GA 284

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EINLEITUNG ZUR AUSGABE VON 1977

#G284-1977-SE011 Bilder okkulter siegel und Säulen

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EINLEITUNG ZUR AUSGABE VON 1977

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Als Rudolf Steiner im Jahre 1902 das Generalsekretariat der in Gründung befindlichen Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft übernahm und mit seiner engsten Mitarbeiterin Marie von Sivers, spätere Marie Steiner, nach und nach eine weitreichende mitteleuropäische geisteswissenschaft­liche Bewegung aufbaute, bildete diese von Anfang an die selbständige Abteilung seiner anthroposo­phisch orientierten Geisteswissenschaft, bis sie sich im Jahre 1912/13 zur Anthroposophischen Gesell­schaft verselbständigte

Zu der Zeit des Münchner Kongresses im Jahre 1907 lehrte Rudolf Steiner jedoch noch innerhalb der Theosophischen Gesellschaft und gebrauchte deshalb auch noch durchgehend die Ausdrücke «Theo-sophie» und «theosophisch» und für die Bezeichnung der Wesensglieder des Menschen und so weiter zumeist die in der theosophischen Literatur übliche Terminologie, an welche die Zuhörer damals gewohnt waren. Jedoch in seinen öffentlichen Schriften verwendete er schon Ausdrücke, von denen er 1903 in der Zeitschrift «Luzifer» sagte, daß er sie «aus gewissen Gründen einer okkulten Sprache ent­lehnte, die in den Bezeichnungen von der in den verbreiteten theosophischen Schriften etwas abweiche, in der Sache aber natürlich mit ihnen völlig übereinstimme» (Bibl.-Nr. 33, Seite 107). Später ersetzte er auch in seinen Vorträgen die indisch-theosophischen Ausdrücke immer mehr durch solche, die der europäischen Kultur angemessen sind.

Berlin und München waren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 die beiden Hauptzentren von Rudolf Steiners Wirksamkeit. Die geistige Orientierung dieser beiden Städte brachte es mit sich, daß sich in Berlin mehr der wissenschaftliche, in München mehr der künstlerische Pol ent­faltete. Daraus ergab sich, daß der erste theosophische Kongreß, der in Deutschland veranstaltet wurde, in München stattfand. Auf Grund der Gesamtgestaltung dieses Kongresses durch Rudolf Steiner wurde dieser in der Geschichte der antliroposophischen Bewegung der erste Schritt auf dem Wege zur Ver­wirklichung des Baugedankens.

Der Bau als Gesamtkunstwerk im Sinne einer Erneuerung der Mysterien sollte die Wiedervereinigung von Erkenntnis, Kunst und religiösem Leben bringen.

Da Rudolf Steiner durchschauen konnte, wie geistige Kräfte in Formen, Farben und Tönen ihren Ausdruck finden, war ihm auch voll bewußt, welche Bedeutung der Art der Umweltgestaltung zu­kommt. Deshalb sagte er bei der Grundsteinlegung des ersten nach seinen okkult-künstlerischen Gesichts­punkten gestalteten Hauses am 3. Januar 1911 in Stuttgart:

«Wir sollten uns klar darüber sein: solange wir gezwungen sind, in solchen Sälen zusammenzukom­men, deren Formen einer untergehenden Kultur angehören, muß unsere Arbeit mehr oder weniger doch das Schicksal dessen treffen, was dem Untergang geweiht ist. Die spirituelle Strömung wird erst die neue Kultur, die sie zu bringen berufen ist, heraufführen können, wenn es ihr vergönnt sein wird zu wirken bis hinein in das rein physische Gestalten, selbst der Mauern, die uns umgeben. Und anders wird spirituelles Leben wirken, wenn es hinausfließt aus Räumen, deren Maße Geistes­wissenschaft bestimmt, deren Formen aus Geisteswissenschaft erwachsen.»

Daß dieses keineswegs ein ideales Ziel zu bleiben brauchte, sondern daß Rudolf Steiner auch das künst­lerische Vermögen besaß, es zu verwirklichen und dadurch eine für den Menschheitsfortschritt not­wendige neue Synthese von Wissenschaft, Kunst und religiösem Erleben herbeizuführen, hatte sich bereits durch den Münchner Kongreß erwiesen. Marie Steiner-von Sivers, selbst eine große Künstler-natur, erlebte Rudolf Steiner als «geborenen Künstler» (Bibl.-Nr. 262, Seite 166>. Trotzdem wurde dieser «geborene Künstler» erst ungewöhnlich spät künstlerisch produktiv tätig. Der als Zweiundzwanzig-jähriger schon anerkannte Goethe-Interpret, der Begründer der Anthroposophie und der damit ver­bundenen internationalen Bewegung war zu Beginn seiner kunstschöpferischen Periode im Jahre 1907 schon sechsundvierzig Jahre alt. Und er stand an der Schwelle seines fünften Lebensjahrzehntes, als er sein erstes Mysteriendrama schrieb, den ersten «Bau» projektierte, die neue Bewegungskunst Eurythmie

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entwickelte und sein erstes Gemälde schuf. Die Ansätze der künstlerischen Betätigung reichen abes viel weiter zurück.

Schon als neun- bis zehnjähriger Knabe zeichnete er in der von ihm besuchten Dorfschule mit Kohlestiften, kopierte unter Anleitung des sogenannten Hilfslehrers dieser Schule Bilder, ja sogar Porträts Für den Besuch der Oberrealschule mußte er durch eine Vorprüfung gehen, die er hauptsächlich an Grund aller in der Dortschule entstandenen Zeichnungen ausgezeichnet bestand. Ein Lieblingsfach wäl rend seiner Realschulzeit war das geometrische Zeichnen. Während seiner Studienzeit in Wien an des Technischen Hochschule vertiefte er sich neben seinen naturwissenschaftlichen Studien auch intensiv i das kunstgeschichtliche, insbesondere baukünstlerische Werden. Ganz besonders angeregt fühlte er sic dazu durch die baukünstlerische Atmosphäre des damaligen Wien. Denn in jener Zeit wurden gerade di großen Bauten - Parlamentsgebäude, Rathaus, Votivkirche, Burgtheater - vollendet. Die Architekte. Hansen, Schmidt und Ferstei lernte er an der Technischen Hochschule auch persönlich kennen. Heinrich von Ferstel, der Erbauer der Votivkirche, wurde 1879, gerade zu Beginn von Rudolf Steiners Studien zeit, Rektor der Technischen Hochschule. Ein Ausspruch in seiner Inaugurationsrede - Baustile werde nicht erfunden, sondern aus den Zeitaltern herausgeboren - tönte in Rudolf Steiner, wie er einmal erzählte, lebenslang nach. Auch zu dem Ästhetiker Joseph Bayer, einem Anhänger Gottfried Semper und ebenfalls Lehrer an der Technischen Hochschule, sowie zu dem Ästhetik-Dozenten an der Wiene Universität Robert Zimmermann ergaben sich persönliche Beziehungen. Aber trotz aller Genialität hab ihn der materialistische Zug, der sich damals auch auf dem Gebiete der Kunst immer stärker gelten< machte, zur «inneren Verzweiflung» gebracht. Rückschauend erinnerte er sich, nachdem er selbs schon die neuen Kapitälformen geschaffen hatte, wie viele «schlaflose Nächte» damals ihm das ko rinthische Kapital gemacht habe. (Vortrag Dornach, 7. Juni 1914, in Bibl.-Nr. 286, «Wege zu einen neuen Baustil».)

Aber nicht nur mit der Baukunst, sondern auch mit der Malerei setzte sich Rudolf Steiner seit seinei ersten Wiener Jahren auseinander. Die Anregung dazu kam ihm von der ersten Böcklin-Ausstellung in Wien im Jahre 1882. Böcklins Bilder erschienen ihm als der lebendige Protest gegen das materiall stische Modellmalen jener Zeit. Er empfand, daß in Böcklin etwas liegt, was vom Naturalismus wieder wegführen könnte. (Vortrag Berlin, 3. Februar 1913, in Bibl.-Nr. 38, «Briefe» I)

Gleichzeitig stand er damals aber auch in tiefer innerer Auseinandersetzung mit der Wissenschaf des Schönen. Im Gegensatz zur deutschen Ästhetik, die bis dahin definiert hatte, daß das Schöne di< Idee in Form der sinnlichen Erscheinung sei, forderte er eine völlige Umkehr des ästhetischen Denkens Um 1881/82 schrieb er einem Freund: «Kunst ist einmal das Göttliche nicht als solches, sondern in der Sinnlichkeit. Und letztere als solche, nicht das Göttliche muß gefallen» («Briefe» 1). Sieben Jahre später. 1888/89 begründete er diese Auffassung philosophisch als eine Ästhetik der Zukunft: «...Die Ästhetik nun, die von der Definition ausgeht, , diese besteht noch nicht. Sie muß geschaffen werden. Sie kann schlechterdings bezeichne werden als die Ästhetik der goetheschen Weltanschauung. Und das ist die Ästhetik der Zukunft» (Autoreferat des Vortrages «Goethe als Vater einer neuen Ästhetik» in Bibl.-Nr. 30 und Nr.271).

Auch in seinen Weimarer Jahren - 1890 bis 1897 - suchte Rudolf Steiner im Verkehr mit den dortii gen Künstlern immer weiter nach einer geistgemäßen Auffassung des Künstlerischen. Jedoch seines eigentliche «hohe Schule des Kunststudiums» habe er durchgemacht auf seinen vielen großen Reiser von der Jahrhundertwende an. Ein gewisser Niederschlag davon findet sich in seinen kunstgeschichtlichen Lichtbildervorträgen «Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Impulse» (Bibl.-Nr. 292).

Aus diesem Hintergrund heraus konnte Rudolf Steiner mit der Anthroposophie als Wissenschaft Schritt für Schritt auch verbinden die Entwicklung neuer künstlerischer Formen. Wie als eine Art Auftakt dazu kann gelten, was er am 25. November 1905 an Marie von Sivers schrieb, die ihm mit ihrem tiefen künstlerischen Verständnis auch auf diesem Gebiet tatkräftig zur Seite stand:

«Dies sollte unser Ideal sein, Formen zu schaffen als Ausdruck des inneren Lebens. Denn einer Zeit,

die keine Formen schauen und schauend schaffen kann, muß notwendigerweise der Geist zum

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wesenlosen Abstraktum sich verflüchtigen und die Wirklichkeit muß sich diesem bloß abstrakten Geist als geistlose Stoffaggregation gegenüberstellen.

Sind die Menschen imstande, wirklich Formen zu verstehen, zum Beispiel die Geburt des See­lischen aus dem Wolkenäther der Sixtinischen Madonna: Dann gibt es bald flir sie keine geistlose Materie mehr. - Und weil man größeren Menschenmassen gegenüber Formen vergeistigt doch nur durch das Medium der Religion zeigen kann, so muß die Arbeit nach der Zukunft dahin gehen:

Religiösen Geist in sinnlich-schöner Form zu gestalten.

Dazu aber bedarf es erst der Vertiefung im Inhalte. Theosophie muß zunächst diese Vertiefung bringen. Bevor der Mensch nicht ahnt, daß Geister im Feuer, in Luft, Wasser und Erde leben, wird er auch keine Kunst haben, welche diese Weisheiten in äußerer Form wiedergibt.» (Bibl.-Nr. 262, Seite 73.)

Nachdem wenig später, im Jahre 1906, feststand, daß der nächste theosophische Kongreß der europäischen Föderation der Theosophischen Gesellschaft unter Rudolf Steiners Leitung stattfinden würde, charakterisierte er dieses « Ideal» auch den Berliner Freunden gegenüber als Kulturmission der Geisteswissenschaft. Er sagte: «Wir leben in einer barbarischen Zeit, in einer chaotischen, stillosen Zeit. Alle großen Kunstepochen waren aus dem tiefsten Geistesleben heraus schaffend ... Durch die Aus­breitung der geisteswissenschaftlichen Lehren wird die Welt wieder mit einem geistigen Inhalt erfüllt werden ... Was in der Geisteswissenschaft lebt, muß sich später ausprägen in äußeren Formen ii. dann werden wir einen Stil haben, der dieses geistige Leben ausdrückt. So müssen wir die Mission der Geisteswissenschaft betrachten als eine Kulturmission» (Vortrag Berlin, 21. Oktober 1906 in Bibl.­Nr.96). Der Münchner Kongreß bot die erste Möglichkeit, mit der Realisierung dieser Kulturmission zu beginnen. Der Dreiklang: Pflege übersinnlicher Erkenntnisse in Verbindung mit einem Mysterien­spiel als kultisches Element in einem kongenial gestalteten Raum wurde in München 1907 erstmals mächtig angeschlagen.

Von dem Ereignis des Münchner Kongresses 1907 geht eine gerade Linie bis zum Dornacher « Bau», bei dessen inoffizieller Eröffnung (am 26. September 1920, in Bibl.-Nr. 253) Rudolf Steiner den Sinn des Baues aussprach mit den Worten: «Was aus der neuen Dreiheit, der schauenden Kunst, der geistig-erfassenden Wissenschaft, der die Wiedergeburt neu im Übersinnlichen erlebenden Religion für das lebendige Dasein der Menschheit hervorgehen kann - dieser Aufgabe solle gewidmet sein der Bau.» Daß die Idee des Tempelbaues schon beim Münchner Kongreß im Jahre 1907 konkret im Hinter-grund stand, das besagen nicht nur die damals entstandenen Säulenkapitälformen, sondern das geht auch deutlich hervor aus den auf Seite 29 f. wiedergegebenen Briefen Marie von Sivers an Edouard Schuré, dessen Rekonstruierung des Heiligen Dramas von Eleusis in München uraufgeführt wurde. Damit können wir versuchen, schreibt sie ihm, uns «der Idee des Tempels» zu nähern.

Als kunsthistorisches Phänomen ist noch bemerkenswert, wie die Inauguration von Rudolf Steiners neuem Kunstimpuls zeitlich korrespondiert mit der allgemeinen künstlerischen Entwicklung. Denn dieses Jahr 1907 wurde - wie eine 1957 in Amsterdarn veranstaltete Jubiläumsausstellung « Europa 1907» dokumentierte - für die gesamte europäische Kunstentwicklung von entscheidender Bedeutung. Beispielsweise malte Picasso sein weltberühmt gewordenes Bild « Les Demoiselles d'Avignon», mit dem er die Periode des Kubismus einleitete. In Frankreich waren die «Fauves» und in Deutschland die « Brücke» die Avantgarde. Man bewegte sich immer stärker vom Impressionismus zum Expressionismus und stand am Vorabend der abstrakten Malerei. So daß in dem Jahr 1907 wie in kaum einem anderen Jahr unserer Epoche «soviel zuende ging und soviel Neues sich herausbildete, soviel Altes mit Neuem sich kreuzte» (Neue Zürcher Zeitung vom 22. September 1957). In diesem für die Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts entscheidenden Jahr 1907 legte auch Rudolf Steiner den Grundstein zu seinem als Gesamtkunstwerk zu verstehenden Baugedanken, der über seine verschiedenen Vorstufen - Malsch, Stuttgart, München - in den beiden Goetheanum-Bauten auf dem Dornacher Hügel bei Basel seine hohe künstlerische Vollendung fand. Aber Rudolf Steiner, der nie nur um der Kunst als solcher willen, sondern stets in lebendigem Sozialzusammenhang wirkte, ließ von München bis Dornach das schier Un­mögliche möglich werden: Er gab die Anweisungen, schuf die Modelle, skizzierte die Motive,

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schnitzte und malte vor, und viele Künstler, Techniker und Wissenschafter arbeiteten zehn Jahre lang enthusiastisch zusammen an der Verwirklichung des Baues. Und dies in einer Zeit, in der bedingt durch den Ersten Weltkrieg sich ringsherum alles bekämpfte. So daß der Baugedanke Rudolf Steiners nicht nur ein neues geistiges und künstlerisches, sondern auch ein neues soziales Leben erzeugte.

In dem vorliegenden Band ist nun innerhalb der Rudolf Steiner-Gesamtausgabe alles zusammen­gefaßt, was an Material über die Vorstufen des Goetheanum-Baues - den Münchner Kongreß und seine Auswirkungen in Malsch, Berlin und Stuttgart - vorliegt. Die Unvollkommenheit der künst­lerischen Gestaltung der apokalyptischen Siegel durch die Malerin Clara Rettich stieß von Anfang an auf viel Kritik, jedoch war sich Rudolf Steiner dessen selbst voll bewußt. Warum er trotzdem diese Siegelbilder nach dem Münchner Kongreß veröffentlichte, wird deutlich aus seiner folgenden Äußerung gegenüber einem Kritiker:

«Jenes Gespräch im Münchner Kongreßsaale, wo Sie die Siegel unkünstlerisch nannten und ich erwiderte , haben Sie nämlich mißverstanden. Ich war mit Ihnen ganz einverstanden, und hätte sehr, sehr gerne diese Dinge künstlerisch gehabt. Doch muß der Okkultist realistisch, nicht chimärisch denken und so muß er dasjenige nehmen, was zu haben ist.

Gerade mit diesem Briefentwurf bestätigt Rudolf Steiner aber auch nochmals deutlich das Grundmotiv seines künstlerischen Schaffens, wie er es schon 1905 in dem auf Seite 12/13 zitierten Brief an Marie Steiner-von Sivers ausgesprochen hat: Leben und Form in echte Übereinstimmung zu bringen. Da jedoch das Leben als solches physisch nicht wahrnehmbar ist, sondern sich nur durch die Form offenbaren kann, mußten dem neuen geistigen Leben - sollte es sich lebenskräftig erweisen und nicht im Abstrakten ver­flüchtigen - notwendigerweise neue Formen geschaffen werden. Und der erste große historische Auf­takt zur Verwirklichung dieses «Ideals» Rudolf Steiners, «Formen zu schaffen als Ausdruck des inneren Lebens», war der Münchner Kongreß Pfingsten 1907.

H. W.

DIE KUNST UND IHRE ZUKÜNFTIGE AUFGABE Penmaenmawr, 24. August 1923

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RUDOLF STEINER

DIE KUNST UND IHRE ZUKÜNFTIGE AUFGABE

Penmaenmawr, 24. August 1923

im Anschluß an einen Vortrag von Kunstrnalet Atild von Rosenkrantz

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Es wurde gewünscht, daß ich an die interessanten Ausführungen des Baron Rosenkrantz eini-ges anfüge über die Kunst und ihre zukünftige Aufgabe, und daß ich auch ein Bild geben sollte des Goetheanum, wie es in der Zukunft aussehen wird.

Ich möchte auf diese Fragen hin nur mit einigen Andeutungen antworten, mit Andeutun­gen, die sich mehr beziehen auf die Herausarbeitung eines künstlerischen Impulses oder künst­lerischer Impulse in der Zukunft - wobei ich aber nicht meine, daß diese künstlerischen Impulse, ich möchte sagen, willkürlich oder absichtlich von irgendwelchen Menschen unter­nommen werden können; sondern gewissermaßen sieht man sie in demjenigen, was sich gegen­wärtig vorbereitet, wohin sich gerade das Künstlerische in der nächsten Zukunft wird orientie­ren müssen. Ich meine das in der folgenden Weise.

Wir sehen in unserer Gegenwart auf der einen Seite fortdauern die alten Impulse des menschlichen Arbeitens, der menschlichen Zivilisation auf allen Gebieten, auf den Gebieten der Wissenschaft und des künstlerischen Schaffens, auf den Gebieten des religiösen Empfindens. Wir sehen aber auch, wie auf der anderen Seite in einer großen Anzahl von Menschen, in mehr Menschen, als man gewöhnlich denkt, unbestimmte Untergründe walten, Sehnsuchten nach irgend etwas. Diese Sehnsuchten, die möchte man gerade auf dem Gebiete des anthroposophi­schen Wirkens ergründen; man möchte gewissermaßen hinter sie kommen. Und mir scheint, daß in der Tat ein großer Teil dessen, was gerade in der Gegenwart als Anthroposophie sich geltend machen will, solchen unbestimmten, mehr oder weniger unbewußten Sehnsuchten zahl­reicher Menschen in der Gegenwart entgegenkommt.

Also eben gerade deshalb, weil in den verflossenen drei bis vier Jahrhunderten im Grunde genommen die Intellektualität alles überflutet hat, weil die Intellektualität sich tiefer in die Menschenseelen hineingewurzelt hat als man denkt, deshalb finden die Menschen heute so schwer die Brücke von einer unbestimmten Sehnsucht zu demjenigen, was dieser unbestimmten Sehnsucht im irdischen Schaffen eine Offenbarung geben kann. Wir sehen das, wenn wir die Geisteswissenschaft selber betrachten.

Ich habe während meiner Vorträge hier öfter erwähnen müssen, wie diese Geisteswissen­schaft allerdings durch Imagination, Inspiration, Intuition herausgeholt werden muß aus dem Forschen über die übersinniichen Welten, wie aber, wenn diese Forschungen ihre Ergebnisse darlegen, der gewöhnliche gesunde Menschenverstand durchaus verständnisvoll an diese For­schungsergebnisse herandringen kann. Und es ist eigentlich nur das Haften an alten Vorurtei­len, wenn man nicht genügend Kraft in der Seele findet, um vorurteilslos an die Ergebnisse der Geisteswissenschaft heranzukommen.

Dasjenige, was die Menschen heute so vielfach einwenden gegen diese Ergebnisse der Geistes­wissenschaft, geht eigentlich hervor aus einer unbestimmten, tief unten in der Seele sitzenden Furcht. Die Menschen fürchten sich eigentlich im Grunde genommen vor den Ergebnissen der Geisteswissenschaft. Alles dasjenige, was die letzten Jahrhunderte heraufgebracht haben in der Menschheitszivilisation, widerspricht ja so sehr dieser Geisteswissenschaft, daß sie als ein den meisten Menschen völlig Unbekanntes auftritt. Vor dem Unbekannten fürchtet man sich

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immer; aber man will sich doch diese Furcht nicht gestehen, und so kleidet man sich diese Furcht in sogenannte logische Widerlegungen, in logische Kiltik.

Derjenige, der die Dinge durchschauen kann, der sieht überall, wie die Logik der Gegner der Geisteswissenschafr im Grunde genommen nichts anderes ist, als eine Entschuldigung der eigenen Seele über die Furcht, die man vor ihr hat.

Und so ist es auf künstlerischem Gebiete. Man hört außerordentlich häufig: Ja, Geistes­wissenschaft will durch Ideen, durch wissenschaftliche Feststellungen in die höheren Welten hinauf; aber die Wissenschaft unterdrückt das freie künstlerische Schaffen. Derjenige, der wirk­lich künstlerisch schaffen will, der müsse - so sagt man - frei sein von allen Ideen, von allen Erkenntnissen; er müsse aus der reinen Phantasie heraus schaffen. Und es gibt sehr viele Dich­ter, Maler, Musiker, also auf allen Gebieten Künstler, die nun die reine Furcht haben, daß, wenn sie zu viel an diese Geisteswissenschaft herankommen, ihnen dann ihre Phantasie aus­trockne; daß sie dann dazu kämen, ihre Phantasie nicht mehr frei entfalten lassen zu können, sondern gewissermaßen nur das wiedergeben würden durch Farben, durch Töne, was in der Geisteswissenschaft vorkommt.

Ja, sehen Sie, meine sehr verehrten Anwesenden: beim alten Goetheanum hat es allerdings manchen Kampf gegeben. Es ist schon so, daß diejenigen, die nicht einen tiefgründigen künst­lerischen Impuls haben, aus einer gewissen mißverständiichen Auffas sung dieser Geistesrichtung zu einer Art äußeren Symbolik, äußeren Allegorik kommen. Ich kann schon gestehen, daß es außerordentlich viele Anthroposophen und Theosophen gegeben hat, die das Künstlerische gesucht haben in Ideen, die dann gemalt werden, oder meinetwillen auch manchmal sogar komponiert werden und dergleichen. Wenn man in einen solchen anthroposophischen oder theosophischen Raum hineinkam, und diese symbolischen und allegorischen, strohernen Bilder da sah: man konnte verzweifeln! Da war allerdings alles Künstlerische ausgetrieben! Ich kann sagen, daß es ja gewiß auch sehr gutmeinende Freunde gegeben hat, die, als das alte, ver­brannte Goetheanum gebaut wurde, begonnen wurde, alles Mögliche von Symbolen anzu­bringen gewollt haben. Aber dagegen habe ich mich immer in der allerentschiedensten Weise gewehrt! Bei diesem Goetheanum mußte alles aus der wirklichen künstlerischen Form heraus-geholt werden. Es mußte jede Linie, jede Formgebung so entstehen, daß die Sache rein inner­lich künstlerisch angeschaut wurde.

Daher waren die Formen des Goetheanum eigentlich nicht zum Interpretieren, sondern im Grunde genommen nur zum Anschauen. Wenn Freunde oder sonstige äußere Besucher nach dem Goetheanum gekommen sind, so wollten sie immer herumgeführt werden, und sie baten dann, daß sie von dem oder jenem begleitet werden und daß man ihnen erklärt, wie da die Säulen gestaltet sind, die Kapitäle gestaltet sind, die Architrave gestaltet sind - wie die Dinge gemalt sind. Man sollte ihnen überall den inneren Sinn geben.

Ich hatte, wenn ich selbst Freunde führte, in der Regel als Einleitung gesagt: Dasjenige, was ich jetzt den Freunden oder den Besuchern werde zu sagen haben, ist mir außerordentlich unsympathisch. Und ich war noch nie mit einer solchen Antipathie besessen gegen dasjenige, was ich selber sage, als wenn ich diese Formen des Goetheanum erklären sollte; denn sie waren nicht dazu da, um sie zu erklären, um sie in Begriffe zu fassen, sondern sie waren dazu da, angeschaut zu werden, künstlerisch, ästhetisch aufgefaßt zu werden!

Und warum konnte das sein? Das kann man am besten am Menschen selber anschaulich machen. Sehen Sie, man kann den Menschen studieren - studieren nach demjenigen, was die Wissenschaft der letzten drei bis vier Jahrhunderte eben als solche Wissenschaft herausgebracht hat. Da kommt man aber nur bis zu einem gewissen Punkt, nur höchstens bis zum physischen

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Organismus. In dem Augenblick, wo man in die höheren Glieder der Menschennatur hinauf­gehen will, kann man es nicht, ohne daß man die Welt einlaufen läßt in ein künstlerisches Erfassen des Menschen, weil die Welt selber künstlerisch schafft da, wo sie geistig schafft. So daß niemand den Menschen begreifen kann, der nicht das Wissenschaftliche übergehen lassen kann in seiner eigenen inneren Anschauung in Künstlerisches.

Die gegenwärtige Wissenschaft kommt dann und sagt: Ja, derjenige, dem es passiert, daß er von der Wissenschaft in das Künstlerische übergeht, der geht ab von dem Wege der Logik, den Beobachtungen der Logik, die in der Wissenschaft da sein müssen. Der ist kein Wissenschafter mehr.

Man kann lange so deklamieren, meine sehr verehrten Anwesenden: Wenn aber die Natur nicht so schafft, wie man da deklamiert, wenn die Natur anfängt an einem bestimmten Punkte nicht mehr so naturalistisch logisch zu sein, sondern eben selber künstlerisch zu sein, dann kommt nur der an die Natur heran, der eben künstlerisch wird im letzten Augenblicke.

Und so ist es eben gerade bei der wirklichen Anthroposophie. Sie will nicht und kann nicht, weil das ihrem Wesen nicht entspricht, sie will nicht irgend etwas bloß lebendig Ideelles sein, sondern in einem bestimmten Augenblicke geht das, was lebendig wissenschaftlich in Ideen aus­gesprochen wird, über in unmittelbar Künstlerisches, Bildnerisches. Und deshalb wird jedes­mal, wenn man nur aufängt, den menschlichen Ätherleib zu beschreiben, auch die vorher meinet­willen noch der gegenwärtig gebräuchlichen Wissenschaft ähnliche Beschreibung unmittelbar übergehen in künstlerische Gestaltung, in künstlerische Verbildlichung.

Und sobald man dies intensiv begreift, dann wird man überall finden, daß Anthroposophie, daß überhaupt wahrhaftige Geisteswissenschaft nicht etwas Kunstfremdes oder gar Kunstfeind­liches ist, sondern daß sie gerade in ein wirklich Künstlerisches in der Zukunft hinüberführen wird.

Im alten Goetheanum hat sich das wirklich in der Praxis gezeigt. Das alte Goetheanum hatte einen solchen Grundriß, daß, wenn man sich eine Mittellinie zog, nach beiden Seiten hin die Achse symmetrisch war; dann aber war keine weitere Symmetrie da, außer der Links-Rechts-Symmetrie.

Die Säulen des Zuschauerraumes hatten Kapitäle, welche nicht alle gleich waren, sondern welche in einer fortschreitenden Entwickelung waren, und zwar so, daß das Kapitäl der ersten Säule links und rechts verhältnismäßig einfach war. Die zweite Säule hatte ein etwas kompli­zierteres Kapitäl. Und so ging das fort. Aber das künstlerische Schaffen an diesen Kapitälen war durchaus so, daß man innerlich in der Empfindung der Linie, in diesem Anschauen der Kurven alles in der Form am zweiten Kapitäl unmittelbar hervorgehen ließ aus dem ersten, das dritte wiederum aus dem zweiten. Und so überließ man sich rein dem Leben in Linien, Flächen, Kurven.

Und dabei ergab sich, daß man von selbst, möchte ich sagen, mit der siebenten Säule fertig war. Da hatte man eine Form bei den Linien, Kurven: darüber ging's nicht mehr hinaus, da mußte man stehen bleiben.

Da sehen nun die Leute die sieben Säulen und meinen: das ist eine tief mystische Zahl, sie beruht auf einer alten Formel, auf etwas, das im Aberglauben weiterlebt und dergleichen. Aber so ist es nicht! Wenn man rein künstlerisch schafft, muß man beim Siebenten stehen bleiben. So wie der Regenbogen sieben Farben hat, die Musikskala sieben Töne hat von der Prim bis zur Oktave - die Oktave ist die Wiederholung der Prim -, so hat man sieben Säulen.

Aber noch etwas zeigt sich bei einem solchen Schaffen: Nun hat man das zweite Kapitäl durch Metamorphosieren, erlebtes Metamorphosieren aus dem ersten hervorgehen lassen, das

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dritte aus dem zweiten, und so weiter, hat sieben zustande gebracht. Dann steht man und schaut sich das an. Man schaut sich seine eigenen Sachen an und entdeckt allerlei daran, das man durchaus nicht hineingedacht hat! Da entdeckte ich zum Beispiel, als ich das siebente Säulenkapitäl hatte und es verglich mit dem ersten, daß, natürlich künstlerisch angegriffen, alle Formen, die am ersten konkav waren, konvex waren am letzten; und alle, die am ersten konvex waren, konkav waren am letzten. So daß, wenn man einiges umiegte, man das letzte ins erste hineinlegen konnte : also das siebente ins erste, das sechste ins zweite, das funfte ins dritte, und das vierte blieb in der Mitte für sich stehen. Das ergab sich ganz von selbst.

Sehen Sie, da hatte man die Sicherheit, daß man gar nichts von menschlicher Willkür in die Dinge hineingeheimnißt hat, sondern daß man aus dem Leben der Formen selber heraus ge­arbeitet hat; daß man sich verbunden hat mit der schaffenden kosmischen Welt selber; daß man auch an den Pflanzenmetamorphosern dies umfaßt, daß man also auch, was in der Natur waltet und webt, auf einer anderen Stufe etfaßt; daß das, was man tat, nicht menschliches Allegori­sieren war, sondern daß man sich gewissermaßen hineinverwoben hat in das Naturschaffen, und nun wie die Natur schuf.

Das aber ist auch das wahre künstlerische Schaffen, und auf das werden alle Künste in der Zukunft mehr oder weniger zurückkommen. Das war das künstlerische Schaffen in allen großen Kunstepochen. Und das ist dasjenige, was ja auch entgegengeleuchtet hat in allen einzelnen Ausführungen des ausgezeichneten Vortrages von Baron Rosenkrantz. Das ist dasjenige, was Sie sehen können überall da besonders, wo neue künstlerische Impulse in der Erdenentwicke­lung auftauchen. Von neuen Impulsen bekommt man dann den Mut und die Hoffnung, daß wirklich aus dem, was in der Geisteswissenschaft erlebt werden kann, neue Kunstformen hervorgehen können.

I DER MÜNCHNER KONGRESS PFINGSTEN 1907 MÜNCHEN VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

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DER MÜNCHNER KONGRESS PFINGSTEN 1907

MÜNCHEN

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

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Die ersten geisteswissenschaftlichen Vorträge in München hielt Rudoif Steiner im November 1904 auf Einladung der beiden Leiterinnen des späteren Münchner Hauptzweiges Sophie Stinde (1853-1915) und ihrer Freundin Pauline Gräfin von Kalckreuth (1856-1929). Sophie Stinde, Schwester des damals bekannten Schriftstellers Julius Stinde und selbst begabte Landschaftsmalerin, stellte von diesem Zeitpunkt an ihre ganze starke Kraft in den Dienst der Bewegung Rudolf Steiners; nach seinen eigenen Worten in wahrhaft «vorbildlicher» Weise. «Es gibt so vieles» - sagte er bei ihrer Kremationsfeier -« dann, wenn die Bahn einer geistigen Arbeit eingeschlagen wird, was man in Menschenhände legen können muß, von denen man sicher sein kann, daß sie es so ausführen, wie man es vielleicht selber nicht einmal ausführen könnte ... Und zu denjenigen Menschen, die in kräftigster Weise mittaten, wenn so gehandelt werden mußte, gehörte Sophie Stinde» (Ulm, 22. November 1915, in Bibl.-Nr. 261 «Unsere Toten»).

In dieser Art baute Sophie Stinde nicht nur die eigentliche Münchner Arbeit auf, sondern sie wurde -unter Verzicht auf die von ihr geliebte Kunstausübung - auch zur Hauptträgerin der Organisations­bürde für die großen Münchner Veranstaltungen : den Münchner Kongreß 1907 - zu dessen Kunst­ausstellung auch einige ihrer Landschaftsbilder zählten - und die daraus hervorgegangenen von 1909 bis 1913 jährlich stattfindenden Sommerfestveranstaltungen mit den Uraufführungen von Rudolf Steiners Mysteriendramen. Damit zusammenhängend faßte sie aber auch - gemäß Marie Steiners Aus­sage - als « erste » den « kühnen» Gedanken, die Verwirklichung des Zentralbaues anzugehen. Sie schuf dic notwendigen Unterlagen, um die Ausarbeitung des Projektes zu ermöglichen, und wurde so zur Gründerin und zur ersten Vorsitzenden des Münchner und dann des Dornacher Bauvereins.

Als Rudolf Steiner nach ihrem Tode zum erstenmal wieder in Dornach an der Baustätte sprach, sagte er, daß es ihr, die mit dem Bau « mit am innigsten verbunden ist», nur auf Grund ihres tiefen künstlerischen Sinnes möglich gewesen war, « jenen Willen zu entfalten, der dann sich ausbreitet und viele ergreift, jenen Willen zur Entwickelung, der seinen Ausdruck findet in diesem unserem Bau. Zu den allerersten, denen der Gedanke an diesen unseren Bau aufgegangen ist, gehörte Sophie Stinde, und man kann das Gefühl haben, daß wir kaum die Möglichkeit gefunden hätten, aus unseren Münchner Mysterien-Gedanken heraus den Weg zu diesem Bau zu finden, wenn ihr starker Wille nicht am Aus­gangspunkte des Gedankens dieses Baues gestanden hätte.» Und weiterfahrend sagte er : «Ihr Platz in der äußeren physischen Welt wird künftig leer sein. Aber von diesem Platze wird ausgehen für die­jenigen, die sie haben verstehen gelernt, der Gedanke der vorbildlichen, hingebungsvollen, opfersinni­gen Arbeit innerhalb unserer Reihen. Und dieser Gedanke muß insbesondere leben in den Räumen, über denen sich die Doppelkuppel wölbt, in den Räumen, in denen, als ihrem Mit-Werke, Sophie Stindes Seele während dieser Erdeninkarnation schon wirkte. Wird es doch, wenn wir in richtigem Sinne unser Verhaltnis zu ihr erfassen, unmöglich sein, den Blick zu wenden an unsere Formen, ohne uns verbunden zu fühlen mit ihr, die den Blick in erster Linie dem zuwandte, dem sie ihre eigene Arbeit gewidmet hat und in dem Sophie Stindes Seele weiterwirken wird.» (Dornach, 26. Dezem­ber 1915, in Bibl.-Nr. 261 «Unsere Toten».)

Die folgende Chronik veranschaulicht, wie Rudolf Steiner im Verein mit Marie von Sivers und den Münchner Freunden den Kongreß 1907 von langer Hand sorgfältig vorbereitete, um im Sinne einer Harmonisierung von Wissenschaft, Kunst und Religion die Erneuerung der Mysterien im modern­rosenkreuzerischen Sinne zu inaugurieren. Die Daten markieren jedoch nur die wesentlichsten Punkte im Zusammenhang mit der Kongreßvorbereitung. Dazwischen reiste Rudolf Steiner ständig kreuz und quer durch ganz Deutschland, um an verschiedenen Orten Vorträge zu halten.

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JUNI 1906

Der Kongreß des Jahres 1907 soll in Deutschland stattfinden

Dies wurde beim dritten Kongreß der Föderation Europäischer Sektionen in Paris am 3. bis 5.Juni 1906 beschlossen.

JUNI/JULI 1906

Marie von Sivers' Initiative, den Kongreß mit

einem Mysterienspiel zu verbinden

Marie von Sivers faßte, wie aus dem nachfolgend zitierten Brief an Schuré von 18. Juli 1906 hervor­geht, schon in Paris den Gedanken, bei dem Kongreß ein Mysterienspiel aufzuführen : «Das Heilige Drama von Eleusis» in der Rekonstruktion von Edouard Schuré. Schuré hatte soeben Rudolf Steiner und Marie von Sivers in Paris zum erstenmal persönlich kennengelernt, nachdem Marie von Sivers mit ihm bereits sieben Jahre lang korrespondierte. Sie war durch ihn auf die Theosophle aufmerksam gemacht worden und dadurch in Berlin 1900 Rudolf Steiner begegnet. Den im folgenden zitierten Brief schrieb Marie von Sivers aus Landin in der Mark Brandenburg, wo sie sich mit Rudolf Steiner und einigen anderen Freunden zu einer kurzen Erholung aufhielt. Dorthin kamen auch Sophie Stinde, die zum Sekretär, und Gräfin Kalckreuth, die zum Schatzmeister des Kongresses ernannt worden war, um «mit Dr. Steiner und Fräulein von Sivers die Angelegenheiten des Münchner Kongresses zu be­sprechen. Dazu ist da wohl am leichtesten Gelegenheit ... Da gibt es einen Winter voll anstrengender Arbeit. Pfingsten ist im nächsten Jahr sehr früh.» (Sophie Stinde an Ludwig Kleeberg am 5. Juli 1906.)

Marie von Sivers an Edouard Schuré aus Landin, 18. Juli 1906* :

... Wenn der Gasthof in der Nähe Ihres Hauses noch existiert, so wäre es schön Sie wiederzu­sehen und sich ein wenig in Ihrer Umgebung auszuruhen. Dann könnten Sie mit Dr. Steiner sprechen anstatt ihm schriftlich Fragen zu stellen. Und wir könnten uns über die Einrichtung Ihres Mysterien­dramas für die Bühne unterhalten. Zum Beispiel ist die Persephone-Szene mit dem Nymphenchor in dem Kapitel über Plato ein sehr schönes Vorspiel für das Mysterium von Eleusis. Wir haben in Stutt­gart ein Mitglied, sehr ernsthaft und sehr musikalisch. ** Vielleicht inspiriert ihn die Theosophle dazu, die Chöre zu komponieren. Sie würden es verdienen...»

SEPTEMBER 1906

Die Eleusis-Aufführung wird mit Schuré

noch einmal besprochen

Rudolf Steiner und Marie von Sivers halten sich fünf Tage bei Schuré in Barr im Elsaß au£

«... Anregende Gespräche wurden geführt während der Wanderungen zu den Ruinen alter Burgen, zum Odilienberg, zur Heidenmauer. Dort war es, daß ich, übergehend von einem Rückblick in die Zeit der Druidenmysterien zu den Griechen, es wagte [noch einmal] die Frage an Schuré zu stellen, die Dr. Steiner, soweit es ihn betraf, schon bejahend beantwortet hatte : ob wir uns an die Darstellung seines Dramas von Eleusis wagen dürften anläßlich des in München im nächsten Jahre zu haltenden Kongresses. Schuré war freudig überrascht...» (Marie Steiner im Vorwort zu «Das Heilige Drama von Eleusis», Dornach 1939).

* Marie von Sivers und Edouard Schuré korrespondierten miteinander in französischer Sprache. Übersetzung von Robert Friedenthal.

* * Adolf Arenson, der zwar nicht die Musik zum Eleusis-Drama, aber 1910 bis 1913 die Musik für die vier Mysteriendramen Rudolf Steincrs schrieb.

#SE284-023

OKTOBER 1906

Ort und Zeit des Kongresses und seine Gestaltung

werden offiziell mitgeteilt

Bei der Generalversammiung der Deutschen Sektion in Berlin am 21. Oktober 1906 teilt Rudolf Steiner den Vorschlag mit, den Kongreß aus «rein praktischen Beweggründen» in München abzuhalten, da «nur dort» die geeigneten Kräfte «für die lange und viel Hingebung erfordernde Arbeit» zur Ver­fügung stünden. Als Zeitpunkt erscheine Pfingsten der geeignetste.

Auf eine Frage nach der Gestaltung antwortete er, daß alle bisherigen Kongresse als «Versuche» aufzufassen seien. Aufgabe der Deutschen Sektion soll sein, alles in «innigen Einklang» zu bringen, so daß Kunstwerke, Musik und Rede mit dem übrigen Arrangement stimmungsvoll zusammenwirken und zusammenklingen, dahin strebend, «an die alten Mysterien zu erinnern», weshalb auch die Auf-führung eines Mysteriums geplant sei.

OKTOBER / NOVE MBER 1906

Der genaue Kongreßplan wird erstellt> und die notwendigen Räume

werden gemietet. Das Mysterienspiel soll unter der Regie Rudolf Steiners

von Mitgliedern der Gesellschaft dargestellt werden

Vom 27. Oktober bis 6. November 1906 halt Rudolf Steiner in München drei öffentliche Vorträge und für die Mitglieder einen Zyklus von acht Vorträgen. Marie von Sivers berichtet darüber Edouard Schuré :

Berlin, 10. November 1906

«Wir kommen soeben aus München zurück, wo Dr. Steiner einen seiner Zyklen unter dem Titel gehalten hat. Es war großartig. Während der zwölf Tage dort haben wir auch den Plan für den Kongreß entworfen und die Säle gemietet. Diese sind nach unserem Geschmack - würdig, weiträumig, wohl proportioniert und frei von Verzierungen, so daß die Dekoration unsere Sache sein wird. Wir können versuchen, uns der Idee des Tempels zu nähern. Die Bühne ist auch groß, und wir werden weit genug entfernt vom Publikum sein, um die Illusion des Mysteriums zu erzielen, woran uns doch sehr gelegen ist. Nun möchten wir Sie um die Erlaubnis bitten, aufzuführen, nicht mit Schauspielern, sondern indem wir die Rollen an Mitglieder unserer Gesellschaft verteilen. Dr. Steiner will gar keine Theaterroutine, er wird selbst unser Regisseur sein und uns den tieferen Sinn unserer Rollen eröffnen. Da er ja alles kann, wird er auch das können. Er wird auch mit sicherem Blick diejenigen auszuwählen wissen, die besondere Fähig­keiten für bestimmte Rollen haben. Ich glaube, daß Sie nicht viel riskleren, zumal ja die Aufführung keine öffentliche sein wird. Es werden nur die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft da sein und die Zeitungen werden sich nicht hineinmischen. Nur im Falle eines ganz unerwarteten Erfolges könnte man daran denken, die Sache öffentlich zu wiederholen, sofern Sie damit einverstanden sind.

Nun müßte man allerdings, wie Sie selbst sagten, einige Änderungen vornehmen und dann die fertige Übersetzung dem Komponisten geben. Wir müssen uns also gleich ans Werk machen, denn der Kongreß findet schon zu Pfingsten statt (am 19. Mai). Manchmal kommen einem, wenn man die Dinge mit Energie und gutem Willen in die Hand nimmt, die Sterne zu Hilfe. Sie inspirieren uns und senden uns die guten Schutzgeister. Wer weiß, ob ein solches Unternehmen, mit Mut und Glauben durch­geführt, nicht die Pforte für größere Erfolge öffnen könnte. Wenn man selbst nicht aktiv ist, kann man nicht erwarten, daß die anderen etwas riskieren. Natürlich muß man sich auf eine Riesenarbeit gefaßt machen. Wenn Sie ablehnen, wird Dr. Steiner selbst etwas im Sinne der antiken Mysterien verfassen, denn wir legen Wert auf das Mysterium; aber wir hätten sehr gerne das Ihrige.

Es ist richtig, daß Dr. Steiner mir die Rolle der Demeter geben will, und das hat mich erschreckt. Ich hätte eher Persephone gewählt, als die Göttermutter. Nur sagt Dr. Steiner, daß diese Mutter etwas von einer Nonne haben muß und daß sogar mein Mund für diese Rolle besonders geeignet ist nicht

#SE284-024

jedoch Rir die der Persephone. Ich kann nun nicht gerade diejenige sein, die sich sträubt; nur finde ich, daß ich jetzt die schwierigste Rolle habe und zugleich die, von der am meisten abhängt. Vor allem die Szene zwischen Zeus und Demeter müßte geändert werden, denn sie ist nicht für Profane geschrieben, und vielleicht müßte auch die Erzählung der Hekate, wenn sie der Demeter den Willen des Zeus an-kündigt, etwas retouchiert werden, denn auf deutsch werden die Dinge gleich viel gröber.

Vielleicht könnte man auch einzelne Szenen durch lebende Bilder oder Pantomimen, unter­brochen von Musik, aneinanderfügen. In den großen Szenen müssen die Chöre der Nymphen, der Glückseligen und der Mysten in schönster Weise mit dem gesprochenen Wort abwechseln.

Natürlich sind Sie mit Arbeit überlastet, das weiß ich. Aber vielleicht bemächtigt sich Ihrer das Genie des Dramas und es gelingt Ihnen, zu einem Ganzen zu verbinden, was in einzelnen Teilen geschaffen ist.

Ich kehre oft in Gedanken in das friedliche Vogesental zurück, wo wir eine so warme und ver­ständnisvolle Gastlichkeit gefunden haben. Ich hoffe, Sie und Madame Schuré in München zu sehen ...

Wenn Sie wüßten, wie Dr. Steiner arbeiten muß! Ich glaube, so etwas ist nie dagewesen...».

DEZEMBER 1906 BIS FEBRUAR 1907

Das Kongreß-Programm wird gedruckt und versandt

8. Dezember : Rudoff Steiner schreibt an Marie von Sivers aus Stuttgart : «Wie steht es mit Deiner Übersetzung der Eleusinien? Wir müssen sie bald haben ... Anfangs Januar müssen wir unbedingt die Kongreß-Programme versenden können. Wir werden uns also wohl dann in München aufhalten müs­sen.» (Bibl.-Nr. 262, Seite 100.)

11. und 12. Dezember: Rudolf Steiner halt in München Vorträge.

20. Dezember 1906 und 4. Januar 1907: Rudolf Steiner und Marie von Sivers machen in München privat Station auf einer kurzen Erholungsreise nach Venedig.

13. Januar : Marie von Sivers schreibt an Edouard Schuré :

«... Ich verstehe Ihren Schrecken im Gedanken an unsere Unternehmung. Ich teile Ihre Befürchtung, nur habe ich den Eindruck, daß hier eine Notwendigkeit vorliegt. Es ist, wie wenn das geschehen müßte. Für uns ist es ein Damoklesschwert, das über dem Kongreß hängt, denn wir haben diesen nun einmal in organischer Weise mit einer Mysterienaufführung verbunden, und alle die Zufälle und Un­glücksmöglichkeiten, von denen diese Aufführung bedroht ist, bedrohen eben auch unseren Kongreß. Aber wir müssen nun einmal unseren Rücken hirahalten und die Last auf uns nehmen, ohne jedoch den Blick auf die Sterne zu verlieren. Der Komponist hat sein letztes Wort noch nicht gesagt, aber der Gedanke begeistert ihn. Er ist jetzt dabei> das Werk zu lesen. Es ist Herr Stavenhagen in Mün­chen .. .»

21. Januar : Brief Rudolf Steiners an Marie von Sivers aus Erlangen, das Kongreß-Programm betreffend *.

«... Beifolgend schicke ich Dir das Kongreß-Programm. Ich habe es nun fertig in dem Zustande, daß es der Drucker bekommen kann ... Bitte laß es nun softrt drucken und zwar ganz genau nach dem Manuskript ...

Ich bin heute auf ein paar Stunden hieher nach Erlangen entflohen. Auf dem Wege von Karlsruhe nach Nürnberg konnte ich nirgends aussteigen, und wäre ich schon heute morgens in Nürnberg gewe­sen, dann kriegtest Du wohl auch noch diese beifolgende eilige Kongreßsache nicht. Denn wo es auch ist : die Leute sind immer da.

* Dieaea Programm dea Kongresses muß bald darauf versandt worden sein. Für den Kongreß se]bat gestaltete Rudo]f Steiner ein anderes «Programmbuch, das den Besuchern in die Hand gegeben wurde», und das auf den Seiten 193-201 und Tafel ] fakaimiliert wiedergegeben ist.

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Bitte gib dem Drucker ein Kongreß-Programmheft vom vorigen Jahr, damit er nicht eine un­mögliche Größe macht. Und schärfe ihm ein, daß er richtig den Text zweispaltig - gegenüber-stehend - deutsch-englisch macht, wie es im Manuskript ist.» (Bibl.-Nr. 262, Seite 102.)

Wesentliche Stellen aus dem Programmtext :

Dem Programm des Kongresses soll die Absicht Die bildende Kunst

zugrunde liegen, einen einheitlichen theosophi- Es besteht die Absicht, alles was auf diesem Ge­

schen Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Da biete geboten werden soll, mit der ganzen Ver­

die theosophische Weltauffassung ein Ideal der anstaltung zu einem harmonischen Ganzen zu ver­

Zukunft darstellt, kann selbstverständlich ein sol- knüpfen. Daher wird eine Ausstellung nicht in

cher Gedanke in der Gegenwart nicht vollkommen einem abgesonderten Raume, sondern in dem ge­

zum Ausdruck gelangen. Allein man kann viel- räumigen und sympathischen Festsaal des Kon­

leicht doch durch die Anordnung und Verteilung gresses selbst stattfinden. Und es soll in der Wahl

des Darzubietenden bewirken, daß in dem Ganzen der auszustellenden Kunstwerke, sowie in den

des Kongresses die theosophischen Leitprinzipien : dekorativen Verbindungsgliedern eine Harmonie

Konzentration und Übersichtlichkeit der Ideen, geschaffen werden, die für alles übrige eine Grund-

und im einzelnen die theosophische Grundstim- stimmung des Raumes liefern soll. Es werden

mung : Ruhe und innere Sammlung zum Aus- daher aus dem Gebiete der bildenden Kunst und

drucke gelangen. des Kunsthandwerkes nur solche Leistungen Be­

Den Iruhalt der Veranstaltungen sollen bilden : rücksichtigung finden können, welche in den hier-

Vorträge aus dem Gebiete theosophischer Welt- mit gekennzeichneten Rahmen sich fügen. Doch

auffassung, künstlerische Darbietungen, rein ge- wird der zugrunde liegende Gedanke ein so weiter

sellschaftliche Zusammenkünfte.

Die künstlerischen Darbietungen sollen sowohl sein, daß er vieles wird fassen können.

auf dem Gebiete der bildenden, wie der musikali- Musik

schen und poetischen Kunst so ausgewählt wer­

den, daß das Einzelne sich mit dem aus der theo- Die musikalischen Darbietungen werden sich an

sophischen Weltauffassung vorgebrachten zu ei- die übrigen Veranstaltungen angliedern, und, wo

nem harmonischen Ganzen zusammenfügt. Des- möglich, wenigstens der Stimmung nach, zu der

halb soll in einer der Veranstaltungen auch der theosophischen Weltauffassung in einer Beziehung

Versuch gemacht werden, im Dramatischen die stehen. Sie werden ebenfalls in dem Festsaal des

Vorstellung eines Mysteriums zu geben. Kongresses selbst stattfinden.

Abhandlungen und Vorträge Die poetische Kunst

Diese werden nach der bisherigen Gepflogenheit Diese soll durch Rezitationen und durch eine

der Kongresse umfassen : bühnenmäßige Darstellung mit Mysteriencharak­

1. Alles auf die Brüderlichkeit und die ßengro ter zur Geltung kommen. Es steht zu hoffen, daß

Ziele der Gesellschaft bezügliche. es den Anstrengungen des deutschen Komitees

2. Religion, gelingen werde, die großen Schwierigkeiten zu

Mystik, überwinden, welche gerade dieser Teil des Pro­

Philosophie und Wissenschaft grammes machen wird. Doch wäre es immerhin

Darunter : wünschenswert, daß, wenn auch nur in bescheide­

a) Vergleichende Religionswissenschaft, nem Rahmen, einmal gezeigt werden könnte, wie

b) Mythenkunde, die theosophische Weltauffassung das Künstle­

c) Volkskunde, rische zu beleben imstande ist.

d) Kunstwissenschaft, Das Maßgebende bei allen diesen Veranstal­

e) Geschichtliches usw. tungen wird sein, zum Ausdruck zu bringen, daß

3. Verwaltung, Propaganda usw. die Theosophie nicht nur eine Summe von theo­

4. Okkultismus. retischen Anschauungen bleiben muß, sondern die

Die Abhandlungen sollten bis zum 10. April Umwandlung in das Sinnlich-Anschauliche und

in den Händen des Sekretärs des Kongresses sein. stimmunggemäß Wahrnehmbare erfahren kann.

Dieselben können in jeder der Sprachen der föde- Auf diesem Wege muß sie ja befruchtend auf die

rierten Sektionen verfaßt sein. übrige Kultur wirken.

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25. und 26. Januar 1907: Rudolf Steiner hält sich wiederum in München fur zwei offentliche Vor­träge auf.

17. Februar : Tod des Gründer-Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft Henry Steel Olcott.

25. Februar : Rudolf Steiner schreibt in diesem Zusammenhang an Marie von Sivers :

«... Wie die Dinge auch kommen werden : für die T. S. [Theosophical Society] wird alles fatal sein, für die spirituelle Bewegung doch nicht ungünstig. Auch der Verfall der T. S. als solcher darf uns keines­wegs schrecken...» (Bibl.-Nr. 262, Seite 106).

17. bis 19. März : Rudolf Steiner hält sich wiederum in München auf und hält Vorträge.

APRIL! MAI 1907

Die Probenzeit in München und die Ausgestaltung

des Saales

6.April: Rudolf Steiner und Marie von Sivers kommen nach München. Zwischendurch reist Rudolf Steiner allein kurz nach Berlin, um das Nötige für die bevorstehende Wahl des neuen Präsidenten der T. S. zu veranlassen.* Am 29. April kommt er wieder zurück nach München. Während des sechs­wöchigen Aufrnthaltes wird für die Aufführung des Dramas und für die Auergestaltung der Räume pausenios gearbeitet. Das Drama, von Marie von Sivers in Prosa übersetzt, bringt Rudolf Steiner in freie Rhythmen. Er verteilt die Rollen, führt Regie und die Kulissen und Kostüme werden ebenfalls nach seinen Angaben hergestellt. Er leitet die Ausgestaltung des Saales, für die er die Sklzzen für die Planetensiegel zeichnet, die Kapitälformen plastiziert, die Planetensiegel für das eigentliche Kongreß-Programm zeichnet und so weiter.

