GA 299

Aus SteinerWiki
ansehen im RUDOLF STEINER VERLAG

RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE ÜBER ERZIEHUNG

Geisteswissenschaftliche
Sprachbetrachtungen

Eine Anregung für Erzieher

Sechs Vorträge, gehalten in
Stuttgart vom 26. Dezember 1919 bis
3. Januar 1920 für die Lehrer
der Freien Waldorfschule

GA 299

1981

Inhaltsverzeichnis


9

ERSTER VORTRAG Stuttgart, 26. Dezember 1919

Einige der Freunde haben mich veranlaßt, zu Ihnen während dieses Aufenthaltes auch einiges über Sprachliches zu sprechen. Noch mehr als bei den naturwissenschaftlichen Kursen muß ich sagen, kann selbstverständlich bei einer so plötzlich auftretenden Absicht dasjenige, was in diesen paar Stunden zu Ihnen gesprochen werden kann, nur ganz episodisch sein. Noch mehr als die naturwissenschaftlichen Betrach­tungen müssen diese Sprachbetrachtungen mit einer gewissen Nachsicht genommen werden, weil sie durchaus eine improvisierte Sache sind. Es kann sich also nur darum handeln, einige Hinweise zu geben, die besonders auch nützlich werden könnten für unseren Unterricht in der Waldorfschule, für den Unterricht überhaupt.

Vielleicht kann dasjenige, was ungefähr beabsichtigt worden ist, am besten erreicht werden, wenn wir das eine oder andere an eine Art geschichtlicher Betrachtung der Sprache angliedern. Daher bitte ich Sie, was ich heute sagen werde, als eine lose Zusammenfügung von allerlei Bemerkungen aufzufassen, die als Einleitung dienen sollen für dasjenige, was wir in diesen paar Stunden miteinander behandeln werden.

Es ist ja wohl gerade an der deutschen Sprache zu beobachten, wie sich in der Sprache eines Volkes durch die Entwickelung dieser Sprache auch die Entwickelung des Seelenlebens selber ausdrückt. Nur muß man sich klar darüber sein, daß nicht in jedem Zeitabschnitt der Mensch zu der Sprache im gleichen Verhältnis steht wie in einem anderen Zeit­abschnitt. Je weiter wir zurückgehen in der Entwickelungsgeschichte eines Volkes, desto lebendiger finden wir in gewisser Beziehung alles das, was an Kräften der menschlichen Seele und auch an Biegsamkeitskräften des menschlichen Leibes mit der Sprache zusammenhängt. Ich habe das ja selbst des öfteren empfunden. Wenn Sie meine Bücher durchgehen, so werden Sie das ganz bewußte Bestreben finden, selbst bei philosophischen Themen möglichst in deutscher Sprache zu spre­chen. Das wird mir ja gerade übelgenommen von manchen Gegnern,

10

die dann nicht anders können als gegen das zu wettern, was in be­wußter Art gerade in diesen Büchern für die Sprache angestrebt wird. Es ist heute schon im Deutschen außerordentlich schwierig, gewisser­maßen noch innere lebendige Kräfte zu finden, welche die Sprache weitergestalten. Namentlich ist es schwierig, Sinnangliederungen zu finden, also einen gewissen Sinn in einer völlig adäquaten Weise da­durch auszudrücken, daß man versucht, irgendein Wort aufzunehmen, wie ich es zum Beispiel versucht habe mit dem Worte kraften, ein Wort, das sonst in der deutschen Sprache weniger gebraucht wird. Da ver­suchte ich, in Aktivität zu versetzen, was sonst nur mehr passiv ausge­drückt wird. Auch mit anderen Wörtern habe ich dergleichen ver­sucht; aber trotzdem wir nur um ein Jahrhundert hinter Goethe liegen, wird es uns heute schon schwer, so weitgehende neue Wörter zu prä­gen, die prägnant Dinge ausdrücken, welche wir als neue Gedanken der Zeitentwickelung einzuverleiben versuchen. Wir denken nicht dar­an, daß zum Beispiel das Wort Bildung nicht älter ist als die Goethe-Zeit! Vor der Goethe-Zeit gab es in Deutschland noch keinen gebildeten Menschen, das heißt man sagte zu dem, was man da meinte, noch nicht ein gebildeter Mensch. Die deutsche Sprache hatte noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine starke innere plastische Kraft, und so konnten solche Worte, wie Bildung oder gar Weltanschauung, das auch erst seit der Goethe-Zeit auftritt, noch gebildet werden. Es ist ein großes Glück, in einem Sprachzusammenhang zu leben, der solche innere Bil­dung noch zuläßt. Man merkt das ja insbesondere stark, wenn man zum Beispiel in der Lage ist, immerfort von der Übersetzung seiner Bücher ins Französische oder Englische oder in andere Sprachen einiges zu hören. Da übersetzen die Leute im Schweiße ihres Angesichts, so gut sie es können; aber immer, wenn einer etwas übersetzt hat, findet es der andere spottschlecht, keiner findet die Übersetzung gut. Und wenn man auf die Sachen eingeht, so kommt man darauf, daß vieles, wie es da in den Büchern steht, in der Übersetzung so nicht gesagt werden kann. Ich antworte dann den Leuten: Im Deutschen ist alles richtig; man kann das Subjekt an erster, an zweiter, an dritter Stelle setzen, da ist mehr oder weniger noch alles richtig. - Und die pedantische, philiströse Einrichtung, daß etwas nicht gesagt werden kann im Absoluten,

11

ist im Deutschen noch nicht so vorhanden wie bei den westlichen Sprachen. Aber denken Sie, wohin man gekommen ist, wenn man an eine stereotype Ausdrucksweise gebunden ist! Man kann da noch nicht individuell denken, sondern eigentlich nur im Gruppengeist Dinge denken, die man den anderen Menschen mitteilen will. Das ist auch für die Bevölkerung der westlichen Zivilisationen in hohem Grade der Fall; sie denken in stereotypen Ausdrucksformen. Sehen Sie, gerade an der deutschen Sprache kann man Beobachtungen machen, wie das­jenige, was ich den Sprachgenius nennen möchte, allmählich versteift ist, wie man in unserer Zeit sich auch schon mit dem Deutschen dem Stadium nähert, wo man nicht mehr aus den stereotypen Formen her­auskann. Das war in der Goethe-Zeit nicht so, und noch weniger so in noch früheren Zeiten. Und das hängt wohl zusammen mit der ge­samten Sprachentwickelung Mitteleuropas.

In verhältnismäßig noch junger Zeit war Mitteleuropa bis weit nach dem Osten hin bewohnt von einer primitiven Bevölkerung, von einer Bevölkerung mit großen geistigen Anlagen, aber mit einer relativ primitiven äußeren Kultur, mit einer Kultur, welche mehr oder we­niger streng aufging im Wirtschaftsleben und in alldem, was sich aus diesem entwickeln ließ. Und es wurde aufgenommen zunächst auf dem Umwege über die östlich-germanischen Volksstämme vieles von der geistigen Kultur der Griechen. Damit ist aber in das Germanische, das später das Deutsche geworden ist, vieles von dem Griechischen in die Sprache Mitteleuropas eingedrungen. Da ist durch die ganzen Jahr­hunderte, in denen das Christentum sich ausbreitete von Süden nach Norden, mit den Begriffen, mit den Ideen, mit den Vorstellungen un­geheuer viel sprachliches Gut eingezogen. Die verschiedenen germa­nischen Stämme Mitteleuropas hatten für die wichtigsten Begriffe, die sie mit dem Christentum übermittelt erhalten sollten, wahrhaftig nicht die Möglichkeit, diese aus ihrer Sprache heraus auszudrücken. Selbst dasjenige, was uns überliefert ist, sagt uns da nicht immer das Wahre. So gehört zum Beispiel, was man das Segnen nennt, im wesent­lichen zu dem, was sich mit dem Christentum ausgebreitet hat. Dieser spezifische Begriff des Segnens, der war im nordisch-germanischen Hei­dentum nicht vorhanden. Wir haben zwar da die Zaubersprüche, allein

12

die hatten etwas Magisches, hatten eine magische Kraft in sich; das war nicht eigentliches Segnen. Dieses Segnen ist etwas, was im Grunde erst durch das Christentum eingezogen ist; und dieses Segnen hängt zusam­men mit dem Substantiv der Segen. Das ist eine in alten Zeiten unter dem Einfluß des Christentums hereingenommene Wortbildung. Und diese Wortbildung ist signum = das Zeichen, so daß also mit dem Christentum das Wort signum eingezogen ist und daraus der Segen und auch das Segnen geworden ist. Nun bitte ich Sie zu beachten, wel­che sprachbildende Kraft dazumal noch der Sprachgenius gehabt hat! Wir würden heute nicht mehr imstande sein, ein Fremdwort so inner­lich umzubilden und umzubiegen, daß aus signum Segen wird. Wir würden das Fremdwort vielmehr als Fremdwort behalten, weil nicht mehr aus den Tiefen heraufdringt die aus dem Inneren heraus schöp­fende, sprachumbildende Kraft. Bei vielen Wörtern, die man heute schon als ganz gut deutsch empfindet, muß man sich klar sein, daß sie nichts anderes sind als Eindringlinge, die mit dem Christentum gekom­men sind. Nehmen wir das Wort predigen. Predigen ist nichts anderes als praedicare. Man hatte noch die Möglichkeit, das praedicare inner­lich umzubilden. Predigen ist gar kein deutsches Wort, sondern nur die Umbildung des Wortes praedicare, was ja auch predigen bedeutet; aber wir haben ein eigentlich deutsches Wort für diese christliche Tätigkeit des Predigens nicht. So ist es notwendig, daß, wenn wir die eigentliche sprachbildende Kraft der deutschen Sprache kennenlernen wollen, wir erst unsere Sprache durch ein Sieb treiben müssen. Wir müssen gewis­sermaßen alles das absondern, was auf dem Umwege durch die Kultur­strömungen, die in unsere mitteleuropäische Kultur sich ergossen ha­ben, in die Sprache gekommen ist. Bei manchen Wörtern merken Sie es eigentlich wirklich nicht mehr. Sie sprechen vom Weihnachtsfest, empfinden das Fest. Weihnacht ist ein urdeutsches Wort, aber Fest ist ein romanisches, ein lateinisches Wort, welches in alter Zeit zu einem deut­schen geworden ist. Fest, das führt in die Zeit zurück, wo auf der einen Seite, eben mit dem Eindringen des Christentums, wirklich Fremdestes eingedrungen ist, wo aber zu gleicher Zeit dieses so umgebildet worden ist, daß wir heute gar nicht mehr die Empfindung haben, daß es ein Fremdwort sei. Wer denkt heute in aller deutschen Welt daran, daß

13

das Wort verdammen ein lateinisches Wort ist, das zu einem deutschen geworden ist von damnare. Also wir müssen sehr sieben, wenn wir auf dasjenige kommen wollen, was eigentlich nun wirklich deutsche Spra­che ist; denn vieles ist eben mit dem Christentum eingetreten; vieles ist wiederum eingetreten dadurch, daß aus dem Christentum sich das Schulwesen herausgebildet hat. Den Lehrstoff in diesem Schulwesen nahm man so auf, wie man ihn im Süden, in der griechisch-lateinischen Kultur hatte. Und man fand keine Wörter vor für dasjenige, was man mitteilen sollte. Man mußte mit den Begriffen zu gleicher Zeit die Wörter bringen. Das geschah zuerst in den Lateinschulen, verpflanzte sich aber hinunter auch in die niederen Schulen; und so haben wir das­jenige, was heute die Grundlage für unsere Bildung macht, die Schule selbst, als ein Fremdwort. Denn Schule ist auch kein deutsches Wort, so wenig wie Scholastik ein deutsches Wort ist. Schola, althochdeutsch scola> die Schule, ist also ein fremdes Wort. Und Klasse ist erst recht ein fremdes Wort. Ja, man braucht nur hinzuschauen, wohin man will:

Tafel ist ein fremdes Wort - tabula; schreiben ist ein fremdes Wort -scribere. Also gerade alles das, was in die Schule eingedrungen ist, ist eigentlich damit, daß wir den Schulstoff vom Süden her erhalten ha­ben, der romanisch ist, in unsere Sprache von außen hereingedrungen.

Damit haben wir gewissermaßen die eine Schicht dessen, was wir absieben müssen aus dem Deutschen, wenn wir den eigentlichen Cha­rakter des deutschen Sprachwesens studieren wollen. Da müssen wir fast alle ausgesprochen fremden Wörter herausgesiebt haben. Denn die drücken nicht das aus, was aus der deutschen Volksseele kommt, son­dern die sind hineinergossen in das Wesen der deutschen Volksseele; sie bilden gewissermaßen eine Art Firnis auf dem deutschen Wesen. Wir müssen das suchen, was unter diesem Firnis ist. Suchen wir zum Bei­spiel beim Schulwesen nach demjenigen, was unter dem Firnis ist, so bekommen wir verhältnismäßig wenig, aber sehr Charakteristisches. Zum Beispiel ein urdeutsches Wort ist das Wort Lehrer; ein urdeut­sches Wort ist auch das Wort Buchstabe, wovon dann Buch kommt. Es ist von den hingeworfenen Stäben, welche die Worte gebildet haben, gekommen durch die alte Sitte, durch hingeworfene Buchenstäbe die Buchstaben auszudrücken, woraus dann das Zusammenlesen, also das

14

Lesen gekommen ist, und der Leser, der zum Lehrer geworden ist. Das sind urdeutsche Bildungen. Aber Sie sehen, die tragen einen ganz an­deren Charakter, die führen uns überall zurück auch auf das Seelen-leben, das in Mitteleuropa geführt worden ist. So stießen zusammen das alte heidnische Wesen und das christliche Wesen, und mit diesen beiden Wesen stießen eben auch die zwei Sprachelemente, das südliche und das mehr nordische, durchaus zusammen. Sie können sich vor­stellen, welche starke umbildende Seelenkraft im 1. Jahrtausend nach dem Mysterium von Golgatha in der deutschen Sprache gewesen sein muß, daß sie so stark, wie sie das getan hat, das Christentum aufge­nommen hat, und daß sie zu gleicher Zeit mit dem Christentum die Wörter aufnehmen konnte, die die wesentlichsten Geheimnisse des Christentums ausdrückten.

Nun haben wir aber damit nur eine Schicht gegeben. Wir kommen in sehr frühe Zeiten zurück, in die Zeiten, die noch mit der Völker­wanderungszeit etwas zusammenhängen, wenn wir diese eine Schicht des in das Deutsche eindringenden romanischen Sprachelementes auf­suchen. Aber auch später hat das romanische Wesen einen großen Ein­fluß auf das Deutsche ausgeübt. Und so sehen wir, wie durch die ver­schiedensten Ereignisse eine zweite Schicht mehr vom Westen, vom romanischen Spracheinfluß herüberkommt. Im 12. Jahrhundert be­ginnt es und dauert bis ins 18. Jahrhundert hinein, daß fortwährend französische Wörter aufgenommen werden, französische Wörter für Dinge, für die man zwar Begriff und Empfindung hat, aber durch die man gewisse Begriffe und Empfindungen modifiziert. Ich habe mir eine Anzahl von diesen Wörtern notiert; meine Notizen machen aber auf Vollständigkeit keinen Anspruch, weil sie gewissermaßen, da ja die ganzen Vorträge improvisiert sind, aus dem Gedächtnis hingeschrie­ben sind. Ich habe versucht, gerade urdeutsch scheinende Worte zu nehmen. Nehmen Sie zum Beispiel das Wort fein. Fein ist ein Wort, das Sie vor dem 12. Jahrhundert nicht finden. Es ist über fin aus dem Französischen herübergekommen. Sie sehen daraus, wie im 13.Jahr-hundert die sprachbildende Kraft noch so groß gewesen ist, daß ein Wort umgebildet werden konnte so stark, daß man es heute als durch­aus deutsches Wort empfindet. Selbst ein solches Wort wie Kumpan,

15

das sehr populär geworden ist, es ist nur die Umbildung von compag­non; und ein Wort, das uns heute sehr häufig begegnet, Partei, gehört zu denjenigen Worten, die dazumal eingewandert sind. Tanz ist dazu­mal ins Deutsche hereingekommen. Das sind alles Wörter, die erst seit dem 12. Jahrhundert im Deutschen sind und die bei dieser zweiten Inva­sion, bei der, die ich speziell die französische nennen möchte, herein­gekommen sind: Schach, matt, Karte, As, Treff, kaputt - alles Wörter, die dazumal in unsere Sprache eingedrungen sind. Etwas sehr Merk­würdiges ist dieses, daß wir unzählige, wenigstens sehr, sehr viele sol­cher Wörter haben, die vom 12.Jahrhundert an durch das 13., 14., 15., 16. Jahrhundert von Frankreich her, vom Westen her, in das Deutsche eingedrungen sind. Es sind durchaus Wörter, welche viel dazu bei­trugen, daß innerhalb des Sprachlichen ein leichtes Element, ein legeres Element, das früher viel schwerere des deutschen Sprechens durch­drang. Die Sprache, die vorher in deutschen Gegenden gesprochen worden ist, hatte etwas viel Volleres; und Sie werden sehen, wie man mit ihr solche Dinge nicht leicht hätte ausdrücken können. Man hätte leicht ausdrücken können: Du bist ein kühner Held. Das ließ sich in der alten deutschen Sprache leicht ausdrücken. Nicht aber: Du bist ein feiner Kerl -, das ließ sich in derselben Nuance nicht ausdrücken wie heute; dazu braucht man eben das Wort fein. Ebensowenig wären andere Dinge möglich geworden, wenn nicht diese Invasion durch das Französische gekommen ware.

Merkwürdig wenig ist gerade in die nördlicheren Gegenden von Italien her gekommen. Zur Zeit der Renaissance manches, was Bezug hat auf Musikalisches, aber sonst eigentlich nichts. Dagegen kommt auf dem Umwege über Süddeutschland und Österreich später eine dritte Art von Invasion - wenn auch nicht so stark - von Worten wie bizarr. Damals ist sogar das Wort lila erst gekommen; das hat es früher nicht gegeben. Diese Worte kamen zu gleicher Zeit mit dem Worte Neger und dem Worte Tomate. Das ist alles aus Spanien bezogen. Damit aber haben wir zu gleicher Zeit eine Phase des Eindringens fremder Sprach-elemente, bei der man schon sehen kann: Der Sprachgenius ist nicht mehr so biegsam. Diese Wörter sehen ihren ursprünglichen Wörtern viel ähnlicher. Und am ungünstigsten ist die Sache später geworden,

16

als die Deutschen dazu gekommen sind, das Englische eindringen zu lassen, eigentlich erst im späten 18. Jahrhundert und dann im 19. Jahr­hundert. Da sind vorzugsweise die Wörter für das äußere Leben einge­drungen; aber sie sind fast so geblieben, wie sie im Englischen sind. Da hatte schon der deutsche Sprachgenius die Möglichkeit des Umbildens, des innerlichen Aufnehmens verloren.

So habe ich versucht, Sie aufmerksam zu machen, wie, wenn man in alte Zeiten zurückgeht, die Fähigkeit des Aufnehmens, des Um­bildens gerade beim germanisch-deutschen Elemente außerordentlich stark vorhanden ist. Nehmen Sie - ich will Ihnen dies noch kräftig erhärten - zum Beispiel ein so deutsches Wort, daß man eigentlich, auch wenn man bewandert ist in dem Empfinden der Dialekte, gar nicht zweifeln kann an der Echtheit des betreffenden Wortes: Sie kennen vielleicht das Wort Riegelwand für Fachwerkwand. Riegel -urdeutsch wird es auf die Zunge genommen und ausgesprochen. Und dennoch, dieses Wort ist in dem deutschen Sprachgebiet nicht länger als seit der Zeit, seit welcher italienisch-lateinisch gebildete Architek­ten mit solchem Material gebaut haben, das dann später Veranlassung gegeben hat, Riegelwände auszubilden. In sehr alten Zeiten wurde in anderer Weise gebaut, und diese Architekten hatten für die Art ihres Arbeitens das Wort regula, die Regel, eingeführt; und in dieser Zeit war der sprachbildende Geist noch so stark, das Wort regula in das Wort Riegel umzubilden. Wer aber weiß denn heute, daß dieses ur­deutsch scheinende Wort Riegel nichts anderes ist als Regel, regula! Wir wären heute nicht mehr imstande, solche Umbildungen zu machen. Wir halten auch Keller, den Keller unten, für ein urdeutsches Wort, und doch ist es nichts anderes als die Umbildung von cellarium. Ich will Ihnen noch ein ganz urdeutsch aussehendes Wort anführen, damit Sie sehen, wie brenzlig es hätte werden können, wenn man begonnen hätte, nach gewissen Tendenzen, wie sie vor einiger Zeit vorhanden waren, alle Fremdwörter auszumerzen. Hätte man das getan, Riegel wäre gefallen, Keller wäre gefallen; aber wissen Sie, was auch hätte fallen müssen? Das Wort Schuster hätte fallen müssen! Schuster, dieses Wort ist nämlich in die deutsche Sprache dadurch gekommen, daß Leute aus dem Süden gekommen sind, die die Deutschen gelehrt haben,

17

die Fußbekleidung anstatt wie früher bloß zusammenzubinden, nun zu nähen. Und mit dem Nähen der Fußbekleidung hängt das Wort sutor zusammen; dieses Wort umgebildet, ist das heutige deutsche Wort Schuster geworden. Also durchaus ein fremdes Wort ist das heutige Wort Schuster.

Sie sehen daraus, wie wir eigentlich stark sieben müssen, wenn wir zu ursprünglich deutschen Wörtern kommen wollen. Wir dürfen nicht einfach dasjenige nehmen, was heute an der Oberfläche der Sprache schwimmt, denn das folgt ganz anderen Gesetzen. Wenn wir zurück­gehen wollen auf das, was aus dem Sprachgenius heraus sprach-schöpferisch war, dann müssen wir eben zuerst sieben. In einer merk­würdigen Weise geht das sprachbildende Element vor. Und man sieht das am besten, wenn man darauf achtet, wie in die Sprache herein noch Dinge geführt werden können, ich möchte sagen, durch eine ge­wisse Tyrannis von unten Dinge hineingeführt werden können, auch in einer Zeit, wo der sprachbildende Genius nicht mehr seine volle Tragkraft hat. Da ist zum Beispiel vor verhältnismäßig noch gar nicht langer Zeit folgendes in Europa geschehen: Es gibt in der Nähe von Raab einen Ort, der heißt Kocs. Und - ich glaube, es war im 16. Jahr­hundert - da ist ein erfinderischer Mensch aus diesem kleinen Orte bei Raab darauf gekommen, handliche Karren zu fertigen, mit denen sich leicht fahren läßt; diese haben sich ein bißchen ausgebreitet und haben den Ort Kocs populär gemacht. So wie die «Frankfurter Würste» be­kannt sind, wie man eben gewisse Würste «Frankfurter Würste» nennt, so hat man solche Karren Kocsi genannt. Und sehen Sie, das hat eine solche Tragkraft gehabt, daß das Wort, das daraus entstanden ist, das Wort Kutsche, sogar bis nach Frankreich und zu den stolzen Eng­ländern gegangen ist! Und doch ist dieses Wort noch gar nicht alt, son­dern hat sich in verhältnismäßig sehr junger Zeit mit einer gewissen tyrannischen Gewalt von dem Karrenfahrer in Kocs her ausgebreitet.

