges man lesen kann bei Leuten, die, sagen wir, um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch geschrieben haben. Das wissen die wenigsten Menschen. Ich habe einigen Persön-lichkeiten die Bücher gezeigt, auf die ich mich da berufen habe, und diese Bücher, die schauen wirklich so aus, als wenn sie ein Jahrzehnt fortwäh­rend. beguckt worden wären und nachher durch den Staub gezogen worden wären. Da haben mich die Leute gefragt: Woher haben Sie denn diese Bücher entnommen? - Ja, sagte ich, ich habe ja so die Gewohnheit,

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manchmal bei Antiquaren zu schmökern und da lasse ich mir die entsprechenden Kataloge geben und sage, bitte, bringen Sie mir die Bücher an die und die Stelle heran. Und da habe ich allerlei Dinge gefunden, die einfach heute Vergessene sind, auch nicht wieder neu gedruckt werden, die einem aber den Beweis liefern, daß tatsächlich das Leben im Geiste in einem gewissen Maße verschüttet ist.

Sehen Sie, die Naturwissenschaft, die kann nicht in Phrase verfallen, aus einem sehr einfachen Grunde: sie ist an das Experiment, an die Beobachtung gebunden, sie ist als Experiment rein geistige Tatsache, ordnet sich in Gesetzmäßigkeiten ein. Aber sonst sind wir allmählich in ein Leben der Phrase hineingekommen. Und dieses Leben in der Phrase ist eine Begleiterscheinung der großen Einseitigkeiten der naturwissen­schaftlich-technischen Entwickelung. Dieses Leben in der Phrase ist es, dem man neben vielem anderen Unglücklichen in unserer Zeit auch dasjenige zuschreiben muß, was der Herr Vorredner angeführt hat. Das Kind hat nämlich durchaus ein imponderables Verhältnis zu den Erwachsenen. Die Erwachsenen mögen sich insbesondere in Parteiver­sammlungen mit Phrasen unterhalten, wenn man aber dem Kinde Phra­sen bietet, dann kann es nicht mit. Und was geschieht dann, wenn man dem Kinde Phrasen bietet, ganz gleichgültig, ob man eine religiöse oder naturwissenschaftliche oder aufklärerische Phrase bietet, was geschieht? Es geschieht dann dasjenige, daß die Seele keinen Inhalt bekommt. Denn die Phrase wird kein Inhalt der Seele. Und dann kommen aus den Untergründen die Instinkte. Und so wie heute im äußeren sozialen Leben im Osten, wo man begründen wollte im Leninismus, Trotzkiis­mus ein Reich der Phrase, denn es ist nur ein Reich der Phrase; wie, da diese Phrasen nicht schöpferisch sind, die wüstesten Instinkte aus den Untergründen herauskommen, so kommt auch bei der Jugend dasjenige heraus, was die Instinkte sind. Diese Instinkte sind gar nicht einmal immer krankhaft; sie beweisen uns aber einfach, daß das Alter nicht verstanden hat, in die Phrase Seele hineinzulegen. Im Grunde genommen ist unsere Jugendfrage heute schon in einem gewissen Sinne eine Alters-frage, eine Elternfrage. Wir stehen eben der Jugend, wir stehen dem Kinde zu stark so gegenüber, daß wir furchtbar gescheit sind und die Kinder die furchtbar dummen sind. Während derjenige oftmals der

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weiseste Mensch ist, der von einem Kinde am meisten lernen kann. Man steht dem Kinde in einer ganz anderen Weise gegenüber, wenn man ihm nicht phrasenhaft gegenübersteht. Und so wächst uns diejenige Jugend entgegen, der wir selber keine Seele entgegengebracht haben. Daß wir bei der Jugend selber nicht die Verirrungen suchen dürfen, das, meine sehr verehrten Anwesenden, zeigt uns in vieler Beziehung dennoch die kurze Zeit, in der die Waldorfschule wirkt.

Sie haben gesehen, die Waldorfschul-Pädagogik beruht ja vorzugs­weise auf der Lehrerfrage. Und ich muß gestehen, es liegt schon etwas in dem: jedesmal, wenn ich nach Stuttgart komme - leider nicht oft, ich kann die Schule ja eigentlich nur ganz sporadisch leiten und besuchen -, in jeder Klasse stelle ich, ohne daß ich dabei den Kindern langweilig werde, in irgendeinem Zusammenhang die Frage: Kinder, habt ihr eure Lehrer gern? - Sie sollten hören und sehen, wie die Kinder im Chorus begeistert antworten: Ja! - Und dieses Appellieren an dasjenige, was die Lehrer an Liebe den Kindern entgegenbringen können, es ist das, was schon hineingehört in das Verhalten der Alten gegen die Jugend. Und da kann ich auch sagen: wir haben die Schule gleich als eine vollständige Volksschule errichtet, so daß wir die volle Schulzeit die Kinder aus dem Elternhause bekommen. Ja, es konnte einem manchmal angst und bange werden, wenn man in die Schule hineinkam und nun, namentlich in den Zwischenstunden, diese Disziplin beobachten konnte. Leute, die mit dem Urteil schnell fertig sind, sagten: Da sieht man, was eine freie Waldorfschule ist; die Kinder werden ja alle undiszipliniert. Ja, sehen Sie, die Kinder sind zu uns gekommen aus den anderen Schulen; die waren mit dem, was man eiserne Strenge nennt, erzogen. Jetzt sind ja die Kinder schon viel ruhiger, aber als sie zu uns gekommen sind, noch die eiserne Strenge in sich hatten, da waren sie schon wirklich richtige Rangen. Brav waren eigentlich nur die Kinder der ersten Klasse, die direkt vom Elternhaus kamen; aber das auch nicht immer. Aber jedesmal wenn ich hinkomme, bemerke ich einen Fortschritt gerade in der Disziplin. Und jetzt, nach etwas mehr als zwei Jahren, kann man die große Umwandlung sehen. Die Kinder werden ganz gewiß keine Muk­ker, werden aber einfach dadurch, daß sie wissen, sie können sich an ihre Lehrer vertrauensvoll wenden, wenn das oder jenes passiert ist, sie

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werden in dieser oder jener Weise behandelt, man geht ein auf das oder jenes bei ihnen, sie werden zutraulich, sie wandeln sich auch, sie werden nicht muckerig, sie sind laut und alles mögliche; aber dasjenige, was man an Disziplin fordern kann, das entwickelt sich allmählich. Und es entwickelt sich auch dasjenige, was ich im Vortrage selbstverständliches Autoritätsgefühl genannt habe.

Es ist wirklich wunderschön, wenn man zum Beispiel hört: da ist ein Schüler in die Waldorfschule gekommen, er war bereits vierzehn Jahre alt, war in der höchsten Klasse und kam eigentlich als ein recht unbefrie­digter Junge herein. Er konnte nicht mehr an seine alte Schule glauben, aber natürlich in ein paar Tagen bietet einem auch eine neue Schule nichts. Die Schule ist ein Ganzes, und wenn man aus einem Gemälde ein Stück herausschneidet, so kann man ja danach doch nicht das ganze Gemälde beurteilen. Die Leute glauben zum Beispiel, die Schule zu kennen, wenn sie sie auf ein bis zwei Tage besuchen. Das ist ein Unsinn; man lernt nicht die anthroposophische Methode kennen, wenn man von ihr ein Stückchen herausnimmt: man muß den ganzen Geist kennen. So war es natürlich auch für den Jungen, der da hineinkam, daß von dem, was ihm in den ersten Tagen entgegentrat, ihn nicht gleich irgend etwas befriedigte, besonders nachdem er unbefriedigt herangekommen ist. Da stellte sich nun aber nach einiger Zeit heraus, daß er zu seinem Geschichtslehrer gegangen ist, er hat sich an ihn gewendet, weil der ihm furchtbar imponierte - und er hat ihm nun sein Leid geklagt. Nachher war er wie umgewandelt. Solches ist nur durch dieses selbstverständliche Autoritätsverhältnis möglich. Sehen Sie, das sind die Dinge, die dann durchaus deutlich zutage treten, wenn das, was ich hier meinte unter «selbstverständlicher Autorität» durch die Qualitäten der Lehrer wirk­lich bewirkt wird. Ich glaube nicht, daß es verfrüht ist, wenn ich sage: aus der Jugend, die durch die Waldorfschule geht, wird jener Geist nicht sprechen, den der Herr Vorredner vorhin angedeutet hat. Es handelt sich schon darum, daß die Lehrer die sind, die in erster Linie das Unberech­tigte dieses Jugenddranges wiederum in die richtigen Bahnen leiten müssen.

Nun, wir haben in der Waldorfschule in anderer Weise, als man das gewöhnlich so gewohnt ist, die Lehrerkonferenzen. In den Lehrerkonferenzen

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wird eigentlich jedes einzelne Kind behandelt, aber in psycholo­gischer Weise. Und wir alle haben in den zwei Jahren Waldorfschul­Pädagogik außerordentlich viel gelernt. Es ist tatsächlich ein lebendiger Organismus, dieses Lehren und Erziehen und Unterrichten.

Wir hätten ja gar nicht die Möglichkeit gehabt unsere Waldorfschule zu begründen, wenn wir nicht auf gewisse Kompromisse eingegangen wären. Ich habe daher gleich beim Beginn der Waldorfschule für das Ministerium ein Memorandum ausgearbeitet, worinnen ich gesagt habe:

Wir verpflichten uns, die Kinder mit dem neunten Jahre so weit zu haben, daß sie in jede andere Schule übertreten können; dann wiederum mit dem zwölften Jahr und wiederum mit dem vierzehnten Jahr. Aber in der Zwischenzeit wollen wir für die Methodik vollkommene Freiheit haben. Das ist zwar ein Kompromiß, aber man muß eben mit dem Gegebenen rechnen. Dennoch aber, in gewissen Dingen konnten wir das durchführen, was einfach für eine gesunde Pädagogik und Didaktik selbstverständlich ist: das ist zum Beispiel das Zeugniswesen. Sehen Sie, ich habe es ja in meiner Jugend auch erfahren, daß dasteht im Zeugnis:

«fast lobenswert», «kaum befriedigend» und so weiter. Aber ich bin nie darauf gekommen, durch welche Weisheit die Herren Lehrer darauf kamen, von «kaum befriedigend» ein «fast befriedigend» zu unterschei­den, das ist mir bis jetzt nicht aufgegangen. Entschuldigen Sie, aber es ist so. Statt solcher Zensuren stellen wir Zeugnisse aus, welche in den Worten, die dem Lehrer vom Schnabel gewachsen sind, gegenüber dem Kinde sich aussprechen, die keine Zahlen haben und dadurch Phrase sind gegenüber dem Kinde. Denn wenn etwas keinen Sinn hat, so ist es eben Phrase. Wenn das Kind langsam in das Leben hineinwächst, so schreibt der Lehrer in das Zeugnis dasjenige auf, was für das Kind speziell notwendig ist; so daß für jedes Kind etwas anderes dasteht - eine Art Charakteristik des Kindes. Und dann geben wir jedem Kinde, wenn das Schuljahr aus ist, einen Spruch mit, der ihm entspricht. Nun nimmt es allerdings etwas Zeit, bis jedes Kind in der Weise sein Zeugnis bekommt. Das Kind nimmt es in die Hand, hat einen Spiegel vor sich. Ich habe bisher noch kein Kind gefunden, das nicht mit Interesse sein Zeugnis in die Hand genommen hätte, selbst wenn nicht alles besonders gelobt wurde. Und besonders der Geleitspruch ist etwas, was dann dem Kinde

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etwas sein kann. Sehen Sie, man muß alle Mittel anwenden, um dann bei den Kindern die Empfindung hervorzurufen, daß diejenigen, die sie leiten und erziehen, in ernsthafter Weise, nicht einseitig, sondern so, daß ein unmittelbares Interesse da ist für das Kind, die Zeugnisse ausstellen. Also es liegt schon viel an dem, daß unsere Kultur, unsere Phrasenkul­tur, allmählich aus dem Alten sich herausentwickle, und daß, indem die Jugend heranwächst, man ihr das richtige Verständnis entgegen-bringt. Ich weiß auch natürlich, daß das mit gewissen Kräften der Volks-psychologie zusammenhängt; allein, die zu meistern ist nämlich noch schwieriger.

Bei keinem der verschiedenen Kongresse, die wir in letzter Zeit gehabt haben, hat eigentlich gefehlt - Sie mögen erstaunt sein - eine gewisse Anzahl von dieser oder jener Gruppe aus der Jugendbewegung. Es kamen immer eine gewisse Anzahl derjenigen Leute, die man «Wander­vögel» und so weiter nennt. Die kamen alle zu uns, und ich habe mir nie ein Blatt vor den Mund genommen. Aber die Leute sahen, ich spreche zu ihnen nicht Phrasen; ich spreche zu ihnen dasjenige, auch wenn es etwas ganz anderes ist, als sie sich in ihren träumenden Köpfen zurechtgelegt haben, was nun eben auch aus dem Herzen kommt, ihr Wirklichkeits-wert kommt aus dem Herzen. Und vor allen Dingen bei unserem letzten Stuttgarter Kongreß, wo wiederum eine Anzahl Leute aus dieser Jugendbewegung da waren, die sonst nun wirlich nicht darauf aus sind, auf irgendeine Autorität etwas zu geben, Leute die da sagen: Es muß alles aus dem Inneren heraus wachsen, von selber wachsen und so weiter, da ließen sie sich nicht dreinreden -, bei dem letzten Kongreß in Stuttgart wurde einstimmig beschlossen, sogar eine anthroposophische Jugendgruppe zu gründen, nachdem man eineinhalb oder zwei Stunden konferiert hatte.

Es handelt sich tatsächlich darum, wie die Alten der Jugend entgegen­kommen. Ich kann nicht anders als aus einer Erfahrung heraus, die sich mir aber in zahlreichen Fällen bestätigt hat, auseinandersetzen, daß ich eben darauf hinweise: die Jugendfrage von heute ist vielfach eine Alten-frage. Wir werden vielleicht die Frage der Jugendbewegung am besten beantworten, wenn wir weniger auf die Jugend schauen, sondern eiij bißchen in uns selber hinein.

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X: Es sei einem Jungen erlaubt, zu sprechen. Man möge mir verzeihen, wenn ich vielleicht ein starkes Wort gebrauche: Wir haben sozusagen keine Autoritäten mehr, wir Jungen. Und warum? Weil sie unsere Eltern auch nicht haben. Wenn wir mit Eltern reden oder auch mit älteren Menschen, so finden wir immer aus ihren Worten heraus, daß sie keine Ehrfurcht vor den Menschen haben, daß sie immer an einer Kleinigkeit herumkriti­sieren und daß sie sozusagen sich selber damit in ein schlechtes Licht setzen. Wir Jungen haben überhaupt von unseren Erziehern den Eindruck, daß sie manchmal wandelnde Kompromisse geworden seien und daß sie sich nicht entscheiden, auf eine bestimmte Seite zu stehen und aus ihrem vollsten Herzen heraus zu sagen: Ich meine es so und ich stehe dazu. - Man weiß nie recht, geht es auf die eine Seite oder auf die andere Seite hinaus. Und immer haben wir dann dieses Gefühl von unseren Eltern oder Erziehern, daß sie eigentlich die Jugend nicht charakterisieren wollen, sondern beurteilen und bekritteln. Wenn ich daran denke, wie wir in unserem Jugendltreise miteinander arbeiten und was uns für Dinge in die Hände kommen - ich werde nun zwei ganz charakteristische Dinge herausgreifen: wir haben einmal miteinander Blüchner und Morgenstern gelesen; Da muß man sich nur diese Gegensätze vorstellen. Und so kommt es alle Tage; bei uns stürzen sich die Dinge auf uns los, und es ist nirgendwo ein Mittelpunitt, an den wir uns halten können. Es steht gar nirgends, wenn es auch kein Gedanke wäre, so doch ein Mensch, ein wirMich lebender Mensch da. Wie kann man denn unterrichten, wenn nicht sozusagen hinter den Dingen ein lebender Mensch steht, dem man es anfühlt, wenn er doziert... Dann wären wir von der Sache begeistert. Aber solange unsere Erzieher uns nicht entgegentreten als Mensch, der sich vor uns nicht scheut sich selber auszulachen, so können wir einfach nicht das nötige Vertrauen zu ihm haben. Wir Jungen, ich kann das aus eigener Überzeugung sagen, suchen nach einer Autorität. Wir suchen einen Miuelpunkt, einen Haltepunkt, an dem wir uns hochranken können und an dem wir in ein Leben hineinwachsen können, das ein wirltliches Innenleben ist. Und darum stürzt sich unsere Jugend auf alles Neue, das erscheint; sie hofft, sie werde einmal etwas erhaschen, das ihr etwas sein könne. Aber wenn sie etwas erhascht, so ist es nur eine große Wirrnis von Meinungen, Ansichten, von Urteilen, die keine Urteile sind, sondern höchstens ein Aburteilen.

Wenn ich dem ersten Redner etwas sagen darf: Er hat nach einem Buch gefragt, wonnnen man lesen könne, warum es bei der Jugend so sei. Nein, sage ich Ihnen, lesen Sie uns selber! Aber wenn man mit jungen Menschen sprechen will, muß man als lebendiger Mensch vor sie hintreten und aus sich herausgehen. Dann wird der junge Mensch auch aus sich herausgehen. Und dann wird dem jungen Menschen klar sein, was der ältere will und dem älteren, was der junge Mensch will.

Y: Ich möchte hier als Lehrer Herrn Dr. Steiner fragen, ob er denn nicht glaubt, was dei erste diskutierende Redner angeregt hat, daß ein besonderer Geist doch in der heutigen Jugend lebt, etwa in größeren Städten, dem vielleicht ein durchaus menschlich eingestellter Lehrer nicht mehr in dem Maße gerecht wird, als derselbe Lehrer vielleicht vor fünfzig Jahren hätte gerecht werden können. Der Fehler ist mit vollem Recht bei den Alten gesucht worden; aber die Tatsache ist jedenfalls nicht ganz wegzudiskutieren, daß die heutige Jugend, die soziale Jugend, doch aus Elementen zusammengesetzt ist, in denen ein Geist des Skeptizismus lebt, daß vielleicht ein so eingestellter Lehrer, wie Herr Dr. Steiner, sich nicht vorstellt, wie man mit großem Dünkel einem entgegenkommt und daß in die Jugend

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hinein soziale Widersprüche rücken, daß vielleicht bei den Jungen zum Teil durch die sozialdemokratisch imprägnierten Gedanken falsche Vorstellungen hervorgerufen werden von Unabhängigkeitsdrang und dergleichen, die auch einem Lehrer, der unbefangen der Jugend gegenüberrriu, ein Wirken erschweren oder verunmöglichen, das ihm vielleicht einige Zeit vorher noch beschieden gewesen wäre. Es sah in der Antwort des Herrn Dr. Steiner so aus, als ob diese ganzen Aktionen gerade der Jugend, einfach Antworten auf Mängel der Lehrer seien. Gewiß, wir unterliegen vielleicht in einem größeren Prozentsatz diesen Mängeln, aber sind es alle Lehrer? Das ist die Frage. Und werden diese Wenigen, die von diesen Mängeln doch nicht in dem Maße behaftet sind, nicht auch konstatieren müssen, daß eine andere Jugend da ist, daß es schwieriger ist, daß ein Unglaube und Skeptizismus unter den Schülern waltet und dem Lehrer das Arbeiten erschwert?

Dr. Steiner; Ja, wenn man die Frage so stellt, kommt man keinen Schritt weiter. So ist es ganz unfruchtbar von vornherein. Es kann sich durchaus nicht darum handeln, zu konstatieren, daß die Jugend eine andere geworden ist und daß vielleicht es vor fünfzig Jahren leichter war mit der Jugend, sondern es handelt sich wirklich nur darum, die Mittel und Wege zu finden, wie wir heute eben gerade mit der Jugend fertig werden. Und schließlich, die Jugend wächst uns entgegen. Es hat auch nicht sehr viel Fruchtbares an sich, davon zu sprechen, daß sie durch sozialdemokratische Vorurteile und dergleichen zu einem Skeptizismus geführt wird. Das ist ebenso unfruchtbar, als wenn man ein Naturpro­dukt, das in einer gewissen Weise wächst - und das tut ja die Jugend auch, sie wächst uns wie ein Naturprodukt entgegen -, wenn man nun dieses Naturprodukt kritisiert, statt darüber Gedanken sich zu machen, wie man es in der besten Weise zu behandeln hat. Also es kann sich wirklich, wenn man die Frage auf einen fruchtbaren Boden bringen will, nur darum handeln, wie man sich heute der Jugend gegenüberstellt. Das wird unter allen Umständen nicht beantwortet, wenn man gewisserma­ßen wie eine fatalistisch zu nehmende Tatsache hinstellt, daß nun schon einmal die Jugend eben anders geworden ist, als sie vor fünfzig oder mehr Jahren war. Sie ist anders geworden! Und wenn man das Leben verfolgt hat, so wird man sehen, wie auch dieses Anders-Werden durch­aus eine Art von Zunahme darstellt, eine Art von Umwandlung ins Größere. Ich mache darauf aufmerksam, wie es zum Beispiel in der Dichtung gequirlt hat; man lese oder sehe sich solche Dinge an. Es werden ja manchmal noch solche Dinge aufgeführt, sagen wir, dramati­sche Dichtungen aus den achtziger Jahren, wo das Verhältnis der

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jüngeren zur älteren Generation geschildert wird; da wird man sehen, daß dasjenige, was da ist, schon durch die Jahrhunderte hindurch vorhanden war und dazumal schon wie eine Katastrophe empfunden wurde. Dagegen ist das von heute das reine Kinderspiel. Aber wie gesagt, mit dem bloßen Konstatieren kommt man nicht weiter. Überall handelt es sich darum, wie man wiederum zur Autorität kommt, das den einzelnen Menschen gibt, was sie befähigt, als Lehrer, als Erzieher, sich in einer richtigen Weise zur Jugend stellen zu können. Das beweist meiner Meinung nach nichts dagegen, daß es im allgemeinen doch richtig ist, daß die Jugend im ganzen heute bei den Alten eben nicht den Anhaltspunkt für eine wirkliche Autorität findet, daß die Jugend heute bei den Alten mehr als das in älteren Zeiten noch der Fall war, auch in der hinter uns liegenden Zeit, Kompromisse und dergleichen findet. Das tritt uns ja sogar in den großen Weltereignissen entgegen, daß man überall nach Kompromissen strebt und daß daher einfach die Frage zu beantworten ist, auch im großen Stile: Wie gewinnen wir wiederum die Autorität? Ich muß sagen, ich weiß auch, daß es solche Lehrer, tüchtige Menschen gibt, wie diejenigen sind, die Sie erwähnt haben. Aber bei denen ist in der Regel auch die Jugend anders. Wer unterscheiden kann, der kann schon merken, daß da auch die Jugend anders ist.

Also man sollte nicht mit zu stark hypothetisch gefärbten Urteilen nach dieser Richtung kommen, sondern sich durchaus klar darüber sein, daß schließlich diejenige Art, wie die Jugend iSt, doch im großen und ganzen beim Alter zu suchen ist. Meine Bemerkungen gingen auch nicht darauf hin, für die Fehler der Jugend gerade die Lehrer der Jugend allein als Alte verantwortlich zu machen. Man ist ja sehr versucht, darauf hinzuweisen, wie eigentlich dieser Mangel an Autorität heute wirklich in der furchtbarsten Weise gerade da sich geltend macht, wo unsere histori­schen Ereignisse sich abspielen. Bedenken Sie gewisse Momente wäh­rend der Kriegskatastrophe: die Leute haben nach Ersatz gesucht für ältere, führende Leute. Welche Leute hat man denn gefunden? In Frankreich Clemenceau, in Deutschland Hertling - alles alte Leute urältester Sorte, die nur dadurch, daß sie einmal bedeutend waren, noch als Autoritäten dastehen, nicht Leute, die unmittelbar aus der Gegenwart heraus sich ihren Standpunkt zu fixieren wußten. Und jetzt? Wir haben

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es vor kurzem erlebt: drei Ministerpräsidenten in wichtigen Ländern haben ihre Stellungen erschüttert gehabt. Alle drei stehen heute auf ihren Posten deshalb, weil man keine anderen Autoritäten gefunden hat, aus keinem anderen Grunde! So haben wir heute selbst in den großen Lebenserscheinungen die Tatsache, daß die Autorität gerade bei den Leuten, die das Leben führen sollten, untergraben ist. Das hat nicht die Jugend gemacht auf diesem Gebiete; aber daran erschüttert sich der Autoritätsglaube der Jugend sehr stark, wenn so etwas auf die Jugend wirkt, wenn die Jugend so etwas miterlebt.

Also man muß diese Frage schon tiefer und vor allen Dingen fruchtba­rer anfassen, und sich darüber klar sein, daß wir nicht jammern brauchen über die Art, wie uns die Jugend jetzt entgegentritt, sondern wir sollen vor allen Dingen daran denken, wie wir der Jugend gegenüber wieder aufkommen. Also etwa unter sie zu treten und bloß anfangen zu jammern: Kinder, ihr seid mir zu schlecht, ich erreiche mit euch nichts, ich kann nichts mehr mit euch anfangen -, das ist unfruchtbar. Frucht­bare Entwickelung muß sich bemühen, vor allen Dingen dasjenige Geistesleben und das Leben im allgemeinen zu suchen, das die Möglich­keit gibt, daß die Jugend wiederum zum Glauben an die Alten gebracht werden kann. Wer die Jugend kennt, der weiß: die Jugend findet sich beglückt, wenn sie an die Alten glauben kann. Sie findet sich tatsächlich beglückt, der Skeptizismus hört bald auf, wenn irgend etwas Richtiges da ist, woran die jungen Leute glauben können. Im allgemeinen ist das noch nicht so, daß nur Richtiges das Leben beherrscht. Aber im allge­meinen ist es doch so, daß wenn die Leute etwas sagen, was tatsächlich einen inneren Gehalt hat, dann werden die Jungen dennoch angezogen. Wenn man daran nicht mehr glauben könnte, wenn man das ganze Leben an den Mängeln der Menschen herumjammert und nur darüber redet, dann wird nichts erreicht werden.

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ERZIEHUNGS- UND UNTERRICHTSMETRODEN AUF ANTHROPOSOPHISCHER GRUNDLAGE Erster Vortrag Kristiania (Oslo) 23. November 1921

Meine sehr verehrten Anwesenden! Zuerst darf ich dem Herrn Rektor und Ihnen, meine sehr verehrten Anwesenden, für Ihre freundliche Begrüßung auf das herzlichste danken. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, wenn auch in einer Ihnen nicht geläufigen Sprache, mich doch hier verständlich zu machen. Ich muß um Entschuldigung bitten, daß es mir nicht möglich ist, in Ihrer Sprache die folgenden Auseinandersetzungen zu Ihnen zu sprechen.

Dasjenige, was im Thema des heutigen und des morgigen Abends liegt, soll eine Darstellung sein von Erziehungs- und Unterrichtsmetho­den auf anthroposophischer Grundlage. Ich bitte Sie, von vornherein nicht zu glauben, daß Anthroposophie auf den verschiedensten Gebieten des Lebens, auf denen sie fruchtbar sein will, irgend etwas radikal Umstürzlerisches anstreben wolle; weder auf dem Gebiete der Wissenschaft noch auf den verschiedensten Gebieten des Lebens will sie das. Im Gegenteil, sie will eine wirkliche Fortsetzung, eine wirkliche Erfüllerin desjenigen sein, was in der Geisteskultur der neueren Menschheit seit langem vorbereitet ist.

Nur ist sie gezwungen, durch ihre Gesichtspunkte, durch dasjenige, was sie glaubt an Erkenntnissen und Einsichten in das Leben und in das Weltall zu haben, auf etwas anderem Wege gerade die Fortsetzung und Erfüllung des wissenschaftlichen Denkens und des praktischen Wirkens suchen zu müssen, als das oftmals heute geschieht. Wenn daher Anthro­posophie auch in manche Gegnerschaft gerät gegen diesen oder jenen Vertreter des heutigen Zeitgeistes, so will sie ihrerseits nicht einen Kampf gegen diesen Zeitgeist, nicht einen Kampf gegen die Errungen­schaften der modernen Zivilisation, sondern sie will gerade dasjenige, was an großen, bedeutsamen Grundlagen in dieser modernen Zivilisa­tion enthalten ist, zu einem fruchtbaren Ziele hinführen.

Das gilt ganz besonders auf pädagogischem Gebiete. Auf pädagogischem

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Gebiete gab es für mich nicht eine Veranlassung, Eingehenderes zu veröffentlichen außer meiner kleinen Schrift über «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft», die schon vor Jahren erschienen ist, bis durch Emil Mok in Stuttgart die Waldorfschule gegründet worden ist.

Durch die Gründung dieser Waldorfschule wurde gewissermaßen herausgefordert dasjenige, was Anthroposophie in pädagogischer und didaktischer Beziehung zu sagen hat. Die Freie Waldorfschule in Stutt­gart ist hervorgegangen aus jenen Sehnsuchten, die nach der vorläufigen Beendigung der Kriegskatastrophe in den verschiedensten Gebieten Mitteleuropas vorhanden waren.

Unter den vielen Dingen, die man sich da sagte, war auch dieses: Die bedeutsamste vielleicht der sozialen Fragen ist die Erziehungs-, ist die Unterrichtsfrage. Und aus rein praktischen Erwägungen heraus begrün­dete Emil Molt zunächst mit den Kindern der Arbeiter seiner Unterneh­mung, der Waldorf-Astoria-Fabrik, diese Freie Waldorfschule.

Zunächst hatten wir nur Kinder aus der Moltschen Fabrik. Seit zwei Jahren kamen zu diesen Kindern von allen Seiten andere hinzu, so daß die Freie Waldorfschule in Stuttgart heute wirklich eine echte Einheits­schule ist, in der Kinder aller Bevölkerungsklassen und Bevölkerungs-stände sitzen, und für die fruchtbar gemacht werden soll, was auf anthroposophischer Grundlage in pädagogisch-didaktischer Weise auf­zubauen ist. Nicht umstürzlerisch, sondern fortentwickelnd will Anthroposophie gerade auf diesem Gebiete sein.

Man braucht nur aufmerksam zu machen darauf, wie ja große Pädago­gen im 19. Jahrhundert bis in das 20. herein gewirkt haben, und wie man eigentlich gerade, wenn man es ernst meint mit der Jugenderziehung, innerlich enthusiasmiert sein kann für die gewaltigen, die umfassenden Grundsätze und Maximen, die in der neueren Zeit durch große Pädago­gen gekommen sind. Aber trotz alledem gibt es immer akute Erzie­hungsfragen. Man kann sagen: Kein Jahr geht eigentlich vorüber, ohne daß die oder jene Sehnsucht nach einer Reform des Erziehungswesens, des Unterrichts aufträte.

Woran liegt dieses, daß man auf der einen Seite aufjauchzen möchte innerlich, wenn man sich hingibt den einleuchtenden Erziehungsmaxi­men

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der großen neueren Pädagogen, und daß auf der anderen Seite immer wiederum ein gewisses Unbefriedigendes zutage tritt gegenüber, sagen wir, der Erziehungs- und Unterrichtspraxis?

Lassen Sie mich nur auf das eine Konkrete aufmerksam machen:

Pestalozzi hat einen Weltruf, und er gehört ganz gewiß zu den eben erwähnten großen Pädagogen der neueren Zeit. Dennoch, in scharfer Weise haben Denker, zum Beispiel von der Qualität Herbert Spencers, ausdrücklich hervorgehoben, daß man einverstanden sein kann mit den großen Maximen Pestalozzis, daß aber die Praxis der Pestalozzischen Erziehungs- und Unterrichtsmethode keineswegs die großen Erwartun­gen erfüllt habe, die an sie geknüpft worden sind. Was dann Herbert Spencer daran knüpft, ist dies, daß er sagt: Die Grundsätze Pestalozzis sind gut, sind hervorragend, aber, so meinte er vor Jahrzehnten, man ist heute noch nicht in der Lage, dasjenige, was da im Allgemeinen, im Abstrakten gefordert wird für Unterricht und Erziehung, auch im Einzelnen anzuwenden.