18. BIS 21. MAI 1907 (PEINGSTEN)

Der Kongreß als Versuch zur Erneuerung der

abendländischen Mysterien

Der Kongreß mit ca. 600 Teilnehmern wird am 18. Mai, 10 Uhr vormittags durch Rudolf Steiner als amtierender Präsident des Kongresses eröffnet. Annie Besant als Ehrenpräsidentin spricht nach den verschiedenen Generalsekretären. In der künstlerischen Abendveranstaltung wird u. a. von Marie von Sivers die Arielszene aus Goethes Faust, II. Teil rezitiert.

Am Pfingstsonntag, 19. Mai hält am Vormittag Rudolf Steiner seinen ersten Kongreßvortrag «Die Einweihung des Rosenkreuzers»; nachmittags um 5 Uhr folgt die Aufführung des «Heiligen Drama von Eleusis», Mysterium von Edouard Schuré mit Musik von Bernhard Stavenhagen.

Dem Programm war die folgende Übersicht beigelegt worden :

Kurze Inhaltsübersicht

über Edouard Schurés

heiliges Drama von Eleusis

die Geschicke der Welt bis zum Chaos herunter

Dargestellt im Verlauf des Kongresses der Föde- eingearbeitet sind, doch noch nicht das bewußte

ration europäischer Sektionen der Theosophiscben Leben der Menschen. Die Nymphen wirken als

Gesellschaft am 19. Mai 1907. mahnendes Element, sie suchen Persephone zur

1. Prolog: Ermahnung Persephones durch ihre Erfüllung des Gelöbnisses zu verhalten. Eros er-

Mutter Demeter, sich nicht von Eros bewegen scheint als Verführer. Persephone pflückt die Nar­

zu lassen, die verführerische Narcisse zu pflücken, cisse des «Wunsches» und kann dadurch von Pluto

sondern an dem Weltenschleier zu weben, in dem geraubt werden.

* Unmittelbar vor dem Münchner Kongreß wurde der Nachfolger für H. S. Olcott gewählt. Die Wahl fiel auf Annie Besant.

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1. Aufzug. 1. Auftritt. Demeter erscheint bei dies Werk nicht vollbringen, weil sie nicht haben

Hekate, ihren Schmerz klagend und den Aufent- will, daß der Dionysos in neuer Gestalt wieder

halt ihrer Tochter erfragend. Nachdem sie gehört, von den wilden Titanen zerrissen werde. Doch

daß diese von Pluto geraubt ist, will sie erfahren, Zeus sagt : dieser Dionysos werde stärker sein.

wo sie bei einem freien Volke leben und sich Demeter versinkt in Schlaft Aus ihrem Traume

ihrem Schmerze ganz hingeben kann. Sie wird wird im Verein mit der Kraft des Zeus der neue

von Hekate nach Eleusis verwiesen. Dort sei eben Dionysos geschaffen. Bevor dieser erscheint, kün­

der König gestorben. Um unerkannt dort ein- det ein «Chor von unsichtbaren Seligen» das

treten zu können, wird sie von Hekate in eine Mysterium des Werdens feierlich. Dann erscheinen

greise Bettlerin verwandelt. Triptolem und Persephone im Wagen von feuri-

2. Auftritt. Metanira, die Witwe des verstorbe- gen Drachen gezogen. Persephone erkennt in Dio­

nen Königs von Eleusis, ist von ihren drei Töch- nysos den Gott, mit dem sie durch Sehnsucht

tern umgeben, welche des Vaters Tod beklagen; immer vereint war, Dionysos in Persephone die

sie selbst aber ist nur darauf bedacht, daß der Schwester, der er für alle Ewigkeit gehört. Zeus

Sohn, Triptolem, das Volk bewegen soll, zum entsendet Triptolem als eingeweihten Priester nach

Nachfolger des Vaters gewählt zu werden. Dieser Eleusis. Ein Chor von unsichtbaren Helden sprkht

will nicht durch Überredung die Krone erlangen, von dem Geheimnis der Einweihung.

sondern sie nur haben, wenn das Volk ihn un­

beeinflußt wählt. (3. Auftritt.) Da tritt Demeter Die Chöre sind :

ein (4. Auftritt) in der Gestalt einer greisen Bert- Nymphen : 0 Persephone! 0 Jungfrau!

lerin. Sie wird von den Töchtern und von Trip- Des Himmels keusche Braut!

tolem gut empfangen, von Metanira scharf zu- In deinen Schleier webest du

rückgewiesen. Da Demeter (5. Auftritt) zu Trip- Der Götter lichte Formen,

tolem allein spricht, werden Funken unter ihrem Der Erde eitler Trug

Gewande sichtbar. Sie teilt dem Triptolem den Sei ewig ferne dir!

Verlust der Tochter mit, und dieser verspricht, in Der Wahrheit reiner Glanz

die Unterwelt hinabzusteigen, sie zu holen. De- Nur strahle deinem Blick!

meter erkennt seine große Natur und sagt, daß Im Empyräum lebet dir

sie ihn «zu dem göttlichsten der Helden» machen Dionysos, der Gemahl,

wolle. Sie berührt ihn, was eine Lichterscheinung Vom Himmel selbst erkoren

hervorruft. Metanira eilt herbei (6. Auftritt), Flüche Wie ferner Sonne keuscher Strahl

über Demeter ausstoßend, die sich darauf zu er- Berührt sein Kuß dich nur.

kennen gibt und Triptolem zum künftigen Opfer- Von deinem Atem lebet er,

priester von Eleusis weiht. Metanira aber wird aus In seinem Lichte atmest du -

dem Heiligtum verwiesen. Diese verflucht deshalb Es ist nicht größ'rer Heil

Triptolem. Zu finden im weiten All.

2. Aufzug. Pluto auf dem Throne, neben Perse- Nicht dessen denke

phone. Er will sie veranlassen, aus seinem Kelche Der eitlen Frage

die Frucht des Granatapfels zu trinken. Kiagende Entziehe dich.

Schatten erscheinen vor Persephone, die durch ihr

Schicksal hin- und hergeworfen wird. Sie wollen Nkht weiter forsche I Den Menschen drohend

Persephone abhalten, die Frucht zu genießen. Ein Entflieh Gefahren, Und auch den Göttern.

Chor von Dämonen will sie dazu verführen. Trip­

tolem erscheint (3. Auftritt) mit Hekate. Perse- 0 göttliche Jungfrau I Des Himmels Wonne dir,

phone zu holen. Ein Traum ist es nur, Wenn Heiles Mahnung

3. Aufzug. Zeus. Er beklagt das Schkksal der Doch Wesen wird er, Umsonst dir ertönt,

Persephone und des Triptolem, der nun auch durch Wenn schuldiger Wunsch Den Schleier webe weiter, In deine Seele ihn ruft Vergiß, was Eros unkeusch

Pluto gefangen ist. Er sagt, daß nur Dionysos in In Schein muß vergehen Dir offenbaren mag.

neuer Gestalt das Befreiungswerk vollführen _________ könnte. Demeter erscheint. Zeus teilt ihr mit, daß

ein neuer Dionysos zur Befreiung der Verdamm- Unglückliche, halt ein. ten entstehen müsse, und daß dieser nur durch Gib acht, Persephone, seines, des Zeus, Feuer im Verein mit dem Lichte Unheil kann leicht der Demeter entstehen könne. Demeter will erst Aus Zauberei entstehen.

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Chor der unsichtbaren Dämonen im Tartaros Der Götter Inbrunst durchgeistigt die Welt

Und Menschen beben bis in Seelentiefen.

Persephones Besieger, Erobern wir sie uns. Erschaffen ringt aus Sinnes-Dämmerung.

Dem großen Pluto, Denn ziehen werden sie Ins Dasein treten neue Götterwesen.

Ihm sei Ehre! Die Fehler ihres Lebens In Ehrfurcht sollen neigen sich die Menschen,

Es jubelt die Hölle Und ihrer Formen Schönheit Wenn offenbar wird hellig Geisterwalten.

An deinem Hochzeitsfest. In unser Reich. Es strömen Formen ohne Zahl ins Leben,

In tausend Freudenfeuern Bevölkern muß sich dies Wenn einen Blick das Götterauge sendet

Erglänzt der Tartaros. Mit eitlen Schatten, Ins ungemeß'ne Reich der Raumesweiten.

Bis jetzt entwichen Ihr Strygien, Harpyen Es keimen Welten aus dem Nichts ins Sein,

Der Erde Kinder ihm Ihr Ungeheuer, freut euch Sie sinken aus dem Sein ins Wesenlose,

In ihrer Unschuld. Im Lügenbaume. Und schaffen so die Göttertageszeiten,

Zu leicht waren sie Dem Pluto Ehre! Wie Licht und Dunkel die für Menschen.

Dem Reich der Finsternis. Vor Freude erzittert Ihr aber, Saat des Abgrunds, ihr Seelen,

Doch jetzt besitzend Die Hölle, und halten Die ihr verstreut im Totenreich euch seht,

Die Göttin der Höhe, Wird seine Beute Das Steuer, das bisher euch fehlte, soll

In unermeßlicher Zahl Der dunkle Tartaros. Gegeben sein in eure eigne Hand!

_________ Der Feuerherd, aus dem einst ihr erstanden,

Er war bis jetzt verborgen eurer Seele ...

Vergiß, Vergiß, Verlangen wir Enthüllen wird er sich nun für euch!

Du sollst trinken Aus diesem Kelch! Es wird der Göttermutter Traumesmacht

Aus diesem Kelche Es brennt in uns Beleben, was der Göttervater formt.

Und uns zum Tranke Der Hölle Durst, Und aus belebter Form erstehen soll

Ihn reichen. Er allein Der neue Gott, der starke Lichtesträger.

Des Lebens Kraft zu trinken Kann löschen ihn. Und ihr sollt aufnehmen ihn in eure Seelen,

Auf daß aus seiner Kraft sich wandeln kann,

Was sterblich war in euch, in unsterblich Sein.

Chor der Schatten

Du siehst nur Seelen in uns Die Rettung, 0 Königin Chor der unsichtbaren Helden

Gebeugt von Unglücksgewalt, Von dir, dich bittend

An diesem Ufer irrend Zu führen uns hinan Ihr Zeugen tief verborgner Wissenschaft!

Erflehen wollen wir In Elysiums Gefilde. Was in der Welten tiefstem Grunde ruht,

_________ Ist hüllenlos vor eurem Seherblick.

Behalten soll der Geist, was er geschaut,

Nicht trinke, Persephone, Und laß emporsteigen uns Bewahren das Gedächtnis es im Erdenreich...

Das rote Blut Aus Hekates Finsternis, Zum Trost gereich es euch, so lang ihr lebt!

Im schwarzen Kelch. Ins Elysaische Reich. Als Führer nehmet es ins Geisterland!

In Herzenstiefen als geheimer Schatz

Verschlossen muß dies Heiligtum doch sein,

Chor der unrichtbaren Seligen Dem Edelstein gleich, der im Felsen ruht.

Ins Weltensein der Weisheit reinen Strahl

Wenn in der Träume Geisterreich entschwebt Zu tragen ist des Sehers hohe Pflicht,

Die Göttin aller Erdenfruchtbarkeit, Verraten aber, wo ihr Urstand liegt,

Dann strömen Werdekräfte durch das All, Mag jener nur, der sie verlieren will.

Montag, 20. Mai : Rudolf Steiner hält seinen zweiten Kongreßvortrag «Planetenentwickelung und Menschheitsentwickelung».

Dienstag, 21. Mai : Rudolf Steiner spricht über Erziehungsfragen am Vormittag und am Nachmittag über die Saalausgestaltung.

Abends Schluß des Kongresses durch musikalische Darbietungen und Schlußreden.

MAI/JUNI 1907 Marie von Sivers berichtet Eduard Schuré über die Aufführung seines Mysteriums

#G284-1977-SE029 Bilder okkulter siegel und Säulen

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MAI/JUNI 1907

Marie von Sivers berichtet Eduard Schuré

über die Aufführung seines Mysteriums

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Einen lebendigen Eindruck von der Aufführung und den Arbeitsproblemen vermittelt, was Marie von Sivers an Edouard Schuré berichtete, der selbst nicht nach München gekommen war:

«München, den 26. Mai 1907. Dies ist der erste Tag, an dem ich ein paar ruhige Stunden in meinem Zim­mer habe, bald werden die Menschen hereinströmen, aber ich versuche, Ihnen bis dahin wenn nicht ein Aperçu, so doch wenigstens einige Mitteilungsfetzen zu geben. Mein langes Schweigen vor dem Kongreß war mir selbst am schmerzlichsten. Ich habe nicht gewagt, Sie zum Kommen zu veranlassen, denn wenn die Veranstaltung mißglückt wäre, so hätten Sie peiniiche Momente erlebt und eine lange Reise mit Stra­pazen auf sich genommen, um unangenehme Eindrücke zu empfangen. Und dann wußten wir wirklich bis zum letzten Moment nicht, ob wir es schaffen würden. Die Widerstände waren sehr groß. Sie müssen bedenken, daß die Schauspieler aus verschiedenen Städten kamen und sich erst sehr spät zusammen-finden konnten. Von zwei Damen, welche wir als unsere Sterne betrachteten und die in den Rollen von Persephone und Hekate Ausgezeichnetes versprachen, mußte die eine fort, um eine Schwägerin in Brüssel zu pflegen, die plötzlich wahnsinnig geworden war; die andere wurde selbst nervenkrank, und während einer Woche hatten wir sie hier, ohne sie ihrer Mutter schicken zu können, von welcher sie die Krankheit geerbt hat und von der sie ihr ganzes Leben hindurch gequält worden ist. Schließlich mußte man sie in eine Irrenanstalt bringen, es war wirklich eine Katastrophe. So waren die Chancen für das Gelingen der Aufführung sehr gering geworden. Nach manchem Zögern entschiossen wir uns, es mit einem sehr armen jungen Mädchen zu versuchen, die ein überaus schweres Leben hat und in Momenten der Niedergeschiagenheit ganz hoffnungslos wirkt, weil es ihr an Energie fehlt. Sie setzt sich dann hin, legt die Hände in den Schoß und sagt: * Glücklicherweise konnte sie sich die Rolle der Persephone . Das war die Frage gewesen. Dann sah man den Funken, der früher in ihr schlafend gelegen hatte, sich entzünden, und sie wurde jeden Tag glücklicher. Die zuerst sehr schwache Stimme, die ihr immer in die Brust herunterrutschte, wuchs mit jedem Tage; aber erst in der letzten Woche konnten wir sicher sein, daß man sie verstehen würde. Noch jetzt ist dieses junge Mädchen ganz verklärt und sie hat noch immer die Allüren einer Prinzessin. Diese Tage werden die schönsten ihres Lebens gewesen sein. Im ganzen waren die Proben eine Quelle des Entzückens und der Harmonie für viele. Wir hatten stets eine ganze Anzahi von Zuhörern, die nie genug bekommen konnten und die das Stück so schön fanden, daß sie es jeden Tag hätten hören mögen. Die Nymphen und die Phantome waren sehr eifrig, gaben uns aber viel zu tun. Alle diese Leute hatten nie gespielt. Außer Triptolem, der Berufsschauspieler ist, aber Mitglied der Gesellschaft, und mir, die ich seiner­zeit in Liebhabertheatern mitgewirkt habe, hatte keiner von unseren Leuten je das Rampenlicht gesehen. Der Enthusiasmus hat alles ersetzt. Metanira war enttäuschend. Diejenige, welche diese Rolle spielen sollte, mußte die der Hekate übernehmen, und die neue Darstellerin, eine sehr gescheite Dame, zeigte keinerlei Bühnenverständnis. Die Rolle des Triptolem war zunächst einem jungen Mann anvertraut worden, der sehr gerne spielen wollte, durchaus sympathisch, aussehend wie ein Ephebe, aber so trost­los in seinen Gesten und in seiner Sprache so unfähig jeglichen Aufschwungs, daß wir während einiger Zeit glaubten, die Sache seinetwegen aufgeben zu müssen, bis der Schauspieler kam, der ursprünglich den Pluto spielen sollte und der ihn mit gutem Erfolg ersetzt hat. Dionysos war ein reizendes junges Mädchen, halb Italienerin, halb Polin, die als Letzte erschien und zunächst mit einem Akzent sprach, der uns zusammenfahren ließ. Sie war zwar nett, aber äußerst ungeschickt, und die Schlußapotheose war in Gefahr, ihretwegen ins Wasser zu fallen. Man mußte also alle Tage intensiv mit ihr arbeiten und ihr das Wesen der deutschen Aussprache beibringen. Hierdurch geriet meine Stimme, nachdem ich sie bereits durch einen Husten und das dauernde Sprechen bei den Proben erschöpft hatte, in

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* Im Text in deutscher Sprache.

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einen solchen Zustand, daß ich während der letzten Woche völlig heiser war und fürchtete, bei der Auf­führung nicht sprechen zu können, zumal da ich keine Möglichkeit hatte, mich zu pflegen und mich den ganzen übrigen Verpffichtungen zu entziehen. Abgesehen von meinen Obliegenheiten als Sekretärin der Deutschen Sektion und des Kongreß-Bureaus hatten wir, nur für diese Aufführung, einrichten müssen: zwei Mal-Ateliers (für die Kulissen), ein Schneider-Atelier (selbst die Kostüme wurden alle nach Angaben von Dr. Steiner von unseren Mitgliedern gemacht), schließlich zwei weitere Ateliers, wo unsere Maler für die Ausschmückung des Saales (des späteren Tempels, nach den Zeichnungen von Dr. Steiner) arbeiteten. Das gab ein Hin und Her wie in einem Ameisenhaufen - überall eine fiebrige Hast, denn man hat sich in die großen Ausgaben erst gestürzt, als man wirklich sicher war - mehr oder weniger -, daß man spielen könnte.»

«28. Mai. Herr Stavenhagen (der übrigens kein Holländer ist) hatte seine Musik erst drei Tage vor der Aufführung fertig und zu dem vorgesehenen Schlußchor ist er überhaupt nicht mehr gekommen. Die Musik war jedoch schön; ich weiß nicht, wie es die Ausländer gefunden haben, die Deutschen fanden jedenfalls, daß es gewesen sei. Und die Schauspielertruppe fand es auch sehr schön: würdig, stark und ätherisch - durchaus religiös.

Ich glaube, daß es für die Dichtung von Vorteil war, daß sie nicht mit Musik gemischt wurde. Durch die schönen Vorspiele wurde eine religiös-gesammelte Stimmung hervorgerufen; dann herrschte das Wort allein und die Idee konnte um so klarer hervortreten.

Die Deutschen waren wirklich begeistert, sie haben nicht banale Komplimente gemacht, aber sie waren durch das Drama selbst zutiefst ergriffen und haben uns dringend um eine Wiederholung gebe­ten; das war jedoch nicht möglich. Die Ausländer waren wohl kritischer und kühler, aber wie Sie es selbst schon geahnt haben, war eine große Anzahl von ihnen mit durchaus feindseligen Gefühlen gekommen, entschlossen, sich dem fortschrittlichen Geist zu widersetzen, mit Ironie zu behandeln, was ihr Verständnis übersteigt, und alles abzuweisen, was sie für unorthodox halten. Es war aber eigenartig zu beobachten, wie der Widerstand nach und nach sich verringerte, und manche waren schließlich ergriffen. Die Blechs und Mr. Pascal * werden ihre reservierte Haltung gewiß nie aufgeben, aber der letztere ist ganz am Ende seiner Kräfte, und die Blechs sind außerordentlich engstirnig; auch glaube ich, daß es ihnen einen merkwürdigen Eindruck gemacht hat, daß wir die Bedeutung Ihres Werkes so stark betonen, während sie durch ihre englische Erziehung wohl daran vorbeigegangen sind. Ihre Gefühle sind daher sehr gemischt.

Mit Recht erkannten Sie die Hand von Dr. Steiner in der Übersetzung. Ich weiß nicht, warum Herr Sauerwein ** Ihnen gesagt hat, daß sie von mir ist. Ich kenne Herrn Sauerwein übrigens nicht, habe ihn nie gesehen. Herr Steiner hat mir von ihm gesprochen als von einem Theosophen, den er einmal in Wien kennen gelernt hat, der am Tage der Auffiihrung am Kongreß war und mit Ihnen bekannt ist. Da er nach Paris ging, bat er ihn, Sie von uns zu grüßen. Vielleicht hat Herr Sauerwein auf dem Büchertisch die zwei Werke gesehen, welche ich übersetzt habe, und daraus geschlossen, daß ich auch die Übersetzerin des bin.

Ich habe die Prosa-Übersetzung gemacht und erst hier, im Laufe des letzten Monats, ist Herr Steiner an die Arbeit gegangen, um sie in Rhythmen zu bringen. Unter welchen Schwierigkeiten! Ständig wurde er unterbrochen, man verlangte ihn dauernd. Er ging weg, kam wieder für fünf Minuten, setzte seine dichterische Arbeit fort und ging dann wieder, von einem andern gerufen. Er hat in allen Künsten und in allen Handwerken gearbeitet, alle angeleitet: Maler, Bildhauer, Musiker, Schreiner, Tapezierer, Schauspieler, Schneiderinnen, Theaterarbeiter, Elektriker. Wenn er das nötige Material und die Arbei­ter zur Verfügung gehabt hätte, so hätte er in kurzer Zeit etwas Fabelhaftes zuwegegebracht: den Tempel der Zukunft. So konnte er nur Ideen skizzieren, aber sie werden befruchtend wirken.

Mit alledem konnten die letzten Szenen des Dramas erst in einem Moment fertiggestellt werden,

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* Prominente französische Theosophen.

** Jules Sauerwein, der u. a. die «Geheimwissenschaft» ühersetzte.

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welcher mir schon höchst kritisch schien. Ich hatte wohl das Vertrauen, daß man es schaffen würde, aber darauf mochte ich mich nicht verlassen, es wäre tollkühn gewesen. Es hätte mich zugleich er­freut und erschreckt, wenn Sie geschrieben hätten, daß Sie kommen, aber Sie dazu zu ermutigen, wagte ich nicht. Man möchte ja nicht die schützenden Geister herausfordern, sondern nur vorsichtig ihre Hilfe erbitten. Was mich am meisten erstaunt hat, ist, daß ich für die Aufführung meine Stimme wiedergefunden habe - so ruhig und sicher, wie wenn sie nie durch Husten gequält und durch die Müdigkeit erschöpft gewesen wäre.»

«Kassel-Wilhelmshöhe, 17. Juni 1907. Ich ... bedaure lebhaft, Ihnen nicht diese in München geschriebe­nen Blätter gesandt zu haben, von denen ich glaubte, daß ich sie noch in allen Einzelheiten würde ergän­zen können. Aber jeder Tag brachte etwas Unerwartetes. Für den Zyklus Dr. Steiners in München * waren etwa zweihundert Personen dageblieben, die uns einfach in Stücke rissen. Es war sehr schwierig ab­zureisen. Die letzten Tage hatten wir um neun Uhr abends noch zehn Personen, die darauf warteten, emp­fangen zu werden. Wenn wir, wie auch in diesem Falle, den Morgenzug nehmen, so packen wir unsere Koffer zwischen zwei und sechs Uhr morgens, ohne ins Bett zu gehen. Direkt vom Zuge ging Herr Steiner dann zu einem öffentlichen Vortrag in Leipzig, ein andrer folgte am nächsten Tage ... Am Morgen des 15. Juni mußten wir den Zug nach Kassel nehmen, wo jetzt ein zweiwöchiger Zyklus stattfindet. * *. . »

Der Münchner Kongreß als Ausgangspunkt zur

Trennung von der Theosophischen Gesellschaft

Die esoterisch-künstlerische Gestaltung des Münchner Kongresses durch Rudolf Steiner hatte auch eine starke gesellschaftsgeschichtliche Auswirkung. Vom Gesichtspunkt des Gesellschaftslebens bedeu­tete sie den großangelegten Versuch Rudolf Steiners, die von ihm von Anfang an vertretene abend­ländisch-christlich-rosenkreuzerische Esoterik in den internationalen Umkreis der Theosophischen Ge­sellschaft hineinzustellen. Dies wurde jedoch, wie er es in seinem «Lebensgang » (siehe Seite 33 dieses Bandes) schildert, gerade von den nichtdeutschen Theosophen abgelehnt. In dieser «inneren Haltung» habe der «wahre» Grund gelegen, warum die anthroposophische Gesellschaft nicht als «ein Teil» der theosophischen weiterbestehen konnte.

Auf Grund des von Rudolf Steiner damals schon vorausgesehenen Verfalles der Theosophischen Gesellschaft führte er noch während des Kongresses mit der neuen Präsidentin, Annie Besant, in An­wesenheit von Marie von Sivers als Dolmetscherin, ein längeres Gespräch. Marie von Sivers berichtete später, daß Rudolf Steiner in diesem Gespräch versucht habe, Annie Besant «in herzlich-ehrerbietiger, aber tief eindringlicher Weise » auf manches in diesem Zusammenhang hinzuweisen und ihr zugleich darzulegen, daß er fortan seine «eigene esoterische Arbeit, unabhängig von der ihrigen, ganz auf den Boden der abendiändisch-christlichen Mystik» zu stellen genötigt sei. Sie habe sich dies schweigend angehört. *** Rudolf Steiner selbst äußerte sich auch einmal über dieses Gespräch dahingehend, daß «Annie Besant vor einem Zeugen [Marie von Sivers], der jederzeit bereit sein wird, Zeugenschaft davon abzugeben, 1907 in München gesagt hat, daß sie in bezug auf das Christentum nicht kompetent sei. Und deshalb trat sie sozusagen damals die Bewegung, insofern das Christentum einfließen soll, tnir ab.» **** Annie Besant schrieb auf dem Hintergrunde dieses Gespräches am 7. Juni1907, also kurz

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* 22. Mai bis 6. Juni 1907 angekündigt im Kongreß-Programm als «Ein Kursus über die Theosophie nach Rosenkreuzer­methode», gedruckt unter dem Titel «Die Theosophie des Rosenltreuzers», Bibl.-Nr. 99.

** Mit dem Titel «Theosophie und Rosenkreuzertum», enthalten in Bibl.-Nr. 100 «Menscbheitsentwickelung und Christus­Brkenntnis »

*** Marie Steiner, Vorwort zu «Studienmaterial aus den Sitzungen des Dreißiger-Kreises Stuttgart 1922/23», Privatvervielfältigung Dornach 1947.

**** Rudolf Steiner, Ansprache Berlin 14. Dezember 1911, vorgesehen für Bibl.-Nr. 251; ferner auszugaweise enthalten in «Aus dem Leben von Marie Steiner-von Sivers, Biographische Beiträge und eine Bibliographie» von Hella Wiesberger, Domach 1956.

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nach ihrer Rückkehr von München nach London dem deutschen Theosophen Wilhelm Hübbe-Schlei-den *: «Lieber Dr. Hübbe-Schleiden, Dr. Steiners okkulte Schulung ist von der unserigen sehr verschie­den. Er kennt den östlichen Weg nicht, daher kann er ihn auch nicht lehren. Er lehrt den christlich-rosenkreuzerischen Weg, der für manche Menschen eine Hilfe, aber von unserem verschieden ist. Er hat seine eigene Schule und trägt auch selbst die Verantwortung dafür. Ich halte ihn für einen sehr guten Lehrer in seiner eigenen Richtung und für einen Mann mit wirklichen Erkenntnissen. Er und ich arbeiten in vollkommener Freundschaft und Harmonie, aber in verschiedenen Richtungen. Stets Ihre Annie Besant.» In Wirklichkeit war diese «Freundschaft und Harmonie» keineswegs so «vollkommen», wie Annie Besant es in diesem Brief ausdrückte. Im Laufe der folgenden Jahre wurde dies immer deutlicher erkennbar, bis sich 1912/13 die Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft in die selbständige An throposophlsche Gesellschaft umwandelte.

H. W.

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* Der Originalbrief in englischer Sprache ist faksimiliert wiedergegeben in Emil Bock. Rudolf Steiner, Studien zu seinem Lebenagang und Lebenswerk, Stuttgart 1961.

DER MÜNCHNER KONGRESS PFINGSTEN 1907 Aus «Mein Lebensgang» 38. Kapitel

#G284-1977-SE033 Bilder okkulter siegel und Säulen

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RUDOLF STEINER

DER MÜNCHNER KONGRESS PFINGSTEN 1907

Aus «Mein Lebensgang» 38. Kapitel

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In Berlin und in München waten gewissermaßen die zwei entgegengesetzten Pole der anthro­posophischen Wirksamkeit zu entfalten. Es kamen ja an die Anthroposophie Persönlichkeiten heran, die weder in der naturwissenschaftlichen Weltanschauung noch in den traditionellen Bekenntnissen dasjenige an geistigem Inhalt fanden, was ihre Seelen suchen mußten. In Berlin konnte ein Zweig der Gesellschaft und eine Zuhörerschaft für die öffentlichen Vorträge nur aus den Kreisen derjenigen Persönlichkeiten entstehen, die auch alles ablehnten, was an Welt­anschauungen im Gegensatz zu den traditionellen Bekenntnissen sich gebildet hatte. Denn die Anhänger solcher auf Rationalismus, Intellektualismus und so weiter begründeten Weltanschau-ungen fanden in dem, was Anthroposophie zu geben hatte, Phantastik, Aberglaube und so weiter. Eine Zuhörer- und Mitgliederschaft entstand, welche die Anthroposophie aufnahm, ohne mit Gefühl oder Ideen nach anderem als nach dieser gerichtet zu sein. Was man ihr von anderer Seite gegeben hatte, das befriedigte sie nicht. Dieser Seelenstimmung mußte Rechnung getragen werden. Und indem das geschah, vergrößerte sich immer mehr die Mitglieder- wie auch die Zuhörerzahi bei öffentlichen Vorträgen. Es entstand ein anthroposophisches Leben, das gewissermaßen in sich gesch/assen war und wenig nach dem blickte, was sonst an Versuchen sich bildete, in die geistige Welt Blicke zu tun. Die Hoffnungen lagen in der Entfaltung der anthroposophischen Mitteilungen. Man erwartete, im Wissen von der geistigen Welt immer weiter zu kommen.

Anders war das in München. Da wirkte in die anthroposophische Arbeit von vornherein das künstlerische Element. Und in dieses ließ sich eine Weltanschauung wie die Anthropo­sophie in ganz anderer Art aufnehmen als in den Rationalismus und Intellektualismus. Das künstlerische Bild ist spiritueller als der rationalistische Begriff. Es ist auch lebendig und tötet das Geistige in der Seele nicht, wie es der Intellektualismus tut. Die tonangebenden Persöniichkeiten für die Bildung einer Mitglieder- und Zuhörerschaft waren in München solche, bei denen das künstlerische Empfinden in der angedeuteten Art wirkte.

Das brachte nun auch mit sich, daß in Berlin ein einheitlicher Zweig der Gesellschaft von vornherein sich gestaltete. Die Interessen derjenigen, die Anthroposophie suchten, waren gleichartig. In München gestalteten die künstlerischen Empfindungen in einzelnen Kreisen individuelle Bedürfnisse, und ich trug in solchen Kreisen vor ...

Ich will mit den Charakteristiken, die ich von Berlin und München als den entgegengesetz­ten Polen des anthroposophischen Wirkens gebe, nichts über den Wert des einen oder andern Poles sagen; es traten da eben Verschiedenheiten bei Menschen auf, die man im Arbeiten zu berücksichtigen hatte, die in ihrer Art gleichwertig sind - wenigstens hat es keine Bedeutung, sie vom Gesichtspunkte des Wertes aus zu beurteilen.

Die Art des Münchner Wirkens führte dazu, daß der Theosophische Kongreß, der 1907 von der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft veranstaltet werden sollte, in München stattfand. Diese Kongresse, die vorher in London, Amsterdam, Paris abgehalten wurden, enthielten Veranstaltungen, die theosophische Probleme in Vorträgen oder Diskus­sionen behandelten. Sie waren den gelehrten Kongressen nachgebildet. Auch die administra­tiven Fragen der Theosophischen Gesellschaft wurden behandelt.

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An alledem wurde in München manches modifiziert. Den großen Konzertsaal, der für die Tagung dienen sollte, ließen wir - die Veranstalter - mit einer Innendekoration versehen, die in Form und Farbe künstlerisch die Stimmung wiedergeben sollte, die im Inhalt des münd­lich Verhandelten herrschte. Künstlerische Umgebung und spirituelle Betätigung im Raume sollte eine harmonische Einheit sein. Ich legte dabei den allergrößten Wert darauf, die ab­strakte, unkünstlerische Symbolik zu vermeiden und die künstierische Empfindung sprechen zu lassen.

In das Programm des Kongresses wurde eine künstlerische Darbietung eingefügt. Marie von Sivers hatte Schurés Rekonstruktion des eleusixüschen Dramas schon vor langer Zeit übersetzt. Ich richtete es sprachlich für eine Aufführung ein. Eine Ankhüpfling an das alte Mysterienwesen, wenn auch in noch so schwacher Form, war damit gegeben - aber, was die Hauptsache war, der Kongreß hatte Künstierisches in sich. Künstlerisches, das auf den Willen hinwies, das spitituelle Leben fortan nicht ohne das Künstlerische in der Gesellschaft zu las­sen. Marie von Sivers, welche die Rolle der Demeter übernommen hatte, wies in ihrer Dar­stellung schon deutlich auf die Nuancen hin, die das Dramatische in der Gesellschaft erlangen sollte. - Außerdem waren wir in einem Zeitpunkt, in dem die deklamatorische und rezitatorische Kunst durch Marie von Sivers in dem Herausarbeiten aus der inneren Kraft des Wortes an dem entscheidenden Punkte angekommen war, von dem aus auf diesem Gebiete fruchtbar weiter­gegangen werden konnte.

Ein großer Teil der alten Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft aus England, Frank­reich, namentlich aus Holland waren innerlich unzufrieden mit den Erneuerungen, die ihnen mit dem Münchner Kongreß gebracht worden sind. - Was gut gewesen wäre, zu verstehen, was aber damals von den wenigsten ins Auge gefaßt wurde, war, daß mit der anthroposo­phischen Strömung etwas von einer ganz andern inneren Haltung gegeben war, als sie die bis­herige Theosophische Gesellschaft hatte. In dieser inneren Haltung lag der wahre Grund, warum die anthroposophische Gesellschaft nicht als ein Teil der theosophischen weiter­bestehen konnte.

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DER KONGRESS DER FÖDERATION EUROPÄISCHER SEKTIONEN

DER THEOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Ankündigung des Kongresses in der Zeitschrlft «Luzifer-Gnosis» Nr.33

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Die Föderation Europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft soll - durch die Kräftigung alles dessen, was in der Mission der theosophischen Bewegung liegt - die Ziele der Gesellschaft in gemeinsamer Arbeit der Mitglieder aus verschiedenen Ländern zu fördern suchen. Mit Rücksicht auf dieses Ziel ist das Programm des nächsten Kongresses ausgearbeitet worden, der am 18., 19., 20. und 21. Mai in München stattfinden wird. Er wird abgehalten werden in der Tonhalle (Kaim-Säle) München, Türkenstraße 5

Das Programm ist vor längerer Zeit an die sämtlichen Mitglieder der Deutschen Sektion und auch an die Mitglieder der auswärtigen Sektionen versendet worden. Es enthält die Mitteilun­gen über in Aussicht genommene Vorträge, über Darbietungen der bildenden Kunst, der Mu­sik und der Poesie. Besondere Sorgfalt soll auf die theosophische Ausgestaltung der rein gesel­ligen

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Zusammenküufte gelegt werden, damit der Kongreß die Zusammenarbeit in der wün­schenswerten Art zu fördern geeignet sein möge.

Es wird gerade in dem gegenwartigen Augenblicke von besonderer Wichtigkeit sein, daß eine möglichst zahlreiche Beteiligung am Kongresse stattfinde. Wir stehen vielleicht vor wich­tigen Entscheidungen in theosophischen Angelegenheiten, und der Kongreß wird, wenn die Gelegenheit nicht versäumt wird, manches beitragen können, um günstige Wendungen für die spirituellen Dinge herbeizuführen. Es möge daher kein Mitglied der Gesellschaft, das nur irgend den Besuch ermöglichen kann, bei dieser wichtigen Veranstaltung fehlen. Es ist ja die Pfingstzeit aus dem Grunde gewählt worden, daß möglichst viele unserer Mitglieder abkom­men können.

Alle Sendungen innerhalb der Deutschen Sektion sind zu richten an Fräulein von Sivers. Alle Sendungen im internationalen Verkehr dagegen an den Sekretär der internationalen Föde­ration: Fräulein Sophle Stinde, München, Adalbertstraße 55.

Alles übrige Wünschenswerte ist wohl aus dem ausgegebenen Kongreßprogramm zu ent­nehmen.

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DER THEOSOPHISCHE KONGRESS VON 1907

Bericht in der Zeitschrift «Luzifer-Gnosis», Nr.34

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Es war die Aufgabe der Deutschen Sektion der Theosophlschen Gesellschaft, den diesjährigen Kongreß der «Föderation Europäischer Sektionen» zu veranstalten. Es geziemt sich daher wohl, daß hler, aus dem Kreise der Veranstalter heraus, weniger über das gesprochen werde, was erreicht worden ist, als vielmehr über das, was beabsichtigt worden ist. Denn die Veranstal­ter wissen nur zu gut, wie wenig das Erreichte von dem geboten hat, was man bei einer solchen Gelegenheit sich als Ziel setzen kann. Deshalb sei gebeten, das Folgende nur in dem Sinne einer Schilderung der zugrunde liegenden Ideen mit Nachsicht aufzufassen.

Als Ort der Zusammenkunft wurde München bestimmt; die Zeit waren die Pfingsttage, der 18., 19., 20. und 21. Mal. - Die Fragen, welche sich die Veranstalter bei der Vorbereitung vorlegten, waren die: Wie kann sich durch einen solchen Kongreß die Aufgabe der theosophi­schen Bewegung innerhalb des gegenwärtigen Geisteslebens zum Ausdrucke bringen? Wie kann durch ihn ein Bild von den Idealen und Zielen der theosophlschen Arbeit gegeben werden? Da die Veranstaltung natürlich an die Grenzen gebunden ist, welche durch die Ver­hältnisse gegeben sind, so kann sie nur in beschränktem Maße die tatsächliche Antwort auf diese Fragen darstellen. - Es scheint nun besonders wichtig, daß bei solchen Gelegenheiten der umfassende Charakter der theosophischen Bewegung betont werde. Zunächst steht ja im Mittel­punkte dieser Bewegung die Pflege einer auf die Erkenntnisse des Übersinnlichen gestützten Weltanschauung. Und bei einem solchen Kongresse finden sich die Menschen zusammen, welche im Sinne einer solchen Weltanschauung mit Überbrückung aller Grenzen der Nationen und sonstiger menschlicher Unterschiede an einem der ganzen Menschheit gemeinsamen gei­stigen Ideale arbeiten. Die gegenseitige Anregung im besten Sinne wird die schönste Frucht solcher Veranstaltungen sein. Dazu kommt nun, daß gezeigt werde, wie die geisteswissenschaft­liche Arbeit wirklich sich hineinstellen soll in das ganze Leben unserer Zeit. Denn die geistige

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Grundlage dieser Bewegung kann nicht nur dazu berufen sein, in Gedanken und Ideen, in Theorien und so Weiter sich auszuleben; sondern sie kann, als ein in unserer Zeit auftretender Seeleninhalt, in alle Zweige des menschlichen Tuns und Schaffens befruchtend hineinwirken. Man erfaßt wohl die Geisteswissenschaft nur dann im richtigen Sinne, wenn man ihr das Ideal stellt, daß sich ihr Inhalt nicht nur für die Vorstellung und das menschliche Innere überhaupt, sondern für den ganzen Menschen anregend verhält. Will man ihre Mission in dieser Richtung deuten, so mag man sich erinnern, wie zum Beispiel in den Bauwerken und Bildwerken (zum Beispiel dem Sphinx) der Ägypter sich die Weltanschauung der entsprechenden Zeit zum Aus­drucke brachte. Die Ideen der ägyptischen Weltanschauung wurden nicht nur von den Seelen gedacht; sie wurden in der Umgebung des Menschen für das Auge anschaulich. Und man denke, wie alles, was von griechischer Bildnerei und Dramatik bekannt ist, die in Stein geformte, im Dichtwerk dargestellte Weltanschauung der griechischen Seele ist. Man ziehe in Betracht, wie sich in der mittelalterlichen Malerei die christlichen Ideen und Empfindungen dem Auge zeigten, wie in der Gotik die christliche Andacht Form und Gestalt gewann. Eine wahre Harmonie der Seele kann doch nur da erlebt werden, wo den menschlichen Sinnen in Form, Gestalt und Farbe und so weiter als Umgebung sich das spiegelt, was die Seele als ihre wertvollsten Gedanken, Gefühle und Impulse kennt.

Aus solchen Gedanken heraus erwächst die Absicht, auch in der äußeren Art der Veran­staltung bei einem Kongreß ein Bild zu geben des geisteswissenschaftlichen Strebens. Der Raum, in dem die Zusammenkunft vor sich geht, kann rings um den Besucher das theosophische Empfinden und Denken widerspiegeln. Nach unseren Verhältnissen konnten wir in dieser Rich­tung nicht mehr als eine Skizze dessen geben, was als Ideal vorschweben kann. Der Versamm­lungssaal war von uns so ausgekleidet worden, daß ein frisches, anregendes Rot die Grund­farbe aller Wände bildete. Diese Farbe sollte die Grundstimmung der Festlichkeit in äußerer Anschauung zum Ausdruck bringen. Es ist naheliegend, daß gegen die Verwendung des «Rot» zu diesem Zwecke manches eingewendet werden wird. Diese Einwände sind berechtigt, solange man auf ein exoterisches Urteil und Erleben sich stützt. Sie sind dem Esoteriker wohlbekannt, der dennoch im Einklange mit aller okkulten Symbolik die rote Farbe zu dem hier in Betracht kommenden Zwecke verwenden muß. Denn ihm darf es dabei rncht ankommen auf das, was der Teil seines Wesens empfindet, der sich der unmittelbaren sinnlichen Umgebung hingibt; sondern was im Geistigen schaffend das höhere Selbst im Verborgenen erlebt, während die äußerliche Umwelt physisch rot gesehen wird. Und das ist das genaue Gegenteil von dem, was die gewöhnliche Empfindung über das «Rot» aussagt. Die esoterische Erkenntnis sagt: «Willst du dich im Innersten so stimmen, wie die Götter gestirnt waren, da sie der Welt die grüne Pflanzendecke schenkten, so lerne in deiner Umgebung das ertragen, wie sie es mußten.» Damit ist auf einen - hier in Betracht kommenden - Bezug der höheren Menschennatur zum «Rot» hingedeutet, den der echte Esoteriker im Sinne hat, wenn er in der okkulten Symbolik die beiden entgegengesetzten Wesenheiten des schaffenden Weltgrundes so darstellt, daß nach unten das Grün als Zeichen der irdischen, nach oben das «Rot» deutet als Zeichen der himm­lischen (elohistischen) Schöpferkräfte. Man könnte noch viel von diesen Gegengründen gegen dieses «Rot» sagen, und viel zur Widerlegung; doch es möge hier diese kurze Andeutung dar­über genügen, daß diese Farbe im Einklange mit dem Okkultismus gewählt worden ist.

An den Wänden wurden angebracht (zu beiden Seiten und an der Hinterwand) die so­genannten sieben apokalyptischen Siegel in einer dem Raum entsprechenden Größe. Sie stellen ja im Bilde bestimmte Erlebnisse der astralischen Welt dar. Es hat ja damit eine eigene Be­wandtnis. Zunächst wird wohl mancher Betrachter solche bildiiche Darstellungen für gewöhnliche

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Symbole halten. Sie sind aber wesentlich mehr. Wer das, was in ihnen dargestellt wird, elufach mit dem Verstande sinnbildlich deuten will, der ist in den Geist der Sache nicht eingedrungen. Man sollte den Inhalt dieser sieben Bilder mit seiner ganzen Seele, mit dem ungeteilten Gemüte erleben, man sollte ihn in sich nach Form, Farbe und Inhalt seelisch gestal­ten, so daß er innerlich in der Jmagination lebt. Denn dieser Inhalt entspricht ganz bestimmten astralischen Erlebnissen des Hellsehers. Was dieser in solchen Bildern ausdrücken will, ist eben ganz und gar nicht ein willkürliches Sinnbild oder gar eine stroherne Allegorie, sondern etwas, was man am besten wohl zunächst durch einen Vergleich darstellt. Man nehme einen Menschen, der in einem Zimmer von einem Lichte so beleuchtet wird, daß auf einer Wand sein Schatten­bild sichtbar wird. Das Schattenbild ist in einer gewissen Beziehung ähnlich dem Menschen, der den Schatten wirft. Aber es ist eben ein Bild in zwei Dimensionen von einem dreidimen­sionalen Wesen. Wie sich nun der Schatten zur Person verhält, so verhält sich das, was in den apokalyptischen Siegeln dargestellt wird, zu gewissen Erlebnissen des Hellsehers in der astra­lischen Welt. Die Siegel sind - natürlich in übertragenem Sinne - Schattenrisse astralischer Vorgänge. Deshalb sind sie auch nicht beliebige Darstellungen eines Einzelnen, sondern es wird in ihnen jeder, welcher die entsprechenden übersinnlichen Vorgänge kennt, deren Schatten-risse in der physischen Welt wiederfinden. Derlei Dinge kann man in ihrem wesentlichen In-halte nicht ersinnen, sondern man nimmt sie aus der vorhandenen Lehre der Esoteriker. Einem Kenner dieser Dinge kann aufgefallen sein, daß einzelne unserer Siegel mit dem, was er darüber in dem oder jenem Werke findet, übereinstimmen; andere aber nicht. Der Grund da­von liegt darin, daß ja manches von den Imaginationen der Esoteriker bisher schon in Büchern mitgeteilt worden ist; das Wichtigste allerdings - und das Wahre - darf überhaupt erst in unse­rer Zeit in die Öffentlichkeit treten. Und ein Teil der geisteswissenschaftlichen Arbeit muß darin bestehen, manches von dem, was bisher streng als Geheimnis von den aufgestellten Hütern verwahrt worden ist, der Öffentlichkeit zu übergeben. Das fordert die Entwickelung des geistigen Lebens unserer Zeit von den Trägern der Geisteswissenschaft.

Es ist die Entwickelung der Menschheit, deren Ausdruck in der astralischen Welt eine der wesentlichsten Grundlagen des okkulten Wissens bilden muß, was in diesen sieben Siegeln zum Ausdruck kommt. Der christliche Esoteriker wird sie in Schilderungen der «Offenbarung St. Johannis » in einer gewissen Weise wiedererkennen. Die Gestalt aber, die sie in unserem Fest­saal dargeboten haben, entspricht der esoterischen Geistesströmung, welche seit dem 14. Jahr-hundert die tonangebende des Abendlandes ist. Solche Geheimnisse des Daseins, wie sie in diesen Bildern wiedergegeben werden, stellen uralte Weisheiten dar; die Hellseher der verschie­denen Menschheitsepochen sehen sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Deshalb andern sich, nach den notwendigen Entwickelungsbedürfnissen der Zeiten, die Formen etwas. In der «Offenbarung St. Johannis » ist «in Zeichen gesetzt», was «in der Kürze» geschehen soll. Wer eine geheimwissenschaftliche Ausdrucksform sachgemäß zu lesen versteht, der weiß, daß dies nichts anderes bedeutet, als den Hinweis auf die geheimwissenschaftlichen Zeichen für gewisse Imaginationen, die man in der astralischen Welt erleben kann, und die mit dem Wesen des Menschen zusammenhängen, insofern sich dieses in der Zeit enthüllt. Und auch die Rosen­kreuzersiegel stellen dasselbe dar. - Nur ganz skizzenhaft, mit ein paar Worten soll auf den unendlich reichen Inhalt der Siegel gedeutet werden. Im Grunde bedeutet alles - selbst das scheinbar Geringfügigste - auf diesen Bildern Wichtiges.

Das erste Siegel stellt des Menschen ganze Erdenentwickelung im allgemeinsten dar. In der «Offenbarung St. Johannis» wird mit den Worten darauf hingedeutet: «Und als ich mich wandte, sah ich sieben güldne Leuchter, und mitten unter den sieben Leuchtern einen, der war

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eines Menschen Sohn gleich, der war angetan mit einem langen Gewande und begürtet um die Brust mit einem güldenen Gürtel. Sein Haupt aber und sein Haar waren weiß wie Wolle, als der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme, und seine Füße gleich wie Messing, das im Ofen glühet, und seine Stimme wie groß Wasserrauschen, und hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand; und aus seinem Munde ging ein scharf, zweischneidig Schwert; und sein Ange­sicht leuchtete wie die helle Sonne.» In allgemeinen Zügen wird mit solchen Worten auf um­fassende Geheimnisse der Menschheitsentwickelung gedeutet. Wollte man darstellen in aus­führlicher Art, was jedes der tief bedeutsamen Worte enthält: man müßte einen dicken Band schreiben. Unser Siegel stellt solches bildlich dar. Nur ein paar Andeutungen seien gemacht:

Unter den körperlichen Organen und Ausdrucksformen des Menschen sind solche, die in ihrer gegenwartigen Gestalt die abwärtsgehenden Entwickelungsstufen früherer Formen darstellen, die also ihren Vollkommenheitsgrad bereits überschritten haben; andere aber stellen die An-fangs stufen der Entwickelung dar; sie sind jetzt gleichsam die Anlagen zu dem, was sie in der Zukunft werden sollen. Der Esoteriker muß diese Entwickelungsgeheimmsse kennen. Ein Organ, das in der Zukunft etwas viel Höheres, Vollkommeneres sein wird, als es gegenwärtig ist, stellt das Sprachorgan dar. Indem man dieses ausspricht, rührt man an ein großes Geheim­nis des Daseins, das oftmals auch das « Mysterium des schaffenden Wortes » genannt wird. Es ist damit eine Hindeutung auf den Zukunftszustand dieses menschlichen Sprachorgans gegeben, das einmal, wenn der Mensch vergeistigt sein wird, geistiges Produktionsorgan wird. In den Mythen und Religionen wird diese geistige Produktion durch das sachgemäße Bild von dem aus dem Munde kommenden «Schwert» angedeutet. So bedeutet jede Linie, jeder Punkt gewis­sermaßen auf dem Bilde etwas, was mit des Menschen Entwickelungsgeheimms zusammen-hängt. Daß solche Bilder gemacht werden, geht nicht etwa bloß aus einem Bedürfnisse nach einer Versinnlichung der übersinnlichen Vorgänge hervor, sondern es entspricht der Tatsache, daß das Hineinleben in diese Bilder - wenn sie die rechten sind - wirklich eine Erregung von Kräften bedeutet, welche in der Menschenseele schlummern, und durch deren Erweckung die Vorstellungen der übersinnlichen Welt auftauchen. Es ist nämlich nicht das Richtige, wenn in der Theosophie die übersinnlichen Welten nur in schematischen Begriffen beschrieben werden; der wahre Weg ist der, daß die Vorstellung solcher Bilder erregt wird, wie sie in diesen Siegeln gegeben werden. (Hat der Okkultist solche Bilder nicht zur Hand, so soll er mündlich die Be­schreibung der höheren Welten in sachgemäßen Bildern geben.)

Das zweite Siegel stellt, mit dem entsprechenden Zubehör, einen der ersten

zustände der Erdenmenschheit dar. Diese Erdenmenschheit hat in ihren Urzeiten nämlich noch nicht das entwickelt gehabt, was man Individualseele nennt. Es war damals noch das vor­handen, was bei den Tieren noch jetzt sich findet: die Gruppenseele. Wer durch imaginatives Hellsehen die alten menschlichen Gruppenseelen auf dem Astralplan verfolgen kann, der fin­det die vier Arten derselben, welche in den vier apokalyptischen Tieren des zweiten Siegels dargestellt werden: den Löwen, den Stier, den Adler, den Menschen. Damit ist an die Wahr­heit dessen gerührt, was oftmals so trocken allegorisch bei den vier Tieren «aus gedeutet »wird.

Das dritte Siegel stellt die Geheimnisse der sogenannten Sphärenharmonie dar. Der Mensch erlebt diese Geheimnisse in der Zwischenzeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt (im «Geisterlande » oder dem, was in der gebräuchlichen theosophischen Literatur «Devachan »genannt wird) . Doch ist die Darstellung nicht so gegeben, wie sie im «Geisterlande » selbst erlebt wird, sondern so, wie die Vorgänge dieses Gebietes sich in die astralische Welt gleichsam hereinspiegeln. Es muß überhaupt festgehalten werden, daß die sämtlichen sieben Siegel Erfahrungen

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der astralischen Welt sind; doch können ja die anderen Welten in ihren Spiegelungen im Astralen geschaut werden. Die posaunenblasenden Engel des Bildes stellen die geistigen Urwesen der Welterscheinungen dar; das Buch mit den sieben Siegeln deutet darauf hin, daß sich in den Erlebnissen, die in diesem Bilde veranschaulicht sind, die Rätsel des Daseins «ent­siegeln». Die «vier apokalyptischen Reiter» stellen die menschlichen Entwickelungsstufen durch lange Erdenzyklen hindurch dar.

Das vierte Siegel stellt unter anderem zwei Säulen dar, deren eine aus dem Meer, die andere aus dem Erdreich aufragt. In diesen Säulen ist das Geheimnis angedeutet von der Rolle, welche das rote (sauerstoffreiche) Blut und das blaurote (kohlenstoffreiche) Blut in der menschlichen Entwickelung spielt und wie dieses Blut sich entsprechend der menschlichen Entwickelung von fernen Urzeiten bis in ferne Zukunftszeiten sich wandelt. Die Buchstaben auf diesen Säulen deuten in einer nur den Eingeweihten bekannten Art auf dieses Entwickelungsgeheimms. (Alle in öffentlichen Schriften oder auch in gewissen Gesellschaften gegebenen Deutungen der beiden Buchstaben bleiben doch nur bei einer oberflächlichen, exoterischen Auslegung.) Das Buch in der Wolke deutet auf einen Zukunftszustand des Menschen, in dem all sein Wissen ver­innerlicht sein wird. In der «Offenbarung St. Johannis» findet man darüber die bedeutungs­vollen Worte: «Und ich nahm ein Büchlein von der Hand des Engels, und verschlang's...» Die Sonne auf dem Bilde deutet auf einen kosmischen Vorgang, der sich zugleich mit der ge­kennzeichneten Zukunftsstufe der Menschheit abspielen wird; die Erde wird in ein ganz anderes Verhältnis zur Sonne treten, als das gegenwärtige im Kosmos ist. Und es ist auf dem Bilde alles so dargestellt, daß alle Anorünungen der Teile, alle Einzelheiten und so weiter genau bestimmten wirklichen Vorgängen entsprechen.

Das fünfte Siegel stellt die weitere Entwickelung des Menschen in der Zukunft dar in einem Kosmos, in dem die eben angedeuteten Verhältnisse eingetreten sein werden. Der Zukunfts­mensch, der selbst ein anderes Verhältnis zur Sonne haben wird, als es das gegenwärtige ist, wird dargestellt durch das «Weib, das die Sonne gebiert»; und die Macht, die er dann haben wird über gewisse Kräfte der Welt, die heute sich in seiner niederen Natur äußern, wird durch das Stehen des « Sonnenweibes » auf dem Tier mit den sieben Köpfen und zehn Hör-nein dargestellt. Das Weib hat den Mond unter den Füßen: das deutet auf ein späteres kos­nisches Verhältnis von Sonne, Erde und Mond hin.

