GA 289

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GOETHE UND GOETHEANUM

#G289-1958-SE007 Der Baugedanke des Goetheanum

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GOETHE UND GOETHEANUM

RUDOLF STEINER

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Wer die Formen betrachtet hat, aus denen sich die Gesamtgestaltung des Goetheanum in lebendiger Gliederung zusammenfügte, konnte ersehen, wie Goethes Metamorphosenideen in den Baugedanken einge­gangen sind. Diese Metamorphosenideen sind Goethe einleuchtend ge­worden, als er die Mannigfaltigkeit der Pflanzenwelt in geistiger Einheit umspannen wollte. Er suchte, um dieses Ziel zu erreichen, nach der Ur­pflanze. Diese sollte eine ideelle Pflanzengestalt sein. In ihr konnte ein Organ zu besonderer Größe und Vollkommenheit entwickelt, andere klein und unansehnlich sein. Auf diese Art konnte man aus der ideellen Urpflanze spezielle Gestalten in unermeßlicher Zahl ersinnen; und dann konnte man den Blick über die äußeren Formen der Pflanzenwelt schweifen lassen. Man fand in der einen Form dies, in der andern jenes aus der Urpflanze abgeleitete Gedankenbild verwirklicht. Die ganze Pflanzenwelt war gewissermaßen eine Pflanze in den allerverschieden­sten Formen.

Damit aber war von Goethe angenommen, daß in der Mannigfaltigkeit der Organisationen ein Gestaltungsprinzip waltet, das vom Menschen in der innerlichen Beweglichkeit der Gedankenkräfte nachgebildet wird. Er hatte damit der menschlichen Erkenntnis etwas zugeschrieben, wodurch diese nicht bloß eine äußere Betrachtung der Weltwesen und Weltvor-gänge ist, sondern mit diesen zu einer Einheit zusammenwächst.

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Goethe hat dasselbe für das Verständnis auch der einzelnen Pflanze geltend gemacht. In dem Blatte sah er auf die einfachste Art schon ideell eine ganze Pflanze. Und in der vielgestalteten Pflanze sah er ein Blatt auf komplizierte Weise ausgebildet; gewissermaßen viele Blattpflanzen wie­der nach dem Blattprinzip zur Einheit verbunden. - Ebenso waren ihm die verschiedenen Organe der tierischen Bildung Umformungen eines Grundorgans; und das ganze Tierreich die mannigfaltigsten Ausgestal­tungen eines ideellen ,,Urtieres".

Goethe hat den Gedanken nicht allseitig ausgebildet. Die Gewissen­haftigkeit ließ ihn - insbesondere gegenüber der Tierwelt - auf unvoll­endeten Wegen haltmachen. Er gestattete sich nicht, in der bloßen Ge­dankenbildung allzuweit fortzuschreiten, ohne das ideell Gebildete sich immer wieder von den sinnenfälligen Tatsachen bestätigen zu lassen.

Man kann nun zu diesen Goetheschen Metamorphosenideen ein zwei­faches Verhältnis haben. Man kann sie als interessante Eigenart des Goetheschen Geistes betrachten und dabei stehen bleiben.

Man kann aber auch den Versuch machen, die eigene Ideentätigkeit in die Goethesche Richtung zu bringen. Da wird man finden, daß sich da­durch in der Tat Naturgeheimnisse offenbaren, zu denen man auf eine andere Art keinen Zugang gewinnt.

Ich habe, als ich dies vor nun mehr als vierzig Jahren zu bemerken glaubte, in meinen Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners Deutscher Nationalliteratur, Goethe den Koper­nikus und Kepler der Wissenschaft vom Organischen genannt. Ich ging dabei von der Anschauung aus, daß für das Leblose die Kopernikus-Tat in dem Bemerken eines vom Menschen unabhängigen Sachzusammen­hanges besteht; daß aber die entsprechende Tat für das Lebendige in dem Entdecken der rechten Geistesbetätigung liegt, durch die das Or­ganische von dem Menschengeiste in seiner lebendigen Beweglichkeit erfaßt werden kann.

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Goethe hat diese Kopernikus-Tat dadurch verrichtet, daß er die Geistesbetätigung, durch die er künstlerisch wirkte, in das Erkennen einführte. Er suchte den Weg vom Künstler zum Erkenner und fand ihn. Der Anthropologe Heinroth hat Goethes Denken deshalb ein gegen­ständliches genannt. Goethe hat sich darüber tief befriedigt ausgespro­chen. Er nahm das Wort auf und nannte auch sein Dichten ein gegen­ständliches. Er sprach damit aus, wie nah in seiner Seele die künst­lerische und die erkennende Betätigung wohnten.

Das Einleben in die Goethesche Geisteswelt konnte Mut dazu geben, gerade die Metamorphosenanschauung wieder in das Künstlerische zu­rückzuführen. Das half zu dem Baugedanken des Goetheanum Die Natur schafft, da wo sie sich in der Lebendigkeit entfaltet, in Formen, die auseinander herauswachsen. Man kann in der künstlerisch-plasti­schen Gestaltungskraft dem Schaffen der Natur nahe kommen, wenn man liebevoll nachfühlend ergreift, wie sie in Metamorphosen lebt.

Man wird nun einen Bau ,,Goetheanum" nennen dürfen, der in seiner Architektonik und Plastik so entstanden ist, daß in seinen Formen das Einleben in die Goethesche Metamorphosenanschauung den Versuch ge­wagt hat, zur Verwirklichung zu kommen.

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Da die Anthroposophie in der Zeit, in welcher mit dem Bau begonnen wurde, bereits wissenschaftlich vorgebildete und arbeitende Mitglieder auf den mannigfaltigsten Gebieten gefunden hatte und deshalb in Aus­sicht stand, die geisteswissenschaftlichen Methoden in den einzelnen Wis senschaften anzuwenden, durfte ich vorschlagen, der Bezeichnung des Baues den Zusatz zu geben: ,,Freie Hochschule für Geisteswissenschaft".

An diesem Bau wurde nun seit fast zehn Jahren von Freunden der Anthroposophie gearbeitet. Schwer zu bringende Opfer materieller Art kamen von vielen Seiten: Künstler, Techniker, Wissenschafter arbeiteten

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in hingebungsvollster Art mit. Wer im anthroposophischen Kreise die Möglichkeit hatte, an dem Werke zu arbeiten, der tat es. Die schwie­rigsten Arbeiten wurden bereitwilligst übernommen. Der Geist anthro­posophis eher Weltanschauung arbeitete aus begeisterten Herzen heraus an dem ,,Goetheanum". Die der Anthroposophie zuerst zum mindesten gleichgültig gegenüberstehenden Bauarbeiter sind zu meiner innigen Freude seit 1922 wohl in ihrer Mehrzahl der Meinung, daß die Miß-urteile, die über die Anthroposophie in so weiten Kreisen gefällt wer­den, unbegründet sind.

Meine und meiner Mitarbeiter Gedanken waren auf die Fortsetzung unserer Arbeit gelenkt. Wir hatten für Ende Dezember und Anfang Januar einen naturwissenschaftlichen Kursus angesetzt. Freunde der anthroposophischen Sache aus vielen Ländern waren wieder anwesend.

Zu der übrigen künstlerischen Betätigung war seit Jahren die für Eurythmie und Deklamationskunst getreten unter der Leitung von Frau Marie Steiner, die diese Leitung zu einem ihrer mannigfaltigen Arbeits­gebiete gemacht hat. Am Sylvesterabend hatten wir von 5 bis 7 Uhr eine Eurythmie-Vorstellung. Um 8 Uhr begann mein Vortrag, der eine halbe Stunde nach 9 Uhr beendet war. Ich hatte über den Zusammenhang des Menschen mit den Erscheinungen des Jahreslaufes in anthroposophischer Art gesprochen. Kurze Zeit darnach stand das Goetheanum in Flammen; am Neujahrsmorgen 1923 war es bis zum Betonunterbau niedergebrannt.

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VORWORT

MARIE STEINER

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Rudolf Steiners physisches Ableben erfolgte zwei Jahre und drei Monate nach dem Brande des Goetheanum Er leistete in dieser Zeit Übermenschliches an Arbeitsfülle und Aufopferungskraft. Man war so sehr daran gewöhnt, diese Kraft als unverwüstlich zu betrachten, daß der Gedanke, weniger für sich zu verlangen, denjenigen nicht kam, die an ihr zehrten, sich selbst aus ihr gierig aufbauten. Niemand rechnete mit seiner Erschöpfung. So war sie unvermeidlich. Und doch - über diesem Hingang liegt ein Rätsel. Es wird sich kaum denjenigen lösen, die bloß auf das äußerliche Geschehen ihr Augenmerk lenken.

Ein Jahr nach dem Brande faßten die Mitglieder der Anthroposo­phischen Gesellschaft den Entschluß, an Stelle des abgebrannten einen zweiten Bau zu errichten und traten mit der Bitte ihn zu gestalten an Rudolf Steiner heran. Das einst Geschaffene konnte freilich in jener Vollendung nicht zum zweiten Male geleistet werden. Es mußte ein schlichteres geistiges Heim errichtet werden, das den Zwecken der an­throposophischen Arbeit diente. Das für künstlerische Gestaltung wider­standsfähigste und sprödeste Material mußte gewählt werden: der Beton. Rudolf Steiner erklärte sich bereit, die künstlerische Formung auch die­ses zweiten Goetheanum zu übernehmen. In seinem letzten Lebensjahre schuf er das Modell zu dem gewaltigen Betonbau, der nun auf dem

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Dornacher Hügel sich erhebt und dessen weit ausholende und einladende Formen sich freimütig Welt und Menschen erschließen, wie alles, was Rudolf Steiner geschaffen hat. Jede Tür, jede Treppe, jede Stufenreihe eines Eingangstores, die er entwarf, hat etwas freundlich Einladendes und Willkommenheißendes. Es fordert die Menschen auf zu einer Geist-gemeinschaft, die auf Erkenntuiskraft und tätiger Ich-Entfaltung beruht und zu neuer Bewußtseinserringung drängt.

Viele Besucher von nah und fern verlangten das Goetheanum zu besichtigen, und während der kurzen Jahre seines Bestehens fanden fast täglich Führungen statt. Auch trat die Bitte an Rudolf Steiner heran, zu den Vorträgen, die er in manchen Städten über den Baugedanken hielt, nun Lichtbilder zu zeigen. Durch das rege Interesse einer der Mitarbeitenden am Bau, Frau von Heydebrand.Osthoff, waren während der Arbeitszeit, als die Gerüste noch im Bau gestanden hatten, viele photographische Aufnahmen gemacht worden, teils zur Erinnerung an die schöne Schaffeuszeit und die Momente der Entstehung, teils zur Kon­trolle der Leistungen. Sie bilden nun ein nicht wieder zu ersetzendes Erinnerungsgut. Trotzdem sie ohne jeden Gedanken an Veröffentlichung entstanden waren, konnten sie nun zur Herstellung von Lichtbildern von den Vortragenden gebraucht werden und müssen jetzt, obgleich sich manche schon in einem etwas abgebrauchten Zustande befinden, und die Beigabe der Gerüste und Arbeitswerkzeuge den Eindruck stört, auch der neuen Aufgabe dienen: der zusammenfassenden Darstellung der Baumotive und Aspekte in Form eines Buches. Sie können ja nicht mehr durch neue Aufnahmen ersetzt werden! Der erste Wunderbau besteht nicht mehr. Doch lebt er als geistige Potenz weiter. Dieses Buch soll die Erinnerung an das Goetheanum wachhalten, die progressive Ent­wickelung seiner Entstehung zeigen.

Als erläuternder Text ist einer der Vorträge gewählt worden, den Rudolf Steiner in Bern über den Baugedanken gehalten hat. Die Bilder,

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die diesem Text zugrunde liegen, werden meistens in der Reihenfolge abgedruckt, die er selbst gewählt hat, als er sie vorführte. Es sind zur Vervollständigung noch einige hinzugefügt worden, die wir dem Atelier Rietmaun in St. Gallen verdanken. Ein Werk, das in seiner Einzigartig­keit nicht wieder erstehen kann, soll wenigstens im schwachen Abbild erhalten bleiben. Der in ihm wirkende schöpferische Geist kann wek­kende Funken in jenen Künstlerseelen zünden, deren Ahnen und Seh­nen ihm entgegenreift.

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DER BAUGEDANKE DES GOETHEANUM

EIN VORTRAG MIT LICHTBILDERN GEHALTEN IN BERN AM 29.JUNI 1921

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Die anthroposophische Geisteswissenschaft hat in Dornach bei Basel eine äußere Wirkungsstätte gefunden. Die Entstehung dieser Wir­kungsstätte, die sich Goetheanum nennt, Freie Hochschule für Geistes­wissenschaft, ergab sich aus dem Gang der Ausbreitung dieser anthro­posophisch orientierten Geisteswissenschaft. Nachdem durch eine lange Reihe von Jahren von mir und anderen diese Geisteswissenschaft in den verschiedensten Staaten und Orten zunächst in ideeller Form verbreitet worden ist durch Vorträge oder ähnliches, stellte sich etwa um das Jahr 1909, 1910 die innere Notwendigkeit heraus, durch andere Offenba­rungs- und Mitteilungsmittel' als sie in den bloßen Gedanken und in den bloßen Worten liegen, dasjenige v9r die Seelen der Mitmenschen heranzutragen, was mit dieser Geisteswissenschaft gemeint ist.

Und so kam es denn dazu, daß aufgeführt wurden - zunächst in München - eine Reihe von Mysterien-Dramen, die von mir verfaßt, in bildhafter, szenischer Form dasjenige geben sollten, wovon anthropo­sophische Geisteswissenschaft ihrer ganzen Wesenheit nach sprechen muß. Man ist ja gewöhnt worden, durch den ganzen Bildungsgang der zivilisierten Welt in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, Erkennt­nis vorzugsweise zu suchen durch die äußere sinnliche Beobachtung und durch die Anwendung des menschlichen Intellektes auf diese äußere

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sinnliche Beobachtung, und im Grunde genommen sind alle unsere neueren Wissenschaften, insofern sie heute noch immer gangbar sind, durch Wirkungen der sinnlichen Beobachtungsergebnisse mit intellek­tuell Erarbeitetem zustande gekommen. Schließlich kommen auch die historischen Wissenschaften heute auf keine andere Weise zustande.