Sehen Sie, meine sehr verehrten Anwesenden, neue Maximen, neue Unterrichtsprinzipien will Anthroposophie gar nicht aufstellen. Dasje­nige, um was es sich für sie handelt, ist gerade die Erziehungspraxis. Und wie aus der Lebenspraxis heraus die Waldorfschule gewachsen ist, so ist dasjenige, was an anthroposophischer Pädagogik und Didaktik heute vorhanden ist, nicht aus einer Theorie, nicht aus irgendwelchen abstrak­ten Prinzipien, sondern aus der Praxis der Menschenbehandlung heraus gewachsen. Anthroposophie glaubt gerade in bezug auf diese praktische Menschenbehandlung, insbesondere die Kinderbehandlung, von ihrer Seite aus ganz Besonderes eben leisten zu können. Worauf beruht diese Anthroposophie als solche?

Sie wird heute vielfach angefeindet; man kann nicht sagen, aus großem Verständnis heraus, sondern aus vielen Mißverständnissen heraus. Der­jenige, der in der Anthroposophie drinnensteht, kann diese Angriffe, diese Gegnerschaften völlig begreifen. Denn der neuere Mensch glaubt, aus naturwissenschaftlichen Untergründen heraus, aus allerlei kulturhi­storischen Ergebnissen heraus zu einer Art einheitlicher Weltanschau­ung gekommen zu sein. Anthroposophie mutet nun dem Menschen der Gegenwart zu, über sich selbst scheinbar ganz anders zu denken, als man

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vor der neueren Naturwissenschaft etwa verantworten kann. Es ist das alles nur scheinbar, aber man glaubt zunächst, daß man die anthroposo­phischen Erkenntnisse vor der neueren Naturwissenschaft nicht verant­worten könne.

Es wird ja heute, und zwar aus guten Untergründen heraus, am Menschen im Grunde genommen wirklich studiert nach den exakten, wunderbaren Methoden der neueren Naturwissenschaft dasjenige, was an ihm physisch-leiblich ist. Und das Seelische, es wird zwar nicht überall geleugnet, im Gegenteil, die Leute, welche das Seelische leugnen, welche von einer «Psychologie ohne Seele» sprechen, wie es ja eine Zeitlang üblich war, diese Leute sind ja sogar schon selten geworden. Aber es wird dieses Seelische durchaus nur so betrachtet, daß man das Leibliche untersucht und in diesen oder jenen Äußerungen des Leibli­chen nun das Seelische erraten will. Aus solchen Voraussetzungen heraus ist keine Erziehungs-, keine Unterrichtspraxis bei noch so schönen Maximen und Prinzipien zu gewinnen.

Herbert Spencer bedauert es daher außerordentlich, daß die neuere Pädagogik einer eigentlichen Psychologie entbehre. Aber Psychologie kann aus der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung im Ernste doch nicht herauswachsen. Anthroposophie nun glaubt, eine wirkliche Psychologie, eine wirkliche Seelenkunde begründen zu kön­nen; eine Seelenkunde, die allerdings in ganz anderer Weise gehandhabt werden muß, als das heute auch in psychologischer Forschung vielfach geschieht.

Man kann sich leicht lustig machen darüber, daß der Anthroposoph nicht nur von dem physischen Leib des Menschen spricht, sondern von allerlei anderen, übersinnlichen Wesensgliedern des Menschen. Man hat oftmals die Vorstellung, in der Anthroposophie sei nur ausgedacht oder aus irgendwelchen Phantasmen oder Visionen oder Illusionen heraus von einem Atherleib - ich nenne ihn auch Bildekräfteleib - gesprochen. Dasjenige, was Anthroposophie in dieser Richtung zunächst behauptet, das ist, daß der Mensch nicht nur einen physischen Leib habe, welcher mit physischen Augen gesehen werden kann, der untersucht werden kann nach den klinischen Methoden, dessen Gesetze der kombinierende Verstand erkennen kann, sondern daß der Mensch einen ätherischen,

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einen Bildekräfte-, einen feineren Leib habe, und außer diesem Ätherleib noch höhere Glieder. Wir sprechen in der Anthroposophie von einem astralischen Leib, und wir sprechen von einem besonderen Wesensgliede des Menschen, das sich für das menschliche Bewußtsein zusammenfaßt in dem einzigen Punkte des Erkennens, der in dem Worte Ich sich ausdrückt.

Es scheint zunächst nicht viel Berechtigung zu haben, von diesen höheren Wesensgliedern des Menschen zu sprechen; aber ich möchte heute einleitungsweise zunächst auf die Art und Weise aufmerksam machen, wie in der wirklichen Lebenspraxis, die wir nun auch der Pädagogik zugrunde legen, Anthroposophie zum Beispiel vom ätheri­schen Leibe spricht.

Dieser ätherische Leib ist nicht eine Nebelwolke, die in den physi­schen Leib eingegliedert ist und vielleicht über ihn da oder dort etwas heraus ragt. Man kann sie zunächst bildhaft so darstellen, diese ätherische Menschenwesenheit; aber in Wirklichkeit tritt sie demjenigen, der sich anthroposophischer Methoden bedient, in ganz anderer Art entgegen. Sie ist zunächst nur eine Art Regulativ, das hinweist auf dasjenige, was nun im Menschen nicht nur räumlich organisch, sondern zeitlich orga­nisch ist.

Wenn wir den Menschen nach heutiger naturwissenschaftlicher Methode zunächst physisch-leiblich studieren, wissen wir, wie irgendein Wesensglied, zum Beispiel die Leber oder der Magen oder das Herz nicht bloß für sich studiert werden können, sonderii im Zusammenhange mit dem ganzen Organismus. Wir können nicht verstehen, sagen wir, gewisse Gebiete des menschlichen Gehirnes, ohne daß wir ihre Zuord­nung kennen, zum Beispiel zu der Leber, dem Magen und so weiter, durch die sie ihre Ernährung geregelt erhalten. Wir betrachten den räumlichen Organismus als etwas in sich Zusammengeordnetes, als etwas, dessen einzelne Glieder in Wechselwirkung stehen.

So betrachtet Anthroposophie dasjenige, was sie den menschlichen ätherischen Leib nennt, dem sie zunächst ein zeitliches Dasein zuschrei­ben muß, nicht als ein räumliches, wie es der physische Leib, der physische Körper des Menschen hat. Dasjenige, was in dieser Beziehung Ätherleib des Menschen genannt wird, es offenbart sich zunächst, indem

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der Mensch geboren, sagen wir sogar, indem der Mensch konzipiert, indem er empfangen wird; es entwickelt sich bis hin zu dem Tode des Menschen.

Wir wollen heute absehen davon, daß der Mensch nun auch frühzei­tig sterben kann; wir wollen heute auf das normale Lebensverhältnis des Menschen sehen und wollen uns sagen, daß dieser ätherische Leib nun eben sich entwickelt bis zum normalen Alterstode des Menschen hin.

In dem, was sich da entwickelt, sieht derjenige, der den Menschen anthroposophisch betrachtet, durchaus ein Ganzes. Und so wie der räumliche Leib des Menschen in Glieder zerfällt, in das Haupt als den Träger des Gehirnes, in die Brustorgane als die Träger der Sprachorgane, der Atmungsorgane und so weiter, so zerfällt dasjenige, was in der Zeit sich als ätherische Organisation darstellt, in aufeinanderfolgende Lebensepochen. Wir gliedern diesen Ätherleib des Menschen, der, wie gesagt, im zeitlichen Laufe beobachtet werden muß, nicht in einer räumlichen gegenwärtigen Abgeschlossenheit, wir betrachten diesen Ätherleib so, daß wir zunächst dasjenige Glied ins Auge fassen, das etwa von der Geburt bis zum Zahnwechsel hin sich entwickelt. Wir sehen dann ein wichtiges Glied dieses Ätherleibes, geradeso wie wir eben den physischen Leib, das Haupt oder die Lunge sehen, wir sehen am Ätherleib dann das zweite Glied vom Zahnwechsel bis zur Geschlechts-reife, und sehen dann, wenn auch weniger deutlich voneinander geschie­den, auch noch im folgenden Leben des Menschen Lebensabschnitte. So zum Beispiel beginnt mit dem zwanzigsten Jahre eine ganz andere Art, wenn auch nicht scharf geschieden von der früheren, eine ganz andere Art des seelisch-leiblichen Lebens, als das früher vorhanden war. Aber geradeso wie zum Beispiel gewisse Kopfschmerzen von dem menschli­chen Magen oder der menschlichen Leber konstatiert werden können, so kann auch konstatiert werden, daß gewisse Vorgänge in den Zwanziger Jahren oder in viel späteren Lebensaltern organisch zusainmenhängen mit demjenigen, was beim Kinde sich entwickelt von der Geburt bis zum Zahnwechsel.

So wie man hinaufwirken sehen kann die Prozesse der Verdauungsor­gane in die Prozesse des Gehirnes, so kann man hinüberwirken sehen

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dasjenige, was sich im kindlichen Lebensalter bis zum Zahnwechsel um das siebente Jahr herum entwickelt, in die spätesten Lebensalter des Menschen.

Wir beobachten nun, wenn wir Psychologie, Seelenkunde treiben, eigentlich immer das Gegenwärtige des Seelenlebens. Wir sagen uns, das Kind hat diese oder jene Eigentürrilichkeiten in bezug auf Auffassungs­gabe, Gedächtnis und so weiter. Derjenige, der Anthroposophie stu­diert, frägt nicht nur, obwohl er das durchaus nicht vernachlässigt: Was geschieht in dem Kinde, sagen wir im neunten Lebensjahre, mit Erinne­rungskraft, mit Fassungskraft, mit Verstandeskraft? und so weiter, sondern er sagt: Wenn das Kind meinetwillen im neunten Lebensjahre diesen oder jenen Einfluß erfährt, wie tritt dieser Einfluß nun in die Untergründe des ganzen ätherisch-seelischen Lebens, und wie kann er später wiederum erscheinen? - Ich möchte Sie zunächst einmal aufmerk­sam machen darauf, wie das im einzelnen gedacht wird, an einem konkreten Beispiel.

Wir können einem Kinde im zarten Lebensalter durch unser pädago­gisch-didaktisches Verhalten beibringen das Gefühl der Ehrerbietung, das Gefühl der Achtung gegenüber demjenigen, was einem in der Welt als erhaben entgegentritt. Man kann das Kind dann überführen in bezug auf dieses Gefühl bis zum religiösen Empfinden, bis zu jenem Empfin­den, durch das das Kind beten lernt.

Ich will absichtlich ein radikales Beispiel aus der moralischen Kindes-verfassung vorbringen. Nehmen wir also an, wir bringen so recht innerlich ein Kind dahin, daß es seine Seelenverfassung ausfließen lassen kann in ein ehrliches Gebet. Das bemächtigt sich des Kindes, das tritt dann in die Untergründe des Bewußtseins. Und für denjenigen, der nun nicht bloß die seelische Gegenwart eines Menschen beobachtet, sondern den ganzen seelischen Organismus, wie er sich bis zum Tode hin entwickelt, der wird finden, daß dasjenige, was da in der betenden Ehrfurcht beim Kinde zutage tritt, nun untertaucht, in der maimigfaltig­sten Weise im seelischen Leben sich metamorphosiert, verwandelt. Aber in einem bestimmten Alter, vielleicht erst im Beginne der Dreißigerjahre, der Vierzigerjahre, tritt dasjenige, was erst Hingabe im Gebete im zarten Kindesalter war, dadurch zutage, daß die Seele jene innere Kraft

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bekommt, durch die ihre Worte für andere Menschen, namentlich aber für Kinder, etwas Segnendes haben.

Sehen Sie, so studiert man den ganzen Menschen in bezug auf seine seelische Entwickelung. Wie man sonst das Leibliche auf Räumliches bezieht, den Magen auf das Haupt, so bezieht man dasjenige, was vielleicht im achten, neunten Lebensjahre im Kinde veranlagt wird als die betende Kraft, man studiert es im ganzen Lebenslauf, sieht es wiederum auftreten als die segnende Kraft, als diejenige Kraft, die auch eine segnende Wirkung hat namentlich auf die Jugend im späteren Lebensalter. Man kann das Wesentliche so ausdrücken, daß man sagt: Kein Mensch kann in seinen Vierziger-, Fünfzigerjahren segnend auf seine Umgebung wirken, der nicht in seiner Kindheit in richtiger, ehrlicher Weise beten gelernt hat.

Ich habe dieses als ein radikales Beispiel gewählt, und diejenigen, die vielleicht mehr oder weniger unfromin angelegt sind, werden es eben nur in bezug auf seine formelle Bedeutung hinnehmen können. Aber worauf ich aufmerksam machen wollte, ist ja dies, daß es sich für anthroposo­phische Pädagogik darum handelt, nicht bloß auf die Gegenwart des seelischen Lebens zu sehen, sondern auf den ganzen Menschen. Man kann sehen, was das für eine Wirkung für die Pädagogik hat. Es hat die Wirkung, daß bei allem, was in bezug auf das Kind an Erziehungspraxis, an Unterrichtspraxis entwickelt wird, immer darauf gesehen wird: was wird im ganzen Leben, selbst im spätesten Leben des Menschen aus dem, was wir da tun? Und dadurch wird angestrebt eine gewisse organische Pädagogik, eine gewisse lebendige Pädagogik.

Man hat so vielfach die Sehnsucht, schon dem Kinde scharf umrssene Begriffe beizubringen, dem Kinde schon Begriffe beizubringen, die möglichst stramme Definitionen darstellen, scharfe Konturen haben. Es ist oftmals mit solchen Begriffen, die wir dem Kinde beibringen, so, als ob wir seine Arme oder Beine, die wachsen sollen, die sich voll entwik­kein sollen bis zu einem gewissen Lebensalter, in Fesseln legen würden. Wir können außer physischer Pflege dem Kinde nichts anderes angedei­hen lassen als dieses, daß wir es so pflegen, daß seine Glieder möglichst frei wachsen können, solange Wachstumskraft in ihnen ist. Solche Begriffe, solche Ideen, solche Empfindungen, solche Willensimpulse

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müssen wir in das Gemüt des Kindes hineinsenken, die nun nicht scharfe Konturen haben, so daß sie gewissermaßen das Seelenleben in seinen einzelnen Gliederungen fesseln, sondern die so wachsen wie die physi­schen Glieder des Menschen. Dann allein können wir hoffen, daß dasjenige, was wir in das kindliche Gemüt senken, wirklich in der richtigen Weise im späteren Lebensalter zutage tritt.

Worum es sich handelt bei der Erziehungskunst auf anthroposophi­scher Grundlage? Sehen Sie, es handelt sich um eine wirkliche Men­schenerkenntnis. Das ist ja dasjenige gerade, was der neueren naturwis­senschaftlichen Weltanschauung fast unmöglich ist, den Menschen selber kennenzulernen. Es soll von hier nicht im allergeringsten etwas gegen die großen Vorzüge der Experimentalpsychologie, der Experimental­pädagogik gesagt werden. Diese Dinge sind einmal aus dem ganzen Geiste unserer neueren Zivilisation notwendig; sie sind auch innerhalb gewisser Grenzen durchaus segensreich. Auch da wird Anthroposophie nicht etwa einen radikalen Kampf führen, sondern gerade das Segensrei­che fortführen wollen. Aber dennoch, von der anderen Seite, was zeigt die Sehnsucht, am Kinde experimentieren zu wollen, um seine Fassungs­kräfte, seine sinnesempfänglichkeiten, sein Gedächtnis, selbst seinen Willen auf dem Wege des Experimentes kennenzulernen?

Es zeigt, daß man gerade durch diese neuere Orientierung der Zivilisa­tion innerhalb der Seele fremd geworden ist der anderen Menschenseele, der Kindesseele. Weil die innere Beziehung, die unmittelbare, elementare Beziehung von Seele zu Seele im modernen Menschen geringer ist, weniger wirksam ist, als sie einmal war, verfällt eben dieser moderne Mensch darauf, dasjenige, was er sonst durch unmittelbares Hineinfüh­len in das Kind in sich erlebt hat, nun äußerlich in den körperlich-leiblichen Andeutungen experimentell zu studieren. Es muß gerade in demselben Maße, in dem wir solche experimentelle Studien treiben, die innere Seelenerkenntnis für eine gesunde Pädagogik wiederum geschaf­fen werden.

Dazu ist aber notwendig, daß man nun dasjenige, was ich vom einzelnen Lebenslaufe gesagt habe, wirklich kennenlernt. Und da haben wir zunächst die erste Lebensepoche des werdenden Menschen, die mit seiner Geburt oder, man kann auch sagen, schon mit seiner Empfängnis

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beginnt und einen gewissen Abschluß erlangt im Lebensalter des Zahn­wechsels.

Um diese Zeit wird eigentlich das Kind für den, der wirklich unbefan­gen zu studieren versteht, doch ein ganz anderes Wesen. Und erst wenn man solches am Menschen beobachtet, kommt man zu einer wirklichen Menschenerkenntnis.

Wir sind in bezug auf die höhere Wesenhaftigkeit der Welt nicht eigentlich schon nachgekommen dem, was unsere Naturwissenschaft auf den niedrigen Gebieten an wissenschaftlichen Anforderungen stellt. Ich brauche Sie nur daran zu erinnern, wie wir sprechen, sagen wir, von gebundener Wärme, von Wärme, die in irgendeinem Körpergefüge enthalten ist, ohne daß sie sich äußerlich ankündet, und wie wir dann, wenn der Körper gewisse Verhältnisse durchmacht, die Wärme, die gewissermaßen in ihm gebunden war und nun aus ihm herausschießt, dann freie Wärme nennen. So wie wir da von Kräften und Substanzzu­sammenhängen in der unorganischen Welt sprechen, so traut sich die heutige Wissenschaft noch nicht in bezug auf den Menschen zu sprechen. Daher sind Leib und Seele und Geist Abstraktionen, die nebeneinander stehen, die man nicht konkret innerlich wirklich aufeinander beziehen kann. Wir sehen das Kind heranwachsen bis zum Zahnwechsel, können dann allerdings, wenn wir unbefangenen Sinn genug haben, sehen, wie gewisse Gaben und Denkfähigkeiten gerade mit dem Zahnwechsel erst sich entwickeln, wie da auch das Gedächtnis die Form annimmt, daß es erst wirkt durch deutlich konfigurierte Begriffe und so weiter. Wir können den inneren Seelenzusammenhang des Kindes in einer ganz anderen Weise sehen nach dem Zahnwechsel als vorher. Was ist denn da mit dem Kinde eigentlich geschehen?

Nun, ich kann Ihnen heute nur die einzelnen Gesichtspunkte angeben, allein das weitere kann ja selbst heute schon mit äußerer Naturwissen­schaft studiert werden. Wir bemerken, wenn wir das Kind wachsen sehen vom zartesten Alter an bis zum Zahnwechsel hin, wie ein Inneres immer mehr und mehr an die Oberfläche der körperlichen Organisation tritt. Wir können wissen, daß in diesen Jahren ganz besonders die Kopforganisation ihre Ausbildung erfährt. Derjenige, der nun, nicht befangen durch manches, was eine landläufige Wissenschaft sagt, diese

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Entwickelung beachtet, der wird geradezu eine Strömung von unten nach oben in dem Menschen beobachten können. Indem das Kind aus der Unbeholfenheit des völligen Nicht-gehen-Könnens, Liegen-Müs­sens, Getragen-werden-Müssens sich zum Gehen entwickelt, ist dasje­nige, was sich in diesem Teil des Menschen, in dem Gliedmaßenmen­schen regt, was da herauskommt als eine Offenbarung der Willensim­pulse, etwas, das nicht bloß in dem äußeren Zappeln und in dem späteren Auftretenkönnen und im Gehen zum Ausdrucke kommt, sondern das ist wenn was zurückwirkt auf die gesamte menschliche Organisation. Und wenn man einmal diejenigen Dinge, die heute durchaus in der Wissen­schaft schon angedeutet sind, in der physiologischen Wissenschaft eigentlich mit Händen zu greifen sind - man verfolgt nur nicht die richtigen Wege auf diesem Gebiete -, wenn man das einmal studieren wird, wie das Haupt sich ummetamorphosiert, aus dem hilflosen Getra­gen-werden-Müssen, Liegen-Müssen bis zum Stehen auf seinen Beinen, bis zum Gebrauche seiner Beine zum Gehen, dann wird man finden, wie dasjenige, was da in dem Gliedmaßenmenschen zutage tritt, wie gewis­sermaßen diese Abbildung der Konfiguration des Gehens sich findet in denjenigen Teilen des Gehirnes, welche die Gehirn-Willensorganisation sind. Man muß durchaus sagen: Indem der Mensch gehen lernt, bildet er von unten nach oben, von seinen Gliedmaßen, gewissermaßen von seiner Peripherie her in sein Zentrum einlaufend seine Willensorganisation im Gehirn aus.

Wenn wir dann den Menschen weiter verfolgen, so ist ja dann die nächste wichtige Etappe diejenige, die er dadurch erlebt, daß er seine Atmungsorganisation kräftigt, daß seine Atmungsorganisation in dersel­ben Weise in eine, ich möchte sagen, persönlichere Konstitution gerät, wie seine Gliedmaßenorganisation durch das Gehen in eine gewisse Konstitution gerät. Und diese Umwandlung des Atmens, diese Kräfti­gung des Atmens - man kann sie physiologisch verfolgen -, die drückt sich wiederum aus durch alles dasjenige, was der Mensch aufnimmt im Sprechen.

Wiederum ist es ein Strömen der menschlichen Organisation von unten nach oben. Dasjenige, was der Mensch nun durch das Sprechen eingliedert seinem Nervenorganismus, wir können es durchaus verfolgen:

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wie beim Kinde, indem es sprechen lernt, innerlich herausstrahlt immer mehr und mehr Gefühlsinnigkeit. So wie der Mensch sich einglie­dert in seinen Nervenorganismus durch das Gehenlernen in den Willen, so gliedert er sich ein durch das Sprechenlernen das Gefühl.

Und eine letzte Etappe ist dasjenige, was nun am wenigsten nach außen auftritt, was aber dadurch auftritt, daß der Mensch die zweiten Zähne an die Stelle der ersten setzt. Gewisse Kräfte, die bisher in seinem Organismus gespielt haben, die in seiner Organisation gelegen haben, finden ihren Abschluß, denn er bekommt keine weiteren Zähne mehr. Aber dajenige, was sich im Bekommen der zweiten Zähne ausdrückt, das sind die Kräfte, die im ganzen Organismus wirken, die nur in der Zahnbildung eine Art Abschluß haben. Und so wie wir mit dem Gehenlernen den Willen innerlich konstituiert sehen, wie wir innerlich konstituiert sehen das Gefühl mit dem Sprechenlernen, so sehen wir mit dem Zahnwechsel ungefähr um das siebente Lebensjahr hervortreten beim Kinde die nun mehr oder weniger individualisierte, nicht mehr so wie früher an den Gesaintleib gebundene Vorstellungskraft.

Es sind dies interessante Zusammenhänge, die immer mehr und mehr studiert werden müssen. Es ist die Art und Weise, wie auf den physi­schen Leib zurückwirkt dasjenige, was ich früher den Ätherleib genannt habe; es ist tatsächlich so, daß der Mensch seine übrige Organisation dem Haupte, der Nervenorganisation einbildet in diesem Lebensalter.

Diese Dinge kann man theoretisch erörtern, allein damit ist es nicht getan. Wir haben uns zu sehr in der neueren Zeit an einen gewissen Intellektualismus, an gewisse Abstraktionskräfte gewöhnt, wenn wir von Wissenschaft reden. Dasjenige, was ich Ihnen eben geschildert habe, das führt dazu, daß man nicht bloß mit dem Verstande den Menschen anschaut, sondern daß man tatsächlich den Menschen so betrachtet, daß man, ich möchte sagen, wie mit künstlerischem Blicke sieht, wie jede Regung des Bewegungsorganismus der Glieder sich einfügt dem Ner­ven-Willensorganismus, wie wiederum das Sprechen sich einfügt dem Gefühlsorganismus. Es ist ja wunderbar zu sehen, wie zum Beispiel, wenn die Mutter oder die Amme mit dem Kinde ist, indem das Kind sprechen lernt, indem das Kind vokalisieren lernt, wie da in den Vokalen sich gerade dasjenige dem Gefühl einprägt, was mehr von dem Gemüte

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des Erziehers zu dem Gemüte des Kindes innerlich spricht; währenddem alles dasjenige, was das Kind anleiten soll, selber Bewegungen auszufüh­ren, mit der Außenwelt, sagen wir, mit Wärme und Kälte in Verbindung zu treten, wie das zum Konsonantieren führt. Es ist wunderbar zu sehen, wie der eine Teil der menschlichen Organisation, also sagen wir einmal die Gliedmaßenregung oder die Sprache, zurückwirkt auf den anderen Teil der menschlichen Organisation. Und besonders solche Dinge sind reizvoll zu sehen, wenn wir als Erzieher dem Kinde im volksschulpflich­tigen Alter entgegentreten, wie das allmähliche Erscheinen der zweiten Zähne gewissermaßen eine Kraft herausreißt aus dem Wachstum des Organismus, sie frei macht, wie die Wärme frei wird, nachdem sie vorher latent oder gebunden war, so daß, wenn die zweiten Zähne da sind, dasjenige, was zunächst im Organismus gewirkt hat, nun als Seelisches wirkt, dieses Seelische ergreift.

Aber diese Dinge müssen wirklich nicht mit dem Verstande erfaßt werden; sie müssen erfaßt werden mit dem ganzen Menschen. Dann gliedert sich etwas in unser Erfassen ein von künstlerischem Sinn, von konkretem Anschauen des werdenden Menschen. Dazu gibt Anthropo­sophie die praktische Anleitung, indem sie den Geist in seiner Äußerung als materielle Vorgänge überall verfolgt. Anthroposophie will ja nicht sein ein Hinauflenken des Menschen in allerlei mystische Wolkenkuk­kucksheime, sondern sie will gerade das Wirken des Geistes in allem Materiellen verfolgen. Sie will durchaus auf realistischem Boden stehen, um den Geist in seinem Schaffen, in seiner Wirksamkeit zu verfolgen. Aber diese anthroposophische Betrachtung ergreift eben den ganzen Menschen. Wir wollen nicht dogmatisieren, indem wir Anthroposophie in die Pädagogik hineintragen. Die Waldorfschule soll keine Weltan­schauungsschule sein; die Waldorfschule soll eine Schule sein, wo in praktische pädagogische Handhabe, in praktische Didaktik, in Geschicklichkeit dasjenige ausfließt, was der Mensch an lebendiger Innerlichkeit durch die Anthroposophie gewinnen kann.

Allein dasjenige, was uns Anthroposophie gibt an Weltanschauung, an Lebensauffassung, das ist doch etwas, was nun den Lehrer, den Erzieher in einer ganz besonderen Weise in die Schule hineinstellt.

Unsere neuere Kultur und Zivilisation hat zwar einen gewissen Glauben

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sich bewahrt, manchmal auch eine vereinzelte Erkenntnis von dem Hinausleben des Menschen über den Tod; allein dasjenige, was ein Hinausleben des Menschen über den Tod ist bis zur neuen Geburt, das ist der neueren Zivilisation ganz abhanden gekommen.

Anthroposophische Forschung zeigt, wie wir sprechen müssen von einem präexistenten Leben des geistig-seelischen Menschenwesens. Anthroposophie zeigt, wie die Embryologie gerade durch das Geistig-Seelische ihre richtige Beleuchtung erhält. Heute - und das ist durchaus begreiflich, es soll nicht darüber gescholten werden -, heute sieht man ja die Dinge so an, als ob dasjenige, was der Mensch durch die Geburt sich hereinbringt ins irdische Leben, ganz und gar ein Ergebnis der Verer­bungsströmung wäre, derjenigen Kräfte, die physisch herunterkommen von Vater, Mutter und so weiter. Man untersucht nach den bekannten Methoden, wie sich der Menschenkeim im menschlichen Leibe ausbil­det. Man sucht durchaus in dem mütterlichen, in dem väterlichen Leibe, in den elterlichen Leibern die Kräfte, die dann im Kinde zum Vorschein kommen. Allein, das ist ja nicht so. Dasjenige, was im Elternleib vor sich geht, ist nicht Aufbau, sondern ist zunächst Abbau. Was da geschieht, ist zunächst eine Rückkehr der materiellen Vorgänge in eine Art von Chaos. Und dasjenige, was da hineinbaut in den Menschen, der einen Nachkommen erhält, das ist der ganze Kosmos.

Wer die nötige Anschauung dafür hat, sieht gerade in den ersten Monaten dem menschlichen Embryo an, wie das, was der Mensch ist, herausgebildet wird nun nicht bloß aus der Vererbungsströmung, son­dern aus dem ganzen Kosmos. Es ist tatsächlich im mütterlichen Leibe das Bett für dasjenige, was aus den chaotisch werdenden Kräften kosmi­sche Kräfte, die hereinwirken in den Menschen, macht.

Diese Dinge wird man - und man kann sie durchaus nach den Antezedenzien der heutigen Physiologie schon so studieren -, man wird sie immer mehr und mehr anders studieren, als man bisher gewohnt ist. Man würde in der Physik es für eine Torheit anschauen, zu sagen: Hier habe ich eine Magnetnadel, die mit dem einen Ende nach Norden, mit dem anderen nach Süden weist; ich muß nur in dieser Magnetnadel, innerhalb der räumlichen Grenzen der Magnetnadel die Kräfte suchen, die die beiden Enden nach der einen oder anderen Richtung hin richten.

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Das wäre eine physikalische Torheit. Wir nehmen unsere Zuflucht zu der ganzen Erde, wenn wir das erklären wollen. Wir sagen, die ganze Erde ist eine Art Magnet, sie zieht vom Nordpol aus das eine Ende der Magnetnadel an, vom Südpol aus das andere Ende der Magnetnadel. Wir sehen in der Richtung der Magnetnadel den Ausdruck eines Teiles; wir müssen weit über die Grenze der Magnetnadel hinausgehen. Das haben wir uns nur noch nicht angewöhnt in exakter Wissenschaft in bezug auf den Menschen. Wir studieren einen so wichtigen Vorgang des Men­schen, wie es die Embryobildung ist; wir verfahren aber dabei so, wie wir nur nach physikalischer Torheit bei der Magnetnadel verfahren könnten. Wir suchen in der Raumesgrenze des Menschen, in den elterli­chen Organismen die Kräfte, die den Embryo gestalten, geradeso wie wenn wir innerhalb der Magnetnadel die Kräfte für ihre Richtung suchen würden. Wir müssen im ganzen Kosmos dasjenige suchen, was den Embryo gestaltet. Aber was da hereinwirkt, das ist dasjenige, dem verbunden ist die seelisch-geistige Wesenheit des Menschen, wie sie aus geistig-seelischen Welten heruntersteigt zum physischen Dasein.

Und da zeigt uns dann Anthroposophie - so paradox es klingen mag-, daß zunächst mit der Kopforganisation am allerwenigsten das verbunden ist, was das Geistig-Seelische des Menschen ist. Dieses Geistig-Seelische des Menschen ist zunächst - indem das Kind sein irdisches Dasein antritt - gerade mit der übrigen Organisation außerhalb des Kopfes verbunden. Der Kopf ist eine Art Abbild des Kosmos, aber er ist am meisten materiell. Er ist sozusagen im Beginne des menschlichen Lebens am wenigsten der Träger des vorgeburtlichen geistig-seelischen Lebens, das heruntergestiegen ist, um das irdische Leben zu beginnen.