Das sechste Siegel stellt den weiterentwickelten Menschen mit noch größerer Macht über niedere Kräfte des Weltalls dar. Wie das Bild dies ausdrückt, klingt an die christliche Esoterik an: Michael hält den Drachen gefesselt. Endlich das siebente Siegel ist das von dem « Myste­rium des Gral», wie es in der im 14. Jahrhundert beginnenden esoterischen Strömung heimisch war. Es findet sich auf dem Bilde ein Würfel, die Raumeswelt darstellend, daraus von allen Seiten des Würfels entspringend die Weltenschlange, insofern sie die im niederen sich aus­lebenden höheren Kräfte darstellt; aus dem Munde der Schlange die Welteniinie (als Spirale), das Sinnbild der gereinigten und geläuterten Weltenkräfte; und daraus entspringend, der «heilige Gral», dem die «Taube » gegenübersteht: dies alles hinweisend - und zwar ganz sach-gemäß - auf das Geheimnis der Weltzeugung, von der die irdische ein niederer Abglanz ist. Die tiefsten Mysterien liegen in den Linien und Figuren und so weiter dieses Siegels.

Zwischen je zwei Siegeln war eine Säule eingefügt. Diese sieben Säulen konnten nicht plastisch ausgeführt werden; sie mußten zum Ersatz gemalt werden. Doch sind sie durchaus als wirkliche architektonische Formen gedacht und entsprechen den « sieben Säulen » des «wah­ren Rosenkreuzertempels » (Natürlich entspricht die Anordnung in München nicht ganz der in dem «Rosenkreuzerinitiationstempel», denn da ist jede solche Säule doppelt, so daß, wenn

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man von der Rückwand gegen vorne geht, man durch vierzehn Säulen schreitet, von denen sich je zwei gleiche gegenüberstehen. Dies nur zur Andeutung für solche, die den wahren Tat­bestand kennen; bei uns sollte nur im allgemeinen eine Vorstellung von dem Sinne dieses Säulengeheimnisses erweckt werden.) Die Kapitäle dieser Säulen stellen die planetarische Ent­wickelung unseres Erdensystems dar. Unsere Erde ist ja die vierte Verkörperung in einem planetarischen Entwickelungssystem, und sie deutet in den in ihr vorhandenen Anlagen auf drei Zukuuftsverkörperungen hin. (Das Genauere darüber findet man ja in denjenigen Aufsätzen dieser Zeitschrift, welche mit «Aus der Akasha-Chronik» überschrieben sind.) Man bezeichnet die sieben aufeinanderfolgenden Verkörperungen der Erde mit Saturn-, Sonne-, Mond-, Erden-, J upiter-, Venus- und Vulkanzustand. In den bei der Geheimwissenschaft gebräuchlichen Dar­stellungen läßt man den Vulkanzustand als einen zu fern liegenden Zukunftszustand weg und teilt aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, die Erdenentwickelung in einen Mars- und Merkurzustand. (Auch findet man diese Gründe in den Aufsätzen So ist in München versucht worden, die Skizze eines in der Stimmung der theosophischen Weltanschauung gehaltenen Innenraumes mit einigen Strichen herzustellen; es konnte natür­lich nur einiges von dem beigebracht werden, was dazu gehört, und auch dieses nur in allge­meinen Andeutungen, und vor allem nicht genau in der ganz sachgemäßen Anordnung. Doch sollte ja auch nur eine Ahnung von dem hervorgerufen werden, worauf es ankommt. Zu den die Esoterik andeutenden Geräten unseres Versammlungsraumes gehörten auch zwei Säulen, die im vorderen Teile des Saales standen. Was sie andeuten, geht aus der Beschreibung des vier­ten der Siegel hervor, auf dem sich ja auch die beiden Säulen finden. Sie deuten auf das Blut­geheimnis und enthalten das «Mysterium der Menschheitsentwickelung » Mit dem Blutgeheim-nis hängt die Farbe der Säulen zusammen: die eine ist rot, die andere tief blaurot. Die Geheim-wissenschaft schreibt auf diese zwei Säulen vier tief bedeutsame Sprüche. Wenn sich die Men­schenseele in diese vier Sprüche meditativ versenkt, dann quellen aus ihren Untergründen ganze Welten- und Menschengeheimnisse auf. Man müßte viele Bücher schreiben, wollte man den ganzen Sinn dieser Sprüche ausschöpfen, denn darinnen ist nicht nur jedes Wort bedeutungs­voll, sondern auch die Symmetrie der Worte, die Art, wie sie auf die vier Sprüche verteilt sind, die Steigerungen, die darinnen liegen und noch vieles andere, so daß nur langes, geduldiges

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Hingeben an die Sache das darinnen Liegende ausschöpfen kann. In deutscher Sprache lauten die vier Sprüche der «Säulenweisheit»:

«Im reinen Gedanken findest du

Das Selbst, das sich halten kann.»

«Wandelst zum Bilde du den Gedanken

Erlebst du die schaffende Weisheit.»

«Verdichtest du das Gefühl zum Licht

Offenbarst du die formende Kraft.»

«Verdinglichst du den Willen zum Wesen So schaffest du im Weltensein.»

Den Stimmungsgrundton, den wir in unserem «Innenraum» zum Ausdrucke bringen woll­ten, suchten wir auch schon in dem Programmbuch darzustellen, das den Besuchern in die Hand gegeben wurde. Über die rote Farbe des Umschlages dieses Buches braucht wohi nicht noch Besonderes gesagt zu werden, nachdem die Bedeutung der roten Farbe in der esoterischen Symbolik oben besprochen worden ist. Auf diesem Umschlag (in der linken oberen Ecke) ist im blauen ovalen Feld ein schwarzes Kreuz, mit roten Rosen umwunden, zu sehen; rechts von diesem die Buchstaben: E.D. N. - 1. C.M. - P.S. S. R. - Dies sind die zehn Anfangsbuchstaben der Worte, durch welche das wahre Rosenkreuzertum in einen Zielsatz zusammengefaßt wird:

«Ex deo nascimur, in Christo morimur, per spiritum sanctum reviviscimus.» Das Kreuzsinn-bild, von Rosen umwunden, drückt esoterisch den Sinn des Rosenkreuzertums aus. Bei dem Verhältnis, in das unsere Veranstaltung sich durch solche Dinge zum Rosenkreuzertum stellte, erscheint es wohi notwendig, auf schwere Mißverständnisse hinzuweisen, welche diesem ent­gegengebracht werden. Man hat sich da und dort auf Grund geschichtlicher Überlieferungen eine Vorstellung zu bilden versucht von dem Rosenkreuzertum. Von denen, welche auf diese Weise von ihm Kenntnis genommen haben, sehen es einige gegenwärtig niit einem gewissen Wohiwollen an; die meisten aber sehen in ihm Scharlatanerie, Schwärmerei oder ähnliches, vielleicht auch Schlimmeres. Es kann nun ohne weiteres zugestanden werden: wäre die Rosen­kreuzerei das, als was sie denen erscheinen muß> welche sie aus bloßen geschichtlichen Urkun­den und Überlieferungen kennen, so wäre sie sicherlich nicht wert, daß ein vernünftiger Mensch sich nilt ihr beschäftigt. Aber von der wahren Rosenkreuzerei weiß gegenwartig über­haupt niemand noch etwas, der ihr nicht durch die Mittel der Geheimwissenschaft nahegetreten ist. Außerhalb des Kreises der Geheimwissenschaft gibt es keine wirklichen Urkunden über sie, die der Name ist für die hier erwähnte Geistes strömung, die seit dem 14. Jahrhundert im Abend-lande die tonangebende ist. Erst jetzt darf begonnen werden, der Öffentlichkeit etwas von den Geheimnissen des Rosenkreuzertums mitzuteilen. - Indem wir in München aus dieser Quelle schöpften, wollten wir sie natürlich keineswegs als die alleinseligmachende der theosophischen Bewegung hinstellen, sondern nur als einen der Wege, auf denen die spirituellen Erkenntnisse gesucht werden können. Man kann nicht sagen, daß wir einseitig dieser Quelle den Vorzug gegeben hätten, während doch die theosophische Bewegung gleichmäßig alle Religionsformen und Wahrheitsbahnen berücksichtigen solle. Der theosophischen Bewegung kann es aber nie und nimmer obliegen, die Mannigfaltigkeit der Religionen als Selbstzweck zu studieren; sie muß durch die religiösen Formen zu deren Einheit> zu ihrem Kerne gelangen; und wir wollten durchaus

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nicht zeigen, wie das Rosenkreuzertum aussieht, sondern durch das Rosenkreuzerrum wollten wir die Perspektive zu dem einen Wahrheitskerne in allen Religionen zeigen. Und dies ist eben die wahre Mission der theosophischen Bewegung. - In dem Programmbuche findet man füuf Zeichnungen. Es sind die in Vignetteuform umgesetzten Motive der ersten fünf der oben erwähnten sieben Säulenkapitäle. Auch in diesen fünf Zeichnungen ist etwas von dem gegeben, was man «okkulte Schrift» nennt. Wer sich mit ganzer Seele in die Limenformen und Figuren einlebt, dem wird etwas von dem innerlich aufleuchten, was man als die für die Erkennt­nis der menschlichen Entwickelung wichtigen Zustände (Saturn-, Sonnen-, Mond-, Mars- und Merkurzustand) bezeichnet.

Damit sollten die Absichten geschildert werden, welche die Kongreßveranstalter bei der Zubereitung des Rahmens hatten, innerhalb dessen die Festlichkeit sich abzuspielen hatte. Der Ort der Veranstaltung war die Tonhalle (Kaim-Säle), die besonders geeignet schien für diese Veranstaltung.

DIE EINWEIHUNG DES ROSENKREUZERS Erster Kongreßvortrag in München am 19. Mai 1907

#G284-1977-SE043 Bilder okkulter siegel und Säulen

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DIE EINWEIHUNG DES ROSENKREUZERS

Erster Kongreßvortrag in München am 19. Mai 1907

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Der eine der großen Männer, deren Büsten hier vor Ihnen stehen, der deutsche Philosoph Hegel, faßte seine Überzeugung von dem Wesen der Menschheitsentwickelung in den Worten zusammen: diese Entwickelung sei ein Fortschritt der Menschheit im Bewußtsein der Frei­heit. - Und er hat darnit andeuten wollen, daß die menschheitliche Entwickelung nicht eine Wiederholung, eine Aufeinanderfolge von gleichen Tatsachen, gleichen Ereignissen sei, sondern ein ständiger und stetiger Fortschritt; daß von Epoche zu Epoche die Menschheit hinaufsteige zu immer höheren und höheren Stufen.

Derjenige, welcher vom spintuellen Gesichtspunkt aus die menschliche Evolution betrachtet, wird eine tiefe Wahrheit gerade in diesem Ausspruch Hegels finden. Zwar soll darnit nicht gesagt sein, daß innerhalb des aufsteigenden Entwickelungsganges der Menschheit nicht auch vorübergehend Epochen des Niederganges stattfinden; aber es heißt den großen Werdegang unseres Geschlechtes von einem kleinen Standpunkt aus betrachten, wenn man nicht gegenüber den vorübergehenden Epochen des Niederganges sieht, wie im Großen der fortdauernde Auf-stieg da ist. Nur derjenige, der nicht in die Tiefen des Entwickelungsganges blicken kann, hat die heute so häufig vorkommende Idee - wenn wir weiter in die Zeit zurückblicken oder auch perspektivisch vorschauen in die Zukunft -, als ob alles, der Mensch selbst in seiner Gestalt oder die um ihn herumliegenden Naturreiche, doch ungefähr so ähnlich waren wie heute. Wenn auch von Entwickelung gesprochen wird: von jenen gewaltigen Differenzen, die da bestehen zwischen den einzelnen Epochen des menschlichen Geistes und der fortschreitenden Kultur, macht sich gewöhnlich der Geist, der nur auf dem physischen Plan lebt, keine Vorstellung. Dem scheint es oft grotesk, wenn man ihm die großen Unterschiede der Naturreiche in den verflossenen Epochen schildert oder wenn man prophetisch hinweist auf die zukünftigen Epochen.

Erst wenn man den differenzierten Werdegang der Menschheit betrachtet, stellt er uns auf dem physischen Plan die Konfiguration der höheren Welten dar. Erst der erkennt seine Epoche, der weiß, an welchem Ort in der Menschheitsentwickelung er steht. Wir müssen uns ein bißchen umsehen, wo wir stehen - welchem Plan unsere gegenwärtige Menschheitsentwickelung ent­spricht. Da lehrt uns, was man die okkulte Weisheit nennt, daß auf einem absteigenden Entwickelungsgang dasjenige ist, was wir in der deutschen Sprache den Geist nennen - nicht die andern Teile der menschlichen Wesenheit. Der Geist ist es, der in unserer Epoche am tiefsten heruntergestiegen ist auf den physischen Plan. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahr­hunderts ist er gleichsam wieder dabei, seinen Aufstieg zu nehmen, und wer die Konfiguration erkennt, kann das nur so ausdrücken, daß er sagt: Innerhalb dieser Epoche ist die tiefste Ver­strickung des Geistes mit der Materie das Bezeichnende gewesen; jetzt strebt er danach, wieder heraufzusteigen. Und alle, die spirituell streben, streben danach, aus dieser Verstrickung wieder herauszukommen.

Lange bereitet sich ein solcher wichtiger Knotenpunkt der Menschheitsentwickelung vor. Wenn man okkult prüft, seit wann sich das vorbereitet hat, was als ein wichtiger Einschnitt in der Geistesentwickelung der Menschheit des 19. Jahrhunderts herausgekommen ist, so kommt man da zurück zu derjenigen Zeit, wo der Menschheitsgeist herabgestiegen ist von jenen Erkenntnissen, die noch mehr oder weniger herausgeboren waren vom astralischen Plan, und

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man kommt zu einer besonderen Mission in der Evolution der Menschheit für die letzten vier bis fünf Jahrhunderte. Den wichtigsten Punkt, wo die Menschheitsevolution gleichsam her­unterrückt vom Astraiplan auf den physischen Plan und die geistigen Erkenntnisse ins Mate­rielle übergehen, können wir auf den Zeitpunkt fixieren, als die alte ptolemäische Weltanschau­ung, die kein Unsinn, sondern eine Projektion astraler Erkenntnisse auf den physischen Plan ist, durch Kopernikus heruntergeführt worden ist auf den physischen Plan. Diese Erkenntnis drang dann immer mehr hinein in die späteren Entwickelungsstadien, bis sie im 19. Jahrhundert noch tiefer heruntergeführt wurde, als man den Geist sogar selbst materiell fassen wollte. Wer im rechten Sinne die theosophische Bewegung versteht, kritisiert das nicht, was die Mensch­heit so heruntergebracht hat. Das wäre kein aktives theosophisches Leben. Das aktive theo­sophische Leben fragt vielmehr: Wie steigen wir wieder heraus aus den Banden des physischen Planes? - und es versucht zu erkennen, welche Aufgabe diesem Herunterstieg auf den phy­sischen Plan zukam.

Wir schauen zurück auf die ägyptische Weisheit, auf die wunderbare chaldäisch-babylonische Weisheit und fragen uns: Welcher Unterschied ist denn zwischen dem, was der ägyptische Priester, der Hermesdiener sah, wenn er hinaufschaute zu dem gestirnten Himmel, oder dem, was der Astronom der Chaldäer geschaut hat in den Sternen - und zwischen demjenigen, was die heutige Wissenschaft sieht? Man bekommt durch die materialistische Wissenschaft keine rechte Vorstellung von dem, was in jenen Weisen vorging, wenn sie hinaufblickten zum Him­meisgewölbe; aber durch eine Analogie bekommt man sie, wenn man einen Menschen be­trachtet.

Wir betrachten ja den Menschen nicht so, daß wir bloß die Physiognomie seines Gesichtes ansehen. Wenn wir die Träne perlen sehen, betrachten wir nicht bloß, wie sie sich unter der Kraft der Schwere abwärts bewegt - wirklich, wenn heute ein Engel vom Himmel käme, man würde zuerst seine Fallgeschwindigkeit berechnen -, nein, wir sehen durch die Tränenperlen das Leid und den Schmerz seiner Seele. Und wenn er lächelt, dann sehen wir in seinem lächeln-den Antlitz das, was in seinem Geist als Freude lebt. Wir wissen, daß ursprüngliche elementare Empfindungen im Menschen vor sich gehen.

Dieses Durchsehen von dem Materiellen zu dem geistig-seellschen Inhalt der Seele war es, was die Hermes diener meinten, wenn sie sagten: Es ist unten alles wie oben! - Kein Materielles, das nicht der äußere Ausdruck eines Geistig-Seelischen wäre! Wie das Eis nur Wasser ist in anderer Form, so ist alle Materie nur Geist in anderer Form. Wenn jemand käme und zeigte uns ein Stück Eis, und wir sagten, das ist verdichtetes Wasser, er aber leugnete es, so sagten wir ihm: du bis naiv, du irrst dich, dieses Eis ist nur verdichtetes Wasser. Es ist eben nur etwas Anderes, Neues, wenn wir auf die Form sehen. So ist Materie nur der verwandelte, kon­densierte Geist. Aber es genügt nicht, das nur zu wissen; wir müssen alles Wissen in unsere Seele aufnehmen. Und das spirituelle Leben fordert, daß alles, was in unserer Seele lebt, zur Tätigkeit gelangt; es genügt nicht, was als gewöhnliche Gedanken, Gefühle, Willensimpulse in unserer Seele lebt. Wenn wir aber dazu noch ein inneres Leben in uns auferwecken, dann können wir nachfühlen, wie der ägyptische Hermesdiener oder der chaldäische Astronom zum Sternerhimmel hinaufschaute: Mars, Venus, Mond oder Merkur, alles war ihm nur der Aus­druck des Geistes, der in dem Stern lebt. So bezeichnete man in Zeiten spirituellen Lebens gar nicht, was der heutige Astronom unter den Sternen versteht, sondern unter dem Namen Merkur zum Beispiel stellte sich der alte Weise, der im spirituellen Leben lebte, die Seele, den Geist vor, der den Merkur durchlebt, so wie die Seele in Ihrem Körper lebt. Und so lehrte er alle, die auf sein Wort hörten.

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Nun stellen Sie sich lebendig vor, wie ein Mensch hinaussieht in den Raum und da die Sterne erblickt. Nicht ein abstraktes, sondern ein intimes spirituelles Leben ist es, was ihn mit der Welt verbindet. Geist ist es, was er sah, und im Geistesraume schwebte er selbst und fühlte sich als ein Glied der Welt, so wie ein Finger nur ein Glied an meiner Hand ist. Trennen Sie seine Wesenheit aus der universelln Geistigkeit heraus, so stirbt sie ab und ist nicht mehr vorhanden, wie der Finger, wenn Sie ihn abschneiden. Vergleichen Sie damit, was der heutige Astronom sieht. Für ihn fliegen physische Weltenkugeln herum. Das lebendige Gefühl [für deren geistige Wesenhaftigkeit] fehlt ihm. Aber diese lebendige Empfindung ist nicht so leicht zu erringen. Vielleicht ist er theoretisch Spiritualist; aber schwieriger ist es, Spiri tualist der ganzen Seele, dem ganzen Leben nach zu sein, als der bloß theoretischen Anschauung nach. Jetzt lebt der Mensch in einer rein physischen Umgebung; die lebendige Harmonie zwischen dem Göttlichen und dem Physischen findet er nicht mehr. Aber es ist richtig und von großer Bedeutung, daß es so kam.

Vergleichen wir mit jener hohen, geistigen Priesterweisheit das, was die Menschen auf dem physischen Plan leisten. In den alten Zeiten herrschte eine primitive Kultur. Wenn wir die unendliche Arbeit und Mühe sehen, wie jeder einzelne Gegenstand um uns herum ein geistiges Geschöpf der letzten vier Jahrhunderte ist, dann wollen wir nicht vergessen, daß dies dem menschlichen Geist der letzten Jahrhunderte zu verdanken ist. Aber auch das könnte nicht da sein, wenn der Geist nicht heruntergestiegen wäre auf den physischen Plan. So hat jede Epoche ihre Aufgabe. Und weil das insbesondere für die letzte Epoche der Weltgeschichte der Fall war, so mußten jene Quellen, aus denen immer das spirituelle Leben fließt, auch in der letzten Menschheitsepoche den Geist denjenigen herabsenden, die in hingebungsvoller spiritueller Arbeit ihn empfangen wollten.

Rechnen wir bis zum Herabsteigen [des Geistes auf den physischen Plan] vier bis fünf Jahr­hunderte zurück, und dann noch für die Vorbereitung zwei Jahrhunderte, so finden wir eine Strömung, die trotz des Herabsteigens dafür gesorgt hat, daß der Geist den Weg zurückfinden kann; um dem Geist, der notwendig heruntersteigen mußte zu dem physischen Plan, Mittel zu geben, wieder hinaufzusteigen. Diese Strömung nennt man die Rosenkreuzerströmung. Und ebenso wie in alten Zeiten die Menschen zum Ewigen hinaufgeführt werden mußten, so ist es, daß der Mensch heute den Weg suchen muß zu der modernen, zu der Rosenkreuzereinweihung. Nicht soll hier behauptet werden, daß es verschiedene Wahrheiten gibt im Entwickelungsgang der Menschheit. Die Wahrheit ist eine einzige, wie die Sonne, die den ganzen physischen Erd­umkreis beleuchtet; aber die Wege zur Wahrheit sind verschieden. Denken Sie einmal, Sie vergleichen den Gesichtspunkt, den Sie erlangt hätten, mit dem Gipfel eines Berges; oben hätte man nach allen Seiten eine freie Aussicht, wie immer man auch hinauf kam. Würden Sie es aber nicht unvernünftig nennen, wenn irgend jemand unten am linken Bergesabhang steht und einen Weg herauffinden kann auf der linken Seite des Berges, und dann erst um den Berg herum-gehen würde, um auf der anderen Seite einen Weg heraufzufinden, der nicht auf der Seite ist, wo er steht? So ist es mit der Entwickelung der Menschheit. Die Ausgangspunkte der Kulturen srnd wie die Wege am Berge; die verschiedenen Völker müssen sich die verschiedenen Wege hinaufbewegen. Die Wahrheit - das spirituelle Erkennen - ist ein und dasselbe. Nur wer glaubt, daß sich in den verschiedenen Rassen dasselbe wiederholt, kann behaupten, daß die Einwei­hungswege dieselben waren. Aber so verschieden wie ein Menschenleib ist, der vor fünfzehn Jahrhunderten geboren ist, von einem Menschenleibe, der heute geboren ist, so verschieden muß die Behandiung sein für den Schüler, der den Pfad hinaufgehen will. Und in gewissen Zeiten muß eine Erneuerung der Methoden, eine Anpassung an die Völker stattfinden - an das,

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was der Mensch geworden ist -, wenn auch die Strukturverhältuisse sich dem gewöhnlichen Auge entziehen. Aber die okkulte Physiologie und Anatomie weiß, daß die Strukturverhält­nisse des physischen Gehirnes andere werden mußten, wenn die Eroberung des physischen Planes durch den Menschen eintreten sollte. Die physischen Strukturverhältnisse sind nur die unteren Tatsachen zu dem, was oben geistig ist. Und so gibt es heute eine rosenkreuzerische Einweihung.

Unter den verschiedenen Arten der Einweihung brauchen wir nur die drei hervorragendsten zu erwähnen. Man weiß, worum es sich handelt, wenn man den Jogaweg, den christlich­gnostischen Weg und den Rosenkreuzerpfad erwähnt. Den Jogaweg kennen Sie alle aus der Literatur. Der chnstlich-gnostische Weg ist der, der in der christlichen Esoterik gelehrt worden ist - in der ersten Zeit, wo das Christentum verbreitet worden ist - durch Dionysius Areopagita. Die Gelehrsamkeit redet von ihm wie von einem Pseudo-Dionysius, der im 6. Jahrhundert gelebt und alle großen Bücher geschrieben haben soll. Die christliche Tradition weist das in die Zeit des Apostels Paulus zurück. Die Gelehrsamkeit fragt nur: Wann wurden diese Papier­rollen geschrieben?, aber die christliche Esoterik weiß, daß dieser Dionysius Areopagita ein Schüler des Apostels Paulus war und von seinem Meister besonders beauftragt war, die eso­terische Schule des Christentums zu begründen. Für unzählige Menschen ist diese christliche Esoterik Wahrheit geworden. Heute kann man sich kaum eine Vorstellung machen von den Quellen, aus denen manches Wort eines christlichen Lehrers zu uns kam. Diese Quelle war die christliche Initiation. Diese christliche Initiation schaut heute für den, der materialistisch denkt, wie ein Phantasiegebilde aus. Direktes, unmittelbares Leben aber war sie für den dama­ligen Menschen. Wir unterscheiden darin sieben Stufen, welche jeder, der die christliche Initiation erreichen wollte, durchmachen mußte. Nur die sieben Namen dafür lassen Sie mich nennen:

1. die Fußwaschung

2. die Geißelung

3. die Dornenkrönung

4. die Kreuzigung

5. der mystische Tod

6. die Grablegnng und Auferstehung

7. die Himmelfahrt der Seele.

Das sind die sieben wahren Stufen, die durchgemacht werden mußten in den Lehrstätten, wo die christliche Initiation zu Hause war. Wenigstens zwei dieser Stationen, die erste und die vierte, will ich Ihnen zum Verständnis charakterisieren.

Wenn der christliche Zögling so weit war, daß das, was man im gewöhnlichen Leben Moral nennt, geläutert und schon zu einer höheren Stufe erhoben war, wenn man es als selbstver­ständlich bei ihm finden konnte, daß er nicht mehr abirren würde von dieser höheren Moral, dann wurde er von seinem Meister der christlichen Initiation empfangen, und er sollte nun etwas in sich durchleben, das ich Ihnen nur in der Form eines Dialoges schildern kann, obwohl sich das nie in einem Dialog abgespielt hat.

Nachdem der Schüler so in Zucht genommen worden war, wurde ihm von dem Lehrer gesagt:

Sieh dir einmal die Pflanzenwelt an. Sie sproßt auf dem mineralischen Reich. Wäre das Mineralreich nicht, die Pflanze könnte nicht gedeihen, obwohl sie auf höherer Stufe steht. Könnte die Pflanze denken, so müßte sie sagen: Du stehst zwar in der Reihe der Naturreiche

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tiefer als ich, aber ich könnte ohne dich nicht sein. In Demut neige ich mich vor dir! - Und dann wurde der Schüler dazu geführt, diese Demut bei allen Naturreichen zu erkennen. Das Tier müßte sich zur Pflanze und der Mensch sich wiederum zum Tier in Demut herunterneigen und sagen: Ohne euch könnte ich nicht sein! Und der Mensch, der auf einer höheren Stufe steht, müßte sich in Demut neigen vor denen, die noch nicht so weit sind; denn keiner kann höher stehen ohne die anderen. Versteht der Mensch diese Stufenleiter, so blickt er in Demut hinunter zu den Niederstehenden. Dadurch lernte der Schüler begreifen, was es heißt im dreizehnten Kapitel des Johannes-Evangeliums, daß der Höchste, obwohl die zwölf niedriger sind als er, sich vor ihnen in Demut beugt und ihnen die Füße wäscht. - Wer so [zur höheren Moral] herauferzogen ist im Sinne des esoterischen Christentums, der versteht erst das Innere des Johannes-Evangeliums. Das Johannes-Evangelium ist ein Initiationsbuch über die Me-thoden der Einweihung, die Apokalypse über den Inhalt der Einweihung.

Wenn der Schüler so weit war, daß ihm diese Demut selbstverständlich geworden war, dann wurde das dreizehnte Kapitel des Johannes-Evangeliums für seine Seele zur Wahrheit. Dann konnte ihn der Lehrer dahin bringen, daß ganz bestimmte Gefühle auftraten. Der Schüler konnte fühlen und erkennen, daß er jetzt die Möglichkeit habe, zu einer höheren Stufe aufzu­steigen. Er fühlte - und das war eine gemeinsame Empfindung aller, welche die christliche Initiation empfangen hatten -, wie wenn seine Füße im Wasser ständen, wie wenn die Geistes-wasser an ihn heranschlügen. Und das innere Symptom, das als ein Bild jedesmal auftrat, war, daß der Schüler, wenn er so weit war, ganz von innen heraus, durch eine innere Kraft, das Bild vor sich hatte, welches das dreizehnte Kapitel des Johannes-Evangeliums anführt. Das ist nicht bloß ein äußerlich-historisches, sondern ein geistiges Bild, das ein jeder haben kann: auf dem astralen Plan sieht er vor sich ausgebreitet das Bild der Fußwaschung.

Nur um uns zu verständigen, will ich die vierte Stufe - die Kreuzigung - auch noch anführen. Wenn die dritte Stufe vorüber war, wurde dem Schüler klargemacht, daß er seinen Körper nicht mehr zu sich zu rechnen hat. Er mußte seinen Körper empfinden wie einen Gegenstand, wie etwas außer sich selbst. Der gewöhnliche Mensch meint, sein Körper sei sein Ich. Wer die vierte Stufe der christlichen Initiation erreichen will, muß es aber dahin bringen, daß sein Körper ihm nicht wertvoller ist als irgendein Stuhl oder Tisch um ihn herum. Der gewöhnliche Mensch sagt: Ich gehe zur Türe hinein. Dem Initiierten aber ist es selbstverständlich zu sagen: Ich trage meinen Körper zur Tür hinein. - Dann treten wiederum zwei Symptome auf: Das will­kürliche Hervorbringen der sogenannten Blutsprobe ist der symptomatische Ausdruck für die vierte Initiationsstufe. Genau an den Stellen seines Körpers, die man die Wundmale nennt, ist er imstande, die Rötung seiner Haut durch die innere Kraft seiner Spiritualität hervorzubrin-gen. An den Handflächen, an den Füßen und an der rechten Seite der Brust treten die Wund­male auf. Dies wird begleitet von dem inneren Symptom, daß der Schüler auf dem astralen Plan sich selber als am Kreuz befindlich schaut.

Man spreche nicht von Gefahren dieser Entwickelung. Worauf es dabei ankommt,ist der Grad der inneren Entwickelung, und dann spricht man nicht mehr von Gefahren dabei. Wer aber demütig sich der Führerschaft überläßt, wird nur dadurch, daß er seine Märty­aber ohne den Rat eines Lehrers machen will, der ist gewiß in Gefahr dabei. Wer aber rerschaft durchmacht, ein desto dienstbareres Glied der menschlichen Entwickelung sein. Allerdings soll er das nicht eher auf sich nehmen, als bis er die Verpflichtung dazu in sich fühlt.

Es war die christliche Initiation auch die Grundlage und Quelle des äußeren christlichen Lebens. Diese christliche Initiation mußte in die etwas andere Form der Rosenkreuzereinweihung

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übergeleitet werden etwa zwei Jahrhunderte vor dem Herabstieg des Geistes auf den materiellen Plan.

Die Rosenkreuzereinweihung ist keine unchristliche. Sie ist eine Fortentwickelung der christ­lichen Einweihung. Aber der, der sie empfängt, tritt nicht heraus aus der physischen Umgebung, wie es die rein christliche Einweihung - wenigstens für eine Zeitlang - fordert. Wer heute als ein würdiges Glied der Menschheitsentwickelung leben will, muß die Arbeit auf dem phy­sischen Plan mitmachen. Es wäre sündhaft, sich von der physischen Welt zurückzuziehen. Wir müssen sie nur verstehen und ihr gewachsen sein. Hätte die christliche Einweihung die frühere Form beibehalten, so wäre der Mensch geistig-seelisch hoch hinaufgestiegen, aber schwach-geblieben auf dem physischen Plan. Denken wir an die Eroberung des physischen Planes, an die großen Erfindungen, die Buchdruckerkunst und so weiter. Was da hereinflutet aus den anderen Planen... [Lücke in der Nachschrift]. Dazu bedarf es einer ganz anderen inneren Kon­figuration. Dazu bedarf es der Fähigkeit, in sich andere, starke Impulse zu entwickeln, um das, was von der materiellen Entwickelung kommt, in die richtigen Wege zu leiten. Die Rosen­kreuzerinitiation ist eine solche, die den Menschen fähig macht, alle die Mittel der modernen Kultur zu gebrauchen. Sie lehrt den Geist in der Materie zu begreifen, indem der Mensch den Zusammenhang selbst des Materiellsten noch mit dem Spirituellen erkennt, so daß er das Spiri tuelle ausfließen lassen kann in das Materielle.

Aus der Notwendigkeit der Zeit ist die Rosenkreuzereinweihung herausgeboren. Sieben Stufen hat auch sie.

Die erste ist das, was man im weiteren Sinne Studium nennt; die zweite: Aneignung der imaginativen Erkenntnis; die dritte: Aneignung der okkulten Schrift; die vierte: die Erzeugnng des Steins der Weisen - das ist das techmsche Wort dafür -; die fünfte: die Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos; die sechste: das Aufgehen im Makrokosmos; die siebente:

die Gottseligkeit. Nicht so haben Sie sich das vorzustellen, als ob jeder Schüler gleichsam nacheinander diese Stufen durchzumachen hätte; sondern der Lehrer muß aus jedem Kapitel das auswählen, was gerade für den Schüler seiner Individualität nach geeignet ist. Das Studium muß jeder zunächst haben. Dann aber muß man die Gliederung oft in ganz verschiedener Weise zusammenstellen. Und nun wollen wir sie im einzelnen besprechen.

Studium im Rosenkreuzersinne ist nicht das, was im gewöhnlichen Leben Studium genannt wird. Im Rosenkreuzersinne ist es das, was man eigentlich nennen müßte: leben im reinen Gedanken. Was das heißt, ist von vornherein gar nicht so leicht zu fassen. Gerade Hegel wieder­um hat sich sein ganzes Leben hindurch bemüht, den Deutschen beizubringen, was es heißt:

leben im reinen Gedanken. Und zehn Jahre nach seinem Tode war es ganz vergessen, was Hegel zur Vertiefung der Deutschen gebracht hat. Heute sind wir noch nicht so weit, daß Hegel wiederum verstanden würde. Und doch wären seine Werke ein gutes Mittel, zu zeigen, was es heißt, im reinen sinnlichkeitsfreien Gedanken zu leben. Die neueren Philosophen, zum Beispiel Eduard von Hartmann, leugnen es überhaupt, daß wir uns einen Gedanken bilden können, der nicht von der Sinnlichkeit beeinflußt ist. Man hat darauf geschworen, daß nichts im Intellekt ist, was nicht in den Sinnen war. Was nicht von den Sinnen sei, das sei nicht real. Wären diese Worte wahr, so gäbe es keine Mathematik. Die Gnostiker nannten das Geistes­leben eine «Mathesis», nicht weil sie sich eine Mathematik darunter vorstellten, sondern weil es auf den höheren Ebenen ein reines Denken und Erkennen gibt, wie es in der Mathematik, in bezug auf Formen, ein sinnlichkeitsfreies Denken gibt. Dieses reine Denken geht nicht von Gegenständen aus, sondern flutet von Gedanken zu Gedanken. Für die, welche sich einleben wollen in ein ganz sinnlichkeitsfreies Denken, versuchte ich ein Buch zu schreiben wie das

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meiner «Philosophie der Freiheit». Es ist kein persönliches Werk. Es ist so entstanden wie ein Organismus: es ist ein Gedankenorganismus, und eine Anleitung für das, was man im Rosen­kreuzersinne Studium nennt. Gewiß machen viele so etwas nicht durch. Für die meisten, die etwas derartiges nicht durchmachen können, genügt schon die einfache theosophische Lehre. Sie ist sinnlichkeitsfreier Gedanke; sie kann niemand hören oder sehen. Wenn Sie Theosophie studieren, so entspricht das der ersten Stufe der Rosenkreuzerschulung. Theosophie ist selbst Rosenkreuzerstudium, wenn Sie es in richtiger Weise betreiben. Man braucht sich dabei nicht in philosophische Höhen zu verlieren. Die schlichteste Seele kann sich da hinein vertiefen.

Die imaginative Erkenntnis ist die zweite Stufe der Rosenkreuzereinweihung. Sie wird erreicht, wenn der Mensch dahin gelangt, den Gedanken umzuwandeln in das Bild. Das ist eine reale Tatsache. Einer, der Bescheid wußte mit der Rosenkreuzerei, hat an einer Stelle die Worte ausgesprochen: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis!» Dann kommt man vom physischen Plan weg. An zwei Beispielen möchte ich Ihnen zeigen, wie man das erreichen kann. Nehmen Sie die drei Logoi. Alles was bisher als Studium angeführt worden ist, bezieht sich einzig und allein auf den physischen Plan. Erst die imaginative Erkenntnis hebt uns höher hinauf. Wenn Sie die drei Logoi irgendwie schematisch beschreiben, wenn Sie von Projektionen reden, so bekommt man eine Vorstellung für den physischen Verstand, auch wenn Sie davon sprechen, daß der zweite Logos anders vibriert als der erste. Aber alles das ist nur etwas für das Verstandesbewußtsein. Alles was sich auf den dreidimensionalen Raum bezieht, können wir nicht auf die höheren Plane mit hinaufnehmen, sondern erst das, was nicht räumiich gedacht ist. Eine Ton- oder Farbenqualität ist zwar in den Raum hineingebaut, ist aber nicht räumlich. Der astrale Raum ist ein flutendes Farben- und Lichtmeer. Es treten Ihnen da auf dem astralen Plan entgegen, was Sie hier als Farbenqualität und Tonqualität wahrgenommen haben. Was hier an Farbe und Ton physisch ist, heben Sie hinauf auf die höheren Plane; nur müssen wir es läutern und reinigen, um es hinaufzuheben. Darum sagt Ihnen der Lehrer: Nimm für alles, was du unmittelbar anschauen willst, die sinnliche Qualität heraus; stelle dir vor, wie eine Farbe sich heraushebt. Dann ist das die Methode, um zur Imagination zu kommen. Und wer diese Stufe erringen will, stellt sich so der Außenwelt gegenüber, daß diese abgesonderten Bilder sich so darstellen, daß der Mensch, wenn er zum Beispiel von den drei Logoi spricht, sie nicht mehr als Quantität, sondern als Qualität empfindet. Dann empfindet er den dritten Logos als etwas, was die Welt durchtönt - als Ton empfindet er ihn -; den zweiten, insofern er als astralische Pro­jektion auftritt, als flutendes Licht; und den ersten Logos als Weltenaroma, als durch die Welt fliegendes, bis zur vollkommensten Reinheit geläutertes Aroma. So haben die Rosenkreuzer überall empfunden. Das sind Bilder, Imaginationen und nicht Beschreibungen, denn die kom­men vom physischen Plan her.

Ein anderes Bild, das uns eine mehr alltägliche Erscheinung vorführt, ist uns erhalten in einer wunderbaren Mythe, der Mythe von dem Heiligen Gral. Es bedeutet ein Erlebnis auch für den Rosenkreuzerschüler, das er als eine reale Tatsache seines inneren Seelenlebens empfindet. Der Meister sagt dem Schüler: Sieh dir einmal die Pflanze an; sie lebt mit der Wurzel im Boden, sendet den Stamm nach oben und hat ihren Kelch - das, was eine Pflanze wieder hervorbringt -der Sonne zugewendet. Selbst die neuere materialistische Gelehrsamkeit hat ja wieder darauf aufmerksam gemacht, daß, wenn wir die Pflanze mit dem Menschen vergleichen, wir die Wur­zel mit dem Kopf vergleichen müssen. Die Pflanze ist gleichsam der auf den Kopf gestellte Mensch. Die Evolution besteht darin, daß sich das Bild umwendet: Was die Pflanze keusch öfftiet vor aller Welt, das ist beim Menschen nach unten gerichtet. Was die Wurzel bei der Pflanze ist, die nach dem Mittelpunkt der Erde hinstrebt, das ist beim Menschen nach oben

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gerichtet. Beim Menschen richtet sich der Kopf hinaus in den Sonnenraum. Zwischen beiden drinnen steht die Tierwelt, deren Rückgrat horizontal gerichtet ist. Nun sagte man dem Schüler: Stelle dir vor die Pflanze, das Tier und den Menschen und du hast das Weltenkreuz. Das Kreuz war das Bild der Evolution der Weltenwesen bis hinauf zum Menschen. Die Pflanze bringt nur hervor, wenn sie berührt wird von dem Sonnenstrahl, den man die «heilige Liebes-lanze» nannte. Wird sie davon getroffen, dann erfüllt sie ihre Aufgabe. Nun denken Sie sich den Menschen mit dem Kama, das ihn ergriffen hat; es müssen die niederen Organe geläutert und gereinigt werden und müssen auf höherer Stufe wiederum auftreten, so daß sich im Laufe der Entwickelung dieser Kelch von oben öffnet. Wenn der Mensch sich umgewandelt hat, wenn er diesen Kelch, den die Pflanze auf primitiver Stufe hat, wiederum geläutert hat, dann wird er es wiederum in der Hand haben, daß er berührt wird von der heiligen Liebeslanze - dann wird er die Läuterung des Menschen in der Hand haben - nicht nur astralisch oder ätherisch, son­dern sogar physisch. So wird imaginativ die Entwickelung gegeben. Wer sich so einlebt, dem offenbart sich der astrale Plan.

Das dritte ist die Erringung der okkulten Schrift. Sie ist nicht eine Schrift wie unsere heutige abstrakte Zeichenschrift. Man eignet sich die Harmonie der Qualitäten an. Der Lehrer sagt zum Schüler: Steigst du höher, bis zur Erkenntnis der okkulten Schrift auf, so wird dir das erklingen, was man die Sphärenharmonie in der pythagoräischen Schule genannt hat Das ist eine Realität für den Eingeweihten, nicht eine bloße Allegorie. Was die heutige Wissenschaft bietet, wenn sie von Zahlensystemen spricht, verhält sich zu der Sphärenharmonie oft so, wie wenn man eine Sinfonie als eine Wellenbewegung in der Luft bezeichnen wollte. Der okkulte Schüler lernt das Töne-Hören in der geistigen Welt. Auch Goethe wußte darüber Bescheid, als er sagte:

«Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang» - und an anderer Stelle:

«Tönend wird für Geistesohren schon der neue Tag geboren.» Was da geschieht, was geistigen, nicht physischen Ohren hörbar ist, sind die Ereignisse des geistigen Planes, sind die Sphären-harmonien. Und die Zeichen der okkulten Schrift sind wirkliche Weltenkräfte, und wer sie kennt, der fühlt den Strom der Weltenkräfte in seinem Organismus bis zum leiblichen Organis­mus herunter. Nur ein Beispiel dafür: Vier Zahlen werde ich Ihnen anführen. Wenn ich sie Ihnen sage, sind sie etwas Abstraktes; würden Sie aber die Musik dafür geistig wahrnehmen, dann würden Sie wahrnehmen das Verhältnis der vier niederen menschlichen Glieder. Diese Zahlen sind: 1, 3, 7, 12. So tönen in der geistigen Welt die niederen vier Glieder der Menschen-natur harmonisch zusammen. Das ist das Geheimnis der pythagoräischen Zahlenlehre, daß man sie in eine geistige Musik verwandelt.

Das vierte ist die Erzeugung des Steins der Weisen. Die moderne Gelehrsamkeit hat ein Märchen daraus gemacht. Aber sie hat in gewisser Weise damit recht, denn wenn es wirklich so wäre, wie die Wissenschaft es sich vorstellt, so wäre es eine Kinderei. Es ist aber doch das Höchste, was der Mensch anstrebt. Zu Ende des 18. Jahrhunderts wurde etwas von den Rosen-kreuzergeheimzissen verraten. Wir finden da etwas, von dem wir sagen könnten: Die Leute haben da etwas läuten hören. Wir finden da nämlich eine merkwürdige Stelle in einer deutschen Zeitung! Es heißt da über den Stein der Weisen: Ihn gibt es. Kann man ihn in seinem vollen Werte erkennen, besitzt man das Geheimnis der Unsterblichkeit. Eigentlich kennen ihn die überwiegende Zahl der Menschen. Viele haben ihn täglich in der Hand. - Der Mann, der das schrieb, hatte keine Alinung, um was es sich handelte, hatte aber eine Mitteilung erhalten, die etwas Richtiges enthielt. Wir brauchen nämiich nichts anderes zu betrachten als den Prozeß, der den Menschen in dieser gegenwartigen Epoche kosmisch erhält: den Atmungsprozeß. Wir atmen ein und aus. Atmen ein den Sauerstoff der Luft, geben zurück an die umgebende Welt

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die Kohlensaure, ein giftiges Gas, in dem wir nicht leben könnten. Die Pflanze nimmt es fort-während auf, behält sich aus der Kohlensäure die Kohle zurück und baut daraus ihren eigenen Leib auf. Den Sauerstoff aber gibt sie wieder zurück an Tiere und Menschen. So bilden Pflanze, Tier und Mensch ein Ganzes, insofern wir den Atmungsprozeß betrachten. Der Mensch braucht heute die Pflanze. Der Leichnam der Pflanze als schwatze Kohle, wenn Sie ihn aus der Erde heraus graben, oder auch als durchsichtiger Diamant, ist etwas, was wir selbst in uns haben; aber wir können es nicht brauchen. Wir müssen es als Lebensluft an die Pflanzen abgeben. Die Pflanze baut sich ihren Leib aus der Kohlensäure selbst auf. Sie kann etwas, was der Mensch heute noch nicht kann, was er aber später können wird. Stellen Sie sich nun diesen Prozeß vor:

Einnehmen der Kohlensäure durch die Pflanze, Aussenden des Sauerstoffes - verlegt ins Innere des Menschen . . . [Lücke im Text] also das Zusammenfließen mit der Pflanzenwelt, die hinein-genommen wird in die menschliche Natur, dann bauen wir, wie heute die Pflanze, in uns selbst einen reinen keuschen Leib auf. Ein Wesen zu sein, das dies mit Bewußtsein auszuführen ver­mag, dazu ist der Mensch auf dem Wege; und dann wird er dadurch imstande sein, in sich den Kelch des Heiligen Gral zu entwickeln. Der Atmungsprozeß ist kein abgeschlossener; er ist auf dem Wege, vollkommener zu werden und das innerhalb des Menschen zu verrichten, was heute außerhalb des Menschen vorgeht, und die menschliche Substanz, die von Kama durchzogen ist, umzuwandeln in reine, keusche Substanz. Dies ist real Alchimie. Dann wird der Mensch die Alchimie können, durch die er auch den Kosmos umzuwandeln lernt. Das Symbol dafür ist der Heilige Gral. Wir dürfen das hohe Ideal nicht abweisen, weil es noch Millionen von Jahren von uns getrennt ist, sondern es muß erreicht werden nach dem Grundsatz: Steter Tropfen höhlt den Stein. - So erreicht der, der den Atmungsprozeß rhythmisiert, nach und nach sein Ziel. Der Stein der Weisen ist die Kohle, ist die Substanz zum Aufbau des menschlichen Leibes in der Zukunft. Dieser Verwandlungsprozeß ist Alchimie im rosenkreuzerischen Sinne. Natürlich werden die intimen Anweisungen nur von Lehrer zu Schüler gegeben.

Das fünfte, die Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos, ist das Lernen der Ent­sprechung dessen, was wir selbst in uns haben, mit dem äußeren Makrokosmos. Paracelsus sagt einmal: Sehen wir uns die Tiere, Pflanzen und Mineralien an - es ist alles in irgendeiner Weise auch in dem eigenen Menschenleib. Der Mensch ist wie ein Zusammenfließen alles des­sen, was auch in der Natur draußen ist. Die Natur ist gleichsam der auseinandergenommene Mensch. Die Natur ist wie die Buchstaben, der Mensch aber ist das Wort, das aus diesen Buch­staben zusammengesetzt ist. - Wenn diese Erkenntnis ins Bewußtsein dringt, dann schaut der Schüler, wie aus dem Licht das Auge geformt wurde. Das Auge ist vom Lichte gebildet. Unser Organismus ging aus einem anderen hervor, der noch keine Augen hatte; aber das Licht hat das Auge hervorgerufen. Dieser Bewußtseinszustand ist längst nicht mehr vorhanden. Der Mensch weiß heute nichts mehr davon, aber der Seher auf dem Astralplan sieht es. Da lernen Sie wieder kennen, was im Innern des Kosmos webt wie in Ihrer eigenen Natur. Dann lernen Sie durch Ihre einzelnen Glieder den Kosmos kennen: aus dem Auge das Licht, aus den Ohren den Ton, und das andere so, wie es nur von dem Lehrer zum Schüler gegeben werden kann.

Wenn der Mensch so weit gekommen ist, daß er die Entsprechung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos gelernt hat, dann kann er zum sechsten aufsteigen: zum Aufgehen in dem Makrokosmos. Dann haben Sie zu jedem Ding in der Natur ein Freundschaftsverhältnis. Es besteht dann etwas wie ein Liebesverhältnis zu jedem Wesen in der Natur, so etwa, wie es in der Liebe zwischen Mann und Weib noch übriggeblieben ist. Anders erscheint dann die Sonnen-blume, anders das Veilchen, anders Löwe und Tiger, anders dieser und jener. So differenziert, wie die Liebe bei Mann und Weib, so differenziert erscheint der ganze Kosmos. Es fließt unser

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Inneres von innen nach außen, und das ist wieder verbunden mit einer Umwandlung des Her­zens: Der Äther- und der Astralleib wandeln das Herz um, daß es ein willkürlicher Muskel sein wird. Hier wird die okkulte Lehre, wenn sie sich noch mehr vervollkommnet, Licht ver­breitend wirken. Heute ist das Herz für die Physiologen eine Crux. Es ist ein unwillkürlicher Muskel, aber in bezug auf seine Streifung ist es ein willkürlicher Muskel; denn er ist quer ge­streift. Alle willkürlichen Muskeln sind quer gestreift, während die unwillkürlichen längs ge­streift sind. Das Herz ist quer gestreift, denn es ist auf dem Wege, ein willkürlicher Muskel zu werden. Heute ist es mit der Anlage dazu versehen. Wenn der Mensch in der Zukunft aus der Spiritualität des Kosmos heraus zu schaffen vermag, wird er das Herz so zu bewegen vermögen, wie er heute die Hand zu bewegen vermag. Und so könnte ich Ihnen hundert und aber hundert Beispiele anführen, wo die okkulte Wissenschaft Licht wirft auf das, was die physische Wissen­schaft nicht enträtseln kann.

Wenn der Mensch allmählich dieses persönliche intime Verhältnis zur ganzen Umwelt er­reicht, wenn er die physischen Gehirnkräfte nicht mehr gebrauchen muß, dann, sagt der Leh­rer, kann er erst das begreifen, was der Rosenkreuzer die Gottseligkeit nennt, wo die Selbstän­digkeit des Menschen gewahrt ist, aber das Höchste gefühlt wird.

Nur eine Skizze konnte ich heute entwerfen; aber viel kann die Rosenkreuzerschulung da geben. Viel kann auch eingewendet werden; man kann aufmerksam machen auf die Gefahren, die dabei mit auftreten können. Da kann nur auf eines hingewiesen werden: Ist der Mensch nicht aus dem Egoismus heraus ungestüm nach dem Ideal, sondern fühlt er sich eingegliedert, fühlt er die Entwickelung nicht als Begierde, sondern als Pflicht, will er Diener der Evolution sein, läutert er alles, was er läutern muß, dann ist Gefahr gar nicht vorhanden. Und gerade die Rosenkreuzerschulung wird auch eine moralische Läuterung bewirken. Aufzugehen mit seiner Seele ganz im reinen Gedanken, muß dem Schüler vorschweben; denn der reine Gedanke ist eine gewaltige moralische Läuterung. Dann wirkt er als Vorbereitung zu den sechs Stufen.

Alles Zielen auf okkulte Entwickelung aber muß unter dem Grundsatz des Überwindens vor sich gehen, den auch Goethe an einer Stelle ausgedrückt hat. Nur wenn wir auch uns überwunden haben, dürfen wir uns höher entwickeln. Das muß unser Grundideal werden, denn das Überwinden ist das Grundideal der Rosenkreuzer:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,

Befreit der Mensch sich, der sich überwindet!

PLANETENENTWICKELUNG UND MENSCHHEITSENTWJCKELUNG Zweiter Kongreßvortrag in München am 20. Mai 1907

#G284-1977-SE053 Bilder okkulter siegel und Säulen

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PLANETENENTWICKELUNG UND MENSCHHEITSENTWJCKELUNG

Zweiter Kongreßvortrag in München am 20. Mai 1907

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Gestern durfte ich Ihnen sprechen von der Initiation im Sinne der rosenkreuzerischen spiri­tuellen Weltenströmung, von denjenigen Stufen der Erkenntnis, des Empfindens, der Willens-impulse, der Tätigkeiten, die ein Mensch durchzumachen hat, wenn er den Pfad der Erkennt­nis hinaufrücken will, höheren Daseinsstufen des Menschentums entgegengehen will. Heute lassen Sie uns versuchen, ein Kapitel aus dieser rosenkreuzerischen Theosophle selbst abzu­handeln. Nicht als ob - und das muß immer wieder betont werden - diese Rosenkreuzer-weisheit etwas anderes wäre als die gemeinsame spirituelle Weisheit aller Völker und Zeiten; sie ist nur angepaßt unserer modernen Vorstellungsart, dem modernen zeitlichen Bedürfnis; sie ist nur herausgeboren aus der Erkenntnis, daß unsere Epoche eine besondere Art zu sprechen braucht, um die urewigen Wahrheiten aller Zeiten zu verkünden, so daß sie selbst sich hinein-leben können gerade in die Konfiguration der heutigen Menschheit Europas und Amerikas.

Es ist vielleicht ein sehr weit ahliegendes Kapitel, das hier ausgewählt wird, dennoch ist es eines der wesentlichsten. Denn nichts zeigt uns des Menschen Ursprung und Ziel so sehr wie die Erkenntnis dieses Kapitels und weist uns zugleich auf die Kräfte hin, die wir in uns selbst entfalten sollen, um Mitarbeiter zu werden im Dienste der Menschheitsevolution. Wir können nicht anders die große Entwickelung des Kosmos betrachten, als daß wir ausgehen von dem Menschen und seiner Wesenheit selbst. Und ich werde nichts anderes sagen, als was eine ge­meinsame theosophlsche und rosenkreuzerische Weisheit ist, was jeder sagen würde, der aus diesen Quellen heraus spricht. Es gibt da keinen Widerspruch. Viele kennen bereits das, was ich hier noch einmal sagen möchte.

Wir unterscheiden sieben Glieder der Menschennatur. Heute vormittag haben wir gehört, daß man auch eine andere Zahl zugrunde legen könnte: dreimal drei. Es tut nichts, daß ich heute die drei mittleren Glieder in einem einzigen Namen zusammenfassen werde, und fassen Sie einmal diese drei Glieder zusammen unter dem, was ich heute als das vierte nennen werde, dann decken sich die Ausführungen vollständig.

Wir teilen die menschliche Wesenheit so ein, daß wir sagen, der Mensch hat zunächst seinen physischen Leib; er ist das, was Hände berühren und Augen sehen können, das, was der Mensch gemeinschaftlich hat mit der ganzen Natur und was den physischen und chemischen Gesetzen unterliegt. Das zweite ist der sogenannte Äther- oder Lebensleib. Er ist das, was die chemischen und physischen Kräfte und Stoffe aufruft zum Leben und was den Zusammenhang der physischen und chemischen Stoffe im Tode verläßt. Man sagt im Okkultismus: Der mensch­liche physische Leib ist eine solche Zusammenfügung von Stoffen und Kräften, daß er als phy­sischer Leib durch sich selbst nicht bestehen kann; nur dadurch, daß ihm ein Ätherleib ein­gefügt ist und so lange, als er ihm eingefügt ist, wird er vor dem Zerfall der physischen Stoffe und Kräfte bewahrt. In dem Augenblicke, wo der Ätherleib die physischen Kräfte verläßt, tritt der Tod ein, ist der physische Leib ein Leichnam. Daher sagt man auch, der Ätherleib ist das, was uns in jedem Augenblick vor dem Tode bewahrt. In jedem Augenblick gibt es in dem Ätherleib einen großen Kampf gegen das, was sonst unsere chemischen Stoffe zerfallen macht. Das dritte Glied ist der Träger von Lust und Leid, Freude und Schmerz, Gefühlen und Affek­ten, was wir den Astralleib nennen. Er ist das Glied der menschlichen Wesenheit, das der Mensch ebenso mit den Tieren gemeinsam hat, wie er den Ätherleib mit der Pflanzen- und

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Tierwelt und den mineralischen Leib mit der ganzen äußeren Welt gemeinsam hat. Der Name Astralleib ist gebräuchlich seit den ursprünglichsten Zeiten. Es gibt keinen passenderen Namen für dleses Glied der menschlichen Wesenheit als Astralleib. Und es gibt vielleicht keine schö­nere Definition des Grundes, warum dieser Leib Astralleib heißt, als die, welche der große Theosoph Paracelsus gegeben hat. Ebenso wie im Tode der Ätherleib den physischen Leib ver­läßt, so verläßt einige Zeit nach dem Tode der Astralleib den Ätherleib. Aber der Astralleib verläßt den physischen und Ätherleib auch in jeder Nacht. Da ist er außer uns. Wo ist er denn?