Also seien wir uns darüber klar: Wenn wir eine fertige Sprache vor uns haben, dann müssen wir gerade an der Sprache, um zu dem inner­lichen Kern vorzudringen, sehr viel Außenwerk wegnehmen. Dann aber müssen wir folgendes sagen, wenn wir zum Kern vordringen:

dieser Kern zeigt uns allerdings, daß er mit innerlicher sprachbildender

18

Kraft nur entstehen konnte in einer Zeit, in der die Gedanken noch viel tiefer saßen, als sie zum Beispiel heute innerhalb der deutschen Kultur sitzen. Die Gedanken müssen dazu noch viel näher dem ganzen Wesen des Menschen stehen. Wir fühlen heute nicht mehr die Kraft, die wir im Gedanken fühlen, auch noch im Worte drinnen. Wir fühlen sie manchmal, wenn wir zurückgehen zu den Dialekten, die wiederum um Stufen tiefer stehen. Wir sagen heute in der gebildeten Umgangs­sprache Blitz, um etwas Kurzes auszudrücken. In gewissen süddeut­schen Dialekten sagt man noch Himlizzer. Wenn man das sagt, dann haben Sie die ganze Blitzform darinnen! Da ist noch Anschauung des in der Natur Geformten drinnen. Kurz, man kommt in den Dialekten noch zurück auf Wortformen, in denen man in der Wortform dasjenige nachfühlt, was draußen in der Natur vor sich geht. So ist es aber bei den Kernen der Sprachen durchaus der Fall. Da steht das begriffliche, das ideelle Moment viel näher noch dem lautlichen Element. Und ge­rade am Deutschen kann man an der Sprachgeschichte verfolgen, wie in älteren Zeiten das Hineinsenken des Sinnes in den Laut noch gang und gäbe war, und wie dann die Sache abstrakt geworden ist. Solchen Worten wie Tag, das ein urdeutsches Wort ist, fühlt derjenige, der T und A empfinden kann - Sie können es insbesondere aus der Euryth­mie fühlen -, noch an, was ich nennen möchte: das Hineindringen des Sinnes in den Laut. Später traten dann Wörter auf, Ideen, deren abstrak­ter Sinn in das Wort hineingenommen wurde. Sehen wir den Eigen­namen Leberecht an. Man nennt ein Kind Leberecht, um ihm als Ge­leite mitzugeben, daß es recht leben solle, daß es nicht abirren solle. Oder Traugott. Als solche Wörter gebildet wurden, war noch ein ge­wisses sprachbildendes Element da, aber abstrakt, nicht ursprünglich.

Das wollte ich Ihnen heute als Einleitung sagen, damit wir dann zu Konkreterem fortschreiten können.

19

ZWEITER VORTRAG Stuttgart, 28. Dezember 1919

Auch heute möchte ich wiederum ein paar Worte vorausschicken, wie ich das schon vor dem ersten Vortrag getan habe. Ich bitte Sie durch­aus, an diese paar Stunden, die ich dieser Angelegenheit hier widmen kann, nicht zu große Hoffnungen zu knüpfen; zunächst nicht inhalt­lich. Es wird ja auf der anderen Seite bedeutungsvoll sein, eine Anre­gung in dieser Sache zu geben. Aber bei der improvisierten Art, wie das hier zustande gekommen ist, kann es sich bei dem, was hier über die Sprachentwickelung gesagt werden soll, wirklich auch um nichts anderes handeln als um einige improvisierte Dinge. Und wir werden vielleicht nur aus der Art und Weise, die ich in den Besprechungen einhalten werde, eine Richtschnur empfangen. Ich werde mich an nichts Gebräuchliches halten, sondern versuchen, Sie auf mancherlei hinzu­weisen, das wichtig werden wird für eine organische Betrachtung des sprachlichen Lebens.

Im ersten Vortrag habe ich darauf hingewiesen, wie gerade unsere deutsche Sprache eine Entwickelung dadurch durchgemacht hat, daß ihr Wortbestand gewissermaßen Invasionen erfahren hat. Wir haben auf eine solche bedeutungsvolle große Invasion verweisen können: auf diejenige, die mit dem Einströmen des Christentums in die nordischen Kulturen gekommen ist mit alldem, was sich an dieses Einströmen des Christentums angeschlossen hat. Das Christentum hat ja nicht bloß eben seinen Inhalt gebracht, sondern diesen Inhalt in Wortbildern ge­bracht. Und so wenig auch, nur äußerlich genommen, in den Volks-religionen der nord- und mitteleuropäischen Bevölkerung etwas war von dem, was das Christentum brachte, ebensowenig war die Möglich­keit da, mit dem Wortbestand der Leute Nord- und Mitteleuropas das Christentum aufzufassen. Daher wurden von seinen Trägern mit dem Christentum zugleich die christlichen Vorstellungen und christlichen Empfindungen und alles das, was die Wortkleider sind, gebracht. Wir haben ja eine Summe von solchen Dingen angeführt, die gewissermaßen auf den Flügeln des Christentums sprachlich nach Norden getragen

20

worden sind. Dann aber ist auch alles das, was die Schule betrifft, mit einer von Süden nach Norden gehenden Strömung gekommen. Wörter, die sich auf Schulmäßiges beziehen, wie Schule und Tafel und so wei­ter - außer etwa Lesen oder Buchstabe oder Lehrer -, sind vom Süden heraufgekommen, sind eigentlich romanisch-lateinischen Ursprunges und sind so dem deutschen Sprachorganismus einverleibt worden, daß heute der Mensch nicht mehr bewußt daran denkt, daß er mit solchen Dingen im Grunde genommen Fremdwörter im deutschen Sprach-Organismus hat. Ich habe dann darauf hinweisen können, wie später vom Westen herüber, vom 12. Jahrhundert an wiederum eine neue In­vasion von vielem Sprachlichen gekommen ist. Und dann wies ich Sie hin auf eine spanische Welle und zuletzt auf das, was eigentlich erst im 19. Jahrhundert gekommen ist: auf alles das, was von England her eingewandert ist.

An den Beispielen, die ich Ihnen gegeben habe - und diese Dinge sollen später genauere Ausgestaltungen erfahren -, können Sie vor­läufig ersehen, daß in jenen alten Zeiten, in denen zunächst das Chri­stentum und mit ihm manches andere seinen Einzug gehalten hat, der Sprachgenius noch die Möglichkeit gehabt hat, innerlich nach dem Volksempfinden dasjenige in sich aufzunehmen und umzugestalten, was da gekommen ist. Es ist zwar nicht an einem spezifischen, dem Christentum angehörigen Worte auf das Eigentümliche dieser Tat­sache hingewiesen worden, sondern auf die Verwandtschaft des, wie man meint, urdeutschen Wortes Schuster mit sutor. Es ist ein und das­selbe Wort. Es ist einfach noch so viel sprachbildende Kraft im Genius des deutschen Volkstums enthalten gewesen, daß man ein Wort so um­gestalten konnte. Sutor gehört zu der ältesten Invasion. Je weiter man von dieser ältesten Invasion zu der nächsten geht, die sich mehr auf das Schulwesen bezieht, desto mehr wird man schon finden, daß der Wortklang, wie er im Deutschen ist, ähnlich ist dem Lateinischen. Und so geht es weiter. Mit den später eintretenden Sprachströmungen zeigt es sich, daß der eigene deutsche Sprachgeist immer unfähiger ist, das­jenige, was da auftritt, umzubilden. Das wollen wir festhalten. Ob im Laufe der Zeit auch Five o'clock tea umgewandelt wird, also ob der deutsche Sprachgenius in verhältnismäßig langer Zeit so etwas wie eine

21

umbildende Kraft zu entwickeln imstande ist, wie er es in kürzerer Zeit früher entwickelt hat, das muß abgewartet werden, und das ist für unser Ziel nicht bedeutend.

Wir wollen uns nämlich zuletzt die Frage vorlegen, was es für das ganze Volksleben für eine Bedeutung hat, daß die innere sprachbil­dende Kraft, wenigstens zeitweilig, abnimmt, also für den Augenblick heute nicht so vorhanden ist wie früher. Diese sprachbildende Kraft ist heute noch in um so stärkerem Maße vorhanden, je mehr man in die Dialekte hinuntersteigt. So zum Beispiel kann man nach dem Ursprung eines höchst eigentümlichen Wortes fragen, das im österreichischen Dialekt sich findet: pakschierli, oder bakschierli. Die Österreicher wer­den es wohl kennen. Man kann unmittelbar empfinden, was pakschierli ist: ein kleines Mädchen, das, wenn es fremden Leuten vorgeführt wird, ein bissel tänzelt, allerlei vormacht, was in der Sphäre des Artigen bleibt - das ist pakschierli. Oder sagen wir, ein kleines Marzipandingel­chen, das nicht gerade zum Lachen, aber zu jenem inneren Seelenzu­stand Veranlassung gibt, welcher charakterisiert werden kann als: man lacht noch nicht; würde der Eindruck nach derselben Richtung stärker werden, so würde man erst lachen müssen. Solch ein Marzipandingel­chen, das wäre pakschierli. Was ist das für ein Wort? Es hat keinen rech­ten Zusammenhang mit der übrigen Dialektsprache. Es ist nichts an­deres als das umgebildete possierlich. Diese sprachbildende Kraft kann man also in den Dialekten in gewisser Weise noch studieren; es ist auch ein gutes Mittel für das Eingehen auf die wirkende Volksseele, solche Dinge zu studieren. Und es würde ungeheuer viel dazu beitragen kön­nen, auch das Geistesleben zu verstehen, wenn man auf die Volksseele eingehen könnte. Dann würde man zurückkommen zu dem, worauf ich in meiner Schrift: «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» aufmerksam gemacht habe, und worüber sich solche Gei­ster, wie der Ihnen sattsam bekannte Professor Dessoir, lustig machten. Durch Geisteswissenschaft kann auch klar gefunden werden, was ich da ausgeführt habe: daß die Konsonantenbildung zusammenhängt mit einer Nachbildung dessen, was äußerlich anschaulich wird. Was in Konsonanten ausgedrückt wird, das entsteht ursprünglich dadurch, daß man als Mensch mit sich selbst die Erfahrung macht, die ähnlich dem

22

ist, was äußerlich geschieht. Populär ausgedrückt, könnte ich sagen:

Wenn man einen Pfahl eingräbt, so kann man das Eingraben dieses Pfahles dadurch empfinden, daß man einen Fuß aufstemmt. Das ist das Wahrnehmen eines eigenen Willensaktes. Diesen Willensakt fühlen wir heute nicht mehr in dem Sprachlaut st. Aber in früheren Zeiten der Sprachentwickelung fühlte man in den eigenen Willenstätigkeiten Nachahmungen desjenigen, was draußen geschah. Und so wurde das konsonantische Element die Nachahmung dessen, was draußen geschah, während das vokalische Element dasjenige ist, was das Innere zum Ausdruck bringt. A ist das Erstaunen, das Zurückziehen in gewisser Weise. Es ist das Verhältnis des Menschen zur Außenwelt, das in den Vokalen zum Ausdruck kommt. Man muß weit zurückgehen, wenn man bis zu diesen Dingen vordringen will; aber man kann bis zu ihnen vor­dringen, und dann kommt man dazu, einzusehen, daß diejenigen Theo­rien, die rein äußerlich auf Hypothesen beruhen, wie die sogenannte «Wau-Wau»- oder «Bim-Bam»-Theorie, ganz furchtbare Abirrungen sind. Sie sind Äußerlichkeiten, während das Verständnis des Menschen selber durchaus dazu führen kann, innerlich den Zusammenhang des Lautes mit dem, was seelisch-geistig zur Anschauung kommen will, ken­nenzulernen. Wir wollen das zunächst als eine Frage uns vorlegen, die wir im Laufe dieser Stunden beantworten wollen. Um in der richtigen Weise die verschiedenen Verkettungen der Sprachelemente in diesem Lichte zu betrachten, müssen wir an einzelnen Beispielen, die ich ver­suche, charakteristisch aus dem Sprachlichen herauszuholen, uns allmäh­lich zu demjenigen hinaufranken, was wir eigentlich verstehen wollen.

Ich möchte solche Beispiele heute wählen, welche Ihnen zeigen können, wie das Sprachliche allmählich aus dem Konkreten in das Ab­strakte vordringt. Auch da hilft uns, wenn wir wirklich den guten Willen haben, das Reale zu studieren, manchmal die Hinwendung zu dem Dialekt. Ich will nur ein kleines Beispiel da erwähnen. Der öster­reichische Bauer, wenn er des Morgens aufgestanden ist, so spricht er von dem Nachtschlaf, aber nicht so, wie wahrscheinlich Sie von dem Nachtschlaf sprechen. Sie verstehen im Grunde genommen etwas sehr Abstraktes darunter, denn Sie sind gebildete Kulturmenschen. Der österreichische Bauer ist ein Naturmensch: in allem, was rings ihn umgibt,

23

steckt ihm Geistiges und Seelisches, und er hatte ein starkes Be­wußtsein davon. Jetzt verglimmt es ja auch bei ihm, aber in den sieb­ziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es ja durch­aus noch vorhanden für jemanden, der es so beobachten wollte wie ich. Weil der Bauer überall in allen Dingen drinnen noch die Elemen­tarkräfte sieht, so drückt er sich niemals in eigentlichen Abstraktionen aus, sondern immer in concreto. Der Bauer sagt: Ich wische mir den Nachtschlaf aus den Augen. - Was sich im Auge während der Nacht absondert und herausgewaschen werden kann, das ist ihm der sicht­barliche Ausdruck des Schlafes, das nennt er den Nachtschlaf. Das ist das Geheimnis des Sprachverständnisses, das vor kurzem noch leben­dig wirkte: es hindert dieses dinghafte Verstehen durchaus nicht, daß damit Geistiges verbunden ist. Der österreichische Bauer denkt durch­aus an ein Elementarwesen, aber er drückt es durch die Tat aus, daß es ihm da diese Absonderung in die Augen getrieben hat. Er würde un­ter dem Wort niemals das Abstraktum verstehen, das der gebildete Kulturmensch darunter versteht. Dann fängt die Geschichte an, sich etwas zu abstrahieren: Wenn der Bauer ein klein wenig in die Schule gegangen ist, oder aber mit der Stadt in Berührung gekommen ist, dann wird gewissermaßen ein unsichtbar Konkretes von ihm angerufen. Er sagt noch immer: Ich wische mir den Nachtschlaf aus den Augen-, aber er macht mehr die Handbewegung, um anzudeuten, daß es für ihn etwas sehr äußerlich konkret Reales ist.

Nun handelt es sich darum, daß uns eine solche Beobachtung dazu führt, hinzuschauen, wie im Grunde genommen das abstrakt gespro­chene Sprachliche in immer Konkreteres zur ückweist. Nehmen Sie folgendes Beispiel. Bei uns ist das verschwunden, aber in skandinavi­schen Ländern finden Sie noch den Ausdruck barn für Kind. Wir haben den Ausdruck nicht mehr. Was hat der Ausdruck für eine Geschichte? Der Ausdruck führt uns zurück auf der einen Seite ins Gotische, wo wir ihn bei Ulfilas finden in seiner Bibelübersetzung. Er führt uns zu­rück zu dem Ausdruck bairan = tragen. Das wiederum ist verwandt sowohl mit dem Griechischen wie mit dem Lateinischen. Es ist so ver­wandt, daß man die Verwandtschaft sehr deutlich erkennt, wenn man jenes Gesetz der Lautverschiebung anwendet, das für die germanischen

24

Sprachen und ihre Verwandtschaft mit anderen Sprachen durch Jakob Grimm gefunden worden ist. Dieses Gesetz stellt fest: Was als b in der einen Sprache vorhanden ist, ist als f in der anderen vorhanden. Ich will nur das eine Beispiel herausheben. Dadurch kommen wir aber für den Ausdruck bairan im Griechischen auf phero und im Lateinischen auf fero, die beide auch die Bedeutung von tragen, bringen, mehr hin-tragen, haben. Das bairan ist nur eine Umbildung von fero, es wächst sich das Wort nach einer anderen Richtung aus. Nun ist noch althoch­deutsch heran vorhanden. Allmählich verschwindet dasjenige, was hier Verbalbildung ist; und wir haben im Deutschen nicht mehr eine rechte Möglichkeit, auf die ursprünglich gefühlte, empfundene Bedeutung zu-rückzudenken. Wir sehen auf das Wort barn = Kind hin; warum? Weil es getragen wird, bevor es geboren wird. Es ist das Getragene, das Kind. Man weist also auf seinen Ursprung hin; man nennt ein Kind das Ge­tragene - bairan = fero. Wir haben in der deutschen Sprache in dieser Zusammensetzung nur noch davon das Wort gebären. Aber wir haben etwas anderes; wir haben als Überrest von all dem jene Nachsilbe be­kommen, die wir in fruchtbar, kostbar und so weiter haben. Was heißt kostbar? Dasjenige, was die Kosten trägt. Was heißt fruchtbar? Das­jenige, was die Frucht trägt. Das wurde sehr anschaulich ausgedrückt, nicht in der Abstraktion, wie wir es heute haben, sondern es wurde an das konkrete Tragen gedacht. Besonders anschaulich kann Ihnen das sein, wenn Sie sagen: Etwas wird ruchbar, weil es einen Geruch zu Ihnen trägt. Der Geruch wird zu Ihnen getragen; dadurch wird irgend­eine Sache ruchbar. So würden wir in vielem die unmittelbare Anschau­lichkeit finden, die das Charakteristische ist des sprachbildenden Ge­nius in sehr alten Zeiten. Ich will Ihnen eine Zeile aus der Bibelüber­setzung des Ulfilas hinschreiben: jah witands Jìsus thôs mitônins izì qath. Das würde etwa sein: Und Jesus, ihre Gedanken wissend, sprach. Hier finden Sie das Wort mitônins = Gedanken. Das führt uns zurück auf das Wort mitôn, das ungefähr denken bedeutet. Im Althochdeut­schen hat es sich schon anders ausgewachsen; da heißt es mezzôn, und zu dem ist ein verwandtes Wort vorhanden, das Wort mezzan, und das heißt messen. Messen, das äußere Messen, das anschauliche Messen, ist einfach, innerlich gefühlt, denken geworden. Also eine äußerlich zu

25

verrichtende Tätigkeit hat die Grundlage abgegeben für das Wort denken. Ich denke, heißt eigentlich: Ich messe seelisch etwas. Das aber ist verwandt mit dem lateinischen meditor, das wir noch im Meditieren haben, im Griechischen medomai. Wenn wir in ältere Formen des Wir­kens des deutschen oder germanischen Sprachgenius zurückgehen, dann finden wir, wie das noch durchaus anschaulich vorhanden ist; aber wir müssen eben dieses wirklich mit innerem Verständnis vollführen.

Sie alle kennen das Wort Hagestolz, Sie wissen, was Hagestolz un­gefähr in der heutigen Sprache für eine Bedeutung hat. Aber interessant ist doch der Zusammenhang dieses Wortes mit dem, was dieses Wort früher eigentlich bedeutet hat. Es ist eigentlich nur durch einen Bedeu­tungswandel das geworden, was es heute ist; denn es führt auf ein gar nicht weit zurückliegendes Hagestalt zurück, und in diesem Hagestalt steckt das Wort stalt darinnen. Was ist stalt? Stalt ist einer, der irgend­wo hingestellt ist. In mittelalterlichen Verhältnissen erbten die älteren Söhne den Hof und die jüngeren Söhne den Hag. Und der jüngere Sohn, der deshalb auch weniger heiraten konnte als der ältere, der jüngere Sohn, der nur den Hag, ein umfriedetes Gelände, erbte, der war dahingestellt. Stalt ist der Besitzer. Der Hagbesitzer ist der Hage­stalt. Und das Volk hat nur, als das Bewußtsein verlorengegangen ist von diesem stalt, im Lautanklang sein stalt zu stolz gemacht, so daß das Wort stolz in diesem Zusammenhang gar nicht verglichen werden darf mit unserem Stolz, sondern es ist nur ein Lautanklang. Aber in Gestalten älterer Sprache, die noch geblieben sind, kann man das Be­wußtsein von diesem stalt = gestellt sein, noch finden. In einem der «Weihnachtspiele» hat einer der Wirte die Worte zu sprechen: 1 als ein Wirt von meiner G'stalt, hab in mei' Haus und Losament G'walt. Da meinen die Leute, es bedeute die gewöhnliche Gestalt. Nein, das ist nicht die Bedeutung des Wortes, sondern: ein Wirt von meinem Rang, ein Wirt, der an einen so angesehenen Platz gestellt ist, ein Wirt von meiner Ge­stelltheit. Mit dem Ruf: Hab in mei' Haus und Losament G'walt, ist ge­meint, daß er Gäste anzieht. Da sehen Sie noch das Bewußtsein von dem, was ursprünglich in Hagestalt drinnen ist. Und so können wir man­ches Außerordentliche und Feine im Sprachgenius verfolgen, wenn wir in dieser Weise seelisch das Werden des Lautlichen in Betracht ziehen.

26

Als sich die Jünger verwunderten über die Heilung, die der Chri­stus Jesus an dem Gichtbrüchigen vollzog, da gebraucht Ulfilas in sei­ner Bibelübersetzung das Wort, das zusammenhängt mit silda-leik = seltsam-leich. Wenn man den ganzen Zusammenhang bei Ulfilas in der Übersetzung nimmt, wo er dieses Wort gebraucht, so müßte man das, was sich da gestaltet, etwa das Seltsamgestaltete nennen. Das Leib­liche ist es, was die Verwunderung erregt. Es ist dies mehr objektiv aus­gedrückt: silda-leik. Wir müssen in dem Worte leik fühlen: die Gestalt, aber als ein Abbild. Sagte man Gestalt in dem früheren Sinne, so war dies das Gestelltsein. Das Gestelltsein wurde in früheren Zeiten in dem Wort Gestalt ausgedrückt. Die eigentliche Gestalt selber, wie sie einst empfunden wurde als Abbild von etwas anderem, wurde durch leik ausgedrückt. Wir haben dieses Wort noch in unserem Leichnam. Leich­nam, das Abbild desjenigen, was da war. Es ist sehr fein ausgedrückt, wenn man noch empfindet, was in dem Leich liegt, wie das Leich das Abbild des Menschen ist, nicht der Mensch selbst.

Nun aber möchte ich Ihnen noch weiteres anführen dafür, wie aus dem Anschaulichen heraus dasjenige entsteht, was im Gefühl, im Wie­dergeben des Anschaulichen eben sprachlich noch da ist. Wir lernen zum Beispiel aus dem Ulfilas, daß die Braut im Gotischen brûths ist. Und brûths, wie es uns in der Bibelübersetzung des Ulfilas auftritt, das ist urverwandt mit der Brut, mit Brüten, so daß, wenn geheiratet wird, einfach die Brut festgelegt wird durch die Braut. Die Braut ist das, was die Brut festlegt, wenn geheiratet wird. Ja, und der Bräutigam jetzt? Da kommt zu der Braut etwas hinzu. Dieses wäre gotisch guma, althoch­deutsch gomo, was durch Lautverschiebung eines Wortes entstanden ist, das im Lateinischen als homo auftritt. In gam von Bräutigam ist guma = gomo = homo, ist der Mann der Braut, der Mann, der seinerseits für die Begründung der Brut sorgt. Der Bräutigam ist also der Mann der Braut. Sie sehen daraus, daß wir gerade in den anspruchslosen Silben zuweilen suchen müssen, um das Sprachbildende des Sprachgenius wirklich zu verfolgen.

Nun, es ist eine merkwürdige Sache, daß bei Ulfilas für den Stum­men, den der Christus heilt, das Wort sa dumba = der Dumpfe auf­tritt. Und ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit erinnern, daß Goethe

27

noch davon spricht, wie er in seiner Jugend in einer gewissen Dumpf­heit gelebt hat. Dumpfheit - nicht die Möglichkeit haben, die Umge­bung vollständig zu durchschauen -, in Dumpfheit, in Nebligkeit le­ben; sie verhindert zum Beispiel zu sprechen, macht stumm. Aber es ist dieses Wort zu gleicher Zeit später zu dumm geworden, so daß die­ses dumm gar nichts anderes als nicht frei herumschauen können ist, im Dumpfen, im Nebligen sein. Es ist sehr merkwürdig, meine lieben Freunde, wie man gewisse Umformungen, Metamorphosen des Wort­lichen haben kann, und wie diese Umformungen, diese Metamorphosen zeigen, wie Unbewußtes und Bewußtes durcheinanderwirken in diesem merkwürdigen Wesen, das man Sprachgenius nennen kann, das sich durch die Gesamtheit eines Volkes oder Stammes ausdrückt. Sie haben zum Beispiel den nordischen Götternamen Fjörgyn. Dieser nordische Göttername erfährt eine eigentümliche Beleuchtung, wenn wir in der Erzählung, da wo gesagt wird, daß der Christus mit seinen Jüngern auf den Berg ging, bei Ulfilas das Wort fairguni als gotisch für Berg finden. Wir finden dieses Wort, etwas verschoben in seiner Bedeutung, noch im althochdeutschen forha, das eigentlich Föhre, auch Föhren­berg bedeutet. Die Gottheit Fiörgyn ist diejenige, die sich als Elemen­targottheit auf den Föhrenbergen aufhält. Das aber ist urverwandt -und man kann es noch nachfühlen in fairguni - mit dem lateinischen quercus - Eiche -, womit sie ebenfalls den Baum bezeichnet haben.