Intellektualismus ist vorzugsweise dasjenige, zu dem die moderne Welt Vertrauen hat, wenn es sich um Erkenntnis handelt. Intellek­tualismus ist dasjenige, an das man sich dadurch immer mehr und mehr gewöhnt hat. Und so ist man denn natürlich immer mehr und mehr zu dem Glauben gekommen, daß alles dasjenige, was an Erkennt­nis-Ergebnissen vor die Welt tritt, restlos auch durch intellektuelle Mit­teilungen sich offenbaren könne. Ja, es gibt wohl erkenntnistheoretische und sonstige wissenschaftliche Auseinandersetzungen, in denen schein­bar bewiesen wird, wie etwas nur dann gelten könne vor dem Erkennt­nisgewissen der gegenwärtigen Menschen, wenn es sich intellektuell rechtfertigen lasse. Dasjenige, was sich nicht in logisch-ideelle intellek­tuelle Formen kleiden läßt, man läßt es nicht als Erkenntnis gelten. Geisteswissenschaft, die nun wirklich nicht haltmachen wollte vor dem, was man in der Naturwissenschaft mit Recht als naturwissenschaft­liche Erkenntnisgrenze geltend macht, die hinter diese Erkenntnis-grenzen dringen will, Geisteswissenschaft mußte sic immer mehr und mehr darüber klar werden, daß die intellektuelle Art der Mit­teilung nicht die einzige sein könne. Denn man kann lange mit allen möglichen Scheingründen beweisen, daß man in intellektuelle Form alle Erkenntnisse hereinprägen müsse, wenn sie den Menschen be­friedigen soll, man kann das lange beweisen und mit Scheingründen belegen, - wenn die Welt so beschaffen ist, daß sie nicht bloß in Be­griffen, Ideen ausdrückbar ist, daß sie zum Beispiel, namentlich wenn man die Gesetze der menschlichen Entwickelung kennen will, ausge­drückt werden muß durch Bilder, dann muß man auch zu etwas anderem

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vordringen, als zu der Darstellung durch das Wort im theore­tischen Vortrag, man muß zu anderen Darstellungen vorschreiten, als zu der Darstellung in intellektuellen Formen.

Und so fühlte ich eben die Notwendigkeit, dasjenige, was das Voll-Lebendige ist, namentlich in der Menschheitsentwickelung, nicht allein bloß theoretisch auszudrücken durch das Wort, sondern auszu­drücken durch das szenische Bild. Und so entstanden denn meine vier Mysterien-Dramen, die zunächst in einem gewöhnlichen Theater zur Darstellung kamen. Das war sozusagen der erste, durch die Sache der Geisteswissenschaft selbst, wie sie hier gemeint ist, gegebene Schritt nach einer erweiterten Darstellung desjenigen, was eigentlich sich offen­baren will durch diese anthroposophische Geisteswissenschaft.

Nicht bei mir selbst - das darf ich ruhig sagen - sondern bei Freunden unserer Sache entstand nun im Laufe dieser Entwickelung, die eine äußere bühnenmäßige Darstellung notwendig machte, der Ge­danke: der Wirksamkeit dieser Geisteswissenschaft eine eigene Stätte zu bereiten. Und nach mancherlei Versuchen da oder dort diese Stätte zu begründen, landete man zuletzt am Dornacher Hügel in der Nähe von Basel, wo wir von unseren Freunden ein Grundstück zu diesem Zweck geschenkt bekamen, und wir konnten auf dem Dornacher Hügel diese Hochschule für Geisteswissenschaft aufrichten, die wir heute ,,Goetheanum" nennen, die zugleich ein Darstellungshaus sein soll für die anderen Offenbarungsarten dessen, was durch diese Geisteswissen­schaft zutage treten soll.

Nun, wäre irgendein Verein mit diesem oder jenem Programm darangegangen, durch die Verhältnisse veranlaßt, eine solche Umrah­mung, ein solches Haus, eine Architektur aufzurichten, was wäre ge­schehen? Man hätte sich an diesen oder jenen Baumeister gewandt; der hätte dann vielleicht ohne sehr intensiv irgend etwas zu fühlen oder zu empfinden und zu erkennen von dem Inhalte unserer Geisteswissenschaft,

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im antiken oder gotischen oder im Renaissance- oder in irgend­einem anderen Stile einen Bau aufgeführt, und man würde in einem solchen Bau, der nun aus ganz anderen Kultur-Voraussetzungen heraus erbaut worden wäre, tradiert haben dasjenige, was der Inhalt der Geisteswissenschaft auf den verschiedensten Gebieten ist. So hätte es ja besonders geschehen können bei vielen anderen Bestrebungen der Gegenwart und wäre ohne Zweifel geschehen. Bei dem, was anthro­posophisch orientierte Geisteswissenschaft ist, konnte das nicht ge­schehen.

Als wir im vorigen Jahr unsere erste Kursusreihe über die verschie­densten Wissenschaften in der geisteswissenschaftlichen Hochschule zu Dornach eröffneten, da konnte ich davon sprechen, wie durch diese an­throposophisch orientierte Geisteswissenschaft nicht bloß dasjenige vor die Menschheit treten soll, was im engeren Sinne Wissenschaft ist, wie diese Geisteswissenschaft nicht nur aus den Errungenschaften der mensch-Ii ehen Sinnesbeobachtungen, des menschlichen Intellektes schöpft, son­dern wie sie aus dem Ganzen schöpft, aus dem vollen Menschentum, und wie sie aus den Quellen schöpft, aus denen auch hervorgeht Religion auf der einen Seite, Kunst auf der anderen Seite *.

Nicht will diese Geisteswissenschaft etwa ausbilden eine abstrakt symbolische oder eine stroherne allegorische Kunst, die bloß das Didak­tische in äußere Formen zwängt, nein, das ist durchaus nicht der Fall, sondern dasjenige, was ins Wort gebracht wird durch diese Geistes­wissenschaft, kann durch das Wort wirken, kann sich durch das Wort gestalten. Es kann gesprochen werden von geistigen Vorgängen, von geistigen Wesenheiten der übersinnlichen Welt, indem man zu Ideen und zu den Ausdrucksmitteln der Ideen, zu den Worten, seine Zuflucht nimmt. Aber dasjenige, was sich eben auf diese Weise offenbaren will, ist viel reicher als was ins Wort, in die Idee hineinkommen kann, drängt

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* 26. September 1920: ,,Wissenschaft' Kunst und Religion."

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in die Form, in das Bild, wird von selbst zur Kunst, zur wirklichen Kunst, nicht zu einem allegorischen oder symbolischen Aussprechen.

Wenn von Dornacher Kunst die Rede ist, so wird zunächst verwie­sen auf den ursprünglichen Quell dessen, woraus Menschendasein und Weltendasein heraussprudelt. Was man in diesem ursprünglichen Quell erlebt, wenn man auf die auch oftmals hier geschilderte Art den Zu­gang dazu gewinnt, das kann man in Worte kleiden, in Ideen formen, das kann man aber auch, ohne daß man diese Ideen allegorisch oder symbolisch ausdrückt, unmittelbar ausfließen lassen in Künstlerisches.

Das, was im Künstlerischen oder auch - ich könnte es weiter aus­führen, das ist heute nicht nötig - im Religiösen leben kann, das ist ein völlig gleicher Ausdruck dessen, was auch in ideeller Darstellung ge­geben werden kann. Diese anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft ist also von vornherein so veranlagt, daß sie als eine Strömung aus einem Quell fließt, aus dem auch Kunst und Religion in ursprüng­licher Art fließen können. Dasjenige, was wir in Dornach meinen, wenn wir von religiösen Empfindungen sprechen, ist nicht bloß eine zur Reli­gion gemachte Wissenschaft, sondern ist Ursprung elementarer religiöser Kraft, und das, was wir als Kunst meinen, ist eben auch wiederum ursprüngliche, elementare künstlerische Schöpfung.

Wenn daher manche Besucher des Goetheanum oder namentlich auch solche, die sich davon nur erzählen lassen, unseren Dornacher Bau ver­leumden und sagen, da finde man diese oder jene allegorische, symbo­lische Darstellung, so ist das eben eine Verleumdung. In dem gesamten Dornacher Bau findet sich nicht ein einziges Symbolum. Alles dasjenige, was dargestellt wird, ist in die künstlerische Form übergeflossen, ist un­mittelbar empfunden. Und im Grunde genommen fühlte ich immer etwas wie die Darbietung eines bloßen Surrogates, wenn von mir vor­ausgesetzt wird, daß ich den Dornacher Bau durch Worte erkläre. Ge­wiß, wenn man abseits von Dornach spricht, so kann man Mitteilungen

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darüber machen, wie man über Kapitel der Kunstgeschichte zum Beispiel spricht. Aber wenn man in Dornach selber den Bau sieht, dann emp­finde ich es immer eigentlich als etwas Surrogathaftes, wenn man ihn außerdem noch erklären soll. Es ist diese Erklärung eigentlich auch nur notwendig, um die besondere Art der Weltanschauungssprache an die Menschen heranzubringen, aus der aber herausgeflossen ist der Dor­nacher Bau geradeso wie - sagen wir - die Sixtinische Madonna her­ausgeflossen ist aus der christlichen Weltanschauung, ohne daß irgend etwas symbolisiert ist, sondern nur so, daß wirklich in dem Künstler empfindungsgemäß Ideenhaftes gelebt hat.

Hamerling, dem österreichischen Dichter, wurde auch der Vorwurf gemacht, nachdem er seinen ,,Ahasver" geschrieben hat, da13 er Symbo­lik gebraucht habe. Er hat mit Recht dann seinen Kritisierern erwidert:

was soll man denn eigentlich anderes tun, wenn man den Nero recht lebendig darstellt, vollebendig als eine menschliche Wesenheit, als das Symbolum der Grausamkeit hinzustellen! - denn die Geschichte selber hat das Symbolum der Grausamkeit in Nero hingestellt, und es liegt nicht der Fehler daran, daß man den Eindruck des wahren, des realen Symbolum der Grausamkeit hat, wenn Nero lebendig hingestellt wird, sondern es könnte höchstens der künstlerische Mangel vorliegen, wenn man irgendeine stroherne Allegorie statt der lebendigen Wesenheit hin­stellt. Wenn auch die Welt, die in Dornach dargestellt ist, die übersinn­liche Welt ist, so ist sie die übersinnlich ges chaute, die übersinnliche Reali­tät, die dargestellt wird. Es ist nicht irgend etwas, was symbolisch oder alle­gorisch Umsetzung von Begriffen anstreben will. Das ist dasjenige, was durchaus zugrunde liegt und was zugleich hindeutet darauf, warum nicht in beliebiger Weise ein Haus hingestellt werden konnte für diese anthro­posophisch orientierte Geisteswissenschaft. Ein jeder Baustil wäre ihr etwas Äußerliches gewesen, denn sie ist eben nicht bloße Theorie, sie ist Leben auf allen Gebieten und konnte ihren Baustil selbst hervorbringen.

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Gewiß, man kann nachträglich vielleicht eine historische Linie zie­hen, indem man das Wesen der Antike mit ihrem Lasten und Tragen charakterisiert, indem man dann übergeht zur Gotik und zeigt, wie da die Architektur herausgeht aus dem bloßen Lasten, Tragen, wie das Stre­ben wieder durch den Spitzbogen und durch das Kreuzgewölbe frei ge­macht ist von dem bloßen Lasten und Tragen, wie eine Art Übergang zum Lebendigen gefunden ist.

In Dornach ist der Versuch gemacht, dieses Lebendige so weit zu treiben, daß man wirklich das bloße Dynamische, Metrische, Symme­trische früherer Bauformen übergeführt hat in das Organische. Ich weiß sehr wohl, wieviel man zunächst vom Gesichtspunkte der alten Bau­kunst schreiben kann gegen dieses Übergehenlassen der geometrischen, der metrischen, der symmetrischen Formen in organische Formen, in Formen, die sich sonst an den organischen Wesen finden. Aber es ist nichts irgendwelchen Organismen naturalistisch nachgebildet, sondern es ist nur der Versuch gemacht, sich einzuleben in das organisch schaffende Prinzip der Natur. So wie man sich einleben kann in das Lasten und Tragen, wenn man die Säulen bedeckt sein läßt von den Querbalken, wie man sich wieder einleben kann in die ganze Konfiguration der Gotik im Streben im Kreuzgewölbe und so weiter, so kann man sich auch einleben in jenes innerliche Formen, Formschaffen der Natur, das in dem Hervorbringen des Organischen vorhanden ist.

Kann man sich da hineinfinden, dann gelangt man nicht zu einem naturalistischen Nachbilden dieser oder jener Flächenformen, die sich im Organischen finden, sondern man gelangt dazu, aus dem heraus, was man unmittelbar architektonisch dargestellt hat, Flächen zu finden, die sich in den ganzen Bau so hineingliedern, wie, sagen wir, die einzelne Fläche an einem Finger sich hineingliedert zum Beispiel in den ganzen menschlichen Organismus.

Das ist es, was daher beim Dornacher Bau zunächst als eine Grundempfindung

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erlangt werden kann, insofern das schon bei dem ersten Anhub dieses neuen Baustiles erreicht ist. Was angestrebt worden ist, ist eben das, was vielleicht so empfunden werden kann: die kleinste Kleinheit und der größte Formzusammenhang, alles ist so gedacht, daß jedes an dem Orte, wo es sich befindet, so ist, wie es sein muß. Sie brau­chen ja nur zum Beispiel an das Ohrläppehen an Ihrem eigenen Orga­nismus zu denken. Dieses Ohrläppchen ist ein sehr kleines Organ. Wenn Sie den ganzen Organismus verstehen, so werden Sie sich sagen: das Ohrläppchen könnte nicht anders sein als es ist; das Ohrläppchen kann nicht kleine Zehe sein, nicht rechter Daumen sein, sondern im Organis­mus ist jedes an seinem Orte, und jedes an seinem Orte so, wie es aus diesem Organismus hervorgeht.

Das ist in Dornach versucht worden: der ganze Bau, die ganze Archi­tektur ist so, daß sie aus dem Ganzen heraus gedacht ist, und daß jedes einzelne an seinem Orte ganz individuell so gestaltet ist, wie es an die­sem Orte sein muß. Wie gesagt, trotzdem man viel einwenden kann, es ist eben einmal derVersuch gemacht worden, den Übergang vom bloßen geometrisch-mechanischen Bauen zu dem Bauen in organischen Formen zu versuchen. Man könnte natürlich diesen Baustil angliedern an andere Baustile, aber damit kommt man doch nicht eigentlich weiter. Insbeson­dere der Schaffende kommt damit nicht weiter. So etwas muß eben ein­fach aus dem Elementaren heraus entstehen. Deshalb kann ich, wenn ich gefragt werde, wie die einzelne Form aus dem Ganzen heraus empfun­den ist, nur die folgende Antwort geben. Ich kann nur sagen:

Man betrachte zum Beispiel eine Nuß. Die Nuß hat eine Schale. Diese Nußschale, sie ist nach denselben Gesetzen um die Nuß herum gebildet, um den Nußkern, nach denen die Nuß selber, der Nußkern entstanden ist, und die Schale können Sie sich nicht anders denken als sie ist. wenn einmal der Nußkern so ist, wie er ist.

Nun kennt man die Geisteswissenschaft. Man trägt die Geisteswissenschaft

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vor aus ihrem inneren Impulse heraus. Man gestaltet sie in Ideen. Man bringt sie in Ideen zusammen. Man lebt also in dem ganzen Sein dieser Geisteswissenschaft - verzeihen Sie, es ist ein trivialer Vergleich, aber es ist eben ein Vergleich, der veranschaulicht, wie man aus dem Naiven heraus schaffen muß, wenn man so etwas, wie es der Dornacher Bau ist, schaffen will -, man steht darinnen wie in dem Nußkern und hat darinnen die Gesetze in sich, nach denen man die Schale, den Bau, ausführen muß.