Da sagt Paracelsus mit Recht: Wo ist er, und was tut er in der Nacht? Ruht er, hat er eine Aufgabe? Jawohl, er hat eine Aufgabe. Zwar wer nicht hellseherische Kräfte hat, kann auch nicht hineinsehen in die Tätigkeit des Astralleibes während der Nacht. Aber die Konsequenzen dieser Tätigkeit empfindet ein jeder Mensch. Sie alle legen sich des Abends ermüdet zu Bett. Die Ermüdung ist der Ausdruck einer Disharmonie in der Zusammenfügung unseres physi­schen und Ätherleibes. Sie muß entstehen, wenn der Astralleib nicht Gewalt hat, Harmonie in die zwei anderen, den physischen und Ätherleib, hineinzubringen. Und wie der Mensch heute ist, muß während des tagwachenden Lebens eine solche Disharmonie notwendig entstehen. Wäre unser physischer und Ätherleib bloß unter der Gewalt des Astralleibes - wie die Kräfte zusammengefügt werden sollen -, dann würde immer Harmonie in unserem Äther- und phy­sischen Leibe sein. So aber lebt nicht nur der Astralleib in dem physischen Leib, sondern auf der Bewußtseinsstufe, die die Menschheit auf dem Erdenplaneten erreicht hat, wirkt die ganze Umwelt der physischen, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände auf den Menschen ein. Es fließen von außen in ihn herein die Eindrücke des Auges und Ohres und der übrigen Sinne. Während des Tagwachens wird bei jedem Menschen, der noch nicht auf einer gewissen höheren Stufe der spirituellen Entwickelung angelangt ist, eine Disharmonie eintreten müssen. Wenn dieser Astralleib nun niemals an einem anderen Ort verweilen könnte als in unserem physischen und Ätherleib, so würde er selbst in Unordnung kommen. Dann würden seine Kraftströmungen nicht die bleiben, die sie sein müssen, wenn ein richtiger Äther- und physischer Leib geformt werden sollen. Während des Tages kommt die innere Harmonie des Astralleibes in Unordnung, und der Ausdruck für die Unordnung ist die Ermüdung. In dem Augenblick, wo Sie die Ermü­dung spüren, ist die innere Disharmonie da. Wo ist nun der Astralleib während der Nacht?

Mit Recht sagt Paracelsus: Wenn die Kraftlinien, die ihn bei Tag mit dem physischen Leib verbinden, sich zu lockern beginnen, dann tritt er in Zusammenhang mit dem ganzen harmo­nischen Kräftesystem, das den Sternenhimmel durchflutet. In dem Augenblick, wo der Mensch eingeschlafen ist, ruht er in der Harmonie der Sphären, und daraus bringt er sich die Kräfte mit, um das wieder auszugleichen, was während des Tages verbraucht ist. So ruht der Astralleib wäh­rend der Nacht in der Welt der Sterne; da hat er seine eigentliche Heimat. Und kehrt er zurück, so bringt er sich die Kräfte der Sterne mit, um damit die Ermüdungsstoffe fortzuschaffen. Da­her ist der Schlaf ein guter Arzt, weil dann Ordnung und Harmonie eintreten kann, wenn der Astralleib wiederum einige Zeit ruht in derjenigen Welt, die die Gesetze für den Sternenhimmel enthält, und das sind die Gesetze für die geistige Welt überhaupt. Wenn der Mensch keinen Schlaf hat, wird die Gesundheit deshalb untergraben, weil der Astralleib nicht eine Zeit geruht hat in der Sternenwelt. Deshalb hat der Astralleib diesen Namen erhalten. Früher wurde kein Name gegeben, der nicht dem Wesen der Sache entsprach. Und bevor wir okkulte Namen und Bezeichnungen korrigieren, müssen wir erst über den Namen nachdenken, wozu er gegeben worden ist. Wenn heute ein Komet oder kleiner Planet entdeckt wird, schlägt man ein Lexikon der Mythologie auf und gibt daraus dem Stern einen Namen. Das Prinzip der Namengebung in

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spirituellen Zeiten war, in einem Namen das Wesen der Sache selbst tonhaft nachklingen zu las­sen: es klang im Namen der Zusammenhang mit der Welt.

In dem vierten Glied seiner Wesenheit hat der Mensch etwas, wodurch er die Krönung der irdischen Schöpfung des planetarischen Daseins bildet. Folgen Sie mir für kurze Zeit in eine subtile Betrachtung. In dem ganzen Umkreis der deutschen Sprache gibt es einen Namen und in anderen Sprachen ist es ähnlich -, der sich von allen anderen Namen grundsätzlich unter­scheidet. Jeder von Ihnen kann zu dem Tisch «Tisch» sagen, zu dem Bild «Bild» und so weiter. Einen Namen gibt es aber, den wir in demselben Sinne nicht anwenden können, das ist der Name Ich. Keiner von ihnen kann zu einem anderen «Ich» sagen. Jeder andere ist für ihn ein «Du » und auch Sie sind für jeden anderen ein « Du». Wenn dieser Name uns selbst bezeichnen soll, kann kein Ton in der Außenwelt ihn verkörpern, er muß aus uns selbst klingen. Das emp­fanden zu allen Zeiten diejenigen Religionen, die einen Impuls von der Geheimiehre hatten. In der Geheimiehre sagt man daher den Namen für das Wesen, und in der hebräischen Geheim. lehre ist der unaussprechliche Name Gottes, der Jahve-Name nichts anderes als der Name für das Ich. In Wahrheit ist der Jahve-Name der Name für das, was in der Seele anfängt, einen Monolog zu halten - in seinem Selbst zu leben. Man empfand das so, daß man in denjenigen Weltanschauungen und Religionen, die auf spirituellen Grundlagen errichtet waren, sagte: Im Ich beginnt im Innersten der Seele der Gott zu sprechen. Es ist das ein Anfang, aber er muß gemacht werden, und dieses Ich - dieser einzige Zentralpunkt - ist das, was das wesentlichste unterscheidende Merkmal des Menschen von all den Wesen ausmacht, die uns auf diesem Pla­neten umgeben. Sinnige Personen haben das immer empfunden. Jean Paul sagt uns, wie er als ganz junges Kind im Hofe des elterlichen Hauses stand, und er wußte sich genau daran zu erinnern, wie zum ersten Male das Gefühl in ihm entstand: du bist ja eine Ich-Wesenheit! Und er fügt hinzu, ein Irrtum sei ausgeschlossen und auch, daß andere etwas zu dieser Erinnerung hinzugetan hätten. Denn damals - sagt Jean Paul - habe ich in das verhangene Allerheiligste meines inneren Wesens hineingeblickt; damals wußte ich, daß ich unsterblich bin, weil ich mit dem Gotte den Zusammenhang gefunden hatte.

Wenn wir jetzt vom Ich nach außen gehen, so kommen wir zu dem Punkt, wo wir die gegenseitigen Verhältnisse der menschlichen Wesenheit betrachten können. Die menschliche Entwickelung besteht darin, daß das Ich an den drei Leibern arbeitet, innerhalb welcher es auf­tritt wie der Kern einer Frucht in seiner Schale. Und wie arbeitet dieses Ich?

Wenn wir das verstehen wollen, müssen wir uns an primitive Völkerschaften erinnern. Neh­men Sie ein Volk, das heute auf einer untergeordneten Kulturstufe steht. Da sehen Sie, daß dieses Volk von seinen Gefühlen und Instinkten, von Trieb und Leidenschaft beherrscht ist, ganz wie das Tier: sie fressen einander auf. Vergleichen Sie nun diesen Wilden mit dem Ange­hörigen einer höher entwickelten Kultur, mit einem Franz von Assisi. - Was unterscheidet die beiden Entwickelungsformen?

Wenn wir uns diese Frage beantworten wollen, müssen wir uns klarsein, daß der Mensch -durch die vielen Inkarnationen hindurch, durch die er sich entwickelt - von seinem Ich aus seine Arbeit verrichtet: erst am Astralleib, dann am Ätherleib und dann auch am physischen Leib. Das ist menschliche Entwickelung: diese Ausstrahlung des Ich in die drei Leiber. Der Wilde folgt allen Trieben und Leidenschaften, die in ihm leben. Der Kulturmensch sagt sich, gewis­sen Trieben darf ich nicht folgen; er versagt sich gewisse Triebe und Leidenschaften. Der noch höherstehende Idealist versagt sich diese nicht nur, sondern er erzeugt aus sich heraus Ideale, die etwas Neues hinzufügen zu dem, was die Triebe des Astralleibes auf einer primitiven Kul­turstufe ausmacht. So sehen wir vor dem heliseherischen Blick den Astralleib aus zwei Teilen

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bestehen: was ursprünglich in ihm war und dann das, was das Ich selbst daraus gemacht hat. Sehen Sie einen hochentwickelten Idealisten an, so ist dieser Teil [es wird gezeichnet] durch dle Arbeit des Ich größer als bei anderen, und bei einem Menschen wie Franz von Assisi sehen Sie, wie wenig von dem zurückgeblieben ist, was der Mensch, als er seine erste Inkarnation antrat, sein eigen nannte. In der Theosophie benennt man diesen praktisch umgewandelten Teil des menschlichen Astralleibes, über den der Mensch Herrschaft gewonnen hat, mit dem deut­schen Worte «Geistselbst », das man sonst in der theosophischen Literatur mit «Manas» be­zeichnet; es ist ein umgewandelter Teil des Astralleibes.

Der Mensch arbeitet aber von seinem Ich aus auch seinen Ätherleib um. Was heißt: Arbeiten an dem Ätherleib? Wir wollen uns das durch ein Beispiel klarmachen. Sie können das an Ihrer eigenen Entwickelung tun. Erinnern Sie sich, was Sie als ein siebenjähriges Kind gewußt haben an Begriffen und Vorstellungen, und was Sie heute wissen, was Sie gelernt und verändert haben in Ihrem Vorstellungsleben. Sie werden sehr viel finden. Vergleichen Sie aber jetzt dies, was Sie gelernt haben, mit dem, was sich verwandelt hat von anderen Dingen, die auch in Ihnen sind, an Temperament, Gedächtnis, gewissen Grundeigenschaften der menschlichen Natur. Wenn Sie als achtjähriges Kind jähzornig waren, so wird noch manchmal dieser Jäkzorn durch­blicken. War Ihr Temperament ein melancholisches, so wird vielleicht Ihr ganzes Leben lang diese Färbung bleiben. So daß wir vergleichsweise sagen können: was der Mensch eigentlich lernt, bewegt sich so vorwärts wie der Minutenzeiger einer Uhr; aber was die Grundneigungen emes Menschen sind, das bewegt sich langsamer vorwärts, so wie der Stundenzeiger. Und so langsam wie der Stundenzeiger einer Uhr verwandelt sich der Ätherleib. Es ist der Ätherleib ein dichterer als der Astralleib; daher ist die Arbeit des Ich an dem Ätherleib im wesentlichen schwieriger als die Arbeit an dem Astralleib. Und erst, wenn das Ich nicht nur an seinen intel­lektuellen Vorstellungen arbeitet, sondern sein Temperament umzuwandeln beginnt, dann ist das begleitet von einer Umformung seines Ätherleibes. Für viele ist das nur möglich bei dem Übergang von einer Inkarnation in die andere. Aber gerade das ist das Wesentliche der okkul­ten Schulung: alles was du lernen kannst, ist nur Vorbereitung für die okkulte Schulung, und mehr hast du getan, wenn du irgendeine Grundstimmung fortzuschaffen dich bemüht hast, wenn du dein zum Beispiel melancholisches Temperament umgewandelt hast in ein harmoni­sches. In dem Augenblicke, wo wir beginnen, nicht nur Empfindungen und Impulse, sondern unsere Grundaffekte zu ändern, beginnen wir an dem Ätherleib zu arbeiten, und derjenige Teil des menschlichen Ätherleibes, der so vom Ich heraus umgestaltet ist, ist wiederum ein neues Glied der menschlichen Natur. Bewußt können heute die wenigsten Menschen diese Umfor­mung des Ätherleibes bewirken, sondern nur die, welche in einer okkulten Schulung sind. Ein Gesetz in der pythagoräischen Schule war zum Beispiel, daß erst der Astralleib vollständig ge­reinigt werden mußte, bevor die Arbeit an dem Ätlierleib beginnen konnte. Aber man muß unterscheiden zwischen der bewußten und unbewußten Schulung am Ätherleib. Der Teil, der von der Arbeit des Ich durchdrungen ist, heißt in der deutschen Sprache der «Lebensgeist»; es ist dasselbe in seiner Grundwesenheit, was man in der theosophischen Literatur die «Buddhi» nennt.

Das dritte und Bedeutungsvollste ist, wenn der Mensch nicht nur beginnt, Herr zu werden über die Kräfte seines Ätherleibes, sondern wenn er beginnt, hinunterzuarbeiten bis in den phy­sischen Leib. Es könnte scheinen, als ob die Arbeit des Ich an dem physischen Leib das nied­rigste wäre; es ist aber gegenwärtig das Höchste. Und die Arbeit an dem physischen Leib ist wiederum schwieriger als die Arbeit am Ätherleib. Beginnt der Mensch bewußt daran zu arbei­ten, durch das Ich Herr zu werden der Kräfte, die im physischen Leibe wirken, dann tritt noch

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etwas anderes bei ihm auf. Was im physischen Leibe wirkt, sind dieselben Kräfte, die im Kos­mos wirken. Lernt der Mensch die Kräfte seines Blutes, seines Atmens beherrschen, dann lernt er die Magie des Kosmos. Dann fließt das, was er kann, aus seinem physischen Leib hinaus, in das All ein, und das ist eine wirkliche, reale Arbeit, die dann erst beginnen kann, wenn der Mensch einen gewissen Grad seiner Arbeit am __therleib erreicht hat. Und weil man beginnt mit der Regulierung des Nächsten, was uns vorliegt - mit der Regulierung des Atmens -, so ist auch der Name des Atmens von «Atma» hergenommen. So viel der Mensch in seiner inneren physischen Natur umgestaltet, so viel ist in ihm von dem « Geistesmenschen», von «Atma »; da ist ein Teil der Geistmaterie in ihm verwandelt worden.

Nicht um ein asketisches Fliehen aus der physischen Welt handelt es sich dabei; sondern wir haben die Aufgabe, uns in die physische Welt hineinzubegeben, um sie zu einer spirituellen .umzuformen. Das ist das große Gesetz der Erlösung. Gerade dies Physische bedeutet einen Teil des Spirituellen, der so geworden ist, wie er geworden ist, damit wir unsere heutige Entwickelungsstufe erlangen konnten. Wir haben nun die Aufgabe, diesen physischen Leib wiederum hinaufzuvergeistigen, ihn zu erlösen. Hinter dem Worte Erlösung liegt dies Prinzip. Da haben Sie die gegenseitige Beziehung der sieben Glieder der menschlichen Natur, wie man sie haben muß, wenn man sie in praktischer theosophischer Arbeit verwerten will.

Nun wollen wir die Evolution des Menschen betrachten. Wer als Materialist bloß den physischen Leib kennt, macht sich auch von der Evolution des Menschen nur eine abstrakte Vorstellung. Wer aber einsieht, wie kompliziert der Mensch ist, sieht auch, wie kompliziert die Evolution des Menschen ist. Welches ist nun von diesen vier Gliedern das älteste, das vollkommenste? Da wird mancher überrascht sein, wenn er hört, daß das älteste und in seiner Art vollkommenste Glied der menschlichen Wesenheit das physische ist; es ist dasjenige, zu dem die längste Zeit notwendig war. Jünger ist der Ätherleib, noch jünger der Astra]leib, und das Baby ist das Ich. Nur mit Unrecht nennt man den physischen Leib ein unvollkom­menes Stück des Menschen. Betrachten Sie zum Beispiel nur den Bau des Oberschenkelkno­chens: ein wunderbares Kunstwerk. Da sind die Balken so weisheitsvoll gelegt, wie keine menschliche Ingenieurkunst es zustande bringen könnte, und sie sind so gelegt, daß der Ober-körper mit dem kleinsten Aufwand von Kraft getragen wird. Gehen wir nun von diesem Glied über zu dem Bau des menschlichen Herzens. Wer sich in das hineinvertieft, was unsere Physio­logen uns vom Herzen und auch von den übrigen Organen lehren, der weiß, daß diese Gliedet so weise aufgebaut sind, daß keine menschliche Weisheit in diese physischen Formen sogar nut eindringen kann. Der physische Leib wäre gut bei allen Menschen. Aber nun sehen wir uns den Astralleib an, was der das ganze Leben hindurch tut. Der Mensch führt durch die Tätig­keit seines Astralleibes dem physischen Leibe, zum Beispiel dem Herzen, fortwährend Herz­gifte zu; aber das Herz ist so weise gebaut, daß es ganze Zeiten aushält gegen die Attacken des Astralleibes. Erst eine künftige Zeit wird den Astralleib ebenso weise finden, wie es heute der physische Leib ist. Der physische Leib ist das älteste Glied der Menschennatur, zu dem die längste Evolutionszeit notwendig war. Die Glieder der Menschennatur sind aber zusammen-gefügt mit der ganzen Umwelt. Ebenso wie der einzelne Finger nur bestehen kann, wenn er ein Glied der ganzen Hand ist, ebenso ist der Mensch nur im Zusammenhang mit dem ganzen Kosmos denkbar. Heben Sie ihn einige Meilen über die Erde hinaus, dann geht es ihm ebenso wie dem Finger, wenn Sie ihn abschneiden. Und nur weil der Mensch auf der Erde herum-spazieren kann, gibt man diese Unselbständigkeit nicht zu.

Blicken Sie zurück auf urferne vergangene Zeiten! Und wenn Sie vorblicken in zukünftige Zeiten, so sehen Sie, daß die Gestalt seiner Glieder sich fortwährend ändert. Aber sie können

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sich nur ändern, wenn alles in der Umgebung des Menschen anders wird. Nur weil der Mensch trotz seiner vorgerückten Wissenschaft eine so kurze Spanne Zeit überblickt, glaubt er, daß die Dinge immer so waren, wie sie sind. Aber wer weiter hineinblickt, weiß, daß sich unser Planet von Form zu Form ändern muß, wenn wir uns selbst ändern wollen. Aber es genügt nicht bloß, daß die Veränderungen eintreten, welche die Erde selbst durchmacht, sondern der Mensch war in gewisser Beziehung schon da, bevor man die Erde im Kosmos «Erde» nen­nen konnte. Wie der Mensch im Kosmos fortschreitet, so schreiten auch die Planeten oder die Wesen, die sie bewohnen, fort. Unser Planet ist die Reinkarnation eines anderen planetarischen Zustandes, und wir können drei vorhergehende Inkarnationen unserer Erde verfolgen und perspektivisch auf drei folgende vorausblicken. Was wir Planetenentwickelung nennen, ist nichts weiter als ein Analogon zu unserer Menschenentwickelung. Die drei vorhergehenden Planetenzustände, durch die unsere Erde durchgehen mußte, nennt man in rosenkreuzerischer Bezeichnung: Saturn, Sonne, Mond, so daß wir uns vorzustellen haben: die Erde war, bevor sie Erde wurde, Mond, und bevor sie Mond wurde, war sie Sonne, und vor der Sonne war sie Saturn; und die späteren Zustände, auf die wir hinblicken, nennt man Jupiter, Venus, Vulkan. Was heißt das: die Erde ist durch diese Zustände hindurchgegangen?

Wir sind heute in der vierten Inkarnation unseres eigenen Planeten, und das hängt mit der menschlichen Evolution auf das innigste zusammen. Auf der ersten Planetenform - also auf dem Saturn - waren bereits die ersten Aniagen zum menschlichen physischen Leib vorhanden. Damals aber war der menschliche physische Leib während der ganzen Saturnentwickelung so, daß ihm noch kein selbständiger Ätherleib eingegliedert war. Durch den Sonnen- und Mond-zustand hindurch bis zum Erdenzustand herunter hat sich dieser physische Leib immer mehr und mehr vervollkommnet, so daß wir sagen können: der physische Menschenleib steht heute auf der vierten Stufe seiner Entwickelung, er steht heute auf dem Punkt der Erdentwickelung. Erst bei der zweiten Inkarnation unserer Erde wurde diesem physischen Leib eingegliedert ein selbständiger Ätherleib. Es wurde gleichsam der physische Leib dadurch vollkommener, daß ein Ätherleib in ihm arbeitete. Dann führte die dritte Reinkarnation der Erde - der Mond -dazu, daß sich den zwei Leibern noch der Astralleib eingliederte; so daß der Bewohner des Mondes, der Vorfahr des heutigen Erdenmenschen, aus drei Leibern - dem physischen, dem Äther- und dem Astralleib - bestand. Und der Sinn der Erdentwickelung ist der: diesen drei Gliedern das Ich einzugliedern, den Arbeiter, der dann beginnt umzugestalten, was ihm von früher her geworden ist. So sehen wir, daß der physische Leib älter ist als die anderen, und das Ich ist erst auf der ersten Stufe seiner Entwickelung. Man kann auch aus der Konfigu­ration des physischen Leibes sogar wissen, was in uns herstammt von dem Saturnzustand. Was am höchsten steht innerhalb unseres physischen Leibes, das sind die Sinnesorgane, und der Keim zu unseren Sinnesorganen wurde gelegt auf dem Saturn. Und so wurde Glied für Glied aufgebaut, wurde stufenweise immer vollkommener und vollkommener mit den anderen Glie­dern der menschlichen Natur.

Was hier Saturn und Sonne genannt wird, ist nicht die heutige Sonne und der heutige Saturn, sondern es werden damit Entwickelungsphasen bezeichnet. Dennoch steht das, was unsere Erde in ihrer Entwickelung durchgemacht hat, in Zusammenhang mit dem heutigen Saturn. Es ver­hält sich der heutige Saturn zu der Erde wie ein Knabe zu einem Greis. Dieselben Lebens-verhältnisse, die der Saturn heute durchmacht, hat unsere Erde früher durchgemacht. Daher spricht man im wirklichen Okkultismus nicht von dem Satum, von der Sonne und so weiter, sondern von einem Saturn, einer Sonne und so weiter. Unsere Erde ist ein älter gewordener Saturn.

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Nun müssen wir uns noch klarsein, welchen Sinn denn diese ganze Entwickelung hat. Wenn wir zurückblicken auf jene Saturnentwickelung, wo der Mensch noch ohne Ätherleib, Astralleib und Ich war - insofern sie selbständige Wesen waren -, bekommen wir den besten Unterschied jener uralten Zustände von dem heutigen dadurch zu erkennen, daß wir uns auf das «Bewußtsein» beziehen. Es ist mit jedem Entwickelungszustand ein Bewußtseinszustand verbunden. Es gibt sieben Bewußtseinszustände. Der gegenwärtige Mensch ist im vierten; diesen kann kein Wesen haben, das nicht zu sich «Ich» sagen kann. Daher entwickelte der Mensch die Form des Bewußtseins, die er jetzt hat, erst auf der Erde. Die Erdentwickelung hat den Sinn, das wache Tagbewußtsein zu entwickeln. Auf den früheren Planetenzuständen gab es für den Menschen nur unvollkommene Bewußtseinszustände. Auf dem Saturn hatte der menschliche Vorfahr in seiner primitiven Gestalt ein Bewußtsein, wie es auch die Mineralien haben, oder vielmehr: der menschliche physische Vorfahr ist jenes Bewußtsein. Wir können dafür kaum leicht Worte finden; wir können nur andeuten. Dieses Bewußtsein ist ein ganz, ganz dämmerhaftes, ein tiefes Trance-Schlafbewußtsein, dumpf und dämmrig, das aber in gewis­ser Weise wiederum einen Vorzug hatte: es übersieht einen viel größeren Umkreis, ist viel uni­verseller; ein Mineralbewußtsein weiß von dem ganzen Sonnensystem.

Dann wurde dieses Bewußtsein eingeengt zu dem, was die Pflanze hat. Aber es ist jetzt schon ein etwas aufgehellteres Bewußtsein gegen das des Minerals. In diesem Bewußtsein war der Mensch, als die Erde im Sonnendasein war. Die dritte Form des Bewußtseins ist das Bilder-bewußtsein, auch das primäre psychische Bewußtsein genannt. Es unterscheidet sich von dem gegenwärtigen dadurch, daß es in Bildern wirkt, aber so, daß es das Psychlsche des anderen ver­mittelt. Denken Sie sich ein Wesen - und das menschliche Vorfahrenwesen auf dem Monde war so-, das noch kein sinnliches Bewußtsein hat und die Gegenstände beim Aufwachen mit Farben überziehen kann: ein letztes Überbleibsel eines solchen Bewußtseins haben Sie in der Traum­welt. Die Traumwelt ist nicht das astrale Bewußtsein. Das gegenwartige Traumbewußtsein ver­hält sich zum Mondbewußtsein so, wie irgendein verkümmertes Glied zu der Form, wie sie vor­handen war, als es noch im Menschen selbst seine Aufgaben hatte; zum Beispiel gewisse Mus­keln, die die Ohren bewegen konnten, die beim Menschen ihren Sinn verloren haben. Von jenem astralen oder psychischen Bilderbewußtsein vom Monde ist als Rudiment die heutige Traumwelt zurückgeblieben; daher wirkt sie auch so, wie das astrale imaginative Bewußtsein wirkt. Denken Sie sich, es träumt jemand, daß er einen Laubfrosch finge. Er sieht ihn hüpfen und faßt ihn. Da wacht der Schläfer auf und sieht, er hatte den Zipfel der Bettdecke in seiner Hand. Oder ein anderer Traum, der richtig vorgefallen ist. Eine Bauersfrau träumt, sie ginge in die Kirche. Sie hört andächtig zu. Da bewegt der Pfarrer heftig seine Arme und siehe da, er be­kommt Flügel. Das war der frommen Bauersfrau nicht allzu merkwürdig, daß ein Pfarrer, der vom Himmel predigt, gelegentlich auch einmal Flügel bekommt. Aber was geschieht? Der Pfarrer beginnt auf der Kanzel laut zu krähen. Im selben Augenblick wacht die Bauersfrau auf und draußen auf dem Hofe kräht der Hahn.

Was ist da geschehen, wo eine ganze dramatische Handlung vor sich geht? Im symbolischen Bild drückt sich etwas aus, was Sie im wachen Tagbewußtsein als äußeren Gegenstand wahr­genommen hätten. Es bildet sich symbolisch etwas aus, was nicht in dieser Weise vorhanden ist. Behalten Sie aber das Symbol in der Form - denken Sie, der Mensch verwende es, um Wahrnehmungen zu haben von der wirklichen psychischen Welt, dann haben Sie das, wovon ich jetzt spreche. Ein symbolisches Bewußtsein, das wahr und wirklich ist, war das Mond-bewußtsein. Denken Sie sich einen Menschen ohne unser heutiges Gegenstandsbewußtsein. Er näherte sich einem anderen Wesen. Er sieht bei diesem nicht die begrenzte Form, sondern

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da tritt vor ihm auf ein Farbengebilde. Bei Sympathie sieht er eine ganz bestimmte Farbe, ebenso bei Antipathie. Das ist etwas anderes als die Farbe heute: es ist der Ausdruck für die Sympathie oder Antipathie für das andere Wesen. Und wer das Mondbewußtsein hat, tut das, was dem Mondbewußtsein entspricht: er richtet seine Handlungen nach den Symbolen ein. Nimmt er eine gewisse Farbe wahr, so weiß er, da geht etwas vor, was ihm feindlich ist, und er wird sich zurückziehen.

Erst eine spätere Entwickelungsform ist die, die sich unter dem Einfluß des Ich entwickelt, wo das Bewußtsein nicht die psychische Erscheinung mehr wahrnimmt, sondern wo sich das, was als Färbung aufgestiegen ist, über die Gegenstände hinüberlegt. Die Farben, die Sie heute über die Gegenstände ausgebreitet liegen sehen, sind die alten Farben, die einst als psychisches Gebilde aufstiegen.

Wenn der moderne Mensch zu dem heutigen Bewußtsein dazu noch dasjenige des Mondes hätte, so daß er die psychische Welt voll wahrnimmt wie die physische, so hätte er das jetzige Bewußtsein erweitert zum imaginativen. Eine höhere Form wäre dann, wenn er als ein weiteres noch das Bewußtsein hinzugefügt hätte, das heute die Pflanze hat und das der Mensch dumpf und dämmerig während der Sonneninkarnation hatte. Und die höchste Form wäre die, wo der Mensch das Bewußtsein, das heute das Mineral hat, auch noch dazu hätte, das ihm wiederum das Aufgehen in den universellen Kosmos ermöglichte. Dieses letzte Bewußtsein schwebt als Ideal des Menschen vor uns, und man nennt es das spirituelle Bewußtsein.

Der Sinn der Planetenentwickelung ist also, daß die Bewußtseinszustände aufeinander folgen; aber dazu muß der planetarische Schauplatz auch jedesmal ein ganz anderer werden. Wir über­blicken aber die vollständige Evolution nur dann, wenn wir wissen, daß innerhalb jeden plane­tarischen Zustandes wiederum sieben Stufen zurückgelegt werden müssen. So mußte Saturn, Sonne, Mond und jetzt die Erde sieben Stufen zurücklegen. «Runden» in der Theosophie ge­nannt, «Reiche» in der chtistlichen Esoterik. Jeder der Planeten, den die Erde durchmacht, hat sieben kleinere Kreisläufe; denn ein jedes Bewußtsein hat wiederum Grade, wenn es aufsteigen soll, von den unvollkommensten bis zu den vollkommensten. Man nennt sie auch Lebens-zustände. Jedes solcher Reiche oder Lebenszustände muß aber wiederum durchgehen durch sieben verschiedene Offenbarungszustände oder sieben Formenzustande: arupa, rupa, astral, physisch, plastisch, intellektuell, spirituell (archetypisch).

So haben wir 7 mal 7 mal 7 = 343 Zustände; sie bezeichnen die 343 planetarischen Inkarna­tionen in ihrer Vollständigkeit. Je 49 dieser Zustände umfassen die Entwickelung eines Be­wußtseinszustandes. Sie sehen also, wie wir in eine gewaltige kosmische Entwickelung hinein-blicken können.

Als der Mensch noch auf der Sonne lebte und nur seinen Äther- und physischen Leib ent­wickelt hatte, war er noch ein ganz anderes Wesen. Man könnte ihn nicht Pflanze nennen, aber man könnte in einem gewissen übertragenen Sinne doch sagen: er war damals im Pflanzen-dasein. In bezug auf seine Lage zur Erde war er wie umgewendet: was heute in den Äther frei hineinragt, der Kopf, das war damals zum Mittelpunkt der Erde hin gerichtet. Mit der Ent­wickelung des Bewußtseins ist zugleich die Umkehr der ganzen Menschengestalt verknüpft. Daher nennt man auch den Sonnenmenschen einen nach dem Mittelpunkt der Erde gerichteten Menschen, und in demselben Sinne nennt man den Menschen des Mondzeitalters einen um-kreisenden Menschen. Wenn man eine Tangente nach der Mondoberfläche gezogen hätte... [Lücke in der Nachschrift]. Und der Erdenmensch ist der umgekehrte Sonnenmensch.

So schreitet alles vorwärts. Wenn wir zurückblicken auf die Mondentwickelung, müssen wir uns klarsein, daß das, was wir heute Affekte nennen, sich erst als ein astraler Einschlag auf dem

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Mond entwickeln konnte. Damals aber war noch nicht das Ich entwickelt. Weil sich das Ich erst auf der Erde entwickelte, empfand der Mondmensch noch nicht den Schmerz als seinen individuellen; es war der Mondenschmerz. Unselbständig war dieser physisch-ätherisch-astra­lische Mondenvorfahr. Unindividuelle Leidenschaften, Affekte und Schmerzen kamen da heraus. Zum Beispiel war es auf dem Monde so - man darf es heute aussprechen, wenn es auch noch so wenige glauben -, daß zu gewissen Jahreszeiten die ganze Welt, alle lebenden Wesen, die von einem Astralleib umgeben waren, anfingen zu schreien, von Tönen sich zu entäußern; das war verknüpft mit einer gewissen Entwickelung im animalischen Leben. Ein Rudiment davon ist noch der Brunstschrei im Sexualleben gewisser Tiere, wo zu gewissen Zeiten damit Schreie verknüpft sind.

Nun ist das Gesetz der Evolution so, daß in späteren Zuständen sich immer gewisse frühere wiederholen. So mußte die Erde als Wiederholung das Saturn-, Sonnen- und Monddasein durch-machen. Jetzt befindet die Erde sich in ihrem eigentlichsten Dasein. Sie bekommen eine Vor­stellung von dem, was hier Sonne genannt wurde, wenn Sie alle Wesen, die heute auf Sonne, Mond und Erde sind, zusammenrührten zu einem Brei; es war das alles einmal in einem vor­handen auf der Sonne. Zur Zeit des Sonnenzeitalters waren Sonne, Mond und Erde ein Körper. Dann hatte sich die Sonne zum Mondendasein entwickelt und da erst wurden Sonne und Mond geteilt. Und bei der Wiederholung auf der Erde hat sich wiederum zuerst die Sonne und dann wiederum der Mond herausgetrennt, und mit der Heraustrennung des Mondes ist verknüpft die eigentliche Ich-Werdung des Menschen. Der Mond enthält die Kräfte, die die übrigen Glieder des Menschen verhindern, Träger eines Ich zu werden. Ich kann nur darauf hindeuten, daß der Zeitpunkt, der für unsere Erdentwickelung eintrat in der alten lemurischen Zeit, nur dadurch eintreten konnte, daß sich erst die Sonne lostrennte und dann der Mond. Als die Erde selb­ständig geworden war, konnte sie erst die Menschengestalt hervorbringen, aus der sich der heutige Mensch entwickelt hat.

So hängt mit der kosmischen Entwickelung die menschliche aufs iratigste zusammen. Blicken Sie zurück auf die alte atlantische Zeit, die Vorgängerin unserer heutigen Zeit, wo der Mensch auf der Atlantis lebte - die die Naturwissenschaft wenigstens schon für die Tierwelt entdeckt hat -, da haben Sie den Menschenvorfahren, der noch nicht ein solches Bewußtsein besitzt, wie es der Mensch heute hat, das rechnen und industrielle Gegenstände herstellen kann. Dafür aber war eine andere Fähigkeit in hohem Maße entwickelt. Der atlantische Mensch hatte ein aus­gezeichnetes Gedächtnis, wovon man sich heute keine rechte Vorstellung mehr machen kann. Noch etwas anderes war damit verknüpft. Sie würden finden, daß sich auch physisch diese alte Atlantis ganz wesentlich von der Konfiguration der heutigen Erde unterscheidet. Was wir heute Luft und Wasser nennen, war noch nicht da. Die ganze Luft war angefüllt mit einem feinen Wasserdunst. Das Wasser war noch aufgelöst. Deshalb hat die alte deutsche Sage davon den Namen «Nifelheim» aufbewahrt. Er bedeutet, daß die Menschen damals in einer Art wassergeschwängerten Luft lebten und nur in einer solchen Luft konnte das Bilderbewußtsein des damaligen Menschen leben. Die Mythen und Sagen der germanischen Mythologie sind aus diesem Bewußtsein heraus entstanden. Wer das Volk wirklich kennt, der weiß, daß es nicht so dichtet, wie die heutige Gelehrsamkeit behauptet. Überbleibsel eines alten ätherischen Bilderbewußtseins waren die Mythen und Sagen, der Ausdruck eines uralten dämmerhaften Hellsehens, und die Menschen haben nur davon den Ursprung vergessen, nachdem sie zu dem heutigen hellen Tagbewußtsein vorgerückt sind.

So sehen Sie, wie die Menschheitsentwickelung an den Kosmos gebunden ist. Auf einem Erdenrund, wo die Luft mit Wasser geschwängert ist, nirnmt der Mensch die Welt ganz anders

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wahr. Für den Atlantier war das Rauschen des Windes eine Sprache, die er verstand. Es waren damals noch keine Gebote und Gesetze vorhanden. Es gab noch Zeiten, wo der Mensch, wenn er wissen wollte, wie er sich benehmen sollte, hinausging und horchte auf die Quelle, wie sie rieselte: das sagte ihm etwas. Und wenn er hinausging, um zu horchen, dann hörte er hin auf einen Grund- und Unterton, der vorhanden war wie ein musikallscher Grundton, den der Atlantier verstand. Es ist eine einfache, mehrgliedrige Silbe; die lebte in der ganzen Umgebung des Atlantiers; die ging durch alles hindurch, und der Atlantier sagte sich: In diesem Grund­ton spricht der Gott zu mir. Und wenn er sein Gebet zu seinem Gott richten wollte, geschah es in diesem Grundton. Die Weisheit des alten Atlantiers mußte sich in die unsrige verwan­deln, damit der Mensch vorwärtsschreiten konnte. Aber wir werden in der Entwickelung wie­derum das Bewußtsein des Atlantiers erringen müssen, zu dem unsrigen hinzu. Manchmal müssen wir das Opfer bringen, daß das Alte für eine Zeit wie schlummernd liegen muß.

So hängt die Entwickelung des Menschen mit der Entwickelung des Kosmos zusammen. Denken Sie einmal, wie weit der Mensch sich entfernt hat von den Quellen der Weisheit, die in der Welt selbst ruht! Wie weit hat er sich entfernt von der unmittelbaren Verbindung mit der Natur! Aber was wir verloren haben, werden wir wiedergewinnen zu dem, was wir uns erobert haben. Dieses Bewußtsein, das wir haben, entsprang aus dem Bewußtsein der einzel­nen, konkreten Tatsachen, die man in der Rosenkreuzermethode mit der «Weisheit der Welt» bezeichnet hat. Es durchdringt das ganze Leben des Menschen. Durchdringen wir uns da­mit, dann fühlen wir, was der Lehrer wollte, an den sich der Name «Rosenkreutz» knüpft, der als eine führende Individualität durch die Jahrhunderte hindurch die spirituelle Bewegung lenkt und leitet.

Scheinbar liegt es fern, wenn man den Menschen im Zusammenhang mit der ganzen Welt betrachtet; aber dringt es ein in unser Herz, dann wird es zu einer Kraft in uns, die uns bese­ligen wird, wenn wir mitarbeiten wollen an der Umwandlung und Umgestaltung des Kosmos. Man hat die Pflicht, sich einzugliedern in den Kosmos. Wie der einzelne Stein sich nicht zu dispensieren strebt von dem Haus, so darf sich der Mensch nicht dispensieren vom Kosmos. Man muß erkennen, daß es Pflicht sein muß, zu dienen innerhalb der großen Weltenevolution. Dann wird das, was ewig ist in uns, sich eingliedern in das Weltendasein. Es wird in unserem alltäglichsten Leben ein Abglanz davon vorhanden sein, so daß der Mensch bei jeder Hand­bewegung diese Weisheit ausdrücken kann. Dann wird der Kosmos wirklich etwas haben vom Menschen, denn alles ist in der Umformung. Alles muß wieder umgeformt werden durch die Wesen, die hineingestellt sind in die Weltenbewegung. Arbeiten wir so mit, so werden wir lebendig fühlen, wie es wahr ist. Und das Wahre wird Impuls für unser Handeln sein. So wird ein schönes Wort bewahrheitet, das ein hochinspirierter Dichter sagte:

Die Zeit ist eine blühende Flur,

Ein großes Lebendiges ist die Natur,

Und alles ist Frucht, und alles ist Same!

ERLÄUTERUNGEN ZUR EINRICHTUNG UND AUSGESTALTUNG DES KONGRESS-SAALES Vortrag am 21. Mai 1907 in München

#G284-1977-SE063 Bilder okkulter siegel und Säulen

#TI

ERLÄUTERUNGEN ZUR EINRICHTUNG UND AUSGESTALTUNG

DES KONGRESS-SAALES

Vortrag am 21. Mai 1907 in München

#TX

Ein paar Worte will ich über die Farbe sagen, innerhalb welcher wir hier unsere Versammlun­gen gehalten haben. Daß dies die rote ist, hat seinen guten Grund. Sie bildet, wenn wir sie außen sehen, ihr Gegenbild im Inneren, denn das Auge hat die Tendenz, aus sich heraus das Grünlichblau zu erzeugen, wenn es rot vor sich hat: das ist die innere Aktivität des Auges. Beim Kind kommt viel darauf an, wie der Leib auf die äußeren Eindrücke antwortet. Ich ver­weise hier auf das, was ich in bezug auf die tote Farbe gesagt habe, als von der Erziehung die Rede war. Das Auge antwortet auf eine rote Umgebung mit einer Tendenz zur grünblauen Tätigkeit, und dieses innere Arbeiten ist beruhigend. Daher wirkt rote Farbe in der Umgebung auf aufgeregte Kinder beruhigend. Wenn Sie sich erinnern, daß spätere Entwickelungsstadien des Menschen auf einer höheren Stufe immer zurückführen auf die Kindheitsstufe, so werden Sie einsehen, warum für eine Stätte - die, wenn sie auch keine Einweihungsstätte ist, doch durch ihre Symbole daran erinnern soll - die Farbe gewählt wurde, welche in dem kindiichen Körper gerade die nach dem Heiligen hin gerichtete Farbe auslöst. Nicht umsonst heißt es in der Bibel: So ihr nicht werdet wie die Kindiein, könnet ihr nicht eindringen in die Reiche der Himmel. Unser Inneres muß so ätherrein werden wie der Weltenäther droben, der uns in Blau entgegentritt. Die Erziehung dazu drückt sich in der roten Farbe unserer Umgebung aus. Um­gibt uns äußerlich das Rot, so lebt in unserem Inneren die Konträrfarbe. Daraus erklärt sich das Rot in allen Kultstätten der Esoteriker, während exoterische Stätten, in denen äußerlich und in Symbolen von den Geheimlehren gesprochen wird, die blaue Farbe tragen. Die rosen­kreuzerische Weltanschauung drückt das Esoterische in der roten Farbe aus. Sollte der Raum im Sinne der rosenkreuzerischen Weltanschauung vollständig ausgestaltet sein, dann müßten sich oben noch blaue Bögen erheben.

Was bedeuten nun die zwei Säulen den Rosenkreuzern? Wenn man diese zwei Säulen, die hier vor uns stehen, erklären will, muß man ausgehen von der sogenannten goldenen Legende. Diese sagt:

Als Seth, der Sohn Adams - der an die Stelle des Abel getreten war -, dazu reif war, durfte er einen Einblick gewinnen ins Paradies, durfte er an dem Engel mit dem im Feuer wirbelnden Schwerte vorbeigehen, hinein in die Stätte, aus welcher der Mensch vertrieben wor­den war. Da sah Seth etwas ganz Besonderes. Er sah, wie die zwei Bäume, der des Lebens und der Erkenntnis sich ineinanderschlingen. Von diesen beiden ineinandergeschlungenen Bäumen bekam Seht drei Samenkörner, nahm sie mit sich und legte sie seinem Vater Adam, als dieser gestorben war, in den Mund. Aus dem Grabe Adams wuchs dann ein mächtiger Baum heraus. Dieser Baum zeigte sich manchem, der psychische Sinne hatte, wie in Feuersglut erstrahlend, und diese Feuersglut windet sich zusammen für den, der sehen konnte, zu den Buchstaben J B, den Anfangsbuchstaben von zwei Worten, die ich hier auszusprechen nicht befugt bin, deren Sinn aber ist: «Ich bin, der da war, Ich bin, der da ist, Ich bin, der da sein wird.» In drei Glieder teilte sich dieser Baum. Seth nahm Holz von ihm, und es wurde in der Weltenevolution mannigfaltig verwendet. Ein Stab wurde daraus gemacht; der Zauberstab des Moses, sagt die Legende. Es war dasselbe Holz, aus dem die Balken am Salomonischen Tempel geformt wurden. Da blieben sie so lange, als die Menschen die alten Geheimnisse verstanden.

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Dann wurde das Holz in einen Teich geworfen, in dem zu bestimmten Zeiten Lahme und Blinde geheilt wurden. Nachdem es wieder herausgenommen worden war, bildete es die Brücke, über die der Erloser ging, als er seinen Weg zum Kreuz antrat. Und endlich bildete man, so sagt die Legende, das Kreuz selbst, an dem der Erlöser hing, aus dem Holz dieses Baumes, der herausgewachsen war aus Adams Mund, nachdem ihm die Samenkörner der ineinander­geschlungenen Bäume des Lebens und der Erkenntnis in den Mund gelegt worden waren.

Tiefen symbolischen Sinn hat diese Legende. Erinnern Sie sich einmal desjenigen Prozesses, an jene Umwandiung, an die der Schüler denken muß, wenn er die vierte Stufe der Rosen­kreuzerschulung durchmacht: an die Erzeugung des Steines der Weisen. Wir erinnern uns, daß es sich dabei um eine gewisse Behandiung unseres roten Blutes handelt. Denken wir an die Bedeutung dieses roten Blutes nicht nur, weil uns ja der Goethesche Ausspruch: «Blut ist ein ganz besonderer Saft», darauf hinweist, sondern weil es der Okkultismus zu aller Zeit gelehrt hat. So wie dieses rote Blut auftritt, ist es ein Ergebnis der Sauerstoffatmung. Nur kurz kön­nen wir darauf hinweisen. Wenn wir nun in der Legende und in der Bibel auf einen so wich­tigen Moment hingewiesen werden, auf das Wiedereindringen des Seth in das Paradies, so müs­sen wir uns daran erinnern, wodurch der Mensch aus dem Paradies gebracht worden ist. Heraus­gebracht worden ist er aus dem Paradies, dem alten Zustand des Menschen im Schoße der höheren Geisteswelt, durch folgendes, das in der Bibel schon angedeutet wird als der physische Vorgang, der parallel geht mit dem Herabstieg. Diejenigen, welche die Bibel verstehen wollen, müssen lernen, sie wörtlich zu nehmen. Es wird gesagt: « Gott blies dem Menschen den Odem ein, und er ward eine lebendige Seele.» Dieses Einblasen des Odems war ein Prozeß, der hier bildhaft ausgedrückt wird, der sich über Jahrmillionen ausgedehnt hat. Was bedeutet er?

Es hat in der Menschheitsentwickelung, in der Gestaltung des physischen Leibes Zeiten gegeben, wo im menschlichen Leibe noch keine Lunge war, so daß noch nicht Sauerstoff ein­geatmet werden konnte. Zeiten gab es, wo der Mensch mehr oder weniger in flüssigen Elemen­ten schwebte, wo er ein Organ hatte, eine Art Schwimmblase, aus dem sich später die Lunge entwickelte. Diese Schwimmblase von damals hat sich zu der Lunge umgebildet, und wir kön­nen den Prozeß der Umbildung verfolgen. Wenn wir das tun, dann zeigt er sich als jener Vor­gang, den die Bibel ausdrückt mit dem Bilde: Und Gott hauchte dem Menschen ein den leben­digen Odem, und der Mensch ward eine lebendige Seele. - Mit dieser Einhauchung des Atems ist erst die Erzeugung des roten Blutes möglich gewesen. So hängt das Heruntersteigen des Menschen mit der Erzeugung des roten Blutbaumes in seinem Inneren zusammen.

Denken Sie sich, der Mensch stünde vor Ihnen und Sie könnten nur das Rieseln des roten Blutes verfolgen: Sie würden vor sich haben einen lebendigen roten Baum. Von diesem sagt der christliche Esoteriker: Er ist der Baum der Erkenntnis. Der Mensch hat ihn an sich geris­sen, er hat genossen von dem roten Blutbaum. Die Errichtung des roten Blutbaumes, der der wahre Baum der Erkenntnis ist: das ist die Sünde. Und Gott vertrieb den Menschen aus dem Paradies, auf daß er nicht auch von dem Baum des Lebens genieße. Wir haben noch einen anderen Baum in uns, den Sie sich ebenso vorstellen können wie jenen. Aber er hat rotblaues Blut. Dieses Blut ist Todesstoff. Der rotblaue Baum war dem Menschen in derselben Zeit ein­gepflanzt worden wie der andere. Als der Mensch im Schoße der Gottheit ruhte, da war die Gottheit in ihm fähig, das, was sein Leben und seine Erkenntnis bedeutet, ineinander zu ver­schlingen - und in der Zukunft liegt der Zeitpunkt, wo der Mensch durch sein erweitertes Be­wußtsein in sich selbst fähig sein wird, das blaue Blut umzuwandeln in das rote; dann wird in ihm selbst der Quell sein dafür, daß der blaue Blutbaum ein Baum des Lebens ist. Heute ist er ein Baum des Todes. - So lebt in diesem Bilde ein Rückblick und ein Vorausblick!

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Sie sehen, daß im Menschen ein roter und ein rotblauer Blutbaum verschlungen sind. Das rote Blut ist der Ausdruck des Ich, ist das Untere der Ich-Erkenntnis, das blaue Blut ist der Ausdruck des Todes. Als Strafe wurde zu dem roten Erkenntuisbaum der blaue Blutbaum als der Baum des Todes hinzugefügt. In ferner Zukunft wird dieser Baum des Todes in den Baum des Lebens verwandelt werden, so wie er ursprünglich ein Baum des Lebens war. - Wenn Sie sich den Menschen vorstellen, wie er vor Ihnen steht, beruht sein ganzes Leben gegenwartig auf der Wechselwirkung dieser zwei Bäume.

Daß Seth das Paradies wieder betreten durfte, bedeutet, daß er ein Eingeweihter war und zurückblicken durfte auf den göttlich-geistigen Zustand, wo die beiden Bäume ineinanderver­schlungen waren. - Und drei Samenkörner der verschlungenen Bäume legte er in den Mund Adams, daraus entstand ein dreigeteilter Baum. Das heißt: der Baum, der aus dem Menschen herauswächst, Manas, Buddhi, Atma, diese drei Teile, die das Obere des Menschen ausmachen, finden sich der Anlage nach in ihm. In der Legende ist also angedeutet, wie in der mensch­lichen Anlage, also schon in Adam die Dreiheit des Göttlichen ist, wie sie herauswächst und wie sie zunächst nur der Eingeweihte sieht. Der Mensch muß seinen Entwickelungsgang gehen. Alle Dinge, die sich vollzogen haben in der Menschheitsentwickelung und die zur Ein­weihung führen, drückt uns die Legende weiterhin aus.

Aus der Erkenntnis heraus, daß der dreifache Baum in uns ruht, der Baum des Ewigen, der sich ausdrückt in dem Worte: «Ich bin, der da war - Ich bin, der da ist - Ich bin, der da sein wird!» gewinnen wir die Kraft, die uns vorwärtsbringt und uns den Zauberstab in die Hand gibt. Daher Moses' Zauberstab. Daher wird das Holz des aus dem Samen herauswachsenden Baumes zum Weisheitstempel genommen. Daher wird das Kreuz aus ihm gezimmert, jenes Zeichen der Initiation, das die Überwindung der niederen Glieder im Menschen durch die drei höheren bedeutet.

So zeigt diese Legende, wie der Eingeweihte hinschaut auf einen zukünftigen Zustand, wo verschlungen sein werden der Baum der Erkenntnis - der rote Blutbaum - und der Baum des Lebens - der blaurote Blutbaum -, wo sie sich verschlingen werden im Menschen selbst. Jetzt schreibt sich derjenige, der sich entwickeln will, in das Herz ein, was die beiden Säulen - die rote Säule einerseits, andeutend die rote Blutsäule; die blaurote, andeutend die blaue Blut­säule - uns sagen wollen. Heute sind beide getrennt. Deshalb steht im Saale links die rote und rechts die blaurote Säule. Sie wollen uns auffordern, den gegenwartigen Zustand der Mensch­heit zu überwinden, hinzulenken unseren Weg zu dem Punkte, wo sie sich durch unser erwei­tertes Bewußtsein verschlingen werden in einer Weise, die man nennt: J -B. Die rote Säule bezeichnet man mit J, die blaurote mit B.

Die Sprüche auf den Säulen werden Ihnen vergegenwärtigen, was mit diesen einzelnen Säulen zusammenhängt. Auf der roten Säule stehen die Worte:

Im reinen Gedanken findest du

Das Selbst, das sich halten kann.

Wandelst zum Bilde du den Gedanken,

Erlebst du die schaffende Weisheit.

Wer darüber meditiert, impft durch die Kraft seines Gedankens seiner roten Blutsäule jene Kraft ein, welche zum Ziele führt: zur Weisheits säule.

Der Lebenssäule impft man die Kraft ein, die sie braucht, wenn man sich hingibt dem Gedanken, der auf der anderen, der blauen Säule steht:

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Verdichtest du das Gefühl zum Licht,

Offenbarst du die formende Kraft.

Verdinglichst du den Willen zum Wesen,

So schaffest du im Weltensein.

Die einen Worte gehen auf das Erkennen, die anderen auf das Leben. Die formende Kraft « offenbart» sich zuerst, im Sinne des ersten Spruches; « magisch» wird sie erst im Sinne des zweiten Spruches. Aufsteigen von der bloßen Erkenntniskraft zum magischen Wirken liegt im Übergang von der Kraft des Spruches auf der ersten Säule zu der des Spruches auf der zweiten.

So sehen Sie, wie mit den Idealen und Zielen des Rosenkreuzerschülers gerade das zusam­menhängt, was diese Symbole, die zwei Säulen bedeuten. In manchen esoterischen Gesellschaf­ten stellt man auch diese zwei Säulen auf. Der Esoteriker wird immer den Sinn damit ver­binden, der ihnen eben beigelegt worden ist.

Die sieben Bilder, die den Saal schmücken, sind symbolische Ausdrücke für ganz bestimmte uralte Weisheiten. Sie stellen die sogenannten sieben Siegel der uralten und immer neuen Weis­heit dar. In der Apokalypse des Johannes ist auch die Rede davon, und auch diese Apokalypse ist eine Art Interpretation einer okkulten Zeichensprache. Wer sie studiert, wird gerade diese Siegel auch in den Visionen des Schreibers der Apokalypse wieder erkennen.

Jeder Buchstabe, jede Farbe der Bilder bedeutet etwas. Wenn wir die Dinge in der richtigen Weise zusammenschauen und den Zusammenhang empfinden, dann werden ganz bestimmte Gefühle ausgelöst, die die Erzeuger von innerer Kraft werden können. Es kommt darauf an, daß wir es hier nicht mit ledernen Allegorien, sondern mit einem lebendigen Ausdruck dessen zu tun haben, was jeder [Eingeweihte] als wirkliche Tatsachen auf dem Astralplan erleben kann.

Das erste Bild ist der Mann mit dem Feuerschwerte im Munde. Dieses Schwert - und auf diesen einen Zug kommt es an - hängt zusammen mit einem Entwickelungsgeheimnis. Die Rede wurde schon immer verglichen mit dem Schwerte. Das ist aber nicht etwa bloß ein poetisches Bild. Im Okkultismus ist alles wörtlich zu fassen. Man muß es nur verstehen.

Es gibt einen gewissen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem, was in unserer Sprache lebt, was durch unseren Kehlkopf in unseren Worten sich äußert, und den heutigen niederen menschlichen Trieben der Fortpflanzung. Die menschliche Gestalt ist in Umwandlung begriffen. Manche können heute schon auf dem Astralplan sehen, was zukünftig physisch vor­handen sein wird. Einen Zustand, den einstmals der Mensch erreichen wird, sieht der Seher in einem solchen Bilde wie dem ersten der sieben. Dieses Bild ist heute ein astrales. Es drückt einen Evolutionszustand des physischen menschlichen Körpers in der Zukunft aus.