Nun möchte ich Sie darauf hinführen, wie in älteren Zeiten der Sprachbildung ein gewisser unterbewußter Zusammenhang herrscht zwischen dem Lautlichen und dem Sinn. Heute haben wir keine große Möglichkeit, mit unserem abstrakten Denken hinunterzugreifen auf das Lautliche. Wir fühlen das Lautliche gar nicht mehr; und Menschen, die viele Sprachen kennen, werden geradezu böse, wenn man ihnen zumu­tet, daß sie auf das Lautliche Rücksicht nehmen sollen. Die verschie­densten Worte haben natürlich die verschiedensten Übergänge, und es ist nur ein künstlicher Zusammenhang, den die lexikographische Über­setzung bietet; weil zuerst der Sprachgenius verfolgt werden muß, der eigentlich etwas anderes meint, als was unmittelbar wiedergegeben wer­den kann. Wir sagen im Deutschen Kopf = tite, testa im Romanischen. Warum sagen wir im Deutschen Kopf? Aus dem einfachen Grunde,

28

weil wir im Deutschen einen plastischen Genius haben, weil wir das Runde bezeichnen wollen. Denn Kopf hängt mit kugelig zusammen, und wir sprechen im Grunde von demselben sprachbildenden Element her, wenn wir vom Kohlkopf sprechen und vom Menschenkopf. Kopf bezeichnet das Rundliche. Testa hängt aber zusammen mit der inneren Wesenheit des Menschen, mit dem Testieren, Bezeugen, Feststellen. So muß man Rücksicht nehmen, daß aus den verschiedenen Gesichts­punkten her die Dinge bezeichnet werden. Das fühlt man noch nach -wenn man auch im einzelnen daneben sprechen kann -, wenn man versucht, allmählich zurückzukommen zu älteren Gestalten, die sich innerhalb der Wortbildung vollziehen. Und man würde zuletzt zu­rückkommen zu jenem Stadium des sprachlichen Genius, wo er in der Lage ist, im Laute selber den Geist zu empfinden. Wo wird noch emp­funden das Zusammengehören von meinen und Gemeinde? Man kann es heute schwer empfinden. Wenn man die Gemeinde etwa im Althoch­deutschen aufsucht, gimeinida, und wenn man dann dazu eine weiter­gehende Metamorphose, mean im Englischen, nimmt, das damit ver­wandt ist, so kommt man auf ein solches Beispiel, bei dem in meinen gefühlt werden kann, wie es verwandt ist mit dem, was im Zusammen-klang von mehreren gemeint wird und dadurch Kraft erhält, daß es mehrere sind. Und dieses Krafterhalten wird durch eine solche Vor-silbe gi ausgedrückt.

So muß man zurückgehen zu dem, was als das gefühlte Element im Sprachbilden drinnen ist. Wenn wir heute sagen taufen, das ein uraltes germanisches Wort ist, so fühlen wir nicht mehr recht, was das eigent­lich für eine Bedeutung hat. Anschaulich wird es, wenn wir ins Alt-und Mittelhochdeutsche zurückgehen und da etwa tou fan, toufen, töu­fen finden, und wenn wir dann finden, daß dieses toufan ebenso ver­wandt ist mit diups, wie es bei Ulfila noch in daup jan im Zusammen­hang mit daupjands = der Täufer, vorhanden ist. Dann aber brauchen wir nur noch im Althochdeutschen das urverwandte Wort tiof aufzu­suchen, was in unserer heutigen Sprache tief bedeutet, zum Beispiel ver­tiefen, tiefen - und wir haben damit verwandt taufen = hineintiefen, tauchen in das Wasser. Es ist einfach ein Hineintiefen in das Wasser.

Diese Dinge sollen uns nur dazu anleiten, in den sprachbildenden

29

Genius hineinzuschauen. Von besonderer Wichtigkeit ist es, daß man die Bedeutungswandlungen verfolgt. Ein interessanter Bedeutungs­wandel ist zum Beispiel der folgende: gotisch hlaifs, althochdeutsch leiba, mittelhochdeutsch leip, heißt in der alten germanischen Sprache das Brot. Sehen Sie, Brot ist nicht geblieben als Bedeutung für hlaifs. Hlaifs ist Laib geworden, und es ist nur die Form geblieben, in der das Brot gegeben wird. Hat man früher hlaifs gesagt, so meinte man Brot; es hat sich gewandelt zur Form des Brotes. Man sieht diese Umwand­lung noch, wenn man zum Beispiel die Metamorphose verfolgt im Alt-englischen: hlaford, was noch älter heißt hlafward oder hlafweard = derjenige, der das Brot wartet. Der hlaford war derjenige, zu dem man sich zu wenden hatte, um Brot zu bekommen, der des Brotes wartete, der das Recht hatte, den Acker zu bestellen, Brot zu machen und wie­derum Brot abzugeben an diejenigen, die nicht freie Leute waren. Und durch allmähliche Umgestaltung - das h bedeutet ja nichts Besonderes -ist daraus das Wort Lord geworden. Lord ist der alte hlafward. Eben­so interessant ist das Gegenstück. Während aus hlaifs = Laib Brot wird, hat sich durch Metamorphose ein Wort gebildet, das im Alteng­lischen heißen würde: hlaefdige, wo das erste wiederum nichts an­deres ist als der Laib Brot; dige ist umgewandelt von einer Tätigkeit. Wenn man Teig knetet, so tut man das, was im Worte dige liegt: digan, teigen, Teig kneten. Und wenn man zurückgeht auf den, der diese Tä­tigkeit ausübte, so kommt man zu der Frau des Lords. Während der Lord der Brotwart war, war seine Frau die Brotteigerin, Brotkneterin, die Brotgeberin. Und daraus ist später das Wort lady geworden. Lord und Lady hängen also in geheimnisvoller Weise zusammen mit dem Brotlaib. Man erkennt an diesen beiden Wörtern noch das, was von dem Brotgeber, Brotbereiter und der Brotkneterin, der Brotteigerin der alten Zeiten kommt.

So muß man versuchen, wirklich den Unterschied aufzufassen zwi­schen der abstrakten Art, wie wir heute zur Sprache stehen, und zwi­schen der konkreten, die vorhanden war, als man im Laute noch fühlte, was zu gleicher Zeit der Geist war, das Seelische, das man ausdrücken wollte.

30

DRITTER VORTRAG Stuttgart, 29. Dezember 1919

Die Tatsachen des Lebens führen oftmals, äußerlich betrachtet, zu Widersprüchen; aber gerade wenn man solche Widersprüche dann richtig der Untersuchung unterwirft, kommt man auf die tieferen, wesenhaften Zusammenhänge. Einen solchen Widerspruch können Sie bei einigermaßen gründlichem Nachdenken konstatieren zwischen demjenigen, was ich Ihnen im ersten Vortrag hier auseinandergelegt und im zweiten rekapituliert habe, und demjenigen, was ich dann gestern an einzelnen Beispielen als einen inneren Zusammenhang euro­päischer Sprachen auseinandergesetzt habe. Stellen wir uns doch ein-mal die dadurch charakterisierten zwei Tatsachenreihen vor das Auge:

Wir haben auf der einen Seite darauf aufmerksam gemacht, daß wir im gegenwärtigen Bestand unserer Sprache viele Eindringlinge fin­den; daß wir fühlen, wie von Süden her mit dem Christentum in un­sere Gegenden zu dem ursprünglichen deutsch-germanischen Sprach-reichtum anderes hinzugekommen ist, was gewissermaßen mit den christlichen Vorstellungen und christlichen Empfindungen zugleich die christlichen Wörter gebracht hat; so daß jetzt diese christlichen Wör­ter in der charakterisierten Art innerhalb unseres Sprachwesens be­stehen. Dann habe ich noch von anderen Eindringlingen gesprochen, die immerhin auch eine Bedeutung haben, weil sie schon einmal zu dem Umfang unseres Sprachwesens gehören; von jenen Invasionen, die etwa im 12. Jahrhundert beginnen, die von westlichen romanischen Ländern ausgehen, und die auch noch in eine Zeit hineinfallen, in welcher der deutsche Sprachgenius umbildende Kraft hat. Da bildet er, was er vom Westen empfängt, in seiner Art noch um, bildet es dem Laut nach, bildet es auch der Bedeutung nach noch um. Ich sagte damals: Wenige ahnen heute, daß zum Beispiel das im Deutschen ge­brauchte Wort fein eigentlich französischen Ursprungs ist: fin; und daß es erst nach dem 12. Jahrhundert in unser Sprachwesen hereinge­kommen ist, vorher nicht da war. - Ich machte dann darauf aufmerk­sam, wie auch Spanisches schon in einer Zeit, in der nicht mehr die

31

umbildende Kraft des deutschen Sprachwesens vorhanden war, ein­drang; und wie ganz und gar nicht mehr diese umbildende Kraft da war, als im letzten Teil des 18.Jahrhunderts, insbesondere aber im 19. Jahrhundert Elemente des Englischen eindrangen in das deutsche Sprachwesen. Da sehen wir fortwährend, daß vom Lateinischen oder auch vom Griechischen, auf dem Umwege durch das Lateinische, oder wiederum von den westlichen romanischen Sprachen her Wörter auf­genommen wurden nach Mitteleuropa hinein. Das ist eine Tatsache, die uns dazu führen muß, zu sagen: Unser gegenwärtiger Sprachschatz besteht nur zum Teil aus Ursprünglichem und trägt dann eben später Aufgenommenes in sich. Nun aber habe ich Sie wiederum aufmerksam gemacht, wie zwischen einer ganzen Reihe von Sprachen engere Ver­wandtschaft besteht. Ich habe Sie hingewiesen auf manche gotische Formen und gezeigt, wie dann diese in die Formen unserer Sprache übergegangen sind; und wir haben hinweisen können an manchen Stellen, wie das betreffende Wort auch im Lateinischen oder Griechi­schen zu finden ist. Während wir also sagen müssen: Unsere Sprache hat Fremdes in sich aufgenommen -, müssen wir auf der anderen Seite sagen: Unsere Sprache ist urverwandt mit denjenigen Sprachen, aus denen sie in späterer Zeit wiederum etwas wie fremde Bestandteile auf­genommen hat.

Nun kann man sehr leicht nachweisen, wenn auch nicht in sehr um­fassendem Sinn, aber an charakteristischen Beispielen, daß über wei­tere Erdenterritorien hin eine Urverwandtschaft des Sprachlichen be­steht. Sie brauchen nur so etwas zu nehmen wie naus, das Sanskrit­wort für Schiff. Wenn Sie dieses Wort im Griechischen aufsuchen, dann haben Sie ebenfalls naus, wenn Sie dieses Wort im Lateinischen auf­suchen, so haben Sie navis. Suchen Sie dasselbe Wort auf im mehr kel­tisch gefärbten Gebiete, so haben Sie das Wort nau, suchen Sie das Wort auf im Altnordischen, in den altskandinavischen Sprachen, so haben Sie nor. Daß solche Worte dann für das Deutsche abgeworfen sind, hat ja geringere Bedeutung. Aber wir sehen, daß im weitesten Umfang eine Verwandtschaft besteht, eine Verwandtschaft, die wir für vieles nachweisen können, eben auf einem außerordentlich großen Gebiet über Europa und Asien hinüber. Nehmen Sie das altindische

32

Wort aritras, so finden wir das Wort wieder als eretmôn im Griechi­schen; wir finden dasselbe Wort wiederum mit gewissen Abwerfungen als remus im Lateinischen; wir finden in keltischen Gebieten rame, und wir finden im Althochdeutschen ruodar. Wir haben dieses Wort noch; es ist unser Ruder. Und so könnte man eine große Anzahl von Wörtern zusammenstellen, die in Umbildungen, in Metamorphosierungen über weite Gebiete der Sprachen vorhanden sind: etwa im Gotischen, den nordisch-skandinavischen Sprachen, den friesischen Sprachen, nieder­deutschen Sprachen, in der hochdeutschen Sprache, auch in baltischen Idiomen, im Litauischen, Lettischen, Preußischen. Auch kann man sol­che Verwandtschaften nachweisen in slawischen Sprachen; im Arme-nischen, im Iranischen, im Indischen, im Griechischen, im Lateinischen, im Keltischen. Über die Gebiete dieser Sprachen hin sehen wir, wie eine Urverwandtschaft des Sprachlichen besteht. So daß wir uns sehr leicht vorstellen können, daß gewissermaßen die Ursachen des Sprach­bildens über all diese Territorien hinüber in einer sehr alten Zeit ähn­liche waren, daß sie sich nur dann später differenziert haben.

Ich sagte: Diese beiden Tatsachenreihen widersprechen einander; aber gerade durch die Beobachtung solcher Widersprüche kann man in manche Dinge des Lebens wesenhaft tiefer eindringen. Denn wir werden gerade durch eine solche Erscheinungsreihe dazu geführt, uns zu sagen: Die Entwickelung, welche die Menschheit im Laufe der Ge­schichte durchmacht, vollzieht sich ganz und gar nicht, wie man sich oftmals vorstellt, recht kontinuierlich, sondern in einer Art von Wel­lenbewegung. Denn wie sollen Sie sich denn eigentlich diesen ganzen Vorgang, der durch diese zwei einander scheinbar widersprechenden Tatsachen ausgedrückt wird, anders vorstellen, als daß eine gewisse Verwandtschaft der Bevölkerungen über diese weiten Territorien be­steht; daß diese Völker sich eine gewisse Zeit hindurch so abgeschlos­sen halten, daß sie ihre differenzierten Sprachidiome ausbilden; daß es also eine Periode des Abschlusses der Völker gibt, und daß diese wechselt mit einer Periode, wo Einfluß eines Volkes auf das andere stattfindet. Das ist zwar die Sache etwas roh charakterisiert; aber nur dadurch, daß man auf eine solche auf- und absteigende Bewegung hin-blickt, können gewisse Tatsachen wirklich erklärt werden. Nun kann

33

man, wenn man nach den beiden Richtungen hin, wie ich Ihnen jetzt angegeben habe, die Entwickelung der Sprache betrachtet, tiefere Blicke hineintun in das Wesen der Volksentwickelung überhaupt. Man muß nur Rücksicht nehmen auf der einen Seite - und wir werden das nun anwenden auf die Entwickelung der deutschen Sprache - auf die Art, wie gewissermaßen unter Abschluß nach außen sich gewisse Ele­mente des Sprachlichen entwickeln, und wie wiederum Fremdbestand­teile aufgenommen werden und auch beitragen zu all dem Geistig-See­lischen, das durch die Sprache zum Ausdruck kommen kann. Wir kön­nen ja schon ahnen, daß diese beiden Elemente in ganz verschiedener Weise sich zum Geistes- und Seelenleben des betreffenden Volkes ver­halten müssen.

Wir können auf der einen Seite auf die außerordentlich bedeutungs­volle Tatsache hinsehen, daß eine Urverwandtschaft da ist, die uns ganz besonders entgegentritt, wenn wir sehen, daß außerordentlich wichtige Wörter verwandt sind, sagen wir für das Lateinische und für die älteren Formen der mitteleuropäischen Sprachen. Lateinisch verus:

wahr; althochdeutsch: wâr. Wenn Sie solche auffallenden Dinge neh­men wie: velle = wollen, oder das lateinische taceo = ich schweige, für das im Gotischen auftretende thahan, so müssen Sie sich sagen:

ähnlich Klingendes, also sprachlich Verwandtes hat in alter Zeit über weite Gebiete Europas - und man könnte es auch für Asien nachwei­sen - geherrscht.

Auf der anderen Seite ist es außerordentlich merkwürdig, daß die Bewohner Mitteleuropas, aus denen dann die heutigen Deutschen her­vorgegangen sind, doch auch verhältnismäßig früh Fremdsprachliches aufgenommen haben. Sogar noch früher, als ich es Ihnen bisher charak­terisiert habe. Es hat eine Zeit gegeben, wo Europa viel mehr vom kel­tischen Element erfüllt war als in den historischen Zeiten, von denen man gewöhnlich spricht. Die Kelten sind aber dann in westliche Ge­genden Europas gedrängt worden, und es zogen in Mitteleuropa ger­manische Völkerschaften ein, ganz gewiß von nördlichen Gegenden aus. Nun haben auch schon von den Kelten, die nun ihre westlichen Nachbarn waren, die Germanen ebenso fremde Wortbestandteile auf­genommen, wie sie sie später vom Süden aufgenommen haben, vom

34

Lateinischen. Das heißt, die Bewohner Mitteleuropas haben, nachdem sie mehr abgeschlossen sich entwickelt haben und die anderen sich für sich entwickelt haben, von den Randgebieten, die aber ursprünglich mit ihnen sprachlich verwandt waren, später fortwährend Fremd-sprachliches aufgenommen.

Wir haben gar manches Wort, das nicht mehr ganz der Eleganz an­gehört, sagen wir das Wort Schindmähre: das ist ein verschundenes Pferd. Dieses Schindmähre weist hin überhaupt auf ein altes Wort:

Mähre, für Pferd; wovon wir etwa noch das Wort Marstall haben. Die­ses Wort ist aber keltischen Ursprungs, findet sich unter den Kelten, nachdem diese bereits nach Westeuropa gedrängt worden sind. Und es ist wohl nicht eine Metamorphose vorhanden, die auf der einen Seite in Mitteleuropa wäre und dann im Westen, sondern dieses Wort müs­sen die Germanen einfach von den Kelten später übernommen haben. Und eine ganze Reihe von solchen Wörtern ist übernommen worden, allerdings auch solche, für die man die umbildende Kraft hat. Sie ha­ben zum Beispiel in dem Namen, der eigentlich nur teilweise ein Name ist, Vercingetorix, das Wort rix darinnen. Rix ist eine ursprünglich keltische Bildung, ist aufgenommen worden bei den Kelten, bedeutete bei ihnen den Herrscher, den Mächtigen, und ist zu unserem Worte reich geworden, mächtig sein durch Reichtum. Also auch da Umbil­dung nicht nur vom Lateinischen, sondern auch vom Keltischen in der Zeit, als der mitteleuropäische Sprachgenius noch innere umbil­dende Kraft hatte.

Würde man nun äußerlich die Entwickelung der Sprache genügend weit zurückverfolgen können - man kann es ja nicht -, so würde man zuletzt ankommen bei jener primitiven sprachbildenden Gewalt alter Zeiten, in denen aus einem solchen Verhältnis zum Konsonantischen und Vokalischen, wie ich es gestern charakterisiert habe, die Sprachen entstehen. Die Sprachen entstehen in einer primitiven Form. Was dann als Differenzierung in den Sprachen auftritt, rührt davon her, daß das, was ursprünglich eigentlich in der gleichen Weise aus der menschlichen Natur sich bilden will, in der verschiedensten Art, je nachdem zum Beispiel ein Stamm eine Gebirgsgegend oder eine ebene Gegend be­wohnt, zum Ausdruck kommt. Der Kehlkopf und seine benachbarten

35

Organe wollen sich anders äußern in einer Gebirgsgegend, anders in einer flachen Gegend und so weiter.

Nun tritt in der Fortbildung der Sprache eine eigentümliche Er­scheinung auf, die wir am Beispiel der indogermanischen Sprachen be­trachten wollen. Nehmen wir das Wort zwei, so haben wir im Latei­nischen duo. Wenn das in ältere Formen der Sprachen in Mitteleuropa geht, haben wir dafür das Wort two, und wenn wir zu uns selber heu­tigen Tages gehen, haben wir dafür das Wort zwei. Sie sehen in diesem Worte auf seinem Metamorphosengang das Folgende: Dieses duo weist uns hin auf eine älteste Stufe, die sich im Lateinischen erhalten hat; two ist eine spätere Stufe, und die neueste Stufe, die sich gebildet hat, ist zwei. Sehr kompliziert wäre es, auf die Vokale Rücksicht zu neh­men. Wir nehmen auf den Konsonanten hier Rücksicht und müssen uns sagen: Auf dem Metamorphosenwege, den dieses Wort gemacht hat, sehen wir, das d wird zum t und das t wird zum z, und zwar in

#Bild s. 35

dieser Reihenfolge d-t-z. Wir sehen also, daß auf der Wanderung des Wortes eine Umbildung des Lautes sich vollzieht. Dem deutschen z entspricht in anderen Sprachen die th-Stufe.

Das ist durchaus nicht etwas, was in künstlicher Weise ausspekuliert ist. Wollte man es in Einzelheiten beschreiben, so müßte man es natür­lich ausführen, aber dieses Schema ist etwas, das einem gesetzmäßigen Gange in der Metamorphose der Sprache entspricht. Nehmen Sie zum

36

Beispiel das griechische Wort thyra. Wenn Sie es ansehen als eine alte Stufe, die auf früherem Stadium stehengeblieben ist, so müßte die nächste Stufe eine solche sein, die das d hat. Diese Stufe finden Sie bei dem englischen door. Und die letzte umgewandelte Stufe müßte von dem d auf t kommen, dem Zeiger der Uhr nach. Wir haben das hochdeutsche Wort Tür. Und so können wir sagen: Wir können gewis­sermaßen eine älteste sprachgeologische Schicht konstatieren, in der die Wortmetamorphosen immer auf irgendeiner dieser Stufen stehen. Die nächste Metamorphose steht auf der nächsten Stufe. Und dann können wir eine dritte Stufe im Hochdeutschen konstatieren, die steht wiederum auf der nächsten Stufe.

Würde die Stufe, die ihren Ausdruck im Griechischen hat, ein t haben, so würde das Englische, das zurückgeblieben ist, ein th haben; das Hochdeutsche, das fortgeschritten wäre gegenüber dem Englischen, würde ein d haben.

Da, wo das Hochdeutsche ein dem englischen th entsprechendes z hat, würde die vorhergehende Stufe ein t haben müssen, die vorherge­hende griechisch-lateinische Stufe ein d. Das können wir als etwas, was existiert, nachweisen.

Also ein Wort, das zum Beispiel auf der zweiten Stufe, im Goti­schen, ein t hätte, das müßte in der nächsten Stufe ein z haben. Neh­men wir ein Wort, das hier gebraucht werden kann für das Verhältnis des Neuhochdeutschen zu der nächst tieferen Stufe im Gotischen, so haben wir Zimmer; im Gotischen, beziehungsweise in dem auf gleicher Stufe stehenden Altsächsischen, ist das Zimmer timbar. Vom z müssen wir auf das t zurückgehen; ich will Ihnen nur das Prinzip angeben, Sie können sich selber, wenn Sie ein Lexikon nehmen, diese Dinge zu­sammensuchen.

Geradeso nun wie diese Reihenfolge richtig ist, so können Sie noch außer manchem anderen wesenhaft Metamorphosischen in der Sprache dieses verfolgen: wenn Sie Worte vergleichen, die ein b haben, so wird dies in der nächsten Stufe zu einem p, dieses in der nächsten Stufe zu einem Pf, ph oder f und dieses wiederum zu einem b.

Ebenso wie dieses gibt es noch den Zusammenhang g-k-ch (h) und wiederum zurück zu g. Auch dafür gibt es entsprechende Beispiele. So

37

#Bild s. 37

daß wir folgendes sagen können: Das Griechisch-Lateinische hat das Sprachelement auf einer früheren Metamorphosenstufe erhalten. Das­jenige, was da gotisch geworden ist, ist aufgerückt zu einer späteren Stufe. Vieles von dem, was bis zu dieser Stufe aufgerückt ist, ist heute noch erhalten, zum Beispiel im Holländischen. Ein letzter Ruck, der erst eigentlich im 6. nachchristlichen Jahrhundert zustande gekommen ist, rückt noch um eine Stufe hinauf: es ist die hochdeutsche Stufe. So daß wir sagen können: Wir müßten einmal finden die erste Stufe, vielleicht sehr weit in Europa ausgedehnt, vielleicht nur bis 1500 vor Christi gehend. Dann finden wir alles das, was weite Gegenden beherrscht -mit Ausnahme der südlichen Gegenden, in denen die älteste Stufe ge­blieben ist -, die zweite Stufe. Und dann kristallisiert sich heraus im 6. nachchristlichen Jahrhundert die hochdeutsche Stufe. Das Englische, Holländische bleibt zurück auf der früheren Stufe, das Hochdeutsche kristallisiert sich heraus.