Und indem man nun sieht, wie in jeder Miene, in der ganzen Physio­gnomie des Kindes, im Augenausdruck dasjenige hervortritt an die äußere Oberfläche des Menschen, was geistig-seelisch in ihm verborgen ist, sieht derjenige, der die Sache anthroposophisch sieht, wie das Geistig-Seelische, das zunächst sich in der Entwickelung der Gliedma­ßenbewegungen vom Kriechen bis zum Gehen zeigt, und dann in den Anregungen zum Sprachorganismus, zum Atmungsorganismus sich zeigt, das arbeitet im Organismus an dem Hervorbringen der zweiten Zähne, wie also dieses Geistig-Seelische von unten herauf arbeitet, um

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aus der Außenwelt dasjenige aufzunehmen, was zunächst unbewußt aufgenommen werden muß, um es einzubilden dem am meisten Mate­riellen: der Hauptesorganisation des Menschen im Denken, Fühlen und Wollen.

So den Menschen zu betrachten mit wissenschaftlich-künstlerischem Blick, das gibt die Beziehung des Erziehers zum werdenden Menschen, zum Kinde, die eigentlich durchaus notwendig ist, wenn wir dem Kinde das sein wollen, was wir ihm sein können, wenn wir selbst als Erzieher, als Unterrichter volle, ganze Menschen sind. Denn es ist ein besonderes Gefühl, das man hat, wenn man sich sagt: Du machst immer mehr und mehr hervorzaubern aus der kindlichen Organisation dasjenige, was dir göttlich-geistige Welten heruntergesandt haben. Das ist etwas, was durch Anthroposophie wieder belebt werden kann.

Wir haben in unseren zivilisierten Sprachen heute ein Wort, das ein wichtiges Wort ist, das mit den Hoffnungen und Sehnsuchten vieler Menschen zusammenhängt, das Wort «Unsterblichkeit». Allein wir werden das menschliche Leben erst im richtigen Lichte sehen, wenn wir ein ebenso gebräuchliches Wort haben für den Anfang des Lebens wie für das Ende des Lebens, wenn wir ein Wort haben, das uns ebenso geläufig ist wie das Wort Unsterblichkeit, etwa «Ungeborenheit», «Ungeborensein» : dann erst ergreifen wir die volle, ewige Wesenheit des Menschen.

Dann stehen wir aber erst mit der richtigen heiligen Scheu, mit der richtigen Ehrfurcht vor dem aus dem Inneren des Kindes durch Strö­mung von unten nach oben gestaltenden, bildenden Geist. Die Seele bildet mit dem Geiste, den sie empfängt aus dem vorgeburtlichen Leben, den Organismus aus in den ersten sieben Lebensjahren, also von der Geburt bis zum Zahnwechsel. Da ist der Mensch in einer ganz elementa­ren, unmittelbaren Verbindung mit seiner Umgebung.

Wenn man ein Wort dafür haben will, wie der Mensch, indem sich erst Denken, Fühlen und Wollen in die Organe hineingliedern, in diesem zarten Kindesalter mit seiner Umgebung in Wechselwirkung steht, man kann nur das Wort Nachahmen gebrauchen. Der Mensch ist durch und durch ein nachahmendes Wesen in der ersten Lebensepoche. Da gibt es vor allen Dingen für die Erziehung die große Maxime: Tue in des Kindes

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Umgebung dasjenige, was es nachahmen kann. Und dieses Nachahmen beruht auf einem in Wirklichkeit bis in die seelisch-geistigen Impondera­bilien hineingehenden Bezug zwischen der kindlichen Umgebung und dem Kinde selbst.

Das Kind kann in den ersten sieben Lebensjahren nicht eigentlich ermahnt werden; es kann nicht auf irgendeine Autorität hin etwas tun, sondern es lernt alles durch Nachahmung. Wir müssen nur das Kind in dieser Richtung verstehen. Da erlebt man manchmal ganz sonderbare Dinge. Ich will ein konkretes Beispiel sagen. Wenn man in diesen Dingen oftmals zu Rate gezogen wird, bieten sich ja viele solche Beispiele. Ein Vater kommt und erklärt: Ach, ich bin so unglücklich, mein Junge, der immer so brav war, der hat gestohlen. - Was soll man darüber denken? Man frägt den besorgten Vater: Wie alt ist denn das Kind? Was hat er gestohlen? - Und so weiter. Ach, er ist fünf Jahre alt. Bis jetzt war er so brav, und gestern hat er nun seiner Mutter Geld genommen aus dem Schrank und hat dafür Naschereien gekauft. Er hat sie gar nicht einmal selber verzehrt, er hat sie sogar anderen Jungen und Mädchen auf der Straße gegeben.

Nun, was man in einem solchen Fall zu einem solch besorgten Vater zu sagen hat, das ist: Der Junge hat gar nicht gestohlen, sondern es ist wahrscheinlich so, daß er gesehen hat, wie die Mutter jeden Morgen das Geld aus dem Schrank nahm und dafür Sachen kaufte. Das Kind ist auf Nachahmung hin veranlagt, sieht selbstverständlich als das Richtige dasjenige an, was die Mutter tut, und macht es nach. Es kommt überhaupt der Begriff des Stehlens hier gar nicht in Betracht; es kommt aber das in Betracht, daß man im strengsten Sinne des Wortes, und zwar bis auf die Gedankenfärbung hin, nur dasjenige in der Umgebung des Kindes handelnd, sprechend, denkend entwickeln soll, was das Kind nachmachen kann.

Derjenige, der in dieser Weise beobachten kann, der weiß eben, wie in der feinsten, in der intimsten Weise das Kind nachahmt. Bis in den Blick hinein sieht derjenige, der in der Weise, wie ich es hier meine, sich pädagogisch verhält, wie alles auf Nachahmung beruht.

Nun, das ist so bis zum Zahnwechsel hin, weil da das Kind in einer außerordentlich wirklichen Beziehung zu der Umgebung steht, mit

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seinem ganzen Menschen in Beziehung zu der Umgebung steht. Das Kind ist da noch nicht so, daß es durch die Sinne etwas wahrnehmen kann, beurteilen kann, darüber fühlt. Nein, das ist alles eins; das Kind nimmt wahr, die Wahrnehmung ist zugleich Urteil, das Urteil ist Gefühl, Willensimpuls. Alles das ist eins. Das Kind ist ganz in den Strom des Lebens eingeschaltet. Es hat sich noch nicht herausgerissen.

Das erste Herausreißen aus dem Leben findet eben mit dem Zahn-wechsel statt, wenn diejenigen Kräfte, die erst unten im Organismus gewirkt haben und die nach dem Erscheinen der zweiten Zähne nicht mehr zu gebrauchen sind, nun als geistig-seelische Kräfte im Kinde auftreten, wenn wir es mit diesen Kräften zu tun haben. Da tritt das Kind in seine zweite Lebensepoche, die mit dem Zahnwechsel beginnt und mit der Geschlechtsreife endet. In dieser Lebensepoche wird sozu­sagen das geistig-seelische Leben frei, wie unter Umständen Wärme, die vorher latent war, frei werden kann. Wir haben vorher das Geistig-Seelische in dem Inneren des Organismus, in dem organischen Gestalten des Organismus zu suchen.

So muß man das Verhältnis von Körper und Geist zu Seele und Leib suchen. Wir haben heute in der Theorie alle möglichen Prinzipien und Verhältnisse. Da ist das eine: die Seele, die wirkt auf den Leib; das andere sagt: alles, was in der Seele ist, wird durch den Leib bewirkt. Heute ist am meisten verbreitet die Anschauung vom psychophysischen Parallelis­mus, das heißt, es werden beide Prozeßreihen, das Geistig-Seelische und das Physisch-Körperliche betrachtet. Aber man kann lange spekulieren über das Verhältnis von Geist und Seele, Körper und Leib; wenn man bloß spekuliert und nicht zur Beobachtung vorrückt, kommt man nicht über die Abstraktion hinaus. Beobachten kann man aber nicht nur die Gegenwart, sondern man muß das ganze Leben beobachten - dann muß man sich sagen: Dasjenige, was du vom siebenten bis zum vierzehnten Jahre als seelisch-geistiges Leben im Kinde vor dir hast, das waren vorher Kräfte, welche im Organismus unten gewissermaßen latent waren, verborgen waren, verborgen wirkten. Du mußt dasjenige, was im Organismus von der Geburt bis zum Zahnwechsel wirkt, später, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, im Seelisch-Geistigen suchen, dann hast du etwas von dem Verhältnis zwischen Seele und Geist auf der

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einen Seite und dem Körperlich-Leiblichen auf der anderen Seite. Beob­achtest du die körperlichen Vorgänge bis zum Zahnwechsel, dann hast du die Wirkung eines Seelisch-Geistigen; willst du dieses Seelisch­Geistige an sich beobachten, dann beobachte es vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife. Also suche nicht so, daß du sagst: Hier ist der Körper, und da drinnen ist die Seele, nun will ich die Wirkung suchen. Nein, gehe aus dem Räumlichen heraus, gehe in das Zeitliche über, dann wirst du ein reales, ein konkretes Verhältnis zwischen dem Geist-Seelischen und dem Physisch-Leiblichen finden können; dann wirst du aber auch fruchtbarere Ideen für das Leben finden können. Dann wirst du viel lernen - ich kann das jetzt nur prinzipiell andeuten zunächst -, dann wirst du lernen, wie du in einer gewissen Beziehung für die kindliche, physische Gesundheit vor dem Zahnwechsel zu sorgen hast, damit die seelisch-geistige Gesundheit im zweiten Lebensalter, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, in entsprechender Weise sich offenbaren kann, so wie die Gesundheit des Magens in der Gesundheit des Kopfes sich offenbart im zeitlichen Organismus, das heißt im ätherischen Leib, im Bildekräfteleib des Menschen. Das ist es, worauf es ankommt.

Und wenn wir nun studieren wollen, wie das zu behandeln ist - wir kommen ja damit in eine wichtigste Lebensepoche des Kindes, in das schulpflichtige Alter hinein -, was nun zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife gewissermaßen aus dem Organismus frei wird, sich in freier Weise geistig-seelisch zeigt, dann müssen wir sagen, daß das zunächst die Bildekräfte sind, freigewordene Bildekräfte, Bildekräfte, die plastisch und auch musikalisch gewirkt haben in dem Aufbau des menschlichen Organismus. Wir müssen sie ebenso behandeln. Wir dür­fen sie daher zunächst nicht intellektualistisch behandeln. Das ist dasje­nige, was nun als eine Grundforderung anthroposophischer Pädagogik auftritt, daß man zunächst dasjenige, was die ersten Bildekräfte waren als Geistig-Seelisches, auch wiederum nun nicht intellektualistisch, sondern künstlerisch behandelt.

Darauf beruht es, daß die Waldorfschul-Pädagogik im weitesten Umfange - wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf - pädagogische Kunst ist, daß sie als Kunst ausgebildet wird, als Kunst der wirklichen

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Kindes behandlung. Der Lehrer, der Erzieher muß Künstler sein, denn er muß ja diejenigen Kräfte, die vorher plastisch in der Ausgestaltung des Organismus gewirkt haben, die muß er jetzt behandeln; sie stellen die Anforderung, plastisch behandelt zu werden

Das führt dazu, wenn wir die Kinder hereinbekommen in die Wal­dorfschule, daß wir alles zunächst, was wir an die Kinder heranbringen, aus dem Künstlerischen heraus arbeiten. Konkret gesprochen : wir beginnen nun nicht beim Lesen, sondern beim Schreiben; allein das Schreiben darf nicht in irgendein intellektuelles Verhältnis zum Kinde gebracht werden, sondern wir beginnen zunächst damit, daß wir das Kind Formen malen und zeichnen lassen, die eigentlich aus seinem menschlichen Wollen wie von selbst hervorgehen. Es würde manchen sonderbar anmuten, der sehen würde, wie die Waldorfkinder beginnen schreiben zu lernen!

Jeder Lehrer hat seine völlige Freiheit. Es handelt sich durchaus nicht darum, daß wir irgendwelche pädagogischen Dogmen aufstellen, son­dern daß wir die Lehrer in den ganzen Geist der anthroposophischen Pädagogik und Didaktik einführen. Da können Sie zum Beispiel, wenn Sie in die erste Volksschulklasse kommen, sehen, wie der Lehrer, der Erzieher die Kinder in gewissen Kreisen sich bewegen läßt und die Raumesbewegungen, die Bewegungen im Raume begleiten läßt mit gewissen taktmäßigen Bewegungen der Arme, wie dann sich daraus von selbst dasjenige bildet, was das Kind in eine einfache Zeichnung bringt. Und indem wir so aus der Konfiguration des Organismus heraus, also aus dem Wollen herholen dasjenige, was als künstlerische Formen wie von selbst sich ergibt, wandeln wir dann diese künstlerischen Formen allmählich um auf die Buchstabenformen; alles ohne Abstraktion, son­dern so, wie es sich eigentlich imaginativ der Menschheitsentwickelung von selbst ergeben hat. Die Menschheit hatte zuerst eine Bilderschrift, die sich durchaus aus der äußeren Realität konkret ergeben hat und die sich dann erst in unsere Zeichenschrift, die vollends abstrakt geworden ist, umgewandelt hat. So wird aus dem Künstlerischen heraus so etwas gearbeitet, was, wie die fertige Schrift, nurmehr zum Intellekt spricht. Und erst, wenn wir eine Weile das Kind aus dem Künstlerischen heraus zum Schreiben gebracht haben, bringen wir es an das Lesen heran. Es

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zeigt sich ja klar, wenn man wirklich aus dem Künstlerischen heraus arbeitet, wirklich mit künstlerischen Intentionen an das Kind herantritt, so wirkt man zunächst auf die Willensbildung, auf jene Willensbildung, aus der im Grunde genommen alle Gemüts- und alle Verstandesbildung hervorgehen muß. Indem man vom Schreiben zum Lesen übergeht, merkt man ganz genau : Da geht es nun vom Wollen zum Fühlen. Und das Denken bildet sich am Rechnen aus.

Indem man wirklich an den Einzelheiten die ganze seelisch-geistige Konfiguration des Kindes verfolgt bei der Handhabung jeder einzelnen Figur, die dann zum Buchstaben, zum Worte wird, die wiederum als Wort gelesen wird, wenn man das verfolgen kann, indem man durch Anthroposophie Menschenerkenntnis, Menschenbeobachtung sich angeeignet hat, dann wird eine wirkliche Erziehungspraxis daraus.

Und dann sieht man erst die ganze Bedeutung der Anwendung des Kunstprinzips auf die allerersten Volksschuljahre des Kindes. Alles dasjenige, was in vernünftiger Weise dem Kinde an Musikalischem zugeführt wird, das zeigt sich durch das ganze Lebensalter hindurch in der Willensinitiative des Menschen. Wenn man dem Kinde verwehrt, im richtigen Alter, namentlich um das siebente und achte Jahr herum, das richtige Musikalische aufzunehmen, lähmt man ihm die Willensinitia­tive, insbesondere im reifen Lebensalter. Und den ganzen menschlichen Zusammenhang will der wahre Pädagoge ja immer im Auge haben heute. Mancherlei - wir werden darauf noch zu sprechen kommen - ist dann zu beobachten, nicht nur von Jahr zu Jahr, sondern von Woche zu Woche, in diesem Lebensabschnitte des Kindes vom Zahnwechsel bis zur Ge­schlechtsreife.

Aber ein Moment wird da nun ganz besonders wichtig. Er liegt etwa zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre. Ungefähr in der Mitte dieser Lebensepoche liegt er. Das ist derjenige Moment, auf den der Erziehende, der Lehrende ganz besonders achtgeben muß. Derjenige, der wirkliche Menschenbeobachtung hat, den zeitlichen, ätherischen Organismus beobachten kann, wie ich es auseinandergesetzt habe, durch das ganze menschliche Leben hindurch, der weiß, wie im höchsten Alter dann, wenn der Mensch ein wenig veranlagt ist, sinnend zu werden, Rückblicke zu halten auf sein früheres Lebensalter, wie da ganz besonders

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auftreten unter den Bildern aus dem früheren Leben die Bilder von Lehrern, von Erziehern, von sonstigen Menschen aus der Umgebung, die Einfluß gehabt haben zwischen dem neunten und zehnten Lebens­jahre.

Solche Intimitäten des Lebens werden von der heutigen, für die Äußerlichkeiten so exakten Naturforschung leider unberücksichtigt gelassen, daß in das Unbewußte hinunter sich senkt dasjenige, was für das eine Kind später, für das andere früher, aber ungefähr zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre vorgeht; daß das bis zur Bildhaftigkeit gerade in späteren Lebensaltern vor der menschlichen Seele steht, beglückend oder schmerzvoll, belebend oder ertötend, das ist eine Beobachtung, eine wirkliche Beobachtung, keine Phantasie, keine Theo­rie. Und es ist für den Erzieher von ungeheurer Wichtigkeit. Es wird sich in diesem Lebensalter unmittelbar ergeben, daß das Kind den Erzieher in einer gewissen Beziehung so braucht, daß ein bestimmtes Verhältnis zum Ausdrucke kommt zwischen dem Kinde und dem Erzieher.

Man hat als Erzieher einfach auf das Kind achtzugeben, und man wird schon sehen, wie etwa um dieses Lebensalter herum eine ungeheuer wichtige Frage mehr oder weniger ausgesprochen oder auch verhalten, unausgesprochen, vom Kinde an den Erzieher, an den Lehrer gestellt wird. Und wenn das Kind vielleicht nicht dazu veranlagt ist, die Frage offen zu stellen, so muß man die Umstände herbeiführen, daß das Kind in der Weise, wie es in diesem Lebensalter sein soll, an den Erzieher, an den Lehrer herankommt. Denn was geschieht denn da?

Sie werden demjenigen, der jetzt vor Ihnen spricht und im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts seine «Philosophie der Frei­heit» geschrieben hat, nicht zumuten, daß er aus irgendwelchen konser­vativen oder reaktionären Prinzipien heraus für die Autorität eintrete. Allein aus dem Gesetze der kindlichen Entwickelung heraus muß eben gesagt werden: geradeso wie bis zum Zahnwechsel das Kind ein nachah­mendes Wesen ist, so ist es nach dem Zahnwechsel so geartet, daß für es das selbstverständliche Hineinwachsen in die Autorität seiner Umge­bung Lebensbedingung ist; so daß wir imstande sein müssen als Lehrer und Erzieher, selbstverständliche Autorität auf das Kind auszuüben, daß der Grund, warum das Kind eine Wahrheit annimmt, der sein muß, daß

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das Kind, uns liebend, in uns die Autorität fühlt, empfindet, nicht durch Urteil etwa anerkennt, sondern fühlt, empfindet. Darauf beruht unge­heuer viel.

Wiederum muß man in diesen Dingen Erfahrung haben. Man muß wissen, was es für das ganze Leben in bezug auf die Konfiguration der Seele bedeutet, wenn man in diesem kindlichen Lebensalter etwa erfah­ren hat, daß man reden gehört hat von einem Familienmitglied, das man bis dahin nicht gesehen hat, von dem alle anderen reden als von einem besonders verehrten, weisen oder guten oder sonstwie mit Recht verehr­ten Familiengliede. Dann wird man vor diesen Menschen geführt; man hat eine heilige Scheu, auch nur die Türklinke zu berühren, weil man mit Ehrfurcht, die eingepflanzt ist, zu dieser Autorität hinaufschaut, die man jetzt kennenlernt. Man hat dann eine heilige Scheu, wenn man zum ersten Mal die Hand berühren darf dieser Persönlichkeit. Wer so etwas erlebt hat, wer in einer solchen Weise einmal die Seele als Kind vertieft hat, der weiß, daß das einen bleibenden Eindruck gemacht hat, der ja in die Untergründe des Bewußtseins hinuntergeht und im späteren Lebens­alter wohl wieder zutage tritt. Aber es muß von so etwas auch der Grundton ausgehen, der zwischen dem Erzieher und Lehrer und dem Kinde da ist.

Das Kind muß vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife dasjenige, was es aufnimmt, durch Autorität aufnehmen, durch selbstverständliche Autorität. Und gerade dadurch kann der Lehrer, der Erzieher zum richtigen Künstler in der angedeuteten Weise an dem Kinde werden, daß diese unmittelbare, elementare Beziehung vom Kinde zu seiner Autorität da ist.

Aber zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre tritt das im Kinde ein, daß es nun fühlen muß, es kann manchmal eine ganz unbestimmte Empfindung sein: Derjenige, der seine Autorität ist, der hat selber wieder einen Bezug zu etwas Höherem. Aus dem unmittelba­ren konkreten Verhältnisse des Kindes zum Erzieher, zum Lehrer, entwickelt sich das Hinschauen zu der Religiosität des Lehrers, zu der Art und Weise, wie der Lehrer zu dem übersinnlichen Weltenall steht. Man darf nur die Imponderabilien des Erziehens und Unterrichtens nicht übersehen. Man glaubt gewöhnlich, wenn man materialistisch

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gesinnt ist, alles dasjenige, was da wirkt, wirke durch Worte oder äußerliche Handlung. Oh, es wirken noch ganz andere Dinge vom Lehrer und Erzieher zum Kinde. Nehmen wir an, wie es ja auch zuweilen geschieht, der Lehrer, der Erzieher denkt : Ich bin sehr gescheit, das Kind ist sehr dumm. Also, ich will dem Kinde - nehmen wir gleich wiederum ein radikales Beispiel - eine Empfindung beibringen für die Unsterblichkeit der Seele. Da denke ich mir was aus, zum Beispiel eine Schmetterlingspuppe. Aus der fliegt der Schmetterling aus. Ich mache nun den Vergleich, dieses Bild : Wie der Schmetterling aus der Schmetterlingspuppe ausfliegt, so fliegt beim Tode die unsterbliche Seele aus dem Menschen. Das ist gut für das Kind - ein Bild.

Nun kann man aber folgende Erfahrung machen. Wenn man so denkt:

Ich bin recht gescheit, das Kind ist dumm, ich muß für das Kind ein Bild machen - werde ich vielleicht in dem Kinde zunächst eine Empfindung von der Unsterblichkeit hervorrufen, aber die wird sehr bald aus der kindlichen Seele verduften, weil ich nicht selber an mein Bild glaube.

Anthroposophie lehrt einen, an solch ein Bild zu glauben, und ich kann Ihnen die Versicherung geben, für mich ist das nicht ein Bild, das ich mir ausdenke, sondern für mich ist der aus der Puppe ausfliegende Schmetterling einfach dasjenige auf einer untergeordneten Stufe, was auf einer höheren Stufe die Unsterblichkeit der Seele darstellt. Nicht ich mache mit meinem Verstande dieses Bild, sondern die Welt selber stellt in dem auskriechenden Schmetterling die Naturvorgänge vor. So also stelle ich das Bild hin. Ich glaube mit jeder Faser meiner Seele daran, daß das das rechte Bild ist, daß das die Gottheit selber vor uns hinstellt. Ich bilde mir nicht ein: Ich bin sehr gescheit, das Kind ist dumm, sondern ich glaube mit demselben Ernst an das Beispiel, was ich das Kind glauben lehren will. Dann behält das Kind das für sein ganzes Leben. Da wirken unsichtbare übersinnliche, oder wenn Sie lieber wollen, imponderable Kräfte. Und es handelt sich nicht nur darum, wie wir dem Kinde gegenüberstehen mit Worten, sondern was wir sind, wie wir sind neben dem Kinde. Das wird besonders wichtig in dem angedeuteten Zeit­punkte zwischen dem neunten und zehnten Jahre, daß das Kind nament­lich aus der Art und Weise, wie das Wort gesprochen wird - lassen Sie mich den Goetheschen Satz zitieren: Das Was bedenke, mehr bedenke

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Wie -, aus der Art und Weise, wie die Worte gesprochen werden, fühlt, ob die Worte gesprochen werden aus einem Gemüte heraus, das inner­lich sich seines Zusammenhanges mit der übersinnlichen Welt bewußt ist, oder aus einem Gemüte, das nur materialistisch gesinnt ist. Dem Kinde klingen die Worte anders, das Kind durchlebt etwas anderes im einen oder anderen Fall. Und das Kind soll zwischen dem neunten und zehnten Jahr das erleben, daß es fühlt, empfindet, ganz im Unbewußten erlebt: So wie es selber aufblickt zu der Autorität des Lehrers, des Erziehers, blickt nun wiederum sein Lehrer auf zu demjenigen, was nicht mehr äußerlich geschaut werden kann. Da wandelt sich in dem Verhältnis des Kindes zum Lehrer von selber das Empfinden gegenüber dem Menschen um zum religiösen Erleben.

Das ist dann wiederum verknüpft mit anderen Dingen, zum Beispiel mit dem Unterscheiden des Kindes in bezug auf seine eigene Seele und der Umgebung, wobei man nun die Unterrichtsgegenstände ganz anders gestalten muß. Davon wollen wir dann morgen sprechen. Aber man sieht, wie wichtig es ist, daß gewisse Gemütsstimmungen, gewisse Seelenverfassungen durchaus in der intimsten Weise zur Pädagogik und Didaktik gerechnet werden.

Und das ist es, daß es bei der Ausgestaltung der Waldorfschule darauf ankam, wie man die Herzen, die Seelenverfassungen der Lehrer in die Schule hineinstellte, wie der Lehrer des Morgens durch die Türe tritt, wenn er zu seinen Kindern kommt. Ich lege einen großen Wert darauf, da ich diese Schule zu leiten habe, daß in den wenigen Zeiten, in denen ich selber anwesend sein kann, das auch in irgendeiner Weise zum Ausdrucke kommt. Sie werden vielleicht nach allem, was ich voraus gesagt habe, nichts Unbedeutendes sehen in dem, was ich jetzt sagen werde. Wenn immer ich in die Waldorfschule komme, stelle ich aus dem Zusammenhange heraus, nicht mit denselben Worten, aber immer wie­der und wiederum in den verschiedensten Formen, entweder bei festli­chen Angelegenheiten an die gesamte Schülerschaft oder in den einzel­nen Klassen die Frage: Kinder, liebt ihr eure Lehrer? - Und mit einem wirklichen Aufjauchzen, das die Ehrlichkeit bis zum Worte hin deuriich offenbart, antworten die Kinder im Chor: Ja! Und man fühlt die Wahrheit, die da als Hauch durch alle Seelen geht, daß ein Verhältnis

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inniger Liebe von den Kindern zu den Lehrern besteht, daß das autori­tative Gefühl ein selbstverständliches ist. Und es ist diese Autorität, die im wesentlichen die Essenz eben der Schulpraxis bilden soll.

So ist die Waldorfschul-Pädagogik eben nicht bloß aufgebaut auf Maximen und Grundsätzen - die haben wir in voller Güte durch die großen Pädagogen -, sondern gerade auf dasjenige, was die Handhabe des einzelnen ist, was die unmittelbare Praxis des einzelnen, die einzeln­ste Geschicklichkeit des Lehrers ist. Das soll folgen aus dem, was Anthroposophie in der menschlichen Seelenverfassung, im menschlichen Gemüte anregen kann. Daß Pädagogik eine wirkliche Kunst sei, das ist es, was hier angestrebt wird, wenn Pädagogik und Didaktik begründet wird auf anthroposophischer Grundlage.

Man kann natürlich in solchen Dingen heute im Grunde genommen nur Kompromisse schließen. Ich habe deshalb die Waldorfschule so einrichten müssen, daß ich im Sinne eines Memorandums, das ich bei der Begründung der Schule ausarbeitete, mir die Freiheit behalten hatte, zunächst dasselbe Lehrziel, denselben Lehrplan zwischen dem Eintritt des Kindes in die Schule und ungefähr dem neunten Lebensjahre zu erreichen; dann muß das Kind auch durch unsere Waldorfschuleso weit sein, daß es in jede andere äußere Schule in die entsprechende Klasse übertreten kann. Dann wiederum soll Freiheit sein bei den Kindern, die in der Waldorfschule bleiben bis zum zwölften Lebensjahre.

Wir werden morgen sehen, welch wichtiger Einschnitt auch das zwölfte Lebensjahr ist. Da müssen wir wiederum so weit sein, dem Lehrziel irgendeiner anderen Schule zu entsprechen, und wiederum beim geschlechtsreifen Alter, beim Austritt aus der Volksschule. Aber was in der Zwischenzeit geschieht, das wird im strengsten Sinne so gestaltet, daß es aus anthroposophischer Menschenerkenntnis heraus geschehen soll, wie auch der Lehrplan und die Lehrziele aus dem Wesen des Kindes selbst heraus folgen, und auch durchaus individualistisch folgen, so daß selbst bei verhältnismäßig großen Klassen die Individuali­tät der einzelnen Kinder durchaus zur Geltung kommt.

Es ist ja selbstverständlich, daß man ein Vollkommenes nach dieser Richtung erst wird erreichen können, wenn man auch diesen Kompro­miß nicht mehr zu schließen hat, wenn man wirklich in der Zeit

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zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife das Kind völlig von Jahr zu Jahr so wird behandeln können, wie ich es morgen darlegen werde. Aber immerhin, ein Versuch mußte gemacht werden, nachdem aus der Praxis des Lebens heraus die Möglichkeit sich ergeben hatte, einen solchen Versuch zu machen. Nun, dasjenige, was Anthroposophie zeigen will, das ist eben nicht eine Theorie, das ist nicht etwas, was auf Intellektualismus hinarbeitet, sondern etwas, was mit dem ganzen, vol­len Leben des Menschen zu tun haben will, was den ganzen Menschen erweitern will, was alle Kräfte des Menschen zur Entwickelung bringen will. Gewiß, dem allgemeinen Prinzipe nach ist diese Forderung längst gestellt. Das Was ist bedacht, doch: Das Was bedenke, mehr bedenke Wie. Aus Anthroposophie heraus soll das Wie eben gefunden werden. Und einige Andeutungen davon durfte ich Ihnen heute machen. Was sich für die Einzelheiten der folgenden Lebensjahre des Kindes wird aus den anthroposophischen Untergründen heraus sagen lassen, das werde ich mir erlauben, morgen weiter darzulegen.

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ERZIEHUNGS - UND UNTERRICHTSMETHODEN AUF ANTHROPOSOPHISCHER GRUNDLAGE Zweiter Vortrag Kristiania (Oslo), 24. November 1921

Es war gestern mein Bestreben, zu zeigen, wie diejenige pädagogische Anschauung und Praxis, die auf anthroposophischer Grundlage sich bilden kann, durchaus beruht auf intimer Menschenkenntnis, also auch auf intimer Erkenntnis des werdenden Menschen, des Kindes. Ich habe schon versucht zu zeigen, wie der werdende Mensch gewissermaßen als ein Zeitorganismus aufgefaßt werden kann, so daß man immer im Auge haben kann in jedem Lebensjahre des zu unterrichtenden und zu erzie­henden Kindes gegenüber dem ganzen menschlichen Leben, daß man gewissermaßen wie eine Art seelisch-geistigen Keimes dasjenige in das Kind legen kann, was dann Früchte bringen soll für das Glück, für die Sicherheit, für die Praxis des Lebens durch das ganze Erdendasein hindurch.

Wir haben zunächst ins Auge gefaßt dasjenige Lebensalter des Men­schen von der Geburt bis zum Zahnwechsel, in dem der Mensch ganz und gar ein nachahmendes Wesen ist. Man muß sich vorstellen, daß der Mensch in diesem ersten Lebensalter in einer außerordentlich intimen Weise zusammenhängt mit seiner Umgebung. So daß gewissermaßen dasjenige, was sich in den äußeren Vorgängen, namentlich aber in alledem, was durch Menschen geschieht, ja sogar was durch Menschen gefühlt und gedacht wird, daß sich das alles in einer gewissen Weise so für das Kind ausnimmt, daß dieses Kind nachahmend hineinwächst in diese Vorgänge seiner Umgebung. Dieses Verhältnis, diese Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, hat eine Art entgegengesetzten Poles in dem, was dann im Verlaufe des menschlichen Lebens zutage tritt in der Geschlechtsreife.