Wenn wir uns diesen Zustand vorstellen wollen, so müssen wir es uns so denken, wir müs­sen sagen: Durch seine heutige, niedere Reproduktionskraft übt der Mensch eine Produktion im Unwillkürlichen und Unbewußten aus. Durch den Fortpflanzungstrieb kann er von Stoff erfüllte Formen hervorbringen. Nun gibt es eine andere Kraft im Menschen, die ihn noch nicht befähigt, bleibende Gestalten hervorzubringen: das ist die Kraft seiner Rede. Indem ich hier rede, erzeuge ich auch etwas. Wenn Sie verfolgen, was in diesem Raume geschieht, während ich spreche, so können Sie schwingende Luftwellen verfolgen. Diese sind nichts anderes als in Bewegung umgesetzte Worte: Bewegung. Solche in Bewegung umgesetzten Worte waren in urferner Vergangenheit auch das, was heute in dem Fortpflanzungsleben sich äußert. Was heute kondensiert ist, war, als es noch Geist war, in Bewegung umgesetztes Wort. Was der Mensch heute aus seinem Worte heraus nur als Bewegung tun kann, wird später wahrhaft Reproduktionskraft sein. Denken Sie sich, Sie wären imstande, meine Worte in einem Momente

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zum Erstarren zu bringen, so daß die erstarrten Luftwellen herunterfallen würden, so würden Sie für ein jedes Wort eine besondere Form finden: für «und» eine andere als für «Gott»; eine Muschelform meinetwegen. Wenn ich «Gott» spreche, wären andere Formen da unten, als wenn ich «und» sage. Der Okkultismus zeigt uns, daß alles, was um uns ist an physi­schen Gegenständen, wirklich so entstanden ist. Der Geist des Logos erklang in den Raum hin-ein und die Materie formte sich; das Weitere ist ein Erstarrungsprozeß. Was heute um uns her­um ist, sind geformte Worte, ist kondensiertes Götterwort. Die Kräfte in uns sind kondensierte göttliche Kräfte. Was früher durch das Wort geschaffen worden ist, ist jetzt umgesetzt in natür­liche Formen. So wird im Laufe der Evolution der menschliche Kehlkopf Reproduktionsorgan werden. Wir werden nicht nur Bewegungen erzeugen können, sondern der Kehlkopf wird das wahre Reproduktionsorgan werden. Was heute Sprache ist, wird der Hervorbringer von seines­gleichen werden. Der Kehlkopf ist das zukünftige, in die Geistigkeit hinaufgehobene Repro­duktionsorgan; daher beim Manne jetzt schon die Parallele in der Geschlechtsentwickelung und der Kehlkopfentwickelung. Mit der Umwandiung der Stimme bei der Geschlechtsreife ist hingewiesen auf die schaffende Kraft, die einstmals aus der Stimme des Menschen sich ent­wickeln wird. Es wird aus der Rede entstehen die wahre Reproduktionskraft, die bewußte Her­vorbringungskraft des Menschen. Und wie Sie wissen, daß wir denjenigen Geistern, die unsere Vorfahren waren, den Namen Feuergeister geben, weil sie mit dem Feuer so in Zusammen­hang waren, wie wir mit der Luft, so werden wir beim Aufstieg wiederum von einem Luft-geiste zu einem Feuergeiste uns entwickeln. Aus dem Kehlkopf wird nicht nur die eine Kraft strömen, sondern auch die Heuergeister-Kraft.

Das sehen Sie ausgedrückt auf dem ersten Bild, in dem feurigen Schwerte desjenigen, der darstellt die ewige, durch alle Inkarnationen hindurchgehende Wesenheit des Menschen. Dieses Ewige im Menschen ist zu gleicher Zeit das göttlich Schaffende. Es ist wahr, daß das, was in uns als ewige Wesenheit durch die Inkarnationen hindurchgeht, von gleicher Art ist wie das, was geschaffen hat die siebenfache Planetenreihe. Daher hält der Mann in seiner Rechten die Symbole der sieben Planeten.

Das zweite Bild stellt die sogenannten apokalyptischen Tiere dar: den Löwen, Adler, Stier und Menschen. Wir bekommen einen Begriff von ihnen, wenn wir uns daran erinnern, daß das Tier heute nicht eine solche Ich-Seele hat wie wir. Das Tier hat seine Ich-Seele nicht auf dem physischen Plane; es verhält sich das einzelne Tier zu dem Ich einer Gruppe wie ein Glied des Menschen zum ganzen Ich. Daher sprechen wir von Gruppenseelen beim Tier, und wenn Sie diesen Gruppenseelen nachforschen, so finden Sie sie auf dem Astralplane. Nun wird jeder-mann klarsein, daß auch der Mensch in seiner Evolution Zustände durchgemacht hat, wo das, was auf dem physischen Plane war, noch nicht die Ich-Seele hatte. Es ging auch der Mensch durch Zustände hindurch, wo er eine Gruppenseele hatte. In demselben Zeitpunkt - den man den lemurischen nennt -, wo die Seele herabgestiegen ist in die physische Körperlichkeit, hat sich die Gruppenseele verwandelt in die Individualseele. In ferner Zukunft wird sich der Mensch wiederum zum Zustand der Gruppenseele erheben, nur bewußt, in höherem Sinne. Das Symbolum für jene höhere Gruppenseele ist das zweite Bild. Die Einheit in ferner Zukunft ist dargestellt durch die äußeren Gestalten jener Gruppenseelen, die die Menschheit früher hatte. Diese Gruppenseelen, aus denen die menschliche Individualseele hervorgegangen ist und zu denen sie wiederum zurückkehren wird, teilen sich in vier typische Gruppen. Das sind vier wirkliche astralische Gruppen. Die eine ist charakterisiert durch die Gruppenseele, wie sie sich heute noch verkörpert in Rudimenten von der Stierseele; die andere, wie sie sich entwickelt in der Löwenseele; die dritte wie in der Vogelseele; die Seele, die den Menschen aber heraufhob,

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hineingehen ließ in die Individualität, bezeichnet man als den Menschen. Aus diesen vier Gruppenseelen ist der Mensch hervorgegangen, in sie wird er wieder zurückkehren. Die Grup­penseele, die die vorgeschrittenste ist, die bereits auf dem Astralplan als Menschenseele indi­vidualisiert ist, sehen wir auf dem Symbol in der Mitte. Es ist die christus-Seele, symbolisiert durch das Lamm. Es ergänzt die vier anderen Gruppenseelen.

Dann sehen Sie hier im Regenbogen, der das Ganze in den sieben Farben umgibt, das schöp­ferische Weltenprinzip in einer zweiten Gestalt. Es ist das siebenfache schöpferische Prinzip, das dem inneren, menschlichen Evolutionsgang wirksam zugrunde lag, als der Mensch noch auf jener Stufe stand. Und bezüglich der Ziffern 1 bis XII, die wie die Ziffern der Uhr auf den Farben des Regenbogens zu lesen sind, müssen wir uns erinnern, daß einstmals Erde, Mond und Sonne ein Körper waren.

Mit dieser Einheit hängen solche Zustände zusammen, wie sie hier abgebildet sind. Da war diese Form der kosmischen Ordnung notwendig, damit der Mensch Gruppenseele sein konnte. Unsere gegenwärtige Zeiteinteilung hängt mit der Stellung der Weltenkörper zusammen. In jener urfernen Vergangenheit, als noch nicht eine Erde um die Sonne kreiste, mußten alle Zeit-verhältnisse andere sein. Damals gab es nicht Tag und Stunde. Die Sonne selbst machte ihren Weg, und es gab ein großes kosmisches Ziffernblatt. Dieses stellte die Orte dar, welche die Sonne passierte. Der Stundenzeiger auf unseren Uhren passiert die Uhr zweimal des Tages; so durchschritt in jener alten kosmischen Zeitrechnung die Sonne auch nicht einmal den Tierkreis, sondern zweimal, durch eine Zeit der Helligkeit und der Verdunkelung. Dieses zweifache Pas­sieren, das zweifache Hindurchgehen durch diese Stationen, nennt man das Vorübergehen an den älteren Brüdern der kosmischen Ordnung. Es sind die vierundzwanzig Ältesten der Apokalypse. Daher ist eine Art Weltenuhr angeordnet.

Sehen wir auf eine ferne Zukunft, so sehen Sie im sechsten Bild kosmische, zukünftige Zu­stande ausgedrückt, wo der Mensch wiederum in seiner äußeren Gestalt gestiegen sein wird; wir sehen, daß Erde und Sonne vereinigt sein werden und was ausgeschieden wird, als Mond-körper ausgeschieden sein wird. Erinnern Sie sich daran, daß Goethe das Höchste, was die Seele erstreben kann, das Ewig-Weibliche nennt. Was in der menschlichen Natur die unbrauchbaren Stoffe überwindet, wird als weiblich bezeichnet. Wenn die Erde mit der Sonne sich vereinigt haben wird, dann wird der Mensch selbst das Sonnenweib sein; der Mensch wird die Vereini­gung geschaffen haben. Der unbrauchbare Stoff ist als der Mond dargestellt, der mit Füßen getreten wird. Was heraus muß, wenn die Erde wieder Sonne sein wird, ist dargestellt durch das Drachentier. Es wird überwunden sein, wenn die Erde wieder Sonne sein wird.

Das dritte Bild zeigt ein geöffnetes Buch, umgeben von Schalen und posaunenblasenden Engeln, umgeben von flutendem Licht und Farben.

Die posaunenden Engel drücken die Sphärenharmonie aus. Wenn man aufsteigt von dem Astralplan zu dem Devachanplan, dann hat man das Erlebnis, daß die flutende Licht- und Har­benwelt des Astralplanes durchzogen wird von der Sphärenharmonie. Indem dasjenige, was man sehen kann innerhalb des Astralplanes als flutendes Licht und als Farbe, zu klingen anfängt, er­weist es sich als Ausdruck der Wesenheit des Mentalplanes. Die pythagoräische Schule bezeich­nete diese Harmonie als Sphärenmusik. Auch Goethe spricht von ihr, wenn er sagt: « Die Sonne tönt nach alter Weise...» und «Tönend wird für Geistesohren schon der neue Tag geboren! »

Die Schalen bedeuten die sogenannten Schalen des Zornes, das heißt, daß der Mensch den Geist erreicht haben wird, der überwunden, umgestaltet hat, was man Zorn nennt. Ausgeschie­den muß sein alles Zornige; daher werden die Schalen des Zorns ausgegossen.

Das Buch soll nichts anderes andeuten, als daß der Mensch selbst in seiner Entwickelung -

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wenn wir seine Geheimnisse richtig zu lösen verstehen - ein Abbild darstellt der ewigen Weltenevolution. Erkennt er dies, daß der Mensch ein Bild der Weltenevolution ist, dann kann er sich selbst lesen, er ist sich selbst ein Buch geworden. Dann tritt der Moment ein, von dem es in der Apokalypse heißt, daß Johannes das Buch verschlingen muß. Das führt das nächste Siegel weiter aus.

Die zwei Säulen des vierten Bildes stellen den sich verschlingenden roten und blauen Blut-baum dar. Die Wolke ist die heutige Luft, die der Kehlkopf nur beherrscht. Daraus entsteht künftig die ins Feste hineinschaffende Produktionskraft des Menschen. Über den beiden Blut-säulen wird sich herausgestalten der initiierte Mensch, der das Buch verschlungen hat. Und der Mensch erzeugt in sich die Kraft, die die Erde in die Sonne verwandeln wird. Diese Kraft wird charakterisiert in dem Gesichte, das aus der Sonne herausgeboren ist. Wenn der Mensch auf solcher Stufe angelangt ist, ist sein Schauen ein Schauen in die astrale Welt hinein. Das wird Ihnen in jenem Regenbogen über dem Sonnengesicht angedeutet. Dieser Regenbogen deutet die Kraft an, die der Mensch sich angeeignet haben wird, wenn er selbst kosmisch schaffendes Wesen sein wird.

Auf dem fünften Bilde haben wir ein Wesen, das den Drachen überwindet. Das ist der zu-künftige Mensch, der das sogenannte Niedere vollständig gefesselt haben wird. Das hängt zu­sammen mit kosmischen Zuständen, die eben dann eintreten, wenn das, was man Kama nennt, unter die Füße getreten ist.

Der Zustand, der eintritt, wenn dies geschehen sein wird, ist symbolisiert im Heiligen Gral des letzten Bildes. Der durchsichtige Würfel unten stellt dar einen durchsichtigen Diamant-würfel, der aus reinem Kohlenstoff besteht. Wenn der Mensch so weit sein wird, daß er den Kohlenstoff selbst zum Leib-Aufbau verwenden wird - ohne Mitwirkung der Pflanze -, dann wird er den Würfel erzeugen. Dieser Würfel aus kristallisiertem reinem Kohlenstoff ist die beste Hindeutung auf jenen zukünftigen Zustand des Menschen. Da wird der Mensch so weit sein, daß er nicht nur erkennen wird die drei Dimensionen, sondern auch die entgegenkommenden Kontra-Dimensionen: daher kommen im Spiegelbilde den drei Dimensionen die drei anderen entgegen. Diese Kontra-Dimensionen stellen dar, was der Mensch einstmals, wenn er das Physische im Geiste überwunden hat, erreichen wird. Die Schlangen bedeuten das Hinauf-entwickeln zum Höheren. Es ist das in dem Siegel in violett-bläulichen Windungen als ein Lichtbild angedeutet. Dieses Lichtbild der Schlange bedeutet die hingebungsvolle Natur der Erkenntnis. Nur diese hingebungsvolle Natur darf erfassen die Weltenspirale im Merkurstab, die dann feurig sein wird, die sich herauswindet aus der reinen Erkenntnis. Dann wandelt sie sich um zu dem nach abwärts gewendeten reinen Kelch. Der Pflanzenkelch ist heute keusch, frei nach oben gerichtet; beim Menschen ist es umgekehrt. Aber der Menschenkelch wird wiederum keusch sein, wird sich nach abwärts wenden - daher ist der Gral hier dargestellt als ein nach abwärts gewendeter Kelch. Der reine Mensch, der unschuldig gewordene Mensch ist dargestellt in der Taube. Der Regenbogen deutet den siebenfältig-schaffenden Menschen an.

So ist in den sieben Siegeln die ganze Menschheitsentwickelung angedeutet. Durch Betrach­tung solcher Bilder sollen Empfindungen erzeugt werden, die wir erringen müssen und die selbst wirksame Evolutionsmomente darstellen.

Das Programmbuch ist umschrieben mit der Signatur der Rosenkreuzerschule: E.D. N. 1. C. M. P.S. S. R. Das heißt:

Ex deo nascimur

In Christo morimur

Per spiritum sanctum reviviscimus.

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In den sieben Siegeln sind Initiations geheimnisse ausgedrückt; in den sieben Säulen sind sie planetarisch ausgedrückt. Diese Säulen tragen den Himmel, das ist: die ganze Entwickelung. Die Kapitälmotive haben in allen ihren einzelnen Zügen ihre ganz bestimmte Bedeutung. Wenn Sie plastisch empfinden, wie sich das Obere zum Unteren neigt, so werden Gefühle in Ihnen ausgelöst, die von den Strömungen Bescheid geben in den betreffenden Zuständen dieser Weltenkörper. Die Motive der ersten Säule haben einfache Neigungen und Krümmungen. Durch ihre Betrachtung wird ein Empfinden hervorgerufen derjenigen Strömungen, welche die Erde durchzogen, als sie in ihrem ersten Zustand, den man Saturnzustand nennt, verkör­pert war. Daher ist das die Saturnsäule.

Wenn Sie den Fortgang in der Gliederung der Motive empfinden bei der Betrachtung der zweiten Säule - das Untere gliedert sich wie der Fruchtknoten einer Pflanze, und von oben herab gliedert es sich so herunter, daß es zum Kelch werden kann -, so lösen sich in Ihnen Gefühle aus, die den Strömungen entsprechen, welche den Erdkörper durchzogen, als er sich im Sonnenzustand befand. Darum sprechen wir hier von der Sonnensäule. Und so ist es bei der Betrachtung der dritten, vierten und weiteren Säulen. Wenn man von einer zur anderen übergeht, entwickeln sich immer wieder andere Gefühlsströmungen.

Die erste Hälfte der Erdentwickelung hat ihre besondere Eigentümlichkeit von dem Einfluß des Mars. Jetzt, in der zweiten Hälfte, steht sie unter dem Einfluß der Kraft, die der Okkultist vom Merkur ausgehen sieht. Die Erdentwickelung wird darum in die beiden Hälften Mars und Merkur geteilt. Wenn wir nun den Vulkanzustand als eine Art Oktave des Saturnzustandes weglassen, so ergibt sich folgende Reihe der Zustände in der Erdentwickelung: Saturn, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus.

Bei der Merkursäule ist das Saturnmotiv in das Merkurmotiv hineinverwoben. Der Schlangenstab geht organisch hervor aus dem Vorhergehenden. Er entwickelt sich weiter. Und was an Erdströmungen bei der weiteren Fortentwickelung entsteht, das empfinden wir bei der Vertiefung in die weiteren Kapitälmotive. Beim letzten haben wir wieder die Kelchform.

Das Geheimnis der sieben planetarischen Zustände unserer Erde wurde in die Benennungen der sieben Wochentage hineingelegt. Sie heißen: Saturntag: Saturday, Samedi, Samstag; Sonn­tag; Montag, Monday; Marstag: Mardi oder Ziu, Tuesday, Dienstag; Merkurstag: Mercredi (Mittwoch ist ein profaner Name); Jupiterstag: Jeudi, Thor, Donar, Thursday, Donnerstag; Venustag: Vendredi, Freya, Freitag. Tief symbolisch sind die Namen der Wochentage. In ihrer Aufeinanderfolge sehen wir etwas, wodurch die Eingeweihten sagen wollten: Denkt daran, daß ihr hineingestellt worden seid in die lebendige Evolution der Zeit. - So lehrt uns das Höchste das Allernächste verstehen, das man in der unmittelbaren Umgebung hat.

Der Gedanke der Evolution der Menschheit sollte in den Säulen angedeutet sein. Er ist so ausgedrückt, wie er immer in der okkulten Zeichensprache ausgedrückt worden ist. Die Stätten des Okkultismus waren symbolisch gegliedert und ausgestaltet. In der Form, im Bilde, in der Farbe sollte man schauen, was in der Seele lebt. Von Außen her soll uns entgegenglänzen, was in der Seele lebt, dann hat man im Sinne der Weltentwickelung gearbeitet. Daß wir an diese große Evolution selbstlos denken müssen, das ist vor allem unsere Aufgabe. Sie wird erfüllt, wenn wir ganz und gar das Innenleben einfließen lassen in das Äußere.

BERICHT ÜBER DEN KONGRESS IM BERLINER ZWEIG Vor dem Vortrag am 12. Juni 1907 in Berlin

#G284-1977-SE071 Bilder okkulter siegel und Säulen

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BERICHT ÜBER DEN KONGRESS IM BERLINER ZWEIG

Vor dem Vortrag am 12. Juni 1907 in Berlin

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Der Münchner Kongreß, der der vierte ist - nach Amsterdam, London und Paris -, sollte in einer gewissen Beziehung eine Etappe sein in der Entwickelung unserer theosophlschen Bewe­gung. Er wird eine Art Verbindung zwischen den verschiedenen Nationen herstellen auch in bezug auf unsere theosophische Sache innerhalb Europas. Nicht einen eigentlichen Bericht über den Kongreß will ich heute geben, sondern nur ein paar Bemerkungen für diejenigen, welche nicht daran teilnehmen konnten.

Er sollte eines zeigen, was ja immer und immer wieder von mir betont worden ist in bezug auf unsere theosophische Sache - er sollte zeigen, daß Theosophie nicht nur Gegenstand per­söniichen Brütens und In-sich-Hineinlebens sein soll. Die theosophische Sache soll ins prak­tische Leben eingreifen, soll eine Sache der Bildung sein, eine Sache des Sich-Einlebens in alle Zweige des praktischen Daseins. Nur wer ein tieferes Verständnis und einen tieferen Begriff von den eigentlichen Impulsen der theosophischen Sache hat, weiß schon heute, welche Mög­lichkeiten diese Theosophie in der Zukunft bieten wird. Sie wird der Einklang sein zwischen dem, was wir sehen und schauen und innerlich fühlen. Für den, der tiefer schauen kann, liegt ein wichtiger Grund für die Zerfahrenheit der Menschen in der Disharmonie zwischen dem, was ist, und dem, was die Theosophie will. Nicht bloß Theosophen haben das empfiinden, sondern auch andere bedeutende Naturen, wie zum Beispiel Richard Wagner.

In früherer Zeit war jedes Türschloß, jedes Haus, jedes Gebilde ein Gebilde der Seele. Seelenstoff war da eingeflos sen. In den alten Zeiten gehörte das Kunstwerk zum menschlichen Fühlen und Denken. Die Formen der gotischen Kirchen waren in alten Zeiten entsprechend der Stimmung derer, die zu den Kirchen pilgerten. Sie waren der Ausdruck von deren eigener Seelenstimmung. Der zu der Kirche Pilgernde empfand damals die Formen wie ein Händefalten, so wie der alte Germane in dem Zusammenfalten der Bäume ein Händefalten empfand. Alles war in jenen Zeiten den Menschen vertrauter. Das sehen Sie noch bei Mirhelangelo und Leo­nardo da Vinci wundervoll ausgedrückt. Das Zusammenstehen des ganzen Dörfchens um die Kirche war nichts anderes als der Ausdruck seines ganzen Seelenlebens. Die ganzen Äther-Ströme sammelten sich an dem Platze, wo die Kirche stand. Das materialistische Zeitalter hat das alles zerklüftet. Die, welche das Leben nicht betrachten können, wissen das nicht. Der Seher aber weiß, daß es heute, wenn man durch eine Stadt geht, fast nichts zu sehen gibt als Dinge, die den Magen oder die Putzsucht angehen. Wer die geheimen Lebensfäden zu verfolgen versteht, der weiß auch, was die materialistische Kultur zu dieser Zerklüftung gebracht hat.

Eine Gesundung der Außenwelt kann dadurch entstehen, daß sie ein Ausdruck dessen wird, was unsere innersten Seelenstimmungen sind. Nicht zum Vollkommensten kann man gleich greifen, aber ein Beispiel dafür wurde in München gegeben. Die theosophische Weltanschau­ung wurde in dem Raum zum Ausdruck gebracht. Man sah da nichts als Theosophisches. Der ganze Saal war in Rot gehalten. Es besteht zwar häufig ein großer Irrtum in bezug auf die rote Farbe, aber das Rot ist in seiner tieferen Bedeutung nicht zu verkennen.

Die Entwickelung der Menschheit ist ein Auf- und Absteigen. Sehen Sie sich die ursprüng­lichen Völker an. Grün haben sie in der Natur. Und was lieben sie am meisten? Rot. Der Okkultist weiß, daß das Rot eine besondere Wirkung auf die gesunde Seele hat. Es löst in der gesunden Seele die aktiven Kräfte aus, diejenigen Kräfte, welche zur Tat anspornen, diejenigen

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Kräfte, welche die Seele aus der Bequemlichkeit in die Unbequemlichkeit des Tuns versetzen sollen. Ein Raum mit Feiertagsstimmung muß rot austapeziert sein. Wer ein Wohnzimmer rot austapeziert, der zeigt, daß er keine Feiertagsstimmung mehr kennt und die rote Farbe profa­niert. Goethe hat über solche Dinge die schönsten Worte gesagt, die es gibt: «Die Wirkung dieser Farbe ist so einzig wie ihre Natur. Sie gibt einen Eindruck sowohl von Ernst und Würde als von Huld und Anmut. Jenes leistet sie in ihrem dunklen, verdichteten, dieses in ihrem hellen, verdünnten Zustande. Und so kann sich die Würde des Alters und die Liebenswürdigkeit der Jugend in eine Farbe kleiden.»

Das sind die Stimmungen, die durch das Rot ausgelöst werden; Stimmungen, die man auf okkultem Wege nachweisen kann. Schaut Euch die Landschaft durch ein rotes Gks an und Ihr habt den Eindruck: so muß es aussehen am Tage des Gerichts. Rot macht froh darüber, was der Mensch in der Fortentwickelung vollbracht hat. Rot ist Feind gegen retardierende Stimmungen, gegen Sündenstimmungen.

Dann gab es da sieben Säulenmotive für die Zeit, in welcher der Theosophie auch einmal Gebäude gebaut werden können. Die Motive der Säulen sind aus den Lehren der Eingeweihten herausgeholt, aus uralten Zeiten. Die Theosophie wird die Möglichkeit haben, wirklich neue Säulenmotive der Architektonik zu geben. Die alten Säulen sagen eigentlich dem Menschen schon längst nichts mehr. Die neuen haben Bezug auf Saturn, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus. Die Gesetzmäßigkeit drückte sich in den Kapitellen aus. Zwischen den Säulen hatten wir angebracht die sieben apokalyptischen Siegel in Rosenkreuzerart. Das Gralssiegel ist zum ersten Male vor der Öffentlichkeit erschienen.

Die Theosophie kann man auch bauen: man kann sie bauen in der Architektonik, in der Erziehung und in der sozialen Frage. Das Prinzip des Rosenkreuzertums ist, den Geist in die Welt einzuführen, fruchtbare Arbeit für die Seele zu leisten. Es wird auch gelingen, die Kunst zu einer Mysterienkunst zu erheben, nach der Richard Wagner eine so große Sehnsucht hatte. Ein Versuch ist gemacht in Edouard Schurés Mysteriendrama. Hier hat Edouard Schuré ver­sucht, den griechischen Mysterienspielen nachzuarbeiten.

Das Programm zeigte die feiertägige Farbe Rot und trug ein schwarzes Kreuz mit Rosen umwunden im blauen Felde. Das Rosenkreuzertum leitet das, was das Christentum gegeben hat, in die Zukunft weiter. Die Anfangsbuchstaben auf dem Programm geben die Grund-gedanken wieder.

Was dem Ganzen zugrunde lag, war die Absicht, die Theosophie einzukristallisieren in den Aufbau der Welt.

DIE APOKALYPTISCHEN SIEGEL Vortrag am 16. September 1907 in Stuttgart

#G284-1977-SE073 Bilder okkulter siegel und Säulen

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DIE APOKALYPTISCHEN SIEGEL

Vortrag am 16. September 1907 in Stuttgart

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Das bedeutsamste der Symbole und Sinnbilder, das wir überhaupt haben und das als solches von allen Okkultisten aller Zeiten anerkannt worden ist, das ist der Mensch selbst. Der Mensch wurde und wird immer genannt ein Mikrokosmos, eine kleine Welt. Und das mit Recht, denn wer den Menschen genau und intim kennenlernt, wird sich immer mehr darüber klar, daß in ihm in einer, man könnte sagen, Verkleinerung alles, alles enthalten ist, was in der übrigen Natur draußen ausgebreitet ist. Das ist zunächst vielleicht schwer zu verstehen, aber wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie begreifen, was damit gemeint ist: Es finden sich im Menschen, als eine Art Extrakt, Auszug aus der übrigen Natur, alle Stoffe und Kräfte. Wenn Sie irgend­eine Pflanze hinsichtlich ihrer Wesenheit studieren und nur genügend tief forschen können, werden Sie finden, daß im Menschenorganismus etwas von dieser selben Wesenheit enthalten ist, wenn auch in noch so kleinem Maße. Und wenn Sie ein Tier draußen nehmen: immer wer­den Sie im menschlichen Organismus etwas nachweisen können, was sich seiner Wesenheit nach ausnimmt wie etwas, das in einer gewissen Art in den menschlichen Organismus herein­genommen ist.

Es ist freillch notwendig, die Entwickelung der Welt vom okkulten Standpunkt aus zu betrachten, um das recht zu verstehen. So zum Beispiel weiß der Okkultist, daß der Mensch kein so geartetes Herz hätte, wie er es heute hat, wenn es nicht draußen in der Natur einen Löwen gäbe. Wir wollen uns einmal in eine frühere Zeit versetzen, wo es noch keine Löwen gab. Menschen gab es damals schon, denn der Mensch ist das älteste Wesen, aber sie hatten damals ein ganz anders gestaltetes Herz. Nun gibt es in der Natur überall Zusammenhänge, die allerdings nicht immer auf der Hand liegen. Als der Mensch einst in urfernen Zeiten sein Herz heraufentwickelt hat zu der heutigen Gestalt, ist damals der Löwe entstanden: dieselben Kräfte haben beides geformt. Es ist, als ob Sie die Wesenheit des Löwen extrahieren würden und mit göttlicher Kunstfertigkeit das Herz daraus formten. Vielleicht meinen Sie, daß das Menschenherz nichts Löwenartiges habe, aber für den Okkultisten ist das doch der Fall. Sie dürfen nicht vergessen, daß, wenn ein Ding in einen Zusammenhang, in einen Organismus hineingestellt wird, es ganz anders wirkt, als wenn es frei ist. Man kann auch umgekehrt sagen:

Wenn Sie die Essenz des Herzens herausziehen könnten und nun ein Wesen gestalten wollten, das diesem Herzen entspräche, wenn es nicht von den Kräften des Organismus bestimmt würde, dann hätten Sie den Löwen. Alle Eigenschaften des Mutes, der Kühnheit oder, wie der Okkul­tist sagt, die «königlichen» Eigenschaften des Menschen rühren von dem Zusammenhange mit dem Löwen her, und Plato> der ein Eingeweihter war, hat die königliche Seele in das Herz verlegt.

Für diesen Zusammenhang des Menschen mit der Natur hat Paracelsus einen sehr schönen Vergleich gebraucht. Er sagt: Es ist, als ob die einzelnen Wesen in der Natur die Buchstaben wären, der Mensch aber das Wort, das aus diesen Buchstaben zusammengesetzt ist. Draußen die große Welt: der Makrokosmos, in uns die kleine Welt: der Mikrokosmos. Draußen existiert jedes für sich, im Menschen ist es durch die Harmonie bestimmt, in die es hineingestellt ist mit den anderen Organen. Und gerade deshalb können wir im Menschen die Entwickelung unseres ganzen Weltalls, sofern es zu uns gehört, veranschaulichen.

Ein Bild dieser Entwickelung des Menschen im Zusammenhange mit der Welt, der er zugehört,

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haben Sie in den Siegeln, welche während der Kongreßtage in München im Festsaale aufgehängt waren. Sehen wir, was sie darstellen!

Das erste zeigt einen Menschen mit weißen Kleidern angetan, seine Füße wie Metall, wie Erzfluß; aus seinem Munde ragt ein feuriges Schwert hervor; seine Rechte ist umgeben von den Zeichen unseres Planeten: Saturn, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus. Wer die Apo­kalypse des Johannes kennt, wird sich erinnern, daß dort eine ziemlich übereinstimmende Beschreibung dieses Bildes zu finden ist, denn Johannes war ein Eingeweihter. Dieses Siegel stellt nämlich, man könnte sagen, die Idee der ganzen Menschheit dar. Wir werden das begrei­fen, wenn wir an einige Vorstellungen erinnern, die den Älteren hier schon bekannt sind.

Wenn wir in der Menschenentwickelung zurückgehen, gelangen wir in eine Zeit, wo sich der Mensch noch auf einer sehr unvollkommenen Stafe befand. So zum Beispiel hatte er noch nicht das, was Sie heute auf Ihren Schultern tragen: den Kopf. Es würde recht grotesk klingen, wenn man den damaligen Menschen beschreiben würde. Der Kopf hat sich nämlich erst nach und nach entwickelt und wird sich immer weiter entwickeln. Es gibt heute im Menschen Organe, die sozusagen an ihrem Abschluß angelangt sind; sie werden später nicht mehr im Menschenleib sein. Andere gibt es, die werden sich umbilden, so unser Kehlkopf, der eine gewaltige Zukunft hat, freilich im Zusammenhange mit unserem Herzen. Heute ist der Kehl­kopf des Menschen erst im Beginne seiner Entwickelung, er wird dereinst das in das Geistige umgewandelte Fortpflanzungsorgan sein. Sie werden eine Vorstellung von diesem Mysterium bekommen, wenn Sie sich klarmachen, was heute der Mensch mit seinem Kehlkopf bewirkt. Indem ich hier spreche, hören Sie meine Worte: Dadurch, daß dieser Saal von Luft erfüllt ist und in dieser Luft gewisse Schwingungen hervorgerufen werden, werden Ihnen meine Worte zu Ihrem Ohr, zu Ihrer Seele übertragen. Wenn ich ein Wort ausspreche, zum Beispiel «Welt», schwingen Wellen der Luft - das sind Verkörperungen meiner Worte. Das, was der Mensch heute so hervorbringt, nennt man das Hervorbringen im mineralischen Reiche. Die Bewegun­gen der Luft sind mineralische Bewegungen; durch den Kehlkopf wirkt der Mensch mineralisch auf seine Umgebung. Aber der Mensch wird aufsteigen und einst pflanzlich wirken; nicht nur mineralische, sondern auch pflanzliche Schwingungen wird er alsdann hervorrufen. Er wird Pflanzen sprechen. Die nächste Stufe wird dann sein, daß er empfindende Wesen spricht; und auf der höchsten Stufe der Entwickelung wird er durch seinen Kehlkopf seinesgleichen hervor­rufen. Wie er jetzt nur den Inhalt seiner Seele durch das Wort aussprechen kann, wird er dann sich selbst aussprechen. Und wie der Mensch in der Zukunft Wesen sprechen wird, so waren die Vorgänger der Menschheit, die Götter, mit einem Organ begabt, mit dem sie alle Dinge aussprachen, die heute da sind. Sie haben alle Menschen, alle Tiere und alles andere ausgespro­chen. Sie alle sind ausgesprochene Götterworte im wörtlichen Sinne.

«Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und ein Gott war das Wort!» Das ist nicht ein philosophisches Wort im spekulativen Sinne - eine Urtatsache hat Johannes hin-gestellt, die ganz wörtlich zu nehmen ist.

Und am Ende wird das Wort sein, und die Schöpfung ist eine Verwirklichung des Wortes; und was der Mensch in der Zukunft hervorbringen wird, wird eine Verwirklichung dessen sein, was heute Wort ist. Dann aber wird der Mensch nicht mehr solche physische Gestalt haben wie heute; er wird bis zu jener Gestalt vorgeschritten sein, die auf dem Saturn war, bis zur Feuermaterie.

Diejenige Wesenheit, welche alles hinausgesprochen hat in die Welt, was heute darinnen ist, sie ist das große Vorbild der Menschen. Sie hat hinausgesprochen in die Welt den Saturn, die Sonne, den Mond, die Erde - in ihren beiden Hälften Mars-Merkur -, den Jupiter, die Venus.

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Das deuten die sieben Sterne an; sie sind ein Zeichen dafür, bis zu welcher Höhe der Mensch sich entwickeln kann. In der Feuermaterie wird der Planet am Ende wieder sein; und der Mensch wird in dieser Feuermaterie schöpferisch sprechen können: das ist das feurige Schwert, das aus seinem Munde ragt. Alles wird feurig sein, daher die Füße von flüssigem Erz.

Wenn Sie den heutigen Menschen mit dem Tiere vergleichen, dann stellt sich der Unter­schied so dar, daß man sagen muß: der Mensch hat als Einzelner in sich, was das einzelne Tier nicht in sich hat. Der Mensch hat eine Individualseele, das Tier eine Gruppenseele. Der einzelne Mensch ist für sich eine ganze Tiergattung. Alle Löwen zum Beispiel haben zusammen nur eine Seele. Diese Gruppen-Iche sind gerade so wie das Menschen-Ich, nur sind sie nicht hinab-gestiegen bis in die physische Welt; sie sind nur in der astralischen Welt zu finden. Hier auf der Erde sehen Sie physische Menschen, von denen jeder sein Ich trägt. In der astralischen Welt begegnen Sie in Astralmaterie ebensolchen Wesen, wie Sie selber sind, nur nicht in phy­sischer, sondern in astralischer Hülle. Sie können mit ihnen reden wie mit Ihresgleichen - das sind die tierischen Gruppenseelen.

Auch der Mensch hatte in früheren Zeiten eine Gruppenseele, nach und nach erst hat er sich zu seiner heutigen Selbständigkeit entwickelt. Diese Gruppenseelen waren ursprünglich in der astralischen Welt und sind dann heruntergestiegen, um im Fleische zu wohnen. Wenn man nun in der astralischen Welt die ursprünglichen Gruppenseelen des Menschen untersucht, so findet man vier Gattungen, von denen der Mensch ausgegangen ist. Wollte man diese vier Arten vergleichen mit den Gruppenseelen, die zu den heutigen Tiergattungen gehören, dann müßte man sagen: eine von diesen vier Arten läßt sich mit dem Löwen vergleichen, eine andere mit dem Adler, eine dritte mit dem Rinde und die vierte mit dem Menschen der Vorzeit, bevor sein Ich heruntergestiegen ist. So wird uns in dem zweiten Bilde in den apokalyptischen Tieren, dem Löwen, dem Adler, der Kuh und dem Menschen, ein früherer Entwickelungszustand der Menschheit dargestellt. Dann aber gibt es und wird es geben, solange die Erde sein wird, eine Gruppenseele für die höhere Offenbarung des Menschen, die durch das Lamm dargestellt wird, durch das mystische Lamm, das Zeichen für den Erlöser. Diese Gruppierung der fünf Gruppen-seelen: die vier des Menschen um die große Gruppenseele, die noch allen Menschen gemein­schaftlich gehört - das stellt das zweite Bild dar.

Wenn wir die Menschenentwickelung weit, weit zurückverfolgen, so daß wir viele Millionen von Jahren zu Hilfe rufen müssen, dann tritt uns noch ein anderes entgegen. Jetzt ist der Mensch physisch auf der Erde; aber es gab eine Zeit, wo das, was hier auf Erden umherwan­delte, noch nicht eine menschliche Seele hätte aufnehmen können. Da war diese Seele auf dem astralischen Plan. Und weiter zurück kommen wir zu einer Zeit, wo sie auf dem geistigen Plane, im Devachan war. Sie wird in der Zukunft wieder hinaufsteigen auf diese hohe Stufe, wenn sie sich auf der Erde gereinigt haben wird. Vom Geiste durch das Astralische, das Phy­sische und wieder hinauf zum Geiste: das ist eine lange Entwickelung des Menschen. Und doch erscheint sie wie eine kurze Frist, wenn wir sie vergleichen mit der Entwickelungszeit, die der Mensch auf dem Saturn und den anderen Planeten durchgemacht hat. Da ging der Mensch nicht nur durch physische Verwandiungen hindurch, sondern durch geistige, astralische und physische. Und will man diese verfolgen, dann muß man bis in die geistigen Welten hinauf­gehen. Dort vernimmt man die Sphärenmusik, Töne, die in dieser geistigen Welt durch den Raum fluten. Und wenn der Mensch sich wieder hineinleben wird in diese geistige Welt, dann wird ihm diese Sphärenharmonie entgegenklingen. Man nennt sie im Okkulten die Posaunen­töne der Engel. Daher auf dem dritten Bilde die Posaunen. Aus der geistigen Welt kommen die Offenbarungen, die sich ihm aber erst enthüllen, wenn der Mensch immer weiter vorschreitet.

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Dann wird ihm geoffenbart werden jenes Buch mit den sieben Siegeln. Diese Siegel sind gerade das, was wir hier betrachten; diese werden sich enträtseln. Daher das Buch in der Mitte und unten vier Phasen der Menschheit; denn die vier Pferde sind nichts anderes, als Entwicke­lungsstadien der Menschheit durch die Zeiten hindurch.

Aber es gibt noch eine höhere Entwickelung. Der Mensch stammt aus noch höheren Welten, und er wird zu diesen höheren Welten wieder hinaufsteigen. Und seine Gestalt, wie sie der Mensch heute hat, wird in die Welt dann verschwunden sein. Was heute draußen in der Welt ist - die einzelnen Buchstaben, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist -, das alles wird er dann wiederaufgenommen haben: seine Gestalt wird sich identifiziert haben mit der Welten-gestalt. In einer gewissen trivialen Darstellung der Theosophie lehrt man und redet davon, daß man den Gott in sich selbst suchen solle. Aber wer den Gott finden will, muß ihn in den Werken suchen, die ausgebreitet sind im Weltall. Nichts in der Welt ist bloß Materie - das ist nur scheinbar -, in Wirklichkeit ist alle Materie der Ausdruck von Geistigkeit, eine Kund­schaft von der Wirksamkeit Gottes. Und der Mensch wird sein Wesen gleichsam ausdehnen im Laufe kommender Zeiten; mehr und mehr wird er sich identifizieren mit der Welt, so daß man ihn darstellen kann, indem man statt der Menschengestalt die Gestalt des Kosmos setzt. Das sehen Sie auf dem vierten Siegel mit dem Felsen, dem Meer und den Säulen. Das was heute als Wolken die Welt durchzieht, wird seine Materie dazu hergeben, um den Leib des Menschen zu gestalten. Die Kräfte, die heute bei den Geistern der Sonne sind, werden in der Zukunft dem Menschen dasjenige liefern, was in einer unendlich viel höheren Art seine geistigen Kräfte ausbilden wird. Diese Sonnenkraft ist es, zu welcher der Mensch hinstrebt. Im Gegensatz zu der Pflanze, die ihren Kopf, die Wurzel, zum Mittelpunkt der Erde hinsenkt, wendet er seinen Kopf der Sonne zu; und er wird ihn vereinigen mit der Sonne und höhere Kräfte empfangen. Das haben Sie dargestellt in dem Sonnengesicht, das auf dem Wolkenieibe, auf dem Felsen, den Säulen ruht. Selbstschöpferisch wird dann der Mensch geworden sein; und als das Symbol der vollkommenen Schöpfung umgibt den Menschen der farbige Regenbogen. Auch in der Apo­kalypse des Johannes können Sie ein ähnliches Siegel finden. In der Mitte der Wolken befindet sich ein Buch. Die Apokalypse sagt, daß der Eingeweihte dies Buch verschlingen muß. Damit ist auf die Zeit hingewiesen, wo der Mensch nicht nur äußerlich die Weisheit empfängt, sondern wo er sich mit ihr wie heute mit der Nahrung durchdringen wird, wo er selbst eine Verkörpe­rung der Weisheit sein wird.

Dann rückt die Zeit heran, wo große Veränderungen im Kosmos vor sich gehen. Wenn der Mensch die Sonnenkraft wird herangezogen haben, dann wird die Sonne mit der Erde wieder vereinigt sein. Der Mensch wird ein Sonnenwesen. Der Mensch wird durch die Kraft der Sonne eine Sonne gebären. Daher [auf dem fünften Siegel] das Weib, das die Sonne gebiert. Dann wird die Menschheit moralisch, ethisch so weit sein, daß alle verderblichen Mächte, die in der niederen Menschennatur ruhen, überwunden sind. Das ist dargestellt durch das Tier mit den sieben Köpfen und den zehn Hörnern. Zu den Füßen des Sonnenweibes ist der Mond, der alle diejenigen schlechten Substanzen enthält, die die Erde nicht brauchen konnte und die sie nicht hinausgestoßen hatte. Alles, was heute noch der Mond an magischen Kräften auf die Erde ausübt, wird dann überwunden sein. Wenn der Mensch mit der Sonne vereint ist, hat er den Mond überwunden.

Dann [in dem sechsten Siegel] wird uns noch dargestellt, wie der also bis zur hohen Ver­geistigung hinaufgestiegene Mensch der Gestalt des Michael gleich ist; wie er das, was böse ist auf der Welt, in dem Symbolum des Drachen gefesselt hält.

Wir haben in einer gewissen Weise gesehen, daß im Anfange der Menschheitsentwickelung

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und am Ende derselben gleiche Zustände der Verwandlung sind. Dargestellt sahen wir diese Zustände in dem Mann mit den feuerflüssigen Füßen und dem Schwert aus dem Munde ragend. In einer tiefsinnigen Symbolik wird uns nun das ganze Sein der Welt enthüllt in dem Symbol des Heiligen Gral. Mit einigen skizzenhaften Worten möchte ich Ihnen dieses siebente Siegel vor die Seele hinstellen.

Derjenige, der als Okkultist unsere Welt kennenlernt, weiß, daß der Raum noch etwas ganz anderes ist für die physische Welt als eine bloße Leerheit. Der Raum ist die Quelle, aus der sich alle Wesen gleichsam physisch herauskristallisiert haben. Denken Sie sich ein gläsernes Gefäß von Würfelform, durch das Sie ganz hindurchsehen können, mit Wasser gefüllt. Und nun stellen Sie sich vor, daß gewisse abkühlende Strömungen durch dies Wasser hindurchgeleitet werden, so daß sich in mannigfaltigster Weise Eis bildet. So können Sie eine Vorstel­lung der Weltschöpfung erhalten: den «Raum»; hineingesprochen in den Raum das göttliche Schöpfungswort; heraus kristallisiert alle Dinge und Wesen.

Diesen Raum, in den das göttliche Schöpfungswort hineingesprochen wird, stellt der Okkul­tist dar durch den wasserhellen Würfel. Es entwickeln sich innerhalb dieses Raumes verschie­dene Wesenheiten. Diejenigen, die uns am nächsten stehen, kann man am besten so charakteri­sieren: der Würfel hat drei senkrechte Richtungen, drei Achsen, Länge, Höhe, Breite - die drei Dimensionen des Raumes stellt der Würfel dar. Und nun denken Sie sich zu diesen drei Dimensionen, wie sie draußen in der physischen Welt sind, die Gegendimensionen hinzu. Sie können sich das etwa so vorstellen, daß ein Mensch in einer Richtung geht und ein anderer ihm entgegenkommt und beide zusammenstoßen. In ähnlicher Weise gibt es zu jeder Raumdimension eine Gegendimension, so daß wir im ganzen sechs Strahlen haben. Diese Gegenstrahlen stellen zugleich die Urkeime der höchsten Glieder der menschlichen Wesenheit dar. Der physische Leib, aus dem Raum herauskristallisiert, ist das Niedrigste. Das Geistige, das Höchste, ist das Gegenteil; es wird dargestellt durch die Gegendimensionen. Hier formen sich in der Entwickelung zunächst diese Gegendimensionen zu einer Wesenheit, die man am besten darstellen kann, indem man sie zusammenfließen läßt zu der Welt der Leidenschaften, Begier­den, Instinkte. Das ist sie zunächst. Dann später wird sie etwas anderes. Immer mehr und mehr läutert sie sich - wir haben gesehen, bis zu welcher Höhe -, aber ausgegangen ist sie von den niederen Trieben, die symbolisiert sind durch die Schlange. Dieser Vorgang ist symbolisiert durch das Zusammenlaufen der Gegendimensionen in zwei Schlangen, die einander gegenüber­stehen.

Indem sich die Menschheit reinigt, steigt sie auf zu dem, was man die «Weltenspirale» nennt. Der gereinigte Leib der Schlange, diese Weltenspirale, hat eine tiefe Bedeutung. Sie können durch folgendes Beispiel einen Begriff davon bekommen: Die moderne Astronomie stützt sich auf zwei Sätze von Kopernikus; einen dritten hat sie unberücksichtigt gelassen. Er hat gesagt, daß die Sonne sich auch bewegt. Die Sonne rückt vor, und zwar in einer Schraubenlinie, so daß die Erde sich mit der Sonne in einer komplizierten Kurve bewegt. Dasselbe trifft auf den Mond zu, der sich um die Erde bewegt. Diese Bewegungen sind weit komplizierter, als man in der elementaren Astronomie annimmt. Sie sehen hier, wie die Spirale ihre Bedeutung hat in den Weltkörpern; und diese Weltkörper stellen eine Gestalt dar, mit der sich der Mensch einst identifizieren wird. In jener Zeit wird des Menschen Hervorbringungskraft gereinigt, geläutert sein; der Kehlkopf wird alsdann das Fortpflanzungsorgan sein. Das, was der Mensch als ge­läuterten Schlangenleib entwickelt haben wird, wird dann nicht mehr von unten herauf, sondern von oben herab wirken. Der umgewandelte Kehlkopf in uns wird zu dem Kelche werden, den man den Heiligen Gral nennt. Und ebenso wie das eine wird auch das andere geläutert sein,

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das sich mit diesem hervorbringenden Organ verbindet: es wird eine Essenz der Weltenkraft, der großen Weltenessenz sein. Und diesen Weltengeist in seiner Essenz stellt man dar mit dem Bilde der Taube, die dem Heiligen Gral gegenübersteht. Hier ist sie das Symbolum der ver­geistigten Befruchtung, die aus dem Kosmos heraus wirken wird, wenn der Mensch sich mit dem Kosmos dereinst identifiziert hat. Das ganze Schöpferische dieses Vorganges wird dar­gestellt durch den Regenbogen: das ist das allumfassende Siegel vom Heiligen Gral.

Das Ganze gibt den Sinn von dem Zusammenhange zwischen Welt und Mensch in einer wunderbaren Weise wie eine Zusammenfassung des Sinnes der anderen Siegel. Daher steht auch hier das Weltengeheimnis als Umschrift auf dem Außenrand des Siegels. Dieses Weltengeheimnis stellt dar, wie der Mensch im Anfange aus den Urkräften der Welt herausgeboren ist. Jeder Mensch, wenn er zurückblickt, hat im Anfange der Zeit jenen Prozeß durchgemacht, den er heute geistig durchmacht, wenn er aus den Bewußtseinskräften heraus neu geboren wird. Das drückt das Rosenkreuzertum aus [mit den Buchstaben] E.D.N.: Aus Gott bin ich ge­boren.

Wir haben gesehen, daß innerhalb der Offenbarung ein Zweites hinzutritt: zum Leben der Tod. Aber der Mensch muß, damit er in diesem Tode das Leben wiederfindet, in dem Urquell alles Lebendigen diesen Sinnestod überwinden. Und dieser Urquell ist der Mittelpunkt aller kosmischen Entwickelung; denn wir mußten den Tod finden, um unser Bewußtsein zu erringen. Aber wir werden ihn überwinden dann, wenn wir den Sinn dieses Todes im Erlöser-Geheimnis finden. Ebenso wie wir aus Gott geboren sind, sterben wir im Sinne der esoterischen Weisheit in Christo: I.C.M.

Und weil überall da, wo sich etwas offenbart, sich eine Zweiheit zeigt, der sich das Dritte vereinigen muß, wird der Mensch, wenn er den Tod überwunden hat, sich selbst identifizieren mit dem die Welt durchdringenden Geiste (die Taube). Er wird auferstehen und wieder leben im Geiste: P.S.S.R.

Das ist das theosophische Rosenkreuz. Es leuchtet hinein in jene Zeiten, wo Religion und Wissenschaft sich versöhnen werden.

So sehen Sie, wie in solchen Siegeln sich die ganze Welt darstellt, und weil die Welt in sie hineingelegt ist von den Magiern und Eingeweihten, deshalb wohnt ihnen eine gewaltige Kraft inne. Sie können immer aufs neue zu diesen Siegeln zurückkehren; Sie werden immer wieder finden, daß sie unendliche Weisheit durch Meditation erschließen können. Sie haben einen gewaltigen Einfluß auf die Seele des Menschen, weil sie aus den Weltengeheimnissen heraus geschöpft sind. Hängen Sie sie in einem Zimmer auf, wo solche Dinge besprochen werden, wie wir heute hier sprechen, in denen man sich zu den heiligen Mysterien der Welt erhebt, da wir­ken sie in höchstem Grade belebend, erleuchtend, ohne daß es die Menschen manchmal wissen. Aber sie sind eben, weil sie diese Bedeutung haben, nicht gleichzeitig dazu angetan, profaniert zu werden. Und so sonderbar es erscheinen mag: wenn sie in einem Zimmer rundherum hän­gen, wo nichts Geistiges geredet wird, wo triviale Worte gesprochen werden, da wirken sie auch, aber so, daß sie den physischen Organismus krank machen. So trivial es klingen mag: sie zerstören die Verdauung. Was aus dem Geistigen geboren ist, gehört dem Geistigen an und darf nicht profaniert werden; das zeigt es selbst an durch seine Wirkung. Zeichen von gei­stigen Dingen gehören dahin, wo geistige Dinge sich abspielen und zur Wirkung gelangen.

SYMBOLE UND ZEICHEN ALS WIRKUNGEN DES CHAOS Vortrag am 19. Oktober 1907 in Berlin

#G284-1977-SE079 Bilder okkulter siegel und Säulen

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SYMBOLE UND ZEICHEN ALS WIRKUNGEN DES CHAOS

Vortrag am 19. Oktober 1907 in Berlin

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Heute lassen Sie uns mit einer scheinbar recht entlegenen Betrachtung beginnen, die aber, wie Sie sehen werden> uns doch wieder in gewisser Weise für unser alltägliches Leben interessieren kann. Wir werden heute wirklich versuchen, nicht nur den Himmel, sondern auch dasjenige, was hinter dem Himmel ist, mit der Erde und unserem alltäglichen Erlebnis zu verknüpfen.

Das Leitmotiv unserer heutigen Betrachtung soll dasjenige bilden, was man mit einem den alten Zeiten entlehnten Namen das «Chaos» nennt. Also, wie Sie sehen, ein etwas entlegenes Thema, ein Thema, das wirklich noch hinter dem liegt, was wir unter dem Himmel verstehen, das wir aber gerade anknüpfen sollten an unsere alltäglichen Erlebnisse.

Sie wissen, daß nicht nur die wunderbare griechische Mythe und Sage an das Chaos anknüpft, indem sie sagt, daß die ältesten Götter, also die ältesten geistigen Wesenheiten, herausgeboren sind aus dem Chaos, sondern Sie wissen auch, daß die Mythen und Sagen anderer Völker unter verschiedenen Namen dieses Chaos kennen. Denn, was ist schließlich jener gähnende Abgrund der nordisch-germanischen Sage « Ginnungagap», aus dem auf der einen Seite das kalte Nifl-heim oder Nebelheim entsteht und auf der anderen Seite das heiße Muspelheim, anderes als das Chaos? Und auf was sonst deutet letzten Endes der Anfang unserer Bibel selbst hin? Im Ersten Buch Mos es finden Sie ja die Worte: Im Anfang schuf die Gottheit den Himmel und die Erde, und die Erde war wüst und wirre, und das Dunkel lagerte über den Wassern. Und der Geist aus der Gottheit webete brütend über den Wassern. Und es ertönte der Gottheit Wort:

Licht werde - und Licht ward. Und die Gottheit nahm wahr das Licht und nahm wahr, daß es schön sei und schied die Lichtwelt von der Dunkeiwelt. - «Die Erde war noch wust und wirre», ist nur ein anderer Ausdruck für das Chaos, aus dem die höchsten geistigen Wesenheiten selbst hervorgegangen sind.

Was ist das Chaos? Mit solchen alten Worten für so hohe Begriffe ist es in der Menschheits­entwickelung merkwürdig gegangen. Seit ziemlich langer Zeit haben die Menschen vollständig die Empfindung verloren für eine richtige Auffassung dessen, was mit so etwas gesagt wird. Sie wissen gar nicht mehr, was damit gemeint war, wenn so etwas gesagt wurde. Das materia­listische Zeitalter, aus dem ja alle Menschen der Gegenwart in einer gewissen Beziehung her­vorgegangen sind, hat kaum noch Worte dafür, um überhaupt zu charakterisieren, was hinter dem Wort Chaos steckt. Unsere Worte haben ja auch im Laufe der Zeit eine ganz andere Bedeutung angenommen, als sie früher hatten, ja, als sie noch vor ganz kurzer Zeit hatten. Früher entsprach das Wort der geistigen Bedeutung des Gegenstandes, dem Begriff. Heute sind unsere Worte sozusagen aufgeteilt worden an die materialistische Bedeutung der äußeren, materiellen Gegenstände und werden nicht mehr angewendet auf die geistige Bedeutung. Wer heute ein Wort hört, wendet es an auf das, was es in der sinnlichen Welt bedeutet, aber denkt nicht mehr daran, es in Beziehung zu setzen zur geistigen Welt.