38

Nun bitte ich Sie, das Folgende zu beachten. Nur einmal gewisser­maßen kann das Verhältnis, das der Mensch eingeht zur Umwelt, indem er aus dem Konsonantischen heraus sich den Wortlaut bildet -also noch jetzt vollständig aus dem Sprachgefühl den Wortlaut bildet -, nur einmal kann das in vollständiger Anpassung an die Umgebung geschehen. Wenn einmal die weit zurückliegenden Vorfahren der mit­teleuropäischen Sprachen nach der ersten Stufe, sagen wir, auf der Stufe des z ihren Wortlaut für gewisse Worte gebildet haben, da haben sie empfunden: das Konsonantische muß angepaßt werden den äußeren Erscheinungen; da haben sie das z nach der Außenwelt gebildet. Die nächsten Stufen des Fortschrittes können nicht mehr nach der Außen­welt gebildet sein. Ist das Wort einmal da, werden die nächsten Stufen innerlich umgebildet, werden nicht mehr in Anpassung an die äußere Welt gebildet. Die Umbildung ist gewissermaßen eine selbständige Lei­stung des volksseelischen Elementes. Erst wird auf irgendeiner Stufe der Wortlaut ausgebildet im Einklang mit der Außenwelt, dann müs­sen die folgenden Stufen nur innerlich erlebt sein; da paßt man sich nicht wiederum an das Äußerliche an.

So kann man sagen: Die Stufe, die in dem Griechisch-Lateinischen stehengeblieben ist, hat in vieler Beziehung zum Ausdruck gebracht, was gefühlte Anpassung des Sprachbildungs-Elementes an die Umge­bung ist. Die nächste Stufe, die sich im Gotischen, Altgermanischen und so weiter ausgebildet hat, die ist über dieses unmittelbare Anpassen hinausgeschritten, hat eine seelische Umbildung durchgemacht. D'as gibt dieser Sprache eine weit seelischere Nuance. Mit dem Beschreiten der ersten Stufe der Umwandlung erhält das Sprachelement also eine seelische Nuance. So daß alles dasjenige, was in unser Sprachgefühl da­durch hineingekommen ist, daß wir diese zweite Stufe durchgemacht haben, unserer Sprache die Innerlichkeit gibt.

Dies hat sich langsam und allmählich herausgebildet seit dem Jahr 1500 vor Christi Geburt. Diese Art von Innerlichkeit, sie eignete ge­wissen alten Zeiten. Indem sie sich aber für spätere Zeiten erhielt, ging sie mehr in das Primitive über. So daß da, wo sie heute noch vorhan­den ist, im Holländischen und Englischen, sie mehr in ein primitives Erfühlen des Wortlautes übergegangen ist.

39

Nun hat das Hochdeutsche etwa im 6. nachchristlichen Jahrhundert die dritte Stufe erstiegen. Das ist aber ein noch weitergehendes Entfer­nen von der ursprünglichen Anpassung, das ist ein starker innerlicher Prozeß, durch den das Hochdeutsche aus der früheren Stufe sich her­ausgebildet hat. Während das Ersteigen der zweiten Stufe ein Seelisches bewirkt, entfernt man sich mit der dritten Stufe gar sehr vom Leben. Daher das eigentümliche, oftmals lebensfremde, abstrakte Element der hochdeutschen Sprache, dieses, was die hochdeutsche Sprache von sich aus der deutschen Seele aufdrückt als etwas, was viele andere Men­schen in Europa überhaupt nicht verstehen. Wo zum Beispiel das hochdeutsche Element in besonderem Maße verwendet worden ist, wie bei Goethe und Hegel, da kann man es nicht in das Englische oder in die romanischen Sprachen übersetzen. Das sind bloße Pseudoüber­setzungen. Man muß solche machen, weil es besser ist, wenn die Dinge nachgebildet werden, als wenn sie nicht nachgebildet werden. Was in solchen Worten, die im eminentesten Sinne erst dem Organismus des Hochdeutschen angehören, an sehr stark Durchgeistigtem, nicht bloß Durchseeltem liegt, das kann man nicht einfach in die anderen Spra­chen hinübernehmen. Denn die haben keinen Ausdruck dafür.

Es ist also das Ersteigen der zweiten Stufe ein Durchseelen der Sprache auf der einen Seite, aber auch ein Durchseelen der betreffen­den Volksinnerlichkeit durch die Sprache. Das Ersteigen der dritten Stufe, das man gerade am Hochdeutschen studieren kann, das ist mehr ein Sich-Entfernen vom Leben, so daß man durch seine Worte solche abstrakte Höhen ergreifen kann, wie sie zum Beispiel Hegel oder auch in gewissen Fällen Goethe und Schiller ergriffen haben. Das hängt gar sehr mit diesem Ersteigen der dritten Stufe durch das Hochdeutsche zusam­men. So sehen Sie an dem Beispiele der hochdeutschen Sprache, wie da­durch, daß gewissermaßen die Sprachbildung, die Sprachentwickelung, sich losreißt von der Anpassung an die Außenwelt, wie dadurch, daß sie ein innerlicher, selbständiger Prozeß wird, dasjenige menschlich-indi­viduelle Seelische fortschreitet, das sich in einer gewissen Weise unab­hängig von der Natur entwickelt.

So hat das mitteleuropäische Sprachelement Stadien durchgemacht, durch die es erst seelisch, dann geistig geworden ist, während es eine

40

Art instinktmäßigen animalischen Sich-Anpassens an die Außenwelt auf der ersten Stufe war. Durch andere Dinge haben sich dann solche Sprachen, wie das Griechische und Lateinische, entwickelt. Wenn man diese Sprachen den bloßen Wortformen nach nimmt, so muß man sa­gen: die Wortformen, die Lautformen, sind sehr stark angepaßt an die Umgebung. Aber die entsprechenden Völker, die diese Sprache gesprochen haben, die sind nicht dabei geblieben, diese primitive An­passung an die Umgebung beizubehalten. Ihre Sprachen sind durch allerlei fremde Einflüsse, die nun anders gewirkt haben als in Europa -aus Ägypten, aus Asien -, zum bloßen äußeren Kleid für eine ihnen überbrachte Kultur, zum großen Teil für eine Mysterienkultur ge­worden. Den Griechen und bis zu einem gewissen Grade den Römern sind die Mysterien Afrikas und Asiens überbracht worden, und man hat die Gewalt gehabt, in die Sprache der Griechen und Römer die Mysterien Asiens und Ägyptens zu kleiden. So sind diese Sprachen äußere Kleider geworden für einen ihnen gleichsam eingeträufelten geistigen Inhalt. Das war ein Prozeß, den die Sprachen Mitteleuropas und die nordischen europäischen Sprachen nicht durchgemacht haben, sondern die haben den anderen eben beschriebenen Prozeß durchge­macht. Sie haben nicht einfach auf der ersten Stufe das Geistige auf­genommen, sondern haben sich erst wenigstens zur zweiten Stufe her­angebildet und waren eben im Erreichen der dritten Stufe drinnen: da erst drang zum Beispiel das Christentum als ein fremdes geistiges Element mit neuen Wörtern in sie ein. Und die zweite Stufe war offen­bar auch schon erreicht, als jenes keltische Element eindrang, von dem ich heute gesprochen habe. Da haben wir es also mit einem inneren Umbilden der Sprache zu tun. Dann erst kommt der geistige Einfluß. Bei dem Griechisch-Lateinischen aber haben wir es mit keiner der­artigen Umbildung der Sprache zu tun, sondern mit einem Hinein-gießen des Geistigen in die erste Stufe.

So muß man im Konkreten aufsuchen, wodurch eigentlich der Charakter der einzelnen Völker bestimmt wird. Durch solche Dinge findet man so etwas wie die Umbildung der Sprachen und das Ver­hältnis zum geistigen Leben. Nun haben wir im Neuhochdeutschen erstens eine Sprache, die dadurch, daß sie zur dritten Metamorphosenstufe

41

aufgestiegen ist, sich weit vom Leben entfernt hat. Dann aber sind in dieser Sprache eben durchaus viele solche Wörter drinnen, die auf all den Wegen hereingekommen sind, wie durch das Christentum vom Süden, wie durch die Scholastik vom Süden, wie aus dem fran­zösischen, spanischen Wesen vom Westen her. Diese Sprachelemente sind alle später hereingekommen; die sind nun im Hochdeutschen drin­nen. Das alles zeigt, wie dieses Hochdeutsche aus seinen Elementen zu­sammengeflossen ist.

Für etwas, was nun als ein fremdes Element aus einer anderen Sprache aufgenommen wird, hat man ja kein solches Gefühl wie für ein Wort, für einen Lautzusammenhang, den man innerhalb eines Vol­kes selber bildet im Verhältnis zu der Natur. Empfinden wir etwa das Wort Quelle. Es ist ein Wort, das so, wie wir es empfinden können, so angepaßt ist dem Wesen, zu dem es gehört, daß man sich eigentlich kaum denken kann, daß man aus unserem empfindenden Wesen heraus es anders nennen könnte. Es drückt das Wort alles aus, was man mit der Quelle erlebt. So war überhaupt das ursprüngliche Bilden der Sprachlaute, der Sprachworte und so weiter, daß sie konsonantisch und vokalisch ganz angepaßt waren der Umgebung. Aber wenn Sie zum Beispiel das Wort Essenz oder das Wort Kategorie oder das Wort Rhe­torik hören, können Sie da in derselben Weise den Zusammenhang mit dem fühlen, was das Wort ursprünglich bedeutet? Nein, man bekommt als Volk den Wortklang und muß sich bemühen, auf den Flügeln des Wortklanges den Begriff zu bekommen. Man kann dieses innere Erleb­nis gar nicht durchmachen, das den Einklang darstellt zwischen dem Wortklang und dem Begriff, der Empfindung. Es liegt eine tiefe Weis­heit darin, daß in jenem charakterisierten auf- und abwärts gehenden Entwickeln ein Volk von anderen Völkern solche Wörter aufnimmt, die es nicht selbst unmittelbar gebildet hat, bei denen es den Wort­klang hört, aber nicht den Zusammenklang erlebt mit dem, was be­zeichnet wird. Denn je mehr solche Wörter aufgenommen werden, desto mehr hat das Volk, das sie aufnimmt, die Notwendigkeit, etwas ganz Besonderes im Seelenleben zu Hilfe zu nehmen, um überhaupt mit so etwas zurechtzukommen. Man braucht sich ja nur zu erinnern. Sehen Sie, an den Empfindungslauten können wir heute noch diese

42

Anpassung der sprachbildenden Kraft an die Umgebung ein bißchen studieren, wie die in konkreter Weise zum menschlichen Erleben spre­chen: Pfui! Tratsch! Tralle walle! - Wie passen wir uns darin demje­nigen an, was wir ausdrücken wollen! Wie anders ist es, wenn Sie nun in der Schule, ich will nicht einmal sagen Logik lernen oder Philoso­phie, sondern überhaupt eine heutige Wissenschaft. Da bekommen Sie wahrhaftig Wörter, wo Sie unter den Seelenkräften anderes zu Hilfe nehmen müssen als das, was sich im Muh zum Beispiel als eine Nach­bildung von dem, was Sie von der Kuh hören, empfinden läßt. Wenn Sie das Muh aussprechen, dann empfinden Sie nach, was Ihnen da als Erlebnis auftritt.

Wenn Sie ein Wort aus einem fremden Sprachidiom hören, dann müssen Sie wahrhaftig etwas anderes tun, als aus dem Wortklang heraus das hören, was Sie hören sollen. Sie müssen die abstrahierende Kraft gebrauchen, Sie müssen die reine Begriffskraft gebrauchen; Sie müs­sen lernen, ideell vorzustellen. Daher hat sich ein Volk, das wie die mitteleuropäischen Völker ganz besonders fremde Elemente auf­genommen hat, durch diese Aufnahme fremder Elemente erzogen zur Kraft des ideellen Denkens. Und zwei Dinge kommen in die­sem Mitteleuropa zusammen, wenn wir auf das Hochdeutsche Rück­sicht nehmen: auf der einen Seite jene eigentümliche Innerlichkeit, die schon eine innerliche Lebensfremdheit ist, die durch das Ersteigen der dritten Stufe da ist, und auf der anderen Seite dasjenige, was mit dem fortwährenden Aufnehmen von fremden Elementen gegeben ist. Da­durch, daß diese zwei Dinge zusammenkommen, ist innerhalb des hochdeutschen Elementes jene stärkste ideelle Kraft entwickelt wor­den, die einmal in diesem hochdeutschen Elemente drinnen ist, jene Möglichkeit, zu den ganz reinen Begriffen hinaufzukommen und in den reinen Begriffen sich zu bewegen. Das ist einmal eine gewaltige Erziehung gewesen, die durch diese zwei Strömungen der Sprachent­wickelung für das mitteleuropäische Sprachwesen zustande gekommen ist. Die Erziehung zum innerlichen wortlosen Denken - wo wir wirk­lich fortschreiten zu einem wortlosen Denken -, die ist in besonderem Maße in Mitteleuropa durch die eben charakterisierten Tatsachen er­zeugt worden.

43

Das sind Dinge, die sich unmittelbar aus den Tatsachen ergeben, und wir verstehen gar nicht das hochdeutsche Sprachwesen, wenn wir es nicht in diesem Sinne betrachten, wenn wir es nicht durch die Laut­metamorphose hindurch und durch die Wortmetamorphose, durch die Aneignung fremder Wörter auf den verschiedenen Stufen, betrachten. Das wollte ich Ihnen heute darlegen zur Charakteristik der mitteleuro­päischen Sprachen.

44

VIERTER VORTRAG Stuttgart, 31. Dezember 1919

Sie haben gesehen, daß in diesen Betrachtungen es zunächst darauf an­kommt, die sprachgeschichtlichen Momente auf das Seelische zurückzuführen. Man kann in der Tat kein Verständnis des Vorganges der Sprachbildung und auch kein Verständnis des heutigen Bestandes irgendeines Sprachgebildes bekommen, wenn man nicht auf das see­lische Element eingeht. Und ich will auch heute noch - um das in den nächsten Stunden dann durch speziell Sprachgeschichtliches zu illu­strieren - einiges von demjenigen vorführen, was Sie von der Betrach­tung sprachgeschichtlicher Erscheinungen zu der Entwickelung der Volksseelen leiten kann.

Da möchte ich Ihre Aufmerksamkeit hinlenken auf zwei zusam-mengehörige Wörter: Zuber und Eimer. Wenn Sie heute diese Wörter, die alte deutsche Wörter sind, nehmen, so werden Sie aus dem Ge­brauch dieser Wörter darauf kommen, daß ein Eimer ein Gefäß ist, in dem man etwas trägt, und das einen einzigen, oben angebrachten Henkel hat; ein Zuber ist das, was zwei Henkel hat. Diese Tatsache liegt heute vor und sie kommt zum Ausdruck in den beiden Wörtern:

Zuber und Eimer. Untersuchen wir das Wort Eimer, so können wir über tausend Jahre zurückgehen: wir finden es im Althochdeutschen oder in einem noch früheren Stadium und finden das Wort einbar. Nun erinnern Sie sich, daß ich Ihnen ja den Lautzusammenhang bar vorgeführt habe. Er hängt zusammen mit beran: tragen, und durch Zu­sammenziehung des einbar ist Eimer entstanden. Wir haben also deut­lich ausgedrückt, so daß man es durchsichtig in der alten Form er-schauen kann, das Tragen mit einem Griff; denn bar ist einfach etwas zum Tragen. Zuber heißt im Althochdeutschen zwiebar, etwas, was man durch zwei trägt, also ein Gefäß mit zwei Griffen. So sehen wir, wie heutige Wörter durch Zusammenziehungen entstanden sind, die wir in der alten Form noch auseinandergelegt finden, was wir jedoch heute im Worte nicht mehr unterscheiden können.

Ähnliche Dinge können wir auch bei anderem Sprachmaterial beobachten.

45

Wollen wir uns ein paar charakteristische Erscheinungen vor die Seele führen. Nehmen Sie zum Beispiel das Wort Messer. Das Wort führt zurück auf das althochdeutsche mezzisahs. Mezzi ist mit einem vorlautenden M nichts anderes, als was zusammenhängt mit ezzi, essen

- ezzan, die alte Form für essen. Nun aber sahs, sax könnte man auch sagen in anderer Aussprache. Sie brauchen sich nur zu erinnern: Als sich das Christentum über Süddeutschland ausbreitete, da fanden die Mönche dort noch die ältere Verehrung für jene drei Gottheiten vor, wovon die eine die Gottheit Saxnot war; das ist der Kriegsgott Ziu. Saxnot ist die Zusammensetzung für das lebende Schwert, und sahs ist derselbe Lautzusammenhang. So daß Sie in dem Wort Messer das zusammengesetzte Wort Essensschwert haben: das Schwert, mit dem Sie essen.

So ist auch interessant das Wort Wimper. Das führt zurück auf wintbra. ßra = die Braue, und wint ist das sich Windende. Sie sehen hier anschaulich: die sich windende Braue. Im zusammengesetzten Wort Wimper unterscheiden wir das nicht mehr.

Nun noch ein charakteristisches Wort für solche Zusammenzie­hungen, wo ursprünglich noch gefühlte Zusammenhänge vorliegen. Sie kennen das nicht so selten vorkommende deutsche Wort Schulze. Gehen wir zurück ins Althochdeutsche, so finden wir dafür das Wort sculdheizo. Das war der Mann, zu dem man im Dorfe ging, daß er einem sagte, was man für eine Schuld habe, der einen aufmerksam machte, wenn man etwas ausgefressen hat. Der Mann, der zu entschei­den, zu heißen hat, was man für eine Schuld habe, der sculdheizo, Schuld-heißer, das ist der Schulze geworden. Ich will diese Beispiele einmal hinstellen, damit Sie mir folgen können, wie der Gang der sich fortentwickelnden Sprache ist.

Man kann nach dieser Richtung auch noch etwas anderes beobachten. Nehmen wir einmal etwas an, was im Dialekt leicht noch vorkommt. In Wien zum Beispiel hat sich ja manches Dialektische reiner erhalten als in Norddeutschland, wo die Abstraktion früh Platz gegriffen hat. Und dies geht zurück bis in die primitive Kultur, die bis ins 10. Jahr­hundert hineinreicht. In die nordische Kultur hat sich das nicht ein­geschoben, was in süddeutschen Gegenden erhalten geblieben ist an

46

sprachbildendem Genius, dem man noch vielfach anmerkt, wie alte Formen des Sprachwirkens in ihm auftreten. So gibt es zum Beispiel ein anschauliches Wort in Wien, das heißt der Hallodri. Das ist einer, der gern Unfug treibt, der viel Schwierigkeiten macht, der sich unter Umständen Ausschweifungen, wenn auch nicht gerade außerordent­lich bedenklichen, hingibt. Das Hallo weist hin auf das, was er tut; dann auf sein Gebaren weist die Endsilbe ri hin. Dieses ri ist noch ein dialektischer Überrest von dem althochdeutschen ari, das zum mittel­hochdeutschen aere geworden ist, und das sich ganz abgeschwächt hat im Neuhochdeutschen in die Endsilbe er. Nehmen Sie also zum Bei­spiel ein althochdeutsches Wort: wahtari. Da haben Sie auch diese Silbe, haben das, was man im österreichischen Dialekt in dem Hallodri empfindet. Dieses Auftreten im Leben mit irgend etwas, das liegt in der Endsilbe ari, und wath ist das Wachen. Derjenige, der es mit dem Amt des Wachens so macht, das ist der wathari; im Mittelhochdeut­schen wird es wahtaere, also noch mit voller Endsilbe; im Neuhoch­deutschen ist es Wächter. Es ist zur Silbe er geworden, der man nur-mehr wenig anfühlt von dem, was man bei dem ari empfunden hat: das Hantieren mit der Sache. In allen Wörtern, die diese Endsilbe er haben, sollte man daher fühlen, wenn man sich wieder durchdringt mit dem, was aus alten Zeiten erhalten ist, dieses Hantieren mit einer Sache. Derjenige, der im Garten hantiert, ist der gartenaere, unser heutiger Gärtner. Sie sehen daraus, wie die Sprache bemüht ist, Klangvolles, ich möchte sagen, Musikalisches in Abstraktes allmählich umzuwandeln, bei dem nicht mehr der volle Inhalt des Klanges nachempfunden wird und namentlich nicht mehr im Zusammenhang mit dem vollen Inhalt der Vorstellung oder der Empfindung.

Ein interessantes Beispiel ist das folgende: Sie kennen heute die Silbe ur in Ursache, Urwald, Urgroßvater und so weiter. Gehen wir etwa zwei Jahrtausende in unserer Sprachentwickelung zurück, so ha­ben wir gotisch dieselbe Silbe als uz vorhanden; gehen wir ins Alt-hochdeutsche zurück, also etwa ins Jahr 1000, so haben wir dieselbe Silbe als ar, ir, ur. Vor siebenhundert Jahren ist es noch immer ur und heute auch. Also verhältnismäßig früh hat sich diese Silbe umgewan­delt. Nur bei Zeitwörtern hat sie sich abgeschwächt. Wir sagen zum

47

Beispiel, indem wir dasjenige, was bekanntmacht, ausdrücken: Kunde. Wollen wir aber auf die erste Kunde hinweisen, auf diejenige, von der die andere Kunde ausgeht, so sagen wir Urkunde. Nun schwächt sich das ur für die Verben ab in er, so daß, wenn wir das Verbum kennen bilden, wir nicht sagen, wie es auch möglich wäre, urkennen, sondern erkennen; aber das er ist genau von demselben Bedeutungswert wie das ur in Urkunde. Wenn ich jemandem möglich mache, daß er irgend etwas tue, dann erlaube ich ihm irgend etwas; wenn ich das in einem bestimmten Falle zum Hauptwort mache, so wird daraus das Wort Urlaub, den ich ihm gebe durch mein Erlauben. Nun ist noch eine Bildung, die an alles das anklingt, außerordentlich interessant. Sie kennen das Wort: einen Acker urbar machen. Dieses urbar hängt auch mit beran zusammen, tragen machen. Urbar ist das ursprüngliche, das erste Tragenmachen eines Ackers. Sie haben da, ich möchte sagen, eine Bedeutungsanalogie in dem heute noch vorhandenen Wort ertragen. Wenn Sie heute sagen: Ertrag des Ackers -, dann ist dies dasselbe Wort wie das Urbarmachen des Ackers = das erste Erträgnis des Ackers. Und man hat ursprünglich das urbar auch dafür gebraucht, wenn man sagen wollte: den Acker so bearbeiten, daß er etwas tragen kann, zum Beispiel seinen Zins, seine Steuer.

Das Studium der Vor- und Nachsilben, die in unseren Worten auf­treten, ist überhaupt außerordentlich interessant. So haben wir zum Bei­spiel in zahlreichen Wörtern die Vorsilbe ge. Sie führt zurück auf ein gotisches ga. In diesem gotischen ga wurde n6ch durchaus das Zusammen-ziehende gefühlt; ga hat etwa die Gefühlsbedeutung des Zusammenzie­hens, Zusammenschiebens. Das wurde dann im Althochdeutschen gi und im Neuhochdeutschen eben ge. Wenn Sie dann das auf anderen We­gen gebildete Wort salle, selle, haben, und Sie setzen das ge voran, Ge­seile, so haben Sie einen Menschen, der mit einem anderen das gleiche Zimmer bewohnt oder im gleichen Saal mit ihm schläft: das ist dann der Geselle. Genosse ist derjenige, der mit dem anderen das gleiche genießt.

Ich mache Sie hier schon aufmerksam auf das durch diese Beispiele charakteristisch Hindurchgehende. Man muß zum Wort in anderer Weise stehen, wenn man im Laute darinnen noch ein unmittelbares Gefühl hat von dem, was es bedeutet, als wenn man dies nicht mehr

48

hat. Wenn man einfach ausspricht: Geselle, weil man sich von Kind­heit an gemerkt hat, Geselle bedeutet dieses oder jenes, so ist es doch ein anderes, als wenn man dabei noch das Gefühl hat des Saales und bei Geselle eben diesen Zusammenhang des Saales mit zwei oder meh­reren Menschen. Dieses Gefühlselement wird abgeworfen. Dadurch ist erst die Möglichkeit des Abstrahierens vorhanden.