Ich habe früher oftmals noch einen anderen Vergleich gemacht. Sehen Sie, in Österreich nennt man eine besondere Art von Mehlspeise ,,Gugel­hupf". Ich weiß nicht, ob der Ausdruck hier auch gebräuchlich ist. Und ich habe gesagt, man solle sich vorstellen, anthroposophische Geistes­wissenschaft ist der ,,Gugelhupf" und der Dornacher Bau ist der Gugel­hupf-Topf, in dem er gebacken wird. Der Gugelhupf und der Topf, beide müssen durchaus zusammenstimmen - das ist das Richtige, wenn beide zusammenstimmen, das heißt, wenn sie nach denselben Gesetzen sind wie Nuß und Nußschale.

Dadurch aber, daß anthroposophische Geisteswissenschaft eben aus dem ganzen, aus dem vollen Menschentum heraus schafft, konnte sie nicht die Diskrepanz in sich haben, für ihren Bau einen beliebigen Bau­stil zu nehmen und in ihn hineinzusprechen. Sie ist eben mehr als bloße Theorie, sie ist Leben. Daher mußte sie nicht nur den Kern liefern, son­dern auch die Schale in den einzelnsten Formen. Es mußte das nach den­selben innerlichsten Gesetzen geschaffen werden, nach denen gespro­chen wird, nach denen Mysterien vorgeführt werden, nach denen jetzt die Eurythmie vorgeführt wird. Alles dasjenige, was man in Worten vorführt, was man eurythmisch aufgeführt sieht, was man in den Myste­rienspielen aufgeführt sehen wird und was sonst vorgeführt wird, das muß so durch den Saal klingen und gesehen werden, daß die Wände mit ihren Formen, daß die Malereien, die da sind, wie selbstverständlich dazu

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Ja sagen; daß die Augen gewissermaßen sie aufnehmen wie etwas, woran sie unmittelbar teilhaben. Jede Säule soll in derselben Weise sprechen, wie der Mund spricht, indem er die anthroposophisch orien­tierte Geisteswissenschaft verkündet. Eben gerade weil sie zugleich Wis­senschaft, Kunst und Religion ist, mußte anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, absehend von allen gebräuchlichen Baustilen, ihren eigenen Baustil hinstellen. Man kann diesen nun selbstverständlich in Grund und Boden hinein kritisieren; aber alles das, was einmal auftritt, tritt zunächst unvollkommen hervor, und ich darf Ihnen vielleicht die Versicherung geben, daß ich am genauesten alle Fehler kenne, und daß ich derjenige bin, der sagt: Sollte ich den Bau ein zweites Mal aufführen, würde es zwar aus derselben Gesinnung, aus denselben Gesetzen heraus sein, aber er würde durchaus in den meisten Einzelheiten und vielleicht sogar im ganzen anders sein. Aber wenn irgend etwas in Angriff genom­men werden muß, so muß es eben einmal in Angriff genommen werden, so gut man es gerade in diesem Zeitpunkte kann. Man lernt ja eigent­lich, indem man so etwas aufführt, erst die eigentlichen Gesetze seines Wesens kennen. Das ist etwas, was nun einmal die Schicksalsgesetze des geistigen Lebens, des geistigen Fortschrittes sind, und gegen diese ist ja wohl auch bei der Aufrichtung des Dornacher Baues nicht ver­stoßen worden.

Nun erhebt sich der Bau auf dem Dornacher Hügel. Empfunden muß­ten seine Grundformen werden zunächsj, nicht wahr, sich heraushebend aus dem Dornacher Hügel. Daher ist der untere Teil ein Betonbau. Ich versuchte aus diesem spröden Material des Betons heraus künstlerische Formen zu holen, und es haben doch manche empfunden, wie diese For­men sich anschließen an die Felsenformen, wie also die Natur mit einer gewissen Selbstverständlichkeit da in Dornach übergeht in die Bau-formen.

Dann erhebt sich auf der horizontalen Terrasse, bis zu welcher der

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Betonban geht, der Holzbau. Dieser Holzbau, der besteht aus zwei sich ineinanderfügenden Zylindern, die abgeschlossen sind von zwei nicht vollen Halbkugeln, die gewissermaßen ineinandergefügt sind im Kreis, so daß zwei Halbkugeln, zwei aufeinanderfolgende Halbkugeln wie ineinandergelegt die beiden Zylinderräume abschließen: ein größerer Raum, der Zuschauerraum, ein kleinerer Raum derjenige, von dem aus Eurythmie aufgeführt wird, Mysterien gespielt werden und so weiter. Zwischen den beiden Räumen ist dann das Redner-Podium. Das ist zu­nächst das Hauptgebäude.

Nicht unerwähnt lassen darf ich natürlich, daß ja in den letzten Jah­ren mittlerweile sich zahlreiche Freunde insbesondere aus diesem oder jenem wissenschaftlichen Gebiete, jetzt schon von fast allen wissenschaft­lichen Gebieten her, gefunden haben, die durchschaut und erkannt ha­ben, wie Naturwissenschaft, Mathematik, Geschichte, Medizin, Juris­prudenz, Soziologie, wie die verschiedensten Wissenschaften befruchtet werden können von anthroposophischer Geisteswissenschaft. So daß sich anschließen muß an Dornach eben eine wirkliche Universitas, und für diese ist eigentlich das, wofür wir zunächst haben sorgen können, nichts weiter als ein großer Hörsaal, mit der Möglichkeit eben auch noch in anderer Weise in diesen Hörsaal, der etwa für tausend Personen be. stimmt ist, hineinzuwirken als durch das bloße Wort.

Daß der Bau in solcher Weise, ich möchte sagen, eine dualistische Form hat, aus zwei von Halbkugeln gekrönten Zylindern besteht, das kann doch herausgefühlt werden aus der ganzen Aufgabe, die sich Gei­steswissenschaft, wie wir sie in Dornach meinen, stellen muß. Da liegt ja zugrunde dasjenige, was man innere menschliche Entwickelung nennt. Zu dieser anthroposophischen Geisteswissenschaft kommt man nicht da­durch, daß man die gewöhnliche alltägliche Urteilskraft verwendet -obwohl auf dieser natürlich durchaus voll gebaut wird -. daß man die gewöhnlichen Forscherregeln verwendet, sondern dadurch, daß man in

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der Seele schlummernde Kräfte in der Art, wie es dargestellt ist in meinem Buche: ,,Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?" hervorholt und wirklich hinaufsteigt in diejenige Region, wo sich einem die übersinnlichen Kräfte und Wesenheiten des Daseins offenbaren. Dieses Sich-Offenbaren einer übersinnlichen Welt an die sinnliche, das sich ja ausdrückt, indem die tausend Zuhörer oder Zu­schauer dasitzen und auf der andern Seite eben dasjenige mitgeteilt wird, was Kunde von übersinnlichen Welten gibt, dieses Ganze, in Emp­findung umgesetzt, drückt sich eben in dem Doppelkuppelban zuDornach aus. Es ist nicht in irgendeiner Weise symbolisch gemeint. Deshalb kann ich auch sagen: natürlich könnte man diesen Grundgedanken auch an­ders ausdrücken, aber so hat sich mir eben der künstlerische Ausdruck dieses Grundgedankens dazumal, als es notwendig war, ergeben.

So sieht man gewissermaßen in der äußeren Form des aus dem Beton herauswachsenden Holzbaues, der ein Doppelkiippelbau ist, in­dem man von der Umgebung herankommt, man sieht in der Konfigu­ration, in der Flächengestaltung dasjenige, was eigentlich mit anthropo­sophisch orientierter Geisteswissenschaft gemeint ist. Daß man versucht hat, wirklich nicht zu rechnen etwa mit abstrakten Begriffen, sondern mit der künstlerischen Empfindung, das mag Ihnen noch daraus hervor­gehen, daß in der Zeit, als das noch möglich war - vor dem Kriege -mit allen möglichen Mühen nordischer, norwegischer Schiefer zum Ein­decken der beiden Kuppeln heruntergeholt worden ist. Als ich einmal auf einer Vortragsreise im Jahr 1913 zwischen Christiania und Bergen war, sah ich diesen wunderbaren vossischen Schiefer. Und dieser vossische Schiefer glänzt nun von den Doppelkuppeln im Sonnenschein, so daß man eigentlich das Gefühl hat: dieser grünlich-gräuliche Sonnenglanz' der sich einem da reflektiert, der gehört in diese ganze Landschaft hin­ein - so sehr auch selbstverständlich manche Menschen sagen, daß die Landschaft durch den Bau verschandelt sei; Anschauungen kann jeder

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haben und Kritik kann jeder üben. Ich wende mich niemals gegen Kri­tik, wenn sie noch so töricht erscheint. Nur dann, wenn man - was in der letzten Zeit immer häufiger wird - über Dornach und was sich daran anschließt, Unwahrheiten verbreitet - gegen Unwahrheiten muß ich mich allerdings schärfstens wenden. Aber gegen Kritik, wenn sie noch so toricht scheint, werde ich niemals Einwendungen haben. Es kann also auch meinetwegen jemand meinen, der Dornacher Bau sei in die Gegend, sie verschandelnd, hineingestellt; mag sein. Mir erschien aber gerade in dieser Sorgfalt, die beobachtet worden ist, nun selbst den Sonnenglanz in der richtigen Weise in einer solchen Landschaft zur Geltung zu bringen, etwas, was zeigt, daß man Rechnung getragen hat, auch etwas Würdiges hinzustellen an diesem Ort, der ja als Ort, als Lo­kalität etwas Außerordentliches hat.

Ich werde mir nun erlauben, das, was entstanden ist als dieses Goethe­anum in Dornach, Ihnen in einer Reihe von Bildern vorzuführen. Sie sollen im einzelnen zeigen, wie dasjenige, was ich nun ausgeführt habe, wie der Dornacher Baugedanke eigentlich sich verwirklicht hat. Es soll durchaus durch den Dornacher Baugedanken dasselbe in der äußeren Raumform im Bilde vor dem Beschauer dastehen, was vor dem Hörer sich ausbreitet durch das Wort, so daß, was man in Dornach hört, das­selbe ist, wie dasjenige, was man in Dornach sieht. Aber weil es wirklich eine Erneuerung aus dem geistigen Leben heraus, eine Erneuerung alles Wissenschaftlichen darbieten sollte, brauchte es auch in gewissem Sinne eine neue Kunst.

Ab Abbildung 3

#G289-1958-SE028 Der Baugedanke des Goetheanum

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Abbildung 3:

Sie sehen hier den Bau - die eine Kuppel ist hier etwas verdeckt -, hier den Beton-Unterbau. Wenn man sieh über einen Weg, der von Nord-Westen her gegen das Westtor führt, nähert, bat man diesen Anblick. Dies ist also der Beton-Unterbau mit dem Eingang; hier geht man zunächst hinein. Weiter rückwärts in diesem Betonban sind dann die Ablegeräume. Nachdem man abgelegt hat, geht man über eine Treppe, die durch diesen Raum führt, links und rechts auf die Terrasse hinauf,

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geht durch das llaupttor in den Bau hinein und kommt zunächst durch einen Vorraum in den Zuschauerraum.

Sie sehen hier, beginnend von dieser Terrasse ab nach oben, den Holzbau, der mit dem nordischen Schiefer gedeckt ist. Sie sehen an die­ser Form, die über dem ilaupteingangstor im Westen ist, den Versuch, an dieser Stelle etwas hineinzugestalten, das eben wirklich wie eine or­ganische Form herauswächst aus dem Ganzen des Baues. Es ist nicht irgend etwas, was in der organischen Welt sich findet, naturhaft nach­gebildet, sondern es ist das organische Schaffen selbst zu erkunden ge­sucht. Es ist versucht, durch Hingabe an das organische Schaffen in der Natur die Möglichkeit zu haben, selbst solche organische Formen zu gestalten und das Ganze ohne Verletzung der dynamischen Gesetze zu einer organischen Form zu gestalten. Ich bemerke ausdrücklich: ohne die dynamischen oder mechanischen Gesetze zu verletzen. Derjenige, der namentlich die Innenarchitektur bei uns in Dornach studiert, - aber dasselbe ist, wenn es auch durch gewisse Gründe schwieriger geworden ist, nicht nur künstlerisch, sondern durch Gründe derEntstehung schwerer geworden ist, auch in der Außenarchitektur etwas berücksichtigt -, er wird überall sehen, daß, trotzdem Säulen, Pfeiler und so weiter organisch gestaltet sind, gerade in dieser organischen Gestaltung dasjenige liegt, was richtig trägt, richtig lastet, ohne daß es in der Dicke der Säulen, in der Schwere irgendeiner Belastung zum Ausdruck kommt. Das richtige Lasten und Tragen ist eben auch erreicht durch das organische Formen, so daß man gewissermaßen das Gefühl hat: der Bau empfindet zu glei­cher Zeit das Lasten und Tragen. Es ist also dieses Übergehen zum Scheine der Bewußtheit, wie es eigentlich im Organischen ist, das, was an diesem Bau angestrebt werden mußte aus Untergründen anthroposo­phisch-geisteswissenschaftlichen Wollens heraus. Also ohne irgendwie zu sündigen gegen die mechanischen, geometrischen, symmetrischen Gesetze der Baukunst sollte die Bauform ins Organische übergeführt werden.

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Abbildung 4:

Sie sehen hier von einem etwas weiteren Punkt aus und mehr von der Westfront aus den Betonbau unten; hier die Terrasse, dann den Haupteingang. Hier zeigt sich dasselbe Motiv. Die zweite Kuppel, die kleinere, die für den Bühnenraum ist, ist hier verdeckt; dagegen sieht man gewissermaßen das Anschließende. Da wo sich die beiden Kuppel-bauten aneinander anschließen, sind Querbauten links und rechts mit den Ankleideräumen für die Mitspielenden bei den Mysterienspielen oder bei eurythmischen Darstellungen und so weiter, oder auch Büroräume und dergleichen. Das sind also Nebenbauten hier. Wir werden gleich im Grundriß sehen, wie sich diese Nebenbauten in den ganzen Baugedanken hineinschließen.

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Abbildung 5:

Hier sehen Sie den Bau von der Südwestseite: wiederum das West­tor, die große Kuppel, noch ein ganz winziges Stück von der kleinen Kuppel, nach Süden den südlichen Vorbau; hier die ganze Front zwi­schen Westen und Süden.

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Abbildung 6:

Hier sehen Sie von der andern Seite, von Norden, die beiden Kup­pelräume, den Zuschauerraum, von vorn einen der Querbauten, hier den kleinen Kuppelraum und die Magazinräume, die sich an den kleinen Kuppelraum nach Osten hin anschließen; ferner die Terrasse, uiiten den Betonbau. Das ist der Vorban, der dann zum Westtor führt.

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Abbildung 7:

Von etwas weiter weg; man sieht von Nordosten hin. Dies sind die Magaziuräume. Hier die kleine Kuppel zwischen den zwei Querbauten und hier das lleiz- und Beleuchtungshaus.