In unserem heutigen mehr oder weniger materialistisch denkenden Zeitalter wird viel über die Geschlechtsreife des Menschen gesprochen. Allein dieses Phänomen wird gewöhnlich als ein vereinzeltes hingestellt, während es für die unbefangene Beobachtung in Wahrheit nur die Folge

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einer völligen Metamorphose des ganzen menschlichen Lebens in dem entsprechenden Lebensalter ist. Der Mensch entwickelt in diesem Lebensalter nicht nur die mehr oder weniger seelisch-geistig oder phy­sisch gefärbten erotischen Empfindungen, der Mensch beginnt von diesem Lebensalter an erst sich unmittelbar urteilend, von seiner Persön­lichkeit aus urteilend, sich auslebend in Sympathie und Antipathie, zur Welt sich zu stellen. Der Mensch wird ja erst jetzt im Grunde genommen ganz in die Welt hinausgestellt. Der Mensch wird da erst reif, sich an die Welt so hinzugeben, daß in ihm selbständiges Denken, selbständiges Fühlen, selbständiges Beurteilen der Welt stattfindet.

In der Zeit von dem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife haben wir das Lebensalter, das hauptsächlich auf das selbstverständliche Autori­tätsgefühl gegenüber dem Lehrenden, dem Erziehenden aufgebaut ist. In diesem wichtigen Lebensalter, das also gewissermaßen zwischen zwei polarischen Gegensätzen liegt, zwischen dem Kindesalter, in dem der Mensch, ganz und gar ohne sich selbst als Subjekt zu fühlen, an die Objektivität hingegeben ist, und zwischen dem Reifealter, in dem der Mensch sich mehr oder weniger scharf mit seiner ganzen Innerlichkeit als Subjekt abhebt von der äußeren Welt durch dasjenige, was man in umfassendstem Sinne Sympathie oder Antipathie, kurz, die verschiede­nen Äußerungen, die verschiedenen Offenbarungen der Liebe nennen kann, zwischen diesen beiden Zeitaltern des menschlichen Lebens liegt dasjenige drinnen, was gerade das volksschulpflichtige Alter des Kindes ist. Zwischen diesen zwei Lebensaltern, zwischen diesen zwei Polen haben wir durch die Schulerziehung, durch den Schulunterricht den Ubergang zu schaffen.

In beiden Lebensaltern, sowohl im Kindesalter wie im Reifealter, hat der Mensch einen gewissen festen Schwerpunkt seines Lebens, das eine Mal mit der Welt zusammen im Kindesalter, das andere Mal in sich. Das Lebensalter dazwischen, das eigentliche schulpflichtige Alter, ist dasje­nige, wo der Mensch mit seinem Seelenleben, überhaupt eigentlich als ganzes menschliches Wesen in einem mehr labilen Gleichgewichte ist, in einem solchen Gleichgewichte zu dem der Lehrer oder Erzieher eigent­lich hinzugehört.

Im Grunde genommen ist der Lehrer, der Erzieher für das Kind im

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Volksschulalter die Welt. Dasjenige, was Welt ist, lebt sich nicht durch Willkür dar, sondern einfach durch die naturgemäße Gesetzmäßigkeit der menschlichen Entwickelung, lebt sich durch dasjenige dar, was der Lehrer, was der Erzieher dem Kinde ist. Der Lehrer, der Erzieher, ist für das Kind die Repräsentation der Welt. Und wohl dem Kinde, das, bevor es im Reifezeitalter einzutreten hat mit seinem eigenen Urteil, mit seinem eigenen Wollen, mit seinem eigenen Fühlen zur selbständigen Stellung in die Welt, wohl dem Kinde, das zuvor die Welt vermittelt erhält durch jemanden, in dem sich die Welt in dieser entsprechenden Weise spiegelt!

Das ist tiefempfundenes Erziehungsprinzip derjenigen Pädagogik und Didaktik, welche auf anthroposophischer Grundlage ruhen soll. Mit diesem Erziehungsprinzip sucht man nun in dem Lebensalter der Volks­schule jedes Jahr, ja man möchte sagen, jeden Monat, jede Woche die Entwickelung des Kindes so intim zu durchschauen, daß man Lehrplan und Lehrziele von der menschlichen Wesenheit abliest. Ich möchte sagen : Erkenntnis des Menschen, wahre, intime Erkenntnis des Men­schen bedeutet zu gleicher Zeit die Möglichkeit, überall zu sagen: Das muß in einem entsprechenden Lebensjahre oder sogar Lebensmonate an das Kind herangebracht werden.

Wenn man bedenkt, daß das Kind bis ungefähr zum siebenten Jahre hin, wo es eigentlich erst in die Volksschule kommen sollte, ein nachah­mendes Wesen war, das durch seinen Willen sich vollständig hineinglie­dern wollte in seine Umgebung, daß zurücktreten mußte selbstverständ­lich alle Intellektualität, die auf der Selbstbetätigung des Seelischen beruht, daß zurücktreten mußte selbst mehr oder weniger das Fühlen, das ja nur als ein Mitfühlen mit der Umgebung zur Geltung kommt, daß alles einen willensartigen Charakter annimmt in einem nachahmenden Wesen, so werden wir begreifen, wieviel von diesem willensarti­gen Charakter als der Grundwesenheit des Kindes uns mitkommt, wenn wir das Kind um die Zeit des Zahnwechsels in die Volksschule be­kommen.

Wir müssen daher vor allen Dingen darauf bedacht sein, den Aus­gangspunkt zu nehmen von Willenserziehung und Willensunterricht. Das gibt dann die Grundlage dafür ab, daß ausgegangen wird vom

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Künstlerischen; daß das Schreiben zunächst nicht so an das Kind heran-gebracht wird, daß das der menschlichen Natur innerhalb unserer heuti­gen Zivilisation im Grunde genommen schon fremde Buchstabenzeich­nen unmittelbar an das Kind herangebracht werde, sondern daß das Kind eingeführt wird in Malerisches und Zeichnerisches, das sich aus­nimmt wie eine Fortsetzung des selbstverständlichen Willens, und dann herausgeholt wird aus dem Malerischen und Zeichnerischen dasjenige, was dann zum Schreiben führen soll.

Man wird dabei sogleich zwei sehr verschiedene Anlagen bei den Kindern bemerken. Diese zwei verschiedenen Anlagen sollten durchaus beobachtet werden. Denn in ihrer Führung kann sich ein Wesentliches kundgeben zum Heil oder auch zum Unheil des Kindes. Man bekommt in bezug auf das Schreiben zweierlei Kinder. Gerade wenn man sie von einer Art von Malen zum Schreiben hinführt, bemerkt man dieses. Die eine Art von Kindern lernt gewissermaßen Schreiben so, daß es beim Malen bleibt, daß auch geschrieben wird, ich möchte sagen, mit dem Auge, daß das Kind jeden Strich beobachtet, den es macht, daß es mit einem gewissen Schönheitsgefühl an der Herstellung des Geschriebenen arbeitet, daß etwas Zeichnerisch-Künstlerisches in die Schrift übergeht. Andere Kinder bringen es nur dahin, aus einem organischen Mechanis­mus heraus die Schriftzeichen mit einer gewissen Notwendigkeit aufs Papier zu bringen. Es ist sogar im Schreibunterricht, der oftmals nach wenig pädagogischen Grundsätzen geführt wird - namentlich bei älteren Leuten, wenn sie das noch nötig haben -, es ist beim Schreibunterricht gewöhnlich nur darauf abgesehen, daß der Mensch in dieser mechani­schen, in dieser von innen heraus gehenden notwendigen Weise einfach die Schriftzeichen auf das Papier hinsetzt. Dadurch hat der Mensch ja seine ganz bestimmte Handschrift. So wie der Mensch seine Gesten hat, deren er sich eigentlich ganz unbewußt ist, so hat er auch seine Hand­schrift, der er sich ganz unbewußt bleibt. Ein solcher Mensch hat gewissermaßen kein Echo mehr von seiner Schrift. Er ruht nicht gefällig mit dem Auge auf seiner Schrift; es setzt sich nichts Künstlerisch-Zeichnerisches in die Schrift fort.

Es müßte eigentlich ein jedes Kind dazu geführt werden, dieses Künstlerisch-Zeichnerische noch in die Schrift hineinzuführen; so daß

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eigentlich immer das Auge ruht auch auf dem Blatt Papier, das beschrie­ben wird, daß das Auge einen Eindruck bekommt von dem, was geschrieben wird. So daß der Mensch nicht nur aus einer inneren mechanischen Notwendigkeit heraus seine Handschrift schreibt, son­dern daß er auch das Echo seiner eigenen Schrift, seiner eigenen Buchsta­ben, wenn ich so sagen darf, wiederum erlebt. Dadurch - man wird es heute noch als ein Paradoxon auffassen, aber es ist doch so -, dadurch wird in dem Kinde herangebildet in viel größerem Maße eine gewisse Liebe zu seiner Umgebung, eine gewisse Verantwortlichkeit gegenüber der Umgebung. Ein gewisses Achtgeben auf alles dasjenige, was wir sonst tun im Leben, ist eine notwendige Folge dieser Art des Schreiben-lernens, wo nicht nur mit der Hand, sondern auch mit dem Auge schreiben gelernt wird.

Und man sollte gar nicht unterschätzen, wie diese Intimitäten in das gesamte menschliche Leben hineinfließen. Mancher Mensch, der Mangel zeigt im späteren Leben an einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, ja an einer gewissen liebevollen Hingabe an seine Umgebung, dem hätte geholfen werden können, wenn er in der richtigen Weise hätte Schreiben gelernt.

Man soll während des Erziehens, des Unterrichtens nur ja die Inti­mitäten nicht übersehen. Indem Anthroposophie überall in liebevoller Weise, nicht nur in theoretischer Weise, hineinleuchten möchte in die menschliche Natur, alle einzelnen menschlichen Äußerungen aus dem innersten Seelen- und Geistesgrunde heraus in ihrer Realität erkennen möchte, kommt sie eben darauf, zu den allgemeinen Grundsätzen der Pädagogik und Didaktik diese wirkliche Erziehungspraxis hinzuzufü­gen. Dann, wenn man darauf bedacht ist, den Willen einfließen zu lassen in den Schreibunterricht, dann kann der Schreibunterricht solche Früchte zeitigen, wie ich sie eben gekennzeichnet habe.

Nun geht man dann über zum Lese-Unterricht, der sich schon mehr auf das Gefühl gründet, der eigentlich aus dem Schreiben heraus entwik­kelt werden soll. Das Lesen ist ja mehr eine Anschauung, wenn ich mich etwas äußerlich ausdrücken darf; das Schreiben ist ein Mittun. Ausgehen soll die kindliche Erziehung vom Willenselement, von der Betätigung, nicht bloß vom Beobachten.

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Das sind die drei Stufen, die eigentlich überall in der Erziehung, im Unterrichte ungefähr vom siebenten bis vierzehnten Jahre vorhanden sein sollen: erst soll aller Unterricht ausgehen auf Betätigung. Er soll sich allmählich hinüberführen zu dem, was Beobachtung sein kann, und erst in dem letzten Abschnitt dieser Lebensepoche können wir übergehen zu demjenigen, was dann gegen das Experiment, gegen den Versuch hingeht.

Ich habe gestern darauf hingewiesen, wie etwa zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre ein wichtiger Punkt in der kindlichen Entwik­kelung liegt, wie da viel darauf ankommt, daß der Lehrende, der Erziehende die innersten Seelenbedürfnisse in diesem Lebensalter bei dem einzelnen Kinde entdecke und sich demgemäß benehme. Aber dieser Zeitpunkt in der kindlichen Entwickelung muß auch noch in anderem Sinne scharf beobachtet werden. Denn eigentlich lernt erst in diesem Zeitpunkte das Kind sich so recht von seiner Umgebung abglie-dern, durch Gefühl und Wille abgliedern, durch Urteilen abgliedern. Durch völlig innere Selbständigkeit lernt das Kind sich eigentlich erst von der Umgebung unterscheiden mit der Geschlechtsreife.

Aber es beginnt in der Entwickelung zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre die Nuance auf dieses Abscheiden von der Umge­bung hin. Und gerade deshalb ist es so wichtig, diesen Zeitpunkt ins Auge zu fassen, weil man das Kind noch in der Hand behalten muß bis zur Geschlechtsreife, doch aber eine Änderung in dem Sinne, wie ich das gestern dargestellt habe, eintreten lassen muß in der Behandlung. Es ist bis zu diesem Zeitpunkte so, daß das Kind am besten in der Weise unterwiesen wird, daß man auch gar nicht Anspruch darauf macht, daß das Kind sich irgendwie unterscheide von seiner Umgebung. Es ist immer von Nachteil, wenn man vor dem neunten oder zehnten Lebens­jahr irgend etwas, sagen wir, Naturgeschichtliches oder irgend etwas anderes dem Kinde beibringen will, das notwendig macht, daß das Kind nach der Objektivität hindeutet und sich selber unterscheidet von der Umgebung. Je mehr man die Umgebung personifizieren kann, in bild­hafter Weise von der Umgebung sprechen kann, je mehr man personifi­ziert, je mehr man künstlerisch auch in bezug auf Mitteilungen über die Umgebung an das Kind herantritt, desto besser ist es für die Entwickelung

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des Kindes, desto mehr kann sich noch willensartige Natur des Kindes aufschließen und verinnerlichen.

Vertieft kann diese willensartige Natur des Kindes durch alles dasje­nige werden, was musikalischer Art ist. Das Musikalische gibt vom sechsten, siebenten Jahre ab dem Kinde die Verinnerlichung, die Gemütsnuance. Der Wille wird stark gemacht durch alle anderen, mehr bildnerischen, künstlerischen Betätigungen, soweit sie selbstverständlich dem kindlichen Alter entsprechen. Man muß sich durchaus klar sein darüber, daß über Pflanzen, über Tiere, selbst Gegenstände der leblosen Natur so gesprochen werden soll, daß das Kind noch nicht fühlt: Ich bin getrennt von diesen Dingen; daß es gewissermaßen so fühlt, wie wenn die Dinge nur eine Fortsetzung seines eigenen Wesens wären. Personifi­kationen der äußeren Dinge und Tatsachen, die sind in diesem Lebensal­ter durchaus am Platze.

Es ist ganz irrig, etwa darüber nachzuspekulieren, daß man dem Kinde, indem man ihm die Natur personifiziert, etwas beibringe, das nicht der Wahrheit entspricht. Das ist gar nicht der Gesichtspunkt, den man geltend machen muß. Der Gesichtspunkt, den man geltend machen muß, das ist der: Was bringt man an das Kind heran, damit seine Lebenskräfte sich aufschließen, damit dasjenige, was in ihm ist, aus seinem Inneren an die Oberfläche des Daseins hervortritt? Das kann man gerade dadurch, wenn man in aller Beschreibung, in aller Erzählung über die Umgebung möglichst lebendig ist, möglichst alles so erscheinen läßt, wie dasjenige ist, was aus dem Menschen selbst hervorquillt. Denn es muß alles dasjenige, was an das Kind in diesem Lebensalter herange­bracht wird, an den ganzen Menschen herangebracht werden. Es darf nicht an die Kopforganisation, an die Nervenorganisation herangebracht werden.

In dieser Beziehung liegt unseren Betrachtungen noch in vielem eine ganz falsche Menschenanschauung, eine ganz falsche Menschenlehre zugrunde, eine falsche Anthropologie. Wir schreiben gewissermaßen in erster Linie dem Nervensystem viel zuviel zu; während das von ganz besonderer Wichtigkeit ist, daß aus dem ganzen Menschen heraus, durch eine Strömung von unten nach oben, die Gliederbetätigung, alles dasje­nige, was der Mensch im Verhältnis zu seiner Umgebung ausführt, sich

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erst abdrückt im Nervensystem, namentlich im Gehirn. So daß wir es nicht als paradox ansehen würden, wenn anthroposophische Menschen­erkenntnis behaupten muß: Auch für später wird die Intelligenz, wird das Unterscheidungsvermögen, wird der Verstand, die Vernunft ausge­bildet dadurch, daß man das Kind im frühen Alter die richtigen Bewe­gungen machen läßt. Wenn man gefragt wird : Warum hat dieses Kind im dreizehnten, vierzehnten Jahre kein gesundes Unterscheidungsvermö­gen? Warum urteilt es verworren? - so muß man oftmals sagen: Weil man es im früheren Kindheitsalter nicht die richtigen Bewegungen mit Händen und Füßen hat machen lassen.

Daß dies eine gewisse Berechtigung hat, das zeigt uns im Waldorf-schulunterricht, in der Waldorfschulerziehung die Verwendung der Eurythmie als eines obligatorischen Lehrgegenstandes. Diese Eurythmie ist eine Bewegungskunst, aber sie hat durchaus auch eine pädagogisch-didaktische Seite. Diese Eurythmie ist nämlich eine wirkliche sichtbare Sprache. Nicht ein bloß Pantomimisches oder irgend etwas Tanzartiges ist diese Eurythmie, sondern diese Eurythmie ist dadurch entstanden, daß, wenn ich mich dieses Goetheschen Ausdruckes bedienen darf, durch sinnlich-übersinnliches Schauen herausgebracht worden ist, wel­che Bewegungstendenzen im ganzen Menschen sind - ich sage Bewe­gungstendenzen, nicht wirkliche Bewegungen -, welche Bewegungsten­denzen im ganzen Menschen sind, wenn der Mensch in der Lautsprache oder im Gesange sich offenbart. Wirkliche Bewegungen führt der Kehl­kopf, führen die anderen Sprachorgane aus.

Diese Bewegungen setzen sich um in Luftbewegungen, die dann vermitteln den Laut, den Ton für das Gehör. Aber es gibt innerliche Bewegungstendenzen, Bewegungsintentionen. Die hören, man möchte sagen, schon auf im Status nascendi. Man kann das studieren durch sinnlich-übersinnliches Schauen. Man kann gewissermaßen dasjenige studieren, was sich im ganzen Menschen bildet, was aber nicht zur wirklichen Bewegung wird, sondern sich metamorphosiert in diejenigen Bewegungen, die Kehlkopfbewegungen oder Bewegungen anderer Sprachorgane sind.

Dann läßt man den ganzen Menschen oder Menschengruppen diese Bewegungen ausführen, und man bekommt eine geradeso geregelte

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organische sichtbare Sprache in der Eurythmie, wie man die hörbare Sprache oder den hörbaren Gesang durch die Sprachorgane des Men­schen hat. Jede einzelne Bewegung, ja jeder einzelne Teil einer Bewe­gung in der Eurythmie ist eine Gesetzmäßigkeit des menschlichen Organismus, so wie die Sprache oder der Gesang selbst.

Daher sehen wir in der Waldorfschule, wie die Kinder, die nun im schulpflichtigen Alter stehen, sich so selbstverständlich mit innerer Befriedigung, wenn die Sache richtig gemacht wird, in diese Eurythmie hineinfinden, wie das jüngere Kind sich selbstverständlich in die Sprache hineinfindet, in die Sprache hineinentwickelt. Wie der Organismus einfach sich bewegen will unter der Nachahmung, so will sich das Kind zur Offenbarung bringen in der Sprache. Sein Wohlgefallen, sein innerli­ches Wohlgefühl, alles beruht darauf, daß es sich in dieser Weise äußern kann. In einer späteren Lebensstufe entwickeln die älteren Kinder gegenüber dieser sichtbaren Sprache der Eurvthmie ganz dieselben inneren Empfindungen, nur etwas metamorphosiert. Da diese Euryth­mie hervorgeholt ist aus der vollen inneren Gesetzmäßigkeit des menschlichen Organismus, wirkt sie wiederum zurück auf die Organi­sierung des gesamten Menschen in gesunder Weise.

Besinnen wir uns doch nur einmal auf die menschliche Form, ich exemplifiziere auf die äußere menschliche Form, es könnte das aber durchaus auch für die inneren Organe getan werden, aber nehmen wir eine menschliche Hand mit dem menschlichen Arm : Können wir denn die menschliche Hand mit dem menschlichen Arm in der ruhenden Form verstehen? Es wäre eine Illusion, zu glauben, daß wir die ruhende Hand, den ruhenden Arm verstehen. Wir verstehen die ganze Form der Finger, der Handfläche, des Armes nur, wenn wir auch den Arm in Bewegung sehen. Die ruhende Form hat nur einen Sinn, indem sie in Bewegung übergeführt wird. Man könnte sagen: Die ruhende Form der Hand ist die Form der Bewegung der Hand, eben zur Ruhe gekommen; und die Bewegungen der Hand oder des Armes müssen so sein, weil die Hand in der Ruhe eben ihre bestimmte ruhige Form hat.

So kann man aber aus dem ganzen Menschen eben diejenigen Bewe­gungen hervorholen, die einem von der Form des Menschen, von der naturgemäßen Organisation selber vorgeschrieben werden, wie die

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Vokale, die Konsonanten, die aus der inneren Organisation heraus stammen. Und so ist Eurythmie durchaus gesetzmäßig aus dem heraus-geholt, was in der Form des Menschen veranlagt ist. Dieses Überführen aber des ruhenden Menschen in den bewegten Menschen, dieses sinn­volle Überführen in der sichtbaren Sprache der Eurythmie empfindet das Kind in der Tat mit tiefer innerer Befriedigung; denn es fühlt das innere Leben seines ganzen Menschen in dieser Überführung.

Das aber wirkt wiederum zurück, indem der ganze Organismus nun dasjenige gesetzmäßig ausgestaltet, was dann Intelligenz ist und was nicht direkt eigentlich ausgebildet werden soll. Bildet man die Intelligenz direkt aus, so legt man eigentlich in die kindliche Entwickelung immer etwas mehr oder weniger Ertötendes, Lähmendes. Holt man die Intelli­genz heraus aus dem ganzen Menschen, dann wirkt man im Grunde genommen außerordentlich heilsam für die Gesamtentwickelung des Menschen, dann gibt man dem Kinde eine Form der Intelligenz, die einfach herauswächst aus dem gesamten Menschen, währenddem die einseitige Ausbildung des Intellektes etwas wie auf den Gesamtorganis­mus Aufgepfropftes ist.

So nimmt sich die Eurythmie wirklich als ein obligatorischer Lehrge­genstand neben dem Turnen wie ein geistiges, wie ein beseeltes Turnen in pädagogisch-didaktischer Beziehung aus. Und man wird - ich bin ganz überzeugt davon - über diese Dinge einmal unbefangener denken alsa heute.

Es ist mir ja allerdings mit dieser Sache vor kurzem etwas sehr Merkwürdiges passiert. Ich setzte diese Dinge in bezug auf die Euryth­mie auseinander, und unter den Zuhörern war, man darf schon sagen, einer der allerbedeutendsten Physiologen Mitteleuropas. Sie würden sehr erstaunt sein, wenn ich Ihnen seinen Namen nennen würde, denn er hat Weltruf. - Ich sagte aus einer gewissen Bescheidenheit, selbstver­ständlich, heraus, denn Anthroposophie will auf keinem Gebiete irgend­wie etwas Umstürzlerisches : Man wird über das Turnen eben einmal so denken, daß es ja herausgeholt ist aus der Physiologie des Menschen, also aus. der Gesetzmäßigkeit des physischen Leibes, daß es deshalb wohltätig wirken kann auf die gesunde Ausbildung der menschlichen Leiblichkeit; man wird aber diese geistige, diese beseelte Eurythmie

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neben dem Turnen deshalb gelten lassen, weil bei ihr der Leib voll berücksichtigt wird, aber in jeder Bewegung, die ausgeführt wird, zugleich lebt Seele und Geist, so daß das Kind überall Sinnvolles fühlt in der Bewegung, sinnvolles Seelisch-Geistiges, nirgends die leere leibliche Bewegung, sondern überall das Einfließen des innersten Menschen in die Bewegung. Das Sonderbare, das ich erlebt habe, war, daß jener Physio­loge nachher zu mir kam und sagte: Sie nennen das Turnen auch ein Erziehungsmittel; ich bin durchaus dagegen, daß Sie dem Turnen eine physiologische Berechtigung zuschreiben. Von meinem physiologischen Standpunkte aus ist das Turnen für die Kinder eine Barbarei.

Nun, es fällt mir nicht ein, das von mir aus zu sagen, aber es ist mir doch immerhin interessant, mitteilen zu können, daß einer der bedeu­tendsten Physiologen der Gegenwart das äußerliche körperliche Turnen sogar für eine Barbarei hält. Wie gesagt, ich selber will durchaus nicht so weit gehen wie dieser Physiologe, sondern ich will nur eben sagen, daß Eurythmie ihre gute pädagogisch-didaktische Bedeutung hat neben dem Turnen, wie es eben heute geübt wird.

So wird namentlich in diesem Lebensalter bis zum neunten, zehnten Jahre hin die Eurythmie ein wichtiges Hilfsmittel, indem sie wieder zurückwirkt auf das Geistige, auf das Seelische des Kindes; sie wird ein wichtiges Hilfsmittel für die späteren Jahre, wenn das Kind zwischen dem neunten und zehnten Jahre sich lernt unterscheiden von der Umge­bung. Aber da hat man nun recht sehr achtzugeben, wie diese Unter­scheidung eintritt.

Zunächst wird man beachten müssen, daß man das Kind nicht zu früh heranführt an dasjenige, an dem sich nur der Verstand, das Begriffsver-mögen, das Intellektuelle betätigen kann. Man soll daher die Betrachtung des Tierischen, des Pflanzlichen der Betrachtung des Mineralischen, des Physikalischen und Chemischen immer vorangehen lassen, und man wird auch gegenüber dem Pflanzlichen und dem Tierischen sehen, daß sich das Kind in verschiedener Weise unterscheiden lernt von seiner Umgebung. Das Tierische fühlt das Kind seinem eigenen Wesen durch­aus näher im zehnten, elften Lebensjahre als das Pflanzliche. Das Pflanz­liche fühlt es wie etwas, was sich von der Welt herein offenbart. Das Tierische fühlt es so, daß man mit ihm mitfühlen muß, daß es gewissermaßen

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doch ein ähnliches Wesen hat wie der Mensch. Dem wird durchaus in Unterricht und Erziehung Rechnung getragen werden müs­sen. Daher wird man dasjenige, was man dem Kinde in diesem Lebensal­ter beibringt über das Pflanzliche, so beibringen müssen, daß man das Pflanzliche gewissermaßen zur Erde hinstellt, daß man in dem Pflanzli­chen etwas sieht, was aus der Erde wie aus einem Organismus heraus-Iwächst; das Irdische im Zusammenhang mit dem Pflanzlichen, das Irdische in seiner Entwickelung durch die Jahreszeiten hindurch, sich offenbarend in den verschiedenen Jahreszeiten im Pflanzlichen, in ver-schiedener Weise behandeln, also möglichst eine zeitliche Betrachtung des Pflanzlichen.

Man wird sehr leicht gestört durch die auf anderen Gebieten ja berechtigten Bestrebungen nach Anschaulichkeit, wenn man diese auch anwenden will auf einem solchen Gebiete, wie ich es eben geschildert habe. Man beachtet eben viel zuwenig, daß die Erde mit ihrem Pflanzen-wuchs eine Einheit ist. Es mag Ihnen wieder paradox erscheinen, aber geradesowenig wie man die Organisation eines Haares am Tier oder am Menschen für sich betrachten kann, sondern wie man die Organisation eines Haares nur in Verbindung mit dem ganzen Organismus als einen Teil betrachten kann, so sollte man gewissermaßen die Erde wie einen Organismus betrachten, und das Pflanzliche mit ihr zusammengehörig. Wenn man so auch dem Kinde gegenüber die Pflanzenwelt vertritt, dann sondert sich dasjenige, was das Kind an der Pflanzenwelt beobachten kann, in der richtigen Weise vom Kinde ab.

Dagegen sollte bei der Betrachtung des Tierreiches ein durchaus anderes walten. Das Kind hat gewissermaßen eine Gefühlsbrücke hin­über zum Tiere, eine Seelenbrücke, und dem sollte Rechnung getragen werden. Es wird heute vielfach belächelt, was ältere Naturphilosophen in dieser Beziehung als Anschauung gehabt haben. Man hat das alles durchaus auch in der Goetheschen Art der Tierbetrachtung. Man hat den Blick gewendet zu irgendeiner Tierform, man hat gefunden bei der einen Tierform, sagen wir zum Beispiel bei dem Löwen, insbesondere die Brustgruppe mit dem Herzen besonders ausgebildet, bei einer anderen Tierform sind die Verdauungsorgane hervorstechend, bei dieser Tier-form ist dasjenige, was in das Gebiß schießt, ganz besonders ausgebildet,

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bei einer anderen Tierform sind wiederum die Hörner oder dergleichen besonders ausgebildet. Man hat studiert die verschiedenen Tierformen als Ausdrucksformen für die einzelnen Organe. Man könnte sagen: Es gibt Kopftiere, Brusttiere, Gliedmaßentiere. Und weiter noch könnte man die Tierformen einteilen. Dann hat man das Gesamte. Nimmt man nun alle einzelnen Tierformen zusammen, bildet man gewissermaßen eine Synthese, so daß dasjenige, was bei der einzelnen Tierform beson­ders hervorsticht, zurücktritt und sich einem Ganzen fügt, dann bekommt man die Form des Menschen. Der Mensch ist in seiner äußeren Form gewissermaßen die Zusammenfassung des ganzen Tierreiches.

Man kann im Kinde durchaus ein Empfinden von dieser Zusammen­fassung der gesamten Tierwelt im Menschen hervorrufen. Dann ist etwas außerordentlich Bedeutsames getan, dann hat man das Kind auf der einen Seite in der richtigen Weise hingestellt zum Pflanzenreich, auf der anderen Seite in der richtigen Weise hingestellt zum Tierreich; zum Tierreich so, daß es gewissermaßen in dem ganzen Tierreich einen ausgebreiteten Menschen sieht, und in dem Pflanzenreich etwas sieht, was organisch mit der ganzen Erde zusammengehört. Wenn man in konkreter Einzelausführung innerlich verlebendigt in dieser Weise Tier­kunde, Pflanzenkunde belebt, dann nimmt man zugleich Rücksicht auf dasjenige, wie der Mensch sich durch seine innere Wesenheit hineinstel­len soll in die Welt. Dann wächst der Mensch in der richtigen Weise in die Welt hinein in dem Lebensalter, in dem er sich gerade von dieser Welt anfängt unterscheiden zu lernen, indem er Subjekt vom Objekt zu sondern beginnt. Man bringt es auf diese Weise dahin, die Welt in der richtigen Weise durch die Betrachtung der Pflanzenwelt vom Menschen abzusondern, und wiederum vom Menschen aus die Brücke nach der Welt zu schlagen; jene Brücke, die da sein muß, wenn überhaupt richtiges Gefühl für die Welt, Liebe für die Welt sich entwickeln soll. Man bringt das zustande, indem man das Tierreich wie ein ausgebreitetes Menschenwesen an das Kind heranbringt. So kann man durch das Organische, durch das Lebendige gehen und in dieser Weise dem Kinde sein Verhältnis zur Welt vermitteln. Und wenn so das zwölfte Lebens­jahr beginnt, hat man erst eigentlich die Möglichkeit, ohne schädlich in die kindliche Entwickelung einzugreifen, überzugehen zu einer Pflege

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des reinen Intellektuellen, des verstandesmäßigen Lebens. Wenn jener Lehrgang eingehalten wird, von dem ich heute gesprochen habe, so gehen wir von einer Willenskultur aus; gehen dann, indem wir in solcher Weise das Verhältnis des Kindes zum Pflanzenreich, zum Tierreich entwickeln, indem wir Naturgeschichtliches an das Kind heranbringen, gehen wir zu einer Gefühls- oder Gemütsbildung über. Das Kind lernt überall sich zu der Pflanzenwelt, zu der Tierwelt nicht nur theoretisch zu verhalten; es lernt nicht nur, sich Vorstellungen darüber zu machen, sondern es begründet ein Verhältnis zu dieser Umwelt. Es wird in ihm etwas bewirkt, was an das Gefühl, an das Gemüt herankommt. Und das ist von ungeheurer Wichtigkeit. Wenn wir nun in dieser Weise durch die Gemütskultur hindurch das Kind gebracht haben bis nahe zum zwölften äußere Bewegung und durch die richtige Führung durch Willens- und Jahre, dann können wir den Übergang finden zu der eigentlichen Verstandeskultur, die sich nun äußern kann, indem wir mehr diejenigen Lehrgegenstände und Erziehungsmittel an das Kind heranbringen, die nun auch die leblose Natur behandeln.