Nun haben Sie zum Beispiel in vielen unserer Worte die Nachsilbe lich: göttlich, freundlich. Wenn Sie dieses lich aufsuchen vor zwei­tausend Jahren, so haben Sie es im Gotischen als leiks. Aber dieses gotische leiks, das dann althochdeutsch lich wird, das ist urverwandt mit leich und auch mit leib; und ich habe Ihnen schon gesagt, daß leich-leib ausdrückt die Gestalt, die zurückgeblieben ist, wenn der Mensch gestorben ist. Leichnam ist eigentlich schon etwas wie eine tautologische Bildung, wie eine Bildung von der Art, wie sie etwa ein Kind bildet, wenn es zunächst zwei ganz gleichlautende Wörter hat und sie zusammenstellt: wau-wau, muh-muh, wobei in der Wiederho­lung die Bedeutung aufgestellt wird. Es können aber auch nichtgleiche Laute zusammengestellt werden; und solch eine Zusammenstellung haben Sie zum Beispiel im Worte Leichnam. Leich ist eigentlich schon die Gestalt, welche zurückbleibt, wenn der Mensch von dem Seeli­schen verlassen ist; nam führt aber zurück auf ham, und ham ist das Wort, das erhalten geblieben ist noch in Hemd und heißt Hülle; so daß Leichnam die Gestalten-Hülle, das Gestalten-Hemd ist, das wir abgeworfen haben nach dem Tode. Es sind also zwei ähnliche Dinge:

Gestalt - und das etwas verschobene Hülle, zusammengestellt wie wau­wau. Nun ist aber aus diesem leiks, leich unsere Nachsilbe lich gebildet. So daß Sie also sehen: wenn Sie das Wort göttlich bilden, so muß dieses auf eine Gestalt hindeuten; denn das lich ist leiks: Gestalt. Ich weise da auf eine Gestalt hin, die das Göttliche ausdrückt; also gottgestaltet würde göttlich sein. Das ist besonders interessant zum Beispiel zu be­obachten, wenn wir das althochdeutsche Wort anagilih ins Auge fas­sen. Da haben wir noch drinnen eben das aus dem Gotischen stam­mende ana, und ana ist: nahezu, fast; gilih ist die Gestalt. Was also ähnlich ist, das ist dasjenige, was fast die Gestalt hat. Das wird also, wenn es ein neuhochdeutsches Wort wird, zu ähnlich.

49

Gerade bei diesem Beispiel können Sie etwas studieren, was zu­nächst nicht rein sprachgeschichtlich, sondern, ich möchte sagen, sprachpsychologisch ist, weil es Ihnen noch zeigen kann, wie die Ge­fühlswerte in den Wörtern leben, wie aber diese Gefühlswerte allmäh­lich im menschlichen Erfühlen sich loslösen, und dasjenige, was die Vorstellung noch verknüpft mit den Lauten, zu einem ganz abstrakten Element wird. Ich habe Ihnen die Vorsilbe ge, gotisch ga vorgeführt. Denken Sie also, man fühle das noch, dieses Zusammenwirken in ga, was jetzt ge wird, und man wendet das an auf die Gestalt, auf das leich; dann würde ich empfindungsgeschichtlich sagen: zusammen­stimmende Gestalt. Es lebt darin, ohne daß es sich ausspricht. Geleich, gleich würde also sein: zusammenstimmende Gestalten, zusammenwir­kende Gestalten, geleich = gleich.

Betrachten Sie einmal ein Wort, das manche Geheimnisse enthüllt -wir wollen es heute nur nach einer Seite hin betrachten -, betrachten Sie unser Wort Ungetüm. Dieses ü ist nur der Umlaut für ein ursprüng­liches u: Ungetum; aber das tum, das wir da loslösen, geht zurück auf ein althochdeutsches tuom, und dieses tuom hängt zusammen mit dem Worte tun: zustande bringen, machen, in ein Verhältnis bringen. In allen Wörtern, wo dieses tum zur Nachsilbe geworden ist, kann man eigentlich noch nachfühlen, daß da etwas von einem zusammenwir­kenden Verhältnis enthalten ist: Königtum, Herzogtum, Ungetüm. Ungetüm ist dasjenige, wobei kein ordentlich zusammenwirkendes tum entsteht: das un negiert das Zusammenwirken; das getum wäre das Zusammenwirken selber.

Zahlreiche Wörter haben wir, wie Sie wissen, mit der Nachsilbe ig:

feurig, gelehrig und so weiter. Das geht zurück auf ein althochdeutsches ac oder auch ic, auf ein mittelhochdeutsches ag, ig, und das ist eigent­lich die Wiedergabe von dem, was etwa eigenschaftswörtlich eigen heißt, es ist ihm eig. Wo also die Nachsilbe ig auftritt, da deutet sie auf ein eigen hin. Feurig = feuerei gen, dem das Feuer eignet. Ich habe Ihnen gesagt, daß wir also beobachten können, wie durch solche Zu­sammenziehungen und im Zusammenziehen erfolgende Umgestaltun­gen der Lautbestände der Abstraktionsprozeß erfolgt, den der Sprach-genius durchmacht.

50

Man könnte das so ausdrücken: In sehr, sehr frühen Zeiten der Sprachentwickelung eines Volkes lehnt sich der Mensch mit seiner Empfindung ganz an den Laut an. Man möchte sagen: Die Sprache besteht eigentlich nur aus differenzierten, komplizierten Bildern in den konsonantischen Lauten, in denen man nachbildet äußere Vor-gänge, und aus darinnen vorkommenden Interjektionen, Empfindungs­lauten in den vokalischen Bildungen. Nun schreitet der sprachbildende Prozeß fort. Der Mensch hebt sich gewissermaßen heraus aus diesem Miterleben, aus diesem empfindungsmäßigen Miterleben des Laut­lichen. Was tut er denn da, indem er sich heraushebt? Er spricht ja noch immer; aber indem er spricht, wird das Sprechen in eine viel un­terbewußtere Region hinuntergestoßen als das früher war, wo die Vor­stellung, das Empfinden noch zusammenhing mit der Lautbildung. Es wird das Sprechen selbst in eine unterbewußte Region hinuntergewor­fen. Das Bewußtsein sucht mittlerweile den Gedanken abzufangen. Beobachten Sie das wohl als einen Vorgang der Seele. Dadurch, daß man den Lautzusammenhang unbewußt macht, erhebt man sich mit dem Bewußtsein zu dem nicht mehr im Laut und Lautzusammenhang allein gefühlten Vorstellen und Empfinden. Man sucht also etwas zu erhaschen, worauf der Laut zwar noch deutet, was aber nicht mehr so innig wie früher mit dem Laut zusammenhängt. Solch einen Vor­gang kann man auch dann noch beobachten, wenn das ursprüngliche, ich möchte sagen, Sich-Herausschälen aus den Lautzusammenhängen schon vorbei ist, und man dasselbe, was man früher mit Lautzusam­menhängen gemacht hat, jetzt mit Wortzusammenhängen machen muß, weil schon Wörter entstanden sind, bei denen man nicht mehr den Lautzusammenhang voll fühlt, bei denen man schon mehr gedächtnis-mäßig den Lautzusammenhang mit dem Vorstellungszusammenhang hat. Man macht da auf einer höheren Stufe denselben Prozeß, den man früher mit Lauten und Silben gemacht hat, mit Wörtern durch.

Nehmen Sie an, Sie wollten ausdrücken die menschlichen Wesen einer bestimmten Gegend, Sie wollten noch nicht fortschreiten zur völligen Abstraktion, so daß Sie zum Beispiel sagen würden: Die menschlichen Wisen Württembergs. Das würden Sie noch nicht sagen wollen, das würde noch zu abstrakt sein. Man hätte sich noch nicht

51

aufgeschwungen, nehmen wir an, zu so starken Abstraktionen wie:

Die Menschen Württembergs. Würde man dasselbe, was man da später durch dieses: Die Menschen Württembergs ausdrückt, abfangen wollen durch Konkreteres noch, dann würde man sagen: Die Bürger und Bauern Württembergs. Man sagt dieses, indem man dasjenige meint, was weder Bauer noch Bürger ist, oder beides, was aber gewissermaßen dazwischen schwebt. Um dieses abzufangen, was dazwischen schwebt, gebraucht man beide Wörter. Das wird insbesondere interessant und deutlich, wenn die beiden Wörter, die man gebraucht, um einen Begriff auszudrücken, den man dadurch bezeichnet, daß man sich ihm gleich­sam von zwei Seiten nähert, wenn die beiden Wörter weiter vonein­ander abstehen, zum Beispiel, wenn man sagt: Land und Leute. Wenn man dieses sagt, dann liegt dasjenige, was man sagen will, dazwischen, und man nähert sich ihm. Oder: Wind und Wetter. Wenn Sie dieses sagen, so meinen Sie etwas, was Sie nicht durch ein Wort ausdrücken, was weder Wind noch Wetter ist, sondern was dazwischen liegt, was Sie aber einfassen, indem Sie Wind und Wetter gebrauchen.

Nun ist es interessant, daß sich im Laufe der Sprachbildung solche Zusammenstellungen so ausdrücken, daß sie irgendwie alliterieren, assonieren oder dergleichen. Daraus ersehen Sie, daß das Lautempfin­den, das Tonempfinden in diese Dinge doch noch hineinspielt. Und wer ein lebendiges Sprachgefühl hat, kann ja heute noch solche Dinge fort­setzen, kann durch Ähnlichlautendes dazwischenliegende Vorstellun­gen abfangen, für die man zunächst nicht das unmittelbare Wort hat. Nehmen Sie an zum Beispiel, ich will am Menschen ausdrücken so etwas wie sein Verhalten, wie es ihm habituell, wie es ihm wesenhaft eigen ist. Wenn ich Anstoß daran nehme, da bloß ein Wort zu ge­brauchen, das den Menschen als ein passiv Lebendiges hinstellt - weil ich ihn in seinem wesenhaften Sich-Äußern, Sich-Offenbaren, nicht als passiv Lebendiges hinstellen, aber auch nicht bloß tätig hinstellen will, sondern die Tätigkeit ableiten will von seinem Wesen -, da kann ich nicht sagen: Die Seele eines Menschen lebt - das wäre mir zu passiv; ich kann auch nicht sagen: Die Seele des Menschen webt -, das wäre mir zu aktiv. Ich brauche etwas, was dazwischen ist, und sage heute noch:

Die Seele lebt und webt. Aus dem sprachbildenden Genius heraus finden

52

sich solche Dinge zahlreich. Denken Sie sich zum Beispiel, man will ausdrücken, was weder Sang noch Klang ist, so sagt man Sang und Klang. Oder man will beim mittelalterlichen Dichter ausdrücken, daß er den Ton und Text vorbringt, das wollte man oft ausdrücken, daß die Dichter Ton und Text vorbrachten, da konnte man nicht sagen:

Sie ziehen herum und singen -, sondern: Sie ziehen herum und singen und sagen. Das, was sie eigentlich taten, das war ein Begriff, für den das Wort nicht da war. - Sehen Sie, solche Dinge, die sind nur, ich möchte sagen, die Spätlinge für das, was früher mit heute nicht mehr durchsichtigen Lautzusammenhängen geschehen ist. Wir bilden ge­wissermaßen mit Worten wie Sang und Klang, singen und sagen, noch Zusammenziehungen, die früher mit solchen Lautbeständen gemacht worden sind, welche noch den Zusammenhang hatten zwischen dem Lautbestand und dem Vorstellungs- oder Empfindungselement.

Nehmen Sie zum Beispiel, um sich ein ganz Charakteristisches nach dieser Richtung vorzuführen, das Folgende: Wenn die alten Deutschen zusammenkamen und Gerichtstag hielten, dann nannten sie so einen Tag tagading. So etwas, was sie taten, das war ein ding. Heute haben wir noch Ding drehen. Ein ding ist dasjenige, was da geschah, wenn die alten Deutschen zusammen waren. Man nannte es tagading. Nun neh­men Sie die Vorsilbe ver; die weist immer darauf hin, daß etwas in die Entwickelung eintritt. Wenn also das, was auf dem Tageding geschah, in die Entwickelung eintritt, dann konnte man sagen: es wurde ver­tagedingt. Und dieses Wort ist so nach und nach zu unserem verteidi­gen geworden; mit etwas Bedeutungswandel ist unser verteidigen dar­aus geworden. Und so sehen Sie, wie hier noch im Lautbestand ver­tagedingen dasselbe sich vollzieht, was sich später durch die Wortbe­stände vollzieht.

Da kommen wir dann nach und nach dazu, daß das Vorstellungs-leben noch weiter abirrt von dem bloßen Lautleben. Nehmen Sie zum Beispiel so etwas wie das althochdeutsche alawari. Das würde die Be­deutung haben von: ganz wahr. Daraus ist unser Wort albern gewor­den. Denken Sie sich nun einmal, in welche Tiefen des Volksseelischen Sie hineinschauen, wenn Sie erblicken, daß etwas, das ursprünglich die Bedeutung hatte des Ganzwahren, wenn das albern wird, so wie wir

53

heute das Wort albern empfinden. Da muß durchgehen die Anwen­dung des Wortes alawari durch, ich möchte sagen, Stämme, die das Auftreten des Menschen in der Eigenschaft des Ganzwahren als etwas Verächtliches finden, die sich dem Glauben hingeben, daß der Schlaue nicht alawari ist. Dadurch überträgt sich die Empfindung: wer ganz wahr ist, ist kein Schlauer -, auf das, wofür ursprünglich eine ganz an­dere Empfindung angewendet worden ist; und so verschiebt sich die Bedeutung des ganz wahr in albern.

Wir können, wenn wir den Bedeutungswandel studieren, tief hin­einschauen in den sprachbildenden Genius im Zusammenhang mit dem Seelischen. Nehmen Sie zum Beispiel unser Wort Quecksilber: dies ist das bewegliche Metall. Dieses Queck ist ganz dasselbe Wort wie zum Beispiel, sagen wir in Quecke, das auch Beweglichkeit bedeutet, oder dasselbe Wort, das in erquicken drinnen ist. Dieser Lautzusammen-hang: queck und quick - mit einer kleinen Lautverschiebung: keck -, der bedeutete ursprünglich: beweglich sein.Würde ich also von einem von Ihnen vor 500 Jahren gesagt haben: er ist ein kecker Mensch, so würde ich ausgedrückt haben: er ist ein beweglicher Mensch, der nicht auf seiner faulen Haut liegt, sondern der arbeitsam ist, der sich umtut. Durch Bedeutungswandel ist das zu dem heutigen Wort keck gewor­den. Da ist die Verseelischung zu gleicher Zeit der Weg zu einem sehr bedeutsamen Bedeutungswandel. So finden wir ein Wort, welches ur­sprünglich kühn im Kampfe ausdrückt. Wir brauchen nur etwa fünf­hundert Jahre zurückzugehen, so heißt das Wort kühn im Kampfe:

frech. Ein frecher Mensch im Sinne früherer Zeiten würde bedeuten:

ein kühner Mensch, ein Mensch, der sich nicht scheut, im Kampfe ge-hörig aufzutreten. Hier haben Sie den Bedeutungswandel. Diese Be­deutungswandel, die lassen uns wirklich tief in das seelische Leben in seiner Entwickelung hineinschauen. Nehmen Sie das althochdeutsche diomuoti. Deo, dio bedeutet immer Knecht, muoti, was verwandt ist mit unserem Mut, aber früher eine andere Bedeutung hatte, ist heute nur wiederzugeben, wenn wir sagen: Gesinnung, die Art und Weise, gegen die Außenwelt oder gegen andere Menschen gestimmt zu sein. So können wir sagen: diomuoti hatte die Bedeutung von richtiger Knechtsgesinnung, die Gesinnung, die ein Knecht gegen seinen Herrn

54

haben soll. Nun drang das Christentum ein. Die Mönche wollten den Menschen da etwas sagen, was sie haben sollten als die Gesinnung ge­gen Gott und gegen geistige Wesen. Sie konnten das, was sie ihnen da sagen wollten, nur dadurch zum Ausdruck bringen, daß sie anknüpften an eine Empfindung, die man schon hatte für diese Knechtsgesinnung. So wurde dieses diomuoti nach und nach zur Demut. Die Demut der Religion ist ein Nachkomme der Knechtsgesinnung der alten germani­schen Zeit. So geschehen die Bedeutungswandel.

Überhaupt ist es gerade interessant, die Bedeutungswandlungen der Worte, oder besser Laut- und Silbenzusammenhänge, zu studieren, welche die Umänderungen der Bedeutung durch die Einführung des Christentums erfahren haben. Da ist manches vorgegangen, als das rö­mische Priestertum das Christentum nach den nördlichen Gegenden gebracht hat, manches, das man eigentlich nur in seiner Urbedeutung äußerlich erkennt, wenn man auf den Bedeutungswandel der Worte sieht. Wenn in alten Zeiten, wo es noch kein Christentum gab, wo es aber ein ausgeprägtes Verhältnis gab des Herrischen zum Dienerischen, der Herr sagen wollte von irgendeinem Menschen, den er sich dienst­bar, knechtbar gemacht hatte, den er erobert hatte: Der ist mir nützlich, dann sagte er: der ist fromm, das ist ein frommer Mensch. Dieses Wort haben Sie heute nur noch in einem letzten Rest vorhanden - wo es gewis­sermaßen, um ein bißchen schalkhaft zu sein, an seine ursprüngliche Be­deutung: nützlich sein, erinnert -, in dem Ausdruck: zu Nutz und From­men. Wenn man dieses sagt, dieses zu Nutz und Frommen, da ist zwar das Wort zusammengestellt mit dem Nutzen, mit dem es ursprünglich in der Wortbedeutung identisch war, aber da wird nur noch schalk­haft hingedeutet auf dieses Nützlichfinden. Der fromme Knecht war der, der einem möglichst viel nützt. Die römischen Priester haben auch gefunden, daß ihnen manche mehr, manche weniger nützen, und die Nützlichsten haben sie fromm genannt. Und so ist das Wort fromm auf einem merkwürdigen Wege gekommen, gerade durch die Einwan­derung des Christentums von Rom aus. An Demut, an Frommsein und manchem anderen können Sie schon etwas studieren von den besonde­ren Impulsen, durch die das Christentum von Süden aus nach Norden getragen worden ist.

55

Man muß schon auf das Seelische, das heißt, auf das innere Erleben eingehen, wenn man die Sprache verstehen will. Es ist durchaus das im Bilden der Worte vorhanden, was ich auf der einen Seite charak­terisierte als das konsonantische Element, wenn man das nachbildet, was äußerer Vorgang ist, und auf der anderen Seite das Empfindende, das interjektive Element, wenn man seine Empfindungen in Anleh­nung an das Äußere zum Ausdruck bringt. Nehmen wir ein ausgespro­chen konsonantisches Wesen in der Sprachempfindung, in einem vor­gerückten Stadium der Sprachentwickelung. Nehmen Sie an, man emp­findet diese Form, die ich hier aufzeichne. Wenn der ursprüngliche

#Bild s. 55

Mensch diese Form empfand, da empfand er sie zweifach. Da empfand er sie, indem er von unten nach oben schaute, als das Eingedrückte. Das wurde allmählich zu einem solchen Lautbestand, der uns in dem Worte Bogen vorliegt. Wenn er von oben nach unten auf diese Form schaute - wie es äußerlich zum Beispiel besonders ausgedr ückt werden kann dadurch, daß ich möglichst das au fbiege (es wird gezeichnet), da kommt das zustande, was ich von oben nach unten anschaue: dann wird es ein Bausch. Von unten nach oben ist es ein Bogen, von oben nach unten ein Bausch; in Bogen und in Bausch liegt noch etwas von der Empfindung drinnen. Will man dann das ausdrücken, was beides umfaßt, was gewissermaßen sich nicht mehr an die Empfindung an-lehnt, sondern nach außen läuft, um den ganzen Vorgang auszudrük­ken, dann sagt man: in Bausch und Bogen. In Bausch und Bogen, ima­ginativ ausgedrückt, wäre das (Hinweis auf die Zeichnung) von oben und von unten gesehen. - Das kann man dann auch auf moralische Ver­hältnisse anwenden, wenn man mit jemandem ein Geschäft abschließt, so daß das, was sich ergibt, sowohl von innen wie von außen sich anschauen

56

läßt: von innen angesehen ergibt es Gewinn, von außen ange­sehen das Gegenteil, Verlust. Wenn man mit jemandem ein Geschäft auf Gewinn und Verlust abschließt, so könnte man sagen: man schließt es in Bausch und Bogen ab, man nimmt nicht Rücksicht auf das, was unterschieden wird in der einzelnen Bezeichnung.

Ich wollte Ihnen damit klarmachen, daß man durch das Verfolgen der Entwickelung der Lautbestände, aber auch der Wortbestände, Bil­der hat von dem Entwickeln des volksseelischen Elementes, und Sie können, wenn Sie dieses Vorrücken von dem Konkreten des Lautlebens zu dem Abstrakten des Vorstellungslebens als Richtlinien verfolgen, vieles dann selbst finden. Sie brauchen nur ein gewöhnliches Lexikon aufzuschlagen oder Wörter aufzunehmen aus der Umgangssprache und sie mit solchen Richtlinien zu verfolgen. Für unsere Lehrerschaft sage ich noch insbesondere, daß es außerordentlich anregend ist, mitten im Erzählen einmal hinzuweisen auf solche sprachgeschichtliche Momente, weil sie manchmal tief aufklärend sein können und außerdem das Denken außerordentlich anregen. Aber man muß immer gefaßt sein, daß man natürlich da auf Holzwege abirren kann; daher muß man immer recht vorsichtig sein, denn die Worte machen ja mannigfaltige Metamorphosen durch, wie Sie jetzt gesehen haben. Also es kommt darauf an, daß man nicht gleich auf äußeren Ähnlichkeiten etwa Hy­pothesen aufstellt, sondern daß man ganz gewissenhaft vorgeht.

Daß man gewissenhaft vorgehen muß, das können Sie an einem Beispiel sehen, das ich Ihnen auch noch vorführen möchte. Es gab ein ursprüngliches, recht ehrliches deutsches Wort, das hieß Beiwacht -wenn sich die Leute zusammensetzten und miteinander wachten -, Bei-wacht, Zusammenwacht. Es ist das eins von denjenigen Worten, die nicht wie manche andere von Frankreich nach Deutschland gewandert sind, sondern es ist unversehens einmal nach Frankreich gewandert, wie auch das Wort guerre, Krieg, die Wirren. Beiwacht ist in alten Zei­ten einmal nach Frankreich gewandert und ist da zu bivouac geworden. Und es ist wieder zurückgewandert mit den zahlreichen Wanderungen der westlichen Wörter, die herübergekommen sind nach dem 12. Jahr­hundert; es ist wieder herübergewandert und ist Biwak geworden. Dies Wort ist ein ursprünglich deutsches, das aber zuerst nach Frankreich

57

gewandert ist und wieder zurückgekommen ist. In der Zwischenzeit war es wenig gebraucht. Solche Dinge finden also auch statt, daß Wör­ter auswandern, es ihnen dann zu schwül wird in der fremden Atmo-sphäre und sie wieder heimkehren. Also, alle möglichen Verhältnisse finden da statt.

58

FÜNFTER VORTRAG Stuttgart, 2. Januar 1920

Nun möchte ich auf Grund dessen, was ich schon ausgeführt habe, und um zum Teil auch noch dieselben Tatsachen zu bekräftigen, heute da­von ausgehen, zu bemerken, daß gerade in der Sprachwissenschaft sich die Folgen materialistischer Betrachtungsweise am traurigsten, aber vielleicht auch am augenfälligsten zeigen. Man kann zwar nicht sagen, daß diese materialistische Betrachtungsweise zum Beispiel in der Physik nicht noch schädlicher wirkt, weil sie weniger bemerkt wird; aber am traurigsten wirkt sie in der Sprachwissenschaft, aus dem Grunde, weil sie da am allerleichtesten hätte vermieden werden können, und weil man da hätte sehen können, wie Geist und Seele im sprachbildenden Genius eigentlich wirken. Nun handelt es sich darum, mit dieser Ein­sicht, die ich damit andeute, sich noch älteren Zeiten der Sprachbildung dadurch zu nähern, daß man sie zunächst an jüngeren Zeiten beob­achten lernt; an jüngeren Zeiten, die noch mehr überschaubar sind, an denen man den Sprachwandel noch so verfolgen kann, daß deutlich durch den Sprachwandel und seine Metamorphosen der Wandel in den Empfindungen und in den Gefühlen der Volksseele hindurchscheint. Verhältnismäßig weit zurück liegt ja schon die Sprache des deutschen Volkes zur Zeit etwa des Minnesanges, also der Zeit, die man histo­risch die Ritterzeit nennt; aber sie liegt ja doch nur so weit zurück, daß man gewisse Dinge noch leicht literarisch verfolgen und so über man­chen Bedeutungswandel sich aufklären kann. Allerdings, so viel sieht man da nicht mehr, als wenn man den Homer liest, wo jene für uns heute als Schimpfworte wirkenden Bezeichnungen auftreten, mit denen sich da die griechischen Helden belegen. Denn das halten wir heute nicht mehr aus, daß wir uns gegenseitig Ziegenmägen oder Esel nennen. Das weist auf eine Zeit zurück, wo ein Esel durchaus noch in solchem Ansehen stand, daß ein Held ein Esel genannt werden konnte. Die Tiere - das geht aus den homerischen Dichtungen klar hervor - waren in jener Zeit durchaus noch nicht so mit Empfindungsnuancen belegt wie heute.