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Abbildung 8:

Das ist nun der merkwürdige Bau, der ganz besonders stark ange­fochten wird. Diesen Anblick haben Sie, wenn man von der Westseite her an den Bau heranschaut: man sieht dann dieses Heiz- und Beleuch­tungshaus. Das ist nun auch so, daß man eben genötigt war, aus dem spröden Betonmaterial heraus zu formen und daß man aus künstlerischen Gesetzen heraus, aus künstlerischen Empfindungen sich sagte: Da ist mir alles dasjenige gegeben, was als Beleuchtungsmaschinerie, als Behei­zungsmaschinerie notwendig ist: das ist mir Nußkern, um den habe ich die Nußschale herumzubilden, für den Rauchabzug das Nötige zu bilden. Es ist schon, wenn ich mich trivial so ausdrücken darf, dieses Prinzip der Nußschalenbildung ganz durchgeführt. Und derjenige, der über so etwas schilt, der sollte bedenken, was da stehen würde, wenn nicht dieser Versuch gemacht worden wäre, der vielleicht heute noch unvollkommen gelungen ist. Hier würde nämlich ein roter Schornstein stehen! Einen Utilitätsbau hat man eben im Grunde 50 zu schaffen, daß man erstens das nötige Materialgefühl sich aneignet und dann durchaus aus der Be­stimmung heraus die Umrahmung findet.

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Abbildung 9 (Seite 39):

Hier gestatte ich mir den Grundriß des Ganzen zu zeigen. Der Haupt­eingang von Westen her: man kommt durch einige Vorräume in den Zuschauerraum herein. Dieser Zuschauerraum umfaßt an einzelnen Stühlen 900 bis 1000 Zuhörer beziehungsweise Zuschauer. Hier sehen Sie einen Umgang, der nach innen abgeschlossen ist durch sieben Säu­len auf jeder Seite. Symmetrisch ist hier nur einmal angeordnet: näm­lich im Verhältnis zu der Westostachse. Das ist die einzige Symmetrie-achse. Nur in bezug auf diese Symmetrieachse, die Ostwestachse, sind die Motive des Baues symmetrisch gestaltet; sonst findet sich keine Wie­derholung. Daher sind die Säulen mit Kapitälen und Sockeln versehen, die nicht einander gleich sind, sondern die in fortschreitender Ent­wickelung sind. Wenn Sie also eine erste Säule haben links und rechts, eine zweite Säule links und rechts, so ist allerdings Kapitäl und Sockel immer von der linken Seite betrachtet gleich dem der rechten Säule, aber die folgenden Säulen weisen immer andre Kapitäle und Sockel und darüber andre Architravmotive auf. Das ist durchaus so, daß es sich als eine Notwendigkeit ergeben hat aus dem organischen Bauen heraus, und zwar beruht das auf einer künstlerischen Ausgestaltung des Goethe­schen Metamorphosenprinzips. Goethe hat ja diese Metamorphosen-lehre, die meiner festen Überzeugung nach noch eine große Rolle spielen wird in der Wissenschaft von dem Lebendigen, in genialischer Weise ausgebildet. Wer heute noch sein einfach geschriebenes Büchel­chen: ,,Versuch, die Metamorphose der Pflanze zu erklären" von 1790 liest, hat vor sich eine grandiose naturwissenschaftliche Abhandlung, die eben einfach nach den heutigen Vorurteilen nicht genügend gewür­digt werden kann. Wenn man einfach es ausdrücken will, muß man sagen: Goethe sieht die ganze Pflanze als ein kompliziertes Blatt an. Er beginnt nun mit dem untersten Blatte, das am nächsten dem Boden ist, verfolgt die Blätter nach oben bis zu den Herzblättern, die ganz

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anders geformt sind als die Laubblätter' dann die Blumenblätter, die sogar ganz anders gefärbt sind, dann wiederum die ganz anders ge­formten Staubgefäße und Stempel. Da sagt Goethe: Alles dasjenige, was in scheinbar so verschiedener Metamorphose in den Blättern der Pflanze erscheint, ist so, daß es sich zurückführen läßt auf ein ideell Gleiches und nur für den äußeren Sinnenschein in verschiedenen Metamorpho­sen auftritt. Im Grunde genommen wiederholt das Pflanzenblatt immer dieselbe Grundform; nur in der äußeren sinnlichen Anschauung ist das ideell Gleiche verschieden ausgestaltet, metamorphosiert. Dieses Meta­morphosieren bildet das Grundprinzip in der Gestaltung alles Leben­digen. Man kann das nun auch ins k;instlerische Formen und Schaffen heraufheben, und dann kann man das Folgende machen:

Man gestaltet zunächst das einfachste Kapitäl oder den einfachsten Sockel aus für die erste Säule, die man hier hat, und dann übergibt man sich gewissermaßen den schaffenden Kräften der Natur, die man zuerst zu erlauschen versucht hat - nicht mit abstraktem Denken, sondern mit innerlicher Empfindung, die mit Willensimpuls Anteil an dem Schaffen der Natur erlauscht hat, und dann versucht man, aus dem einfachen Motiv der ersten Säule ein etwas komplizierteres der zweiten Säule hervorzubringen, wie das etwas höherstehende Blatt an der Pflanze komplizierter ist als das vorhergehende, aber eine Meta­morphose darstellt. So daß also tatsächlich alle diese sieben Säulenkapi­täle aus einander hervorgeholt sind, metamorphosisch aus einander hervorwachsen, wie die Formen der Blätter, die auf einander sich bil­den im Werden der Pflanze, metamorphosisch sich bilden. Es ist da­durch ein wirkliches Nachschaffen dem organischen Naturschaffen in diesen nicht einfach dasselbe wiederholenden Kapitälen, sondern es sind die Kapitäle in fortdauerndem Wachstum, vom ersten bis zum siebenten.

Nun kommen natürlich die Leute, sehen da sieben Säulen - tiefe

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Mystik! Ja, es finden sich natürlich auch Mitglieder der Anthroposophi­sehen Gesellschaft' aje in allerlei aunklen geheimnisvollen Änaentungen reden von der tiefen Mystik dieser sieben Säulen und so weiter. Es ist eben gar nichts darinnen als das künstlerische Empfinden. Ist man nam­lich bei der siebenten Säule angekommen, so steht dieses Motiv der sie­benten Säule dem der ersten Säule gerade so gegenüber - wenn man wirklich so geschaffen hat, wie die Natur schafft -, wie die Septime der Prim gegenübersteht - und wie man in der Oktave die Prim wiederholt hat, so hätte man das Erste zu wiederholen, wenn man zum Achten übergehen würde.

Hier sehen Sie die Grenze zwischen der großen und kleinen Kuppel; da steht das Reduerpult, das versenkbar ist, weil es entfernt werden muß, wenn gespielt wird. Hier wiederum zwölf Säulen im Umkreise, die Grenze des kleinen Kuppelraumes, die beiden Querbauten für Ankleide­räume und so weiter.

Abbildung 10:

Hier habe ich einen Durchschnitt durch die Mitte geführt. Vom Westen kommt man herein durch die Vorräume. Hier ist der Bühnen-raum, von hier aus der Zuschauerraum ansteigend, die Bankreihen, wiederum die sieben Säulen, hier durch eine besondere schwierige mechanische Zusammengliederung die große Kuppel mit der kleinen zusammengeschlossen. Die Magazinräume, der Betonunterban, die Gar­deroberäume zum Ablegen. Hier geht man hinein, und hier sind dann die Treppen; hier kommt man herauf und da ist dann das Haupttor, durch das man eintritt.

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Abbildung 11:

Hier habe ich mir erlaubt, Ihnen mein ursprüngliches Modell durch­schnitten vorzulegen. Der ganze Bau ist ja urspünglich von mir im Jahr 1913 modelliert worden. Sie sehen hier zunädist den Zuschauer­raum mit seinen sieben Säulen, die Vorräume, hier nur angedeutet das Innere der großen Kuppel, das dann ausgemalt worden ist; hier im kleinen Kuppelraum überall die Kapitäle - ich werde sie gleich im einzelnen zeigen - hier die Architravmotive dar;iber; hier die Sockel-motive, immer eins aus dem andern metamorphosiseh hervorgehend. Es ist also nur, wie gesagt, eine Symmetrielinie, die Mittelachse des Baues. Sonst sind keine Wiederholungen zu finden, außer dem, was links und rechts gelegen ist.

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Abbildung 12:

Von der Terrasse aus gesehen noch einmal der Anblick des West­tores, des Haupteingangstores, mit zwei Flügelbauten, die notwendig sind.

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Abbildung 13:

Da ist ein solcher Flügelbau. Hier steht dann auch das Haus von Dr. Grosheintz, ein ganzer Betonbau mit etwa fünfzehn Räumen, ein Fami­lienhaus, wo ich versuchte, aus dem Betonmaterial heraus mit dem Ein-leben in dieses Betonmaterial ein Wohnhaus herzustellen. Das ist in der Nähe des Goetheanum für denjenigen erbaut, der uns den Grund und Boden geschenkt hat.

Sie sehen hier, wie versucht ist, das Motiv zu metamorphosieren. Alles, was an diesem Bau ist, geht so wie ein Pflanzenblatt aus dem an­dern, sozusagen in seiner Form aus der andern Form hervor: es ist durchaus in künstlerischem Sinne das Wirken der Metamorphose.

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Abbildung 14:

Der nordliche Flugelbau.

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Abbildung 15:

Hier ist einer der Seitentrakte, der Südtrakt. Sie sehen hier, wie das Motiv, das über dem Westeingang ist, in ganz andrer Form auftritt. Es ist der Idee nach dasselbe, der äußeren Form nach ganz anders. Das ist gerade so, wie, sagen wir, das gefärbte Blumenblatt der Idee nach das­selbe ist wie das unterste grüne Pflanzenblatt, und doch wiederum in äußerer Metamorphose etwas ganz anderes.

So kann man in der Tat, indem man sich - aber empfindungsgemäß verstehend, nicht abstrakt gedanklich verstehend - in das Metamorpho­sische hineinlebt, hineinfindet, indem man sich an dasselbe hingibt, die­sen organischen Baugedanken empfinden. Das sollte eigentlich nicht er­klärt werden, sondern es sollte alles durch den Anblick selbst gegeben sein. Wenn einmal der Bau fertig ist, werden diejenigen, die bekannt sind mit dem, was anthroposophische Gesinnung, anthroposophisches Fühlen ist, den Bau durchaus nicht als symbolisch empfinden, sondern als etwas, was aus dieser gesamten Empfindung herausfließt. Natürlich wird man sagen, es müßte aus dem allgemein Menschlichen heraus-fließen; aber dieses allgemein Menschliche, das ist ja nur ein Nebel- und Phantasiegebilde, ein Phantastisches. Das Menschliche ist das Konkrete. Derjenige, der niemals etwas vom Christentum gehört hat, versteht natürlich auch nicht die Sixtinische Madonna. Derjenige, der kein christ­liches Empfinden hat, würde niemals in St. Maria delle Grazie in Mailand das Heilige Abendmahl verstehen. Es ist durchaus so, daß man sich aus der Sprache heraus hineinleben kann in dasjenige, was gegeben wird; aber abgesehen davon ist an dem ganzen Bau nichts Symboli­sches, alle Formen sind metamorphosisch von einander verschieden.

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Abbildung 16:

Ecke des Sudflugels.

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Abbildung 17:

Nordlicher Flugel des Westportals.

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Abbildung 18:

Hier sehen Sie einen solchen Seiten-Querbau, ganz von vorne ange­sehen, also hier von der Südseite. Hier oben in wesentlich verwandelter, veränderter Metamorphose das Motiv, das auch über dem Westeingang ist. Alle diese Motive sind in verschiedenen Metamorphosen, so daß der ganze Baugedanke organisch durchgeführt ist. Ebenso würden Sie, wenii Sie die Säulen studieren würden, eine Grundform finden, und diese immer metamorphosisch gestaltet, wie schließlich beim Menschen die Schädelkno chen metamorphosische Umgestaltung der Rückenwirbelkno­chen sind, wie alles im Organismus bis in das einzelnste hinein meta­morphosische Umgestaltungen sind.

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Abbildung 19:

Der obere Teil: von der Terrasse aus für sich gesehen dieses Motiv, das eben etwas kleiner da war.

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Abbildung 20:

Das untere Tor des Ostportals für sich in einem früheren Stadium der Arbeit.

Abbildung 21:

Hier sehen Sie das Ostportal, das in die Magazinräume des Bühnen­trakts hineinführt. Wegen der Höhe der Kulissen mußte das Tor aus zwei Teilen bestehen: einer unteren Eingangstür für den täglichen Ge­brauch und einem oberen Teil für das Durchtragen der hohen Kulissen.

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Abbildung 22:

Sie sehen hier etwas von der Treppe, ein Stück des Treppenhauses. Man kommt etwa hier herein, würde durch den Haupteingang unten in den Betonban kommen, geht über die Treppe hinauf. Hier ist das Trep­pengeländer und hier ein Pfeiler zu sehen.* An diesem Pfeiler sehen Sie, wie versucht ist das organische Formgestalten des tragenden Pfei­lers, wie versucht ist dem Pfeiler diejenige Form zu geben, die er haben muß nach dem entgegengesetzten Ausgang zu, weil da wenig zu tragen ist; diejenige Form, die er haben muß da, wo er sich aufstemmt, wo die ganze Schwere der Treppe liegt. Natürlich kann man so etwas bloß geo­metrisch bilden. Aber es sollte eben einmal hier der Versuch gemachit werden, das Ganze wie beseelt zu bilden, so daß gewissermaßen der Schein der Bewußtheit des Tragens und Lastens hier drinnen liegt - jede Kurve, alles genau intuitiv abgemessen für die Stelle des Baues, an der sie sich befindet. Besonders wenn Sie sich dieses Motiv hier ansehen: es sind drei aufeinanderstehende halbzirkelförmige Kanäle.** Sie mögen es glauben oder nicht, aber es ist wahr, ich habe die Empfindung, wenn da jemand hinaufgeht und in den Zuschauerraum hineinkommt, so muß er eine gewisse Empfindung haben. Ich sagte mir: derjenige, der da hin­aufgehe, müsse die Empfindung haben: da drinnen, da werde ich mit meiner Seele geborgen sein, da ist Seelenruhe zum Aufnehmen der höch­sten Wahrheiten, die der Mensch zunächst erstreben kann. Deshalb ergab sich mir aus der Empfindung heraus die Ausgestaltung dieser drei halb­kreisförmigen Kanäle in den drei aufeinander senkrecht stehenden Raumrichtungen. Geht man nun über diese Treppe hinauf, so kann man dieses Gefühl der Beruhigung bekommen. Es ist nicht nachgebildet

- das ist es eben nicht -, aber erst nachträglich erinnerte ich mich, daß die drei halbzirkelförmigen Kanäle im Ohr ja auch in diesen drei aufemuanderstehenden

- - -

* (Dr. Steiner weist auf den Pfeiler rechts im Bild.)

** (Pfeiler am Beginn der Treppe.)

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Richtungen stehen. Wenn sie verletzt werden, fällt der Mensch in Ohnmacht: sie hängen also zusammen mit dem Gleich­gewichtsgesetze. Es ist nicht aus naturalistischer Nachahmungssucht her­aus entstanden, sondern aus demselben heraus, das miachempfunden ist demjenigen, nach welchem die Kanäle im Ohr angeordnet sind.