Das Mineralische, das Physikalisch-Chemische, alles das sollte eigent­lich erst in diesem Lebensalter an das Kind herangebracht werden. Von den eigentlichen Verstandesdingen ist nur das Rechnen im früheren Lebensalter nicht schädlich. Das kann deshalb früher geübt werden, weil es mit der inneren Disziplinierung zusammenhängt, und weil es sich eigentlich sowohl der Willenskultur wie auch der Gemütskult'ir gegen­über neutral verhält; weil es ganz und gar davon abhängt, daß wir in der richtigen Weise von der Geometrie, von der Arithmetik das Kind von außen her zu beleben wissen während des Zeitalters, in dem das Kind vorzugsweise auf Autorität eingestellt ist.

Aber dasjenige, was die leblose Natur betrifft, was nun den Übergang dann bildet beim Menschen für das Technische, das sollen wir erst gegen das zwölfte Lebensjahr an das Kind heranbringen. Bei dieser Schilderung eines Lehrganges ist eben durchaus Rücksicht genommen auf dasjenige, was der Entwickelung des Kindes selber abgelesen werden kann.

Bringt man in einer solchen Weise die äußere Welt an das Kind heran, dann kann man nämlich sicher sein, daß man in der Tat das Kind auch im richtigen Lebensalter zur Lebenspraxis führt. Und wir stehen ja leider

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einer Welt gegenüber in unserer heutigen Zivilisation, in der der Mensch nur in sehr geringem Maße zur Lebenspraxis geführt wird. Er wird zur Lebensroutine geführt, wird dazu geführt, daß er ein praktischer Mensch doch nur dadurch ist, daß er in mechanischer Weise einzelne Handgriffe ausführt. Die volle Liebe zur Praxis, die volle Liebe selbst zu demjeni­gen, was unsere Hände im groben verrichten müssen, die wird durch die heutige Schulerziehung nur in sehr geringem Maße entwickelt werden können.

Gerade dann aber, wenn man in dieser Weise aus wirklicher Menschenerkenntnis heraus unterrichtet und erzieht, wird man den Übergang finden dazu, daß das Kind, wenn es das Reifezeitalter erlangt hat, ein inneres, selbstverständliches Bedürfnis hat, ein praktischer Mensch zu werden. Wir versuchen daher in der Waldorfschule, indem wir die Kinder heranführen bis zu diesem Lebensalter, das sich der Reife nähert, durchaus überall das Praktische in die Schule einzuführen. Wir versuchen, Handwerkliches, das zu gleicher Zeit in einem gewissen Sinne kunsthandwerklich behandelt wird, in die Schule einzuführen.

Wir haben die Waldorfschule so eingerichtet, daß Knaben und Mäd­chen durcheinander sind. Es hat sich dadurch bis jetzt nicht der geringste Schaden in der Erziehungsführung herausgestellt. Dafür aber hat sich das andere herausgestellt, daß Knaben Mädchenarbeiten, Stricken, Häkeln und dergleichen außerordentlich gern verrichten, und daß gerade in bezug auf diese Handarbeiten ein wunderbares Zusammenarbeiten stattfindet in der Waldorfschule. Und vielleicht nehmen Sie mir diese persönliche Bemerkung nicht übel: Derjenige, der als Knabe in der Schule einmal Stricken oder Häkeln gelernt hat, der weiß, wieviel heraufgeströmt ist von diesem Strickenlernen, von diesem Häkelnlernen in den Kopf; wieviel übergegangen ist von dem Anfassen der Strickna­deIn und dem Einfädeln der Nadeln in die konsequente Entwickelung des logischen Denkens. Das mag paradox erscheinen, das gehört aber doch zu den Intimitäten des Lebens.

Es ist durchaus nicht immer ein Denkfehler in seinem Ursprunge zu suchen im Intellekt, sondern es muß dasjenige, was in der Blüte des menschlichen Lebens in der Intelligenz zum Vorschein kommt, im ganzen Menschen gesucht werden. Vor allen Dingen aber muß man sich

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klar darüber sein, daß dasjenige, was an praktischer Betätigung zum Ausdrucke kommt, innig zusammenhängt nicht nur in der Wirkung, sondern auch in der Rückwirkung mit alledem, was menschliche Kopf­kultur ist.

Überhaupt liegt derjenigen Menschenerkenntnis, die auf anthroposo­phischer Grundlage ruht, wenn sie Pädagogik und Didaktik werden will, durchaus ob, den Menschen hinzuführen zu einer praktischen, zu einer realistischen Auffassung des Lebens. Anthroposophie will ja nicht in ein mystisches Wolkenkuckucksheim führen, indem der Mensch sich fremd macht gegenüber der Lebenspraxis, Anthroposophie will gerade in die volle Lebenspraxis hineinführen, so daß einem das praktische Leben wirklich lieb wird.

Ich glaube nicht, daß einer ein wirklicher Philosoph sein kann, der, wenn es darauf ankommt, nicht auch einen Schuh wenigstens annähernd fabrizieren kann, der nicht hineingreifen kann in das volle Menschenle­ben. Alle Spezialisierung im Leben, so sehr sie sein muß, hat eigentlich nur eine heilsame Wirkung, wenn der Mensch zu gleicher Zeit wenig­stens von einer gewissen Seite her im vollen Leben drinnensteht. Das können wir natürlich als erwachsene Menschen nicht. Das soll aber in einer gewissen Weise doch erfüllt werden in der Erziehung und im Unterricht in der Weise, wie ich mir erlaubte, dies auseinanderzusetzen.

Dann, wenn wir so das Kind führen von der Betätigung zur Beobach­tung, zuletzt zum Versuche, zum praktischen Sich-Betätigen auch im Experimente, wenn wir es so führen von der Betätigung des Willens zu der gemütvollen Beobachtung und zu der verstandesmäßigen Betäti­gung, dann haben wir es durch einen Lehrgang geführt, der nun wirklich einen Seelen- und einen Geisteskeim in das Kind legt, die fruchtbar sein können für das ganze Leben. Und dieses ganze Leben muß eben von dem Unterrichtenden und Erziehenden ins Auge gefaßt werden.

Man hat viel nachgedacht über den eigentlichen Ursprung der Moral im Leben. Unsere Zeit ist eine Zeit der Abstraktion. Man philosophiert darüber, wie denn das Gute in das Leben hereinkommt, wo das Gute im Menschenleben als individuelles oder als soziales Gutes seinen Ursprung hat. Man kommt nur nicht auf das Konkrete dieses Ursprunges, weil unsere Zeit eine Zeit des Intellektuahsmus, eine Zeit der Abstraktion ist.

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Aber man nehme nur das ganz ernst, daß es naturgemäß ist für das Kind, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife sich hingeben zu können an die selbstverständliche Autorität, die für es die Welt ist. Und nehme man an, daß das Kind alles dasjenige, was es in seine Seele aufnimmt, unter dem Einflusse dieser Autorität aufnimmt, dann wird die Erziehungsfüh­rung so sein, daß in der Tat zunächst der Erziehende, Unterrichtende für das Kind wie das lebendige moralische Vorbild dasteht. Aber nehmen Sie meine ganze Schilderung, wie ich sie gegeben habe : Nicht moralisierend wirkt der Lehrer, der Erzieher; er hat gar nicht notig, moralisierend zu wirken, er ist selber die verkörperte Moral. Was er tut, wird unter dem Autoritätsgefühl von dem Kinde als das Richtige angesehen; was er unterläßt, wird als das Unrichtige angesehen. Und so entwickelt sich im lebendigen Verkehr von Kind und Lehrer und Erzieher ein System von Sympathie und Antipathie mit dem Leben. Und unter diesen Sympa­thien und Antipathien entwickelt sich das richtige Gefühl für Menschen­würde, für entsprechendes Drinnenstehen in der Welt. Tief im innersten Seelischen sehen wir etwas heraufrücken im Kinde in diesem Lebensal­ter, das zuweilen an die Oberfläche tritt und nur in der richtigen Weise gedeutet werden muß.

Wir sehen zuweilen, wie das Kind errötet, errötet unter dem Einflusse gewisser Gemütsbewegungen. Das bedeutsamste Erröten ist das Erröten beim Schamgefühl. Ich meine das Schamgefühl nicht nur im engeren Sinne, wo es sich auf das Geschlechtliche bezieht, sondern ich meine das Schamgefühl im allerweitesten Sinne, wenn das Kind irgend etwas getan hat, was ihm so erscheinen kann nach dem System der Sympathien und Antipathien, die es entwickelt hat, daß es sich zu schämen hat, daß es sich gewissermaßen zurückzuziehen hat von der Welt. Dann schießt ihm dasjenige, was sein Wesen, sein Lebenswesen ausmacht, in die Periphe­rie; es verbirgt sich gewissermaßen hinter der Schamröte das eigentliche Seelenwesen. Das andere Extrem ist dasjenige, wenn das Kind sich aufrechtzuerhalten hat gegenüber einem Bedrohlichen in der Umge­bung. Es tritt dann das Erblassen ein. Diese beiden Erscheinungen an der Oberfläche des Menschen, Erröten und Erblassen, deuten auf Wichtig­stes im menschlichen Seelenleben, sie deuten auf dasjenige, was das System der Sympathien und Antipathien im Leben ist.

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Ich möchte sagen, wenn man die seelische Fortsetzung nach innen für das Erröten, für das Erblassen studiert, dann studiert man das Ergebnis desjenigen, was der Lehrer, der Erzieher durch seine selbstverständliche Autorität als der pädagogisch-didaktische Künstler in dem Kinde, in der Seele, in dem Geiste des Kindes zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife ausbildet. Es wird zunächst nicht Moral gelehrt, es wird Moral gelebt. Das Gute wandert herüber in die Sympathien und Anti­pathien des Kindes vom Lehrer zum Kinde, und es lebt sich das aus in dem inneren Erröten und Erblassen der Seele, wenn das innere Lebens­gefühl durch Bedrohliches oder durch dasjenige, worüber man sich zu schämen hat, in einer gewissen Weise bedroht, vernichtet, gelähmt wird. Und so entwickelt sich für echte, wahre Menschenwürde die entspre­chende Empfindung, der entsprechende Empfindungskomplex in dem Kinde. Es ist von einer großen Wichtigkeit, daß in diesem labilen Gleichgewichte des Verhältnisses zwischen dem Kinde und seinem Erzieher, seinem Lehrer eine lebendige Moral sich entwickele. Denn wenn das Kind nun geschlechtsreif wird, dann kommt demjenigen, was ich gestern ja als den ätherischen Leib in der Zeit charakterisiert habe, als einen Zeitorganismus, es kommt diesem Zeitorganismus entgegen dasje­nige, was nun eine Art höheres Glied der menschlichen Organisation ist. Mit der Geschlechtsreife kommt das, was die Anthroposophie den astralischen Leib nennt, der den Menschen erst in der Weise, wie ich es geschildert habe, in die Welt hineinstellt, der den Menschen viel mehr in sich zusammennimmt als der ätherische Leib, es kommt dieser astrali­sche Leib nun dem ätherischen Leib entgegen, und dasjenige, was in mehr künstlerischer Weise in einem System von Sympathie und Anti­pathie ausgebildet ist, es verwandelt sich das in moralische Haltung, in Seelenverfassung.

Sehen Sie, das ist das wunderbare Geheimnis der Geschlechtsreife des Menschen, daß dasjenige, was wir vorher als lebendige Moral im Kinde pflegen, dann bewußte Moral, Moralprinzipien wird mit der Geschlechtsreife. Das ist die Metamorphose, die sich vollzieht im gro­ßen. Davon ist dasjenige, was sich in der Erotik vollzieht, nur ein untergeordneter Ausdruck. Nur ein materialistisches Zeitalter sieht in der Erotik die Hauptsache. Aber in jenem wunderbaren Geheimnis muß

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die Hauptsache gesehen werden, daß dasjenige, was wir zunächst auf mehr natürliche Weise begründen durch das unmittelbare Erleben, daß das dann als bewußte Moral zutage tritt.

Und alles, alles was bewußt an Moral in der Welt ist, was in unserer Sozietät, in unserem gesamten sozialen Leben als Moral lebt, das hat, so wie die Pflanze ihre Wurzeln im Boden hat, seine Wurzeln in demjeni­gen, was künstlerisch-ästhetisch als ein System von Sympathien und Antipathien zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife im schulpflichtigen Alter im Kinde gepflegt wird. Man suche nicht in philosophischen Abstraktionen den Ursprung des Guten, man gehe aus auf das wirkliche Anschauen, auf das Wirkliche, Konkrete. Man frage: Was ist das Gute im wirklichen Leben? Das Gute im wirklichen Leben ist, was wir imstande sind, zwischen der Autorität des Lehrenden und Erziehenden und dem Kinde in dem charakterisierten Lebensalter zu pflegen.

So wird das Leben als ein Ganzes betrachtet. Es wird betrachtet, was das Kind hat, wenn es in dem schulpflichtigen Alter gefestigt wird. Da steht seine Seele noch mit dem physischen Organismus in innigstem Zusammenhang. Erst im fünfunddreißigsten Jahre des Lebens etwa reißt sich eben das Seelische von dem Körperlichen. Dann können wir zwei Wege einschlagen als Menschen, zu denen wir leider oftmals nicht mehr die Freiheit haben. Der eine Weg ist der, daß, wenn sich das Seelisch-Geistige gewissermaßen abschnürt mit dem fünfunddreißigsten Lebens­jahre, wir in diesem Seelisch-Geistigen etwas haben, das lebt, weil in dem Sinne, wie ich das gestern auseinandergesetzt habe, lebende, wachsende Empfindungs- und Willensimpulse, Begriffe im kindlichen Alter einge­pflanzt worden sind, weil man sich nicht nur zurückerinnert an das­jenige, was man in der Schule erlebt hat, sondern weil man es immer wieder lebt, weil es ein fortdauerndes Entstehen des Lebens ist. Man wird dann alt, man wird in seinen Gliedern alt, man kann selbst runzelig werden, graue Haare bekommen, aber der grau gewordene Kopf, der vielleicht sogar von Gicht durchzogene Organismus, der hat dann eine frische Seele im höchsten Alter, der wird wieder jung, ohne kindisch zu werden.

Dasjenige, was man vielleicht als Fünfziger wie eine zweite Kindheit

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hat, das hat man daher, daß die Seele kräftig genug geworden ist während der Erziehung, während des Unterrichtes, nicht nur, wenn sie die körperliche Stütze hat, richtig zu wirken, richtig zu funktionieren, sondern auch dann, wenn sie sich losgeschnürt hat.

Derjenige, der als Lehrer und Erzieher dem Kinde gegenübersteht, der sieht nicht nur das Kind, der hat die Verantwortung auf seiner Seele lasten für alles dasjenige, was aus diesem Menschen werden kann, mit dem Lebensglück, mit der inneren Seelen- und Daseinssicherheit noch ins späteste Lebensalter hinein.

So kann man verfolgen dasjenige, was man erzieherisch, unterrichtend in das Kind verpflanzt, im einzelnen Menschen. Aber man kann das­jenige, was man verpflanzt, auch verfolgen in das soziale Leben hinein. Soziale Moral ist eine Pflanze, die ihre Wurzeln im Schulzimmer hat, wo die Kinder zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre unterrichtet werden. Und wie der Gärtner schaut auf den Boden seines Gartens, so sollte die menschliche Gesellschaft schauen auf den Boden der Schule, in der die Kinder in diesem Lebensalter unterrichtet werden, denn da liegt der Boden für alle Moral, für alles Gute.

Anthroposophie will in befriedigender Weise Menschenerkenntnis sein, Erkenntnis des Menschen als eines einzelnen individuellen Wesens, Erkenntnis des Menschen als eines sozialen Wesens. Sie will die einzel­nen Lebensgebiete befruchten. Sie will in dieser Weise dasjenige befruch­ten, was Pädagogik und Didaktik ist. Es ist mir natürlich in zwei Vorträgen nur möglich, einige Richtlinien zu geben. Anthroposophie wird weiter arbeiten, denn es ist selbstverständlich zuerst nur ein bescheidener Anfang, der mit einer pädagogischen und didaktischen Grundlegung gemacht werden konnte. Zu Weihnachten werde ich in Dornach für ein weiteres, internationales Publikum versuchen, in einer ganzen Reihe von Vorträgen die anthroposophische Pädagogik und Didaktik weiter auszubauen. Dasjenige aber, was ich zeigen wollte auch mit diesen wenigen Richtlinien, das ist das, daß es bei Anthroposophie auch in pädagogischer Beziehung nicht ankommt auf irgend etwas Theoretisches oder auf der Begründung einer Ideen-Weltanschauung, sondern daß es ankommt auf die Lebenspraxis. Und das mißkennt man gewöhnlich der Anthroposophie gegenüber. Man hält die Anthroposophie

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für etwas Lebensfremdes. Das will sie nicht sein. Sie will nicht den Geist erkennen, damit der Mensch sich mit dem Geist in ein Wolken­kuckucksheim versetzen kann und lebensfremd wird, sie will den Geist erkennen, damit der Geist schaffend auch in allem materiellen Sein ist. Und daß er ein Schaffender ist, das wird vielleicht doch schon aus den, wenn auch noch geringen Erfolgen der Stuttgarter Freien Waldorfschule heraus erkannt werden können.

Die Stuttgarter Freie Waldorfschule hat ja in ihrem Betriebe nicht etwa bloß den Unterricht der Kinder. In diesen Unterricht fließt vieles andere ein, und wir haben namentlich immer dann, wenn ich selber in Stuttgart sein kann, Lehrerkonferenzen. In diesen Lehrerkonferenzen wird fast jedes einzelne Kind auf seine Individualität hin behandelt; nicht etwa in aburteilender Weise, sondern darnach behandelt, was man gerade durch diese besondere Individualität des Kindes lernen kann. Die wunderbarsten Dinge haben sich ergeben.

Ich habe schon immer meine Aufmerksamkeit darauf gewendet, was sich für eine Klasse ergibt, je nachdem Mädchen in der Majorität sind, wir haben solche Klassen, oder Knaben in der Majorität sind, wir haben auch solche Klassen. Wir haben auch Klassen, in denen ungefähr dieselbe Zahl von Mädchen und Knaben sind. Man kann niemals aus dem persönlichen Verkehr dasjenige ableiten, was das Charakteristikon sol­cher Klassen ist. Es spielen da durchaus seelisch-geistige Imponderabi­lien. Aber eine Klasse, in der die Mädchen in Majorität sind, ist ganz anders, selbstverständlich nicht besser und nicht schlechter, aber ganz anders, als wenn Knaben in Majorität sind. Und wieder eine Klasse, in der die beiden Geschlechter in gleicher Anzahl vorhanden sind, ist wiederum ganz anders. Dasjenige aber, was sich dadurch, daß wirklich auf die Individualität eines Kindes eingegangen wird bis zu dem Grade, der in den Zeugnissen zum Ausdruck kommt, ergibt, das ist, daß man tatsächlich heute schon bei dieser Waldorfschule nicht nur sprechen kann - ich möchte das in aller Bescheidenheit erwähnen - von den fünfundzwanzig oder achtundzwanzig Lehrern, die da sind, sondern daß man sprechen kann von dem Geist der Waldorfschule.

Dieser Geist der Waldorfschule setzt sich ja bis in die Familien hinein fort. Ich weiß, wie beglückt sich die Familien fühlten, wenn sie die

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Zeugnisse der Kinder bekommen haben, und wie beglückt die Kinder ihre Zeugnisse nach Hause trugen. Ich möchte wirklich niemandem zu nahe treten - verzeihen Sie mir, wenn ich ein rein persönliches Aperçu vorbringe -, aber ich habe es im Leben niemals dazu gebracht, richtig zu Iunterscheiden gegenüber den Schülerleistungen, wie eine vier von einer drei oder gar eine drei bis vier von einer vier als Zensurnote sich unterscheidet, oder «fast befriedigend» von «befriedigend»; das war mir immer unmöglich, gegenüber den Leistungen von Kindern zu unter-scheiden bei all den Imponderabilien, die da in Betracht kommen.

Wir geben in der Waldorfschule gar nicht solche Zeugnisse, sondern wir geben Zeugnisse, in denen wir einfach das Kind beschreiben, so daß jedes Zeugnis eine individuelle Leistung des Lehrers ist. Und dazu geben wir dem Kind in das Zeugnis hinein einen Jahresspruch mit, den das Kind sich gewissermaßen, indem es ihn immer wieder und wiederum sich im folgenden Jahre, bis es den nächsten bekommt, vor die Seele führt, an dem das Kind sich kräftigen kann, der ganz auf die Individuali­tät des Kindes zugeschnitten ist. So ist das Zeugnis für das Kind etwas durchaus Individuelles. Man kann, indem man so verfährt, starke Dinge in die Zeugnisse hineinschreiben. Die Kinder nehmen ihr Spiegelbild, selbst wenn es nicht ganz lobend ist, durchaus hin. So weit haben wir es doch durch das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern in der Waldorfschule gebracht. Aber vor allen Dingen durch solche Dinge, die ich noch näher beschreiben könnte, rechtfertigt sich dasjenige, was man wie eine Wesenheit den Waldorf-Schulgeist nennen könnte. Er wächst, er ist ein organisches Wesen. Ich spreche natürlich bildlich, aber diese Bildlichkeit bedeutet eine Wirklichkeit. Es wird einem ja oftmals gesagt:

Die Lehrer können nicht alle vollkommen sein. Man kann also die schönsten Erziehungsgrundsätze haben, an der Unvollkommenheit des Menschen scheitern sie.

Ja, aber wenn man diesen konkreten Geist hat, den ich meine, der nun wirklich aus anthroposophischer Menschenerkenntnis hervorgeht, wenn man in der richtigen Weise empfinden kann gegenüber diesem Geiste, dann wächst der Mensch an diesem Geiste heran. Und ich schwatze wohl nicht aus der Schule - wörtlich in diesem Falle -, wenn ich sage, daß die Lehrer der Waldorfschule tatsächlich an dem Geiste der Waldorfschule

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wesentlich herangereift sind. Das fühlen sie auch. Sie fühlen auch, daß dieser Geist unter ihnen umgeht, daß sie selber wachsen unter diesem Geist und daß von den individuellen Fähigkeiten manches, was für die ganze Schule geleistet werden soll, unabhängig wird, daß auch da ein einheitlicher Geist darinnen ist, daß durchaus der Geist bei allen vorhanden ist, die in der Schule lehren und erziehen, der Geist, der das höchste Interesse daran hat, in dieser Weise in der Schule Keime zu legen, die für das ganze Leben gelten können, wie ich das geschildert habe. Man sieht das an einzelnen Erscheinungen.

Selbstverständlich haben wir auch Kinder mit schwachen Fähigkeiten, und es ist natürlich notwendig geworden, diese Kinder von den anderen abzusondern. So ist eingerichtet mit einem sehr hingebungsvollen Lehrer eine Hilfsklasse für schwächer veranlagte Kinder. Jedesmal muß ein Kampf bestanden werden, ein Schmerzenskampf mit den Lehrern, wenn sie irgendein Kind für die Hilfsklasse hergeben sollen, und ohne die dringendste Notwendigkeit wird kein Kind von dem Lehrer an die Hilfsklasse abgegeben. Würde man schematisch verfahren, dann würde manches Kind in diese Hilfsklasse abgeschoben werden, das der Lehrer, sich seine Mühe wirklich ins Unermeßliche vergrößernd, in der Schul­klasse drinnen behält unter den anderen Kindern.

Das sind Dinge, die ich nicht sage, um zu renommieren, sondern um zu charakterisieren. Ich würde sie nicht sagen, wenn es eben nicht notwendig wäre, hinzuweisen darauf, daß Anthroposophie eine pädago­gische und didaktische Grundlegung geben kann, die zu etwas durchaus Realem, zu einem realen Geiste führt, der den Menschen trägt, der nicht bloß wie der abstrakte Geist von dem Menschen getragen werden muß. Und das brauchen wir gegenüber unserer verfallenden Zivilisation, daß lebendige Geistigkeit wiederum unter uns kommt. Wir sollten durchaus eine jede einzelne Lebensfrage wiederum im Zusammenhange mit dem ganzen Leben betrachten können.

Nun, dasjenige, was heute als die brennendste Frage oftmals genannt wird, das ist die soziale Frage. Die soziale Frage interessiert im weitesten Umfange. Diese soziale Frage, die uns neben dem Ersprießlichen unge­heures Elend gebracht hat - wir brauchen nur an den europäischen Osten zu denken -, diese soziale Frage hat aber viele einzelne Einschläge.

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Einer der wichtigsten ist zweifellos derjenige, der es mit Erzie­hung und Unterricht zu tun hat. Ja, man wird sogar behaupten dürfen, daß, ohne sich der Erziehungs- und Unterrichtsfrage als einer sozialen .Aufgabe zu widmen aus wirklicher Menschenerkenntnis heraus, die soziale Frage auch auf den verschiedensten Gebieten des Lebens nicht auf einen gesunden Boden gestellt werden kann. Anthroposophie möchte es auf allen Gebieten mit dem Leben durchaus ernst und ehrlich nehmen. Sie möchte es daher vor allen Dingen mit dem Erziehen, mit dem Unterrichten ernst und ehrlich nehmen.

Merkwürdig, in bezug auf das geistige Leben ist der Menschheit im Zeitalter der Abstraktion und des Intellektualismus ein Begriff ganz verlorengegangen. Wenn wir nach Griechenland zurückgehen, so haben wir noch diesen Begriff. Es ist der Begriff, der zu gleicher Zeit ein gesundheitliches Heilen und ein Erziehen, ein Lernen und Lehren bedeutet. Man war sich noch im alten Griechenland bewußt, daß Lehren Gesundmachen des Menschen ist, daß dasjenige, was den Menschen seelisch, erzieherisch, unterrichtend beigebracht wird, in ihnen einen Heilprozeß veranlaßt. Der Unterrichtende im weitesten Umfange fühlte sich einstmals in der Menschheitsentwickelung als ein Heiler. Gewiß, die Zeiten ändern sich und damit der Charakter der menschlichen Entwicke­lung, und die Begriffe werden nicht in genau derselben Weise fortgelten können, wie sie einstmals gegolten haben. Wir werden nicht zurückgrei­fen können zu dem Begriff, daß die Menschheit eine sündige ist, daß wir also auch in dem Kinde ein Glied der sündigen Menschheit vor uns haben, das wir zu heilen haben und von da aus in der Pädagogik gewissermaßen nur einen Zweig der höheren, der geistigen Medizin zu sehen haben. Aber wir werden immerhin auf das Richtige sehen, wenn wir uns sagen : Je nachdem wir erzieherisch und unterrichtend auf das Kind wirken, bewirken wir für seine Seele im späteren Lebensalter Gesundes oder Krankes, geistig-seelisch Gesundes oder Krankes, das aber auch durchaus auf das Körperliche, auf das Physische übergehen kann.

In diesem Sinne, daß der Mensch in seinem Leben nach Geist, Seele und Leib, soweit es nach seinen Anlagen möglich ist, in gesunder Weise sich entwickele, dazu möchte anthroposophische Pädagogik und Didaktik

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im richtigen Sinne das ihrige beitragen. In diesem Sinne möchte Anthroposophie allerdings eine Pädagogik und Didaktik begründen, die zu gleicher Zeit ein Heilendes für die Menschheit ist, so daß alles dasjenige, was wir dem Kinde verabreichen, was wir in der Umgebung des Kindes tun, zwar nicht im totalen Sinne eine Arznei ist, aber ein Mittel ist, daß das Leben des Menschen sowohl in individueller wie in sozialer Beziehung ein Heilsames, ein Gesundes werde.

Es wird im Anschluß an den ersten Vortrag um eine Erläuterung gebeten in bezug auf die Frage nach der Unsterblichkeit zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre.

Dr. Steiner: Es handelt sich natürlich da nicht um die Frage der Unsterblichkeit in expliziter Weise. Aber ich möchte sagen, in dem ganzen Lebenskomplex, der sich da auslebt, liegt ja natürlich auch die Frage nach dem Unsterblichen des Menschenlebens. Das Problem liegt schon darinnen. Ich glaube mich nicht ganz undeutlich ausgedrückt zu haben. Ich sagte so: In diesem Lebensalter erlebt das Kind eine neue Form, eine neue Metamorphose in bezug auf das Autoritätsgefühl, das es zum Lehrer und Erzieher hat. Bisher schaute es auf zum Lehrer und Erzieher. Man darf das nicht nach irgendwelchem Parteigrundsatz beur­teilen, sondern man muß das aus der Entwickelung des Kindes heraus beurteilen. Denn nachdem das Kind vom Zahnwechsel bis dahin eigent­lich nur hat empfinden können: dasjenige, was der Lehrer sagt, das ist das, was meine Seele glauben soll, das, was der Lehrer tut, ist für mich Gebot und so weiter, nachdem das Kind so recht in dem Lehrer, in dem Erzieher sein Vorbild gesehen hat, soll es in diesem Lebensalter gewahr werden: der hat nun auch eine Autorität über sich; die aber wirkt nun nicht mehr hier in der Welt, die ist entrückt in die Welt des Göttlich-Geistigen. Also dieses, was im Lehrer lebt als des Erziehers Beziehung zum Übersinnlichen, das soll sich gefühlsmäßig auf das Kind übertragen.

Es ist durchaus nicht so, daß das Kind etwa kommt und diese oder jene Frage wirklich stellt, ausgesprochen in Worten; aber das Kind zeigt in seinem ganzen Verhalten, daß es in diesem Lebensalter darauf ange­wiesen ist, daß der Lehrer berücksichtigt, daß es mit dem Übersinnli­chen, aber durch die Autorität des Lehrers, in eine gewisse Beziehung gebracht sein will. Wie das im einzelnen gehandhabt wird, ist durchaus

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vom individuellen Fall abhängig. Fast niemals gleicht ein Fall ja dem anderen. Es ist manchmal so, daß ein Kind, sagen wir einmal, nachdem es vorher ganz munter war, ein paar Ta e verstimmt in die Schule kommt. Wenn man nun Praxis in diesen Dingen hat, so weiß man, daß das eben von dem Charakterisierten herrührt. Und dann bedarf es manchmal durchaus nicht irgendeiner bestimmt formulierten oder mit einem bestimmten Inhalt erfüllten Aussage des Lehrers und dergleichen, sondern nur die Art und Weise, wie man sich dann zu dem Kinde verhält, wie man es liebevoll anredet in diesen Tagen, wie man sonst sich zu ihm verhält, das macht es aus, daß das Kind über eine gewisse Kluft hinweggeführt wird. Es ist nicht eine Kluft etwa für den Intellekt, sondern für die Gesamtkonstitution der Seele. Die Unsterblichkeitsfrage ist schon darinnen, aber nicht explicite, sondern sie ist implicite drinnen, es ist eine Frage des ganzen Lebens, eine Frage, die einmal herannaht, so daß das Kind an dem Lehrer empfinden lernt : Der ist nicht nur ein menschliches Wesen, seiner menschlichen Organisation nach, sondern in dem offenbart sich etwas, was er selber als seine Beziehung zur übersinn­lichen Welt erlebt. Das ist etwa dasjenige, was ich noch sagen wollte.

Dr. Steiner: Ich bin hier noch schriftlich gefragt worden, meine sehr verehrten Anwesenden, und ich möchte ganz kurz auf diese Frage noch antworten: «Können die Altersabschnitte der Siebenerrhythmen für das ganze Leben verfolgt werden und wie erfolgen die Metamorphosen?»