59

Nun, ein wenig können wir uns zum Verständnis dieser Dinge er­heben, wenn wir eben noch weniger weit zurückliegende charak­teristische Beispiele aufsuchen. So wenn wir im Mittelalter die Redens­art finden: Sie klebten wie ein Pech in ihrer Feinde Scharen. Es kommt uns heute komisch vor, wenn man von jemand, der tapfer im Kampfe aushält, sagt: Er klebte wie ein Pech, aber dieses Wie-ein-Pech-Kleben, das war durchaus eine mögliche Ausdrucksweise in der Zeit des Minne­sanges.

Und bei Wolfram von Eschenbach finden Sie eine charakteristische Redensart, die Ihnen zeigt, wie man damals erstens noch viel auf das Anschauliche gesehen hat, zweitens aber gewisse Empfindungsnuancen für gewisse Vorgänge und Dinge hatte, die heute solche Vorgänge und Dinge verächtlich machen. Wenn also Wolfram von Eschenbach in seriöser Art das Auftreten einer Herzogin vor einer männlichen Per­sönlichkeit schildert, so sagt er: ihre Erscheinung drang in das Auge dieser Persönlichkeit und durch das Auge in das Herz wie eine Nies­wurz durch die Nase. Es ist anschaulich, denn der Geruch der Nies­wurz strömt sehr anschaulich, man könnte sagen, sehr ruchbar durch die Nase; aber wir würden es heute nicht sagen. Daraus sehen Sie, wie die Gefühlswelt sich verwandelt hat, und diese Verwandlung der Ge­fühlswelt sollte man studieren, wenn man nicht materialistische Sprach­wissenschaft treiben will.

Einem neueren Dichter, wie Sie wissen, war es noch gegönnt, von einer würdigen weiblichen Persönlichkeit zu sagen: Sie blickte wie ein Vollmond drein. Aber man würde im weitesten Umfange diese im Mit­telalter ganz gebräuchliche Redensart heute nicht mehr verzeihen. Wenn Sie aus einer ähnlichen Empfindung heraus einer Dame sagen würden: Sie blicken mich wie ein Vollmond an, so würde das heute nicht mehr zu einer möglichen Umgangssprache gehören; im Mittel-alter aber war das Liebliche des Mondes, die Milde des Mondes das Vor­herrschende im Volksgemüte. Und man hat von diesem aus gerade das­jenige, was man am Damenblick, an der Damenmiene liebte, verglichen mit dem Vollmond.

Gottfried von Straßburg redet in seinem «Tristan» ganz seriös von geleimter Liebe. Geleimte Liebe ist das, was auseinandergegangen war,

60

aber sich wieder zusammengeschlossen hat. Er redet vom Klebenbleiben der Verwundeten auf dem Schlachtfelde. Das würde heute beleidigend wirken. Und wenn gar das Mittelalter sagt: Die kaiserlichen Beine eines Menschen, um seine würdige Beinhaltung auszudrücken, oder wenn er sagt: Die kaiserliche Magd Maria, so zeigt Ihnen das als Wesentliches die Wandlung der Gefühlswelt.

Ich führe Ihnen diese Beispiele aus dem Grunde an, damit Sie auf­merksam werden, wie dieser Wandel der Gefühlsnuancen sich auf weniger bemerkbaren Gebieten geltend macht. So wenn im Mittelalter noch gesprochen wurde von krankem Schilfrohr. Was ist krankes Schilfrohr? Krank ist da nur das schmückende Beiwort für ein recht langgestrecktes Schilfrohr. Und die Zeit liegt gar nicht weit zurück, wo krank, wenn man es ausgesprochen hat, überhaupt nichts anderes be-deutete als schlank. Wenn man in der damaligen Zeit jemanden krank genannt hätte, so hätte man gemeint, er ist ein großer, schlanker Mensch. Nicht meinte man im heutigen Sinn, er sei krank. Wenn man das sagen wollte, so hätte man sagen müssen, er sei süchtig, von einer Sucht befallen. Damals war Kranksein gleich Schlanksein. Nun denken Sie sich, was da vorgegangen ist! Man hat allmählich die Empfindung bekommen, daß es etwas Unmenschliches am Menschen sei, wenn er schlank sei. Man hat sich die Empfindung angeeignet, daß normal beim Menschen ist, ein bißchen nichtschlank zu sein. Auf diesem Umwege ist entstanden die Verkoppelung des Lautzusammenhanges krank mit süchtigsein, mit Nicht-normal-organisiert-Sein. Also, es nimmt ein Wort eine gewisse Empfindungsnuance in Anspruch, das früher einer ganz anderen Empfindungsnuance zugehört hat.

Es liegt aber die Zeit noch gar nicht weit zurück, da konnte ein Wirt gute Geschäfte machen, wenn er elenden Wein anpries. Also ein Wirt konnte sagen und verkündigen lassen im Dorf: bei mir ist elender Wein zu finden. Elend ist hier ganz dasselbe Wort wie unser Elend. Sie fin­den einen Anklang an die alte Empfindungsnuance von Elend nur noch im Dialekt, wo gewisse Dörfer, die weit an der Grenze draußen sind, das Elend genannt werden, die Elenddörfer. Man sagte zum Beispiel noch in Steiermark zu meiner Zeit: der Mann ist aus dem Elend und meinte damit, er ist aus einem Grenzorte. - Und es haben sich gewisse

61

Dörfer bis jetzt den Namen Elend erhalten. Diese Bezeichnung ist nur von weiter draußen hereingerückt; denn elender Wein hieß auslän­discher Wein, und das Elend ist das Ausland, so daß also der Wirt -wenigstens bis zum Jahre 1914-, wenn er zum Beispiel französische Weine anpries, gute Geschäfte gemacht haben würde, wenn er elende Weine angepriesen hätte. Da haben wir also einen Bedeutungswandel, der schon bei krank vorhanden ist.

Der Dichter Geiler von Kaisersberg spricht kurioserweise - wenn Sie es bei ihm aufsuchen, wird es mehr durchsichtig sein - von einem hübschen Gott. Das können wir heute nicht mehr gut sagen. Er meinte damit einen wohlwollenden Gott. In hübsch finden wir damals die Gefühlsnuance, die wir heute mit dem Worte wohlwollend verbinden. Sie finden heute zuweilen noch die Redensart - denn solche Dinge haben sich als Reste erhalten -: ein ungehobelter Mensch. Sie werden dieses Wort verstehen, wenn Sie bei Luther lesen, daß die Menschen durch die Propheten gehobelt werden. Menschen werden durch die Propheten gehobelt, das heißt, sie werden zurecht gemacht. Da haben wir also noch die sinnliche Anschauung des Hobelns verbunden mit dem Wie­der-Zurechtmachen.

Mit diesen Beispielen sind wir nun etwas weiter zurückgegangen. Aber sehen wir noch auf etwas Näheres. Lessing, der also nicht sehr weit zurückliegt, will einmal ausdrücken - was man heute schon durch seine Wortprägung mißverstehen kann -, daß es vieles gibt, wofür man gerechterweise Sympathie entwickelt, was aber doch nicht zum Cha­rakter des Schönen, daher nicht zum Gegenstand der Kunst erhoben werden kann. Und diese Wahrheit drückt er so aus, daß er sagt: Weles von dem Anzüglichsten kann nicht Gegenstand der Kunst sein. Wenn wir das heute lesen, so werden wir unmittelbar glauben, anzüglich sei bei Lessing so gemeint, wie es heute gemeint ist; aber der Zusammen­hang ergibt, daß wir nur dasselbe wie er meinen würden, wenn wir sagen würden: Vieles von dem Anziehendsten kann nicht Gegenstand der Kunst sein. - Also, Sie haben hier die Wandlung der Empfindungs­nuance, so daß, was Sie heute als das Anziehendste bezeichnen, Lessing noch als das Anzüglichste bezeichnet hat. Wir bezeichnen damit heute etwas wesentlich anderes.

62

Nun ist interessant zu verfolgen, auf wie komplizierte Weise solch ein Bedeutungswandel sich eigentlich vollzieht. Nehmen Sie einmal an: das Wort krank, das früher schlank bedeutet hat, konnte also auch angewendet werden auf das Schilfrohr; ein krankes Schilfrohr ist ein Schilfrohr, das schlank ist, das daher weniger gut zu gebrauchen ist als ein kurzes, dickes Schilfrohr. Nun hat sich das allmählich gewan­delt in der Empfindungsnuance, so daß es allmählich die heutige Be­deutung von krank empfing; aber heute ist schon wiederum etwas ab-gestreift. Denn Adelung, der in der Mitte zwischen jener Zeit und uns lebt, Adelung sagt zum Beispiel, man müsse gekränkte Schiffe aus-bessern. Es wirkt heute ein bißchen komisch, oder wenigstens so, daß man weiß, daß der Betreffende ein Spaßvogel ist, wenn er von einer gekränkten Uhr zum Beispiel spricht; aber damals war das etwas Selbstverständliches, wenn man das mittlerweile gewandelte Wort krank auch auf Unorganisches angewendet hat. Sie sehen daraus, daß krank ursprünglich etwas mit der Gestalt zu tun hatte, und daß sich dann erst allmählich die Bedeutung von heute einschlich. Dann aber wurde das, was früher da war, ganz weggeworfen, und es bekam eine ganz neue Bedeutung, während wir bei den gekränkten Schiffen noch an die frühere Bedeutung denken können. Immer mehr und mehr ist das unmittelbare Erfühlen des Empfindungsgemäßen in den Worten abgestreift worden. Selbst bei Goethe - und zwar bei ihm, weil er in vieler Beziehung zurückgegangen ist auf das Walten des sprachbil­denden Genius - findet sich noch ein deutliches Fühlen bei Worten, bei welchen wir nicht mehr deutlich fühlen. Zum Beispiel, nehmen Sie das Wort bitter. Bei uns ist es heute eine Bezeichnung für ein rein subjektives Erlebnis, für ein Geschmackserlebnis geworden. Und mit dem, was in alter Zeit anschaulich war und wovon das Wort bitter abgeleitet ist, bringen wir es heute in unserer Empfindung gewöhnlich nicht mehr zusammen: mit beißen. Es hängt aber zusammen mit beißen: was bitter schmeckt, beißt uns eigentlich. Goethe fühlt das noch und spricht von der bitteren Schere der Parze: die beißende Schere der Parze ist das! Die Menschen sind heute schon solche Abstraktlinge, daß sie sagen:

Dichterische Freiheit -, wenn sie auf ein solches Wort stoßen. Aber es ist keine dichterische Freiheit, sondern es ist gerade aus dem vollen

63

inneren Erlebnis hervorgegangen. Goethe lebte auch noch nicht in der Zeit, wo neunundneunzig Prozent dessen, was gedichtet wird, zu­viel ist. Er fühlte der Sprache gegenüber - und das muß man sich bei vielen seiner Werke vor Augen halten - noch viel innerlich lebendiger, als das heute irgendein Mensch kann, wenn er einfach in der äußeren Bildung darinnensteht. Das können Sie wiederum fühlen, wenn Sie bei Goethe das Wort finden: Ein Ecce homo gefiel mir wegen seiner er­bärmlichen Darstellung. Kein Mensch scheint das heute anders zu empfinden, wenn er so redet, als daß das eine schlechte Darstellung ist. Goethe aber will andeuten, daß unser tiefstes Erbarmen hervorgerufen wird durch diese Darstellung. Wir müßten also ganz abstrakt sagen:

Ein Ecce homo gefiel mir wegen seiner Erbarmen herausfordernden Darstellung. Goethe aber sagte noch: Ein Ecce homo gefiel mir wegen seiner erbärmlichen Darstellung.

Selbst noch vor verhältnismäßig gar nicht ferner Zeit konnte man einen Menschen, der auf der Straße ging und gerne Kinder, gern arme Leute ansprach und mit ihnen redete, nicht hochfahrend war, sich nicht hoch trug, wenn man ihm Anerkennung zollen wollte, benennen: Du bist ein niederträchtiger Mensch. Das war möglich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein niederträchtiger Mensch, das war für die dama­lige Zeit ein leutseliger Mensch: man lobte ihn, man zollte ihm von einem gewissen Gesichtspunkte aus das höchste Lob. - Ich glaube nicht, daß heute noch viele Menschen einen gründlichen Sinn damit verbin­den, wenn sie in Schriften des 18. Jahrhunderts lesen von einer unge­fährlichen Zahl. Wir würden heute nur sagen: Eine Zahl, die ungefähr das Richtige sagt. Eine approximative Zahl, die nannte man eine un­gefährliche Zahl. - Und was würden sich die meisten Menschen heute denken, wenn sie den im 18. Jahrhundert noch gang und gäbe gewe­senen Ausdruck finden: unartige Pflaumen? Unartige Pflaumen sind diejenigen Pflaumen, die nicht die ganz typischen Merkmale der Art zeigen, die etwas Besonderes sind, die aus der Art herausfallen; das sind unartige Pflaumen. Erst wenn wir uns ein Gefühl aneignen, daß solche Wandlungen stattfinden, dann verstehen wir anderes, was seine Wandlung nicht so auffällig an der Stirne trägt. Zum Beispiel unser heutiges Wort schwierig. Sie wissen, mit welcher Empfindungsnuance

64

man es gebraucht. Früher gebrauchte man es nur, wenn man sich be­wußt war, daß man sagen wollte: voller Schwären, voller Geschwüre. Also, wenn man eine Sache schwierig fand, so wollte man damit die Empfindung ausdrücken: dieses Verrichten bewirkt Geschwüre. Sehr anschaulich und lebendig drückt man das aus, und dies hängt zusam­men mit dem Ausdruck schwierig.

Solche Dinge, die ganz aus der gegenwärtigen Empfindungsnuance herausgefallen sind und die beweisen, wie unrecht man hat, wenn man als Pedant an die Sprachbeurteilung herangeht und ableiten will, ohne daß man die Tatsachen der Sprachmetamorphosen kennt, die können sich auch in der Mundart zeigen. Wenn man jemandem ein Mittags-mahl vorsetzt, das viele Gänge hat, so kann man ihm heute sagen: er solle von dieser Speise nicht zuviel essen, denn es gäbe noch andere Speisen, für die er sich Appetit bewahren soll. Man kann heute sagen:

Bitte, essen Sie nicht zuviel, es kommt noch anderes Gutes nach. -Es gibt aber noch eine gewisse Gegend des deutschen Sprachgebietes, wo gesagt werden kann: Iß von dieser Speise nicht zuviel, es gibt noch etwas hintenauf. Eine andere Mundart hat die Möglichkeit, zu sagen:

Ach, das sind gute, liebe Kinder, die schlachten sich. Das heißt: sie sind nicht aus der Art geschlagen, sie sind gutartig, sie schlachten sich. Gerade solch ein Beispiel, wie: das sind gutartige Kinder, die schlachten sich, das weist uns auf das lebendige Zusammenleben zwischen Emp­findung und äußerer Anschauung im Sprachgefühl.

Das tritt einem manchmal als etwas außerordentlich Wichtiges entgegen. Sie haben bei Goethe eine Stelle im Gespräch, die er in spä­teren Jahren zur Charakterisierung seiner Arbeit am «Faust» gebraucht hat. Diese Stelle hat bei den «Faust»-Kommentatoren eine außerordent­lich große Rolle gespielt. Goethe sagt einmal als ganz alter Mann, um die Arbeit an seinem Faust zu charakterisieren, es sei doch etwas, wenn seit über sechzig Jahren die Konzeption des «Faust» bei ihm jugendlich von vorne herein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger ausführlich vorlag. Viele «Faust»-Kommentatoren haben daraus geschlossen, daß Goethe schon als junger Mensch einen «Faust»-Plan hatte, daß ihm die Konzeption zu einem «Faust» von vornherein klar war, und daß das Spätere nur eine Art Ausführung sei. Und vieles Unnötige und Unwahre

65

mit Bezug auf die Charakteristik seiner Arbeit am «Faust» ist aus der Interpretation dieser Stelle gekommen. Diese Stelle kann erst richtig verstanden werden, seit Fresenius veröffentlicht hat, welche Bedeutung bei Goethe der Silbenzusammenhang von vorne herein hat. Mir trat dies besonders nahe, weil ich mit Fresenius arbeitete. Der kam, wenn er irgend etwas hatte, Jahrzehnte nicht zur Verarbeitung dieser Sache. Daher drängte ich ihn, daß er das veröffentliche, weil das sehr wichtig sei, was er da zu sagen hatte. Man kann die Stellen, an denen Goethe das Wort von vorne herein gebraucht hat, zusammennehmen:

er gebraucht es nie anders als räumlich. Wenn er sagt, er habe ein Buch von vorne herein gelesen, so bedeutet das nichts anderes, als daß er nur die ersten Seiten des Buches gelesen hat. Und so kann man klar nach­weisen, daß er nur die ersten Szenen des «Faust» in der Jugend klar konzipiert hat. Also hier deutet einfach das richtige Verständnis des Wortgebrauches auf die Arbeit Goethes hin, und Sie sehen gerade bei diesem Wortgebrauch, daß bei uns abstrakt geworden ist, was bei ihm räumlich angeschaut ist. Den Ausdruck von vorne herein gebraucht er immer anschaulich, räumlich. So beruht sogar ein großer Teil desjeni­gen, was Goethe so anziehend macht, auf diesem seinem Zurückgehen zu den Qualitäten des ursprünglich sprachschöpferischen Genius. Und man kann, wenn man von Goethes Sprache aus in Goethes Seele vor­zudringen sucht - während heute die Forscher das nur materialistisch machen -, auch da wichtige Anhaltspunkte für eine Entmaterialisie­rung der Sprachwissenschaft finden. Es ist gut, wenn man sich bei sol­chen Dingen auch Rat holt.

Wir haben für vieles nicht mehr jene Sprachzusammenhänge, die das ursprüngliche Zusammengehören von Empfindungsnuancen und Lautbeständen zum Ausdruck bringen. Die Dialekte haben es noch manchmal; sie haben auch das, wodurch das Anschauliche zum Aus­druck kommt. So zum Beispiel finden Sie, weniger schon in der Schrift­sprache, aber oft im Dialekt da oder dort den Ausdruck: unter den Arm greifen. Das heißt einfach, jemandem, der hilflos ist, helfen. War­um? Weil die jüngeren Leute den älteren, die nicht mehr so flott gehen können, die Hand boten, ihnen unter den Arm griffen und sie stützten. Dieser ganz anschauliche Vorgang ist übertragen worden auf Hilfeleistung

66

überhaupt. Geradeso wie man gesagt hat, man wischt sich den Nachtschlaf aus den Augen, so hat man für das Helfen einen einzelnen konkreten Vorgang gewählt, durch den man das Abstraktere anschau­lich ausdrückte. Manchmal war dann der Sprachgenius nicht mehr in der Lage, am Anschaulichen festzuhalten; dann hat er zuweilen auf der einen Seite das Anschauliche festgehalten, auf der anderen es abge­worfen. - Sie haben heute noch das Wort lauschen für eine gewisse Art des Zuhörens. Der österreichische Dialekt hat auch für das bloße Horen ein Wort, das noch mit diesem Lauschen verwandt ist: losen, und man sagt in Österreich nicht bloß zu jemandem, von dem man will, daß er zuhört: hör einmal, sondern los amol! Das Losen ist ein schwaches aktives Lauschen. Die gebildete Umgangssprache hat lau­schen beibehalten. Losen ist das Verwandte, das mit der Empfindungs-nuance einer schwächeren Aktivität darauf deutet. Im losen kann man noch das Schleichende spüren, das im verborgenen Zuhören sich äußert; und in gewisser Weise ist sogar das Losen schon übergegangen auf ein unerlaubtes Zuhören. Wenn zum Beispiel einer durchs Schlüsselloch etwas erlauscht, oder wenn einer zuhört bei etwas, wo zwei sich unter­halten, was nicht für ihn bestimmt ist, dann sagt man, er habe gelost.

Erst wenn man eine Empfindung hat für das Empfindungsgemäße solcher Lautbestände, kann man allmählich übergehen, die Empfin­dung für die elementaren Laute, die Vokale und Konsonanten, zu ent­wickeln. So gibt es im österreichischen Dialekt ein Wort, das heißt:

Ahnl; es ist die Großmutter, die Ahnl. Sie kennen es doch wohl? Die Ahnfrau ist etwas allgemeiner. Die Ahnl, da haben Sie die Ahne mit einem l verbunden. Es ist einfach der Ahn mit einem l verbunden. Um das zu verstehen, was da eigentlich sprachlich vorliegt, muß man sich sprachlich aufschwingen, dieses l als Konsonant zu fühlen. Sie fühlen es, wenn Sie die Nachsilbe lich fühlen, von der ich gesagt habe, daß sie aus leik entstanden ist. Es hat etwas zu tun mit dem Gefühl, daß sich etwas herumbewegt, daß man in der Sprache nachzuahmen hat das sich Herumbewegende. Eine Ahnl ist eine Person, die man anschaut als eine Alte, die aber den Eindruck macht einer beweglichen Alten:

man muß so im Gesicht herumschauen, damit man die Falten sieht. So sehen Sie, wie charakteristisch das l angewandt ist.

67

Nehmen Sie das Wort schwinden. Schwinden, hingehen, so daß es nicht mehr gesehen wird; etwas hingehen machen, indem es nicht mehr gesehen wird. Nehmen Sie nun einmal nicht ein Hingehen machen, daß es nicht mehr gesehen wird, sondern: Ich will so ein bißchen mo­geln beim Hingehen machen; ich will etwas bilden, das doch wieder dableibt, was also nicht ausdrückt das wahre, wirkliche Schwinden:

dann fühle ich das Sich-Herumbewegen - hier ein l -, und es wird schwindeln daraus. Das hat das l gemacht, und Sie können genau füh­len, welchen Empfindungswert ein solches l hat, wenn Sie von schwin­den auf schwindeln übergehen. Sie werden die Eurythmie als etwas Selbstverständliches fühlen, wenn Sie sich in solche Dinge vertiefen. Sie werden fühlen, wie in der Eurythmie zurückgegangen wird auf ein ursprüngliches Verwandtsein des Menschen mit dem, was in den Laut-beständen enthalten ist, das ohne den Lautbestand, eben nur durch die Bewegung, zum Ausdruck gebracht werden soll. Sie werden, wenn Sie so etwas fühlen, auch genau empfinden können, wie zum Beispiel in einem Vokal wie u etwas Zusammenschmiegendes, Zusammenschlie­ßendes enthalten ist. Sehen Sie sich das u der Eurythmie an, dann haben Sie dieses Zusammenschmiegende, Zusammenschließende, und dann werden Sie sagen: in Mutter, mit der man sich gewöhnlich zusammen-schließt, kann an erster Stelle unmöglich ein a stehen oder e stehen. Man könnte sich nicht denken, daß man da Metter oder Matter sagt. Mater bezeugt eben, daß es eine schon abgeschwächte Sprache ist, in der das vorkommt; ursprünglich heißt es Mutter.