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Abbildung 23:

Hier kommt man von der Westseite herein, geht über die Treppe liimiauf' hier die drei aufeinander senkrecht stehenden halbzirkelför­migen Kanäle, und hier noch einmal dieser Pfeiler. Natürlich ist es ja nun schon einmal so im Leben - ich habe es oftmals erfahren -, wenn irgendwo die Leute einer Stadt einen Schauspieler oder eine Schauspie­lerin in bestimmten Rollen gesehen haben, und es ist nachträglich eine andere oder ein anderer gekommen, die gut, besser oder interessanter oder anders sein konnten: man beurteilt sie nach den früheren. Mach­ten sie alles gerade so wie die früheren, waren sie gut, machten sie es anders, waren sie schlecht, sie mochten an sich noch so gut sein. Und so beurteilen die Menschen natürlich auch so etwas nach dem, wie sie es gewöhnt sind, und wissen nicht, daß, wenn so etwas hingestellt ist, wirklich auch an seinem Orte nach den verschiedenen Seiten hin ver­schieden tragend oder den Schein des Tragens herausbringend, dies her-ausgeholt wird aus der ganzen Organik des Baues. Die einen fanden es zu dünn, nannten es rachitisch, die anderen fanden, daß es einem Ele­phantenfuß ähnlich sehe, wollten es aber auch wieder nicht Elephanten­fuß nennen, und so kam einer darauf, es so töricht wie möglich aus sei­ner Empfindung heraus einen ,,rachitischen Elephantenfuß" zu nennen. Das ist es ja, was heute so vielfach auftritt, wenn irgendwie der Versuch gemacht wird, aus dem Elementaren heraus etwas Neues zu holen.

Abbildung 24:

Ein Heizkörpervorsatz aus Beton. Auf dem Bilde oben sieht mami an­dere, die nur während der Arbeitszeit an jenem Orte gestanden haben.

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Abbildung 25:

Ist man nun über die Treppe heraufgegangen, so kommt man hier in den Vorraum, bevor man in den großen Kuppehraum hineingeht. Sie sehen hier nun schon den Holzbau beginnend. In dieser Höhe würde dann die Betonterrasse sein, darunter der Betonbau. Sie sehen an die­ser Säule, wie das Kapitäl wiederum mit allen seinen Kurven genau dem Ort angepaßt ist, aber nicht bloß schematisch räumlich, sondern dynamisch angepaßt ist. Dem Ausgang zu muß eiii anderer Ausdruck des Tragens, dem Eingang zu wieder ein anderer Ausdruck des Tragens in den Kurven sein als gegenüber dem Bau, wo wiederum entgegenge­stemmt werden muß. Daher mußten auch alle diese Holzformen, Säulen­kapitäle, Architrave und so weiter durch jahrelange Arbeit unserer Freunde von der Anthroposophischen Gesellschaft gemacht werden. Das alles ist ja Handarbeit, einschließlich hier zum Beispiel der Decke, die nun auch nicht eine schematische Form hat, sondern nach allen Seiten hin in ihren Kurven, in ihren Flächen individuell ausgestaltet ist, nach der einen Raumrichtung anders ausgehöhlt ist als nach der anderen Raumrichtung. Und das alles nach dem Gesetze, wie etwa das Ohr nach vorn anders ausgehöhlt ist als es nach hinten ausgehöhlt ist, und so weiter.

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Abbildung 26:

Sie sind gewissermaßen jetzt im Zuschauerraum, sehen vom Zu­sehauerraum auf die Säulen hin. Hier ist das Orgelmotiv, hier sind die zwei ersten Säulen mit ihren Kapitälen. Wir kommen dann zu den ver­änderten, metamorphosierten Kapitälen der zweiten, dritten, vierten Säule und so weiter - ich werde das gleich im einzelnen zeigen -, dar. über immer die Architravmotive und unten die Sockelmotive.

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Abbildung 27:

Hier wiederum, wenn man sich im Zuschauerraum umdreht und nach dem Westen sieht, das obere, das Orgelmotiv; die erste, zweite Säule mit Kapitälen links und rechts, die Kapitäle und die darüber­liegenden Architrave durchaus einfach gestaltet. Ich werde nun im Fol­genden immer eine Säule und die folgende zeigen, und dann jede Säule mit dem Säule ukapitäl für sich, so daß Sie sehen, wie immer das folgende Säulenkapitäl aus dem vorhergehenden metamorphosisch hervorgeht. Dadurch wird hier ganz besonders darauf hingewiesen, daß im Grunde genommen die einzelne Säule für sich gar nicht beurteilt werden kann, sondern nur die ganze Folge der Säulen in ihrer aufeinanderfolgenden Form.

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Abbildung 28:

Dieses Bild ist während des Bauens aufgenommen. Die Bilder sind zu verschiedenen Zeiten aufgenommen. Der Bau hat jetzt schon seit 1913 gedauert, wo der Grundstein gelegt worden ist, und die Bilder zeigen ihn in den verschiedensten Stadien.

Hier führe ich Ihnen das Orgelmotiv vor, die zwei ersten Kapitäle, die einfachsten mit den darüberliegenden Architrav-Motiven. Ich werde nun das Folgende so zeigen, daß ich immer eine Säule zeige, dann diese Säule mit der nächsten zusammen, dann die nächste wiederum mit der nächsten zusammen und so weiter, damit Sie sehen, wie das lebendige Sichfortfühlen von dem einen Säulenkapitäl zu dem andern und von dem einen Architrav-Motiv zu dem andern stattfindet.

Abbildung 29:

Hier sehen Sie also die erste Säule für sich, ein denkbar einfaches Motiv. Hinunterneigend, aufsteigend, das ganze aber in eimier polyedrisch­kugeligen Form empfunden.

Ab Abildung 30

#G289-1958-SE064 Der Baugedanke des Goetheanum

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Abbildung 30:

Hier sehen Sie das erste Motiv: ein Kapitäl mit dem darüberliegen­den Architrav; hier das zweite, aus dem ersten organisch hervorgehend. Das Motiv, das von oben nach unten geht, wächst; im Wachsen metamor­phosiert es sich, ebenso das Motiv von unten nach oben. Man muß ge­wissermaßen sich hineinversetzt empfinden in die Kräfte, die tätig sind, wenn ein oberes Pflanzenblatt, in seiner Form metamorphosiert, gegen-über dem unteren entsteht: so wächst auch dieses erste einfache Motiv zu einem mehr komplizierteren. Darauf kommt es an, daß man die ganze Folge der Motive nimmt, denn immer gehört das eine mit dem andern zusammen: überhaupt gehören alle sieben zusammen, bilden ein Ganzes.

Abbildung 31:

Hier haben Sie die zweite Säule für sich. Es ist also überall so, daß das nächste Motiv aus dem vorhergehenden metamorphosisch hervor­geht.

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Abbildung 32:

Die zweite und dritte Säule. Wiederum komplizierter das dritte Ka­pitälmotiv mit dem Architravmotiv darüber. Wenn man eben nicht sie symbolisch erklären will oder mit irgendwelchen intellektuellen Dingen an sie herankommt, sondern mit der Empfindung, dann wird man schauen das Hervorgehen des einen aus dem andern, so daß man im Empfinden diese komplizierte Form wirklich herausbekommt.

Abbildung 33: Die dritte Säule für sich.

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Abbildung 34:

Die dritte und vierte Säule, das heißt die Kapitäle davon mit dem Architravmotiv. Hier könnte man glauben, daß in diesem Architrav-motiv gesucht worden ist, eine Art Merkurstab zu bilden. Aber gesucht wurde es nicht, sondern es ist einfach empfunden, wie diese sich tref­fenden Formen, wenn sie weiterwachsen, sich weiter komplizieren, wie sie da ,,werden", und dann ergibt die Empfindung dieses merkurstab­artige Motiv wie von selbst. Ebenso, wenn dies (Kapitäl der dritten Säule) weiter wächst - von unten nach oben vereinfachen sich die Dinge, von oben nach unten komplizieren sie sich - dann entsteht diese Form (Kapitäl der vierten Säule), die ich jetzt wieder für sich zeigen werde.

Abbildung 35: Die vierte Säule.

Abbildung 36: (Seite 71)

Die vierte und fünfte Säule. Da geht aus diesem, wenn man es sich weiter nach unten wachsend denkt, diese Form hervor, wird jetzt wie­derum einfacher; und das von unten nach oben, das sproßt - möchte ich sagen - in reicherer Form nach oben. Es ist das Merkwürdige: Man glaubt, wenn man an Entwickelung denkt, aus einer gewissen falschen

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Vorstellung, die sich allmählich gebildet hat, die Entwickelung gehe so vor sich, daß man zuerst ein Einfaches hat, dann ein Komplizierteres und dann ein immer mehr Komplizierteres, und das Vollkommenste sei das Allerkomplizierteste. Wenn man sich nun recht in die Ent­wickelungsimpulse hin einversetzt mit der künstlerischen Empfindung, so sieht man, daß das gar nicht so ist; daß man allerdings zuerst von dem Einfachen immer mehr zu dem Komplizierteren vorrücken muß; dann aber kommt man in der Mitte der Entwickelung an das Kompli­zierteste, und dann wird es, indem es dem Vollkommenen zugeht, wie­derum einfacher.

Das war, während ich die Modelle ausgearbeitet habe zu diesen Sachen, für mich eine außerordentliche Überraschung. Ich mußte vom Einfachen zum Komplizierteren übergehen - Sie sehen, wir sind hier bei der vierten und fünften Säule, also in der Mitte ungefähr der sieben Säulenformen -, und ich mußte in der Mitte das Kompli­zierteste haben und dann wiederum zu dem Einfacheren übergehen. Und gehe ich zurück, wie die Natur selber schafft, so finde ich das auch beim menschlichen Auge, aber das menschliche Auge, obwohl es das vollkommenste ist, ist nicht das komplizierteste. Wir haben bei gewissen niederen Tierformen im Auge zum Beispiel den Fächer, den Schwert-fortsatz. Das Auge gewisser niederer Tierformen ist in gewisser Bezie­hung komplizierter als das vollkommene des Menschen. Auch in der Natur geht es nicht so vor sich, daß man vom Einfacheren zu dem Kom­plizierteren und immer Komplizierteren kommt, sondern, wenn man die Dinge weiter betrachtet, kommt man wieder zu dem Einfacheren. Das Vollkommenere ist wiederum einfacher. Und das stellt sich als eine künstlerische Notwendigkeit bei einem solchen Schaffen auch wie­derum heraus.

Abbildung 37: Die fünfte Säule für sich.

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Abbildung 38:

Jetzt die fünfte und sechste Säule. Sie sehen, hier ist das Säulen­kapitäl (bei der fünften) verhältnismäßig noch kompliziert; wächst es weiter, so wird es wieder einfacher: so daß also diese sechste Säule, ob­wohl sie vollkommener in ihrer Gestaltung, edler ist, wieder einfacher ist. Ebenso das Architravmotiv.

Abbildung 39: Einzeln für sich diese sechste Säule.

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Abbildung 40:

Sechste und siebente Säule, wesentlich wiederum vereinfacht.

Abbildung 41: Die siebente Säule für sich, wiederum vereinfacht.

Nun sind wir die Säulenordnungen des großen Kuppeiraumes durch­gegangen. Ich werde Ihnen nun auch noch aufeinanderfolgend die Sockelfiguren zeigen, die ebenso metamorphosisch organisch auseinan­der hervorgewachsen sind.

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Abbildung 42:

Dieses ist die siebente Säule, das Architravmotiv, hier ist der Spalt zwischen dem großen und dem kleinen Kuppelraum; hier ist der Vor­hang drinnen. Dann die erste Säule des kleinen Kuppelraumes. (Wäh­rend der Arbeit aufgenommen mit den Werkgerüsten.)

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Abbildung 43: Hier zeige ich aufeinanderfolgend die Sockelfiguren. Erster Sockel.

Abbildung 44: Jedes geht immer metamorphosisch hervor aus dem andren. Zweiter Sockel.

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Abbildung 45: Die Metamorphose schreitet vorwärts. Es ist immer so, wenn man sie durchfühlt: sie neigt sich wiederum nach abwärts und neue Formen entstehen, weiten sich aus. Dritter Sockel.

Abbildung 46: Wieder komplizierter. Und nun begilillen mit den Sockel-figuren die Vereinfachungen, indem man zu dem Vollkommenen kommt. Vierter Sockel.

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Abbildung 47: Weiteres Sockelmotiv. Es kann eben die Notwendigkeit der Fortentwickelung nur künstlerisch gefühlt, nicht ausspekuliert wer­den. Fünfter Sockel.

Abbildung 48: Wenn Sie sich das null geändert denken, kommt dies heraus. Sechster Sockel.

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Abbildung 49: Diese siebente Sockelfigur ist verhältnismäßig wieder sehr einfach.

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Abbildung 50: Hier sehen Sie aus dem Zuschauerraum in den kleinen Kuppelraum hinein. Man sieht noch die letzte Säule des Zuschauer-raums, dann Säulen, Architrave des kleinen Kuppelraums. Das ist der Abschluß des großen Kuppelraums, hier die Mitte des kleinen Kuppel-raums. Hier ist eine Art Architrav ausgestaltet zwischen den zwei mitt­leren Säulen. Es ist nicht irgendeine symbolische Figur. Wenn Sie dar­innen ein Pentagramm sehen wollen, so können Sie es in jeder fünf­blättrigen Blume sehen. Wir haben synthetisch alle Linien und Kurven zusammengefaßt, die an den einzelnen Säulen verteilt sind. - Oben ist dann die kleine Kuppel ausgemalt. Ich werde über dieses Ausmalen noch zu sprechen haben.

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Abbildung 51: Die bei<1en ersten Säulen und Architrave (1es kleinen Kuppelraums. Hier sind, wie Sie sehen, wiederum nicht etwa die Ka­pitäle des großen Kuppelraums wiederholt, sie entsprechen dem gan­zen Baugedanken. Da der kleine Kuppelraum kleiner ist und jedes Organ, das eben im organischen Zusammenhang kleiner ist, auch andre Formen hat, so ist das durchaus auch festgehalten hier in der Formung des Ganzen.

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Abbildung 52: Hier ist wiederum der Einblick in den kleinen Kuppel­raum, die zwei letzten Säulen des großen Kuppelraums; dasselbe Mo­tiv, das Sie gerade in anderem Aspekt gesehen haben - und hier der kleine Kuppelraum. Man kann natürlich hier von den Malereien nichts sehen, es konnte nur die Situation hier angedeutet werden.

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Abbildung 53: Dieses Bild ist während des Bauens aufgenommen; da­11er ist es mit dem Gerüst versehen. Einzelne Säulen des kleinen Kup­pelraums. Es ist, wenn man hineingeht von Westen nach Osten hier zur linken Hand gesehen. Hier ist der Architrav des kleinen Kuppel. raums. Die Sockel der Säulen sind umgestaltet zu Sitzen.

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Abbildung 54: Die erste Säule der kleinen Kuppel.

Abbildung 55: Die nächste wird jetzt nach dem Wachstumsprinzip sich komplizierter darstellen.

Abbildung 56: Die nächste wiederum komplizierter.

Abbildung 57: Nun kommt es nach der Vereinfachung hin, die aber eine Scheinvereinfachung ist: es ist eben ein Herauswachsen.

Abbildung 58: Die Säulen gehen metamorphosisch auseinander hervor.

Abbildung 59: Die nächste und letzte Säule.