Unter den mancherlei Gründen für die Inaugurierung der gegenwärtigen theosophischen Strömung gibt es einen, der mit dieser Umwandlung der Worte in den Materialismus hinein zusammenhängt. Daß die theosophische Bewegung gerade jetzt in die Welt getreten ist und in die Welt treten mußte, hängt mit verschiedenen Tatsachen, sinnlichen und übersinnlichen, zusammen. Aber einer der Gründe ist der, daß wenn nicht am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts diese theosophische Bewegung, diese spirituelle Weltströmung gekommen

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wäre, wenn sie nicht jetzt Eingang fände in die Welt, eine solche spirituelle Bewegung in hun­dert Jahren wahrscheinlich schon ganz unmöglich wäre. Es ist wirklich geradezu ein Abpassen der günstigsten Bedingungen der Zeit. Die Worte nehmen immer mehr und mehr den Charakter an, nur auf Materielles angewendet zu werden. Hätte man noch hundert Jahre gewartet, dann könnten unsere Worte nicht mehr ausdrücken, was die Geisteswissenschaft zu sagen hat. Die Menschen würden kein Gefühl mehr dafür haben, weil sie dann nur noch das hören wurden, was auf die materielle Welt Anwendung findet. Es würde keine Worte mehr geben, mit denen man sich verständlich machen könnte, und so würde alles, was der Geisteswissenschafter zu sagen hat, nicht mehr passen. Die Theosophie muß also allem neue Worte aufdrücken, allen Worten ein neues Gepräge geben; sie muß geradezu die Sprache erneuern. Die Menschen müssen wieder eine Empfindung dafür gewinnen, daß in diesen Worten etwas liegt; daß bei gewissen Worten nicht bloß Handgreifliches oder mit Augen zu Sehendes gemeint ist, sondern etwas, was in die höheren Welten hinaufweist.

Nun werden wir scheinbar ganz vom Thema abgehen und einmal versuchen, Empfindungen aufzusuchen von Menschen, die noch viel viel stärker nach der spirituellen Welt gerichtet und gelenkt waren als die Empfindungen und Vorstellungen der gegenwärtigen Menschheit. Es ist immer von großem Interesse für denjenigen, der sich in den geheimnisvollen und doch so klaren Gang des menschlichen Geistes vertieft, irgendein beliebiges altes Buch zur Hand zu nehmen und sich nicht nur in dieses Buch zu vertiefen, wie viele Gelehrte es tun, indem sie herauslesen, was «der Herren eigener Geist » ist, sondern indem man sich in den Geist des Verfassers hinein-empfindet, hineinversetzt. Man könnte irgend etwas Beliebiges herausgreifen; wir wollen aber herausgreifen die «Physica» von Comenius, 1633 erschienen. Das sind Physica, unter denen sich der heutige Mensch gar nicht mehr gut etwas denken kann, weil da von physischen Dingen gesprochen wird, aber so, daß es ganz klar ist, daß der, der spricht, mit jedem physischen Ding zugleich hinweist auf die geistigen Hintergründe, und daß er in jeder Materie, in jeder Kraft ein Instrument, einen Ausfluß sieht von dahinterstehenden geistigen Wesenheiten und gei­stigen Kräften. In diesem Buche, dieser «Physica», ist vieles beschrieben, was dazumal Gegen­stand der Erkenntnis war. Aber Comenius> der große Pädagoge und Denker des 17. Jahrhun­derts - geboren 1592-, hat nicht nur die Erkenntnis seiner Zeit aufgenommen und zusammen­gefaßt, sondern Comenius hatte auch große ureigene Gedanken über Menschen und Ereignisse und fand tiefe, geistige Zusammenhänge. Comenius ist eine merkwürdige Persönlichkeit, wie es deren eine ganze Reihe gibt seit dem 14. und 15. Jahrhundert.

Sie wissen aus anderen Besprechungen, daß im 14. Jahrhundert und endgültig im 15. Jahr­hundert der sogenannte Rosenkreuzerorden begründet worden ist; jener Orden, welcher in einer neuzeitlichen Form die uralten Geheimnisse bearbeitet und bewahrt. Der Orden, der bei seiner Begründung nur aus sieben Mitgliedern bestand, hat bis in unsere Zeiten herein ganz im geheimen gewirkt. Und niemand hat gewußt, wer ein Rosenkreuzer ist, als der Rosenkreuzer selber. Niemand hat auch jemals etwas über die Geheimnisse der Rosenkreuzer erfahren können. Deshalb ist alles, was in der Außenwelt von Anhängern und Gegnern geschrieben wurde über die Rosenkreuzerei, Scharlatanerie oder etwas, was mißverstanden oder durch einen Verrat her­ausgekommen ist. Erst heute ist die Zeit gekommen, wo einiges von den rosenkreuzerischen Geheimnissen der allgemeinen Weit mitgeteilt werden darf. Aber es gibt und gab viele andere Mittel und Wege, wodurch solche Geheimnisse, die in den okkuiten Schulen blühen, einfließen in das allgemeine Geistes- und Kulturleben. Zum Beispiel war es nichts anderes als eine ge­heime rosenkreuzerische Strömung, die derjenige, über den sie sich ergossen hat, selbst gar nicht ahnte, als Lessing am Schlusse seiner «Erziehung des Menschengeschlechts», wie aus der Pistole

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geschossen, sagt, daß der Mensch immer wieder- und wiederkehrt auf die Welt, daß er wieder-verkörpert werde. Diese bedeutsame Abhandiung, die da schließt: «Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?», sie ist für den Kundigen nichts anderes als ein Zeichen, daß die rosenkreuzerische Weltanschauung durch Lessings Mund auf eine ihm selbst unbewußte Weise zu der Mensch­heit gekommen ist.

So ist vieles durch die Rosenkreuzerei gekommen. Es gibt eben viele Mittel und Wege, wo-durch die Geisteswelt sich ergießt, ohne daß die Menschen, die davon getroffen werden, es immer ganz genau wissen. Es kommt nicht darauf an, daß das, was in der Welt gewirkt wird, sich an einen Namen anknüpft. Die Bewegung als solche knüpft an einen Namen an. Aber Prozesse wegen Plagiaten haben die Rosenkreuzer nie geführt. Niemals würden sie irgendeine sogenannte Entiehnung ihrer Gedanken irgendwie verfolgt haben. Das war ihnen gleichgültig. Was war überhaupt demjenigen, dem es auf die Wirkung ankommt, gleichgültiger als die per­sönliche Quelle, von der solche Dinge aus strömten? Die Hauptsache war, daß sie in die Welt kamen. In unserer Zeit, wo man Prozesse auch wegen der Entlehnung von Gedanken und anderer Dinge führt, ist es ja so, daß die eigentlichen Entlehner in der Regel doch nicht zu fassen sind.

Zu denjenigen, die vermöge einer hohen Geistesentwickelung höhere Erkenntnisse hatten, die durch einen starken, energischen Willen sich in die höheren Welten hinaufschwangen in-folge der Rosenkreuzerbeeinflussung, gehörte auch Comenius, dieser große Pädagoge. Es ist für die heutigen Menschen durchaus nützlich, sich gerade in die Gedanken des Comenius zu vertiefen. Ebenso nützlich ist es auch, sich in die Gedanken Johann Baptist van Helmonts, seines Zeitgenossen, zu vertiefen, der auch ein Rosenkreuzer war. Sie interessieren uns aber heute von einer ganz anderen Seite, wobei ich ausdrücklich bemerken will, daß, was ich jetzt sage, nur zur Verdeutlichung dienen soll, zum Pfadsuchen zu dem, was wir eigentlich mit dem Worte Chaos meinen.

Sie kennen ein Wort, von dem Sie wahrscheinlich alle oder doch sehr viele glauben, daß es sehr alt sei: nämlich das Wort «Gas», das die meisten Menschen nur als Leuchtgas oder der­gleichen kennen. Sie wissen aus der Physik, daß es viele Gase gibt und daß im Grunde genom­men die meisten Substanzen sich in Gas verwandeln lassen. Wenn man nicht weiter nachdenkt, könnte man leicht zu dem Glauben verleitet werden, das Wort sei so alt wie alle anderen. Das ist aber nicht der Fall. Vor den Zeiten des Comenius und Helmont waren «Gas» und «gas­fi5rmig» noch keine bekannten Begriffe. Helmont war der erste, der dieses Wort gebraucht und geprägt hat. Seit jener Zeit ist es erst in der Sprache aufzufinden. Das Werk, in welchem dieses Wort zum erstenmal vorkommt, ist 1615 geschrieben. Bedenken Sie also, eine wie kurze Zeit das ist. Nun müssen Sie sich natürlich auch klarmachen, daß man eine Veranlassung haben muß, wenn man ein solches neues Wort gebraucht. Helmont ist eben der erste gewesen, der die Vorstellung, den Begriff des Gases hatte und ihn so, wie er heute üblich ist, der Menschheit vermittelt hat.

Machen wir uns einmal klar, was nach den heutigen Schulbegriffen ein Gas ist. Sie wissen alle, wenn Sie Wasser nehmen und dieses Wasser zum Sieden, zum Verdampfen bringen, so entsteht zuerst Wasserdampf. Dampf ist nicht Gas, auch nach den heutigen Schulbegriffen nicht. Dampf ist eigentlich, wenn man sich grob ausdrücken will, dasjenige, was man noch mit Augen sehen kann, derselbe Stoff, der vorher im Wasser da ist, nur in feineren Partikeln verteilt. So daß man sagen kann, Wasser geht in Wasserdampf über durch das Erhitzen. So können Sie alle oder wenigstens die weitaus meisten Substanzen bei niederer oder höherer oder sehr hoher Temperatur in Dampf verwandeln. Sie können aber die Erhitzung noch weitertreiben. Wenn

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Sie sie weitertreiben, dann erhalten Sie einen Zustand der betreffenden Substanzen, wo sie sozu­sagen nicht mehr sichtbar sind, wo sie in eine wirklich andere Form übergehen, die man heute die Gasform nennt. Während die Dampfform nur eine Art Zwischenform ist zwischen der Wasserform und der Gasform, ist diese Gasform im Grunde genommen nur eine Dampfform auf höherer Entwickeiungsstufe, die entstanden ist bei höherer Temperatur. Diese Dampfform und Gasform war eben vor Helmont durchaus keine klare Vorstellung. Auch Comenius hat mit der Dampfform gearbeitet.

Nun hat sich Helmont zunächst an der Kohlensäure, die er genau untersucht hat, die Natur des Gases klargemacht. Er hat allerdings mit Kohlensäure und anderen Gasen Vorstellungen verknüpft, die für den heutigen Physiker und Menschen überhaupt nicht mehr ganz verständ­lich sind. Und dabei hat sich ihm ergeben, daß es unter den verschiedenen anderen Zuständen auch diesen feineren Zustand gibt, dem er den Namen Gas gab. Einer der grundiegenden Sätze im « Ortus medicinae», dem Werke des Helmont, ist der Satz: «hunc spiritum, incognitum hactenus, novo nomlne gas voco.» Das heißt auf deutsch: Solchen Geist, wie er bisher un­bekannt war, nenne ich Gas. - Das ist das erste Mal, wo dieses Wort in die Betrachtungsweise eintritt.

Nun lehrt uns dieser Satz eine ganze Menge. Vor allen Dingen nennt Helmont das, was er als Gas anspricht, spiritus, Geist, so daß es klar ist, daß das, was er konstatiert hat als Gas, ihm das Instrument war für eine geistige Wesenheit. Er hat selbst das Gefühl, daß er diese durch­sichtige Substanz als Geist ansprechen muß, und benennt diesen Geist mit dem neuen Namen « Gas». Nun fassen wir ganz genau, was er dabei für Vorstellungen hatte. Er wußte, wenn man dieses Gas abkühlt, so hat man merkwürdige Erscheinungen: Dunkle, wolkenartige Einschläge bilden sich; es wird wieder dampfförmig und dann wieder wäßrig. Das Gas war ihm eine Grundlage, eine durchsichtige klare Grundlage, aus der heraus Dichtes, Verdichtetes entsteht. Das Gas war ihm ein Gleichnis in dem Sinne, wie Goethe sagt: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.» Helmont sah viel in diesem einfachen Prozeß, wie sich Gas abkühlt und verdichtet:

kleine Welten gingen für ihn aus dem Gas hervor. Ein Mensch, der so fühlte, konnte noch sagen: «hunc spiritum incognitum gas voco.»

Die Frage, wie ursprünglich alles, was an Materie in der Welt ist, entstanden ist, war ihm klar. Er wußte: Ursprünglich erfüllte die ganze Welt etwas, vielleicht von einer viel größeren Feinheit als das, was er entdeckt hat als Gas, etwas, was durch das Licht durchgeht und was man gar nicht sehen kann: ein durchsichtiges, in sich leuchtendes, keine Trübung enthaltendes Geistiges. Und wie von diesem Gas sich abspalten Dämpfe, die wie Nebelmassen aussehen, so haben sich aus der durchsichtigen, trüblosen Unendlichkeit alle Dinge, die jetzt sind, Minera­lien, Pflanzen und Tiere, alles, was wir im Materiellen sehen, herausgebildet. Alles Geistige ist dicht geworden, ist zu den Gebilden von jetzt geworden.

Schon in uralten Zeiten und bei primitiven Völkern finden wir Gleichnisse, die gut brauch­bar sind, um eine ähnliche Vorstellung hervorzurufen. Ursprüngliche und auch primitive Völker sehen manchmal dasjenige, was äußerlich materiell geschieht, auch noch geistig an. Solch ein Mensch weiß, daß aus seinem Munde der Hauch herauskommt, von dem er sieht, daß er Dampf wird, wenn er in die kalte Luft heraustritt. Da sieht er, daß aus dem Seelischen etwas geschaffen wird, was sich aus der durchsichtigen Klarheit des menschlichen Hauches verdichtet. Und er fühlte in dem Hauch der Seele, in dem Aushauchen und Dichtwerden ein Gleichnis für den Vorgang im Großen, für die Entstehung der Welt. Daher die vielfache Ansicht, die die Weit wie das Ergebnis eines Aushauchens der Gottheit ansieht. Das ist wirklich eine ururaite Vor­stellung.

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Wir müssen uns klar sein darüber, was diese uralte Vorstellung in sich involviert. Diese uralte Vorstellung enthält einen ganz anderen Raumbegriff als den trockenen, abstrakten Raum-begriff, den der heutige Mensch hat. Was denkt sich der heutige Mensch unter Raum? Er denkt sich die unendiich ausgedehnte Leere, die große Leere, in der nichts ist. Das können Sie heute, wo von Raum gesprochen wird, überall unter dem Raumbegriff finden. Was dachten sich aber unter dem Raum diejenigen, die auf dem Boden der Geheimwissenschaft standen? Für sie war der Raum der ausgegossene, ausgedehnte Geist, der sein Gleichnis hat in dem Ungetrübten, aus dem der Dampf entsteht, die Quelle, aus der heraus alle Samen der Dinge geschaffen worden sind durch das Wort des ursprünglichen Gottesgeistes. Denn nicht endiose Leere ist der Raum, sondern der Raum ist ursprünglicher Geist. Und wir selbst sind verdichteter Raum, heraus-geboren aus dem Raum. Wenn alle Dinge wiederum aufgelöst würden, so wäre scheinbar eine endlose Leere um uns. Aber diese scheinbare Leere enthlelte alles, was dagewesen ist. In Wahr­heit wäre diese endiose Leere ebensowenig ein Nichts, wie das Gas, worin sich Substanzen auf­gelöst haben, ein Nichts ist. Das verstehen unter Raum diejenigen, die okkult denken.

Daß Helmont so etwas im Hintergrunde seines Denkens hatte, das zeigt er uns ganz klar. Er zeigt uns, daß er den Gedanken hat: Ja, so ein Gas, wie ich es entdeckt habe, ist sehr dünn, sehr durchlässig, das Licht geht durch, und man ahnte nichts, wenn man nicht da, wo das Gas sich ausbreitet, an der Wirkung empfände, daß überhaupt etwas da ist. Aber im Verhältnis zu dem Urgrunde ist auch dieses Gas noch eine Verdichtung, eine Trübung. Es liegt dem ein anderes, noch Geistigeres zugrunde. Aber man kann mit Recht dieses Tiefere erkennen, wenn man das Gas als ein Gleichnis nimmt: wenn man das Hervorgehen der ganzen Welt aus dem samenreichen Raum wie das Verdampfen und Verdunsten sich vorstellt, wenn man sich vor­stellt, daß das Gas ein Dunst des Geistes selber ist, so wie der Dampf der Dunst des Gases ist. Indem er diese Vorstellung in der Seele hat, sagt Helmont ein merkwürdig schönes Wort. Er sagt: «halitum illum gas vocavi, non longe a chao veterum secretum.» Das heißt: Jenen Hauch habe ich «Gas» genannt; er ist nicht weit verschieden von dem «Chaos» der Alten. - Sie sehen, er knüpft den Begriff Gas an das Wort Chaos an, ja, er hat das Wort Gas überhaupt nach dem Wort Chaos gebildet, «Gas» ist das umgewandelte «Chaos». Es ist das Wort, das Helmont gebildet hat, um seine geheimwissenschaftlichen Begriffe in dasselbe hineinzulegen. Das ist ein außerordentlich interessanter wissenschaftlicher Zusammenhang.

So werden wir von einem, der in diesen Dingen Bescheid wußte, hingeführt zu einem Raum-begriff, der nicht ein unfruchtbarer, leerer, abstrakter Raumbegriff ist, wie derjenige, den die Physik kennt, sondern wir werden geführt zu einem Raumbegriff, welcher unendlich samen-reich ist, denn er enthält auf unsichtbare Weise die Samen aller Dinge. Die Dinge, die heute verdichtet sind, sie waren alle einst Dunst und sind verdichtet worden aus dem Raum. Der Raum wird uns so lebendig, wird zu dem Samen von dem, was ausgebreitet ist in der Welt. So setzen wir an die Stelle des leeren, abstrakten Raumes den lebendigen Geist, aus dem alle, alle Dinge hervorgegangen sind. Wir verwandeln auf diese Weise allerlei Abstraktes in Leben­diges; und es ist gut, daß wir über solche Abstraktionen, über Begriffe, die ertötend wirken auf alles menschliche Denken und Leben, hinwegkommen.

Wenn wir uns nun in den Zustand des Raumes versetzen, wo er noch ganz geistig war, und mit unserer Seele verfolgen, wie sich die Wesen aus diesem unendiichen Raum heraus ver­dichten, aus den Gesetzen, die diesem Raum eingeboren sind, wenn wir uns da hineinversetzen, dann werden wir zum Beispiel klar empfinden die schönen Worte der Bibel: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüste und wirr, und der Geist aus der Gottheit webete brütend über der Tiefe.

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Denken Sie sich nur einmal, wie ursprünglich der reine geistdurchsichtige Raum da war. Was geschah in diesem reinen, durchsichtigen Raum? Stellen wir uns recht lebhaft vor, was wir uns schon öfter vorgestellt haben: Hier in diesem Raume ist auch das ausgedehnte Luftgas. Meine Worte werden hineingesprochen in den Raum, wo das Luftgas ausgedehnt ist. Da ent­stehen die Schwingungen und von da dringen die Worte in Ihre Seelen. Jedes Wort, das ge­sprochen wird, gestaltet sich hier in dem Raum> der ausgefüllt ist von der Luft. Denken Sie sich die Luft still; nichts wird gesprochen. Und nun wieder denken Sie sich, es wird gesprochen. Die ganze Luft kommt in eine regelmäßige Bewegung durch dieses Sprechen und jedes Wort gestaltet sich in der Luft - still und ungesehen von uns - zu Formen. Und so denken Sie sich jetzt den unendlich ausgebreiteten Raum, der nicht ein leeres Abstraktum ist, und hineintönend das Wort des Gottes, gestaltend den ganzen Raum nach den Worten, die die Gottheit aus­spricht. Das war im Anfang. Das Wort ertönte in dem Raum, und es entstand zuerst die gei­stige Welt, das Chaos, diese aus dem Raum sich herausentwickelnden Nebelgebilde, welche zum erstenmal im Trüben zeigten, was später gestaltet werden sollte.

Und nun hören wir auf die Worte der Bibel: Das Chaos - dieses sich herausentwickelnde Nebelgebilde der Erde - war noch wüst und wirr und der Geist Gottes wirkte und webete brü­tend über der Tiefe. Da haben wir eben den Moment des Entstehens: das ist das Chaos.

So tief sind allerdings die Vorstellungen, die einer solchen Religionsurkunde zugrunde liegen. Die Menschen müssen sich erst wieder die Empfindung aneignen, um so etwas zu verstehen.

Nun aber wirkt das Chaos nicht nur am Anfang der Weltentwickelung, sondern es wirkt fort. Es ist auch heute noch vorhanden. Dasjenige, was uns jetzt hinter den Himmel und in unser alltägliches Leben hineinführt, das ist die Erkenntnis, daß das Chaos auch noch heute vorhan­den ist, daß ebenso wie der harmonische Himmel, wie die schön gestalteten Welten, um uns herum heute auch noch das Chaos ist. Alles ist durchdrungen, durchsetzt von ihm. Es ist die erste, ursprüngliche Gestaltung. Dann trübte es sich, es bildeten sich die Samen, es formten sich die Welten bis zu ihrer heutigen Vollkommenheit. Aber so, wie wenn Sie eine Gasmasse haben und einen Teil dieser Gasmasse abkühlen, so daß noch zwischen den einzelnen Teilen Gas bleibt und fortwirkt, ebenso blieb von dem ursprünglichen Geist ein Teil zurück; und so wirkt das Chaos fort und lebt fort mit unserer Welt. Alles ist noch jetzt vom Chaos durchsetzt, jeder Stein, jedes Wesen. Sie selbst sind durchdrungen und durchsetzt vom Chaos. Und nicht nur sind vom Chaos durchsetzt die Wesen draußen in der Sinnenwelt, durchsetzt vom Chaos sind auch Ihre Seele und Ihr Geist. So wie der Mensch hier ist, nimmt auch seine Seele und sein Geist teil an dem, was zurückgeblieben ist vom Chaos. Nur ein Teil hat sich heraus-gegliedert aus dem Chaos. Das Chaos ist um uns herum da. Es wirkt in allen Wesenheiten und ist zu gleicher Zeit mit ein Grund der fortwährenden, fortwirkenden Fruchtbarkeit.

Verschaffen wir uns einmal durch ein einfaches Beispiel eine Vorstellung davon, wie das Chaos wirkt. Sie sehen, daß die Wirksamkeit des Chaos da auftritt, wo Abfallprodukte zum Beispiel des tierischen Organismus sind. Scheinbare Zerstörungen sind diese Abfallprodukte; aber diese tierischen Ausscheidungen, die von dem Landmann als Dünger hinausgetragen wer­den auf den Acker, liefern den Grund zur neuen Fruchtbarkeit. Die neue Saat geht hervor, indem man den Dünger in den Boden hineinlegt. Was ist da geschehen? Was war der Dünger zuerst? Er war zuerst allerlei schöngeformte Pflanzen und andere Wesen draußen in der Welt, dasjenige, was sich aus dem Chaos herausgebildet hatte. Es hat seinen Weg genommen und den Tieren als Nahrungsmittel gedient. Die unbrauchbaren Stoffe werden ausgeschieden, durch die im Körper wirkenden Gesetze gleichsam herausgedrängt; der Dünger vermischt sich mit dem Acker: es ist eine Rückkehr der Wesen zu dem Chaos. Das Chaos wirkt in dem Dünger, in

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allem Ausgeworfenen, und ohne daß Sie das Chaos hineinmischen in den Kosmos zu irgend­einer Zeit, ist niemals eine Fortentwickelung möglich.

Es führt uns dieser Vorgang, den wir hier in diesem Prozeß auf der niedersten Stufe haben, zu etwas ganz anderem. Er führt uns dazu, daß wir uns aufschwingen können zum Begreifen dessen, daß es notwendig ist für alle Entwickelung, über den Zusammenhang der Ursachen in der Vorzeit hinauszukommen und irgendwie das Chaos wieder aufzunehmen. Niemand kann fortbestehen, wenn einzig und allein der Kosmos auf ihn wirkt. Denn, was ist Kosmos? Kos­mos ist nichts anderes, als was aus vorhergehenden Ursachen und Gestaltungskräften sich gebildet hat. Nicht nur alle physischen Dinge, sondern auch alle moralischen und intellektuellen Lehren entstehen aus Ursachen, die vorher gelegt worden sind. Ich will es Ihnen an einem radikalen Beispiele klarmachen, was Kosmos ist.

Kosmos ist es, wenn zum Beispiel in Deutschland Goethe, Schiller, Lessing, Herder, Schel­ling gewirkt haben und dann ein Schulmeister kommt und die herrlichen Gedanken und Schön­heiten von Goethe, Schiller und so weiter wiedergibt. Nichts würde der Schulmeister wieder­geben können, was nicht vorher durch die Ursachen, die gelegt worden sind, schon da ist. Oder nehmen wir irgendeinen Menschen auf anderem Gebiete. Er steht ganz auf dem Boden dessen, was sich nach und nach entwickelt hat. Bei dem Genie ist es nicht so. Es wirkt aus dem Chaos heraus. Das Genie ist dadurch etwas so Besonderes, weil ein neuer Funke in die mensch­liche Seele hineinkommt. Neue Einschläge, neue Begriffe entstehen und werden wirksam. Es ist die Vermählung des Kosmos mit dem Chaos, was im Genie ist. Es käme kein Fortschritt zu­stande, wenn nur die äußeren Ursachen da wären, wenn diese Ursachen sich nicht wieder in das Chaos mischten. Dadurch, daß alle früheren Wirkungsgesetze in das Chaos zurückgeworfen smd, dadurch entsteht das Genie, und es entsteht durch die Wirkung des Genies etwas, was aus anderen Welten hereinkommt, etwas, was nicht herausgenommen ist aus Früherem, sondern ern Neues. In jedem Momente muß die Welt wiederum Chaos werden. Die Ehe der Vergangen­heit mit der Gegenwart ist eine Ehe des Kosmos mit dem Chaos. Daher kommen jene tiefen, bedeutsamen Empfindungen, die der alte Mensch hatte und der Geheimforscher hat, wenn der Name Chaos auch nur ausgesprochen wird. Für denjenigen, der das nicht empfinden kann, ist das Chaos etwas, was verworren, was unklar ist, wie die Gedanken der Genies für die meisten Menschen wirr und Wüst sind. Die Empfindung des Wirren und Wüsten, in der Weise, wie meistens die Gedanken der Genies empfunden werden, haben dabei aber nur die Menschen, die auf dem Boden des aus der Vergangenheit her Wirkenden stehen. Etwas Neues kann nur ent­stehen aus dem Chaos, das sich richtig mit uns verbinden muß, wenn wir etwas beitragen wollen zur Fortentwickelung der Menschheit.

Die theosophische Bewegung soll eine Bewegung sein, welche imstande ist, die Menschheit mit neuen geistigen Samen zu befruchten. Und diejenigen, die die theosophische Strömung verstehen, mussen sich klar darüber sein, daß sie nicht nur fortwirtschaften können mit dem, was vom alten Vater-Kosmos hereinkommt, sondern daß auch neue Keime des Geistes, wie aus dem Chaos herein, in die Menschheit kommen müssen. Dadurch wird die Menschheit im rich­tigen Sinne geistig befruchtet.

Diejenigen Vorstellungen, die heute die Menschheit vermittelt erhält durch die wirkliche und wahrhafte Theosophie, sind nicht aus der Vergangenheit hergenommen. Derjenige, der als Geologe die Schichten der Erde erforscht und nur sagen kann, was in der Vergangenheit in der Sinnenwelt entstanden ist, der kann nimmermehr erforschen, was für die Theosophie be­deutsam ist: die Erkenntnis der Zukunfts gestaltung der Menschheit, die aus dem Chaos herein­kommt in den sinnlichen Kosmos. Daher ist es von unendlicher Wichtigkeit, daß der Mensch

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durch die theosophische Weltanschauung Vorstellungen, Empfindungen und Willensimpulse aufnimmt, welche nicht unserem Kosmos, wie er ist als Sinnenkosmos, entnommen sind, son­dern weiche unmittelbar herausgeholt sind aus der Gestalt, die der Geist hatte, bevor er sich äußerlich gestaltete, die aus dem Chaos herausgeholt sind.

Solche Vorstellungen, die aus dem Chaos herausgeholt sind, sind die Symbole und Zeichen, die durch die Geheimschulen hereingeholt werden aus den höheren Welten und aller Geheim-wissenschaft und imaginativen Erkenntnis zugrundeliegen. Die Imaginationen wirken aus dem Chaos heraus auf die menschliche Seele. Wirken sie lebendig, dann vermählt sich das Chaos mit der menschlichen Seele.

Sie erinnern sich an die Ausgestaltung des Kongreßsaales in München. Was in den sieben Siegeln dargestellt ist, ist noch nicht im Kosmos; niemand kann es in dem Gesetzes kosmos finden. Aber in dem, was werden wird, wird es sein. Es wird Gestalt sein in der Zukunft. Noch wirken sie aus dem Chaos heraus auf die menschliche Seele, und so wirken sie, diese Imagma­tionen, diese Gestalten, daß es ein ganzes Weltbild gibt, in der Art, wie es beschrieben ist in der Einleitung, die ich dazu gegeben habe. Und wenn sie in der rechten Weise angeschaut wer­den, dann wirken sie lebendig und führen den Menschen hinauf in die höheren Welten. Dann wirkt in der Menschenseele das Chaos und führt ihn in Welten, die über den sinnlichen Kos­mos hinaus liegen. Der Mensch muß so kommen zu einer neuen Verbindung mit den geistigen Welten, und das ist die Bedeutung dessen, daß der Mensch zu solchen Bildern greift. Wenn man zu solchen Bildern kommt, empfindet man die Wirkung jenes Großen, Gewaltigen, das fort-wirkt durch die Unendlichkeit der Zeiten; man empfindet die überwältigende Wirkung des Chaos, das den Samen aller Dinge enthält. Wenn man diese Bilder auf sich wirken läßt, werden sie aus der Seele die tiefsten Urgründe heraufholen.

In den sieben Siegeln sehen wir die Bilder der astralen Welt, und in den sieben Stützen oder Säulen die Begriffe, die hereinkommen in unseren Kosmos, in unsere Welt, wenn wir die deva­chanische Welt betrachten. Wenn Sie diese Säulenkapitäler betrachten, werden Sie finden, daß sie in Ihnen wirken. Wenn Sie empfindend sich hineinleben, dann finden Sie dasjenige, was Ihr Empfinden so ordnet, wie es niemals geordnet werden könnte aus der sinnlichen Welt her­aus, und was Ihnen einen Begriff verschaffen kann von jener geistigen Musik oder Sphären-harmonie, die das Devachan ist. Diese Kapitäler sind direkt eine Anregung, um unsere Gefühle herauszuheben aus den alten Zusammenhängen und sie in völlig neue zu bringen. Dadurch allein kann etwas Neues entstehen, daß unsere Gefühle herausgerissen werden aus alten Zusam­menhängen und neue Zusammenhänge bilden. Wir dürfen sie aber nicht sinnlos herausreißen, sonst zerreißen wir uns selber. Wir einen sie mit uns, wenn wir das, was wir auf die Gefühle wirken lassen, der geistigen Welt, dem Chaos entnehmen. So gehören solche Imaginationen zu den Mitteln, wodurch die geisteswissenschaftliche Strömung in det W elt ihre Mission hat. Alles, was auftritt in dieser Weltströmung, muß als ein Einheitliches angesehen werden, denn ein einziger Gedanke durchdringt die ganze Strömung. Vnd nur wenn ein einziger Gedanke dieselbe durchdringt, können wir der Bewegung ihre richtige Fruchtbarkeit versprechen.

Sie können sich überzeugen, daß diese Bilder wirken. Sie können aber auch in einer sehr schlimmen Weise wirken. Diese Bilder sind dazu da, daß sie den Menschen in die schönste geistige Harmonie hineinführen. Derjenige, der sie in wahrer theosophischer Gesinnung be­trachtet, und an Orten, wo das theosophische Leben fließt, wird finden, daß sie auf ihn seelen­befrelend und erquickend wirken. Würden Sie sie zum Beispiel im Speisezimmer aufhängen und mit alltäglichen Gedanken betrachten, dann verderben Sie sich Ihren physischen Organis­mus bis auf die Verdauung hin. Nicht mit unheiliger Seele können diese Dinge genossen werden,

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sondern nur in der richtigen Stimmung. Daraus sehen Sie, daß dasjenige, was starkes Licht ist, auch starke Schatten haben kann. Schwaches Licht hat auch nur einen schwachen Schatten. Nicht darf es der Theosophie angerechnet werden, wenn sie für diejenigen, welche sie in un­rechtmäßiger Weise genießen, eine starke Finsternis wird. Aber nicht dadurch, daß wir im Ab­strakten herumreden, können wir wirken, sondern dadurch, daß wir das, was uns die Geheim-schulen geben können, weiterleiten und den Menschen die Mittel geben, wieder in größerem Umfang an diesen Dingen teilzunehmen. Die Theosophie ist keine Spielerei mit Vorstellungen, sondern reale Kraft, die in das Geistesleben der Menschheit einffießen muß. Daher darf man auch mit solchen Dingen nicht spielen, sondern man muß sich darüber klarsein, daß es wirk­same Kräfte sind.

An diesem Beispiel, das uns unmittelbar beschäftigt, kann sich uns so zeigen, wie umfassend der Begriff des Chaos für den ist, der ihn in der richtigen Weise versteht. Dasjenige, was hinter dem Physischen steht, aus dem heraus das Physische gemacht und geboren ist, das Chaos - alle haben es gekannt. Ob die Griechen es Chaos genannt haben, ob es uns die Genesis in der Weise, wie wir es gesehen haben, schildert, oder ob die indische Philosophie von dem Achaos, dem Akasha spricht: es ist immer dasselbe, was aus den Geheimschulen heraus uns errnnern soll, wie das, was im Anfang war, fortwirkt durch alle Zeiten.

Nur dadurch, daß sich der Mensch mit seinem wahren Ursprung verbindet, kann ein Fort­schritt stattfinden. Dem, der an die Sinneswelt gefesselt ist, erscheint das Chaos wirr und wüst. Dem Wissenden ist es nicht so. Wer es im geistigen Sinne durchdringt, der vernimmt, wie es durchklungen ist von der Sphärenharmonie, von der die Pythagoräer gesprochen haben, und deren Übersetzung in Worte dasjenige ist, was heute in der theosophischen Weltbewegung der Öffentlichkeit übermittelt wird, gerade zur richtigen Zeit. Weil es heute noch möglich ist, daß einige Menschen, die sich aus der großen Mehrzahl herausheben, die Empfindung bekommen für einige Worte aus der Geisteswelt, darum ist es an der Zeit, von diesen Dingen zu sprechen.

Auch alle Kunst ist hervorgegangen aus diesen Gefühlen. So wie früher die korinthischen und ionischen Säulenordnungen hervorgegangen sind aus der alten ägyptischen Geheimlehre, so werden diese Säulen der Ausdruck werden für geisteswissenschaftliche Wahrheiten. Neue Säulenordnungen werden aus jenen hervorgehen, denn alle Kunst ist nur kristallisierte Geheim-lehre. Einst haben die Menschen in den heiligen Hainen das Walten und Weben der Gottheit empfunden. Und was sie da empfunden haben, wer könnte es nicht nachempfinden in einem gotischen Kunstwerk, wie zum Beispiel dem Mailänder Dom! Dieselbe Stimmung ist es, die dort waltet, wie in den heiligen Hainen der Druiden und Drotten. So wird alle zukünftige Kunst eine kristallisierte Geheimlehre sein. Die Gotik ist nichts anderes als die kristallisierte Geheimiehre des Vor-Mittelalters. Und ebenso wird das, was wir jetzt in Worte kleiden, in der Zukunft künstlerisch in Farben und Formen gegossen werden.

Dann erst wird die theosophische Strömung lebendig ffießen, wenn sie nicht nur in Gedan­ken und Worten strömt, sondern sich den Dingen einprägt, die uns umgeben - wenn sie alle Dinge durchdringt.

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Aus der Diskussion

Die Kräfte, die das Hohl-Ich hervorrufen, [sind eine] Steigerung der Kräfte, die schon da sind in der sich unten entwickelnden Dreiheit. Wenn sie sich fortentwickelt, dann entsteht es. Auf einer bestimmten Stufe waren die Leiber fertig. Wie sie so weit waren, höhlten sie sich aus, als das Selbst sich annäherte, und es tritt ein. Alles höhlt sich aus, wenn seine Entwickelung überschnappt.

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Denken wir uns das Chaos, welches noch vollkommen durchsichtig, geistig, den Samen der Dinge enthält. Sie können nur durch Verdichtung ... [Lücke]. Diese tritt dadurch ein, daß das Geistige das Substantielle von sich wegdrängt, so daß überall solche Hohlräume entstehen. Wenn der Geist wirkt, entsteht ein Hohlraum in der Materie. In aller Materie entstehen sie, wenn der Geist darauf wirkt, sie bebrütet. Der Logos bohrte sozusagen Löcher in den Raum; hier ist das Prinzip dieses Wortes aus den «Strophen des Dzyan» in der «Geheimlehre» [von Blavatsky].

BERICHT ÜBER DEN KONGRESS BEI DER SECHSTEN GENERALVERSAMMLUNG DER DEUTSCHEN SEKTION DER THEOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT Berlin, am 20. Oktober 1907

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BERICHT ÜBER DEN KONGRESS BEI DER

SECHSTEN GENERALVERSAMMLUNG DER DEUTSCHEN SEKTION

DER THEOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Berlin, am 20. Oktober 1907

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... Was uns ferner oblag, in internationaler Beziehung, das war die Abhaltung des Münchner Kongresses. Sie haben sich durch die Ausgestaltung des Kongreßraumes, die Bilder der Siegel und Säulen, mit denen der Saal ausgeschmückt war, und durch die Natur des ganzen Pro­gramms ein Bild von den Intentionen machen können, die wir gehabt haben. Sie gingen dahin, einen Anfang zu machen, die Theosophie nicht bloß eine Summe abstrakter Dogmen sein zu lassen, sondern dieser Einfluß zu verschaffen auf das Leben, das uns umgibt. Niemand kann sich der Illusion hingeben, daß die Art und Weise, wie uns die Harmonie in bezug auf die ganze Ausgestaltung des Kongresses gelungen ist, verglichen mit dem, was als theosophischer Gedanke lebt, mehr war als ein schwacher Anfang. Aber alles muß einmal anfangen. Wenn die Deutsche Sektion dabei nur gezeigt hat, welche Absichten etwa obwalten könnten bei einem solchen Kongresse, gezeigt hat, wie man das Leben, das in der Seele lebt, auch in der Form, in der Kunst und im Zusammensein ausprägen kann, dann ist dasjenige getan, was die Deutsche Sektion gerade bei dieser Gelegenheit hat dazu beitragen können. Aus solcher An-regung kann die Kraft erwachsen, die es der Theosophischen Gesellschaft nach und nach möglich macht, nicht nur eine Stätte zur Verbreitung von diesen oder jenen Dogmen zu sein, sondern tief einzugreifen in das ganze Leben des Menschen.

Was noch zu bemerken ist, ist der Umstand, daß die für den Kongreß nornijerte Ausgabe in Höhe von 4500 Mark, mit welchen wir durchzukommen glaubten, weit überschritten ist. Der Kongreß ist dadurch um so schöner geworden. Es ist hier in tief dankenswerter Weise zu erwähnen, daß sich gerade bei dieser Gelegenheit ein so gründiiches Verständnis, ins­besondere in der Deutschen Sektion gezeigt hat. Wir haben viel Geld gebraucht; es hat sich aber gezeigt, daß da, wo es darauf ankommt, theosophisches Leben zu haben, auch Verständnis und Geneigtheit vorhanden ist, Opfer zu bringen. Ein Defizit ist daher nicht zu verzeichnen

Nicht minder stark betont darf werden die tiefbefriedigende Tatsache, daß gerade von denen, die es konnten, in ungeheuer hingebungsvoller Weise gearbeitet worden ist. Alles, was da zu leisten war, wurde von unseren lieben Münchener Freunden in einer nicht nur hingebungs-vollen, sondern geradezu umfassend verständnisvollen Weise geleistet, so daß sich in dieser Arbeit am schönsten auslebte, was man theosophische Einheit und Harmonie nennt. Da war keiner, der nicht bereit war, die höchste geistige Arbeit neben der - was auf solchem Kon­gresse notwendig ist - kleinsten Handlangerarbeit zu leisten. Leute, die in ihrem ganzen Leben nicht gewohnt waren, solche Arbeit zu verrichten, schleppten große Dinge heran, die zu die­sem oder jenem Zwecke bestimmt waren; andere hämmerten, andere strichen große Säulen an; kurz, es war alles hingebungsvolle Arbeit. Einkassiert konnten werden Gaben vom Tausendmarkschein bis zum Zehnpfennigstück. Umsichtig war die Verwaltung, die von München übernommen worden war, bis zu jener Arbeit, die gezeigt hat, wie die wirkliche Leistung, das wirkliche Zusammenarbeiten, die Menschen harmonisch macht. Wir haben es dahin gebracht, daß die tief befriedigende Aufführung des Mysteriendramas von Bleusis statt-finden konnte. Wenn Sie bedenken, was dazu alles gemacht werden mußte, von der Über-setzung aus dem Französischen bis zu den Sandalen an den Füßen der Darsteller, die sämtlich

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Mitglieder waren und durch Wochen hindurch Proben mitmachen mußten; wenn Sie wüßten, wie es da zugegangen ist, wie schön und harmonisch alles vonstatten ging, wie die Arbeit von dem gemeinschaftlichen Gedanken und der Hingebung der Empfindung getragen war, dann könnten Sie den praktischen Wert ermessen, der sich ergibt, wenn ein gemeinsames Band der Arbeit alle umschlingt. So wie die Pflanze harmonisch der Sonne entgegenstrebt, so werden die Menschen harmonisch, wenn sie von den gleichen Empfindungen beherrscht werden.

Daß alles so geworden ist, wie es geworden ist, das haben wir dem guten Geiste dieses Korps der Mitwirkenden an unserm Münchener Kongreß zu verdanken. Es lebte bei allen diesen Vorbereitungen wirklich der Geist der Eintracht in der damaligen Münchener Arbeitsgemein­schaft, die in dieser Beziehung gewissermaßen vorbildlich sein könnte für die Art und Weise, wie überhaupt in der Theosophischen Gesellschaft zusammengewirkt und gearbeitet werden kann. Es ist zu hoffen, daß diese etwas anders geartete Art der Arbeit, wie sie die Deutsche Sektion seit fünf Jahren zu leisten versuchte, auch in der internationalen Theosophischen Gesellschaft nicht nur Anerkennung findet, sondern auch ein wenig befruchtend wirken wird. Nur dadurch kann die internationale Theosophische Gesellschaft gedeihen, daß jede Sektion das Ihre beiträgt auf dem Altare der gemeinschaftlichen, theosophischen internationalen Wirk­samkeit.

Daß Edouard Schuré, dem Verfasser des Mysteriendramas, der tiefgefühiteste Dank der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft herzlich zuströmt, braucht wohl kaum gesagt zu werden. Ausdrücklich aber soll hervorgehoben werden, daß wir zu großem Danke verpflichtet sind 13ernhard Stavenhagen, dem berühmten Pianisten und feinsinnigen Kompo­nisten, der inmitten seiner reichen, drängenden Arbeitslast auf meine Bitte es übernommen hat, den musikalischen Teil der dramatischen Vorführung uns als Gabe zu schenken. Der tiefe Eindruck, den diese Komposition auf alle Anteilnehmer übte, wird diesen in bleibender Er­innerung sein. Es wurde allseits der schöne Einklang der musikalischen Schöpfung mit dem Mystetium empfunden.

BILDER OKKULTER SIEGEL UND SÄULEN Zur Einführung in die Mappe mit den vierzehn Bildtafeln Oktober 1907

#G284-1977-SE091 Bilder okkulter siegel und Säulen

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BILDER OKKULTER SIEGEL UND SÄULEN

Zur Einführung in die Mappe mit den vierzehn Bildtafeln

Oktober 1907

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Die hier vorliegenden vierzehn Tafeln sind Wiedergaben der «Siegel und Sinnbilder», welche zur Auskleidung des Innenraumes dienten, in dem der Kongreß der «Föderation Europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft» am 18., 19., 20. und 21. Mai 1907 (zu München) stattfand. Sie sind nicht beliebige «Sinnbilder», welche man verstandesmäßig deuten kann, sondern geisteswissenschaftliche « Schriftzeichen», die so genommen werden müssen, wie es der wahren Geisteswissenschaft entspricht. Diese erfindet nicht aus dem Verstande oder der willkür­lichen Phantasie heraus solche «Zeichen», sondern gibt in ihnen nur wieder, was der geistigen Wahrnehmung in den übersinnlichen Welten wirklich als Anschauung vorliegt. Keine Spekula-tion, keine - wenn auch noch so geistreiche - Verstandeserklärung ist gegenüber solchen Zeichen angebracht, da sie eben nicht ausgedacht sind, sondern lediglich eine Beschreibung dessen liefern, was der sogenannte «Seher» in den unsichtbaren Welten wahrnimmt. Bei den hier wiedergegebenen Zeichen handelt es sich um die Beschreibung von Erlebnissen der « astralen» und der «geistigen » (devachanischen) Welt. Die «Siegel » der ersten sieben Tafeln stellen solche wirkliche Tatsachen der astralen Welt dar und die sieben «Säulen» ebensolche der geistigen Welt. Während aber die Siegel unmittelbar die Erlebnisse des «geistigen Schauens» wiedergeben, ist das bei den sieben Säulen nicht in gleicher Art der Fall. Denn die Wahrnehmungen der geistigen Welt lassen sich nicht mit einem «Schauen», sondern eher mit einem «geistigen Hören» vergleichen. Bei diesem muß beachtet werden, daß man es nicht zu sehr dem «Hören» in der physischen Welt ähnlich denken soll, denn obwohl es sich damit ver­gleichen läßt, ist es ihm doch sehr unähnlich. In einem Bilde lassen sich die Erlebnisse dieses geistigen Hörens nur ausdrücken wenn man sie aus dem «Tönen» in die Form übersetzt. Das ist bei diesen « Säulen» geschehen, deren Wesen aber nur verständlich ist, wenn man sich die Formen plastisch (nicht malerisch) denkt.

Im Sinne der Geisteswissenschaft sind die Ursachen zu den Dingen der physischen Welt im Übersinnlichen, Unsichtbaren gelegen. Was sich physisch offenbart, hat seine Urbilder in der astralischen Welt und seine geistigen Urkräfte (Urtöne) in der geistigen Welt. Die sieben Siegel geben die astralischen Urbilder der Menschheitsentwickelung auf der Erde im Sinne der Geisteswissenschaft. Wenn der « Seher» auf dem «Astralplane» diese Entwickelung in die Zeiten ferner Vergangenheit und ferner Zukunft verfolgt, so stellt sich ihm diese in den gegebenen sieben Siegelbildern dar. Er hat nichts zu erfinden, sondern lediglich die von ihm geistig wahr­genommenen Tatsachen zu verstehen.

SIEGEL I stellt umfassend die ganze Erdenentwickelung des Menschen dar. Dieses sowie andere Siegel der Serie kann man in einem gewissen Sinne auch beschrieben finden in der «Offenbarung St. Johannis » (Apokalypse). Denn wer diese Schrift im geisteswissenschaftlichen Sinne zu verstehen vermag, der sieht in ihr nichts anderes als die in Worten gegebene Beschrei­bung dessen, was der « Seher» als Menschheitsentwickelung auf dem astralischen Plane urbild­lich wahrnimmt. So versteht ein solcher auch die ersten Worte dieser Schrift, die (annähernd richtig wiedergegeben) so lauten: «Die Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm dargeboten hat, seinen Dienern zu veranschaulichen, wie in Kürze sich das notwendige Geschehen abspielt;

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dieses ist in Zeichen gesandt durch Gottes Engel seinem Diener Johannes. Dieser hat zum Aus-druck gebracht das Gottes und dessen Offenbarung durch Jesus Christus, in der Art, wie er es geschaut hat.» Die « Zeichen», die er geschaut hat, sind von dem Aufzeichner der « ge­heimen Offenbarung» dargestellt worden. - Man kann an den folgenden Siegeln finden, daß sie in vieler Beziehung ähnlich sind dem, was in der Apokalypse beschrieben ist, doch nicht ganz. Denn unseren Bildern liegt eine geisteswissenschaftliche Methode zugrunde, welche zwar mit aikn Überlieferungen im Einklange ist, in ihrer eigenen Gestalt sich aber, den modernen gei­stigen Bedürfnissen der Menschheit entsprechend, seit dem 14. Jahrhundert in jenen Kreisen ausgebildet hat, die seit jener Zeit die Aufgabe haben, diese Dinge zu pflegen. Dennoch soll hier, wo es darauf ankommt, die Beschreibung unter Hinweis auf die «Offenbarung St. Johan­nis » gegeben werden. Ausdrücklich bemerkt soll werden, daß manches von den sieben Siegeln schon in diesem oder jenem Werke der neueren Zeit veröffentlicht ist; doch wird der in solchen Dingen Eingeweihte finden können, daß diese anderen Wiedergaben in manchen Punkten ab­weichen von der hier gegebenen Gestalt, welche die echte geisteswissenschaftliche Grund­lage zur Darstellung bringen will.

Zum ersten Siegel kann man vergleichen dessen Beschreibung in der Apokalypse. «Und ich wandte mich hin, zu vernehmen die Laute, welche zu mir drangen; und da schaute ich sieben güldene Lichter, und inmitten der Lichter des Menschensohnes Bild, mit langem Gewande und mit einem goldenen Gürtel um die Lenden; und sein Haupt und Haar waren weißglanzend wie werße Wolle oder Schnee, und seine Augen funkelnd im Feuer. Und seine Füße waren feuer-flüssig wie im feurigen Ofen erglüht, und seine Stimme glich dem Zusammenklange rauschen-der Wassermassen. Und in seiner Rechten waren sieben Sterne, und aus seinem Munde kam ein zweischneidiges scharfes Schwert und sein Antlitz in seinem Glanze glich der leuchtenden Sonne.» In allgemeinen Bildern wird da auf umfassendste Geheimnisse der Menschheitsent­wickelung gedeutet. Wollte man in ausführlicher Art darstellen, was der Seher aus diesen Bil­dern sehen kann, so müßte man ein dickes Buch schreiben. Nur ein paar Andeutungen seien gemacht. Jedes Zeichen, jede Form an den Siegelbildern ist vielsagend, und was hier gesagt wird, kann nur etwas von vielem sein. Unter den Organen und Ausdrucksmitteln des Menschen sind solche, welche in ihrer gegenwärtigen Gestalt die abwärtsgehenden Entwickelungsstufen früherer Formen darstellen, die also ihren Vollkommenheitsgrad bereits überschritten haben; andere aber stellen die Anfangsstufen einer Entwickelung dar, die in aufsteigender Richtung sich bewegt. Solche Glieder am Menschen sind heute erst noch unvollkommen und werden künftig ganz andere höhere Aufgaben zu erfülien haben. Ein Organ, das in der Zukunft etwas viel Höheres, Vollkommeneres sein wird, als es gegenwärtig ist, stellt das Sprachorgan dar, mit allem, was am Menschen zu ihm gehört. Indem man dieses andeutet, rührt man an ein großes Geheimnis des Daseins, welches auch das «Mysterium des schaffenden Wortes» genannt wird. Es ist damit eine Hindeutung auf den Zukunftszustand dieses Organs gegeben, das einmal, wenn der Mensch vergeistigt sein wird, Produktions- (Zeugungs-) Organ sein wird.

In den Mythen und religiösen Erzählungen wird diese zukünftige vergeistigte Produktions­form durch das sachgemaße Bild von dem aus dem Munde kommenden feurigen « Schwert» angedeutet. Die ersten Stufen der Erdenentwickelung des Menschen verliefen in einer Zeit, als die Erde noch «feurig» war; und aus dem Elemente des Feuers haben sich die ersten mensch­lichen Verkörperungen heraus gestaltet; am Ende seiner Erdenlaufbahn wird der Mensch selbst sein Inneres durch die Kraft des Feuerelementes schöpferisch nach außen strahlen. Dieses Fort-entwickeln vom Erdenanfang zum Erdenende erschließt sich dem « Seher», wenn er auf dem Astralplan das Urbild des werdenden Menschen erblickt, wie es im ersten Siegel wiedergegeben

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ist. Der Anfang der Erdenentwickelung steht da in den feurigen Füßen, das Ende in dem feu­rigen Antlitz und die vollkommene zuletzt zu erringende Kraft des «schöpferischen Wortes» in dem feurigen Schwert, das aus dem Munde kommt. Während diese Entwickelung abläuft, steht des Menschen Werden und seine dabei entfalteten Kräfte nacheinander unter dem Einfluß von Kräften, die sich in den sieben Sternen der Rechten ausdrücken. So stellt jede Linle, jeder Punkt gewissermaßen auf dem Bilde etwas dar, was mit dem umfassenden Entwickelungs-geheimnis des Menschen zusammenhängt.

SIEGEL II stellt einen der ersten Entwickelungszustände der Erdenmenschheit dar, mit allem, was dazugehört. Der Erdenmensch hat in ferner Urzeit nämiich noch nicht das gehabt, was man Individualseele nennt. Es war damals bei ihm das vorhanden, was gegenwärtig noch die auf einer früheren Entwickelungs stufe der Menschheit zurückgebliebenen Tiere haben: die Gruppenseele. Wenn durch imaginatives Hellsehen in der Rückschau auf die Vorzeit die menschlichen Gruppenseelen auf dem Astralplan verfolgt werden, so ergibt sich, daß die ver­schiedenen Formen derselben auf vier Grundtypen zurückgeführt werden können. Und diese srnd in den vier apokalyptischen Tieren des zweiten Siegels wiedergegeben: dem Löwen, dem Stier, dem Adler und jener Gestalt, die sich auch als Gruppenseele der individuellen Seele des gegenwärtigen Menschen nähert und die deshalb auch: der «Mensch» heißt. Damit ist an die Wahrheit dessen gerührt, was oftmals so trocken allegorisch bei den vier Tieren «ausgedeutet» wird.

SIEGEL III stellt die Geheimnisse der sogenannten Sphärenharmonie dar. Der Mensch erlebt diese Geheimnisse in der Zwischenzeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt (im «Gei­sterlande» oder dem, was in der gebräuchlichen theosophischen Literatur «Devachan» genannt wird). Es ist aber bei allen diesen Siegeln festzuhalten, daß sie nur die Erfahrungen der astrali­schen Welt darstellen. Doch können auch andere Welten, als diese astralische selbst, in dieser beobachtet werden. Unsere physische Welt kann man nach ihren Urbildern auf dem Astralplan beobachten. Und die geistige Welt ist in ihren Nachbildern auf diesem Plan zu schauen. So stellt das dritte Siegel die astralischen Nachbilder des «Geisterlandes» dar. Die Posaunen blasenden Engel stellen die geistigen Urwesen der Welterscheinungen dar; die Posaunentöne selbst die Kräfte, die von diesen Urwesen aus in die Welt strömen und durch welche die Wesen und Dinge aufgebaut und in ihrem Werden und Wirken erhalten werden. Die «apokalyptischen Reiter» stellen die Hauptentwickelungspunkte dar, durch welche eine Menscherindividualität im Laufe vieler Verkörperungen durchgeht und die sich auf dem Astralplan in den Reitern auf den Pferden darstellen: ein weißglänzendes Pferd, eine sehr frühe Stufe der Seelenentwickelung aus­drückend; ein feuerfarbenes Pferd, auf die kriegerische Entwickelungs stufe der Seele deutend; ein schwarzes Pferd, entsprechend jener Seelenstufe, wo nur das äußere physische Wahrnehmen der Seele entwickelt ist; und ein grünschimmerndes Pferd, das Bild der reifen Seele, welche die Herrschaft über den Leib hat (daher die grüne Farbe, welche sich als Ausdruck der von innen nach außen wirkenden Lebenskraft ergibt).