Ich habe Sie durch das alles auf den Weg des sprachlichen Genius gewiesen, der, wie ich schon einmal sagte, eine Kluft aufrichtete zwi­schen dem Lautbestand und der Vorstellung. Beide sind ursprünglich im subjektiven menschlichen Erleben innig miteinander verbunden; sie trennen sich. Der Lautbestand geht hinunter ins Unterbewußte; der Vorstellungsbestand geht hinauf ins Bewußte. Und viele Dinge, die noch empfunden werden da, wo man ursprünglich mit den äußeren Tatsachen zusammenlebt, werden damit abgeworfen. Und gehen wir zurück in der Sprachentwickelung, dann finden wir überhaupt das Merkwürdige, daß uns die ursprünglichen Formen der Sprachent­wickelung ganz hinausführen in das Tatsächliche; daß ein feiner Tatsachen- und Wirklichkeitssinn

68

auf den primitiven Stufen der Sprachbil­dung vorhanden ist; daß die Leute, die auf dieser Stufe leben, mit dem, was in den Dingen ist und vorgeht, innig zusammenleben. In dem Augen­blick, wo dieses innere Zusammenleben aufhört, vernebelt sich gewisser­maßen der Wirklichkeitssinn, und die Leute leben in einem Unwirkli­chen, was in der Sprache zum Ausdruck kommt. In der ursprünglichen indogermanischen Sprache haben Sie, wie im Lateinischen, drei Ge­schlechter, wie auch wir im Deutschen noch drei Geschlechter haben. Man empfindet sie als etwas Verschiedenes: männlich, weiblich, säch­lich. Im Französischen haben Sie nur noch zwei Geschlechter, im Engli­schen haben Sie nur noch ein einziges Geschlecht, was bezeugt, daß das eine Sprache ist, die als Sprache den Wirklichkeitssinn, man möchte sa­gen, grandios abgestreift hat, die nur mehr über den Dingen schwebt, aber nicht in den Tatsachen darinnen lebt. Es war noch etwas elementar Hellseherisches auf derjenigen Stufe der Menschheitsentwickelung, auf der die Geschlechter für das Wort gebildet wurden; man empfand da noch etwas Lebendig-Geistiges in den Dingen drinnen. So hätte niemals in den älteren Sprachformen der indogermanischen Sprachen der Sonne und die Mond entstehen können - was später nur umgewendet worden ist in die Sonne und der Mond -, wenn man nicht die elementarischen Wesenheiten, die in Sonne und Mond leben, empfunden hätte wie Bru­der und Schwester. Im Altertum hat man empfunden: die Sonne ist der Bruder, der Mond die Schwester - heute ist es an der Zeit, wo man umgekehrt verfährt -; man hat den Tag als den Sohn und die Nacht als die Tochter des Riesen Norwi empfunden. Das beruhte durchaus auf primitiver heliseherischer Anschauung. Die Erde hat man nicht so empfunden, wie die heutigen Geologen sie empfinden; die haben natürlich alle Veranlassung, ein Neutrum zu gebrauchen: das Erde müßten sie eigentlich sagen. Der heutige Mensch empfindet nicht mehr, wie die Erde tatsächlich die Gäa ist, zu der das Männliche der Uranos ist. Das aber empfand man auch noch in den Gegenden, in denen die germanische Sprache ursprünglich sprachbildend aufgetreten ist. -Sonst waren es wenigstens Empfindungsnuancen, die aus dem Zusam­menleben in der Außenwelt sich ergaben, die zu der Geschlechtsbe­zeichnung, zu der Geschlechtscharakteristik den Anlaß gaben. So empfand

69

man den Elefanten als stark, die Maus als schwach. Weil man den Mann als stark und das Weib als schwach empfunden hat, hat der Ele­fant das männliche Geschlecht bekommen und die Maus das weibliche Geschlecht. Die Bäume des Waldes sind zumeist weiblich, weil sie für das ursprüngliche Empfinden die Häuser, die Sitze für weibliche Gott­heiten waren. Daß ein sächliches Geschlecht neben dem männlichen und weiblichen vorhanden ist, das ist eigentlich von ungeheurer Be­deutung, weil es auf etwas sehr Tiefes im Sprachgenius verweist. Wir sagen: der Mann, die Frau, das Kind. Das Kind, bei dem das Geschlecht noch nicht ausgesprochen ist, was noch nicht sein Endgültiges ist, was erst wird. Als das sächliche Geschlecht gegeben worden ist, ging es aus jener Stimmung beim Volksgenius hervor, wo man empfand, daß alles, was man als sächlich bezeichnet, erst etwas wird. Das Gold hat heute noch nicht das Charakteristikum, das ihm einstmals eigen sein wird. Es ist im Kosmos noch jung; es wird erst das sein, wozu es be­stimmt ist. Daher sagt man nicht der Gold, nicht die Gold, sondern das Gold. - Man kann nun wiederum studieren, wie es sich damit ver­hält, wenn die Anschauung, aus der die Geschlechtscharakteristik her­vorgegangen ist, schwindet. Wir sagen heute: die Mitgift, was deutlich beweist, daß es zusammenhängt mit einem früheren Wort, wie es auch der Fall ist: die Gift. Wir sagen heute der Abscheu, was deutlich be­weist, wie es auch der Fall ist, daß es zurückführt auf ein Wort: der Scheu. Der Scheu, die Gift, diese Worte haben ihre Empfindungs-nuance gewandelt. Die Gift wurde früher einfach so bezeichnet, daß man mehr meinte: das Gleichgültige des Gebens. Aber weil vorzugs­weise das, was gewisse Leute gegeben haben und was nach Fausts An­schauung vielen Leuten schädlich war, in seiner Bedeutung, die sich gewandelt hat, angewendet worden ist auf eine Gabe, die anrüchig ist, verlor man den Zusammenhang mit der ursprünglichen Geschlechts-charakteristik, und es wurde das Gift. Und als das ursprüngliche starke Empfinden, das einer hatte, den man scheu nannte, das In-sich­Gefestigte, als das schwach wurde, da durfte das Wort die Scheu werden.

Wie die Sprache abstrakter geworden ist, wie die Sprache sich her-ausgelöst hat aus dem Verwobensein mit der äußeren Wirklichkeit,

70

das kann man am besten daran sehen, daß doch die indogermanischen Sprachen, also die alten Sprachen, acht Fälle hatten: Nominativ, Ge­nitiv, Dativ, Akkusativ, Vokativ, Ablativ, Lokativ, Instrumentalis. Das heißt, man drückte nicht nur die Stellung aus, die ein Ding hatte und die man heute empfindet, wenn man es im ersten, zweiten, dritten, vierten Fall ausdrückt, sondern man wußte auch andere Zusammen-hänge mit der Empfindung zu verfolgen. So zum Beispiel: irgend etwas tun zu einer bestimmten Zeit - kann man so ausdrücken wie heute; man sagt, man tut es diesen Tag oder dieses Tages, man kann den Geni­tiv oder Akkusativ gebrauchen. Doch man empfindet nicht mehr das Helfende des Tages dabei, der Tageszeit und gerade dieses bestimm­ten Tages; man empfindet nicht mehr, daß, was man zum Beispiel am 2. Januar 1920 tut, man nicht mehr später tun könnte, daß einem die Zeit etwas Helfendes ist, daß die Zeit in etwas drinnensteckt, was einem hilft. Das empfand man in alten Zeiten, und man gebrauchte den instrumentalen Fall hiu tagu. Man müßte sagen etwa durch diesen Tag, vermittelst dieses Tages. Es ist zum Worte heute geworden. Heute, da steckt also ein alter Instrumentalis drinnen. Ebenso hiu jaru: es ist zum heutigen heuer geworden. Aber die Sprache hat nach und nach diese anderen vier Fälle abgeworfen und hat nur noch vier Fälle zu­rückbehalten. Daraus sehen Sie auch, wie das Abstrahierungsvermögen der Sprache fortschreitet, und wie wir, wenn wir uns diese Beispiele vor Augen führen, eben deutlich sehen können, wie allmählich sich das abstrakte Denkvermögen und damit ein gewisser Unwirklichkeits­sinn herausgestaltet aus dem alten Wirklichkeitssinn, der in der Spra­che zum Ausdruck kommt.

71

SECHSTER VORTRAG Stuttgart, 3. Januar 1920

Ich glaube, an einigen charakteristischen Beispielen Ihnen einiges aus der Sprachentwickelung gezeigt zu haben, so daß Sie gewisserrnaßen aus diesen Beispielen heraus den inneren Gang des sprachbildenden Genius durchschauen können. Es wird notwendig sein, wenn Sie durch die Spracherscheinungen und ihre Entwickelungen sich durchfinden wollen, daß Sie leitende Richtlinien aus solchen charakteristischen Er­scheinungen heraus verstehen. Selbstverständlich konnte ich Ihnen nur einiges andeuten und werde auch heute nur, die Grundlagen dieser Betrachtungen zusammenfassend, Ihnen eine Hauptrichtlinie zeigen können. Wir werden hoffentlich in ganz naher Zukunft diese Betrach­tungen hier fortsetzen können. Dasjenige, was Sie hauptsächlich durch unsere Betrachtungen haben sehen können, das ist ja wohl, daß auf den primitiven Stufen sprachlicher Entwickelung die Menschen inner­lich empfänglich sind, innerlich belebt sind für den Zusammenklang von Laut und Sache. Ob nun diese Sache eine Empfindung ist oder ein äußerer Vorgang, ein äußeres Ding, eine äußere Tatsache: wenn es sich darum handelt, Laute zu bilden für Empfindungen, die der Mensch an Äußerem hat, dann werden die Laute vokalisch im weite­sten Sinne gebildet. Vokalisch bedeutet bei der Sprache alles innerlich Gebildete, alles das, was innerlich empfunden wird und aus jenem gefühlsmäßigen, willensmäßigen Elemente heraus, das in der Emp­findung gegeben ist, sich in den Laut hineindrängt. In allen Selbst­lauten, in allen vokalischen Bildungen haben wir daher gewissermaßen die in den Kehlkopf hineingestoßenen Gefühle und Willensimpulse zu sehen, die der Mensch an der Außenwelt empfindet. An allem Konso­nantischen haben wir zu sehen, was der Mensch an Gebärden nach-bildet dem, was er in der Außenwelt wahrnimmt.

Nehmen wir zum Beispiel an, der Mensch will einen Winkel aus­drücken, so hat er diesen Winkel zunächst als Anschauung vor sich. Würde er mit seiner Hand die Schenkel dieses Winkels verfolgen, so würde er es so machen (Gebärde). Dieselbe Bewegung, die er so mit

72

der Hand macht, macht er in Wirklichkeit, wenn er gewisse Konso­nanten ausbildet, mit den Sprachwerkzeugen. Die Sprache ist in dieser Beziehung nur der hörbare Ausdruck von Gebärden, die nur nicht äußerlich mit den Gliedern gemacht werden, sondern die mit viel fei­neren Teilen der menschlichen Organisation, mit dem dem Menschen zur Verfügung stehenden Luftorganismus gebildet werden. Wenn Sie diese innere Gesetzmäßigkeit nehmen, dann werden Sie sich allmählich überhaupt eine Anschauung darüber bilden, wie die Sprache entweder direkt die äußere Welt nachahmt, oder wie sie Nachahmung desjenigen ist, was der Mensch mit der äußeren Welt empfindungsgemäß erlebt.

Nehmen wir zum Beispiel an: der Mensch steht zwei Tatbeständen gegenüber, die so an ihn herantreten, daß er das eine und das andere tun kann. Da wird er zunächst instinktmäßig ins Nachdenken ge­bracht, wie er das eine oder das andere tun kann. Ist der Mensch noch mehr oder weniger - was ja alle Menschen auf primitiver Entwicke­lungsstufe der Sprachentwickelung sind - ein «Nachahmungstier», so geht die Beziehung, in die er zu der äußeren Welt kommt, noch in die äußere gliedliche Gebärde über. Er macht es so (die Gebärde wird ge­zeigt): Er macht den Entscheid zwischen seiner rechten Hälfte und seiner linken Hälfte; das heißt, er drückt dadurch aus, daß er innerlich sich in zwei spaltet, weil zwei äußere Tatsachenbestände an ihn her-antreten. Er spaltet sich innerlich in zwei Teile, um abzuwägen, wohin das stärkere Gewicht in seinem Denken neigt. Also, er macht es so (Gebärde): er scheidet, entscheidet oder teilt auch. Und natürlich, wenn er zu einem günstigen Entschließen kommen soll, dann muß er möglichst weit zurückgehen: daher teilt er nicht nur sich, sondern er ur-teilt sich, und Sie haben das Wort Urteil durchaus zu begreifen als eine innerlich ins Lautliche umgesetzte Gebärde. So ist alle konsonan­tische Bildung Gebärdenbildung, die sich eben nur metamorphosiert hat in einen Lautbestand.

Was da zugrunde liegt, das kann in dem ganzen Gang der Sprach-entwickelung verfolgt werden. Zuerst ist der Mensch ein Wesen, das mehr in der Außenwelt lebt, er wird nach und nach erst ein inner­liches Wesen; er lebt zunächst in der Außenwelt. Er lebt mit den Din­gen besonders in jenen Zeiten, wo noch das ursprüngliche, primitive

73

Hellsehen vorhanden ist. In den Zeiten dieses ganz ursprünglichen, primitiven Hellsehens, da denkt der Mensch nicht viel an sich; er hat auch nicht eine bestimmte Anschauung von sich, sondern er weiß, daß es allerlei Gespenster, allerlei Elementargeister gibt, die er in dem wahrnimmt, was wir jetzt äußerlich Dinge nennen; aber er sieht auch in sich selbst noch ein Elementarwesen. Du, sagt er sich, bist durch Vater und Mutter in die Welt hereingezogen. Er objektiviert sich noch selber. Daher werden wir finden, daß der sprachbildende Genius auf ersten sprachbildenden Stufen zunächst hauptsächlich konsonantisch wirkt, und die primitiven Sprachen werden hauptsächlich konsonan­tische Sprachen sein, weil dem primitiven Menschen die Innerlichkeit noch fehlt. Primitive Völker, die also stehengeblieben sind auf diesen ursprünglichen Stufen, die haben daher reichlich konsonantische Bil­dung in ihrer Sprache, konsonantische Laute, die sehr deutlich das Element der Nachahmung äußerer Tatbestände zeigen. Solche Schnal­zer zum Beispiel, wo direkt durch die menschlichen Sprachorgane etwas zustande kommt wie schwere Peitschenknalle und dergleichen, wie sie gewisse afrikanische Völker noch hervorbringen, die hören später wiederum auf, wenn der Mensch mehr sein empfindungsgemäßes innerliches Element in den Lautbeständen offenbart. So daß eine erste Stufe in den konsonantischen Bildungen gesehen werden muß. Eine zweite Stufe wird dann gesehen werden müssen in den vokalischen Bil­dungen. Aber diejenige Innerlichkeit, die in diesen vokalischen Bildun­gen uns entgegentritt, die ist eben ein Durchgangsmoment, und wenn dann wiederum in bezug auf den sprachlichen Genius Alterserschei­nungen eintreten, dann hört die vokalisierende Kraft wiederum auf, und die Kraft, konsonantisch zu bilden, tritt ein.

Es geht also eigentlich der Gang, den der Mensch bei der Sprach-entwickelung nimmt, von außen nach innen und wiederum von innen nach außen. Das aber, was man so an dem Lautbestand direkt beob­achten kann, das ist für die ganze Sprachbildung ein durchgreifend Wesenhaftes. Es ist das so sehr ein durchgreifend Wesenhaftes, daß wir in allen Formen des Sprachlichen es wieder antreffen. Wir treffen überall erst eine Stufe der Sprachentwickelung, wo gewissermaßen der Mensch noch selbstlos, unbewußt schafft an seiner Sprache; da

74

hat er noch den Trieb, das eine Wort, welches das eine bezeichnet, äußerlich an das andere anzusetzen. Aber auf dieser Stufe ist der Mensch zugleich ein sehr lebendiges Wesen. Indem der Mensch sich später verinnerlicht und vergeistigt, geht ihm ja ein Stück von dieser primitiven Lebendigkeit verloren; er wird innerlicher, unlebendiger, eben abstrakter, und er hat nicht die Kraft, dasjenige, was für ihn äußere Anschauung ist, später hineinzugießen in das Wort selbst: er setzt es mehr an. - Wir können solche Erscheinungen studieren, und sie an charakteristischen Beispielen zu verfolgen, ist außerordentlich interessant. Wenn Sie zum Beispiel noch im Althochdeutschen haben salbom, ich salbe, dann können Sie durch alle Persönlichkeitsbezeich­nungen hindurchgehen: salbom: ich salbe, salbos: du salbst, salbot: er salbt, salbomes: wir salben, salbot: ihr salbet, salbont: sie salben. In diesen sechs Worten, durch die also das salben konjugiert wird, haben Sie immer das salbo als das, was zum eigentlichen Verbum, zu der Tätigkeit gehört. Dasjenige, was darangefügt ist, haben Sie immer als das anzusehen, was am Worte macht, daß die Persönlichkeitsbezeich­nung da ist: also für ich: m, für du: s, für er: t, für wir: mes, für ihr: t, für sie: nt. Daß diese Endlautbestände in den Worten noch selber drin­nen sind, das ist in der folgenden Weise zu verstehen. Erstens die Ge­gensätzlichkeiten ich, du, er, wir, ihr, sie treten in einer solchen primi­tiven Stufe, wie die, mit der wir es da zu tun haben, so auf, daß sie der Mensch sehr äußerlich ansieht: er fügt sie zu demjenigen, was die Tätig­keit ausdrückt, hinzu. Aber er ist doch innerlich lebendig, er verbindet sie lebendig mit der Bezeichnung für die Tätigkeit. Also dieses Zwei­fache ist dabei zu berücksichtigen: erstens die Hinlenkung auf das Äußere; zweitens das Hinzufügen an die innere lebendige Umbilde­kraft des hauptsächlichen Wortes selbst. Daß nicht etwa ursprünglich bloß im Tätigkeitsworte wie ein organischer Teil, also schon etwas verinnerlicht, das ich, du, er, sie, es empfunden wurde, das können Sie daraus ersehen, daß diese einfach mit dem hauptsächlichsten Worte zusammengeleimten Bezeichnungen in dem verwandten Sanskrit durch­aus als selbständige Bezeichnungen für ich, du, er, sie, es vorhanden sind. Denn das m, das Sie da im Althochdeutschen haben, das ist nur das metamorphosierte mi: ich des Sanskrit; das s ist das metamorphosierte

75

si: du des Sanskrit; t = ti: er, sie, es; mes = das metamorphosierte masi: wir des Sanskrit; das t = das metamorphosierte tasi: ihr; nt = das nur etwas flüchtig gesprochene anti: sie des Sanskrit. Sie sehen also am Sanskrit noch, daß es sich nicht etwa darum handelt, daß man das Haupttätigkeitswort innerlich bloß biegt und dann an der Biegung die Persönlichkeitsbezeichnung empfindet, nein, man hat in der Anschau­ung die Persönlichkeitsbezeichnung. Man ist innerlich lebendig genug, diese Persönlichkeitsbezeichnung hineinzuorganisieren in den Lautbe­stand, der das Hauptsächlichste ausdrückt. Das ist ein wichtiger Un­terschied; denn Sie könnten leicht glauben, auf diesen primitiven Stu­fen wäre hauptsächlich ein innerliches Biegen der Worte vorhanden. Nein, das ist es nicht: es ist eine innerliche Lebendigkeit, um beide Be­standteile miteinander zu verknüpfen. Also die Tätigkeit ist als solche eine konsonantische Tätigkeit, nicht eine vokalisierende Tätigkeit. Wenn dann eine Sprache wie die lateinische auf die Stufe kommt, daß sie im inneren Organismus des Lautbestandes selbst die Persönlichkeits­bezeichnung empfindet, dann ist das eben schon eine Stufe, die einer größeren Innerlichkeit des betreffenden Sprachgenius entspricht. So rankt sich der Sprachgenius hinauf aus der Äußerlichkeit in die Inner­lichkeit; und er macht das so, daß er zunächst hinten anhängt, was er als äußere Tatsache wahrnimmt: salbom: ich salbe; salbos: du salbst! So wie man auf primitiveren Stufen nicht sagt Karl Meyer, sondern der Meyer-Karl, so war es auch da; was spezifiziert, das fügt man hinten an. So ist es auch hier nicht anders, als daß das Spezifizierte, das durch die Persönlichkeitsbezeichnung Spezifizierte hinten angefügt wird.

Gerade der Weg, diese Bezeichnung hinten wegzunehmen und sie selbständig vorne hinzuzufügen, das ist der Weg zur äußersten Verinner­lichung, zu jener Verinnerlichung, die dann das Innere geistig abstrakt wahrnimmt. Da sondert man die Person also ab und stellt sie vorne hin. Und sie können an der Sprache etwas Wichtiges ablesen, Sie können zurückgehen auf die primitiven Formen des sprachbildenden Genius, wo dieser eigentlich vom Ich und Du, getrennt von den äußeren Din­gen, nichts weiß, wo er also noch in das Wort hineindrängt dasjenige, was er über dieses Ich und Du zu sagen hat. Dann findet er es im Worte selbst darinnen - eine Sprache auf dieser Stufe ist die lateinische -, und

76

dann holt er es heraus, kommt zur Selbstschau, kommt zum Egoismus und stellt das Ich und Du vorne hin. Dieses Egoistischwerden, dieses Zur-Selbstschau-Kommen, das ist im Grunde genommen dasjenige, was sich klar abspiegelt in der Sprachentwickelung. Man kann sagen, das «Erkenne dich selbst» in einer gewissen unterbewußten Stufe, das ist durchgeführt worden in der Nachfolge des apollinischen Spruches:

«Erkenne dich selbst» durch die nachfolgende abendländische Sprach-entwickelung, die dann überall die Persönlichkeitsbezeichnungen her-ausgeholt hat aus den Wortbeständen, welche noch Ausdruck waren für das Innerliche, die aber nicht auch innerlich sich vollständig los-gelöst hatten. Sie werden eben die Sprachen nicht studieren können, wenn Sie nicht das befolgen, was ich schon gestern sagte: wenn Sie sie nicht als Ausdruck der seelischen Entwickelung betrachten.

Sehen Sie, an der noch lebenden Sprache können Sie die Überreste, ich möchte sagen, der vokalisierenden und konsonantisierenden Macht noch durchaus verfolgen. In den Verben, in den Tätigkeitswörtern liegt etwas, wodurch sie einen mehr vokalisierenden Charakter überhaupt haben, wodurch bei ihnen das Vokalische die Hauptsache ist. Sie brau­chen nur eine geringfügige Überlegung, dann werden Sie sich sagen können: Bei jenen Verben, Tätigkeitswörtern, wird das Vokalisierende, das innerlich Empfindende die Hauptsache sein, welche etwas aus­drücken, worin der Mensch sich gewissermaßen hineinlebt, womit er sich verbindet. Sehen Sie, es ist ein Unterschied zwischen jener inneren Verfassung, in der Ihre Seele jetzt ist, und der, in welcher Ihre Seele vor nicht langer Zeit war. Jetzt sitzen Sie, und Sie sitzen schon eine ganze Weile. Das, was dieses Sitzen ausdrückt, mit dem haben Sie sich verbunden, das ist etwas sehr innerlich mit Ihnen Verbundenes, dieses Sitzen. Daß Sie zu diesem Sitzen gekommen sind, ist dadurch gesche­hen, daß Sie sich zuerst gesetzt haben: mit diesem Setzen sind Sie we­niger innerlich verbunden, es ist Ihnen mehr äußerlich. Sie können sich nicht eine halbe Stunde lang setzen, weil Sie sich nicht mit dem Setzen so innig verbinden können; aber Sie können eine halbe Stunde und noch länger sitzen, weil Sie sich mit dem Sitzen eben innerlich verbinden können. Es ist richtig so, daß der Lautbestand für Sitzen von Ihnen vokalisierend empfunden werden muß, für Setzen mehr sich veräußerlichend,

77

konsonantisierend empfunden werden muß. Wenn Sie aber vokalisierend empfinden, dann werden Sie auch aus dem sprach­bildenden Genius heraus die innerliche Kraft haben zu vokalisieren, und Sie werden vokalisieren, indem Sie das Wort verschieden anwen­den: sitzen, saß, gesessen. Bei der konsonantisierenden Tätigkeit, die Sie ausüben, und die sich ausdrückt durch Setzen, werden Sie eben konsonantisierend sein und werden nicht setzen irgendwie vielleicht als satzen oder so etwas bilden, sondern Sie müssen ein Äußerliches abbilden, und das tun Sie dadurch, daß Sie setzen sagen. Und wenn Sie jetzt ausdrücken wollen, daß das vor einiger Zeit war, so sagen Sie:

setzentat: Sie tun sich setzen, und das wird in Metamorphose setzte; denn das te ist das metamorphosierte tat. Bei Leuten, welche heute noch etwas von solcher sprachbildenden Kraft in sich haben, wird in solchen Fällen noch konsonantisiert, es ist ein übertragenes Konsonantisieren. Aber solche Menschen müssen dann auf einer primitiveren Bildungs­stufe gegenüber der Allgemeinheit stehen. Solche Menschen haben heute noch immer das Zeug in sich, möglichst wenig zu vokalisieren, und um so mehr das äußerlich Tätige, den äußeren Bestand nachzuahmen in den Lautbeständen, die sie durch Zusammenfügen, Zusammenleimen mit dem Tun ausdrücken. Sie können das sehen, wenn zum Beispiel ein etwas primitiverer Landwirt, der eine Ehre darein gesetzt hatte, seinen Sohn an der Universität studieren zu lassen, zu folgender Äußerung kam: Er wurde gefragt, was sein Sohn auf der Universität mache. Der Sohn hatte zunächst die primitiveren Erbschaftsdinge weniger dazu benützt, um sich in das abstrakt Geistige des Universitätslebens zu ver­tiefen, sondern mehr dazu, in den Äußerlichkeiten desselben aufzu-gehen. Und so sagte der Vater, als er gefragt wurde, was sein Sohn auf der Universität mache: Spazierengehen tut er, bummeln tut er, saufen tut er, Allotria tun tut er, aber tun tut er nichts!