Abbildung 60 (Seite 89):

Da kommen wir nun schon an die zwei Säulen, die das Ost-Ende eingrenzen. Hier haben wir die Schnitzereien des Ost-Endes. Ich möchte sagen: Die Formen können hier mehr empfunden als gesehen werden. Wenn Sie genau zusehen, so werden Sie finden, daß in der Schnitzerei hier im Ost-Ende synthetisch all dasjenige zusammengefaßt ist, was die andern Formen der Säulen und Architrave enthalten, natürlich aber für die Wölbung des Raumes metamorphosisch geändert. Darüber ein Fünfblatt. Da kann sich ja jeder, der da will, das Pentagramm hinein-denken, aber so, wie man sichs auch selber in ein Pflanzenblatt, in ein fünfblättriges Pflanzenblatt der Natur hineindenken kann. Ein Sym­boliker würde dort irgendein Pentagramm angebracht haben. Aber dann würde man nach dem Prinzip handeln, nach dem vielfach leider gehandelt worden ist. Man hat es immer wieder erleben müssen, und wurde peinlich davon berührt, daß sich unkünstlerische Motive geltend machen, die symbolisch etwas ausdrücken sollen. Gerade wenn man in der Lage ist, das Geistige ganz auszugießen in die künstlerischen For­men, dann ist das erreicht, was hier erreicht werden soll: nicht auf­dringliche Symbole, sondern ein Gestalten in den Formen. Aber ein solches Gestalten in den Formen, in dem der Geist lebt. Der bringt sich nicht symbolisch durch irgeiidwelche Form zum Ausdruck, sondern es haben die Formen wirklich innerliche Wachstumskräfte in sich.

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Abbildung 61: Sie sehen hier einzelne Formen des Architravs etwas deutlicher.

Abbildung 62: Ein Detail von der Seite des kleinen Kuppelraumes.

Abbildung 63: Hier würden die Säulenordnungen weitergehen links und rechts. Das ist in der Mitte im Osten unmittelbar unter dem klei­nen Kuppelraum' wo in den verschiedensten Formen synthetisch alle Linien, alle Kurven zusammengefaßt sind, die sich sonst finden. Es ist dies eine Art Architrav, Mittelarchitrav; darunter steht dann die Gruppe, von der ich sprechen werde, eine neuneinhalb Meter hohe llolzgruppe, deren Mittelfigur eine Art Menschheits-Repräsentanten darstellt. Dar­über der kleine Kuppelraum.

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Abbildung 64: Das in massiven Holz geschnitzte Rednerpult.

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Abbildung 65 (Seite 95):

Wir kommen nun zu der Ausmalung des kleinen Kuppelraums. Nun kann ich Ihnen hier, indem ich zu Ihnen von dieser Ausmalung des kleinen Kuppelraums spreche, nur von dem einen, insbesondere von die­sem kleinen Kuppelraum die Bilder vorführen. Bei der Ausmalung des großen Kuppelraums ist das noch nicht vollständig gelungen, aber bei der Ausmalung des kleinen Kuppelraums, da ist dasjenige in einem ge­wissen Grade versucht zu verwirklichen, was ich eben eine Person in meinen Mysteriendramen ausdrücken ließ über die neue Malerei: daß die Form der Farbe Werk sein soll, das heißt, daß man wirklich sich aufraffen soll zum totalen Empfinden der Farbenwelt als solcher.*

Wenn man die Farbenwelt überblickt, so ist sie tatsächlich eine Art Totalität, eine Welt für sich, und wenn man ganz lebendig sich hinein-fühlt in das Farbige, dann sprechen, ich möchte sagen, Rot und Blau und Gelb untereinander. Man bekommt ein völlig Lebendiges innerhalb der Farbenwelt und man lernt sozusagen eine Welt des Farbigen als eine wesenhafte zugleich kennen. Da hört dann das Zeichnen auf, da emp­findet man das Zeichnen zum Schluß als etwas Verlogenes. Was ist denn die Horizontlinie? Zeichne ich sie mit Bleistift auf, so zeichne ich ja eigentlich eine Unwahrheit hin. Unten ist die grüne Meeresfläche, oben die blaue Fläche des Himmelsgewölbes, und wenn ich irgend Farbe hin-lege, dann ergibt sich die Form, die Linie als die Grenze der Farbe.

Und so kann man aus dem Farbigen heraus wirklich alles schaffen, was man wesenhaft als Malerei auf die Wand bringen will. Man täusche sich nicht, weil dä Motive, weil da allerlei Figuren darauf sind, sogar kulturhistorische Figuren. Mir kam es beim Ausmalen dieser kleinen Kuppel nicht darauf an, diese oder jene Motive zu zeichnen, an die Wand zu bringen, mir kam es darauf an, daß zum Beispiel hier ein Orangefleck

* ,,Die Pforte der Einweihung". Ein Rosenkreuzermysterjum durdi Rudolf Steiner (8. Bild).

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in verschiedenen Nuancen des Orange ist: aus diesen Farbennuancen ergab sich die Gestalt des Kindes. Und hier kam es mir darauf an, daß sich das Blau angrenzte: da ergab sich mir die Gestalt, die Sie gleich sehen werden. Es ist durchaus die Gestalt, das Wesenhafte, ganz aus der Farbe herausgeholt. Hier findet sich also ein fliegendes Kind in Orangenuance, hier würde der Spalt sein zwischen dem großen und kleinen Kuppel-raum, und das ist die Ausmalung des ersten, was auf der Fläche der kleinen Kuppel gemalt ist. Aber indem Sie diese Motive sehen, werden Sie am besten die Sache empfinden, wenn Sie sich sagen: daran kann ich eigentlich gar nichts sehen, das muß ich farbig sehen. Denn es ist eben durchaus aus der Farbe heraus empfunden und gedacht und gemalt.

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Abbildung 66:

Hier sehen Sie das einzige Wort, das sich im ganzen Bau findet. Sonst wird nirgends eine Inschrift zu finden sein; es soll alles ins Künstle­rische, ins Formhafte ausgestaltet sein. Aber hier finden Sie das Wort ,,Ich". Es ist aus dem Blau heraus eine Art Faustfigur entstanden, also der Mensch des sechzehnten Jahrhunderts. Da ist wirklich aus dem Farbenempfinden heraus das ganze Erkenntuisproblem des modernen Menschen gestaltet worden. Dieses Erkenntnisproblem des modernen Menschen empfindet man ja nur abstrakt, wenn man so empfindet, wie es heute bildhaft dargestellt wird. Dasjenige, was wir heute an Natur­gesetzen überblicken, es drängt sich in die Seele herein, wenn wir nicht bloß als Abstraktlinge schulmäßig die Dinge betrachten, sondern wenn wir mit unserem ganzen Menschen streben, uns in die Weltenrätsel und Weltengeheimnisse zu versenken, wie wir es ja müssen, um ganz Mensch zu sein, um unserer Menschenwürde uns bewußt zu werden. Dann stellt sich hin neben den strebenden, den nach Erkenntnis strebenden Menschen, der wirklich in dem Faust, ich möchte sagen, aus dem geheimnisvollen mystischen Blau herausstrebt, strebt nach dem vollbewußten Ich, dem sich ins Wort bringenden Ich - die älteren Sprachen haben ja das Ich im Verbum darinnen; für diese Zeitepoche ist man berechtigt ein Wort auftreten zu lassen; sonst ist im ganzen Bau kein Wort, keine Inschrift oder dergleichen, alles ist in künstlerischen Formen ausgedrückt -aber es stellt sich neben den nach Erkenntnis strebenden Menschen das Kind hin, die Geburt, und das andre Ende des Lebens, der Tod.

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Abbildung 67: Der Tod; darüber würde die Faustfigur sein, die Sie eben gesehen haben, darunter der Tod, und weiter herüber dieses flie­gende Kind (Abbildung 68). Dieses hier (der Tod) in Bräunlich-Schwarz, der Faust in Blau, das Kind in verschiedenen Orange-Gelb-Nuancen.

Ab Abbildung 69

#G289-1958-SE100 Der Baugedanke des Goetheanum

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Abbildung 69: Sie sehen hier zusammengestellt: unten das Totenge­rippe, den Faust, dieses Kind, das Sie im einzelnen gesehen haben, dar-über eine Art Inspirator, eine engelartige Figur, die ich noch als ein­zelnes zeigen werde. Hier schließen sich dann andere Gestalten an. Es ergab sich aus den Farbflächen, die ich gerade an der Stelle anbringen wollte, die Notwendigkeit, wie gesagt, den strebenden Menschen der letzten Jahrhunderte hinzustellen. Hier ist dann das strebende Grie­chentum. Sie werden es noch im einzelnen sehen.

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Abbildung 70: Der Genius in Blau, der über der Faustgestalt, wie von oben die Faustgestalt inspirierend ist.

Abbildung 71 (Seite 102): eine Art Athenefigur, aus einem Bräunlich­Orange herausgeholt mit lichtem Gelb. Es ist die Art und Weise, wie das Griechentum sich in die Erkenntnis, in die ganze Weltempfindung hereingelebt hat. Diese Gestalt, die wir hier haben, wird, wie vorher Faust von seinem Engel inspiriert wird, von einer Art Apollogestalt inspiriert (Seite 103); sie versetzt uns eben in das Griechentum zurück.

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Abbildung 72 (Seite 103):

Der inspirierende Apollo. Es ist hier eine besondere Sorgfalt ver­wendet auf dieses helle Gelb, durch das diese Apollogestalt aus der Farbe heraus zu schaffen versucht worden ist. Dieses helle Gelb -- ich versuchte ihm einen gewissen Charakter des Strahlenden zu geben durch die Art der technischen Behandlung.

Abbildung 73 (Seite 104):

Hier sehen Sie zwei Gestalten, welche nun iiispirieren den erken­nenden und die Welt empfindenden ägyptischen Eingeweihten. Es ist in etwas dunklerer Farbe gehalten, ich möchte sagen: braunrötlich gehalten, und auch der ägyptische Eingeweihte, der sich darunter befindet, ist in dieser Art gehalten.

Abbildung 74 (Seite 105):

Der ägyptische Erkennende, also das Gegenbild für jene alte Zeit, was bei uns der nach Erkenntnis strebende Faust ist.

Abbildung 75 (Seite 107):

Hier sehen Sie zwei Gestalten, die ich genötigt biii, iti der Geistes­wissenschaft immer mit bestimmten Namen zu belegen, weil sie immer wiederkehren. Man soll sich nur nichts von nebuloser Mystik dabei denken, sondern nur von der Notwendigkeit, eine Terminologie zu haben; wie man von Nord-, Süd-Magnetismus und so weiter spricht, so spreche ich von dem Luziferischen und Ahrimanischen. Der Mensch, wenn er uns gegenübersteht, er kann aus seiner eigenen Wesenheit nicht, eigentlich auch nicht mit allen möglichen Erkenntniskräften, auf ein­mal überschaut werden. Er hat die beiden entgegengesetzten Polari-täten in sich: dasjenige, was in ihm immerzu nach der schwärmerisch falschen Mystik, falschen Theorie binstrebt, was immer über seinen Kopf

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hinaus streben will nach dem Unwirklichen, Bodenlosen, nach dem Ne­bulosen: das Luziferische; und dasjenige, was ihn zum Philister macht, was in ihm den Geist der Schwere veranlagt: das Ahrimanische, das hier mit seinem Schatten gemalt ist. Das Luziferische ist aus dem Gelb-Röt­lichen herausgemalt, das Ahrimanische aus dem Gelb-Bräunlichen. Es ist das Dualistische der Menschennatur. Wir können es physisch, phy­siologisch haben: dann ist das Ahrimanische im Menschen alles das­jenige, was ihn altern macht, was ihn in die Sklerose hineinbringt, in die Verkalkung, was ihn verknöchern läßt; das Luziferische ist alles dasjenige, was einen, wenn es krankhaft sich ausbildet, ins Fieber, in die Pleuritis bringt, was einen also nach derWärme hin sich entwickeln läßt. Der Mensch ist immer der Ausgleich zwischen diesen beiden. Man begreift den Menschen nicht, wenn man in ihm nicht den Ausgleich zwischen diesen beiden, dem Luziferischen und dem Ahrimanischen, sieht.

Insbesondere ist aber die über Persien herüberkommende germa­nisch-mitteleuropäische Kultur in ihrer Erkenntnis dieser Dualität ge­genübergestellt. Daher auch der erkennende Mitteleuropäer, der hier das Kind hat - wir werden ihn noch näher sehen -, inspiriert wird durch diese Dualität des Luziferisch-Ahrimanischen, mit der er durch sein innerlich tragisches Erkenntnisgeschick fertig werden muß.

Hier diese Art Dualismus noch einmal in der kleineren Figur, ken­taurartig ausgebildet. - Es ist das während des Krieges von mir gemalt worden, und man hat manchmal so seine Privatideen; aus der abstrak­ten Umgestaltung des Dualismus ist ja herausgewachsen das unglück-selige Gewebe der vierzehn abstrakten Punkte des Woodrow Wilson. Ich habe auch hier in der Schweiz immer wieder von dem Weltzerstöre­riscben dieser vierzehn Punkte gesprochen: daher machte ich mir das Privatvergnügen, hier Mr. und Mrs. Wilson in diesen Figuren zu verewi­gen. (Siehe Abbildung 78 Seite 112.) Aber das ist, wie gesagt, von einer geringen Bedeutung.

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Abbildung 76 (Seite 110):

Sie sehen hier die ahrimanische Figur herausgeholt und den Schat­ten darüber. Seelisch aufgefaßt ist dies alles dasjenige, was den Men­schen zum Materialistischen, zum Philiströsen, zum Pedantischen treibt, was er wird, wenn er - im Extrem sei es ausgesprochen - nur Ver­stand und kein Herz hat, wenn alle seine Kräfte, seine Seelenkräfte vom Verstand dirigiert werden. Und hätte der Mensch nicht das Glück, daß sich sein äußerer Leib mehr im Ausgleich befindet, würde sich sein äußerer Leib tatsächlich nach dem Seelischen bestimmen, würde er genau Ausdruck des Seelischen sein: alle diejenigen Menschen, die materialistisch fühlen, materialistisch empfinden, pedantisch empfinden, die fast ganz im Intellekt aufgehen, die würden äußerlich so ausschauen. Sie sind natürlich geschützt davor, die Menschen, dadurch, daß sich ihr Leib nicht immer nach dem Seelischen richtet, aber die Seele schaut dann so aus, wenii man sie sieht, wenn man sie leiblich empfindet.

Abbildung 77 (Seite 111):

Das Luziferische, aus dem Gelben herausgearbeitet, aus dem Gelben ins Helle gearbeitet: Das ist dasjenige, was der Mensch ausbildet, wenn er sich einseitig nach dem Schwärmerischen, einseitig nach dem Theo. sophischen auch gestaltet, wenn er über seinen Kopf hinaus will; man findet es oftmals ausgebildet bei einigen Mitgliedern auch der anthro­posophischen Bewegung, die immer einen halben Meter mit ihrem astra­lischen Kopf über ihren physischen hinauswachsen, damit sie auf alle Menschen heruntersehen können. Dieses ist also das andere Extrem, der andere Pol des Menschen.

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Abbildung 78: Hier unten ist gewissermaßen der germanische Einge­weihte, der germanische Erkennende in seiner Tragik, die darinnen liegt, daß auf ihn besonders die Dualität stark wirkt: das Luziferische und Ahrimanische; als Beigabe wiederum die Naivität des Kindes. Es

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ergab sich das für die künstlerische Empfindung. Das ist aus dem Braun-Gelben heraus gearbeitet, das Kind ist in dem hellen Gelb gehalten.