SIEGEL IV stellt unter anderem zwei Säulen dar, deren eine aus dem Meer, die andere aus dem Erdreich aufragt. In diesen Säulen ist das Geheimnis angedeutet von der Rolle, welche das rote (sauerstoffreiche) Blut und das blaurote (kohlensäurereiche) Blut in der menschlichen Entwickelung spielen. Das menschliche «Ich» macht im Erdenkreislauf seine Entwickelung da­durch durch, daß es sein Leben physisch zum Ausdrucke bringt in der Wechselwirkung zwischen

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rotem Blut, ohne das es kein Leben, und dem blauen Blut, ohne das es keine Erkenntnis gäbe. Blaues Blut ist der physische Ausdruck der Erkenntnis gebenden Kräfte, die aber für sich allein in ihrer menschlichen Form mit dem Tode zusammenhängen, und totes Blut ist der Aus­druck des Lebens, das aber in der menschlichen Form keine Erkenntnis für sich allein geben könnte. Beide in ihrem Zusammenwirken stellen dar den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens, oder auch die beiden Säulen, auf denen sich das Leben und die Erkenntnis des Ich fortentwickeln bis zu jenem Vollkommenheitsgrade, wo der Mensch eins werden wird mit den nniversalen Erdenkräften. Dieser letztere Zustand der Zukunft kommt auf dem Siegel durch den Oberleib zur Anschauung, der aus Wolken besteht, und durch das Gesicht, das sich die geistigen Kräfte der Sonne angeeignet hat. Das «Wissen» wird dann der Mensch nicht mehr von außen in sich aufnehmen, sondern in sich «verschlungen» haben, was in dem Buche in der Mitte des Siegels angedeutet ist. Erst durch solches «Verschlingen» auf höherer Daseins-stufe öffnen sich die sieben Siegel des Buches, wie sie auch auf Siegel III angedeutet sind. In der «Offenbarung St. Johannis» findet man darüber die bedeutungsvollen Worte: «Und ich nahm das Büchlein aus des Engels Hand und verzehrte es...»

SIEGEL v stellt dar eine höhere Entwickelungsstufe des Menschen, wie sie eintreten wird, wenn die Erde sich wieder mit der Sonne vereinigt haben und der Mensch nicht mehr bloß mit den Erdenkräften, sondern mit den Sonnenkräften arbeiten wird. Das «Weib, das die Sonne gebiert» bezieht sich auf diesen Zukunftmenschen. Gewisse Kräfte niederer Natur, welche im Menschen leben und ihn an der vollen Entfaltung seiner höheren Geistigkeit hindern, wird er dann aus sich herausgesetzt haben. Diese Kräfte stellen sich im Siegel einerseits dar in dem Tiere mit den «sieben Köpfen und zehn Hörnern», anderseits in dem Monde zu Füßen des Sonnenmenschen. Der Mond ist für die Geisteswissenschaft der Mittelpunkt gewisser niederer Kräfte, welche heute noch in der menschlichen Wesenheit wirken und die der Mensch der Zukunft «unter sich» zwingen wird.

SIEGEL VI stellt den gereinigten, nicht nur vergeistigten, sondern in der Geistigkeit stark gewordenen Menschen dar, welcher die niederen Kräfte nicht nur überwunden, sondern sie so umgewandelt hat, daß sie als verbesserte zu seinen Diensten stehen. Das gezähmte «Tier» drückt dieses aus. In der «Offenbarung St. Johannis» ist darüber zu lesen: «Und ich schaute, wie dem Himmel ein Engel entstieg, der den Schlüssel des Abgrunds hielt und eine große Kette in der Hand hatte. Und er brachte den Drachen, die Schlange der Vorzeit, in seine Gewalt, welche der Teufel und Satan ist> und er band ihn auf tausend Jahre.»

SIEGEL VII ist die Wiedergabe des «Mysteriums vom heiligen Gral». Es ist dasjenige astra­lische Erlebnis, welches den universellen Sinn der Menschheitsentwickelung wiedergibt. Der Würfel stellt die «Raumeswelt» dar, die noch von keinem physischen Wesen und keinem physi­schen Ereignis durchsetzt ist. Für die Geisteswissenschaft ist nämiich der Raum nicht bloß die «Leere», sondern er ist der Träger, der auf noch unsichtbare Art die Samen alles Physischen in sich birgt. Aus ihm heraus schlägt sich gleichsam die ganze physische Welt nieder, wie sich ein Salz niederschlägt aus der noch ganz durchsichtigen Lösung. Und was - in bezug auf den Menschen - sich aus der Raumeswelt herausbildet, das macht die Entwickelung vom Niedern zum Höhern durch. Es wachsen heraus aus den «drei Raumesdimensionen», welche im Würfel ausgedrückt sind, zuerst die niedrigeren Menschenkräfte, veranschaulicht durch die beiden Schlangen, die aus sich wieder die geläuterte höhere geistige Natur gebären, was in den Weltenspiralen

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sich darstellt. Durch das Aufwärtswachsen dieser höheren Kräfte kann der Mensch Empfänger werden (Kelch) für die Aufnahme der rein geistigen Weltwesenheit, ausgedrückt durch die Taube. Dadurch wird der Mensch Beherrscher der geistigen Weltmächte, deren Abbild der Regenbogen ist. Das ist eine ganz skizzenhafte Beschreibung dieses Siegels, das unermeßliche Tiefen in sich birgt, die sich demjenigen offenbaren können, der es in der hin­gebungsvollen Meditation auf sich wirken läßt. Umschrieben ist dieses Siegel mit dem Wahr­heitsspruch der modernen Geisteswissenschaft: «Ex deo nascimur, in Christo morimur, per spiritum sanctum reviviscimus», «Aus Gott bin ich geboren; in Christo sterbe ich; durch den heiligen Geist werde ich wiedergeboren.» In diesem Spruch ist ja der Sinn der menschlichen Entwickelung voll angedeutet.

Zwischen je zwei dieser Siegel befand sich im Kongreßraume eine der sieben Säulen, welche in der zweiten Serie der Bilder wiedergegeben sind. In den Kapitälern dieser Säulen sind, wie oben bereits angedeutet, Erfahrungen des «Sehers» (was auf diesem Gebiete eigentlich nicht mehr ein passender Name ist) in der «geistigen Welt» dargestellt. Es handelt sich um die Wahr­nehmung der Urkräfte, welche in geistigen Tönen bestehen. Die plastischen Formen der Kapi­täler sind Übersetzungen dessen, was der «Seher» hört. Doch sind diese Formen keineswegs willkürlich, sondern so, wie sie sich auf ganz natürliche Art ergeben, wenn der «sehende Mensch» die «geistige Musik» (Sphärenharmonie), die sein ganzes Wesen durchströmt, auf die formende Hand wirken läßt. Die plastischen Formen sind hier wirklich eine Art «gefro­rener Musik», welche die Weltgeheimnisse zum Ausdruck bringt. Daß diese Formen als Säulen­kapitäler auftreten, erscheint für den, welcher die Sachlage durchschaut, wie selbstverständlich. Die Grundlage der physischen Entwickelung der Erdenwesen liegt in der geistigen Welt. Von dort aus wird sie «gestützt». Nun beruht alle Entwickelung auf einem Fortschreiten in sieben Stufen. (Die Zahl sieben soll dabei nicht als Ergebnis eines «Aberglaubens» aufgefaßt werden, sondern als der Ausdruck einer geistigen Gesetzmäßigkeit, wie die sieben Regenbogenfarben der Ausdruck einer physischen Gesetzmäßigkeit sind.) Die Erde selbst schreitet in ihrer Ent­wickelung durch sieben Zustände, die mit den sieben Planetennamen bezeichnet werden:

Saturn-, Sonne-, Mond-, Mars-, Merkur-, Jupiter- und Venuszustand. (Über den Sinn dieser Sache vergleiche man meine «Geheimwissenschaft» oder die Aufsätze «Aus der Akasha-Chro­nik» in «Luzifer-Gnosis».) Doch nicht allein ein Himmels körper schreitet in seiner Entwicke­lung so vorwärts, sondernjede Entwickelung durchläuft sieben Stufen, die man im Sinne der modernen Geisteswissenschaft mit den Ausdrücken für die sieben planetarischen Zustände be­zeichnet. In der oben gekennzeichneten Weise sind die geistigen Stützkräfte dieser Zustände durch die Formen der Säulenkapitäler wiedergegeben. Man wird aber zu keinem wahren Ver­ständnisse dieser Sache kommen, wenn man nur die verstandesmäßige Erklärung beim Be­schauen der Formen zugrunde legt. Man muß künstlerisch-empfindend sich in die Formen hinern­schauen und die Kapitäler eben als Form auf sich wirken lassen. Wer dies nicht beachtet, wird glauben, nur Allegorien oder im besten Falle Symbole vor sich zu haben. Dann hätte er alles mißverstanden. Dasselbe Motiv geht durch alle sieben Kapitaler: eine Kraft von oben und eine von unten, die sich erst entgegenstreben, dann, sich erreichend, zusammenwirken. Diese Kräfte sind in ihrer Fülle und in ihrem inneren Leben zu empfinden und dann ist von der Seele selbst zu erleben, wie sie lebendig gestaltend sich breiten, zusammenziehen, sich umfassen, ver­schlingen, aufschließen und so weiter. Man wird diese Komplikation der Kräfte fühlen kön­nen, wie man das «Sichgestalten» der Pflanze aus ihren lebendigen Kräften fühlt, und man wird empfinden können, wie die Kraftlinie erst senkrecht nach oben wächst in der Säule, wie sie

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sich unten entfaltet in den plastischen Gestalten der Kapitäler, welche sich den von oben ihnen entgegenkommenden Kräften öffiien und aufschließen, so daß ein sinnvoll tragendes Kapitäl wird. Erst entfaltet sich die Kraft von unten in der einfachsten Art, und ihr strebt ebenso ein­fach die Kraft von oben entgegen (Saturn-Säule); dann füllen sich die Formen von oben an, schieben sich in die Spitzen von unten hinein und bewirken so, daß die unteren Formen nach den Seiten ausweichen. Zugleich schließen sich diese unteren Formen zu lebendigen Gebilden auf (Sonnen-Säule). Im ferneren wird das obere mannigfaltiger, eine Spitze, die hervorgetrieben war, wächst wie zu einem befruchtenden Prinzip aus, und das untere gestaltet sich zu einem Fruchtträger um. Das andere Kraftmotiv zwischen beiden ist zu einer tragenden Stütze gewor­den, weil das Verhältnis der Zwischenglieder nicht genug stark als Tragkraft empfunden würde (Mond-Säule). Weiterhin tritt eine Abscheidung des Unteren und Oberen ein, die starken Träger des Mondkapitäls sind selbst säulenartig geworden, das dazwischenliegende Obere und Untere sind verwachsen zu einem Gebilde, von oben deutet sich ein neues Motiv an (Mars-Säule). Die aus der Verbindung des Oberen und Unteren entstandenen Gebilde haben Leben angenommen, erscheinen daher als von Schlangen umwundener Stab. Man wird empfinden müssen, wie dieses Motiv aus dem vorigen organisch herauswächst. Die mittleren Gebilde des Mars kapitäls sind verschwunden; ihre Kraft ist von dem stützenden inneren Teile des Kapitäls aufgesogen; die vorher von oben kommenden Andeutungen sind voller geworden (Merkur-Säule). Nun geht es wieder zu einer Art Vereinfachung, die aber die Frucht der vorhergangigen Vermannigfaltigung in sich schließt. Das Obere schließt sich kelchartig auf, das Untere ver­einfacht das Leben in einer keuschen Form (Jupiter-Säule). Der letzte Zustand zeigt diese «innere Fülle» bei der äußeren Vereinfachung aufs höchste. Die Wachstumsgestaltungen von unten haben von obenher ein fruchttragendes Kelchartiges hervorgelockt (Venus-Säule).

Wer alles das empfinden kann, was in diesen «Säulen» des Weltgeschehens ausgedrückt ist, derfühlt umfassende Gesetze alles Seins, welche die Lebensrätsel in ganz anderer Weise lösen als abstrakte «Naturgesetze».

Es soll in diesen Abbildungen eine Probe gegeben sein, wie die geistige Anschauung Form, Leben, künstlerische Gestaltung werden kann. Man beachte, daß die Abbildungen lebendige Daseinskräfte der höheren Welt wiedergeben; und diese höheren Geisteskräfte wirken tief auf den Betrachter der Bilder. Sie wirken direkt auf Kräfte, die, ihnen entsprechend, in jedem Men­schen schlummern. Aber ihre Wirkung ist nur eine richtige, wenn man diese Bilder mit der rechten inneren Seelenverfassung betrachtet. Wer mit theosophischen Vorstellungen im Kopfe und mit theosophischen Gefühlen im Herzen die Bilder betrachtet, der wird aus ihnen ein Heiligstes empfangen. Wer sie sich an einen beliebigen Ort hängen oder stellen wollte, wo er ihnen mit alltäglichen Gedanken und Empfindungen gegenübertritt, der wird eine ungünstige Wirkung verspüren, die bis zur schlimmen Beeinflussung des körperlichen Lebens gehen kann. Man richte sich darnach und trete zu den Bildern nur in ein Verhältnis, das im Einklange steht mit einer Hingabe an die geistigen Welten. Zum Schmucke eines dem höheren Leben dienen­den Raumes sollen solche Bilder dienen; nimmermehr soll man sie an Orten finden oder be­trachten, wo die Gedanken der Menschen nicht mit ihnen im Einklange sind. *

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* Leider war es nicht tunlich, die Siegel kolorjert wiederzugeben. Für den Kongreß waren sie in Farben ausgeführt. Doch ge­nügt es zur vorläufigen Veranschaulichung, daß sie hier in dieser Form vorliegen. Die Siegel für den Kongreßsaal hat nach den ihr gemachten Angaben Frl. CI Rettich, Stuttgart, die Säulen Herr Karl Stahl, München, ausgeführt. R. Steiner

[In der Ausgabe von 1977 konnten erstn'als die Siegel farbig wiedergegeben werden.]

AUS DER GESCHICHTE UNSERER GESELLSCHAFT VOR VIER MAL SIEBEN JAHREN Ein Aufsatz aus dem Jahre 1935

#G284-1977-SE097 Bilder okkulter siegel und Säulen

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MARIE STEINER

AUS DER GESCHICHTE UNSERER GESELLSCHAFT

VOR VIER MAL SIEBEN JAHREN

Ein Aufsatz aus dem Jahre 1935

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Zu Pfingsten 1907 fand in München der Kongreß der Föderation Europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft statt. Es wurde von Dr. Steiner der Versuch gemacht, nun auch äußerlich, in der Ausgestaltung des Raumes, in der Wahl der künstlerischen Darbie­tungen, dasjenige zum Ausdruck zu bringen, was die angestrebten spirituelien Ziele in die Zeit und in den Strom des Weitgeschehens hineinstellt. Die theosophische Bewegung hatte das Verdienst, auf die uralte Weisheit hingewiesen zu haben, die als elnigendes Band alle Religio­nen durchzieht. Auf die Differenzierungen aber, die das allgemeine Kulturniveau der Mensch­heit allmählich gehoben haben, und auf die Herausarbeitung des menschlichen Eigenbewußt­Seins, durch welches ein individuelles Ich sich innerhalb des göttlichen Selbstes als solches erfaßt und aufbaut, ging die orientalisierende Theosophle nicht ein, denn ihr fehlte das Verständnis für die historische Entwicklung und für die Bedeutung des Christentums. Indem Rudolf Steiner hingewiesen hatte auf die abendländische Mystik, auf den Zusammenhang des Christentums mit dem alten Mysterienwissen und auf die neuzeitliche christliche Esoterik, die mit der Gegenwart rechnet und auch die Inspirationsquelle Goethes gewesen ist, war er erkannt wor­den als der Bringer eines neuen Einschlags und - trotz seines anfänglichen Widerstrebens -hereingerufen worden in die Theosophlsche Gesellschaft als Lehrer und Führer zu noch unbe­kannten Wissensgebieten. Seine Bücher waren im Ausland gewürdigt und übersetzt. Nun sollte anläßlich dieses Kongresses Europäischer Sektionen auch bildhaft in der Andeutung äußerer Formen und durch die Wahl der Dichtungen der neue Einschlag, der im Buch und im gesprochenen Wort zunächst dankbar entgegengenommen war, zum Ausdruck kommen. Es sollte der Versuch gemacht werden, das künstlerische Leben der Gesellschaft intensiver zu befruchten, um das bis dahin recht stark mangelnde Verständnis für die Bedeutung der Kunst innerhalb des geistigen Lebens der Menschheit zu wecken. Der Eindruck war ein ungeheurer. Das feierliche Rot, in das die Wände gehüllt waren, wirkte auf die einen belebend wie die Kraft der Auferstehung, auf die andern fast wie göttlicher Zorn, denn sie konnten ihre Er-regung nicht meistern. Hinzugefügt muß werden, daß das ausführende Kongreßkomitee, zu dem Dr. Steiner selbst nicht gehörte, darauf bestanden hatte, nicht Mrs. Besant, die es als etwas Selbstverständliches erwartete, sondern Dr. Steiner zum Präsidenten des Kongresses zu wählen:

Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr den Ehrenvorsitz anzubieten. Es war von seiten der Deutschen Sektion dadurch etwas Demonstratives geschehen - allzu notwendig in einer Zeit, wo man angefangen hatte, während des langsamen Hinscheidens von Colonel Olcott in Adyar mit medialen Kundgebungen und darauf bezüglichen Berufungen zu arbeiten -, aber auch not-wendig, damit der besondere Charakter der Münchner Veranstaltungen gewahrt bliebe.

Die Siegel wiesen hin auf Geheimnisse, die den meisten noch unerschlossen waren und die einen neu erwachten Erkenntnisdrang anfeuerten oder aber die liebgewonnene Meinung ver­letzten, daß man es schon so herrlich weit im Erkennen gebracht hätte. Von der Bühne herab sprach durch die Wiedergabe der Schuréschen Rekonstruktion des eleusinischen Dramas grie­chische Vergangenheit ihr ewig lebendiges Wort. Die Säulen-Motive erzählten im Bilde von der Ur-Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Sie spornten den Bildedrang an; sie haben den

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neuen Bau-Gedanken zur Tat werden lassen. Es standen Realitäten hinter den Zeichen, und diese wirkten. Und die Essenz so vieler Erkenntuisrätsel war zusammengefaßt in den Leit­sätzen der das Blutgeheimnis verkündenden Säulen-Weisheit, die im Vordergrund des Saales den Blick des Beschauers fesselte. Auf dem Rot der Programme schimmerten zum ersten Male die uns allen so vertraut gewordenen dreigegliederten Initialen jener Zielsätze, die den Quell des Seins, des Lebens und des Werdens im Zeichen umfassen.

Die Realität dieser wirkenden Kräfte war so stark, daß sie zu den Impulsen werden konnte, die auf der einen Seite wie eine beglückende Geistesgabe das festliche Begehen der Mysteri en spiele ermöglichten, auf der andern Seite zum kühnen Entschluß führten, ihnen und dem von Rudolf Steiner gesprochenen Wort eine würdige Umrahmung zu schaffen, einen eigenen Bau zu errichten. In der Gestaltung des Kongresses vom Jahre 1907 in den Münchner Kaim-Sälen liegt schon der Keim zu der Einrichtung der nun im Jahreslauf sich wiederholenden Festspiele und des Dornacher Baus, der ja zunächst für München gedacht war. Es liegt aber auch schon hier der Ausgangspunkt für das, was zur Trennung vQn der Theosophischen Geselischaft geführt hat. Wirkung und Gegenwirkung waren hier gleich stark. Die Theosophen weigerten sich, den Einschlag der abendländischen und christlichen Esoterik in ihrer alten und neuen Form aufzunehmen; von uns aber mußte das von Adyar ausgehende Zurückgreifen zu atavi­stischen Kräften und zur Medialität streng abgewiesen werden. Als nun gar der Name des Christus usurpiert wurde für den Unfug, der mit dem «Stern des Ostens» getrieben wurde, und zugleich ein Zwang auf die Führung der anthroposophisch orientierten Bewegung mit unlau­tern Mitteln ausgeübt wurde, kam es zur Trennung und später zur Gründung der Anthroposo­phischen Gesellschaft. Die innere Seelenscheidung jedoch kam schon in jenen Tagen des Kon­gresses zum Ausdruck.

So manche Anregung war damals noch gegeben worden, die zum Bestandteil unseres anthro­posophischen Lebens geworden ist. Fausts Wiedererkraftung nach dem seelischen Zusammen­bruch in der Ariel-Szene, die nun zu unserem jährlichen Pfiflgstprogramm gehört, seitdem die eurythmische Kunst ins Leben getreten ist, konnte damals schon als Monolog gesprochen wer­den. Wie hat uns doch Dr. Steiner seither dessen Etappen so eingehend geschildert: dieses Aus­löschen des Bewußtseins nach der schweren Qual, ein Untertauchen in die elementarische Welt, ein Baden im Tau des Äthers nach dem Durchgang durch das flammensprühende, sengende Feuermeer - das Wiederergreifen des Erdbewußtseins. «Im farbigen Abglanz haben wir das Leben» - Fausts Neubelebung! Hier liegt der Ausgangspunkt zu dem, was wir als die wun­derbaren Erläuterungen zu Goethes Faust erhalten haben.

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MATHILDE SCHOLL

DER KONGRESS IN MÜNCHEN

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Der diesjährige Kongreß der Theosophischen Gesellschaft, der gemäß dem Beschlusse des Pariser Kongresses im vergangenen Jahre seitens der Deutschen Sektion vorbereitet worden und in den Tagen des Pfingstfestes in München stattgefunden hat, nahm einen recht bedeut­samen Verlauf.

Es war der Deutschen Sektion die große Freude beschieden, auf diesem ersten in ihrem Bezirke abgehaltenen Kongresse Mrs. Besant als Gast begrüßen zu dürfen, die nach zwei­jähriger Abwesenheit von Europa wieder hier ist und in München gelegentlich ihres Besuches zum ersten Male wieder gehört werden konnte. Außer ihr fanden sich eine große Anzahl in­und ausländischer Mitglieder der Gesellschaft ein, so daß einschließlich der Münchener Logen-mitglieder wohl rund 600 Teilnehmer dem Kongresse beigewohnt haben.

Nachdem am Freitagabend die satzungsgemäße Sitzung des internationalen Comités in den Räumen der Münchener Loge stattgefunden hatte, ging am Samstag, den 18. Mai, morgens 10 Uhr in der Tonhalle zu München, in der die Tagungen stattfinden sollten, die Eröffnung des auf vier Tage bemessenen Kongresses durch den Generalsekretär der Deutschen Sektion, Herrn Dr. Rudolf Steiner, vor sich.

Nach einer musikalischen Einleitung, die die Wiedergabe von Johann Sebastian Bachs F-dur-Toccata durch Herrn Emanuel Nowotny bildete, begrüßte Herr Dr. Steiner die erschie­nenen Vertreter der Sektionen sowie die Teilnehmer am Kongresse; vor allem gab er aber in herzlichen und beredten Worten, die er an Mrs. Annie Besant richtete, seiner Freude über deren Anwesenheit und seinem Danke für ihr den Kongreß ehrendes Erscheinen Ausdruck, sie gleichzeitig bittend, das Ehrenpräsidlum zu übernehmen... Nunmehr gedachte der Redner des entschlafenen Präsident-Gründers Col. Olcott. Die Versammlung hörte stehend seine Worte an. Er sagte unter anderem, daß der Entschlafene ein außerordentlich großes Organisationsgenie besessen habe, das notwendig gewesen wäre, um der Theosophischen Gesellschaft auf dem physischen Plane die notwendige Richtung zu geben. Olcotts Wirken sei aber auch deshalb so wertvoll gewesen, weil er jeden einzelnen bei dem Bestreben sich zu entwickeln in seinem Wesen respektiert hätte ... Nach dieser Ansprache des Generalsekretärs der Deutschen Sektion überbrachten die Vertreter der Sektionen der verschiedenen Länder dem Kongresse die Grüße ihrer Mitglieder; es waren dies die Vertreter und Generalsekretäre von England, Frank­reich, Holland, Belgien, Skandinavien, Italien, Ungarn, Böhmen, Rußland, Bulgarien, den Verelnigten Staaten von Nordamerika, die, in ihr er Landessprache redend, ein fast lückenloses anschauliches Bild von dem Verbreitungskreise der Theosophischen Gesellschaft gaben. Als­dann begrüßte Mrs. Besant den Kongreß ...

Die Teilnehmer der Versammiung nahmen nunmehr die Gelegenheit wahr, die eindrucks­volle Ausstattung des großen Tonhallensaales näher zu besichtigen sowie auch im Vorsaale die dort vereinte kleine, aber fesselnde Bildersammlung zu betrachten. Schon der erste Anblick des mit rotem Stoffe bekleideten großen Saales hatte auf die Gäste einen besonderen Eindruck gemacht; man gestand sich je länger je mehr, daß die intensive jedoch nicht grelle Farbe des Raumes eine beruhigende, wenn nicht erhebende Stimmung hervorrufe. Diese Stimmung unterstützte noch eine Anzahl von plastischen Kunstwerken, sieben gemalte mächtige Säulen und sieben runde Wandbilder mit symbolischen Darstellungen, wie auch vor der Bühne, auf der die Vertreter der Sektionen Platz genommen hatten, die Büsten von Schelling, Hegel und

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Fichte und zwei kräftige Rundsäulen mit kugelförmigem AbscMusse, auf denen die Inschriften gelesen werden konnten:

J

Im reinen Gedanken findest du

Das Selbst, das sich halten kann.

Wandelst zum Bilde du den Gedanken,

Erlebst du die schaffende Weisheit.

B

Verdichtest du das Gefühl zum Licht,

Offenbarst du die formende Kraft.

Verdinglichst du den Willen zum Wesen,

So schaffest du im Weltensein.

Der Nachmittag des Sonnabends war Vorlesungen und Vorträgen gewidmet...

Am Abend desselben Tages, gegen 8 Uhr, vereinigten sich die Kongreßteilnehmer bei einer deklamatorisch-musikalischen Veranstaltung im Tonhallensaal, die dazu angetan war, engeren Zusammenschluß unter den Mitgliedern der Gesellschaft herbeizuführen, da zwischen den ver­schiedenen Nummern des Programms längere Pausen eingeschoben worden waren; hierzu mochte alsdann auch ein reich besetztes Buffet im grüngeschmückten Seitenraume dienen. Nach dem Vortrage des Präludlums und der Fuge in h-moll von Johann Sebastian Bach durch Herrn Emanuel Nowotny, der sämtliche Orgelvorträge auf dem Kongresse mit meisterlicher Beherr­schung dieses Instruments ausführte, trug Fräulein Marie von Sivers Stellen aus dem zweiten Teil von Goethes «Faust» vor, die besonders von der spirituellen Tiefe dieser Dichtung zeug­ten. Alice von Sonklar und Toni Völker spielten darauf am Klavier Robert Schumanns stim­mungsvolle «Bilder aus dem Osten», während Gertrud Garmatter die Lieder von Franz Schubert «An die Musik» und «Du bist die Rnh» sang. Schließlich trug Toni Völker am Flügel ein Pastorale und Capriccio von Scarlatti vor. Nach den recht ansprechend gesungenen und ge­spielten Darbietungen verblieben die Kongreßteilnehmer in anregendem Gespräche noch einige Stunden zusammen.

Am Sonntag, den 19. Mai, 10 Uhr vormittags, wurde die Tagung durch das Trio in Es-dur von Johannes Brahms - erster Satz -, gespielt von den Damen Johanna Fritsch, Marika von Gumppenberg und Herrn Hermann Tuckermaun, eröffnet; es ist dies ein empfindungsvolles Werk für Klavier, Geige und Horn. Nunmehr hielt Mrs. Besant ihren bedeutungsvollen Vor­trag: «The Place of Phenomena rn the Theosophical Society.»...

Der zweite Vortrag des Vormittags war derjenige Dr. Rudolf Steiners über «Die Einweihung des Rosenkreuzers», in dem die Methode zur Erreichung von Kenntnissen übersinnlicher Wel­ten im Sinne der seit dem 14. Jahrhundert im Abendlande tonangebenden Esoterik auseinander­gesetzt und gleichzeitig die Notwendigkeit dieser Methode für die gegenwärtige Entwick­lungsperiode der Menschheit gezeigt wurde.

Am Sonntagnachmittag, 5 Uhr, gelangte hierauf das heilige Drama von Eleusis - aus dem Französischen -, Mysterium von Edouard Schuré, Musik von Bernhard Stavenhagen, auf der

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Bühne des Saales, die nunmehr einen aus gemalten Pfeilern und Säulen bestehenden Rahmen erhalten hatte, zur Aufführung... Das poetisch schöne Werk hinterließ eine feierliche Stim­mung, die nicht zum kleinsten Teile der bis in alle Einzelheiten sorgfältigen Vorbereitung durch Herrn Dr. Rudolf Steiner zu danken war. Gesten und Gebärden der Mitwirkenden kamen nach dessen Angaben so zum Ausdruck, wie man sie in der Zeit der Antike zu bilden pflegte; dabei war seine Regie bestrebt, die persönliche Eigenart des Darstellers nicht zu be­schränken; sie lief vielmehr darauf hinaus, die Freude an dem schönen Werk in eine Stimmung der Begeisterung zu steigern, aus der ganz von selbst das einheitliche Zusammenspiel aller Mitwirkenden entstand. Doch nicht nur das Spiel auf der Bühne war nach den Angaben des Herrn Dr. Steiner gestaltet worden, auch die Kostüme, die Dekorationen und alle Einzelheiten der Szenerie wurden nach seinen Intentionen ausgeführt. Denjenigen, welchen es vergönnt gewesen ist, den Leseabenden und Bühnenproben beizuwohnen, ist es bekannt, welche Un­summe von Arbeit besonders von ihm geleistet werden mußte. Zu den einzelnen Szenen der Dichtung führte die Musik von Bernhard Stavenhagen, in weihevoller Stimmung auf das Kom­mende vorbereitend, ein. In großen pathetischen Tonfolgen schien sie vermittels ihrer reichen Instrumentierung, in die sich auch die Orgel eingliederte, auf einen geheimnisvollen Welten­vorgang hinzudeuten, den die Zuhörer demnächst auf der Bühne erschauen und nacherleben sollten. Die ergreifende Wirkung ihrer majestätischen Klänge machte sich allgemein geltend. Die Aufführung hatte bis gegen 7.30 Uhr gedauert; alsdann verbrachten die Teilnehmer den Abend in geselligem Zusammensein, bei Benutzung eines im Nebenraume befindlichen Buffets.

Der dritte Tag des Kongresses begann am Montag, den 20. Mai, vormittags 10 Uhr mit Rezitationen seitens des Kölner Logenmitgliedes, Herrn Richard Jürgas, der Goethes «Pro­metheus» und «Gesang der Geister über den Wassern» mit eindringlicher Kraft in schöner Sprache vortrug. Dann hatten die Teilnehmer die große Freude, den zweiten Vortrag von Mrs. Besant zu hören....

Nach diesem Vortrage erfreute unser Mitglied Frau Hempel die Teilnehmer mit einer treff­lichen Leistung ihrer Gesangskunst. Dann sprach Herr Dr. Carl Unger aus Stuttgart über «Die Wege der theosophischen Weltanschauung». Es war dabei seine Absicht, zu zeigen, wie in Stuttgart die Logenarbeit betrieben wurde. Anschließend an Dr. Steiners Buch «Theosophie» versuchte er die Stellung des Mitgliedes zu den Mitteilungen der Führer aus der okkulten Welt klarzulegen. Dabei schloß er sich eng an diejenigen philosophischen Lehren an, die imstande sind, in unsere geistige Existenz hineinzuleuchten. Seine exakten Ausführungen fanden bei der Versammiung großen Anklang. Nachdem Dr. Unger gesprochen hatte, verbreitete sich Frau Elise Wolfram über «Die okkulte Grundlage der Siegfriedsage». ...

In der Nachmittagssitzung, die um 3.30 Uhr ihren Anfang nahm, las Baronin Gumppen­berg eine Arbeit von Arvid Knös in englischer Sprache vor: «Absolute and Relative Truths.»

Dann hielt Herr Dr. Rudolf Steiner einen Vortrag über «Planetenentwicklung und Mensch­heitsentwicklung». In längeren eingehenden Darlegungen zeigte er, wie mit der Entwicklung des Makrokosmos die Entwicklung des Mikrokosmos in Zusammenhang steht. Er legte dar, daß wir in unserem Planeten sieben Entwicklungsstufen betrachten können, nämlich drei vor und drei nach der jetzigen; es sind dies die Saturn-, Sonnen- und Mondzustände als hinter uns liegend, der Erdzustand (Mars- und Merkurzustand), und die noch folgenden Jupiter-, Venus-und Vulkanzustände.

Die dritte Tagung wurde wieder abends 8 Uhr mit einer Zusammenkunft der Teilnehmer des Kongresses in der Tonhalle bei musikalischen Vorträgen beendet, mit der in den Pausen eine Einladung zum Tee verbunden war. ...

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Am Dienstag, den 21. Mai, am Schlußtage des Kongresses, begannen die Versammlungen mit einem Adagio aus dem Violinkonzert op. 26 von Max Bruch durch Johanna Fritsch und Paulina Frieß sowie durch Rezitationen seitens des Herrn Richard Jürgas, der sinnige und gemütstiefe Gedichte unseres Mitgliedes Mia Holm vortrug. Alsdann folgte eine freie Aus-sprache über theosophische Gegenstände, und zwar über die Notwendigkeit der Pflege des Okkultismus innerhalb der Gesellschaft. An der Diskussion beteiligten sich Herr Jules Agoston aus Budapest, Bernhard Hubo, Ludwig Deinhard, Dr. Carl Unger, Michael Bauer, D. Nagy, Mr. Wedgewood, Miß Severs und Frau Elise Wolfram. Die Diskussion wurde durch Jules Agoston eingeleitet, der die Notwendigkeit einer Pflege des spiritistischen Experimentes be­tonte; daran anknüpfend entwickelte Bernhard Hubo aus seiner langjährigen Erfahrung einen gegenteiligen Standpunkt; Ludwig Deinnard besprach die Notwendigkeit der Bekanntschaft theosophischer Kreise mit den wissenschaftlichen Versuchen, in die tieferen Grundlagen des Seelenlebens einzudringen. Es ist unmöglich, über die reichen und vielseitigen Ansprachen der obengenannten Redner hier zu berichten. Ebensowenig ist dies möglich bezüglich der anregen-den Gesichtspunkte, welche Herr Nerei aus Budapest am Nachmittag bei der Diskussion über «Erziehungsfragen» gab. Im Anschlusse an diese Gesichtspunkte sprach auch Dr. Rudolf Steiner einiges über Erziehung.

Herr Dr. Steiner gab hierauf eine Erklärung der Einrichtung des Tonhallensaales, die ebenso wie die Ausstattung der Eintrittskarten und der Programmhefte im Sinne der Rosenkreuzerei gestaltet worden war. Auf die rote Auskleidung des Saales hinweisend, sagte er unter anderem, die Wahl der roten Farbe habe ihren guten Grund gehabt. Sofern der Mensch in seiner Um­gebung eine rote Farbe erblicke, so bilde sich in seinem Innern dieser Farbe Gegenbild. Man möge sich erinnern an die Rolle, welche die rote Farbe im Gemütsleben des Kindes spiele. Es heiße aber in der Bibel: So ihr nicht werdet wie die Kindlein, könnet ihr nicht eindringen in die Reiche der Himmel. Exoterische Stätten, fuhr Herr Dr. Steiner fort, in denen äußerlich und in Symbolen von den Geheimlehren gesprochen wird, tragen die blaue Farbe. Die rosen­kreuzerische Weltanschauung drückte das Esoterische in der roten Farbe aus. Wäre diese rosen­kreuzerische Weltanschauung in der Ausgestaltung des Saales vollständig zum Ausdruck ge­kommen, dann hätte über den roten Wänden sich noch eine blaue Decke ausdehnen müssen.

Auf die beiden Rundsäulen mit den bereits wiedergegebenen Sprüchen deutend, bemerkte der Redner, daß sie in der Rosenkreuzerei eine große Rolle spielten, weil sie auf deren goldene Legende Bezug haben. Diese sagt: Als Seth dazu reif geworden war, durfte er hinwandeln zum Paradiese und einen Einblick in dieses gewinnen. Er durfte an dem Engel mit dem im Feuer wirbelnden Schwerte vorbeigehen und die Stätte betreten, von der das Menschengeschlecht vertrieben worden ist, als es aus dem Schoße der Gottheit stieg, um sich in eine irdische Hülle zu kleiden. Da sah Seth, der Ersatzsohn des Adam, etwas Besonderes (er hatte einen Ein­blick in einen atherisch-physischen Vorgang); er sah zwei Bäume ineinander geschlungen, den Baum des Lebens und den der Erkenntnis oder des Todes. Er nahm davon drei Samenkörner und legte sie in seines toten Vaters, Adam, Mund. Und aus Adams Grab wuchs ein mächtiger Baum, der sich manchem in Feuerstrahlen zeigte, und seine Gluten bildeten sich dann zu den Buchstaben, die da heißen: «Ich bin, der da war, und der da ist, und der da sein wird.» In drei Glieder teilte sich dieser Baum. Seth nahm davon Holz, und das Holz wurde hinfort mannig­faltig verwendet. Es wurde ein Stab daraus gemacht. Dies ist der Stab des Moses, mit dem er seine Wunder vollbrachte. Ferner wurden daraus die Balken des Salomonischen Tempels ge­macht. Sie wurden weggeworfen, als der Mensch die alten Geheimnisse nicht mehr verstand. Dann wurde das Holz in den Bach geworfen, wo Lahme und Blinde geheilt wurden. Dann

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bildete es die Brücke, über die der Erlöser ging, als er seinen Weg zum Kreuz antrat, und end­lich bildete man das Kreuz aus dem Baume, der aus Adams Mund gewachsen war.

Das hat einen tiefen symbolischen Sinn, fuhr der Redner fort. Man denke an die Rosen­kreuzerinitiation, und zwar an das für die vierte Stufe, die Erzeugung des Steins der Weisen, Geschilderte. Es handelte sich dabei um die Erzeugung des roten Blutes. Wie das rote Blut auf­tritt, ist es ein Ergebnis der Sauerstoffatmung. Wenn nun, wie geschildert worden, die Legende und die Bibel auf einen so wichtigen Moment hinweisen, auf das Wiedereindringen des Seth in das Paradies, so ist zu fragen: Wodurch ist dieser Moment hervorgebracht worden? Man beachte: Welcher physische Vorgang ging dem Heraus steigen aus dem Schoße der Gottheit parallel? Es wird gesagt: Gott blies dem Menschen den lebendigen Odem ein und er ward eine lebendige Seele. Die Entwicklung der Sauerstoffatmung wird da bildlich dargestellt. Das be­deutet: Es hat in der Gestaltung des physischen Menschen eine Zeit gegeben, wo noch keine Lungen da waren, wo der Mensch mehr oder weniger in dem flüssigen Element schwebte, wo er ein Organ hatte, aus dem sich später erst die Lunge entwickelte, eine Art Schwimmblase. Diese Schwimmblase, die der Mensch damals brauchte, hat sich zur Lunge umgebildet, und es kann der Prozeß der Umbildung verfolgt werden. Er zeigt sich als jener Vorgang, den die Bibel aus­drückt mit dem Bilde: und Gott hauchte dem Adam den Odem ein. Mit dieser Einhauchung des Atems ist die Erzeugung des roten Blutes gegeben. So hängt das Heruntersteigen des Menschen zusammen mit der Erzeugung des roten Blutbaumes in seinem Innern. Von diesem lebenden Baume sagt der Esoteriker, er ist der Baum der Erkenntnis. Das ist die Sünde, die Er­richtung des roten Blutbaumes, der der wahre Baum der Erkenntnis ist. Und Gott vertrieb den Menschen, auf daß er nicht auch von dem Baume des Lebens genieße, der da ist der Baum des rotblauen Blutes. Dieses rotblaue Blut ist ein Gift, ein Todesstoff. Der rotblaue Baum ward dem Menschen in derselben Zeit eingepflanzt wie der rote Baum. Als der Mensch im Schoße der Gottheit ruhte, war die Gottheit in ihm fähig, das was sein Leben und seine Erkenntnis bedeu­tet, ineinander zu verschlingen, und man sieht einen Punkt voraus, wo der Mensch durch sein erweitertes Bewußtsein in sich selbst ein Werkzeug haben wird, womit er es selbst vollbringen kann, das blaue Blut in das rote umzuwandeln. Also blickt man auf eine Zeit, wo der Mensch die Pflanzennatur in sich haben wird, einen Punkt, wo der Mensch in sich ein Werkzeug haben wird, mit dem er die Umwandlung selbst vollbringen kann. So ist im Menschen ein Baum des roten Blutes, das äußerliche Werkzeug der Ich-Erkenntnis, und das blaue Blut, der Ausdruck des Todes. In der Zukunft wird der Baum des Todes in einen Baum des Lebens verwandelt wer­den. Das ganze Leben des Menschen ruht auf diesen zwei Bäumen, auf ihrer wechselnden Wir­kung. Daß Seth das Paradies betreten durfte, daß er sehen durfte, wie die beiden Bäume sich zusammenschließen, bedeutet, daß er ein Eingeweihter werden durfte. Und er nahm drei Samen-körner und legte sie dem Adam in den Mund; daraus erwächst der dreigeteilte höhere Mensch. Der Mensch hat Manas, Buddhi, Atma in der Anlage in sich. In der menschlichen Anlage - also schon in der Adams - ist die Dreiheit vorhanden. Seth, der Eingeweihte, sieht sie. Alle Dinge der Menschheitsentwicklung, die zur Einweihung führen, drückt die Legende weiterhin aus. Aus der spirituellen Kraft und Erkenntnis heraus, daß im gegenwärtigen Menschen der drei­fache Baum ruht, der Baum des Ewigen, kommen wir vorwärts und erhalten wir den Zauber­stab; daher der Zauberstab des Moses, daher das Holz zum Weisheitstempel Salomos, daher das Holz des Kreuzes, des Zeichens der Initiation. So zeigt uns die Legende, wie der Eingeweihte auf einen zukünftigen Zustand hinsieht.

Die Initialen J B auf den beiden Rundsäulen sind die Anfangsbuchstaben geheimer Worte; die Sprüche auf ihnen sollten immer und immer wieder durchdacht werden. Wer über die

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unter J stehenden Sprüche der roten Säule meditiert, der impft seiner roten Blutseele eine Erkenntnis ein, die zum Ziele führt; wer über die unter B stehenden Verse der blauen Säule meditiert, der impft der Lebensseele Kraft ein. Diese Kraft wirkt magisch, wenn die Seele im Sinne dieses zweiten Spruches erregt wird. Ein Aufsteigen der Erkenntniskraft zur magischen Wirkung liegt im Übergang vom ersten zum zweiten Spruch.

Die sieben Rundbilder an den Wänden bilden den symbolischen Ausdruck für bestimmte uralte Weisheit; sie stellen dar die sieben Siegel der uralten Weisheit. Die sieben Siegel der Apokalypse des Johannes sind in ihrer Art eine Interpretation dieser Weisheit. Die Siegel wur­den nach den ihr gemachten okkulten Angaben von Fräulein Clara Rettich, Stuttgart, gemalt. Jedes Teilchen dieser Siegel bedeutet etwas, und es ist so, daß, wenn man sich einem solchen Bilde richtig hingibt, bestimmte Gefühle entstehen, durch die spirituelle Kräfte erregt werden, die in der Seele schlummern. Das erste Siegel besagt folgendes: Der Mann mit dem flammen­den Schwerte im Munde weist auf einen späteren Entwicklungszustand des Menschen hin. Was sich heute im Fortpflanzungstrieb unwillkürlich auslebt, das Schaffen von Stoff erfüllten For­men, das wird später durch diejenige Kraft, aus der heute die Rede ffießt, bewußt gestaltet wer­den können. Jedes Wort erzeugt eine Luftform; wenn diese erstarrte, wäre ein fester Körper vorhanden; alles in der physischen Welt ist auf ähnliche Weise entstanden. Der Geist des Logos erklang in den Raum, und das weitere ist ein Erstarrungsprozeß. Alles was ist, ist kondensiertes Gotteswort und kondensierte göttliche Kraft. Es bestehen Zusammenhänge zwischen den heu­tigen menschlichen niederen Trieben und der menschlichen Sprache. Der Kehlkopf wird das zukünftige in die Geistigkeit gehobene Reproduktionsorgan werden; die Rede des Menschen wird sich in eine höhere Hervorbringungskraft verwandeln. Die Geister, die unsere Vorfahren waren, nannte man Feuergeister, weil sie mit dem Feuer im Zusammenhang waren, wie wir mit der Luft. Der Mensch wird sich dereinst wiederum vom Luft- zum Feuergeist entwickeln; aus seinem Körper wird dann die Kraft strömen, die von den Feuergeistem entströmt. Das ist als astraler Abdruck in dem flammenden Schwert des Mannes enthalten. Die ewige Wesenheit des Menschen, die ist zugleich das Göttliche, das göttlich Schaffende. Das, was in uns durch alle In­karnationen durchgeht, ist von gleicher Art wie das, was die ganze siebenstufige Planetenreihe geschaffen hat. Daher hält der Mann mit dem flammenden Schwerte im Munde, der diese Wesen­heit darstellt, sieben Sterne in seiner Rechten.

Das zweite Siegel stellt die vier apokalyptischen Tiere, Löwe, Adler, Stier (Kuh) und den Menschen dar. Die vier zu einer kreisförmig gebildeten Gruppe vereinten Tiere weisen auf folgendes hin. Bekannt ist, daß das Tier heute keine Ichseele hat, sondern eine Gruppenseele auf dem astralen Plane. Der Kreis, den die Tiere bilden, zeigt den Astralplan. Der Mensch machte auch den Gruppenseelenzustand durch; in der lemurischen Zeit hat sich seine Gruppen-seele zur Individualseele verwandelt. Das Sinnbild dafür ist durch die Gestalten der früheren Gruppenseelen dargestellt. Für den Menschen, in den späteren Zustand erhoben, gibt es als­dann, astral gesehen, entsprechend den vier Tieren, wirklich vier Gruppenseelen. Die Gruppen-seele, die gerade den Übergang bildet zur Individualität, bezeichnete man als den Menschen. Aus den vier typischen Gruppenseelen: Löwe, Adler, Stier, Mensch ging der Mensch mit der Individualseele hervor, und in diese Gruppenseele geht er dereinst wieder ein. Die vorgeschrit­tenste Menschenseele, die bereits auf dem Astralplane individualisiert ist, sie zeigt die Mitte des Siegels, so wie dies im Christentum dargestellt wurde, als das Lamm. Um die symbolischen Tiergestalten sind im Kreise dargestellt die sieben Farben des Regenbogens, die das siebenfache schöpferische Prinzip andeuten. Bezüglich der Ziffern I-XII, die wie die Ziffern der Uhr auf den Farben des Regenbogens zu lesen sind, ist folgendes zu beachten. Die Zustände, welche

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das Siegel darstellt, hängen damit zusammen, daß die Erde mit Sonne und Mond einstmals einen Körper bildete. Diese Ordnung war notwendig dafür, daß die menschliche Seele eine Gruppenseele sein konnte. Unsere jetzige Zeiteinteilung hängt mit Stellung und Bewegung der Weltkörper zusammen. In jener alten Zeit kreiste nicht die Erde um die Sonne; alle Zeitver­hältnisse waren anders, es gab keine Tage und Stunden. Die Sonne selbst machte ihren Weg durch den Weltenraum, und es gab ein großes, kosmisches Zifferblatt, das die Orte aufwies, welche die Sonne passierte; das stellen die zwölf Ziffern dieser Siegeluhr dar. Ihre Stunden­Zeiger wurden zweimal passiert, denn in den alten Zeiten passierte die Sonne nicht einmal den Tierkreis, sondern durch eine Zeit der Helligkeit und eine der Verdunkelung. Dieses zweifache Durchgehen nannte man esoterisch das Vorübergehen an älteren Brüdern der kosmischen Ordnung. Das sind die vierundzwanzig Ältesten.

Das dritte Siegel zeigt ein geöffnetes Buch, umgeben von Schalen und posaunenblasenden Engeln, umgeben von flutendem Licht und Farben. Steigen wir vom astralen zum Devachan-plan empor, dann hat man das Erlebnis, daß die flutende Licht- und Farbenwelt des Astral­plans durchzogen wird von der Sphärenharmonie. Davon redeten die Pythagoräer und auch Goethe im Faust: «Tönend wird für Geistesohren schon der neue Tag geboren, es drommetet, es posaunet» und so weiter. Auch die Apokalypse redet von diesem Plane derart, daß man die Anspielung auf die Tonwelt erkennt. Wenn nach der Entsiegelung der Astralbilder, die sie schildert, die Engelposaunen ertönen, eröfftnet sich in ihr die Devachanwelt. Die Schalen bedeuten die Schalen des Zorns. Wenn die Liebe entwickelt sein wird, muß alles Zornige ent­fernt sein; daher werden die Schalen des Zorns ausgegossen. Das Buch schließlich ist der Mensch selbst, als das Abbild der ewigen Weltevolution. Erkennt der Mensch dieses, dann kann er sich selbst lesen; ist er sich selbst ein Buch geworden, so ist er im Moment der Initiation, wo er das Buch verschlingt. Das führt das nächste Siegel weiter aus.

Das vierte Siegel stellt zwei Säulen mit einem Buche dar, über denen eine Wolke schwebt. In der Wolke sollen wir die heutige Luft erkennen. Aus dieser Luft wird sich die ins Feste hineinschaffende Produktionskraft entwickeln. Die Gestalt in der Wolke über den Säulen läßt den initiierten Menschen erkennen, der das Buch verschlungen hat, und dieser Mensch erzeugt die Kraft; das ist in dem Gesichte charakterisiert. Das Schauen des Menschen ist dann ein Schauen in die astrale Welt, es geht das aus der Darstellung der umgebenden Regenbogen-farben hervor.

Das fünfte Siegel zeigt das sogenannte Sonnenweib, eine weibliche Gestalt, die auf dem Monde steht und einen Drachen niedertritt; vor ihrem Leibe glüht eine Sonne. Dieses Bild zeigt an, daß Erde und Sonne miteinander verbunden waren und das Unbrauchbare als Mond ausgeschieden wurde. In allen mystischen Schriften wurde das Überwindende als weiblich be­zeichnet. Vereinigt sich die Erde wieder mit der Sonne, so wird der Mensch selbst das Sonnen-weib sein und das, was heraus muß, ist als der mit Füßen getretene Mond dargestellt, das Unbrauchbare als Drachentier.

Das sechste Siegel zeigt ein Wesen, das einen Drachen überwindet. Es ist der Mensch, der das Niedere überwunden und gefesselt haben wird. Ist dieses innerlich erreicht, ist alles Kama überwunden und unter die Füße getreten, dann kommen solche Zustände, die hier dargestellt sind, zur Geltung. Daß solches geschieht, darauf sieht der Eingeweihte; das besagt das siebente Siegel. Darinnen sehen wir das äußere Abbild des Gral über einem durchsichtigen Würfel, der durchsichtigen, reinen Kohlenstoff darstellt. Da erkennt der Mensch zu den drei Dimensionen noch drei Kontradimensionen; daher kommen im Spiegelbilde den drei Dimensionen die drei anderen entgegen. Es ist das in dem Siegel in violettbläulichen Windungen als ein Lichtbild

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angedeutet. Das stellt dar die hingebungsvolle Natur der Erkenntnis, die der Mensch ent­wickeln muß, um zu diesem Zustande hinaufzusteigen. Dann erfaßt er die Weltspirale, die dann feurig sein wird, gleich der rotglühenden Farbe des Spiralgebildes der Darstellung des Siegels. Dann entsteht der reine, nach abwärts gekehrte Kelch, der über der Spirale schwebt. Der Menschenkelch wird wiederum keusch und rein sein, sich nach abwärts wenden, und der rein-gewordene Mensch ist dargestellt in der Taube des Siegels, als dem zur Unschuld gewordenen Menschen.

In den Säulen des Saales ist dasselbe ausgedrückt. Sie stellen symbolisch die Planeten dar. Die Motive der Kapitäle sind so, daß sie Gefühle auslösen, die etwas von den Strömungen be­greifen, die in diesen Weltkörpern vorhanden sind. Die erste Hälfte der Erdinkarnation hatte eine besondere Eigenschaft, sie stand unter dem Einflusse der Kraft des Mars; jetzt steht die Erde unter dem Einfluß der Merkurkräfte. Daher spricht der Okkultismus nicht von der Erde, sondern von der ersten und zweiten Hälfte, Mars und Merkur. Den allerletzten Zustand der Erde läßt er weg, als Oktave zur Prim. So kommen Saturn, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter und Venus als sieben Planeten zustande, deren Namen die Wochentage erhalten haben.

Abends 9 Uhr zum Schluß des Kongresses fand nochmals eine Zusammenkunft in der Ton-halle bei musikalischen Darbietungen statt, und zwar wurden nach dem Programm folgende Vorträge zu Gehör gebracht:

Adagio in D-dur von Adolf Arenson. - Adolf Arenson, Klavier; Johanna Fritsch, Violine; Dr. Carl Unger, Violoncell.

«Tröstung» von Felix Mendelssohn-Bartholdy. - Hilde Stockmeyer, Sopran.

«Ave verum» von W.A. Mozart. - Gertrud Garmatter, Alt; Orgelbegleitung Emanuel No­wotny.

Rezitation. - Frau Rieper.

Soli für Violine von J. S. Bach: Air; Gavotte. - Johanna Fritsch und Pauline Frieß.

Variationen über den Choral «Sei gegrüßt, Jesu gütig» von J. S. Bach. - Emanuel Novotny, Orgel.

Die Komposition Adolf Arensons, Stuttgart, erwies sich als ein vornehmes Werk für Kammermusik, dem eine edle Instrumentierung und seelische Vertiefung des Empfindungs­gehaltes nachgerühmt werden können.

Der Kongreß klang dann aus in die kurzen Schlußansprachen der Vertreter einzelner Sek­tionen; für die britische sprach Mr. Wallace, für die französische Mlle Aimée Blech - in Ver­tretung Dr. Pascals, der wegen seines Gesundheitszustandes früher abreisen mußte, für die holländische Mr. Fricke, für die italienische Prof. Dr. Penzig.

Dann richtete tief zu Herzen gehende Worte Mrs. Besant an die Teilnehmer, und zuletzt sprach Dr. Rudolf Steiner einige Abschiedsworte an die zum Kongreß erschienenen Mitglieder und dankte hierbei für die aufmerksame Teilnahme, die sie den Münchener Tagungen ent­gegengebracht hatten. Er teilte alsdann noch mit, daß der nächste Kongreß in zwei Jahren in Budapest stattfinden werde, wo man sich hoffentlich wieder in demselben Geiste wie in München versammeln könnte.

Was die im Hauptsaale aufgestellten plastischen Kunstwerke anlangt, die sämtlich von dem Bildhauer Dr. Ernst Wagner, München, Hohenzollernstraße 29, herrühren, so sind diese nicht als im Sinne der Rosenkreuzerei gestaltet aufzufassen, sondern als solche Werke, die aus dem Geiste der Theosophie heraus geschaffen wurden. Es gelangten zur Ausstellung vier Büsten; alsdann die Bildwerke: «Betende», «Relief für eine Grabkapelle», «Grabrelief», «Königs-kind», «Auflösung», «Sibylle», «Relief für eine Grabnische», «Schmerz», «Christusmaske»,

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«Maske», «Tod» und eine Bronzestatuette. Unter den Büsten befand sich auch eine wohlgelun-gene Bronzebüste auf schwarzweißem Marmorsockel, die Dr. Rudolf Steiner darstellt. Ein Relief, Colonel Olcott zeigend, war von M. Cailland-Paris, eine Skizze «H.P. Blavatsky» von Julia Wesw-Hoffmann hergesandt, ein großes beleuchtetes Bild über dem Vorstandsraum im Hauptsaale, «Die große Babylon», rührte von Herrn Haß, München, her und ein kleiner Wandteppich von Fräulein Lehmann, München. Die kleine Ausstellung im Vorraum, von Gemälden und Reproduktionen und so weiter, bestand in folgenden Arbeiten:

Radierungen von Hans Volkert, Wiedergaben zweier Bilder von Moreau, Wiedergaben zweier Bilder von Schmiechen, eine Statuette «Der Meister» von Heymann, ein Bild «Aus tiefer Not» von Stockmeyer, Wiedergaben verschiedener Bilder von Watts, drei Wiedergaben von Werken Leonardos, Bilder von Kalckreuth dem Älteren, Landschaften von Sophie Stinde, von Haß fünf Tannenstudien; «Nach dem Sturm», «Märchen», « Die Königstochter», «Die Gewit-terwolke», eine Reproduktion von Kunstmaler Knopf.