Da ist ein starkes Fühlen der Innerlichkeit in demjenigen, was in das sprachbildende Tätigkeitswort übergeht. Sie werden bei jenen Lautbeständen, die heute noch ihren Charakter, namentlich ihren Be­deutungscharakter erhalten haben, immer fühlen, wie das, was, wie man sagt, ablautet, was also vokalisierend den Laut in sich ändert beim Konjugieren, dasjenige ausdrückt, womit sich der Mensch innerlich

78

mehr verbindet. Dagegen wird er bei allem, was innerlich gebildet wird, was aber dasjenige ausdrückt, womit sich der Mensch nicht so innerlich verbindet - was ihm also nicht ein Gefühltes wird, sondern ein bloß Angeschautes bleibt -, den Ablaut nicht entwickeln können. So, wenn Sie sagen: ich singe, ich sang, da haben Sie den Ablaut. Ganz anders, wenn Sie sagen: ich sen ge, brenne an. Senge, das Wort hat sei­nen Lautbestand dadurch, daß das Feuer singt. Ich senge = ich mache irgend etwas singen. Wenn Sie singen, so verbinden Sie sich innerlich mit dem, was Sie durch den Lautbestand zum Ausdruck bringen wollen; wenn Sie sengen, so verbinden Sie sich innerlich nicht damit; Sie schauen es an, indem Sie sich selbst äußerlich anschauen: daher wird es nicht ablauten, sondern bildet ich sen ge, ich sengte.

Wo Sie solche Dinge heute nicht mehr bemerken, da sind eben die Worte so stark metamorphosiert, daß es nicht mehr bemerkbar ist. Da muß man auf frühere Zeiten des Lautbestandes zurückgehen. Es ist wirklich außerordentlich bedeutsam, daß man dieses Leben des Menschen zuerst mit der Außenwelt, dann die Verinnerlichung und dann die nächste Stufe der Verinnerlichung, wo er auf das eigene In­nere mit dem Worte deutet - wie zum Beispiel in den persönlichen Für-wörtern-, daß man diese drei Stufen wirklich verfolgen kann. Und Sie werden sich das Verständnis der Sprachbildung ganz besonders er­leichtern, wenn Sie sich einlassen auf die Beobachtung dieser Richt­linie. Die Sprache wird wirklich dadurch zu einem Zusammenfluß des gedanklichen Elementes und des Willenselementes im Menschen, und sie erscheint auf ihrer primitiven Stufe so, daß da, wo der Laut noch sehr zusammenhängt mit dem Vorstellungsmäßigen, das Gedan­kenmäßige sogar schwer zu unterscheiden ist von dem Willensmäßigen. Unser jetziges Sprechen, namentlich unser hochdeutsches Sprechen, ist eigentlich schon etwas außerordentlich an den Willen Gebundenes. Wir sprechen mit dem Willen und lernen gewohnheitsmäßig den Willen anwenden, indem wir sprechen lernen; und wir begleiten dieses Spre­chen mit den Vorstellungen, die wir gewohnt worden sind mit jenen Willensäußerungen zu verbinden. Im Englischen ist es noch ganz an­ders, und daher ist für den, der solche Dinge beobachten kann, hoch-deutsch sprechen - die Dialekte sind ja dem Englischen noch ähnlicher

79

- eigentlich für den Unbefangenen eine ganz andere menschliche Tätigkeit als englisch sprechen. Englisch-Sprechen ist noch viel mehr eine Tätigkeit, wo im Sprechen, im Lautentwickeln selber gedacht wird, während das Hochdeutsch-Sprechen etwas ist, wo im Lautent­wickeln nicht gedacht wird, sondern das Denken als eine Parallel-erscheinung neben der Lautentwickelung einhergeht. Überhaupt, die westlichen Sprachen haben sich noch viel mehr bewahrt von diesem Zusammengehören, von diesem instinktmäßigen Zusammengehören von Laut und Vorstellung als die mitteleuropäischen Sprachen. Und daher haben auch die westeuropäischen Sprachen eine solch starre Form angenommen. Man kann kaum irgendwie etwas in den west­europäischen Sprachen formulieren, ohne daß einem gesagt wird: Das kann man nicht sagen, so drückt man sich nicht aus. - Das ist eine Sache, die es im Hochdeutschen so nicht gibt. Da kann man beinahe alles sagen: da kann man das Subjekt da hinstellen, dort hinstellen, denn der Gedanke geht mehr parallel mit dem Lautbestande als in den westlichen Sprachen. Nur indem wir an ältere Stufen unserer Sprach-bildung herankommen, kommen wir auch immer mehr und mehr zu einem strengen Verbundensein von Vorstellung und Lautbestand, und daher können wir an unseren älteren Stufen und Dialekten das stu­dieren, was bei den westlichen Sprachen heute noch immer als ein Ata­vismus vorhanden ist.

Wenn Sie von diesem Gesichtspunkte aus mit lebendigem Sprach­gefühl die Sprache studieren, führt Sie das zu gleicher Zeit tief hinein in das Wesen von Volksseelen. Nehmen Sie einmal an, wir haben ein Ob­jekt, einen Gegenstand vor uns. Wir bilden als primitive Menschen aus konsonantischem und vokalischem Elemente heraus den Lautbe­stand für diesen Gegenstand; also, sagen wir Wagen für das, was fort­fährt. Wenn wir denselben Gegenstand in der Mehrzahl vor uns ha­ben, also eine Anzahl von solchen Gegenständen, da bilden wir die Mehrzahl, indem wir sagen: die Wagen. Die Wagen ist zwar korrekt, aber eigentlich eine nicht im Organismus der Sprache gebildete Form, eine mehr der Schriftsprache angehörige Form. Warum bilden wir da den Umlaut? Wir haben uns den Lautbestand an dem Singular gebil­det. Da hat sich unser Bewußtsein in der Sprachbildung entzündet, da

80

hat es sich belebt, darauf waren wir aufmerksam. Wenn wir nun die Mehrzahl bilden, dann überschauen wir den Tatbestand weniger, dann haben wir das Bedürfnis, die Sache etwas nebuloser auszudrücken: wir trüben den Laut a in ä ab. So ist der ursprüngliche Lautbestand immer bei normal bewußtem Beobachten eines Tatbestandes oder einer Emp­findung gebildet. Dasjenige, was dann weniger beobachtet wird oder beobachtet werden kann, das wird durch eine Trübung angezeigt. Da­bei kommt es darauf an, daß man nur sieht, wie sich da etwas im Men­schen verschiebt. Der Dialekt sagt in vielen deutschen Gegenden nicht der Wagen, sondern der Wogn. Denn ist die normale Aufmerksamkeit beim Bilden des Lautbestandes so gewesen, daß ein o geantwortet hat, dann wird die Trübung nur so ausgedrückt, daß man sagt: die Woagn im Plural. Das können Sie bei einer ganzen Reihe von Erscheinungen verfolgen.

Nur auf das möchte ich Sie noch aufmerksam machen. Sehen Sie, auf Anschauung beruht vieles in der konsonantischen Sprachbildung früherer Zeiten; und vieles von dem, was da die Seele empfunden, in ihre Verfassung aufgenommen hat, das hat sich auch in primitiven Gemütern noch erhalten und kann da studiert werden. Aber diese An­schauung, als sie besonders lebendig war, war noch durchaus verknüpft mit einer Art primitiver Hellsichtigkeit, nicht bloß mit dem Schauen der äußeren Welt, das ein sinnliches ist. Da würden die stramm an­schaulichen Wortbezeichnungen, die wir Gott sei Dank doch noch er­halten haben, niemals herausgekommen sein. Nehmen wir ein Beispiel:

Ein ursprünglich empfindender Mensch, der noch - wenn auch noch so schwach - in der Sphäre des atavistischen Hellsehens drinnen war, der empfand, daß es bei dem Menschen in der Regel so ist, daß sein physischer Leib etwas in sich enthält, was wir heute den Ätherleib nennen; so daß also der primitive Mensch durchaus den Kopf (es wird gezeichnet) und - darüber hinausragend - den zweiten Kopf empfand. Den Kopf empfand er als den Ausdruck des Denkens. Man könnte da­her in einer Bezeichnung, die der unsrigen sehr verwandt ist, auch sa­gen: Die primitiven Menschen mit ursprünglichem Hellsehen bezeich­neten den Menschen vom Denken aus. Sie haben es im Worte manas als Mensch. Mensch ist ja dasselbe wie manas. Nun, das ist der Mensch,

81

wie er uns gewöhnlich begegnet. Doch wußte der atavistisch hellsehe­rische Mensch, daß man auch anderen Menschen begegnen kann, die -ich mache natürlich einen Scherz, den man nicht trivialisieren dürfte -diesen übersinnlichen Menschen nicht so schön philiströs mit dem sinn­lichen zusammengebunden haben, sondern die ihn irgendwie nicht ganz in den anderen Menschen hineinpassend haben. Da empfanden sie: dieser Ätherleib ist verrückt, was dann übertragen ist auf das ganze Wesen: der Mensch ist verrückt. Es ist ein rein äußerlicher Tatbestand -die Verrückung des Ätherleibes - ausgedrückt. Und gerade diese Art von Anschaulichkeit, die zurückführt auf eine Anschaulichkeit in Zei­ten, da man noch das Geistige beobachten konnte, die ist außerordent­lich interessant. Und würden es Menschen tun, würden die gelehrten Sprachforscher nicht so schlafen, daß sie eigentlich nur ganz äußerlich materialistisch verfahren und gar nicht eingehen auf das innere See­lische, das nur seinen äußeren Ausdruck findet im äußerlich Sprach-bildenden, so würden die Sprachwissenschaften von selbst zuerst in die Seelenwissenschaft und dann in die Geisteswissenschaft hinein-treiben können. Deshalb ist es so schade, daß unsere Sprachwissen­schaft so materialistisch geworden ist. Denn dadurch haben nicht ein­mal die jungen Leute Gelegenheit, an der Sprachbildung und ihrer Er­kenntnis das Wirken von Seele und Geist zu beobachten.

Ich glaube nun doch, daß denjenigen unter Ihnen, die Lehrer an der Waldorfschule sind, das, was ich gewissermaßen als die Richtlinien geben wollte durch Beispiele, auch schon jetzt nützlich sein kann, wenn Sie es in Ihre Seelenverfassung aufnehmen. Erstens dadurch, daß es Sie anregen wird, manches an der Sprache zu bemerken, was Sie beim Unterrichten, wenn Sie den Geist einer solchen Betrachtungsweise in sich aufnehmen, in der mannigfaltigsten Weise werden nutzbar machen können. Das kann durchaus zur Verwendung kommen zwischen Ihnen und Ihren Schülern, weil ja das Sprechen das verbindende Element des Unterrichts ist. Namentlich hilft man sich stark, wenn man selber versucht, in die Worte wiederum etwas von der ursprünglichen Emp­findungsstärke und Anschaulichkeit hineinzubringen: dadurch erzieht man sich zu einem lebendigeren Fühlen, als man es sonst entwickelt. Wir modernen Menschen gehen ja eigentlich ziemlich stark als lebendige

82

Leichname herum, und nicht zum geringsten aus dem Grunde, weil unsere Sprache so stark aus dem Herzen irgendwohin hinunter­gefallen ist. Sie ist zu einem unbewußten Willenselemente geworden. Wir fühlen den i und u und e und m nicht mehr an, was Seelisches in ihnen liegt; wir erziehen uns nicht dazu, Gleichlautendes auch mit seelisch gleichen Empfindungen zu durchdringen. Wir sind im Ver­stehen, im Begreifen abstrakt, wir sind aber auch im Sprechen ab­strakt. Für denjenigen, der ein recht lebendiges Sprachgefühl hat, für den ist vieles von dem, was die Menschen der Gegenwart sprechen, so, als wenn es der Ausdruck eines Phonographen wäre, dessen Platte aber vor uralter Zeit schon beschrieben worden ist. Wir müssen uns wieder­um mit der Sprache verbinden können. Allerdings, es wird dann eine Art Selbsterziehung so notwendig sein, daß wir innerlich hinhören, wenn wir sagen: rauh, und den Lautbestand rauh innerlich empfinden. Und wenn wir sagen, indem wir diese Figur wahrnehmen (es wird gezeichnet): das ist eine Raute, können wir rauh so empfinden, daß wir dasjenige, was wir eben an dem Rauhen fühlen, als die Wahrneh­mung von Ecken empfinden. Dann werden wir uns auch aufschwingen können, heute noch, wenn wir solch eine Figur haben, ihr Eckiges mit dem rauh verwandt zu empfinden, und das t werden wir als tut emp­finden: dasjenige, was rauh tut, ist die Raute. Es wäre ein starkes Ele­ment, Imponderabilien im Unterrichte zu entfalten, wenn wir nicht so sehr auseinanderfallen ließen Lautbestand und Vorstellung. Bitte, was können wir denn viel an Imponderabilien empfinden, wenn wir uns mit dem Kinde über diese Figur unterhalten und sagen: Das ist ein Rhombus? - Wir empfinden ja selbst nichts, wenn wir Rhombus sagen. Was könnte sich für eine Grundlage entwickeln für die Aufmerksam­keit, die dem Unterricht zugrunde liegt, wenn wir aus den Lautbestän-den heraus uns selber wieder erziehen und dann auch das Bedürfnis bekommen, die Kinder nach dieser Richtung zu erziehen.

Dieses mit Bezug auf all dasjenige, was Sie inhaltlich zu Ihrer Selbst-erziehung aus einer solchen Anschauung des Sprachlichen gewinnen können, wie ich es versuchte, Ihnen in diesen Stunden vorläufig anzu­deuten. Aber auch Methodisches, meine lieben Freunde, wollte ich Ihnen zeigen: Mein Bestreben ging dahin, an charakteristischen konkreten

83

Beispielen wichtige Richtlinien zu entwickeln. Ich glaube, daß wahrscheinlich so ein richtiger Hochschullehrer von heute dasjenige, was ich Ihnen hier in den paar Stunden entwickelt habe, ganz gut in drei Bänden verarbeiten könnte. Er würde dabei natürlich nach Voll­ständigkeit streben, aber es würde dabei weniger möglich sein, daß gerade die Hauptrichtlinien, die unser Denken, unser Vorstellen, unser Empfinden anregen, dabei herauskämen. Wenn Sie nun schon im Ele­mentarunterricht so verfahren, wie gerade hier in diesem Sprachkursus verfahren worden ist, dann werden Sie gute methodische Grundsätze entwickeln, dann werden Sie überall die Versuche machen, recht cha­rakteristische Beispiele zu suchen für das, was Sie Ihren Schülern vor­bringen wollen, und Sie werden das Anschauen und das Empfinden charakteristischer Beispiele verbinden können mit dem Wahrnehmen des Geistigen an diesen Beispielen. Denn es gibt kein besseres Mittel, die Kinder in den Materialismus hineinzutreiben, als wenn man ihnen abstrakten Unterricht gibt. Spirituellen Unterricht gibt man an kon­kreten Beispielen; aber man darf nicht außer acht lassen, an diesen konkreten Beispielen das Seelische und Geistige sich offenbaren zu lassen. Deshalb glaube ich, daß dasjenige, was ich Ihnen hier gegeben habe, eine praktisch methodische Ergänzung auch des Kurses sein kann, den ich vor Beginn des Waldorfschul-Unterrichtes Ihnen gege­ben habe. Und ich glaube, daß Sie auch manches gewinnen könnten, wenn Sie sich jetzt überlegten: Wie soll ich, ins Kindliche übersetzt, den eigenen Unterricht so einrichten - man kann ihn in allen Gegenständen so einrichten -, daß er dieses Heranziehen des Geistigen an einzelnen konkreten Beispielen nachbildet? Wenn Sie das tun, werden Sie auch nicht leicht in die Gefahr kommen, in die fast aller Unterricht kommt:

mit dem Lehrstoff nicht fertig zu werden. Man wird immer nur dann nicht fertig, wenn man diesen Lehrstoff atomisiert; denn dann ist man zu sehr dazu verführt, die einzelnen Atomismen, die man durchnimmt, uncharakteristisch zu machen und das Charakteristische durch das Anhäufen hervortreten zu lassen. Es gibt natürlich für alle Unter­richtszweige uncharakteristische Beispiele. Bei diesen muß man vieles aneinanderreihen. Gibt man sich die Mühe, charakteristische Beispiele zu wählen und am Beispiel das Spirituelle zu entwickeln, dann kann

84

man eine gewisse Ökonomie des Unterrichts erzielen. Es wäre mir recht, meine lieben Freunde - und namentlich denjenigen unter Ihnen hier, die Lehrer an der Waldorfschule sind, denen sei es in aller Freund­schaft gesagt -, es wäre mir recht, wenn dieses Zweifache bemerkt worden wäre in diesen improvisierten Stunden: erstens die Anregung zur Selbsterziehung durch eine gewisse Verbrüderung mit dem Sprach-genius, und auf der anderen Seite, wenn die Methodik des Unterrichts in dem zuletzt angedeuteten Sinn etwas beeinflußt werden könnte.

Dann wollen wir, wenn ich wiederkomme, hoffentlich in ganz naher Zeit, solche Sprachbetrachtungen fortsetzen.


85


86

HINWEISE

Die Abweichungen im Text dieser Ausgabe gegenüber früheren Ausgaben ergaben sich aus der Angleichung an den Wortlaut der stenographischen Nachschrift.

Seite

9 Einige der Freunde haben mich veranlaßt, zu Ihnen während dieses Aufenthaltes auch einiges über Sprachliches zu sprechen: Erst bei der Ankunft in Stuttgart erfuhr Rudolf Steiner, daß von ihm außer dem naturwissenschaftlichen Kurs (vgl. folgenden Hinweis) auch ein Kurs über Sprache erwartet würde.

als bei den naturwissenschaftlichen Kursen: Siehe «Geisteswissenschaftliche Im­pulse zur Entwickelung der Physik», Erster naturwissenschaftlicher Kurs, Bibl.­Nr. 320, Gesamtausgabe Dornach 1964.

10 Sinnangliederungen: In der früheren Ausgabe stand «Sinngliederung«; geändert nach Stenogramm.

21 «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit> (1911), Bibl.-Nr. 15, Gesamtausgabe Dornach 1963, vgl. S. 45.

worüber sich . . . Professor Dessoir lustig machte: Max Dessoir, 1867-1947. Siehe «Vom Jenseits der Seele. Die Geisteswissenschaften in kritischer Betrach­tung«, Stuttgart 1917, S. 254ff.

23 Ulfilas in seiner Bibelübersetzung: Ulfilas (Wulfilas), 331-383, gotischer Bi­schof; vgl. hierzu H. Jantzen «Gotische Sprachdenkmäler», 4. Aufl. Berlin/ Leipzig 1914 (Sammlung Göschen Nr.79).

24 Jakob Grimm, 1785-1863. Vgl. «Deutsche Grammatik» 4 Bde. 1819-1837; «Geschichte der deutschen Sprache», 2 Bde. 1848; «Über den Ursprung der Sprache«, 1852; «Über die deutsche Sprache», Insel-Bücherei Nr.120.

Etwas wird ruchbar, weil es einen Geruch zu ihnen trägt: Zu dieser Stelle findet sich in den Unterlagen die Ergänzung: «Wenn dieser Zusammenhang vielleicht auch erst nachträglich durch Anlehnung entstanden ist«.

25 in einem der «Weihnachtspiele>: Siehe das «Oberuferer Christgeburts-Spiel» in «Weihnachtipiele aus altem Volkstum. Die Oberuferer Spiele», mitgeteilt von Karl Julius Schröer, szenisch eingerichtet von Rudolf Steiner. Dornach 1965.

41 Quelle: nach der stenographischen Nachschrift.

53 Wir brauchen nur etwa fünfhundert Jahre zurückzugehen: Von den Heraus­gebern ergänzt nach dem Grimmschen Wörterbuch. - In der Nachschrift steht:

1200 Jahre. Vermutlich lautete es: «Wir brauchen nur etwa ins Jahr 1200 zu­rückzugehen». - «Frech» im ursprünglichen Sinn von «kampfgierig, kühn«

87

kommt im «Parzifal« von Wolfram von Eschenbach (vollendet 1210) vor und hält sich durch die mittelhochdeutsche Zeit. Der Bedeutungswandel setzt sich erst im Neuhochdeutschen, etwa ab 1500, durch.

55 diese Form die ich hier aufzeichne: Die Form ist einem Notizbuch Rudolf Steiners entnommen.

58 ff. Die Zitate zu diesem Vortrag entnahm Dr. Steiner dem Buch von Oskar Weise «Ästhetik der deutschen Sprache», Leipzig und Berlin 1915, Kapitel 14, wie aus seinem Bibliotheksexemplar zu schließen ist.

58 Ziegenmägen: «Odyssee», 20. Gesang, Vers 25 (in der Übertragung von Voss).

Esel: «Ilias», 11. Buch, Vers 558.

59 Wolfram von Eschenbach geb. um 1170, gest. um 1220. «Parzifal», vollendet

1210.

Einem neueren Dichter . . . war es noch gegönnt... zu sagen: Ludwig Uhland in «Des Sängers Fluch»: Die Königin süß und milde, als blickte Vollmond drein.

Gottfried von Straßburg, um die Wende des 11./12. Jahrhunderts. «Tristan und Isolde« entstand um 1210.

61 Geiler von Kaisersberg, 1445-1510, berühmter Kanzelredner.

Gotthold Ephraim Lessing, 1729-1781.

Lessing: Vieles von dem Anzüglichsten kann nicht Gegenstand der Kunst sein.

Wörtlich: «Ich bitte, Prinz, daß Sie die Schranken unserer Kunst erwägen wol­len. Vieles von dem Anzüglichsten der Schönheit liegt ganz außer den Grenzen derselben.» In »Emilia Galotti», 1. Aufzug, 4. Auftritt.

62 Johann Christoph Adelung, 1732-1806.

Goethe spricht von der bitteren Schere der Parze: Siehe das Gedicht »Har/­reise im Winter», wo es wörtlich heißt:

Wem aber Unglück

Das Herz zusammenzog,

Er sträubte vergebens

Sich gegen die Schranken

Des ehernen Fadens

Den doch die bittre Schere

Nur einmal löst.

63 wenn Sie bei Goethe das Wort finden: Zitiert nach Oskar Weise, s. oben.

64 Goethe sagt einmal als ganz alter Mann: Siehe den Brief vom 17. März 1832 an Wilhelm von Humboldt.

88

65 August Fresenius, geb. 1850. Siehe «Goethe über die Conception des Faust» im Goethe-Jahrbuch Bd. 15, Frankfurt/Main 1894; vgl. hierzu Rudolf Steiner «Mein Lebensgang», Gesamtausgabe Dor nach 1962, S. 295-297.

weil ich mit Fresenius arbeitete: Vom Herbst 1890 bis Sommer 1897 war Rudolf Steiner ständiger Mitarbeiter im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und gab die Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in der Sophien-Aus-gabe heraus.

67 Eurythmie: Siehe den Lauteurythmie-Kurs «Eurythmie als sichtbare Sprache», Bibl.-Nr. 279, Gesamtausgabe Dornach 1968.

71 Wir werden hoffentlich in ganz naher Zukunft diese Betrachtungen fortsetzen können: Zu einer solchen kursartigen Fortsetzung ist es nicht gekommen. In den «Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule» jedoch gab Ru­dolf Steiner immer wieder Hinweise auf das Wesen der Sprache und die Metho­dik des Sprachunterrichtes. - Siehe auch «Die Kunst der Rezitation und De­klamation», Bibl.-Nr. 281, Gesamtausgabe Dornach 1967 und «Sprachgestal­tung und Dramatische Kunst«, Bibl.-Nr. 282, Gesamtausgabe Dornach 1969.

83 des Kurses..., den ich vor Beginn des Walldorfschul-Unterrichtes ihnen gegeben habe: Siehe »Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik», Bibl.-Nr.293, Gesamtausgabe Dornach 1968, «Erziehungskunst. Methodisch-Didak­tiches», Bibl.-Nr. 294, Gesamtausgabe Dornach 1966 und «Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge», Bibl.-Nr. 295, Gesamtausgabe Dornach 1969.

84 Dann wollen wir . . . solche Sprachbetrachtungen fortsetzen: Siehe den Hin­weis zu S. 71.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.