Nun, es ist in der Tat so daß für die erste Zeit des Lebens, Zahnwech­sel, Geschlechtsreife und noch für den Beginn der Zwanzigerjahre, für denjenigen, der nun wirklich intim dieses Leben beobachten kann, diese Abschnitte sehr stark voneinander kontrastiert sind. Man wird leicht auch sehen können, wie für diese Zeit der Mensch einen starken Paralle­lismus hat in bezug auf seine physische Entwickelung und in bezug auf seine geistig-seelische Entwickelung. Allerdings sind dann auch im späeren Leben solche Abschnitte vorhanden. Sie verlaufen aber durchaus intimer, und das eigentümliche ist das, sie verwischen sich immer mehr, je mehr die Menschheit fortschreitet. Ich könnte auch sagen, sie vern­nerlichen sich. Und gegenüber unserer heutigen mehr äußerlichen Geschichtsbetrachtung ist es vielleicht doch nicht unnütz, darauf hinzuweisen,

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daß in älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung solche Lebensabschnitte bis ins spätere Lebensalter hinein deutlich sichtbar waren. Darauf beruht, daß in Zeiten, in die allerdings Anthroposophie zurückschauen kann, nicht die bloße Dokumentengeschichte, die Men­schen doch in einer anderen Seelenverfassung waren als heute in dem Zeitalter, in dem der Intellektualismus vorhanden ist. Ich tadle es nicht, ich charakterisiere nur. Wir bemerken zum Beispiel, wenn wir in ältere Zeiten zurückgehen, wie in der Tat die Menschenkinder einfach durch das, was sie an den Älteren erleben, mit einer gewissen Gespanntheit dem Alter zuleben. Das ist eine Empfindung, die man schon herausbe­kommen kann, wenn man nur unbefangen in die Menschheitsentwicke­lung zurückblickt. Nicht in derselben Weise sieht der Mensch heute verlangend nach dem Alter hin, wie ihm das Alter etwas offenbaren kann, wozu man eben alt werden muß, um es zu erfahren, wie das in früheren Zeiten der Fall war, weil sich eben diese Lebensperioden, wo sich das Leben scharf abhebt von vorherigen Abschnitten, nach und nach verwischen. Wenn wir uns für das ein unbefangenes Beobachten aneig­nen, können wir heute diese Entwickelung bei den meisten Menschen kaum verfolgen so etwa bis zum achtundzwanzigsten, dreißigsten Lebensjahre; dann wird bei den heutigen Menschen die Sache sehr undeutlich. In dem Zeitalter, das man als das Patriarchenzeitalter bezeichnet, wo man hinaufschaute zum Alter, da wußte man, daß auch die absteigende Lebensströmung, daß auch diese Lebensströmung, wo die Seele sich gewissermaßen emanzipiert vom Leib, dem Menschen etwas ganz Besonderes bieten kann. Sie kann ihm dasjenige bieten, das den Anteil darstellt der Seele, des Geistes an dem Leib, der allmählich abstirbt, der innerlich skierotisiert und so weiter. Und anders sind die intimsten Erlebnisse der Seele, wenn diese Seele im Leibe so ist, daß der Leib dem Leben entgegengeht, aufsteigendes Wachstum hat; da erfährt, da erlebt man anders als bei absteigendem, ich möche sagen, bei erhär­tendem Leben.

Aber dieses, was ich auch im Vortrage erwähnt habe, dieses Wieder­Jungwerden bei erhärtendem äußerem physischem Leben, das gibt auch für das Alter eine gewisse Kraft. Und wir finden diese Kraft, wenn wir in ältere Zeiten zurückblicken. Ich glaube, daß nicht umsonst die Griechen

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vor allen Dingen in Homer, aber auch in anderen Dichtern - ich will jetzt nicht davon sprechen, ob es einen Homer als einzelne Individualität gegeben hat oder nicht - denjenigen gesehen haben, der erst im Alter geschaffen hat aus der frei gewordenen Seele, die aber miterlebte den verfallenden Organismus. Und vieles von dem, was wir in der morgen-ländischen Weisheit haben, in den Veden und vor allen Dingen in der Vedantaphilosophie, das ist herausentsprossen aus der im Alter sich wieder verjüngenden Seele.

Natürlich, es würde der Fortschritt der Menschen im Erleben der Freiheit nicht stattfinden können, wenn sich diese Dinge nicht verwi­schen würden. Aber in einer gewissen intimen Weise sind sie auch heute noch durchaus vorhanden. Und derjenige, der als Mensch es zu einer gewissen Selbsterkenntnis bringt, der weiß schon, wie merkwürdig sich dasjenige, was er, sagen wir, in den Dreißigerjahren innerlich erlebt, in den Fünfzigerjahren metamorphosiert. Es ist im Grunde genommen doch, wenn auch das Seelenleben dasselbe ist, alles in einer anderen Nuance erscheinend. Wenn auch dem heutigen Menschen diese Nuan­cen nicht sehr nahekommen, weil man so abstrakt geworden ist, gar nicht mehr auf das wirklich Konkrete eingeht, so ist es doch so, daß für eine feinere, intime Lebensbeobachtung diese aufeinanderfolgenden Metamorphosen da sind. Und wenn auch die heutige Zeit mit dem stürmischen sozialen Leben nicht Zeit hat für diese Intimitäten, es wird wiederum eine Zeit kommen - denn sonst würde die Menschheit dem Verfall entgegengehen -, wo man den Menschen wird wirklich beobach­ten können.

Warum sollte man denn auch nicht zu wirklicher Menschenbeobach­tung vordringen wollen? In bezug auf die Beobachtung der äußeren Natur haben wir es ja sehr weit gebracht, und derjenige, der all die Abhandlungen kennt, die über die Einzelheiten der Pflanzen- und der Tierexemplare und -arten und so weiter gebracht werden, der erkennt, was alles an äußeren Tatsachen beobachtet wird, der wird es auch nicht für unmöglich halten, daß dieser Riesenfleiß, diese riesige intime Beob­achtung und Perspektive, die wir da entwickelt haben für die äußere Natur, auch einmal entwickelt werden können für die innere Natur des Menschen. Wann das auch geschehen mag, wie man auch in dieser

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Beobachtung Vorwärtskommen mag, es mag das hier unentschieden bleiben, jedenfalls aber ist das richtig, daß die Erziehungskunst, die Unterrichtskunst in demselben Maße vorschreiten wird, in dem man sich einläßt auf eine solche Menschenbeobachtung und die Metamorphose auch in das spätere Leben verfolgt.

Ich möchte doch darauf aufmerksam machen, daß mehr als ein bloßes Bild gemeint ist, wenn ich gestern sagte: Wer in seiner Kindheit nicht beten gelernt hat, der kann in seinem Alter nicht segnen. Dasjenige, was als Ehrfurcht, als Andacht von dem Kinde angeeignet wird, das wandelt sich später, in einem viel späteren Lebensalter, in eine solche Kraft um, die heilsam auf die Umgebung, namentlich auf die kindliche Umgebung wirkt, die also in einem gewissen Sinne als eine segnende Kraft bezeich­net werden kann. Solch ein Bild, daß aus gefalteten Händen im neunten, zehnten Lebensjahre segnende Hände werden im fünfzigsten, fünfund­fünfzigsten Lebensjahre, solche Wahrheiten sind mehr als Bilder. Sie zeigen aber den inneren organischen Zusammenhang des ganzen Men­schenlebens. Der vollzieht sich aber in solchen Metamorphosen.

Sie sind, wie gesagt, im späteren Alter nur eben mehr verwischt, weniger deutlich wahrzunehmen, sie sind aber vorhanden und müssen studiert werden gerade für die Erziehungs- und Unterrichtskunst.

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DAS DRAMA MIT BEZUG AUF DIE ERZIEHUNG Stratford - on - Avon 19. April 1922

Meine sehr verehrten Anwesenden! Mein erstes Wort soll gelten dem Dankgefühl, das ich hege dafür, daß das verehrte Komitee für «Neue Ideale in der Erziehung» mich eingeladen hat, diese beiden Vorträge hier bei diesem Shakespeare-Fest zu halten. Es ist wahrhaftig nicht ein äußerer Zusammenhang nur, wenn ich beim Shakespeare-Fest in der deutschen Sprache über die Beziehung von Drama und Erziehung mir zu sprechen erlauben werde. Denn Shakespeare, der Dramatiker, war zunächst durch seine Dramatik ein großer Erzieher für eine Persönlich­keit, die nun wiederum für das ganze Leben der Menschheit eine ungeheure Bedeutung hat So ist gewissermaßen die Frage nach der Beziehung zwischen Drama und Erziehung ein historisches Faktum dadurch, daß Shakespeare, der Dramatiker, der Erzieher Goethes war. Goethe hat aus Shakespeare - das kann derjenige wissen, der seine Biographie nicht nur äußerlich sondern innerlich-geistig studiert - nicht bloß genommen das Äußere der dramatischen Gestalten und Gestaltun­gen, Goethe hat wahrhaftig aus Shakespeare herausgeholt den ganzen Geist, den er während seiner Jüngli ngszeit als erzieheri schen Geist sich einverleibt hat. Goethe nennt drei große Erzieher, die seine Führer gewesen sind: Shakespeare, Linné, den Botaniker, und Spinoza, den Philosophen. Linné wurde sein Führer dadurch, daß Goethe frühzeitig in bezug auf die Naturauffassung als ein Opponent Linnés auftrat. Von Spinoza, dem Philosophen konnte Goethe nichts anderes lernen als die äußere Ausdrucksweise, die philosophische Sprache. Die innere Not-wendigkeit der Natur und des Kosmos, die mußte Goethe aus etwas anderem lernen als aus einer Philosophie, die mußte er lernen in der italienischen Kunst. Das was er zuerst lernen mußte von Spinoza, ist das, was in ihm dann zur künstlerischen Auffassung geworden ist. Shakespeare aber ist diejenige Persönlichkeit, der Goethe treu geblieben ist, auch, in bezug auf die innere Konfiguration seines Geistes, als er in seiner eigenen dramatischen Kunst übergegangen war zu einer rnehr antikisierenden Gestaltung. So hat im Grunde genommen Shakespeare

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Goethes Seele begleitet als der große Erzieher, als der große Führer durch sein ganzes Leben hindurch.

Man kann innig zusammenhalten diesen Goetheschen Geist mit dem Shakespeareschen Geist. Denn Goethe hat in inniger Weise beschrieben, wie er den Shakespeareschen Geist auf sich hat wirken lassen Es ist Goethes Art gewesen, Shakespeare zu erfassen, nicht indem er Shake­speares Dramen vor sich auf der Bühne sehen wollte, sondern indem er mit geschlossenen Augen sitzend zuhören wollte, wie Shakespeare, nicht in getragener Deklamation, sondern in ruhiger Rezitation vor ihm gesprochen wurde. So gewissermaßen heraus sich hebend aus der Sphäre des bloßen gewöhnlichen intellektualistischen Lebens, wollte Goethe, hinein sich versenkend in seine ganze Menschlichkeit, den Shakespeare­schen Geist aufnehmen. Und aus dem Goetheschen Geiste heraus möch­ten wir wiederum in Dornach arbeiten. Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, die wir in Dornach haben, und die herauserrichtet worden ist aus der anthroposophischen Weltanschauungsbewegung, hat nicht durch meinen Willen, sondern gerade - es darf das hier an dieser Stelle hervorgehoben werden - viel durch den Willen englischer Freunde den Namen Goetheanum erhalten, weil in Dornach Goethes Geist gepflegt werden soll. In Dornach wird diejenige Geistesrichtung gepflo­gen, die wiederum geführt hat zu einer besonderen Auffassung der neuen Erziehungsideale der Menschheit. Diese neuen Erziehungsideale der Menschheit konnten wir praktisch zur Anwendung bringen in derjenigen Schule, welche gewissermaßen als eine Pflanz-Schule der Dornacher Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, des Goethe­anums, in Stuttgart als Waldorfschule gegründet worden ist. Weil nach dem Krieg in Deutschland ein großer Drang nach Verwirklichung der Geisteswissenschaft war, gelang es durch Herrn Molt diese Schule zu gründen. Mir fiel es dann zu, die Pädagogik, die Didaktik und so weiter zu finden. Das, was dort gepflegt werden sollte, ist nicht etwa bloß eine anthroposophische oder irgendeine andere Weltanschauung, sondern vor allen Dingen diejenige Pädagogik, diejenige Didaktik, welche aus det tieferen spirituellen Menschenerkenntnis fließen kann. Und deshalb darf es mir gestattet sein, zunächst heute mit einigen Worten einzugehen auf diejenige Art von Menschenerkenntnis, welche in der Erziehung, an die

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hier gedacht wird, zur Anwendung kommt. Diese Menschenerkenntnis fließt aus jenen anthroposophisch-wissenschaftlichen Arbeiten, welche in Dornach gepflegt werden.

Ich weiß, es gibt heute noch so viele Menschen in der Welt, die die Meinung haben: In Dornach werden den Menschen allerlei Illusionen, allerlei Phantastereien eingepflanzt, Dornach pflege eine nebulose Mystik und so weiter. Das ist alles nicht der Fall. Derjenige allerdings, der die Methoden von Dornach beurteilen will, muß sich schon darauf einlassen, daß in Dornach gepflegt wird eine neue Richtung des mensch­lichen Geisteslebens, eine Richtung des menschlichen Geisteslebens, die man mit einem Wort bezeichnen möchte, das allerdings heute noch sehr vielen Menschen eine Art von Schrecken einjagt, den Schrecken einjagt, den im Grunde genommen alles Übersinnliche heute den Menschen beibringt. Dennoch möchte ich es unumwunden aussprechen. Dieses Wort, das die Methode von Dornach bezeichnet, ist: Exakte Clair­voyance, exaktes Hellsehen. Das ist nicht ein Hellsehen, wie man es gewöhnlich meint, wenn man diese Worte gebraucht. Was wir damit verstehen, ist nicht pathologisch aus den Untergründen des Menschen herausgeführt, sondern es wird gebraucht in gewissenhafter Weise, wie nur eine exakte Wissenschaft in bezug auf ihre Denkweise gepflogen werden kann. Das ist eine Clairvoyance, welche an die Seele, wenn sie erreicht werden kann, dieselben Anforderungen stellt, wie wenn man Mathematiker oder Naturforscher wird, eine Clairvoyance, die wir bewußt anwenden im gewöhnlichen menschlichen Leben, eine Clair­voyance, welche wirkliche Erkenntniskräfte aus der menschlichen Seele hervorzieht, wodurch der Mensch in die Lage kommt, nicht nur dasje­nige zu sehen, wodurch die Menschheit seit drei bis vier Jahrhunderten in der äußeren Welt steht, sondern das, was als Geistig-Ubersinnlich­Spirituelles dem ganzen Kosmos, allen Wesen des Kosmos und insbe­sondere der menschlichen Natur selbst zugrunde liegt. Dadurch, daß der Mensch in streng methodischer Weise diese exakte Clairvoyance sich erwirbt, ist er imstande, dasjenige zu erkennen, was zwischen Geburt und Tqd erlebt wird als ein Geistig-Ubersinnliches. Wenn wir geboren werden als Kinder, dann sind wir ja nur scheinbar ein physischer Organismus. Dieser physische Organismus ist in Wahrheit, was die

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heutige Wissenschaft bestreitet, was aber durch diese exakte Clair­voyance zur Gewißheit erhoben werden kann, durchzogen von einem übersinnlichen Organismus, welcher ein Kraftorganismus ist. Ich habe ihn in meinen Schriften den Bildekräfteorganismus genannt, der nur aus einer Konfiguration von Kräften besteht, die aber innerlich arbeiten. Das ist das erste Übersinnliche, was man durch diese exakte Clairvoyance wirklich schauen kann. Es hat nichts zu tun mit der alten unwissen­schaftlichen Lebens- oder Vitalkraft. Das ist etwas, was durchaus in den Bereich des übersinnlichen Schauens treten kann, wie die Farben und Töne in den Bereich des sinnlichen Sehens und Hörens treten. Aber es ist nur die erste Stufe übersinnlicher Erkenntnis, die damit errungen wird, daß man sich selbst als übersinnlichen Menschen sieht, wie man ist zwischen Geburt und Tod, aus dem heraus, daß man ein physischer Organismus ist. Eine weitere Stufe ergibt einen übersinnlichen Men­schen, der aber in seiner wahren Wesenheit nur vorhanden ist, bevor der Mensch heruntersteigt aus einer geistigen Welt durch die Geburt, um sich mit einem physischen Leibe zu verbinden. Das ist derjenige über­sinnliche Organismus im Menschen, der, wenn der physische und auch der genannte Bildekräfteleib mit dem Tod zerfallen, wiederum in die geistige Welt übergeht.

Die exakte Clairvoyance wird dadurch, daß sie dasjenige zum Schauen erheben kann, was sonst bloß intellektualistisch ergriffen wird, Wissen­schaft und Religion im Hinblick auf den übersinnlichen Menschen verbinden. Sie kann aber auf der anderen Seite auch wiederum anregen das Künstlerische. Denn die Art und Weise, wie dieser übersinnliche Leib, der Bildekräfteleib, an dem Menschen arbeitet zwischen Geburt und Tod, läßt sich nicht hineinbringen in die gewöhnlichen Naturge­setze, die wir aus der äußeren Natur kennen; das muß künstlerisch erfaßt werden. Nur derjenige, der die heute gewohnte Erkenntnis hellseherisch zum künstlerischen Anschauen der Welt erhebt, kann begreifen, wie der Mensch sich selber organisiert von der Geburt bis zum Tod aus denjeni­gen Kräften, die er auf die Erde mitbringt und wieder mitnimmt in die übersinnliche Welt. Derjenige aber, der als Erzieher, als Künstler arbei­tet an dem Menschen, muß eine Verbindung eingehen mit ihm, muß arbeiten an dem, was das übersinnlich-schöpferische Prinzip selber ist.

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Man kann äußere Kunstwerke aus der Phantasie heraus schaffen. Als Erzieher, als Lehrer kann man aber nur Künstler werden, wenn man sich zu verbinden versteht mit der künstlerischen Welt selber. Dazu will die anthroposophische Forschungsmethode die Antwort geben, die zu der Didaktik die Grundlage liefert. Nehmen Sie an, ein Bildhauer würde an einer Figur arbeiten; die Figur, wenn sie fertig ist, würde fortlaufen; wir können verstehen, daß der Künstler darauf rechnet, daß sein Geschöpf so bleibt, wie es ist. So arbeiten wir Menschen als Eltern und Erzieher an dem Kinde, das aber weiterlebt, wächst und immer höher sich entwik­kelt. Hat ein Erzieher an dem Kinde seine Arbeit vollendet, dann ist er in dem Falle, daß sein Kunstwerk weiter sich entwickelt. Da genügt nicht Philosophie, da gilt nur die pädagogisch~didaktische- Methode: Exakte Clairvoyance. Ich möchte in einem Bilde zusammenfassen, wie man wirken muß, wie man in dieser künstlerischen Erziehung, die schließlich das große Prinzip unserer Erziehungsmethode ist, erziehen muß. So wie man sich bewußt sein muß, daß Arme, Kopf, Beine eines Kindes wachsen, immer weiter sich entwickeln, daß der ganze Organismus sich entfaltet, so muß man sich klar sein, daß man das Kind nur als Keimhaf­tes vor sich hat. Dasjenige, was man in das Kind hineinbringt, das, was es durch die Erziehung erlangt hat, muß mit ihm weiterwachsen im Leben.

Waldorf-Erziehung, wie man sie vom Goetheanum ausgehend pflegen will, sie pflanzt in das Kind dann dasjenige, was im Menschen von der Geburt bis zum späten Alter hinein noch wachsen, gedeihen kann. Manche Menschen haben im Alter eine ganz wunderbare Kraft, sie brauchen nur den Timbre ihrer Sprache zu gebrauchen, das Innere ihres Sprechens zu entwickeln, und es wirkt segnend. Warum, fragen wir uns, können gewisse Leute so ihre Hand ausbreiten, daß sie wirklich segnend ist? Unsere Pädagogik spricht nun aus, daß es nur diejenigen Menschen können, die in ihrer Kindheit beten gelernt haben, aufschauen gelernt haben in der richtigen Weise zu einem anderen Wesen. So daß man formelhaft zusammenfassend sagen kann: Jedes Kind, das richtig gelernt hat die Hände zu falten, das ist im Alter imstande die Hand auszubrei­ten, um zu segnen. - So bildet sich aus die Kraft des Alters, das Kind zu segnen. Wie wir versuchen wollen, die richtige Pädagogik und Didaktik zu finden, das darf ich nun im folgenden sagen.

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Das Leben der Menschen bildet viele- Illusionen aus. Die- stärksten Illusionen können aber ausgeheckt werden durch die Aufgaben des Erziehungswesens. Man kann wunderbar einleuchtende- und zum Her­zen sprechende- Erziehungsideale aufstellen; man kann damit auch zunächst die- Menschen überreden; allein im wirklichen Erziehungs- und Unterrichtswesen kommt es doch noch auf etwas ganz anderes an als auf die- Fähigkeit, im Intellekte und vielleicht auch aus dem guten Herzen heraus zu wissen, was man aus dem Menschen machen will. Stellen wir uns vielleicht einmal vor, man habe- als ein Lehrer, als ein Erzieher von sehr mittelmäßigen Fähigkeiten - nicht alle Menschen können Genies sein - ein Kind zu erziehen, das später ein Genie wird. Man wird ihm sehr wenig mitgeben können von dem, was man sich als Ideal ausgebildet hat. Diejenige Erziehungsmethode- nun, welche auf einer exakten Clair­voyance- aufgebaut ist, durchschaut das Geistige im Kinde; und diese-Erziehungsmethode- weiß, daß es im Inneren der Menschennatur eine individuelle Wesenheit gibt, der man als Lehrer, als Erzieher den Weg vorbereiten muß. Diese- innerste- Individualität erzieht sich eigentlich immer selbst; sie erzieht sich durch dasjenige, was sie wahrnimmt in der Umgebung, was sie- mit Sympathie- aufnimmt durch das Leben, durch die Situationen des Daseins, in die sie- hineingestellt ist. In dieses kann der Erzieher oder Lehrer nur indirekt wirken: Dadurch, daß er das Leibliche-und Seelische- des Menschen so bildet, daß später im Leben der Mensch die möglichst geringsten Hindernisse- und Hemmnisse- an seiner eigenen Le-iblichke-it, an dem Temperament und den Emotionen, durch den Charakter seiner Erziehung hat. Solche Erziehung läßt sich aber nur leisten, wenn man wirklich schaut, wie der inne-re Se-e-lenme-nsch gerade-während der Kinderjahre in dem äußeren leiblichen Menschen arbeitet Denn wenn das Kind he-re-inge-boren wird in die- Welt, ist es in bezug auf die- Leiblichke-it so organisiert in seiner inneren Leiblichkeit, daß es im Grunde- genommen in seinen jüngsten Jahren eine- Art Sinnesorganismus ist - so paradox es erscheint - bis zum Zahnwe-chsel hin, bis ungefähr um das siebente- Lebensjahr herum. Es ist da ein großer Sinnesorganismus. Es nimmt die- Eindrücke- der Außenwelt nur so auf, wie die- Sinne sie aufnehmen, die Eindrücke, die ausgehen von den Handlungen, aber auch von den Gedanken und Empfindungen der Erzieher. Das Kind ist,

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indem es hinge-geben ist an die- Umgebung, zu gleicher Zeit ein Wesen, das plastisch an seinem ganzen Menschen arbeitet. Es ist wunderbar zu sehen, dieses inne-re- Geheimnis der menschlichen eigenen Plastik in den ersten sieben Lebensjahren - ich habe- gesagt, allerdings nur approxima~ tiv - bis zum Zahnwechsel. Dadurch, daß das Kind das Gesehene- und Gehörte- plastisch umwächst, ist es ganz und gar ein nachahmendes Wesen; es ahmt alles nach, was getan wird. Alles übrige-, was wir sprechen, ist im Grunde- genommen eine Illusion als Erziehungsprinzip.

- Die- Art und Weise, wie- wir sprechen, ob wir es ermahnen oder nicht, dasjenige, was wir tun, geht plastisch in das Innere- des Kindes hinein, das ist seine Erziehungskraft. Wir geben uns nur der Illusion hin, daß das Kind auch in diesen Jahren etwas hat von «Ermahnen», von «Gebote-geben» und dergleichen. Das Kind muß ganz darauf gestimmt sein, daß man in seiner Gegenwart nur dasjenige- denkt, wovon man will, daß das Kind es aufnimmt in die-sen Jahren.

Das wird anders in dem Augenblick, wo das Kind die zweiten Zähne-bekommt, ungefähr um das siebente- Jahr herum - ohne von diesem Zeitpunkt in pedantischer Weise zu sprechen. Da wirkt im Kinde plastisch etwas Geistiges, was nicht nur Nerven und Sinnesorgane-, sondern dann auch Lunge-, Herz und Zirkulationssystem, den ganzen inneren Rhythmus des Organismus ergreift. Dieses ist seelisch verbun­den mit dem Gefühlsleben, dem Phantasie-leben. Wenn wir sagen, daß das Kind bis zum siebenten Jahre- ein innerlicher Plastiker ist, so ist es bis zum vierzehnten Jahre-, bis zur Geschle-chtsreife, ein innerlicher Musiker.

Jetzt kann man auf das Kind vorzugsweise- wirken, aber nicht mit abstrakten Begriffen, sondern nur dadurch, daß man sich bewußt ist, daß das Kind ein Wesen ist, das innerlich musikalisch durch Rhythmen seinen Körper durcharbeiten will. Wenn wir finden, daß wir diesem Rhythmus, diesem musikalischen Bedürfnis des Kindes entgegenkom­men, dann erziehen wir richtig in dieser Zeit. Darum ist die ganze Erziehung vom siebenten bis zum vierzehnten Jahre so zu gestalten, daß das Künstlerische- dabei zugrunde liegt dem, was zuerst plastisch da ist. In der richtigen Weise muß das Lesen, das Schreiben vor allen Dingen so sein, daß nicht nur in abstrakten Lehren gelehrt wird, sondern daß jeder

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Buchstabe- aus einer künstlerischen Empfindung kommt beim ersten Schreiben und Lesen. Das Kind wird sofort eingeführt in einen Musik­unterricht. Der wird erweitert zu demjenigen, was nun ein Rhythmus des ganzen Organismus ist: zur Eurythmie-. Dadurch werden in den ganzen Körper übergeführt, es werden in seine eigenen Bewegungen übertragen die Luftbewe-gunge-n und so weiter, durch die der Laut entsteht; und so wird der ganze Körper ein sich bewe-gender Sprachorga~ nismus. Und wir sehen, wie- die Kinder diese- Eurythmie aufnehmen so, wie schon das kleine Kind die- Lautsprache- aufnimmt: mit Innerer Befriedigung. Und so liegt zugrunde allem Unterricht und aller Erzie­hung des Kindes, vom Zahnwe-chsel bis zur Ge-schlechtsre-ife, ein Künst~ lerisches. Auch dasjenige- ist künstlerisch, was man ihm beibringen kann in bezug auf die- Kunst selbst. Es beginnt das Kind vor allen Dingen, indem es aufgenommen hat den plastischen Sinn, sich dann durch das Musikalische- für die- lyrische Kunst zu entwickeln. Diese Fähigkeiten müssen bei je-der kindlichen Individualität wiederum aus dem Wesen abgelesen werden in bezug auf die Jahre, die ich erwähne. Etwas Episches tritt dann heran bei dem Kinde - bei einem früher, bei einem anderen später-, man kann es beobachten in einem ganz bestimmten Moment, etwa um das zwölfte- Lebensjahr herum. Wenn schon beginnt die- Ge-schlechtsre-ife- sich zu nähern, dann wird das Kind empfänglich für das Dramatische-. Dann wird die Forderung nach dem Dramatischen wach in dem Kinde, und das zeigt sich, wenn man seine Entwickelung erschauen kann. Das schließt nicht aus, daß der Lehrer das dramatische Element in sich selber hat; man kann nicht Eurythmie, Lyrik und Epik pflegen, wenn man nicht dieses eigentümliche- dramatische- Element in seinem ganzen Wesen als Lehrer und Erzieher hat. Aber in dem Lebens­abschnitt, den ich angedeutet habe-, fordert das Kind keine Dramatik. Das ist die Zeit, wo wir noch keine- Bedeutung legen auf das Beibringen von Naturwissenschaft, von abstrakten Begriffen und Intellektualismen. Wir verderben das ganze Leben des Menschen, wenn wir dem Kinde früher im Leben diese- abstrakten Begriffe beibringen. Alles will auf Kunst, auf Rhythmus gebaut sein vor diesem zwölften Lebensjahre-. Wenn wir dann übergehen zur Geschichte-, insofern sie von Gesetzen beherrscht wird, und in gewisser Weise- das Intellektualistische in den

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Schulunterricht einführen, dann fordert das Kind den Gegenpol, das dramatische- Element. In der Waldorfschule in Stuttgart haben wir es erlebt, wie- eines Tages Knaben kamen, die- etwa dreizehn, vierzehn Jahre-alt waren, und sagten: Wir haben jetzt den Julius Cäsar von Shakespeare gelesen, den wollen wir aufführen. - Indem wir darauf bedacht waren, die- Intellektualität zu entwickeln, forderte- die- jugendliche Natur ganz aus dem Wesen des Kindes heraus selber die Dramatik, da man das Richtige- in der rechten Weise durch Erziehung und Unterricht an die-Kinder heranbringen konnte-. Die- Kinder sagten ganz natürlich, daß sie sich freuten, daß die- Jungen den Julius Cäsar aufgeführt haben, und es interessierte sie mehr als die Aufführung im Theater. Und daß gerade- im Shakespeare- diese- dramatische inne-re- Forderung bei unseren Buben in der Waldorfschule aufgefordert worden ist, das verwunde-rt mich gar nicht aus dem Grunde-, wenn eine solche- Persönlichkeit wie- Goethe das Dramatische- lernen kann, das in Shakespeare- liegt. Das drängt sich dann hinein in das kindliche Gemüt, das wird zu einer mächtigen Triebkraft des kindlichen Gemüts.

Ich möchte- mit diesem heute schließen, da die- Zeit fortgeschritten ist, und möchte noch einiges weitere mir erlauben am Sonntag zu sagen über neue Erziehungsideale. Was ich in der kurzen Zeit über Kunst und Dramatik zu sagen hatte, mag ein Beitrag sein für dasjenige, was von dieser sehr verehrten Erzie-hungsgese-llschaft gepflegt wird. Wenn man auf der einen Seite die- welthistorische- Gestalt Shakespeares und auf der anderen Seite- die- große- Aufgabe- der Erziehung sieht, muß man einge­denk sein, daß wir gar manche Ideale sehr nötig im Leben brauchen. Die-wichtigsten Ideale werden aber zweifellos die- Ideale der Erziehung sein.

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Aufzeichnungen Rudolf Steiners

zum Vortrag in Stratford am 19. April 1922

1. Es ist eine- Erzie-hungskunst, die- zu ihren Voraussetzungen Anthro­posophie- hat. Diese- ist etwas anderes als die- anderen Weltanschau­ungsströmungen der Gegenwart.

2. Beruht auf Schauen, das entwickelt wird. -

Erziehung: Es soll die- freie- Individualität nicht gestört werden. Man soll dem Menschen einen Organismus mitgeben, den er gebrauchen kann. - Die- Seele wird sich entwickeln, wenn wir ihr rechte- Menschlichkeit entgegenbringen; der Geist wird sich in die- geistige- Welt hine-infinden; aber der Körper braucht Erziehung. -

0-7. Jahr: Der Mensch bildet sich von seinem Haupte aus; er ist ganz Sinnesorgan und Plastiker.

Kind unter 7 Jahren - Säugling: er schläft viel, weil er dem ganzen Körper nach Sinnesorgan ist - und je-des Sinnesorgan schläft in der Wahrnehmung. - Die Sinne wachen, wenn der Mensch schläft - in ihnen liegen die- Geheimnisse- der Welt; in den Brustorganen liegen die- Geheimnisse des Sonnensystems.

Die Sinne- sind nicht zum Wahrnehmen veranlagt, son­dern zur Plastik des Organismus.

7.-14. Jahr: Der Mensch bildet sich von seinem Atmungs~ und Circu~ lationssystem aus; er ist ganz Zuhörer und Musiker.

Schreiben-lernen - nicht zu früh - danach Lesen. -Rechnen - als Analyse-.

9.-10. Jahr: Wendepunkt - man kann beginnen, die- Außenwelt als Außenwelt zu besprechen - aber beschreiben - das stellt die Wachstumstendenzen mit sich selbst in Einklang.