Abbildung 79: Dasselbe noch einmal, etwas vergrößert.

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Abbildung 80:

Hier kommen wir schon näher der Mitte des Kuppelraumes. Hier würde dieser Mann stehen mit dem Kinde, und weiter gegen die Mitte zu sind diese zwei Figuren, die aber eines sind. Es ist damit natür­lich nicht die jetzige, menschen- und weltverderberische russische Kul­tur oder Unkultur gemeint, sondern es liegt tatsächlich in dem Russi­schen der Keim für etwas Zukünftiges. Jetzt ist es nur überschattet durch dasjenige, was ja vom Westen importiert worden ist, durch das­jenige, was tatsächlich so bald als möglich von der Erde verschwinden muß, wenn es nicht ganz Europa mit in den Schlund ziehen will. Aber auf dem Grunde des russischen Volkstums liegt etwas Zukunftssicheres. Es sollte durch diese Gestalt ausgedrückt werden, die nur hier ihren Doppelgänger neben sich hat. Was im Russentum lebt, hat ja immer etwas wie einen Doppelgänger. Jeder Russe führt seinen Schatten mit sich herum. Wer einen Russen sieht, sieht immer eigentlich zwei, den Russen, der träumt, der eigentlich immer einen Meter über der Erde hinfliegt, und noch außerdem seinen Schatten. Das alles birgt Zukunfts-möglichkeiten. Daher diese charakteristische Engelfigur, die aus dem Blau heraus gemalt ist, aus den verschiedenen Nuancen des Blau. Dar­über eine Art Kentaur, eine Art Lüftekentaur.

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Abbildung 81: Hier bei dieser Figur alles im Unbestimmten, sogar noch das Sternenhafte über diesem russischen Menschen, der seinen Doppelgänger bei sich führt.

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Abbildung 82: Wir haben jetzt hier die Mitte überschritten. Das ist dieselbe Kentaurfigur - wenn man gegen Osten hinschaut, links ge­legen - wie die frühere rechtsgelegene von der Mitte. Diese Engel-figur ist die symmetrische zu derjenigen, die Sie eben gesehen haben. Diese aber hier ist aus dem Gelb-Orange heraus gemalt, und darunter würde sich jetzt der Russe mit seinem Doppelgänger befinden, aber symmetrisch zu dem, was vorhin gezeigt wurde.

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Abbildung 83:

Jetzt stehen wir in der Mitte des kleinen Kuppelraumes. Noch einmal auf der andern Seite das russische Motiv. Hier neben sehen Sie in einer Höhle liegend die Ahrimanfigur; hier oben den Mensch­heits-Repräsentanten. Man kann sich ihn als den Christus vorstellen. Ich habe ihn durchaus aus meinem Schauen als Christusgestalt gebil­det. Von der rechten Hand gehen Blitzstrahlen, welche wie Schlangen-windungen den Ahriman umgeben. Der nach oben gehende Arm mit der Hand geht zu Luzifer hinauf, der aus dem Rötlich-Gelben heraus gemalt ist.

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Abbildung 84: Hier sehen Sie etwas deutlicher die Luziferfigur -unten wäre die Christusfigur, den Arm heraufreichend -, hier ist das Antlitz, aus dem Gelb-Roten heraus gemalt. Es ist also das Luziferische dasjenige, was im Menschen über seinen Kopf hinausstrebt, das Schwär­merische, dasjenige, was uns dadurch unserem eigentlichen Menschen­tum entfremdet, daß es uns weltenfremd, bodenlos macht.

Abbildung 85: Ahriman in der Höhle. Sein Kopf hier nmwnnden von den Blitzesschlangen, die von der Hand des Christus ausgehen, der dann darüber steht. Hier der Flügel, das Braun-Gelb, mehr ins Bräunliche gehend, stellenweise ins Schwarzblaue hinunter gemalt.

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Abbildung 86:

Der gemalte Christus-Kopf zwischen Ahriman und Luzifer, den Bildern, die ich eben jetzt gezeigt habe. Sie sehen, es ist versucht, den Christus bartlos zu gestalten; den Bart haben ja die Christus-Bilder eigentlich erst seit dem Ende des fünften, sechsten Jahrhunderts. Na­türlich braucht mir das kein Mensch zu glauben, aber es ist das der Christus, wie er sich mir im geistigen Schauen darstellte, und da muß er bartlos dargestellt werden. Es ist also oben im Kuppelraum Chri­stus zwischen Ahriman und Luzifer gemalt, und darunter wird später stehen - sie ist noch lange nicht fertig - die neuneinhalb Meter hohe Holzgruppe, in der Mitte der Menschheitsrepräsentant, der Christus, den rechten Arm nach unten gesenkt, den linken Arm nach oben gehalten, durchaus so, daß diese Stellung wie die verkörperte Liebe darstellend, zwischen Ahrimanisches und Luziferisches hineingestellt ist. Beiden steht der Christus nicht aggressiv gegenüber. Der Christus steht da wie die in sich verkörperte Liebe. Luzifer stürzt nicht da­durch, daß Christus ihn stürzen macht, sondern dadurch, daß er die Christusnähe, die Nähe des Wesens, das die verkörperte Liebe ist, nicht vertragen kann.

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Abbildung 87:

[Das Gesamtbild der Holzgruppe wie sie nun im neuen Goetheannm aufgestellt ist. Das Werk war beinah, aber nicht ganz vollendet, als Rudolf Steiner den Meißel niederlegte. Man hat es in jenem Stadium gelassen, wie es war, ahs er zuletzt Hand angelegt hat. Marie Steiner.]

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Abbildungen 90 (Seite 128) und 91 (Seite 129) zeigen den Menschheits-repräsentanten, der in der Mitte der Holzgruppe steht. Ich bemerke aber ausdrücklich, es wird nicht irgendwie dastehen, daß das der Chri­stus ist, sondern man wird durchaus das empfinden müssen; aus den Formen, aus dem Künstlerischen heraus wird man es empfinden müssen. Gar keine Inschrift, außer dem Wort Ich, das ich vorhin anführte, ist im ganzen Bau zu finden.

Abbildung 92 (Seite 131):

Das ist von der linken Seite dieser Holzgruppe (nach dem Plastilin-modell aufgenommen): hier der hinaufstrebende Luzifer, und darüber ein Felsenwesen, das aus dem Felsen sich herausbildet, gewissermaßen der zum Organ umgestaltete Felsen. Hier ist dann Luzifer; hier würde der Christus stehen; hier ist der andere Luzifer, und das ist solch ein Felsen-wesen. Es ist das ein Wagnis, es ganz asymmetrisch zu machen-wie über­haupt die Asymmetrien bei diesen Figuren eine gewisse Rolle spielen -, weil hier nicht so komponiert ist, daß der Kompositionsgedanke etwa so gedacht wäre: man nimmt Figuren, stellt sie zusammen und macht ein Ganzes - nein, es ist das Ganze zuerst gedacht und das Einzelne herausgeholt. Daher muß links oben ein Gesicht eine andere Symme­trie haben als etwa rechts oben. Das ist ja ein Wagnis, in solchen Asym­metrien zu arbeiten, aber ich hoffe, daß man es künstlerisch gerecht­fertigt empfinden wird, wenn man einmal überhaupt den ganzen Bau-gedanken durchempfinden wird.

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Abbildung 93:

Von einem etwas anderen Aspekt aus: dieses eben besprochene Wesen, und da drunten das luziferische Wesen, das Haupt dieses Luziferwesens der Holzgruppe.

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Abbildung 94 (Seite 135):

Sie sehen das Modell des Ahrimankopfes. Es ist das ursprüngliche Modell in Wachs, 1915 von mir gebildet. Es ist der Versuch gemacht, das Antlitz des Menschen so zu gestalten, wie wenn in dem Menschen nur vorhanden wären die alternden Kräfte, die sklerotischen, die ver-kalkenden Kräfte, oder seelisch dasjenige, was den Menschen zum Phi­lister, Pedanten, Materialisten macht, was in ihm liegt, indem er ein intellektualisierendes Wesen ist. Hätte er eben gar kein Herz zu seinem Seelenleben, sondern nur Verstand, dann würde er diese Physiognomie darbieten. Man lernt das Wesen des Menschen nicht kennen, wenn man ihn nur etwa so beschreibt, wie es die gewöhnliche Physiologie und Ana­tomie tun. Da gelangt man nur einseitig zur Erkenntnis des menschlichen Wesens. Man muß übergehen zur künstlerischen Erfassung der Form, dann erst lernt man dasjenige kennen, was im Menschen lebt und leibt, was im Menschen wirklich ist. Man kann den Menschen niemals kennen lernen, wie es versucht wird in den Akademien, anatomisch oder phy­siologisch, man muß zum Künstlerischen aufsteigen - das gehört zum künstlerischen Erkennen - und muß nacherkennen, wenn Goethe sagt:

Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen beginnt, der emp­findet die tiefste Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.

Nicht bloß das abstrakte Wort, nicht bloß die abstrakte Idee und der abstrakte Gedanke, sondern auch das Bild gibt etwas von dem, was die Naturkräfte sind, was wirklich in den Naturgeheimnissen enthalten ist. Man muß zum Künstlerischen aufsteigen, sonst kann man die Natur nicht erkennen.

Der Bau darf sich mit vollem Rechte ,,Goetheanum" nennen, aus dem Grunde, weil eben gerade solches Goethesches Naturverständnis auch Weltverständnis anstrebt. Goethe sagt: Kunst ist eine besondere Art, die Geheimnisse der Natur zu enthüllen, die ohne die Kunst niemahs offen­bar werden könnten.

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Das ist mein ursprüngliches Ahriman-Mephistopheles-Modell. Mephi­stopheles ist ja nur eine spätere Metamorphose des Ahriman, der eben physiologisch-psychisch-spirituell das bedeutet, was ich gesagt habe. Die­ses Modell liegt allen Ahrimangestalten zugrunde. Es wurde ursprüng­lich eben für die Holzgruppe von mir 1915 ausgestaltet.

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Abbildung 95: Die in Holz geschnitzte Ahrimangestalt vom untern Teih der Holzgruppe.

Abbildung 96 (Seite 137): Detail aus dem Plastilinmodell, mittlerer Teil. Kopf des Ahriman.

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Abbildung 97 (Aufnahme nach dem Plastilin-Modell):

Die Luzifergestalt oben, stehend, hier der Brustkorb, flügelartig. Es ist so, daß man wirklich sich hineinleben muß in die ganze schaffende Natur, wenn man so etwas wie diese Luziferfigur plastisch ausgestalten will. Da kann nichts symbolisiert, da kann nichts allegorisiert werden, auch nichts nachgedacht werden und das Nachgedachte in frühere For. men gebracht werden, sondern man muß wirklich sich hineinvertiefen, wie die Natur schafft, muß kennen die Natur des menschlichen Kehl. kopfes, des menschlichen Brustkorbes, der Lunge, muß kennen das Ge­hörorgan, dann die verkümmerten Flugwerkzeuge, die der Mensch in seinen beiden Schulterblättern hat. Das alles muß in einen Zusammen­hang gebracht werden, denn der Mensch würde ganz anders aussehen, wenn er nicht intellektuell gebildet wäre, wenn das Herz hypertrophiscb alles überwuchern würde: da würde Herz, würden Hörorgane, flügel. artige Organe, alles eines sein. Wer nicht bloß das Naturalistische gelten läßt, sondern dasjenige, was ideell, spirituell in den Wesenheiten darin­nen ist, der wird in solcher Kunst erst sehen, was die Geheimnisse der Welt und des Daseins auch im Goetheschen Sinne enthüllt.

Da oben sehen Sie die Hände dieses asymmetrischen Felsenwesens.

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Abbildung 98:

Hier sehen Sie einen Bau, der in der Nachbarschaft des Goetheanum steht. Es mußte dieser Bau ursprünglich errichtet werden, um eine Art Glasradierung auszuführen. In der Holzwandbegrenzung des großen Kuppelraumes (des Goetheanum) sind zwischen je zwei Säulen einge­lassene Glasfenster, und diese Glasfenster sind nun nicht in alter Glas­fensterkunst gemacht, sondern in einer besonderen Kunst: ich möchte es Glasradierung nennen. Gleichfarbige Glasscheiben werden ausgraviert mit dem Demantstift, der in eine elektrische Maschine eingespannt wird, und der Künstler hat eigentlich, so wie er sonst als Radierer auf der Platte arbeitet, hier als Radierer auf Glas zu arbeiten, nur im größeren Maßstabe. So daß man in der einfarbigen Glasplatte herauskratzt, also ins Helle das betreffende Motiv hineinarbeitet. Dadurch haben wir diese Glasfenster bekommen, die verschiedene Glasfarben haben, so daß es eine harmonische Wirkung gibt. Betritt man den Bau, so kommt man zuerst zu einer Glasfarbe, dann zu der anderen, zu bestimmten Farben-harmonien. Diese Glasfenster mußten hier geschliffen werden; dafür wurde dieses Haus gebaut, das wiederum bis auf das Tor, bis auf die Treppe hinaus, in jeder Einzelheit individuell gestaltet ist. Hier hat man nicht die früheren Schlösser, die sonst vorhanden sind, sondern hier ist eine besondere Schloßform verwendet worden. Also bis ins einzelnste hin­ein individuell gestaltet.

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Abbildung 99: Das Tor zu diesem eben gezeigten Hause; unten die Treppe aus Beton.

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Abbildung 100: Nun komme ich noch einmal dazu, Ihnen dieses Heizhaus zu zeigen, von dem ich Ihnen ja gesagt habe, wie es entstanden ist: hier ge­wissermaßen en face. Es wird vielfach ärgerlich empfunden; die Leute be­denken aber nicht, was da stehen würde, wenn man nicht versucht hätte, aus dem Beton, diesem spröden Material heraus irgend etwas zu gestalten, was vielleicht später einmal vollkommener sein wird: es würde hier ein roter Schornstein stehen! Ich möchte wissen, ob er in Wirklichkeit schöner wäre.

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Abbildung 101 (Seite 146):

Sie sehen hier eines dieser Glasfenster (während der Arbeit im Ate-lier aufgenommen), das in Grün ausgeführt ist. Die Motive sind hier aus gleichfarbigen grünen Scheiben herausgeholt. Die Radierung gibt eigent­lich erst, ich möchte sagen, eine Art Partitur. Dieses ist erst dann ein Kunstwerk, wenn es an seinem Orte ist und die Sonne durchscheint. So daß der Künstler nicht das Kunstwerk fertig macht, sondern nur eine Art Partitur: wenn die Sonne durchscheint, ist mit dieser Radierung das erreicht, was mit dem durchfallenden Sonnenstrahl zusammen eigentlich erst das Kunstwerk gibt. Dadurch ist wieder etwas markiert, was aus dem ganzen Baugedanken von Dornach hervorgeht und hier physisch zum Ausdruck kommt.