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Beim Kinde- hat das Seelische einen unermeßlich großen Einfluß auf den Körper.

14.-21. Jahr: Der Mensch wird Phantasie-wesen und Beurteiler. - Er kann vom 12. Jahr an in das dramatische Element hinein­wachsen. - Es wird dann etwas bleiben, das er für sein ganzes Leben hat. - Vorher ist die Spaltung der Persön­lichkeit nicht gut. -

1. Die Frage- «Drama und Erziehung» ist einmal historisch aufgeworfen worden in dem Verhältnis Goethes zu Shakespeare. -Es wird sich die Frage- nach dem Verhältnis von Drama und

Erziehung an der Frage- beantworten lassen: was zog Goethe zu

Shakespeare hin?

2. Goethe- führt drei Lehrer auf: Linné, Spinoza, Shakespeare. - Den beiden ersteren stand er vom Anfang an als Opponent gegenüber. Shakespeare- blieb er treu, trotzdem er zu einer anderen Art des dramatischen Schaffens kam.

3. Bei Shakespeare zog ihn das an, was bei diesem der Verstandeslogik sich entzieht. Wer ein Shakespe-are-'sches Drama logisch erklären will, ist in der Lage wie- jemand, der den Traum logisch erklären will.

4. Wann darf dieses Element in die Erziehung einbezogen werden?

5. Die Waldorfschule- auf ein Künstlerisches gebaut. Aber der Lehrer und Erzieher als Künstler ist in einer anderen Lage als ein anderer Künstler. Er hat nicht einen Stoff vor sich, den er formen kann; er hat Menschen vor sich.

6. Die- Waldorfschulmethode- auf Anthroposophie- gebaut. Exakte Clairvoyance. Denk- und Willensübungen. Dadurch einsehen: Kind - Sinnesorgan und Plastiker -dann Musiker und Musikliörer

7. Das Drama: die alte aristotelische Definition:

Furcht - Mitleid beim Tragischen. Der Mensch steht einem Höheren gegenüber. -Befriedigung - Schadenfreude. Der Mensch steht dem

Untergeordneten gegenüber.

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8. In der Schule- soll das Drama erst auftreten mit der Geschlechtsreife. -Aber der ganze Unterricht soll das dramatische- Moment beach­ten. - Dramatisch ist, was dem Verstande- sich entzieht - deshalb als Gegengewicht gegen den Verstandesgebrauch. -Die- Lyrik erkraftet das Fühlen.

Die Epik modifiziert das Denken

Daher werden die Worte des Kindes innig durch die- Lyrik - sie werden weltgemäß durch die Epik.

Tragödie erweckt gemischte Gefühle: Furcht - Mitleid. Komödie erweckt Eigenlust und Schadenfreude.

Komödie: der Mensch nähert sich dem Seelischen in sich. -Tragödie.. der Mensch nähert sich dem Physischen in sich. -

Tasso sie sind Lösungen von

Iphigenie künstlerischen Fragen. -

Faust ist das Menschheitsproblem.

Shakespeare's Gestalten sind von dem Theaterpraktiker geschaffen;

von dem, der mit dem Publikum in innigem Contact steht. -Goethe studiert die «Menschheit im Menschen». -Shakespeare verkörpert eine gewisse Art von Träumen.

Die Unmöglichkeit für Sh. an dem Äußeren der Bühne- eine besondere

Stütze zu haben. Daher werden die Menschen interessant. -Goethe stellt fast die- Bedingung des Träumens her, um Shakespeare zu

genießen. -

Man wird immer die Logik in Shakespeare's Dramen suchen; aber ihre Führung haben sie nicht in der Logik, sondern im Bilde. -

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SHAKESPEARE UND DIE NEUEN IDEALE Stratford-on-Avon, 23. April 1922

Vielleicht hat mancher erwartet aus der Ankündigung des Themas meines heutigen Vortrages über «Shakespeare und die neuen Ideale», daß ich über besondere neue Ideale sprechen werde. Allein es ist meine Überzeugung, daß es heute nicht so notwendig ist, über neue Ideale zu sprechen, als namentlich darüber, wie die Menschheit der Gegenwart überhaupt wiederum die Kraft gewinnt, Idealen nachzugehen. Über Ideale sprechen, das erfordert im Grunde genommen keine große Kraft, und zuweilen ist es so, daß diejenigen Menschen am meisten über dergleichen große Fragen, hohe, schöne Ideale in abstrakten Worten aus dem Intellekt heraus sprechen, denen die Kraft zu den Idealen eigentlich fehlt. Manchmal ist das Reden über Ideale nur ein Hegen, ein Fassen von Illusionen, um über die Realien des Lebens hinwegzukommen. Aber bei diesem Feste hier ist eine Veranlassung, gar sehr von dem Realen des Geistigen zu sprechen, denn dieses Fest ist ein Erinnerungsfest für Shakespeare, und Shakespeare lebt mit all seinem Schaffen durchaus im Geistigen, zugleich aber in einer idealen Welt. Und so könnte es wohl vor allen Dingen das Aufnehmen Shakespeares in unser eigenes Gemüt, in unsere eigene Seele sein, das gerade dem heutigen Menschen die Kraft, den inneren Impuls dazu gibt, wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf: Idealen nachzugehen. Und solche Ideale, wir können sie dann im richtigen Sinn ins Auge fassen, wenn wir uns daran erinnern, wie vorübergehend manches moderne Ideal war und ist, wie fest, wie grandios in der Welt dastehend durch ihre Wirksamkeit manche alten Ideale sind. Wir sehen weitere Kreise von Bekennern dieser oder jener Religion, dieser oder jener Weltanschauung, Bekenner, welche durchaus ihr innerstes geistiges Leben, ihre innere geistige Beweglichkeit aus demjenigen nehmen, was vergangen ist, und welche die Kraft gewinnen für eine geistige Erhebung aus solchem Vergangenen. Und wir fragen uns: Woher kommt es, daß manches so schöne moderne Ideal wie in Nebel zerrinnt, das bei wenigen Menschen allerdings von großem Enthusiasmus begleitet ist, aber dennoch bald zerronnen ist, während

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religiöse, künstlerische Ideale und Stile der alten Zeiten nicht nur Jahrhunderte, sondern Jahrtausende hindurch in die Menschheit ihre volle Kraft tragen? - Wenn wir uns fragen, warum dies so ist, kommen wir immer wieder und wiederum darauf zurück, daß diese Ideale gesammelt sind aus einem wirklich geistigen Leben, einer gewissen Spiritualität der Menschheit. Während unsere gewöhnlichen Ideale zumeist nur Schattenbilder des Intellektes sind - der Intellekt kann niemals dem Menschen aus dem Inneren seines Wesens heraus wirkliche Kraft geben-, zerrinnen manche moderne Ideale gegenüber demjenigen, was an alten Religionsbekenntnissen, aus alten Kunststilen aus dem grauesten Altertum zu uns herauf spricht. Wiederum aber, wenn wir mit einer solchen Gesinnung an Shakespeare herangehen, wissen wir, daß in Shakespeares Dramatik eine Kraft liegt, die uns immer wieder und wiederum nicht nur neu begeistert, sondern aus unserer eigenen Imagination heraus eigene Schöpferkräfte, unsere eigene Phantasie, unsere eigene Geistigkeit in der wunderbarsten Weise anregt. Wir wissen, daß Shakespeare eine wunderbare Kraft ist; daß sie sich heute, wenn wir uns derselben hingeben, so modern ausnimmt, wie nur irgendeine moderne Kraft sein kann. Und ich darf, indem ich gerade einmal von dieser Seite von dem Zusammenhang der menschlichen Ideale mit Shakespeare sprechen möchte, erinnern an dasjenige, woran ich schon am letzten Mittwoch angeknüpft habe, an das Bedeutsame, was von Shakespeare ausgegangen ist auf Goethe.

Über Shakespeare ist ungeheuer viel aus einer sehr geistvollen Gelehrsamkeit heraus geschrieben worden. Und wenn man alle diejenigen gelehrten Werke nehmen wollte, welche über «Hamlet» allein geschrieben sind, ich glaube, man könnte eine Bibliothek füllen damit, die über die ganze Wand sich erstreckte. Aber wenn man nachforscht, was auf einen Goethe aus Shakespeare gewirkt hat, dann kommt man dazu, sich zu sagen: Nichts von alledem, was in diesen Werken darinnen steht, gar nichts. Das hätte alles ungeschrieben bleiben können, das ist alles von der Welt an Shakespeare herangebracht, eine gewisse Kraft des menschlichen Intellekts, die gut ist, naturwissenschaftliche Tatsachen zu begreifen, die gut ist, die äußere Natur, wie wir sie heute haben müssen als Grundlage für unsere Technik, zu erklären und zu begreifen, die aber

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niemals imstande ist, in dasjenige hineinzudringen, was beweglich in Shakespeares Dramen vor uns steht.

Ja, ich möchte noch weiter gehen. Auch hier könnte mancherlei über Shakespeare gesagt werden, manch eine Erklärung über «Hamlet» abgegeben werden. Man kann von dem Standpunkt ausgehen: dasjenige, was Goethe über Shakespeare, über «Hamlet» gesagt hat, ist alles im Grunde genommen einseitig und falsch. Aber auf dasjenige kommt es nicht an, was Goethe gesagt hat über Shakespeare, sondern auf etwas ganz anderes kommt es an, darauf, was Goethe meinte, wenn er aus seinem Innersten sprach, wenn er zum Beispiel die folgenden Worte sagte, die keine Erklärung, aber eine Hingabe des ganzen innersten Geistes sind. Er sagt: Das sind keine Gedichte, das ist etwas wie die großen gewaltigen Blätter des Schicksals, die aufgeschlagen sind und durch die der Sturmwind des Lebens bläst und rasch eines nach dem andern hin und wider blättert. - Das ist ganz anders aus dem Menschen gesprochen, als wenn Goethe selbst über «Hamlet» spricht. Und wir können uns nun fragen: Warum kommt man mit intellektualistischen Erklärungen so wenig an Shakespeare heran? Ich will es an einem Bilde zeigen. - Wenn ein Mensch lebhaft träumt und die Traumfiguren eine bestimmte Traumhandlung vollführen, können wir mit unserem Intellekt nachher sagen: Diese oder jene Person im Traum hat falsch gehandelt, da ist etwas nicht motiviert, da sind Widersprüche. Aber der Traum wird sich wenig darum kümmern. Ebensowenig wird sich der Dichter darum kümmern, ob wir es mit unserem Intellekt kritisieren, wenn etwas unmotiviert ist, ob es sich widerspricht und so weiter. Ich kannte einen pedantischen Kritiker, der es sonderbar fand, daß Hamlet, nachdem er gerade den Geist seines Vaters gesehen, den Monolog sagt von «Sein oder Nicht-Sein» und dabei ausspricht, daß von dem Lande des Todes noch kein Wanderer zurückgekehrt sei; das könne eigentlich nicht ein und derselbe Dichter sagen. So meinte der trockene Gelehrte. Nun will ich jedoch damit nicht sagen, daß die Shakespeareschen dramatischen Handlungen Traumhandlungen sind. Sie sind gewöhnliche Handlungen; aber so, wie wenn der Mensch noch nicht ganz in seiner physischen Persönlichkeit darin ist oder schon draußen ist beim Einschlafen, so ist es bei Shakespeare, daß er im vollen lebendigen Bewußtsein seine Handlungen erlebt, aber den Intellekt

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dabei nur soweit gebraucht, als man ihn nötig hat, um zu dienen, die Figuren auszugestalten, die Figuren aufzurollen, Handlungen zu formen, aber ihn nicht zum Meister desjenigen zu machen, was geschehen soll. Indem ich hier auf dieses aufmerksam machen darf - da ich ja spreche vom Gesichtspunkt der, wie ich glaube, die großen Ideale der Menschheit enthaltenden anthroposophischen Weltanschauung -, darf ich eine wichtige Erfahrung vor Ihnen erzählen, welche das, was man mehr als eine Ahnung zunächst haben kann, so wie ich es ausgesprochen habe, dann völlig erklärt, aber erklärt im seherisch-künstlerischen Sinne. Ich habe in diesen Tagen schon zweimal sprechen dürfen von demjenigen, wie im Goetheanum, der Freien Hochschule in Dornach in der Schweiz, gepflegt wird exakte Clairvoyance. Die Wege habe ich ja beschrieben in den Büchern, die unter dem Titel «Knowledge of Higher Worlds and Its Attainment», «Theosophy» und «Occult Science - An Outline» ins Englische übersetzt sind. Da kommt der Mensch durch gewisse Übungen, die so exakt verlaufen wie man Mathematik lernt, dazu, seine seelischen Kräfte so kraftvoll zu machen, daß man die Denkkraft, die Willenskraft, die Gefühlskraft zuletzt so handhaben lernt, daß man mit seiner Seele bewußt, nicht schlafend unbewußt, auch nicht träumend, außerhalb des Leibes ist, daß man also zurückläßt mit vollem Bewußtsein den physischen Leib mit seinem intellektualistischen Denken - das bleibt beim physischen Leib -, daß man nun Imaginationen hat, die nicht Phantasie-Imaginationen sind, wie sie für die Kunst berechtigt sind, sondern Ausdruck von demjenigen, was in der heutigen Welt vorhanden ist aus der spirituellen Welt, die uns überall umgibt. Wir lernen schauen durch Imagination, Inspiration und Intuition Wesenhaftes von der geistigen Welt, so wie sonst von der physischen Welt. Wir lernen durch unsere Sinne aus den Farben, aus den Tönen heraus bewußt betrachten durch diese exakte Clairvoyance eine geistige Welt; nicht durch Halluzinationen, Illusionen, die immer in den Menschen hineinarbeiten und sein Bewußtsein herabdämmern, sondern wir lernen die geistige Welt kennen im vollen Bewußtsein, das so exakt ist wie das Bewußtsein, wenn ich Mathematik treibe. In die hohen geistigen Regionen können wir uns auf diese Weise versetzen, können Bilder darinnen haben, die nur zu vergleichen sind mit unseren Erinnerungsbildern, die

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nicht zu vergleichen sind mit Visionen, die aber durchaus reale geistige Weltbilder sind. Nun halte ich es für meine Pflicht, hinzuweisen darauf, daß wir aufzunehmen haben dasjenige, was wir durch den Geistesforscher empfangen, was wir lernen zu schauen, was aus der Geisteswelt da herausgekommen ist an allen ursprünglichen Idealen in Wissenschaft, Kunst, Religion der Menschheit. Alle alten Ideale haben deshalb so große Impulsivität gegenüber den intellektualistischen modernen Idealen, weil sie der Geisteswelt entstammen, durch Clairvoyance, die damals allerdings instinktiv und traumhaft war, weil sie aus einer solchen geistigen Welt hervorgeholt sind. Mögen wir heute klar erkennen, daß gewisse religiöse Inhalte nicht mehr für unsere Zeit passen: sie sind aber aus der alten Zeit hereingetragen worden durch Clairvoyance in das gewöhnliche Leben. Wir brauchen wiederum offene Tore, um in die geistige Welt hineinzuschauen, um herauszuholen nicht abstrakte Ideale, von denen überall gesprochen wird, aber um die Kraft zu gewinnen, dem Idealen, dem Geistigen, dem Spirituellen in Wissenschaft, in Kunst, in Religion nachzugehen.

Wenn man mit solchem Schauen darinsteht in der geistigen Welt und nun an Shakespeare herantritt, so bietet sich eine ganz besondere Erfahrung dar. Von dieser Erfahrung will ich Ihnen sprechen. Man kann Shakespeare begreifen aus wahrem, tiefem Bewußtsein heraus, aus tiefem Gefühl heraus. Man braucht natürlich, um Shakespeare voll zu erleben, nicht exakte Clairvoyance, aber diese exakte Clairvoyance kann auf etwas hinweisen; sie kann uns klarmachen, warum Shakespeare uns nicht verlassen wird, warum er uns immer wieder gewisse Impulse gibt. Da kann der, der es zu exakter Clairvoyance gebracht hat durch Entwickelung von Denk-, Gefühls- und Willenskraft, er kann das, was er aus Shakespeare aufgenommen hat, hinübertragen in die geistige Welt. Diese Erfahrung kann man durchaus gemacht haben. Man kann hineinnehmen in die geistige Welt hinüber, was man hier erlebt hat: «Hamlet», «Macbeth» und so weiter kann man hinübernehmen in die geistige Welt. Da kann man aber erst sehen, was im tiefsten Inneren Shakespeares lebte, wenn man das vergleicht mit irgend etwas anderem, mit einem anderen Dichter der neueren Zeit, dessen Eindrücke man hinübernehmen kann. Ich will keine besonderen Dichter nennen - es könnte im Grunde

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genommen jeder erwähnt werden -, da ja jeder Vorliebe hat für einen bestimmten. Jeder eigentlich naturalistische Dichter kann genannt werden, namentlich die naturalistischen Dichter seit vierzig bis fünfzig Jahren. Wenn man vergleicht dasjenige, was man drüben in der geistigen Welt hat, mit dem, was man aus Shakespeare hinübergenommen hat, dann findet man das Eigentümliche: Shakespeares Gestalten leben! Indem man sie hinüberträgt, machen sie andere Handlungen; aber das Leben, das sie hier haben, das bringt man hinüber in die geistige Welt; während, wenn man selbst von manchem modernen idealistischen Dichter die Gestalten hinüberbringt in die geistige Welt, sie sich wie hölzerne Puppen ausnehmen: sie sterben ab, sie haben keine Beweglichkeit. Man kann Shakespeare in die geistige Welt mitnehmen so wie einen bekannten anderen Dichter der neueren Zeit. Man nimmt von Shakespeare aus solche Gestalten mit, welche sich drüben zu benehmen wissen. Die Gestalten vieler anderer Dichter aber, die aus bloßem Naturalismus kommen, sind Puppen drüben, sie werden dann eine Art Erfrieren durchmachen; man erkältet selbst in der geistigen Welt an dieser modernen Dichtung. Das sage ich nicht aus einer Emotion heraus, aber aus Erfahrung heraus. Hat man aber diese Erfahrung, dann kann man sagen: Was hat Goethe gefühlt? Da ist es bei Shakespeare, wie wenn das große Buch der Natur aufgeschlagen wäre, und die Blätter rasch hin und wider geblättert würden vom Sturmwind des Lebens. Goethe wußte, daß Shakespeare aus allen Tiefen der geistigen Welt heraus schuf, und er empfand das. Das ist dasjenige, was Shakespeare zu der eigentlichen Unsterblichkeit verhülfen hat, was Shakespeare wiederum neu macht. Wir können zehn-, zwanzig-, hundertmal ein Shakespearesches Drama erleben, nehmen wir es im Ganzen oder im Einzelnen auf.

Sie haben in diesen Tagen jene Szene sehen können, wo der Mönch vor der hingeworfenen Helena hinkniet und seine Überzeugung über ihre Schuldlosigkeit ausdrückt. Es ist etwas ungeheuerlich Tiefes und Wahres, mit dem sich kaum etwas vergleichen läßt in der neueren Literatur; es sind manchmal gerade die Intimitäten an Shakespeare, die so bedeutsam wirken und seine innere Lebendigkeit aufweisen. Oder in dem Stück «Wie es euch gefällt», wo der Herzog in dem Ardennenwalde vor den Bäumen im Walde steht und die Natur schaut: Das sind bessere

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Ratgeber als das am Hof Erlebte - spricht er aus -, denn diese Ratgeber sagen mir etwas darüber, was ich als Mensch bin. - Und welch wunderbare Naturanschauung spricht gerade an dieser Stelle aus Shakespeare, indem er sagt: Die Bäume sprechen, die Quellen werden zur Schrift. - Er lernt die Natur verstehen, er lernt die Natur lesen. Darauf kann Shakespeare hinweisen, darauf kann sekundär ja auch ein neuerer Dichter hindeuten. Beim neueren Dichter empfinden wir das Sekundäre; bei Shakespeare empfinden wir, daß er in seinem Erlebnis darinsteht, daß er unmittelbar das alles ganz selbst erlebt hat. Selbst wenn beide dasselbe sagen, ist es ganz anders, ob Shakespeare oder ein neuerer Dichter es sagt.

Da tritt die große Frage vor uns hin: Wie kommt es, daß bei Shakespeare diese mit dem Übersinnlichen verwandte Lebendigkeit besteht, woher kommt überhaupt das Leben in Shakespeares Drama? Da aber werden wir hingeführt zu sehen, wie Shakespeare aus dem 16., 17. Jahrhundert heraus etwas zu schaffen in der Lage ist, was doch noch einen lebendigen Zusammenhang hat mit dem Leben des ältesten Dramas ; und das älteste Drama, das zu uns herüberspricht von Äschylos, von Sophokles, das ist wiederum ein Produkt der Mysterien, jener alten kultischen und künstlerischen Veranstaltungen, welche hervorgeholt sind aus der ältesten instinktiven, inneren, tiefsten sprituellen Erkenntnis. Dasjenige, was uns an wahrer Kunst so begeistert, wir können es verstehen, wenn wir den Ursprung in den Mysterien suchen.

Wenn ich nun einige aphoristische Bemerkungen über das Mysterien- wesen und das Hervorgehen des künstlerischen Sinnes und künstlerischen Schaffens aus diesem Mysterienwesen geben werde, so kann natürlich sehr leicht eingewendet werden, daß dasjenige, was vom Standpunkt einer exakten Clairvoyance über diesen Gegenstand gesagt wird, nicht genügend durch Beweise gestützt sei. Allein dasjenige, was exakte Clairvoyance gibt, ist ja nicht nur die Bilderwelt, die uns in der Gegenwart umgibt, sondern durchaus auch die Welt des geschichtlichen Daseins, der historischen Entwickelung der Menschheit und des Kosmos überhaupt. Derjenige, der sich dieser Methode, wie ich sie in meinen Büchern geschildert habe, bedient, kann selber dasjenige nachprüfen, was diese exakte Clairvoyance über das Mysterienwesen zu sagen hat.

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Wenn man über die Mysterien spricht, so weist man zurück in sehr alte Zeiten der Menschheitsentwickelung, in welchen Religion, Kunst und Wissenschaft noch nicht so getrennt nebeneinander dastanden, wie das heute der Fall ist. Es bringen sich die Menschen oftmals nicht genügend zum Bewußtsein, welche Wandlungen, welche Metamorphosen Kunst, Religion und Wissenschaft durchgemacht haben, bis sie zu einer solchen Trennung, einer solchen Differenzierung gekommen sind, auf der sie heute stehen. Ich will nur ein Einziges erwähnen, um einigermaßen darauf hinzudeuten, wie gerade die hier gemeinte heutige anthroposophische Erkenntnis wiederum hineinführt in ältere Formen, nicht in symbolisch-allegorisch-künstliche Gestaltung, sondern in wirkliches Künstlertum. Zu uns leuchtet herüber dasjenige, was die älteren Maler zu Ende des 13., 14. Jahrhunderts geleistet haben. Man braucht sich nur an Cimabue zu erinnern. Dann tritt etwas in die Malerei ein, was die moderne Malerei mit Recht beherrscht: dasjenige, was wir Raumesper- spektive nennen. Es wird in den Kuppeln im Goetheanum in Dornach gezeigt, wie wir wieder zurückgehen nach jener Perspektive, welche in den Farben selbst liegt, daß man anders das Blaue, das Rote, das Gelbe empfindet, daß man zugleich aus der gewöhnlichen physischen Welt herauskommt, daß die dritte Dimension des Raumes aufhört eine Bedeutung zu haben. Man kommt dazu, nur in zwei Dimensionen zu arbeiten. Das ist die große Bedeutung desjenigen, was in der Kunst dem Maler zur Verfügung steht, was er mit der Farbe ausdrücken kann. Aber wie er wieder zurückkehrt zu den älteren, instinktiven, geistigen Erlebnissen der Menschheit, das will uns die moderne Anthroposophie auf ganz besondere Weise geben durch das von mir Gesagte über exakte Clairvoyance.

Wenn man zurückschaut auf das, was alte Clairvoyance wollte - es hängt ebenso zusammen mit dem Künstlerischen, mit dem Religiösen, mit dem Wissenschaftlichen, mit der alten Erkenntnis überhaupt. Eines gab es in den alten Kultusstätten des Mysterienwesens: Das Verständnis für die Zusammengehörigkeit von Religion, Kunst und Wissenschaft, die zu gleicher Zeit schon sein sollten eine Offenbarung der göttlichen Weltenkräfte. Indem sie eine Manifestation der göttlichen Kräfte waren, versenkten sie sich in die menschlichen Gefühle des Religiösen; indem

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sie schon waren, was wir heute in der Kunst pflegen, waren diese Kultushandlungen die künstlerischen Werke der Menschheit; und indem man sich bewußt war, daß wahre Erkenntnis gewonnen werden kann, wenn nicht einseitig der Mensch diese Erkenntnis sucht, war die alte mysterienhafte Kulturentwickelung zugleich die Vermittlerin der damaligen menschlichen Erkenntnis. Nach der heutigen Anschauung glaubt man Erkenntnis erringen zu können, wenn man einfach das Bewußtsein nimmt und nun hingeht an das, was man in der Natur beobachten kann, und sich Begriffe bildet von Naturtatsachen. So wie man heute an die Welt herangeht, um Erkenntnis zu gewinnen, war das in alter Zeit nicht der Fall. Der Mensch mußte erst zu einer höheren Stufe seiner Menschlichkeit hinaufsteigen, um dann in der alten Art - die nicht dieselbe ist wie die exakte Clairvoyance - hineinzuschauen in die geistige Welt. Aber er schaute hinein. Dazu waren die Kultushandlungen nicht da, um dem Menschen etwas für seine Augen zu zeigen, sondern dazu, daß der Mensch etwas erlebte. Es waren gewaltige Schicksale, die dem Menschen vorgeführt wurden und die den Gegenstand dieser Kultushandlungen, dieser Mysterienhandlungen bildeten.

Der Mensch wurde dadurch, daß er seinen gewöhnlichen Menschen vergaß, herausgehoben aus dem gewöhnlichen Leben, so daß er in den Zustand kam, wo er - aber es war nicht so klar, wie es heute sein muß, nur wie ein Traum - außerhalb seines Leibes war. Das war das Ziel der Mysterien: die Menschen durch erschütternde Handlungen zu dem zu bringen, daß sie außerhalb des Leibes erlebten. Nun sind also gewisse Erlebnisse da außerhalb des Leibes. Das eine große Erlebnis haben wir, während wir in unserem Leibe leben, während wir in unserem Organismus sind, wenn wir das, was außerhalb von uns ist, erleben mit unseren Gefühlen. Wir haben ein Miterleben desjenigen, was außer uns ist.

Wenn Sie sich vorstellen, daß der Mensch mit seinem Seelisch-Geisti­gen außerhalb seines Physischen ist und daß er draußen immer geistig miterlebt, nicht mit eisigen Verstandeskräften, sondern miterlebt mit Kräften der Seele, mit Gefühlsemotionen, wenn Sie sich vorstellen, was der Mensch dann außerhalb seines Leibes erlebt, dann lernen Sie etwas kennen: das ist das Mitfühlen - man lernt es auch mit anderen Menschen

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- mit Blitz und Donner, mit dem Rauschen des Baches, dem Sprudeln der Quelle, dem Sausen des Windes, aber auch mit den geistigen Entitäten der Welt. Außerhalb seines Leibes lernt man auch das wirklich miterleben. Damit aber wird verbunden ein anderes Gefühl, das den Menschen überkommt, wenn er dem zunächst Unbekannten gegenübersteht. Es ist ein gewisses Gefühl der Furcht, der Angst. Beide Gefühle spielten die größte Rolle in den alten Mysterien: dieses Gefühl des Miterlebens der Welt und dieses Gefühl der Furcht. Und wenn der Mensch sich so stark gemacht hatte in seinem Inneren, daß er nun ertragen konnte dieses Miterleben der Welt, daß er ertragen konnte auch die Furcht, ohne sich dabei innerlich zu ergeben oder abzuwenden, dann war er geeignet, dann war er so weit entwickelt, daß er nun in die geistige Welt wirklich hineinschauen konnte, daß er die geistige Welt miterleben konnte, daß er seinen Mitmenschen Erkenntnisse überliefern konnte von geistigen Welten, aber auch mit diesem Gefühl wiederum in diese geistige Welt wirkte; daß seine Sprache eine neue poetische Kraft offenbarte, daß seine Hand geeignet wurde, die Farben zu beherrschen, daß er seine innere Rhythmik so handhaben konnte, daß er zum Musiker der Menschen wurde. Er wurde zum Künstler. Er konnte das den Menschen überliefern, was die Urreligionen dem Menschen gaben, durchaus aus dem Mysterium heraus. - Wer heute das katholische Meßopfer mit innerer menschlicher Erkenntnis durchschaut, der weiß: es ist dieses das letzte schattenhafte Bild desjenigen, was in den Mysterien lebend war. - Das, was so in den Mysterien lebte, es hatte seine künstlerische, seine religiöse Seite. Die trennten sich später. Indem wir auf Äschylos hinschauen, auf Sophokles hinschauen, haben wir schon den Teil herausgehoben aus den Mysterien, der der künstlerische Einschlag war. Wir haben den göttlichen Helden Prometheus; er soll erleben, wie der Mensch Erschütterndes durchmachen kann, wie der Mensch innerliche Schreckens- und Furchtzustände durchmachen kann. Zum Bilde war dasjenige geworden - das aber im Menschen wie dramatisches Darstellen wurde -, was in den alten Mysterien lebendig war, um im Menschen zu einer höheren Stufe hinaufzuheben, was in Mysterien initiiert werden sollte. So war dies ein Nachbild geworden der tiefsten menschlichen Erlebnisse. - Aristoteles hatte doch noch einige Traditio-

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nen von der Art, wie das alte Drama hervorgegangen ist aus den Mysterien. Aristoteles hat jenen Satz geprägt, den die Gelehrten überall in Büchern behandelt haben, die überall in Bibliotheken zu finden sind; er hat etwas hingeschrieben, was noch ein Nachklang der alten Mysterien war, was in Äschylos und Sophokles weiterlebte: daß das Drama die Darstellung einer Handlung ist, die Mitleid und Furcht erregt, damit der Mensch gereinigt werden könne von physischen Leidenschaften, damit er die Katharsis durchmache. - Man versteht nicht, was diese Katharsis, diese Reinigung bedeutet, wenn man nicht zurückschauen kann in die alten Mysterien und sehen kann, wie die Menschen vom Physischen gereinigt wurden, außerhalb ihres Leibes erleben konnten das Übersinnliche in mächtigen Erlebnissen.

Aristoteles hat schon das geschildert, was zum Bilde geworden war in dem Drama. Das ist auf die neueren Dramatiker dann übergegangen, und wir sehen, wie in Corneille, in Racine Aristoteles wirkt; wie nachgebildet wird dem toten Aristoteles, wie gestaltet, gekleidet wird die Handlung in Furcht und Mitleid - was aber nichts anderes ist als das frühere Miterleben der geistigen Welt, wenn der Mensch außerhalb seines Leibes war. Aber die Furcht ist immer da, wenn der Mensch vor dem Unbekannten steht, und das Übersinnliche ist immer gewissermaßen etwas Unbekanntes.

Es wird in der neueren Entwickelung nicht mehr mit vollem Verständnis auf die alten Mysterien hingeblickt, wo man hinausgeführt wurde von der menschlichen in eine höhere Gotteswelt, wo hereinragte die höhere Gotteswelt in diese menschliche Welt. Die Menschheit entwik- kelte nicht weiter diesen alten Standpunkt, der dieser alten Dramatik zugrunde gelegen hat; dies konnte nicht mehr die Entwickelung der späteren Menschheit sein.

Und Shakespeare war in die Entwickelung des Dramas der damaligen Zeit hineingestellt, in jene Welt, die nach einer anderen Dramatik damals suchte, so, daß in der Dramatik etwas von einem über das gewöhnliche Menschliche Hinweggehenden lebe. Da hinein hat sich Shakespeare eingelebt, und angeregt durch das, was an jener dramatischen Kraft seiner Zeit von Menschen noch gefühlt werden kann, gab er sich demjenigen hin, was so wirkt, daß man das Gefühl hat: in Shakespeare

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wirkt mehr als eine einzelne menschliche Persönlichkeit, in Shakespeare wirkt der Geist seines Jahrhunderts, und damit im Grunde genommen der Geist der ganzen Entwickelung der Menschheit. Indem in Shakespeare noch etwas darinnen gewesen war von jenem alten Fühlçn, machte er in sich rege dasjenige, was nun nicht eine intellektuelle Gestaltung von dieser oder jener Wesenheit oder diesem oder jenem Menschen ist, sondern er lebte selber in diesen Gestalten noch darinnen. So wurden die Gestalten seiner Dramen etwas, was nicht aus menschlichem Intellekt heraus, sondern was aus der entzündeten Kraft des Menschen heraus gekommen ist, die wir wieder suchen müssen, wenn wir zur Entwickelung wirklicher Menschheitsideale kommen wollen. Dann aber müssen wir zur Intuition wieder kommen.

Das wird im Goetheanum in Dornach gesucht, und es darf gesagt werden, daß dort die Menschheit wiederum auf die exakte Clairvoyance verwiesen wird. Was noch in Shakespeare wirkt, was er auf der einen Seite in so wunderbarer Weise geschaffen hat, was die Mysteriendramati- ker noch äußerlich hingestellt haben vor den Menschen, und was Shakespeare ausgearbeitet hat, kann verständlich gemacht werden. Es ist nicht eine Äußerlichkeit, daß man in Shakespeares Dramen etwa hundertfünfzig Pflanzennamen findet, daß man etwa hundert Vogelnamen findet: das alles gehört mit Shakespeare zum Ganzen, was als ein fortlaufender Strom sich entwickelt von den alten Kultusimpulsen der Mysterien her, was er ganz in das Menschenleben hereinnahm. Dadurch werden seine Dramen wach und wirklich, nicht durch das, was der Mensch hineinlegt, motiviert oder nicht motiviert. . . Ebensowenig wie man einen solchen Maßstab bei dem Prometheus, bei dem Ödipus anwenden darf, darf man ihn bei Shakespeare anwenden. Und in wunderbarer Weise sehen wir in Shakespeares eigener Persönlichkeit die Mysterienentwickelung. Er kommt nach London, er ist hineingestellt in das dramatische Leben, er dichtet wie andere, er wendet sich in bezug auf seine Stoffe auf das Gebiet historischer Überlieferungen, er ist abhängig von der Dramatik der anderen. Wir sehen, wie in diesen Jahren die eigentliche künstlerische Phantasie erwacht, so daß von 1598 an er das Innere seines Wesens seinen Gestalten aufzudrücken vermag; wir sehen, wenn er etwa seinen «Hamlet» gedichtet hat, daß er ihm mit dem gewöhnlichen Bewußtsein

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nicht nachkommen kann. Es ist etwas, wie wenn man fühlen würde, daß er in anderen Welten erlebte, daß er die physische Welt anders beurteilte. Und solche Verinnerlichung verläuft mit einer Art innerer Tragik in Shakespeare. Nachdem er erst erlebt hat das äußere dramatische Milieu, dann die tiefste Innerlichkeit - ich möchte sagen, das Begegnen mit dem Weltengeist, von dem Goethe in so schöner Weise sprach -, kommt er wieder mit einem gewissen Humor in die Dramatik hinein; Humor, der die höchsten Kräfte ebenso in sich trägt, wie zum Beispiel im «Sturm» - eine der wunderbarsten Schöpfungen der ganzen Menschheit, eine der reichsten Entwickelungen der dramatischen Kunst. So kann Shakespeare eine reife Weltanschauung überall in das lebendige menschliche Schaffen hineinverlegen.

Damit aber, daß wir die Dramatiker zurückführen können auf das alte Mysterienwesen, das es abgezielt hatte auf eine lebendige Entwickelung der Menschheit, wird uns begreiflich, warum aus der Dramatik Shakespeares eine solche erzieherische Kraft ausgeht. Wenn wir es ernst meinen mit diesen neuen Idealen, dann können wir sagen: Wir können wissen, wie das, was aus einer Art von Selbsterziehung hervorgegangen ist - wie ich eben geschildert habe - bis zu seiner höchsten geistigen Erhebung, nun auch in den Schulen wirken kann; wie es hineindringen kann in die lebendigen erzieherischen Kräfte unserer Jugend. Das ist es, was aus der Erfahrung der ganzen kosmischen Spiritualität uns so recht heute aktuell macht Shakespeares Dramen und die großen Erziehungsfragen der Zeit. Aber mit allen Mitteln müssen wir geistig tätig sein, denn wir werden aus Shakespeare diese Fragen nur dann beantworten, wenn wir sie mit tiefster Spiritualität, aus voller Geistigkeit heraus beantworten. Wir brauchen das, denn es sind diejenigen Ideale, die die Menschheit so sehr nötig hat. Wir haben eine großartige Naturwissenschaft; sie gibt uns eine dichte, stoffliche Welt, sie kann nichts anderes lehren als das Ende, welches in eine Art Weltentod führen wird. Wir schauen auf die natürliche Entwickelung hin, wir finden sie aus den Anschauungen der letzten Jahrhunderte herausgehend als etwas Fremdes, wenn wir zu unseren Idealen hinaufschauen. Hat aber das unreligiöse Ideal durch die ganze zivilisierte Welt hin eine reale Kraft? Nein! Wir müssen sie erst wieder erwerben, müssen zu den geistigen Welten auf steigen, um diese

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Kraft zu erwerben, die alles überwinden kann, die selbst zur starken Naturkraft werden kann, nicht nur zum Glauben. Wir müssen uns aufschwingen können zu dem, was aus religiösen Idealen etwas schafft, was im Kosmos das Stoffliche überwindet. Das können wir nur, wenn wir der geistigen Weltanschauung uns hingeben. Ein großer Führer kann Shakespeare sein zu dieser geistigen Weltanschauung.

Es ist aber auch ein starkes soziales Bedürfnis für das Wirken dieser geistigen Weltanschauung in der Gegenwart da. Rechnen Sie es mir nicht so an, als wenn ich aus Egoismus heraus diese Entwickelung wollte, weil gerade in Dornach in der Schweiz das gepflegt wird, was die Menschheit wiederum hineinführen kann in die Wirklichkeit, in das Geistige, in die wahre Spiritualität der Welt. Allein gerade deshalb ist es in Dornach möglich gewesen, manches zu überwinden, was heute Interessen der Menschheit sind, die aber leider diese Menschheit spalten; einander widerstrebende Interessen, die Parteien geschaffen haben in allen möglichen Gebieten. Und gesagt werden darf vielleicht, daß - während meist in Dornach siebzehn Repräsentanten der gegenwärtigen Zivilisation vom Jahre 1913 bis jetzt in Eintracht arbeiteten durch die ganze Kriegsepoche hindurch - wir in der Nachbarschaft die Kanonen donnern hörten, in denen der menschliche Unfriede aneinanderprallte. Und daß Repräsentanten von siebzehn Nationen in dem größten der menschlichen Kriege friedlich Zusammenarbeiten konnten, scheint mir auch ein großes Ideal der Erziehung zu sein. Was so im kleinen, das könnte auch im großen möglich sein, und das braucht der menschliche Fortschritt, die menschliche Zivilisation. Deshalb, weil wir einen Fortschritt der menschlichen Zivilisation wollen, muß ich hinweisen auf eine solche Gestalt, die in der ganzen Menschheit wirkte, die der ganzen Menschheit große Anregung gegeben hat zu denjenigen neuen menschlichen Idealen, die für die internationale allgemeine Menschheit Bedeutung haben. Deshalb muß ich auf Shakespeare hinweisen, deshalb lassen Sie mich schließen an diesem festlichen Tage mit Worten, die ich behandelt habe in meinen Auseinandersetzungen - mit Worten Goethes, die er empfunden hat, indem er bei Shakespeare volle, totale Spiritualität und Geistigkeit empfunden hat. Da entrang sich ihm ein Satz, der, wie es mir scheint, tonangebend sein muß für alle Shakespeare-Auffassung, die da bleiben

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muß ein ewiger Quell der Anregung für alle zivilisierten Menschen. Und im Bewußtsein davon hat Goethe die Worte gebraucht über Shakespeare, mit denen wir diese Betrachtung schließen können: «Es ist die Eigenschaft des Geistes, daß er den Geist ewig anregt.» Deshalb muß man mit Recht mit Goethe sagen: «Shakespeare und kein Ende!»

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EIN VORTRAG ÜBER PÄDAGOGIK WÄHREND DES «FRANZÖSISCHEN KURSES» AM GOETHEANUM Dornach, 16. September 1922

Die Gegenwart ist die Zeit des Intellektualismus. Der Intellekt ist diejenige Seelenkraft, bei deren Betätigung der Mensch am wenigsten mit dem Inneren seines Wesens beteiligt ist. Man spricht nicht mit Unrecht von dem kalten intellektuellen Wesen. Man braucht nur daran zu denken, wie der Intellekt auf die künstlerische Anschauung und Betäti­gung wirkt. Er vertreibt oder beeinträchtigt sie. Künstler fürchten sich auch davor, daß ihre Schöpfungen von der Intelligenz begrifflich oder symbolisch erklärt werden. In dieser Klarheit verschwindet die Seelenwärme, die im Schaffen den Werken das Leben gegeben hat. Der Künstler möchte sein Werk von dem Gefühle, nicht von dem Verstande, ergriffen wissen. Denn dann geht die Wärme, in der er es erlebt hat, in den Betrachter hinüber. Von der intellektuellen Erklärung aber wird diese Wärme zurückgestoßen.

Im sozialen Leben ist es so, daß der Intellektualismus die Menschen voneinander absondert. Sie können in der Gemeinschaft nur recht wirken, wenn sie ihren Handlungen, die stets auch Wohl und Wehe der Mitmenschen bedeuten, etwas von ihrer Seele mitgeben können. Ein Mensch muß an dem anderen nicht nur dessen Betätigung erleben, sondern etwas von dessen Seele. In einer Handlung aber, die dem Intellektualismus entspringt, hält der Mensch sein Seelisches zurück. Er läßt es nicht in den anderen Menschen hinüberfließen.

Man spricht schon lange davon, daß in Unterricht und Erziehung der Intellektualismus lähmend wirkt. Man denkt dabei zunächst nur an die Intelligenz des Kindes, nicht an die des Erziehenden. Man will die Erziehungs und Unterrichtsmethoden so gestalten, daß in dem Kinde nicht bloß der kalte Verstand in Wirksamkeit tritt und zur Entwickelung kommt, sondern daß in ihm auch die Wärme des Herzens entfaltet wird.

Die anthroposophische Weltanschauung ist damit vollkommen einverstanden.

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Sie anerkennt im vollsten Maße die vorzüglichen Erzie­hungsmaximen, welche durch diese Forderung Leben gewonnen haben. Aber sie ist sich klar darüber, daß Seele nur von Seele mit Wärme erfüllt werden kann. Deshalb meint sie, daß vor allem die Pädagogik selbst und dadurch die ganze pädagogische Tätigkeit der Erziehenden beseelt wer­den müsse.

In die Unterrichts- und Erziehungsmethoden ist im Laufe der neueren Zeit stark der Intellektualismus eingezogen. Es ist ihm dieses auf dem Umwege durch das moderne wissenschaftliche Leben gelungen. Die Eltern lassen sich von der Wissenschaft sagen, was dem Leiblichen, Seelischen und Geistigen des Kindes gut ist. Die Lehrer empfangen in ihrer eigenen Ausbildung von der Wissenschaft den Geist ihrer Erzie­hungsmethoden.

Aber diese Wissenschaft ist zu ihren Triumphen eben durch den Intellektualismus gekommen. Sie will ihren Gedanken gar nicht etwas von dem eigenen Seelenleben des Menschen mitgeben. Sie will ihnen alles geben lassen von der sinnlichen Beobachtung und dem Experiment.

Eine solche Wissenschaft kann die ausgezeichnete Naturerkenntnis ausbilden, die in der neueren Zeit entstanden ist. Sie kann aber nicht eine wahre Pädagogik begründen.

Eine solche aber muß auf einem Wissen ruhen, das den Menschen nach Leib, Seele und Geist umfaßt. Der Intellektualismus erfaßt den Menschen nur nach dem Leibe. Denn der Beobachtung und dem Experi­ment offenbart sich nur das Leibliche.

Es ist erst eine wahre Menschenerkenntnis notwendig, bevor eine wahre Pädagogik begründet werden kann. Und eine wahre Menschener­kenntnis möchte die Anthroposophie erringen.

Man kann den Menschen nicht so erkennen, daß man erst seine leibliche Wesenheit durch eine bloß auf das sinnlich Erfaßbare begrün­dete Wissenschaft in der Vorstellung aufbaut und dann frägt, ob diese Wesenheit auch beseelt ist, und ob in ihr ein Geistiges tätig ist.

Für die Behandlung des Kindes ist eine solche Stellung zur Menschen-erkenntnis schädlich. Denn weit mehr als beim Erwachsenen sind im Kinde Leib, Seele und Geist eine Lebenseinheit. Man kann nicht erst nach Gesichtspunkten einer bloßen Sinneswissenschaft für die Gesundheit

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des Kindes sorgen, und dann dem gesunden Organismus das beibringen wollen, was man für es seelisch und geistig angemessen hält. In jedem einzelnen, das man seelisch-geistig an dem Kinde und mit dem Kinde vollbringt, greift man gesundend oder schädlich in sein Leibes-leben ein. Seele und Geist wirken sich im Erdendasein des Menschen leiblich aus. Der leibliche Vorgang ist eine Offenbarung des Seelischen und Geistigen.

Die Sinneswissenschaft kann nur auf den Leib als Wesen mit körper-haften Vorgängen gerichtet sein; sie kommt nicht zu einer Erfassung des ganzen Menschen.

Man fühlt dieses, indem man auf die Pädagogik hinsieht. Aber man verkennt dabei, was in dieser Beziehung der Gegenwart not tut. Man sagt es nicht deutlich, aber man meint es in einer halben Bewußtheit:

Durch Sinneswissenschaft kann die Pädagogik nicht gedeihen, also begründe man nicht aus dieser Wissenschaft, sondern aus den Erzie­hungsinstinkten heraus die pädagogischen Methoden.

Das wäre in der Theorie anzuerkennen. Aber in der Praxis führt es zu nichts. Denn die moderne Menschheit hat die Ursprünglichkeit des Instinktlebens verloren. Es bleibt ein Tappen im dunkeln, wenn man aus heute nicht mehr elementar im Menschen vorhandenen Instinkten eine instinktive Pädagogik aufbauen will.

Das wird durch die anthroposophische Erkenntnis eingesehen. Durch sie kann man wissen, daß die intellektualistische Orientierung in der Wissenschaft einer notwendigen Phase in der Entwickelung der Mensch­heit ihr Dasein verdankt. Die Menschheit der neueren Zeit ist aus der Periode des Instinktlebens herausgetreten. Der Intellekt hat seine her­vorragende Bedeutung erhalten. Die Menschheit brauchte ihn, um auf ihrer Entwickelungsbahn in der rechten Weise fortzuschreiten. Er führt sie zu demjenigen Grade der Bewußtheit, den sie in einem gewissen Zeitalter erklimmen muß, wie der einzelne Mensch in einem Lebensalter gewisse Fähigkeiten erringen muß. Aber unter dem Einflusse des Intel­lektes werden die Instinkte abgelähmt. Man kann nicht, ohne gegen die Entwickelung der Menschheit zu arbeiten, zu dem Instinktleben wieder zurückkehren wollen. Man muß die Bedeutung der Vollbewußtheit anerkennen, die durch den Intellektualismus errungen ist. Und man muß

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dem Menschen in dieser Vollbewußtheit das auch vollbewußt wieder geben, was ihm kein Instinktleben heute mehr geben kann.

Dazu braucht man eine Erkenntnis des Geistigen und Seelischen, die ebenso auf Wirklichkeit begründet ist wie die im Intellektualismus begründete Sinneswissenschaft. Eine solche strebt die Anthroposophie an. Dies anzuerkennen, davor schrecken viele Menschen heute noch zurück. Sie lernen die Art kennen, wie die moderne Wissenschaft den Menschen verstehen will. Sie fühlen, so kann man ihn nicht erkennen. Daß aber eine neue Art weiter ausgebildet werden könne, um in ebensol­cher Bewußtheit zu Seele und Geist vorzudringen wie zum Körperhaf­ten, dazu will man sich nicht bekennen. Deshalb will man für die Erfassung und erziehliche Behandlung des Menschlichen wieder zu den Instinkten zurückkehren.

Aber man muß vorwärtsgehen; und dazu hilft nichts als zu der Anthropologie eine Anthroposophie, zu der Sinneserkenntnis vom Menschen eine Geisteserkenntnis hinzugewinnen. Das völlige Umlernen und Umdenken, das dazu nötig ist, erschreckt die Menschen. Und aus einem unbewußten Schreck heraus klagen sie die Anthroposophie als phantastisch an, während sie nur auf dem Geistgebiete so besonnen vorgehen will wie die Sinneswissenschaft auf dem physischen.

Man sehe auf das Kind hin. Es entwickelt um das siebente Lebensjahr herum seine zweiten Zähne. Diese Entwickelung ist nicht das Werk bloß des Zeitabschnittes um das siebente Jahr herum. Sie ist ein Geschehen, das mit der Embryonalentwickelung beginnt und im zweiten Zahnen nur den Abschluß findet. Es waren immer schon Kräfte in dem kindli­chen Organismus tätig, welche auf einer gewissen Stufe der Entwicke­lung die zweiten Zähne zur Entwickelung bringen. Diese Kräfte offen­baren sich in dieser Art in den folgenden Lebengabschnitten nicht mehr. Weitere Zahnbildungen finden nicht statt. Aber die entsprechenden Kräfte haben sich nicht verloren; sie wirken weiter; sie haben sich bloß umgewandelt. Sie haben eine Metamorphose durchgemacht. Es finden sich noch andere Kräfte im kindlichen Organismus, die in ähnlicher Art eine Metamorphose durchmachen.

Betrachtet man in dieser Art den kindlichen Organismus in seiner Entfaltung, so kommt man darauf, daß die Kräfte, um die es sich da

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handelt, vor dem Zahnwechsel in dem physischen Organismus tätig sind. Sie sind untergetaucht in die Ernährungs- und Wachstumsprozesse. Sie leben in ungetrennter Einheit mit dem Körperlichen. Um das sie­bente Lebensjahr herum machen sie sich von dem Körper unabhängig. Sie leben als seelische Kräfte weiter. Wir finden sie in dem älteren Kinde tätig im Fühlen, im Denken.

Die Anthroposophie zeigt, wie dem physischen Organismus des Menschen ein ätherischer eingegliedert ist. Dieser ätherische Organis­mus ist bis zum siebenten Lebensjahre in seiner ganzen Ausdehnung im physischen Organismus tätig. In diesem Lebensabschnitte wird ein Teil des ätherischen Organismus frei von der unmittelbaren Betätigung am physischen Organismus. Er erlangt eine gewisse Selbständigkeit. Mit dieser wird er auch ein selbständiger, von dem physischen Organismus relativ unabhängiger Träger des seelischen Lebens.

Da sich aber das seelische Erleben nur mit Hilfe dieses ätherischen Organismus im Erdendasein entfalten kann, so steckt das Seelische vor dem siebenten Lebensjahre ganz in dem Körperlichen darinnen. Soll in diesem Lebensalter Seelisches wirksam werden, so muß die Wirksamkeit körperlich sich offenbaren. Das Kind kann nur mit der Außenwelt in ein Verhältnis kommen, wenn dieses Verhältnis einen Reiz darstellt, der körperlich sich ausleben kann. Das ist nur dann der Fall, wenn das Kind nachahmt. Vor dem Zahnwechsel ist das Kind ein rein nachahmendes Wesen im umfassendsten Sinne. Seine Erziehung kann nur darinnen bestehen, daß die Menschen seiner Umgebung ihm das vormachen, was es nachahmen soll.

Der Erzieher soll in sich selbst erleben, wie der menschliche physische Organismus ist, wenn dieser noch seinen ganzen ätherischen Organis­mus in sich hat. Das gibt die Menschenkenntnis des Kindes. Mit dem abstrakten Prinzip allein ist nichts anzufangen. Für die Erziehungspraxis ist notwendig, daß eine anthroposophische Erziehungskunst im einzel­nen entwickelt, wie sich der Mensch als Kind offenbart.

Zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife steckt nun im physischen und im ätherischen Organismus ein seelischer Organismus darinnen - der von der Anthroposophie astralisch genannte - wie bis zum Zähnwechsel der ätherische im physischen.

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Das bedingt, daß für dieses Lebensalter das Kind ein Leben entwik­kelt, das sich nicht mehr in der Nachahmung erschöpft. Aber es kann auch noch nicht nach vollbewußten, vom intellektuellen Urteil geregel­ten Gedanken, sein Verhältnis zu anderen Menschen bestimmen. Das ist erst möglich, wenn ein Teil des Seelenorganismus mit der Geschlechts-reife sich von dem entsprechenden Teile des ätherischen Organismus zur Selbständigkeit loslöst. Vom siebenten bis zum vierzehnten oder fünf­zehnten Lebensjahre ist das Bestimmende für das Kind nicht diejenige Orientierung an den Menschen seiner Umgebung, die durch die Urteils­kraft, sondern diejenige, die durch die Autorität bewirkt wird.

Das aber hat zur Folge, daß die Erziehung für diese Lebensjahre ganz im Sinne der Entwickelung einer selbstverständlichen Autorität gestaltet werden muß. Man kann nicht auf die Verstandesbeurteilung des Kindes bauen, sondern man muß durchschauen, wie das Kind annehmen will, was ihm als wahr, gut, schön entgegentritt, weil es sieht, daß sein vorbildlicher Erzieher dies für wahr, gut, schön hält.

Dazu muß dieser Erzieher so wirken, daß er gewissermaßen das Wahre, Gute und Schöne dem Kinde nicht bloß darstellt, sondern es ist. Was er ist, geht auf das Kind über, nicht, was er ihm lehrt. Alle Lehre muß wesenhaft im Vorbilde vor das Kind hingestellt werden. Das Lehren selbst muß ein Kunstwerk, kein theoretischer Inhalt sein.

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HINWEISE

Textunterlagen: Die Vorträge wurden von verschiedenen Zuhörern mitgeschrieben. Die vorhandenen Textunterlagen sind von unterschiedlicher Qualität und weisen teilweise erkennbare Lücken auf. Soweit die Originalstenogramme vorhanden sind, wurden diese zur Prüfung einzelner Stellen herangezogen. Siehe auch die Bemerkungen zu einigen Vorträgen in den nachstehenden Hinweisen.

Folgende Vorträge wurden in Zeitschriften veröffentlicht:

Den Haag, 23. Februar 1921: «Die Menschenschule» 1959, 33. Jahrgang, Heft 10.

Den Haag, 27. Februar 1921: «Die Menschenschule» 1959, 33. Jahrgang, Heft 11.

Dornach, 26. September 1921: «Die Menschenschule», 1960, 34. Jahrgang, Heft 3.

Aarau, 11. November 1921: «Die Menschenschule» 1960, 34. Jahrgang, Heft 4-5. Fragenbeantwortung, Heft 6/7/8.

Kristiania (Oslo), 23. November 1921: »Die Menschenschule» 1934, 8. Jahrgang, Heft 1/2.

Kristiania (Oslo), 24. November 1921: «Die Menschenschule» 1934, 8. Jahrgang, Heft 34.

Stratford-on-Avon, 19. April 1922: «Das Goetheanum» 1935, 14. Jahrgang, Nr.1-2.

Stratford-on-Avon, 23. April 1922: «Das Goetheanum« 1935, 14. Jahrgang, Nr.3-7.

Dornach, 16. September 1922: «Das Goetheanum» 1922, 2. Jahrgang, Nr.17. - »Die Menschenschule» 1941, 15. Jahrgang, Heft 7/8.

Werke Rudolf Steiners, welche in der Gesamtausgabe (GA) erschienen sind, werden in den Hinweisen mit Bibliographie-Nummer und Erscheinungsjahr der letzten Auflage angegeben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

Zu Seite:

14 Aristaroh von Samos, um 320-250 v. Chr., griechischer Astronom. «Über Größe und Entfernung der Sonne und des Mondes», deutsch von Nokk 1854 und Nizze 1856.

17 Nikolaus Kopernikus, 1473-1543.

Galileo Galilei, 1564-1642.

Johannes Kepler, 1571-1630.

Giordano Bruno, 1548-1600.

31 Emil Molt, 1876-1936. Kommerzienrat. Inhaber der Waldorf-Astoria-Zigarettenfa­brik in Stuttgart. Als solcher gründete er 1919 aus dem Impuls der Dreigliederungs-bewegung die Freie Waldorfschule in Stuttgart, zunächst für die Kinder der Arbeiter und Angestellten seiner Fabrik. Auf seine Bitte hin übernahm Rudolf Steiner die Einrichtung und Leitung der Schule.

im Herbst des vorigen Jahres: Erster anthroposophischer Hochschulkurs am Goetheanum vom 27. September bis 16. Oktober 1920. Siehe Rudolf Steiner, «Grenzen der Naturerkenntnis» (8 Vorträge Dornach 1920), Bibl.-Nr. 322, GA 1969.

32 Ich habe damals Ärzten und Medizin Studierenden gezeigt: Siehe Rudolf Steiner, «Geisteswissenschaft und Medizin« (20 Vorträge Dornach 1920), Bibl.-Nr. 312, GA 1976.

33 Baustil in Dornach: Siehe Rudolf Steiner, «Der Baugedanke des Goetheanum«, Stuttgart 1958.

45 Emil Molt: Siehe Hinweis zu S.31.

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zu Seite:

52 Wer wie ich Lehrer an einer Proletarierschule war: (Xber diese Tätigkeit Rudolf Steiners in Berlin siehe J. Mücke / Ai A. Rudolph «Erinnerungen an Rudolf Steiner und seine Wirksamkeit an der Arbeiter-Bildungsschule in Berlin 1899-1904», Basel 1979

Wilhelm Liebknecht, 1826-1900. Mit August Bebel (1840-1913) Gründer der Sozial­demokratischen Partei Deutschlands.

58 Philosophisch-Anthroposophischer Verlag.: Die zwei erwähnten Menschen, die diesen Verlag begründeten, waren Marie von Sivers (Frau Dr. Steiner) und Johanna Mücke.

62 den Dornacher Bau: Siehe Hinweis zu S..33.

69 Goethe: Johann Wolfgang Goethe (1749-1832). Über seine Metamotphosenlehre siehe «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften«, herausg. und kommentiert von Rudolf Steiner in Kürschners «Deutsche National-Litteratur«, Band I: Bildung und Umbildung organischer Naturen. 1883. Fotomechanischer Nachdruck, Bibl.-Nr. la, GA 1975.

92 Emil Molt: Siehe Hinweis zu S.31.

99 Wilhelm Preyer, 1841-1897, Physiologe und Psychologe; verfaßte »Die Seele des Kindes«, Leipzig 1881.

116 In diesen Briefen über asthetische Erziehung: Wörtlich: «Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.» Friedrich von Schiller »Über die ästhetische Erziehung des Menschen» (1793/94), 15. Brief in «Philosophi­sche Schriften». Ausg. in der Reihe «Denken, Schauen, Sinnen», Stuttgart 1961.

118 in einer Einleitung zu einer Eurythmieaufführung: Siehe Rudolf Steiner, «Euryth­mie - Die Offenbarung der sprechenden Seele« (Ansprachen zu Eurythmie-Auffüh­rungen 1918-1924), Bibl.-Nr. 277, GA 1972.

123 Ich habe vor vierzehn Tagen .. . einen Aufsatz geschrieben: Siehe Rudolf Steiner, in »Der Goetheanum-Gedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart» (Gesammelte Aufsätze 1921-1925), Bibl.-Nr. 36, GA 1961 unter dem Titel «Die verschüttete Geist-Erkenntnis», S.107 ff.

133 ff. und 160 ff. Die beiden Vorträge in Kristiania (Oslo) fanden auf besondere Einladung der «Pädagogischen Vereinigung« während einer Reihe weiterer öffentli­cher Vorträge statt.

134 Emil Molt: Siehe Hinweis zu S.31.

135 Johann Heinrich Pestalozzi, 1746-1827.

Herbert Spencer, 1820-1903, englischer Philosoph. Siehe sein Werk «Education«

(1861). «Die Erziehung«, deutsch von Dr. H. Schmidt, Leipzig 1910.

154 seine «Philosophie der Freiheit»: Siehe Rudolf Steiner, «Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung» (1894), Bibl.-Nr. 4, GA 1978 (auch als Taschenbuch, Dornach 1977).

156/157 Das Was bedenke, mehr bedenke Wie »Faust» II. Teil, Laboratorium.

171 in der Goetheschen Art der Tierbetrachtung: Siehe «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften» (a. a. 0.), in Band I «Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die

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zu Seite:

vergleichende Anatomie» (Jena 1795), S. 241 ff., und «Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie» (Jena 1796), S. 327 ff.

179 Zu Weihnachten . . . in einer ganzen Reihe von Vorträgen: Siehe Rudolf Steiner, »Die gesunde Entwickelung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Ent­faltung des Seelisch-Geistigen» (16 Vorträge Dornach 1921/1922), Bibl.-Nr. 303, GA 1978.

189 William Shakespeare, 1564-1616.

Carl von Linne; 1707-1778, schwedischer Naturforscher.

Baruch de Spinoza, 1632-1677, niederländischer Philosoph.

190 Goethe hat. . . beschrieben, wie er den Shakespeareschen Geist . Goethes Äuße­

rungen über Shakespeare finden sich vor allem in »Zum Shakespeare-Tag», Druck

der Rede, die er am 14. Oktober 1771 gehalten hat. Abgedruckt in «Goethes Werk»,

Band 41 der Sophienausgabe in «Wilhelm Meisters Lehrjahre»: sowie «Shakespeare

und kein Ende«, ebenfalls in «Goethes Werke«, Band 41 der Sophienausgabe

«Literatur».

als Pfanz-Schule der Dornacher Freien Hochschule: Ist zu verstehen im Sinne des

Satzes »In Dornach wird diejenige Geistesrichtung gepflogen, die wiederum geführt

hat zu einer besonderen Auffassung der neuen Erziehungsideale der Menschheit«. -

Die Waldorfschule als solche ist eine freie und selbständige Gründung aus der

persönlichen Initiative Emil Molts (vgl. Hinweis zu S. 31). In diesem Sinne sind auch

alle später entstandenen Schulen aus den jeweiligen menschlichen und örtlichen

Verhältnissen gebildete, auf der Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde

beruhende unabhängige Einrichtungen, die sich selbst verwaltend im öffentlichen

Leben darinnenstehen.

201 Shakespeare und die neuen Ideale: Die Nachschrift dieses Vortrages ist lückenhaft.

Eine Überprüfung war nicht möglich, da die stenographischen Unterlagen fehlen.

203 was Goethe meinte: Das Zitat lautet wörtlich: «Alle Werke Shakespeares sind daher

fliegende Blätter aus dem großen Buche der Natur, Chroniken und Annalen des

menschlichen Herzens», in »Goethes Werke«, Propyläen-Ausgabe, 1. Band

1753-1773, «Rezensionen«.

207 Äschylos, 525456 v. Chr.

Sophokles, 496-406 v. Chr.

208 Cimabue, 1240-1302.

210 Aristoteles, 384-322 v. Chr. Siehe «Poetik» 3, Tragödie in »Hauptwerke«, übersetzt

von Wilhelm Nestle, Kröner Verlag Leipzig.

211 Pierre Corneille, 1606-1684.

Jean Baptiste Radne, 1639-1699.

215 «Shakespeare und kein Endel»: Siehe erster Hinweis zu S. 190. 216 Ein Vortrag über Pädagogik: Dieses Autoreferat erschien in der Wochenschrift «Das Goetheanum» vom 17. Dezember 1922. Eine Nachschrift des Vortrages liegt nicht vor.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.