Sehen Sie, der Dornacher Bau ist von Grund aus mit einem andern Baugedanken gebaut als sonstige Bauten. Die Wände bei den bisherigen Bauten sind abschließende Wände, sind künstlerisch auch als abschlie­ßende Wände gedacht. Keine Wand in Dornach ist so gedacht; die Wände sind in Dornach so gestaltet, daß sie gewissermaßen künstlerisch durch­sichtig sind, daß man also, indem man in dem Bau drinnen ist, sich nicht abgeschlossen fühlt. Es öffnen sich gewissermaßen alle Wände durch die künstlerischen Motive nach der ganzen großen Welt, und man tritt in diesen Bau mit dem Bewußtsein ein, daß man nicht in einem Bau, sondern in der Welt ist: die Wände sind durchsichtig. Und das ist in diesen Glas-fenstern bis zum Physischen hinein durchgeführt: sie sind erst ein Kunst­werk, wenn die Sonne hindurchscheint. Mit dem Sonnenstrahl zusammen gibt das, was der Künstler geschaffen hat, erst das Künstlerische.

Abbildung 102 (Seite 147):

Eine andere Fensterprobe, herausgeholt aus der gleichfarbigen Glas-scheibe. Dadurch, daß diese Fenster da sind, wird der Raum mit den har­monisch ineinanderschwimmenden Strahlen wiederum durchleuchtet, und

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man kann, insbesondere wenn man den Raum in den Vormittagsstunden betritt, bei vollem Sonnenschein, im Innern durch die Lichteffekte eigent­lich wirklich etwas von dem empfinden, was man nicht nebulos, sondern im besten Sinne Innerlichkeit nennen kann, einen Abdruck, ein Abbild der Innerlichkeit des Welten- und Menschendaseins. Denn gerade so, wie zum Beispiel im griechischen Tempelbau ein Haus steht, das nur zu denken ist als ein Haus, das eigentlich niemals ein Mensch betritt - höchstens die Vorhalle als Opferhalle - das aber das Wohnhaus des Gottes ist; wie der gotische Bau, gleichgültig ob er Profanbau oder Kirchenbau ist, gedacht ist als etwas, was nicht für sich fertig ist, sondern erst, wenn es Versammlungssaal geworden ist und die Gemeinde drinnen ist -, so soll der ganze Baugedanke von Dornach, wie ich ihn nun hier in seinen Einzelheiten entwickelt habe, dahinwirken, daß indem der Mensch die­sen Raum betritt, er gewissermaßen versucht ist, ebenso sehr in dem Raume zusammen zu sein mit anderen Menschen, die das anschauen werden, was dargestellt wird, das anhören werden, was gesungen, musiziert oder rezi­tiert wird. Es wird der Mensch versucht sein, auf der einen Seite sich in Sympathie zu fühlen mit denen, die versammelt sind, - aber es wird ihm auch aufsteigen die Frage oder die Aufforderung, die so alt ist wie die abendländische Kultur: Erkenne dich selbst! Und er wird in dem, was er da als Bau um sich hat, etwas wie eine Antwort empfinden auf dieses:

Erkenne dich selbst. Es ist versucht, dasjenige, was der Mensch inner­lich erleben kann, auf künstlerische, nicht symbolische Art, in den Bau-formen wiederzugeben.

Wir haben es jetzt schon erlebt: wenn zum Beispiel versucht worden ist zu rezitieren von dem Raume, den ich als den Orgehraum gezeigt habe, oder zu rezitieren und zu sprechen von dem Zwischenorte zwischen den beiden Kuppehräumen, so nimmt der ganze Raum diese Dinge wie selbst­verständlich auf. Es ist jede Form angepaßt dem Wort, das sich rezita-torisch oder auseinandersetzend, erklärend ausbreiten will. Und insbesondere

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breitet sich Musik aus in diesem, ich möchte sagen, plastisch-mu­sikalisch gedachten Formelemente, das der Baugedanke von Dornach repräsentieren soll.

Mit diesen Einzelheiten, die ich einigermaßen klarzumachen ver­suchte durch die Bilder, wollte ich das vor Ihre Seele hinstellen, was der Baugedanke von Dornach sein soll: ein Gedanke, der das Mechanische, Geometrische auflöst in das Organische, in dasjenige, was selbst den Schein des Bewußten darbietet, so daß dieses Bewußtscheinende das, was aus den Tiefen des Menschenbewußtseins heraufkommt, willig aufneh­men will.

Allerdings ist nun damit etwas geschaffen, was von den bisherigen Bau-Usancen, Baugebräuchen abweicht. Aber so, wie sich anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft hineinstellen will in die Zivilisation der Gegenwart als etwas, das sich verwandt fühlt mit den erst im Keime vor­handenen Aufgangskräften, und das sich gleichzeitig kräftig entgegen­stellen will den so furchtbar verheerenden Niedergangskräften unserer Zeit: so will dasjenige, was in der Lehre der Anthroposophie, der ganzen Weltanschauung der Anthroposophie leben will, sich aussprechen auch durch die Bauformen. Was durch das Wort in Dornach ertönen soll, soll auch gesehen werden können in den Formen. Daher durfte nicht ein be­liebiger Baustil verwendet werden, ein beliebiger Bau erstellt werden, sondern er mußte herausgewachsen sein aus demselben Seelen- und Geistuntergrund, aus dem heraus in Dornach gesprochen wird. Der ganze Baugedanke, das Ganze des Dornacher Baues will kein Tempelbau sein, sondern ein Bau, in dem sich Menschen zur Entgegennahme der über­sinnlichen Erkenntnisse zusammenfinden. Man sagt vielfach, nur weil man, ich möchte sagen, zu arm ist, um Worte für das Neue zu finden, das sei ein Tempelbau. Aber der ganze Charakter widerspricht dem alten Tempelbau-Charakter. Es ist durchaus dasjenige, was in allem einzelnen gerade dem angepaßt ist, was als Geisteswissenschaft im anthroposophi­schen

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Sinne vor die Welt hintreten will. Und im Grunde genommen ist jede Erklärung wie ein Hinführen zu der Sprache, zu der Weltanschau­ung, aus der die Sache künstlerisch hervorgewachsen ist. Künstlerisch spricht der Bau, wie ich glaube, durchaus sein eigenes Wesen, seinen eigenen Inhalt aus, wenn man ibn auch noch vielfach heute empfinden wird als etwas, das unberechtigt ist gegenüber dem, was man als Baustil und Formen und künstlerische Formensprache gelten lassen will. Allein derjenige, der schon etwas sich eingelebt hat in den Impuls, den ganzen zivilisatorischen Duktus der Geisteswissenschaft, wird begreifen, daß aus diesem neuen Weltanschauungsgedanken ein neuer Baugedanke hervor­gehen mußte. Und so übel es manchmal auch die Zeitgenossenschaft nimmt, es mußte einmal so etwas hingestellt werden, wie auch einmal von anthroposophischer Geisteswissenschaft geredet werden mußte. Und deshalb darf eben einfach in bekenntnisartiger Weise eine solche Aus­einandersetzung wie die heutige, die auf den Bau von Dornach und auf diesen Gedanken hinweisen wollte, schließen mit den Worten: es ist ein­mal etwas gewagt worden, was als Baugedanke bisher ungewohnt war, aber es mußte einmal geschehen. Würde man so etwas nicht zu verschie­denen Zeitpunkten gewagt haben, so gäbe es keinen Fortschritt in der Entwickelung der Menschheit. Um des Menschenfortschrittes willen muß zunächst etwas gewagt werden. Ist auch der erste Anlauf vielleicht mit zahlreichen Irrtümern behaftet - das wird derjenige, der hier vor Ihnen spricht, am allerersten zugestehen -, so muß dennoch gesagt werden:

so etwas muß immer wiederum im Menschheitsdienste gewagt werden Deshalb ist es auch draußen in Dornach eben einmal gewagt worden.

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ERGÄNZUNG ZU SEITE 37

Wenn man die Kräfte-Metamorphose innerhalb einer Entwickelungsrcihe verfolgt, so kommt man zunächst aus dem Einfachen eben in das Komplizierte. Ich will also ein Einfaches zeichnen (1). Dann würde ein nächst Komplizierteres vielleicht dieses sein (II). Dann würden wir zu einem dritten (III), zu einem vierten kommen, welches vielleicht so wäre (IV). Nun hätten wir vielleicht vier Entwickelungsstadien derselben Sache.

Nun könnte die nächste ideell etwas komplizierter sein als die vorhergehende Form. Wir würden dann vielleicht diese (schraffierte) Form bekommen (V). Diese würde aber nicht herauskommen, sondern es wird statt dessen diese andere Form sich ent­wickeln. Das, was ich mit dem dicken Strich gezeichnet habe, das würde dann vielleicht nach außen hin sichtbar sein. Und würde es sich um eine wirkliche Form in der Natur handeln, so würde man dann von dieser zu dieser Form fortschreiten. Und doch schrei­tet weiter, nur im Ätherischen, die Entwickelung so fort, daß die komplizierteren Formen, die ich mit den Punkten angedeutet habe, herauskommen, während das Phy­sische, das äußerlich Sichtbare, das sich wieder Offenbarende, vielleicht wieder sich vereinfacht.

Die nächsten Formen würden dann vielleicht so sein, daß die ätherischen Formen diese wären (VI, schraffiert); es kommt aber nicht diese ätherische (schraffierte) Form zum Vorschein, sondern nach außen hin bleibt dieses sichtbar (siehe den dicken Strich), was wiederum eine Vereinfachung, eine wesentliche Vereinfachung ist. So daß, wenn man bloß die physische Entwickelung in Betracht zieht, man aufsteigt von einem Sta­dium eins, zwei, drei, vier in Komplikation, dann in Vereinfachung. Dieses ist auch wirklich das Entwickelungsprinzip in der Natur.

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BILDERVERZEICHNIS

1 Das erste Goetheanum, Südwestansicht 5

2 Hauptportal 6

3 Nordwestseite des Baues 28

4 Westfront 30

5 Südwestseite 31

6 Nordseite, mit den Magazinräumen 32

7 Das Goetheanum von Nordosten, mit dem Heiz- und Beleuchtungshaus 33

8 Das Heiz- und Beleuchtungshaus 35

9 Der Grundriß 39

10 Querschnitt 39

11 Das ursprüngliche Modell, durchschnitten, vom Jahre 1913 40

12 Haupteingangstor von der Terrasse aus gesehen 41

13 Flügelbau und Wohnhaus von Dr. Grosheintz 42

14 Der nördliche Flügelbau 43

15 Südlicher Seitentrakt 45

16 Ecke des Südflügels 46

17 Nördlicher Flügel des Westportals 47

18 Südseiten-Querbau 48

19 Detail 49

20 Tor des Ostportals 50

21 Ostportal 51

22 Treppe 53

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23 Ein Stück des Treppenhauses mit Treppenaufgang 55

24 Heizkörpervorsatz aus Beton 55

25 Vorraum 57

26 Zuschauerraum mit Orgelmotiv 59

27 Zuschauerraum mit den vier ersten Säulenkapitälen und Architraven 61

28 Architrav über der ersten Säule 63

29 Das Kapitäl der ersten Säule 63

30 Die erste und zweite Säule 65

31 Die zweite Säule 65

32 Die zweite und dritte Säule 67

33 Die dritte Säule 67

34 Die dritte und vierte Säule 69

35 Die vierte Säule 69

36 Die vierte und fünfte Säule 71

37 Die fünfte Säule 71

38 Die fünfte und sechste Säule 73

39 Die sechste Säule 73

40 Die sechste und siebente Säule 75

41 Die siebente Säule 75

42 Die siebente Säule mit dem Architravmotiv 77

43 Der erste Sockel 78

44 Der zweite Sockel 78

45 Der dritte Sockel 79

46 Der vierte Sockel 79

47 Der fünfte Sockel 80

48 Der sechste Sockel 80

49 Der siebente Sockel 81

50 Blick in den kleinen Kuppelraum 82

51 Die beiden ersten Säulen und Architrave des kleinen Kuppelraums 83

52 Die Säulenfolge des kleinen Kuppelraums 84

53 Einzelne Säulen des kleinen Kuppelraums 85

54 Erste Säule des kleinen Kuppelraums 86

55 Zweite Säule 86

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56 Dritte Säule 86

57 Vierte Säule 87

58 Fünfte Säule 87

59 Sediste Säule 87

60 Das Ost-Ende des kleinen Kuppelraums mit den eingrenzenden Säulen 89

61 Ardiitrave des kleinen Kuppelraums 90

62 Ardiitrav-Detail des kleinen Kuppelraums 91

63 Mittelardiitrav, Zusammenfassung, Osten 91

64 Das Rednerpult 92

65 Fliegendes Kind, Detail aus der Malerei der kleinen Kuppel 95

66 Faust-Figur 97

67 Der Tod. Detail unter der Faust-Figur 98

68 Fliegendes Kind 99

69 Seitenteil aus der Malerei der kleinen Kuppel 100

70 Der inspirierende Genius über der Faust-Gestalt 101

71 Athene-Figur 102

72 Apollo-Gestalt, der inspirierende Genius des Griedientums 103

73 Die Inspiratoren des ägyptisdien Eingeweihten 104

74 Der ägyptisdie Eingeweihte 105

75 Luzifer und Ahriman 107

76 Ahriman. Detail 110

77 Luzifer. Detail 111

78 Der germanisehe Eingeweihte mit Kind 112

79 Detail 113

80 Engelfigur; russisehe Kultur 115

81 Russisehe Kultur; Kentaur 116

82 Kentaurfigur und Engelfigur 117

83 Mitte der Kuppelmalerei 118

84 Luzifer, Detail, aus dem Mittelmotiv 120

85 Ahriman in der Höhle 121

86 Der gemalte Christuskopf, Detail aus der Malerei der kleinen Kuppel 123

87 Das Gesamtbild der Holzgruppe 125

88 Detail: Christus-Figur 126

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89 Detail: Christus-Figur 127

90 Detail: Christuskopf 128

91 Detail: Christuskopf 129

92 Detail der Mittelgruppe naeh dem Plastilinmodell,

das Luziferisehe Wesen und das Felsenwesen 131

93 Dasselbe in anderem Aspekt 132

94 Ahrimankopf, naeh dem Plastilinmodell 135

95 Ahrimangestalt, in Holz gesehnitzt, Detail der Holzgruppe 136

96 Detail, mittlerer Teil, aus dem Plastilinmodell 137

97 Luzifergestalt, aus dem Plastilinmodell 139

98 Das sogenannte Glashaus, in dem die Glasfenster radiert wurden 141

99 Das Tor zum Glashaus 142

100 Heizhaus von vorne 143

101 Ein Glasfenster 146

102 Ein anderes Glasfenster 147

103 Das Goetheanum, Haupteingang 151

104 Das Goetheanum inmitten der Juralandsehaft 153


Die Abbildungen sind naeh den photographisehen Aufnahmen des Ateliers Heyde­brand-Osthoff, Dornach, hergestellt, ausgenommen diejenigen der Seiten 46, 50, 51, 135, 141, 142 und 143, welehe dem Atelier O. und C. Rietmann-Haak, St. Gallen, entstammen.

,,Goethe und Goetheanum": aus Aufsätzen von Rudolf Steiner für die Zeitschrift

,,Das Goetheanum" 2. Jahrgang (1923) Nr.23 und 33.

Ergänzung zu Seite 37: aus einem Vortrag in Dornaeh am 5. April 1920.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.