Durch die Ausstattung des Saales, in der auch die Zeichen des Tierkreises sich wieder-fanden, durch die Säulen und Siegel, wie durch das Mysterienspiel und überhaupt durch die Anordnung des ganzen Kongresses, sollte, wie Herr Dr. Steiner bemerkte, ein Versuch gegeben sein, die Kunst in engerer Beziehung zu den wirklichen Lebensvorgängen zu zeigen. Wenn wir in der Kunst wieder einen Kulturfaktor erblicken wollen, von der Bedeutung, die dieser im Altertum hatte, dann muß sie wieder Anschluß suchen an die hinter den Erscheinungen liegen­den Vorgänge des Lebens, dann müssen die Künstler die Kraft gewinnen, uns die Lebensvor­gänge selber im Bilde und in der plastischen Form zu deuten.

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LUDWIG KLEEBERG

ÜBER DEN MÜNCHNER KONGRESS

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Das Jahr 1907 brachte den theosophischen Kongreß in München. Sophie Stinde war zur Sekretärin des Kongresses, Pauline von Kalckreuth zur Schatzmeisterin ernannt. Die Arbeit war da in treuen und tatkräftigen Händen. Im Juli 1906 waren beide Freundinnen auf dem Gute Landin in der Mark, auch Marie von Sivers und Steiner weilten dort. Letzterer wollte dort ganz still an seinem «Lucifer» arbeiten. Hier konnte man auch die Angelegenheiten des Kon­gresses besprechen. «Da gibt es einen Winter voll anstrengender Arbeit», schrieb mir Sophie Stinde, «Pfingsten ist im nächsten Jahre sehr früh; der Kongreß wird aber wohl erst in der ersten Hälfte des Juni sein. Jedenfalls mußt Du dazu kommen. Ich werde für Dein Reis egeld und den Aufenthalt hier sorgen ... Wir nehmen nur erst an, daß Annie Besant kommen wird, gewiß ist es durchaus nicht. Jedenfalls wird unser Generalsekretär Dr. Steiner Präsident sein; wir hoffen aber sehr, daß Annie Besant kommen wird als unser großer Gast.»

Es war schon vor der Generalversammlung im Oktober (1906) vorgeschlagen worden, da Pfingsten zu früh flele, den Kongreß später zu verlegen. Steiner hatte aber gleich Pfingsten in Vorschlag gebracht. Denn, wie er sagte, gebe es Gott sei Dank unter uns noch Leute, die einen Beruf hätten. Der Kongreß fand also zu Pfingsten statt. Er begann am Morgen des 18. Mai in den mit symbolischen Bildern und Darstellungen geschmückten Kaimsälen. Da waren die sieben Siegel der uralten Weisheit, die sieben Säulen der Erdzustände oder Wochentage, die

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beiden den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens darstellenden roten und violetten Säulen. Vor der Bühne aber standen die Büsten von Fichte und Hegel (und Schelling). Die Teilnahme war überaus zahlreich, auch aus anderen Ländern waren die Menschen herbei-gekommen. Die meisten Besucher waren Frauen. Steiner eröffnete den Kongreß, worauf die Generalsekretäre der verschiedenen Länder ihre Begrüßungen sprachen. Das war ein hoher und erhebender Moment, die Vertreter der Nationen hier in Einigkeit des Denkens und Empfindens und Wollens in ihren Sprachen reden zu hören. Auch Mrs. Besant war anwesend, genau so aussehend wie auf dem Bilde, welches mir Sophie Stinde aus London mitbrachte: eine stattliche alte Frau in weißem Seidengewande und silbernen Haaren. Garn: merkwürdig war ihre Rede:

alles Musik und Rhythmus. Es war ein denkwürdlger Anblick, Rudolf Steiner und Annie Besant beieinander stehen zu sehen. Sie vertraten schon jetzt zwei Gegensätze. In fünf Jahren kam er offen zum Ausbruch, ein Vorspiel des Weltkampfes von Deutschland und England. Die Verhandlungen und Veranstaltungen gingen nach einem Programm vor sich, das künstlerisch ausgeführt in der Hand jedes Besuchers war. Die mohnrote Eintrittskarte war mit dem Rosen-kreuz auf blauem Oval geschmückt. Der Abend des ersten Tages war einer geselligen Zusam­menkunft mit musikalischen Darbietungen und Rezitationen gewidmet ...

Am 18. Mai hielt Steiner seinen Vortrag über «Die Einweihung des Rosenkreuzers». Es war bezeichnend, daß er ihn mit dem Hinweis auf ein Erkenntniswort Hegels begann und mit einem Weisheitsausspruche Goethes beschloß.

Am Sonntag, dem 19., wurde das griechische Mysterienspiel von Edouard Schuré aufge­führt. Die Musik hatte Bernhard Stavenhagen, Steiners Freund, geschrieben. Alles zusammen gab eine vortreffliche Vorstellung der eleusinischen Mysterienkunst. So mochte es gewesen sein. - Am 20. war ein geselliges Zusammensein...

Der letzte Kongreßtag war der 21. Mai. Steiner erklärte die im Saale angebrachten Symbole. Am Abend wurde ein Lichtbild aufgenommen. Dann hielten die einzelnen Vertreter ihre Schlußreden, auch Mrs. Besant und Steiner. Er danke Annie Besant für ihr Erscheinen und so weiter und allen, die sich um den Kongreß verdient gemacht hatten. Dabei war viel Lob aus-zuteilen. Wir allerdings sahen nur, was fertig war, aber nicht die unendliche Mühe und Arbeit, die aufgewendet werden mußte, damit dieser Kongreß in allen seinen Teilen so verlief, wie er verlaufen ist. Gegen 11.30 Uhr abends wurde der Kongreß geschlossen.

II DIE AUSWIRKUNGEN DES MÜNCHNER KONGRESSES VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

#G284-1977-SE111 Bilder okkulter siegel und Säulen

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II

DIE AUSWIRKUNGEN

DES MÜNCHNER KONGRESSES

Malsch

Berlin

Stuttgart

MALSCH

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

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Am Rande des Dorfes Malsch, unweit von Karlsruhe, erbaute sich im Jahre 1887 der Maler Karl Stockmeyer aus Karlsruhe (gestorben 1930 als Zweiundsiebzigjähriger) das «Waldhaus». Es wurde von seiner Frau Johanna (gestorben 22. Juli 1923) als Pension geführt, von 1908/09 an hauptsächlich für erholungssuchende Freunde der Bewegung. Seit dem Tode von Karl Stockmeyer ist das Waldhaus ein heilpädagogisches Heim geworden.

Die älteste Stockmeyer-Tochter Hilde (1884-1910), die im Jahre 1904 als erste (und über sie 1906/07 auch die Eltern und Geschwister) zu Rudolf Steiner gefunden hatte, gründete und leitete im Waldhaus bis zu ihrem frühen Tod den Franz von Assisi-Zweig. Die jüngere Tochter Waldtraut Stockmeyer­Schöpflin-Döbelin (1888-1951) leistete später Bedeutsames für die biologisch-dynamische Wirtschafts­weise in Norwegen. Der Sohn E. A. Karl (1886-1963) war nicht nur pionierhaft am Aufbau der Wal­doffschulbewegung beteiligt, sondern schon vordem ebenso pionierhaft mit dem Baugedanken Rudolf Steiners verbunden. Als einundzwanzigjähriger Student nahm er mit Eltern und Geschwistern am Münchner Kongreß teil. Von den neuen Formen der Säulenkapitäle zutiefst beeindruckt, stellte er Rudolf Steiner im Jahre 1908 die Fragen nach den Sockeln und der zu den Säulen gehörigen Architektur. Auf Grund der ihm von Rudolf Steiner gegebenen Angaben entwickelte er die Idee zu einem Modellbau, den er mit Hilfe seines Vaters 1908/09 beim Waldhaus erstellte.

Rudolf Steiner kam in diesem Zusammenhang dreimal nach Malsch: zum erstenmal im Sommer 1908; zum zweitenmal an Ostern 1909 zur Grundsteiniegung des Modellbaues und zur Einweihung des Franz von Assisi-Zweiges.* Die Grundsteinlegung fand beim Aufgehen des ersten Frülilingsvoll­mondes in der Nacht vom 5. zum 6. April 1909 statt. Außer Rudolf Steiner, Marie von Sivers und der Familie Stockmeyer waren noch eine Anzahl weiterer Freunde der Bewegung anwesend. Die auf den folgenden Seiten wiedergegebene Ansprache Rudolf Steiners wurde von Hilde Stockmeyer hinter­her aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Ihr, die ein Jahr später bereits verstarb, widmete Rudolf Steiner einen eindrucksvollen Nachruf (in Bibl.-Nr. 261 «Unsere Toten»). Eine kurze Schilderung der Situation und Ansprache Rudolf Steiners bei der Grundsteinlegung gab der Schauspieler Max Gümbel-Seiling in seinen Erinnerungen «Mit Rudolf Steiner in München», Den Haag 1945. Diese Schilderung ist der Ansprachenwiedergabe von Hilde Stockmeyer vorangestellt. Zum drittenmal kam Rudolf Steiner nach Malsch im Oktober 1911, unmittelbar vor seiner Reise nach Stuttgart zur Einweihung des Stutt-garter Hauses. Stockmeyer Sohn und Vater waren beide auch an dem nach dem Malscher Vorbild aus­gebauten unterirdischen Kuppelraum im Stuttgarter Haus beteiligt.

Der Modellbau in Malsch konnte damals von E.A. Karl Stockmeyer nur im Rohen erstellt und Iverputzt werden. Erst als er sich im Alter und schon krank wieder nach Malsch zurückzog, wurde er 1956/57 im Verein mit anderen interessierten Freunden - vor allem Architekt Albert von Baravalle, Dornach, und Klara Boerner, Malsch - wiederum für den Modellbau initiativ. Im Jahre 1959 wurde der Modellbauverein Malsch gegründet und demselben der kleine Bau zur Renovierung, Vollendung und Weiterethaltung übereignet. Die Renovationsarbeiten und die künstlerische Ausgestaltung wurden von Albert von Baravalle durchgeführt und im Jahre 1965 vollendet.

H. W.

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* Dieser Zwcigeinweihungsvortrag vom 6. April 1909 findet sich in Bibl.-Nr. 109/111 «Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen».

ANSPRACHE ZUR GRUNDSTEINLEGUNG DES MODELLBAUES IN MALSCH MaIsch, 5./6. April 1909

#G284-1977-SE112 Bilder okkulter siegel und Säulen

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RUDOLF STEINER

ANSPRACHE ZUR GRUNDSTEINLEGUNG DES MODELLBAUES IN MALSCH

MaIsch, 5./6. April 1909

Situationsschilderung von Max Gumbei-Seiling

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«Wir befanden uns im Wohnzimmer des im Walde allein stehenden Hauses der Familie. Es waren etwa 24 Personen* anwesend. Rudolf Steiner trat vor den Tisch, hinter dem wir standen, mit der von ihm verfaßten Urkunde. Erst erklärte er das Zeichen des Makrokosmos, das er mit einfachen Linien darauf gezeichnet hatte. Um den aus zwei sich durchkreuzenden Dreiecken gebildeten Sechsstem schlossen sich zwei Drachen, welche sich gegenseitig in den Schwanz bissen. Oben ein weißer, beflügelter Drache, untenhin ein vertrockneter, dunkler. Rechts stan­den untereinander die Worte: , und man las links von unten beginnend nach aufwärts: . Dann unterzeichneten wir alle die Urkunde, welche Rudolf Steiner zusammenrollte, um sie dann in einer Flasche unter den Grundstein zu legen. Es war spät am Abend, aber Rudolf Steiner wollte noch den Mond abwarten, bevor wir hinter ihm ins Freie traten, einer Waldschlucht zu, in welcher der kleine, nach oben offene Bau lag. , begann Rudolf Steiner. Wir standen dicht zusammengedrängt vor ihm, den kleinen Raum erfüllend. Erst sprach er von den Grundsteinlegungen alter Zeiten, wo ein Priester freiwillig sich in den Grund einmauern ließ, dann von dem Sklaven, den die Römer dazu zwangen, und schließlich von dem heutigen Sinne des Grundsteines. Hierauf voll­zog er selbst die Grundsteinlegung.»

Ungefdhre Wiedergabe der Worte Dr. Rudolf Steiners

bei der Grundsteinlegung zum Rosenkreuzertempel der Loge Malsch

«Franz von Assisi». Wiedergabe nach dem Geddchtnis

von Hilde Stockmeyer

Unter den Ruinen von gar manchen alten Häusern würde man bei Nachgrabungen ein mensch­liches Gerippe finden. Das hat folgende Ursache: Man wußte früher, daß ein Bau inneres Leben enifalten müsse. Doch ist damit ursprünglich das geistige Leben gemeint, das jeden Bau durchströmen muß, wenn er Segen bringen soll. Das hat eine dekadente Zeit äußerlich auf­gefaßt und den Brauch geschaffen, einen Sklaven unter dem Bau lebendig einzumauern. Was wirklich versenkt werden soll mit dem Grundstein, sind die Gefühle und Gedanken und Segens-wünsche derer, die den Bau errichten, und derer, die ihn benutzen wollen.

So wollen auch wir den Grundstein dieses Tempels in den Schoß unserer Mutter Erde hinein-senken, angesichts der Strahlen des Vollmondes, die uns bescheinen, inmitten der grünen Pflanzenwelt, die den Bau umsproßt. Und wie der Mond reflektiert das helle Sonnenlicht, so wollen wir widerspiegeln das Licht der geistig-göttlichen Wesen. Wir wollen uns vertrauens­voll hinwenden an unsere große Mutter Erde, die uns liebend trägt und schützt und wollen ihr anvertrauen die Urkunde des Baues ... [Hier folgte die Beschreibung der Urkunde].

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* Siehe Seite 180, Hinweis zu Seite 112.

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Zugleich mit der Urkunde wollen wir unsere Wünsche, unseren Segen herabsenken, wir alle, die wir hier versammelt sind, und uns oft und oft an diesen Augenblick erinnern und an das, was unsere Seelen und Herzen durchglüht hat. Dann werden unsere Gesinnungen fortwirken, fördernd und schützend den Bau dieses Tempels, den Bestand der Loge Malsch. Herabfiehen auf diesen Stein und auf die Loge Malsch wollen wir zugleich den Segen der Meister der Weis­heit und des Zusammenklanges der Empfindungen und den Segen aller hohen und höchsten Wesen, aller geistigen Hierarchien, die mit der Erdenevolution verbunden sind. Wir flehen, daß sie ihre Kraft einströmen lassen in diesen Grundstein und darin fortwirken lassen, damit alles, was über diesem Steine gedacht, gefühlt, gewollt und getan wird, im Einklang mit ihnen und von ihrem Geist durchseelt sei.

Leuchten möge auf diesen Bau

Das Licht der Geister des Ostens

Die Geister des Westens mögen es zurückstrahlen lassen;

Die Geister des Nordens mögen es verfestigen

Und die Geister des Südens es durchwärmen,

So daß die Geister des Ostens, Westens,

Nordens und Südens den Bau durchströmen.

Unter Schmerzen hat unsere Mutter Erde sich verfestigt. Unsere Mission ist es, sie wieder zu vergeistigen, zu erlösen, indem wir sie durch die Kraft unserer Hande umarbeiten zu einem geisterfüllten Kunstwerk. Möge dieser Stein zugleich ein erster Grundstein zur Erlösung und Umwandelung unseres Erdenpianeten sein und möge die Kraft dieses Steines sich vertausend­fältigen.

Als wir noch im Schoße der Gottheit ruhten, umhegt von göttlichen Kräften, da webte in uns der alles durchdringende und umhüllende Vatergeist. Aber noch waren wir unbewußt, nicht im Besitze der Selbständigkeit. Darum stiegen wir in die Materie herab, um hier das Selbstbewußtsein entfalten zu lernen. Da kam das Böse, da kam der Tod. Aber in der Materie wirkte auch der Christus und half uns, den Tod zu besiegen. Und indem wir also in Christo sterben, leben wir. Wir werden überwinden den Tod und durch unsere starke Kraft die Materie vergottlichen, vergeistigen. So wird in uns erwachen die Kraft des helligenden, des heiligen Geistes.

So erklinge als ein Wahrspruch hier an dieser Stelle das Wort:

Ex Deo nascimur,

In Christo morimur,

Per Spiritum sanctum reviviscimus.

Aus Gott bin ich geboren,

In Christo sterbe ich,

Durch den heiligen Geist auferstehe ich.

E. A. KARL STOCKMEYER VON VORLÄUFERN DES GOETHEANUMS

#G284-1977-SE114 Bilder okkulter siegel und Säulen

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E. A. KARL STOCKMEYER

VON VORLÄUFERN DES GOETHEANUMS

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In der Pfingstzeit des Jahres 1907 konnte ich als Student und ganz junges Mitglied den Münchner Kongreß der «Föderation der Europäischen Sektionen der Theosophischen Gesellschaft» mitmachen. Dr. Steiner leitete ihn als Generalsekretär der Deutschen Sektion. Er gestal­tete ihn ganz im Sinne dessen, was er seit der Jahrhundertwende in Deutschland aufgebaut hatte, bis in die äußere Gestaltung des Raumes. Er hat später von den Formen des Goetheanum-Baues oft gesagt, daß dieser Bau in seinen sichtbaren Formen der lebendigen Geisteswissenschaft gerade so entsprechen sollte wie die Nußschale der Nuß.

Das lebte schon in dem, was diesem ersten eigentlich anthroposophischen Kongreß - noch in der Theosophischen Gesellschaft - das äußere Kleid geben sollte. Der sogenannte Kaim-Saal, später Tonhalle genannt, Ecke Prinz Ludwig- und Türkenstraße, war ganz mit hochrotem Stoff ausgekleidet. Auch die Decke war rot verkleidet. Die großen Emporen waren verhängt. So entstand ein rechteckiger Raum mit ziemlich breitem Grundriß, ohne Fenster, ein reiner Innenraum.

Die roten Stoffwände waren ganz glatt. Nur in der Stimwand war ein schlicht rechtecklger, wenig tiefer Bühnenraum ausgespart, dessen Boden reichlich einen Meter höher lag als der Boden des Saales. Dort oben stand für die Kongreßleitung ein langer Tisch, ebenfalls rot ver­hängt und mit den Tierkreiszeichen geschmückt. Daneben etwas nach vorn gerückt stand das Rednerpult.

Über der Bühnenöffnung hing ein Bild des Münchner Malers Haß, «Die große Babylon». Unter ihr standen auf Postamenten die Büsten der großen deutschen Idealisten, Fichte, Schel­ling und Hegel und links und rechts von ihnen zwei Säulen, eine rote mit J, eine blaue mit B geschmückt und mit den Sprüchen beschrieben:

J

Im reinen Gedanken findest du

Das Selbst, das sich halten kann.

Wandelst zum Bilde du den Gedanken,

Erlebst du die schaffende Weisheit.

B

Verdichtest du das Gefühl zum Licht,

Offenbarst du die formende Kraft.

Verdinglichst du den Willen zum Wesen,

So schaffest du im Weltensein.

Die beiden Seitenwände und die Rückwand waren durch sieben Säulen von etwa zweieinhalb Meter Höhe geschmückt, die ganz einfach auf große Bretter gemalt waren. Sie zeigten über

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einem glatten runden Schaft ohne Sockel als Kapitäl die Motive der späteren Goetheanum-Säulen. Die Planetenzeichen waren auf ihnen angebracht. In den Zwischenräumen der Säulen waren die sieben apokalyptischen Siegel angebracht. Beides, Säulen und Siegel, waren nach Rudolf Steiners Skizzen gemalt, die erstgenannten von Karl Stahl, München, die anderen von der Stuttgarter Malerin Clara Rettich. Sonst zeigte der Raum, soweit ich mich erinnere, keinen Schmuck. Säulen und Siegel empfand man, trotz ihrer künstlerischen Anspruchslosigkeit, als machtvolle Hindeutungen auf utufassendes übersinnliches Wesensleben. Das freie Dastehen der Säulenbilder ohne Gebälk und Decke mit den zwischen ihnen auf der roten Wand hängenden Bildern wurde zur Forderung, sich einen gebauten Raum hinzuzu denken, in den die Säulen als tragende Elemente eingegliedert wären und die Siegel als Bilder den Blick in ein unräumlich­geistiges Leben lenkten.

Das Rot der Wände und der Decke wurde zur alles Gegenständiiche überstrahlenden und in ihren leichten Dämmer hüllenden Raumfarbe und gab dem so geschaffenen Raume eine uner­hörte Feierlichkeit. Sie nahm die Seelen der Anwesenden auf und sprach zu ihnen aus dem gleichen Geiste, aus dem die Worte der Geisteswissenschaft tönten. Es war ein lebendiger Hin­weis auf die kommende, aber noch unbekannte Architektur, auf das Goetheanum. Es war ein Ansprechen des Innersten im Menschen; die geistige Welt rief selbst, wenn auch erst in anfäng­lichen Tönen, wie in einer Introduktion den Menschen an.

Ich kann mich auf die Inhalte der Vortrage nicht mehr besinnen; ihre Fragestellungen, ihre Antworten sind mit dem Unendiichen, das Rudolf Steiner uns seither erleben ließ, so ver­schmolzen, daß ich sie nicht mehr herauslösen kann. Aber die Raumwirkung steht noch heute unverrückbar fest in ihrer aufrufenden und impulsierenden Feierlichkeit.

Der Gedanke ließ mich nicht los, daß hier nur Andeutungen einer wirklichen Architektur gegeben seien; es schien mir undenkbar, daß Dr. Steiner neue Säulen mit diesen einzigartigen Kapitälen geben könne, ohne sie in einen entsprechenden Raum zu stellen und eine Decke von ihnen tragen zu lassen.

Ich habe mich dann auf meine Art intensiv mit den Siegeln und Säulen beschäftigt und mich malend und plastizierend an ihren Motiven versucht. In München konnte ich auch die ursprüng­lichen plastischen Entwürfe der Säulenkapitäle von Dr. Steiner sehen, die irn:wischen leider ver­schollen sind. Im Frühjahr 1908 habe ich Rudolf Steiner meine ersten Versuche gezeigt und ihn auch nach den Sockeln der Säulen gefragt. Er gab dann an, es solle jeweils das untere Motiv des Kapitäls als Sockel verwendet werden, wie es dann im ersten Goetheanum geschehen ist. Im Sommer desselben Jahres stellte ich ihm dann die Frage nach der Architektur, die zu den Säulen gehört. Er ging sogleich darauf ein und zeichnete mir in wenigen Strichen auf, wie die sieben Säulen in zwei von Westen nach Osten verlaufenden Reihen einen elliptischen Raum um-schließen und eine Kuppel in Form eines dreiachsigen Ellipsoids tragen sollten, dessen große Achse von Westen nach Osten läuft. Der Eingang sollte im Westen sein, und dort sollten die beiden Säulenreihen mit der Satumsäule beginnen. Hinter den Säulen sollte ein Umgang sein, der ebenfalls von dreiachsigen Ellipsoiden «muschelartig» überdeckt werden sollte. Eine elliptische Wand sollte das Ganze nach außen abgrenzen. Sie hat keine Fenster. Auf ihr sind die Siegel anzubringen, das erste zwischen der Saturnsäule und der Sonnensäule, das zweite zwischen Sonnen- und Mondsäule und so weiter, bis das siebte jenseits der Venussäule in der Ostuische zweimal rechts und links von der Mitte angebracht wird.

Licht empfängt der Raum nur durch eine einzige Öffnung im Hauptgewölbe, die so anzu­bringen ist, daß zur Zeit der Frühlings-Tagundnachtgleiche morgens gegen neun Uhr das Sonnenlicht auf einen «bestimmten Punkt» im Innern fällt. Die Wand ist rot, die Kuppeln

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sind blau zu bemalen. An das Hauptgewölbe soll der Tierkreis gemalt werden, beginnend mit den Fischen im Westen über der Saturnsäule Eigentlich sollte der Raum in den Felsen gehauen werden, am besten in Granit. Die Säulen sollten wenn möglich aus sibirischem Syenit her­gestellt werden.* Alle diese Angaben waren die Antworten auf meine immer mehr in die Einzel­heiten gehenden Fragen.

Das war im Sommer 1908. Beim Durchdenken dieser Angaben wurde mir sehr bald klar, daß ihre Verwirklichung bedeutende Schwierigkeiten bringen würde. Es handelte sich um das Zusammenfügen von fünfzehn dreiachsigen Ellipsoiden. Wenn auch durch die ostwestliche und südnördiiche Symmetrie das Problem auf die fünf Ellipsoide, die an jedem der vier Quadranten beteiligt sind, reduziert werden konnte, so war auch dieses Problem noch sehr verwickelt. Man mußte um der Statik willen anstreben, daß an den ellipsenförmigen Schnittbögen zwischen Hauptgewölbe und Seitengewölbe die Berührungsebene des Hauptefflpsoids die Hauptachse des Seitenefflpsoids aufnimmt, damit der Seitenschub des Hauptgewölbes möglichst günstig von den Seitengewölben aufgenommen würde. Diese mußten also in einer ganz bestimmten Weise schräg gestellt werden. Man mußte ferner erreichen, daß die Seitenellipsoide mit senk­rechten Tangenten in die Säulen und in zwei vorher festzulegende Punkte der Wand einlaufen.

Es ergab sich also eine ganz bestimmte Fragestellung. Es war dabei davon auszugehen, daß die Dimensionen des Hauptgewölbes und damit im Zusammenhang die Verteilung der Säulen innerhalb des durch Rudolf Steiners Angaben gegebenen Rahmens frei bestimmt werden konn­ten, ebenso die Breite des Umgangs und auch die Form der von jeder Säule zur Wand führen­den Gurtbögen. Sie mußten aber alle gleichgeformt sein, damit der Grundriß und die Um­grenzung der einzelnen Deckenzellen auf alle Fälle symmetrisch würden. Sonst wäre das Einpas­sen der Ellipsoide noch schwieriger, wenn nicht unmöglich geworden.

In diesem festgelegten Rahmen waren dann die oben schon angeführten Bedingungen, sta­tische und mehr ästhetische, zu erfüllen. Es war eine mathematische Aufgabe. Es zeigte sich aber bald, daß diese Aufgabe weder durch Konstruktion noch durch Rechnung unmittelbar gelöst werden konnte. Und das ist nicht weiter verwunderlich. Es handelte sich ja doch um eine künstlerische Frage, die nur dadurch ins Gebiet der Mathematik versetzt war, weil die Ellipsoide ihre besondere mathematische Gesetzmäßigkeit haben, die man bei ihrer Eingestaltung in ein architektonisches Gebilde berücksichtigen muß. Deshalb mußte Mathematik hier als künst­lerische Technik auftreten. Sie mußte helfen, das an sich über mathematische Bestimmbarkeit hinausgehende künstlerische Problem zu lösen. Das bedeutete praktisch, daß man die mathe­matischen Methoden, Konstruktion und Rechnung nur benutzen konnte, um sich durch will­kürliche und immer wieder abgewandelte Annahmen der gesuchten Form und Stellung der Ellipsoide schrittweise zu nähern.

Diese umständliche Arbeit habe ich in der Herbst- und Weihnachtszeit 1908 gemacht. Zu­nächst war das eine rein theoretische Sache. Ich hatte nur, um überhaupt einen konkreten Aus­gangspunkt zu haben, die Größe der Säule zugrundegelegt, die ich modelliert hatte. Sie war 87 Zentimeter hoch. Wenn man die Kuppel ebenfalls 87 Zentimeter hoch machte - von den Säulenköpfen bis zum Scheitel -, dann waren das 174 Zentimeter. Die waagrechten Dimen­sionen waren etwa dreieinhalb und zweieinhalb Meter; so kam also ein beinahe begehbarer Modellbau heraus. Das griff mein immer für die Ideen seiner Kinder begeistert entflammter Vater auf. Dieser Modellbau sollte Wirklichkeit werden. Wir versenkten den Fußboden um Tischhöhe, setzten, mit anderen Worten, die Säulen auf tischhohe Pfeiler und bekamen nun

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* [Nach einer mündlichen Überlieferung soUte det Syenit «grünlich» sein.]

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einen Raum, in den man wirklich hineingehen konnte, einen Modellbau, der seinen idealen Fußboden in Tischhöhe hat und in den man so hineintreten kann, daß man die Beine noch sozusagen unter dem Fußboden hat. Sitzend sieht man ihn so, wie wenn man rn einem Riesen-raume mit hohen Säulen darinnen wäre. Dieser Modellbau wurde wirklich angefangen. Im Waldesdicklcht beim Waldhaus in Malsch wurde er errichtet, und als Rudolf Steiner in der Karwoche 1909 die Loge Franz von Assisi der Theosophischen Gesellschaft dort einweihte, da vollzog er in der Nacht vom 5. zum 6. April 1909 die Grundsteinlegung. Von der Ansprache ist nur eine aus dem Gedächtnis gemachte Aufzeichnung meiner schon 1910 verstorbenen Schwester vorhanden, in der die Worte verzeichnet sind: « Leuchten möge auf diesen Bau das Licht der Geister des Ostens. Die Geister des Westens mögen es zurückstrahlen lassen. Die Geister des Nordens mögen es verfestigen, und die Geister des Südens es durchwärmen, so daß die Geister des Ostens, Westens, Nordens und Südens den Bau durchströmen.»

Wer die symbolisch-kultischen Betätigungen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die Rudolf Steiner in «Mein Lebensgang», Kapitel 36, erwähnt, kennengelernt hat, wird in den angeführten Worten wiederfinden, was dort lebte und was von da hinüberleuchtet über die Mysterien-dramen bis zu den Grundsteinlegungsworten der Weihnachtstagung und auch Licht wirft auf Goethes Märchen. Damals war der kleine Modellbau noch offen, die Leergerüste für die Seitengewölbe waren gerade eingebaut, und als die Grundsteinlegung vollzogen wurde, da ging gerade der Ostervollmond auf und schien von Osten her in die kleine Versammlung.

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Wir haben den Bau noch im Rohen fertig machen können und haben ihn auch für die Loge Franz von Assisi benützt, aber er konnte doch nicht zu Ende geführt werden, und ist auch heute nicht fertig. Aber er konnte der Ausgangspunkt für anderes werden.

Mir stellte sich immer wieder die Frage vor die Seele: Was soll dieser Bau sein? Der grie­chische Tempel ist die Wohnung des Gottes, die christliche Kirche ist das Haus der Gemeinde, die sich versammelt, um im Kultus das Geistige zu finden. Welche Aufgabe aber hat dieser neue Bau? Ich konnte keine andere Antwort finden als die: Dieser Bau soll die Stätte der Arbeit des Menschen sein, derjenigen Arbeit, mit der er dem Geiste sich zu nähern strebt. Und wie ein einzelnes ergab sich mir beim Umgang mit dem Zusammenklang der Formen, die sich in so überwältigender Einheit, Geschlossenheit und Vollkommenheit darboten, der Gedanke: Solch ein Tempel wird auf die Menschen so wirken, daß auch diejenigen, denen es nicht gegeben ist, den Weg des Denkens zu gehen, zur Selbsterkenntnis finden können, wenn sie sich seinen Formen hingeben. Das habe ich dann auch zu Rudolf Steiner gesagt. Und er sagte darauf:

«Ja, das ist so, aber die höhere Selbsterkenntnis», und ich verstand ihn so, daß er die Erkennt­nis vom Menschenwesen als solchem damit meinte. Es war dazumal noch kein Mysteriendrama geschrieben, der Gedanke an einen anthroposophischen Zentralbau war noch nicht aufgekom­men. So konnte ich damals nur an diesem unterirdisch gedachten Tempel erleben, was für das gesamte künstlerische Schaffen Rudolf Steiners gilt, von der Architektur des Goetheanums bis zu dem sprachschöpferischen Werke der Umgestaltung der deutschen Sprache zu geistiger Durchliörbarkeit in den Mysteriendramen, den Wahrspruchworten, den Leitsätzen und den Geleitbriefen.

Als der Stuttgarter Zweig den Entschluß faßte, ein eigenes Haus zu bauen, kam der Archi­tekt Schmid-Curtius, der den Malscher Modellbau kannte, auf den Gedanken, für die sym­bolisch-kultischen Veranstaltungen, die ich schon erwähnte, einen Raum dieser Art zu schaffen. Im Keller unter dem großen Saale war ein unterirdischer Raum vorgesehen, den er entspre­chend ausgestalten wollte. Ich wurde beauftragt, das Projekt im Einvernehmen mit Schmid­Curtius zu bearbeiten.

Das war erne noch schwierigere Aufgabe als die Ausarbeitung des Malscher Modells, weil der zur Verfügung stehende Kellerraum nicht nur reichlich eng, sondern auch noch ungünstig orientiert war. Man mußte, um im Einklang mit den Himmelsrichtungen zu bleiben, den Säulenraum ziemiich über Eck in den vorhandenen Hohlraum einfügen. Wir machten nun, um von dem vierecklgen Raum möglichst wenig zu verlieren, die sehr kreisähnliche Wandellipse so groß, daß sie sich noch etwas mit den geraden Kellerwänden überschnitt. Die geringe Raum-höhe zwang zu einer sehr flachen Kuppelform und führte auch dazu, daß wir unter der Haupt-kuppel den Fußboden um drei Stufen tiefer legten als im Umgang. Die Säulen waren aus Main-Sandstein und wurden von meinem Vater zusammen mit dem jungen Architekten Gerbote behauen. Die Schäfte waren rund. Das Sonnenlicht durch das Gewölbe einfallen zu lassen, war unmöglich. Deshalb wurde zwar die Lichtöffnung, wie auch in Malsch, im Südosten angebracht, aber sie mußte künstlich beleuchtet werden. Die Malerin Imme von Eckhardtstein hat die Kup­pel bemalt. Im Winter 1910 auf 1911 wurde an einem sehr kalten Tage von Rudolf Steiner der Grundstein des Hauses gelegt, und zwar an der Stelle, an der später die Ostnische des Säulen-saales entstehen sollte. Im Laufe des Jahres 1911 wurde das Haus fertig gebaut, und erst im Herbst konnte der Säulensaal eingebaut werden, den Sommer brauchte ich für die Berechnung.

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges diente der Säulensaal seinem ursprünglichen Zweck. Dann blieb er unbenutzt und wurde schließlich zum Abstellraum für alles Mögliche. Das blieb so, bis Herr C. S. Picht am Beginn der dreißiger Jahre sein Büro als Schriftleiter der

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Zeitschriften «Anthroposophie» und «Die Drei» in das Haus verlegte. Er «entdeckte» den Säulenraum und räumte ihn aus. Seinem verständnisvollen Bemühen ist es zu verdanken, daß der Saal nun wieder instand gesetzt wurde. Er sollte ein Rudolf Steiner-Gedachmisraum wer­den und wurde auch als solcher ausgestaltet. Herr Picht ließ auch photographische Aufnahmen machen, und zwei von ihnen sind in dem Sonderheft der vereinlgten Zeitschriften zur zehn­jährigen Wiederkehr von Rudolf Steiners Todestag veröffentlicht.

Als im Herbst 1935 die Anthroposophische Gesellschaft verboten wurde, da mußte das Haus Landhausstraße 70 verkauft werden. Die württembergische Landesbildstelle übernahm es. Der Säulenraum wurde herausgerissen. Nur die Säulen selbst sind erhalten geblieben; Herr Dr. Friedrich Husemann kaufte sie aus dem Abbruch und versetzte sie nach Wiesneck. Dort sind sie als Träger einer schönen Pergola um einen kleinen Teich herum angeordnet und erinnern schmerzlich an den verlorenen Tempelraum in Stuttgart. - Im Winter 1911/12 schätzungs­weise wurde der Säulensaal in Stuttgart fertig.

Damals wurden auch schon die Pläne für den Johannesbau in München entwickelt, der dann als Goetheanum in Dornach entstand. An die Stelle des ellipsoidischen Gewölbes trat nun die so eigenartige Doppelkuppel, und ein Bau entstand, der zwar für die Aufführung der Myste­riendramen gedacht war, dessen Bühne aber mit den zwölf Sitzen und dem Bilde des Mensch­heitsrepräsentanten die erhabenste Kultstätte darstellte.

In den Vorträgen: «Wege zu einem neuen Baustil » sagt Rudolf Steiner: «Was soll unser Bau werden? Er zeigt wiederum selbst schon in seinem Grundriß und in seiner Kuppelform das Charakteristische dessen, was er werden soll! Zweigliedrig ist er ja auch, aber die beiden Glieder sind in ihren architektonischen Formen völlig gleichwertig. Es ist nicht der Unter­schied wie zwischen dem Altargehäuse und dem Gläubigenhaus der christlichen Kirche. Der Unterschied der Größe bedeutet nur, daß hier, in der großen Kuppel, das Physische größer ist, und daß in der kleinen Kuppel hier versucht worden ist, das Geistige überragend zu machen. Aber es ist eine Erhebung zum Geiste schon durch diese Form ausgedrückt. Wie eine solche Erhebung zum Geiste entspricht dem, daß im Bau ein Organ geschaffen wird, daß die Götter zu uns sprechen können, das muß sich in allen Einzeiheiten ausdrücken. Wenn ich sage, daß derjenige, der den Bau vollständig verstehen wird, das Lügen und das Unrechttun verlernen wird, daß der Bau ein Gesetzgeber sein kann. Sie können es in den einzelnen Formen studieren.»

Wie im Keim konnte man das schon an der Urgestalt des Maischer Modellbaus und am Stuttgarter Bau erleben. Beide Formen, die elliptische wie die Doppelkuppel, sollten Hülle sein für die Arbeit des Menschen, nicht die profane, sondern diejenige Arbeit, mit der er sich fähig macht, die Göttersprache zu hören und sie in das irdische Tun aufzunehmen.

Zwei Funktionen vereinlgte das erste Goetheanum, Kultstätte und Mysterienbühne. Das zweite Goetheanum hat nur die zweite übernommen. Und für die erste wurde es zum Erinne-rungsbau. Sie ist angerufen in den Worten, die Rudolf Steiner - schon nach dem Brande des ersten Goetheanum in der Stuttgarter Delegiertenversammlung vom Frühjahr 1923 sprach, als er das von der Anthroposophischen Gesellschaft zu Leistende einen umgekehrten Kultus nannte, einen Kultus, in dem der Mensch mit den anderen zusammen den Weg zum Geiste sucht und damit Gemeinschaft aus der Freiheit heraus in die Zukunft hinein baut, während der religiöse Kult die Menschen zum symbolischen Wiedererleben des in der vergangenen Geist-lebendigkeit gemeinsam Durchgemachten führen will.

Wie ein Mahnzeichen für das, was immer noch Aufgabe einer Anthroposophischen Gesell­schaft sein muß, diesen « umgekehrten Kultus » zu schaffen und ihn in angemessene Raumgestaltungen

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hineinzustellen, steht doch die Tatsache da, daß das alte Goetheanum nur noch Erinnerung ist, und daß auch die Stufen zu ihm bis jetzt nicht zu bleibender Wirklichkeit gedeihen konnten.

Es ist das aber doch nur die zweite Seite zu der primären Tatsache, daß wir von der Verwirk­lichung des umgekehrten Kultus in unserer Gesellschaft noch himmelweit entfernt sind. Die erste Stufe zu ihm kann doch nur sein, daß es uns gelingt, eine Gesellschaft zu bauen, die wirk­lich brüderlich alle diejenigen vereint, die auf den verschiedensten Wegen den Geist der Anthroposophie suchen. Über das Wort der Anthroposophie kann man streiten, mag man strei­ten, wenn man es so tut, daß man dem anderen die Liebe nicht verwehrt. Finden wird man sich dann immer wieder, wenn man zum Geiste der Anthroposophie dringt.

Und das mag uns vielleicht einmal wieder dahin führen, daß wir daran denken dürfen, Raumgestaltungen aus dem Geiste des alten Goetheanum zu errichten; als Hülle für den in unserer Arbeit zu verwirklichenden wahren Geist der Anthroposophie.

E. A. KARL STOCKMEYER DAS BAUKÜNSTLERJSCHE PROBLEM DES MÜNCHNER KONGRESS-SAALES VON 1907 UND DER ENTWURF DES MALSCHER MODELLBAUES VON 1908

#G284-1977-SE120 Bilder okkulter siegel und Säulen

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E. A. KARL STOCKMEYER

DAS BAUKÜNSTLERJSCHE PROBLEM

DES MÜNCHNER KONGRESS-SAALES VON 1907

UND DER ENTWURF DES MALSCHER MODELLBAUES VON 1908

(Nicht beendeter Aufsatz aus seiner letzten Lebenszeit)

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Es ist von vornherein einleuchtend, daß die Vorschrift des dreiachsigen Ellipsoides als Kuppel-form noch keinen Bauentwurf für einen Saal schafft. Das Ellipsoid ist ein sehr abstrakter Be­griff, der in jedem Bauentwurf erst näher bestimmt werden muß, wenn er zum konkreten Bau-element werden soll. Damit aber beginnt die Arbeit des Architekten, wenn er einen elliptischen Bau errichten will. Am einfachsten hat er es, wenn er die Dimensionen und Proportionen selbst bestimmen kann, wo vielleicht nur die Geldmittel, nur die Größe eine Grenze setzen. Das war bei der Errichtung des Malscher Modellbaues der Fall, wo die geringe Höhe der Säulen es mit sich brachte (87 cm), daß kein wirklicher Saal geschaffen wurde, sondern nur eben ein Modell-bau, der nur knapp 24 Personen aufnimmt. Nach diesen 87 cm mußte sich nun alles richten. Innerhalb dieses Rahmens konnte man sich aber frei bewegen, indem man die Achsen des Ellipsoids zum Beispiel nach dem goldenen Schnitte oder in anderer Art frei bestimmte.

Anders lag es beim Stuttgarter Säulensaal von 1911, der in einen sehr ungünstigen und vor allen Dingen ungünstig orientierten Raum eingezwängt werden mußte, indem man eine sehr bauchige, also kreisähnliche Ellipse als Grundriß wählte. Die Kuppel wurde dadurch sehr flach und im Grundriß fast kreisförmig. Die Kuppel ruht auf 2 x 7 Säulen ganz neuer Gestaltung, die den Hauptraum, gewissermaßen das Mittelschiff, abgrenzen. Sie sind auf der Hauptellipse nicht gleichmäßig verteilt - das hätte einem kreisrunden Grundriß entsprochen. Hier wurde versucht, eine angemessene Verteilung der Säulen dadurch zu erhalten, daß man die scheinbaren Abstände - vom Mittelpunkte aus gemessen - gleich groß machte. Machte man diesen schein­baren Abstand gleich einem Achtel des gestreckten Winkels, dann erhielt man 2 x 7 Säulen-plätze, und im Osten und im Westen je einen Zwischenraum von doppelter Weite. Damit war

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eine der Ellipse angemessene Säulenordnung gewonnen. Natürlich gibt es auch andere Eintei-lungsmöglichkeiten.

Die Anordnung der Säulen gibt die Ausgangspunkte für den Aufbau des seitenschiff-arti­gen Umganges, und für dessen Problem Rudolf Steiner nur die einfache Angabe gemacht hat, daß die einzelnen Zellen wie der Hauptraum durch Ellipsoide abgedeckt sein sollen. Damit wurde grundsätzlich von dem gotischen Aufbau des Gewölbes aus Gurten und Dreieckfeldern abgegangen und jedes Einzelgewölbe als ästhetische und dynamische Einheit gestaltet. Das gilt in gleicher Weise für das Hauptgewölbe wie für die Einzelgewölbe, die man auch Ellipsoid-Gewölbe nennen könnte.

Diese Ellipsoid-Gewölbe sollen den vom Hauptgewölbe herkommenden Seitenschub auf­nehmen und auf die einheitliche Außenmauer übertragen und tun das so, daß das «Lasten» und das «Tragen» vom Beschauer empfunden wird. Tragend ist die Wand, besonders wenn sie in den Felsen hineingehauen wird. Jede Umfassungsmauer ist nur Ersatz für die tragende Fels-wand. Auf der Wand oder Außenmauer ruht lastend der Kranz der Ellipsoidgewölbe. Diese aber tragen selbst das Hauptgewölbe, und abgeschlossen ist die Bewegung im Schlußstein, der im Scheitelpunkte des Hauptgewölbes schwebend ruht. Einen Teil der Last des Haupt-gewölbes nimmt der Kranz der Säulen und überträgt ihn über die elliptischen Gurtbögen schließlich auch auf die Wand. Die Gurtbögen und die Ellipsoid-Gewölbe bilden zusammen einen einheitlichen Kranz, in dem die Ellipsoid-Gewölbe das lastende Element bilden, die Gurt-bögen das tragende. So ist das Gesamtgewölbe mit all seinen tragenden und lastenden Ele­menten schließlich eine unauflösbare Einheit mit einem festen Mittelpunkt und einem unver­rückbaren Umkreis.

Im Grundriß zeigt sich der Bereich eines Kranz-Ellipsoides als Viereck mit teilweise ge­krümmten Seiten. Jedes dieser Vierecke ist durch vier Punkte bestimmt. Zwei davon bezeich­nen die Achsen zweier benachbarter Säulen, die zwei anderen geben an, wo die Ellipsoidfläche in die Wand- oder Mauerfläche übergeht. Die vier Punkte mußten so gewählt werden, daß durch sie ein Ellipsoid bestimmt wird, das an jedem der genannten vier Punkte eine senk­rechte Tangente besitzt. Diese Bedingung erfüllen aber unendlich viele Ellipsoide. Man muß daher noch eine andere suchen und findet sie in den Beziehungen der Kranz-Ellipsoide zum Haupt-Ellipsoid. Diese beiden Flächen sollen da, wo sie einander schneiden, auch zueinander senkrecht stehen. Denn dann wird das Tragen und Lasten am deutlichsten erlebt. Diese Senk­recht-Stellung aber wird erreicht, wenn eine der drei Achsen der Kranz-Ellipsoide das Haupt-Ellipsoid berührt. Mit diesen Bedingungen senkrechter Tangenten an den genannten vier Punk­ten sind Rechtwinkligkeit von Haupt-Ellipsoid und Kranz-Ellipsoid ...

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Aus dem Nachlaß von E. A. Karl Stockmeyer:

Das auf 2 x 7 Säulen neuer Gestaltung ruhende Gewölbe in der Form eines dreiachsigen Ellipsoides ist das architektonische Urmotiv, das Rudolf Steiner mir im Sommer 1908 auf meine Frage hin übergab. Dieses Gestaltungsmotiv steht in seiner Bewegung zwischen dem griechi­schen Tempel mit seiner eindeutig geradlinigen Bestimmtheit und dem Kuppelbau mit seiner ruhelosen Kreis etendenz, die er erst durch Kreuzgrundriß überwindet. Der antike Tempel kennt nur zwei wirkliche Dimensionen, man bewegt sich beim Schreiten von der Tür zum Bilde in der Wirk­lichkeit nicht vorwärts, sondern man wiederholt die gleichen Zustände. Der Kuppelbau macht den alten Tempel erst zum christlichen Bauwerk.

Rudolf Steiners Tempelbau mit seinem elliptischen Grundriß verschmilzt die geradlinige Tendenz der alten Tempelbauten mit den Drehtendenzen der Kuppelbauten durch die einheit­liche Ellipsenform.

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BERLIN

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

Der Berliner Zweig war der Ausgangspunkt von Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Lehrtätig­keit. Ursprünglich hieß er Deutsche Theosophische Gesellschaft Berlin und war als solche im Jahre 1894 als Zweig der Theosophical Society, Europäische Sektion, Sitz London, gegründet worden. Im Herbst 1900 wurde Rudolf Steiner eingeladen, in diesem Kreise Vorträge zu halten. Dort begegnete ihm bald darauf Marie von Sivers, später Marie Steiner, mit der zusammen er im Jahre 1902 sowohl die Leitung der Deutschen Theosophischen Gesellschaft wie auch der in Gründung befindlichen Deutschen Sektion übernahm. Von 1905 bis 1912 nannte sich die Deutsche Theosophische Gesellschaft beziehungs­weise der Berliner Zweig «Besant-Zweig» und ab 1913 «Berliner Zweig» der Anthroposophischen Gesellschaft. Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers blieben die Leiter dieses Urzweiges der anthroposophischen Bewegung, bis Rudolf Steiner bei der Neubildung der Gesellschaft an Weihnachten 1923 als Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft mit Sitz am Goetheanum, Dornach bei Basel, deren erster Vorsitzender wurde und seinen Hauptwohnsitz endgültig von Berlin nach Dornach ver­legte.

Der Berliner Zweig hatte von Herbst 1903 bis Mai 1909 sein Domizil in Berlin W, Motzstraße 17, Hinterhaus, einem großen Gebäude, in dem sich sowohl die Geschäftsstelle der Deutschen Sektion, der Verlag für das Schrifttum Rudolf Steiners als auch seine und anderer Mitarbeiter Wohnungen befan­den. Am S. Mai 1909 wurde das längst notwendig gewordene größere Zweiglokal in der Geisbergstraße 2 von Rudolf Steiner feierlich eingeweiht. Die Raumgestaltung, die vor allem durch die Farb­gebung ganz in Blau «eine einheitliche Flächenwirkung» anstrebte, war nach den Angaben Rudolf Steiners durchgeführt worden. Jahresbericht des Zweiges in «Mitteilungen für die Mitglieder der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft» Nr. X vom Januar 1910.) Außer Rudolf Steiners eigener Beschreibung in seinem Einweihungsvortrag findet sich noch eine kurze Charakterisierung dieses Raumes in Assia Turgenieffs «Erinnerungen an Rudolf Steiner und die Arbeit am ersten Goethe­anum», Stuttgart 1967:

«Wie ein Schiff oder Inselchen im brausenden Meer des modernen Großstadtlebens war das Zweig-lokal in der Geisbergstraße. Dr. Steiner machte darin seinen ersten Versuch einer Raumgestaltung. In gesättigtem Blau gemalte Wände und noch dunkler blau die Tür, der Fußboden, Fenster und Stühle. Auch das seitlich gestellte Rednerpult war dunkelblau, darauf ein Strauß leuchtend roter Rosen. Die

Vorhänge an den Fenstern waren hellblau, und auch die Decke war mit hellblauem Stoff bedeckt, der, in den Nähten fester angezogen, in merkwürdigen Wellen nach unten gebauscht herunterhing. Das war ungewollt, doch viel Sorgfalt war verwendet worden, aus dem Deckenstoff als Übergang zu den dunk­leren Wänden tropfenartige Formen zu bilden. Die Büsten von Hegel, Schelling, Fichte und Novalis, sowie zwei Radierungen von Raffaels Stanzen nahmen die Räume zwischen den Fenstern ein.»

Die einheitliche blaue Farbgebung - auch schon der Zweigraum in Motztraße 17 war so gehalten -begründet Rudolf Steiner bei der Einweihung des Stuttgarter Hauses (Vortrag vom 15. Oktober 1911, siehe Seite 148). In Berlin selbst sagte er am 23. Oktober 1911 (in Bibl.-Nr. 133), wie notwendig es ist, eigene Räumlichkeiten zu haben: «Daß damit etwas erreicht werden kann, wenn wir in der Lage sind, den Raum selber zu bauen, das haben wir nicht nur bei kleinen Anfängen gesehen, sondern jetzt wieder, wo der Stuttgarter Zweig sich das erste mitteleuropäische theosophische Haus aufgeführt hat. Und die, welche bei der Eröffnung anwesend waren, werden sich hinlänglich davon überzeugt haben, was ein im theosophischen Sinne weihevoller Innenraum wirklich zu bedeuten hat, und wie es etwas ganz anderes ist, wenn man in einen solchen Raum hineinkommt als sonst in einen Saal, ganz abgesehen von den einzelnen Feinheiten, die ich auseinandersetzte, als ich in Stuttgart sprach über die Bedeutung der Farbe, der Raumesbegrenzung und so weiter für die Pflege okkulter Erkenntnis in einem solchen

Raum.»

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Im Jahre 1919 wurde in Berlin wiederum eine Lokalvergrößerung notwendig und neue Räume, nunmehr auch mit einer Bühne, in der Potsdamer Straße 98 eingerichtet. Die Lokalität wurde, obwohl Rudolf Steiner damals schon nur noch selten in Berlin sein konnte, von ihm doch mit einem Vortrag am 12. September 1919 (Bibl.-Nr. 193) - eröffnet. Sie dienten der Arbeit in Berlin bis zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland durch die Nationalsozialisten im Jahre 1935. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich in Berlin wiederum zahlreiche anthroposophische Aktivitäten entwickelt, die sich ihre eigenen Räumlichkeiten geschaffen haben.

H. W.

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RUDOLF STEINER

DIE EINWEIHUNG DES NEUEN ZWEIGRAUMES

Berlin, 5. Mai 1909

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Wk haben uns heute hier zusammengefunden, um ein erstes Mal beisammen zu sein in dem Raum, der nunmehr bestimmt sein soll zur Pflege jener Ideen und jenes Lebens, das wir bisher in engeren, beschränkteren Räumen miteinander gepflegt haben. Heute haben wir uns hier zusammengefunden, weniger um dieses oder jenes Neue entgegenzunehmen, als vielmehr um ein erstes Mal zusammenzusein in dem Bewußtsein dessen, was Sinn und Bedeutung des theo­sophischen Lebens, der theosophlschen Idee ist.

Bei der Gelegenheit, die es uns möglich gemacht hat, unsere bisher uns schon etwas zu eng gewordenen Räumlichkeiten mit größeren zu vertauschen, haben wir auch versucht, den Raum in der entsprechenden Weise auszugestalten. Selbstverständlich lag dabei das Bewußtsein zu-grunde, daß auch das wiederum nur ein Anfang sein kann von dem, was immer mehr und mehr sich herausbilden wird, wenn Theosophle nicht bloß leere Dogmen, sondern im eminentesten Sinne Leben sein wird; Leben, das unsere ganze Kultur, alles das, was wir tun und treiben, durchsetzen und ergreifen wird. Wenigstens in einer ersten Andeutung sollte versucht werden, in einer bestimmten Weise einen Einklang zu schaffen zwischen dem, was wohl in den nächsten Zeiten hier als Wort walten wird, und dem, was uns im äußeren Raume entgegentritt. Man könnte das alles viel vollkommener machen. Die Dinge werden auch in einer gewissen Zukunft noch ganz anders gemacht werden, vielleicht am besten dann, wenn wir alle im physischen Leibe nicht mehr dabei sind. Aber damit sie einstmals vollkommener werden können, muß ein Anfang gemacht werden. Und der Anfang in seiner Unvollkommenheit ist in vieler Beziehung wichtiger als das Vollkommenere, das sich dann im Laufe der Zeiten ausbauen wird.

Es müßte in den theosophlschen Gemutern immer mehr die Empfindung Platz greifen, daß es nicht einerlei ist, was uns sozusagen antwortet von den Wänden des Raumes, in dem wir zur Pflege der theosophlschen Empfindungen und der theosophischen Ideen zusammen sind. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, daß diejenigen, welche sich im Beginne einer Welt­anschauungsströmung für deren Ideen interessieren, sich gegenüber dem, was in der äußeren Sinneswelt um uns herum ist, sozusagen geringschätzig verhalten. Aber das sollte einer ganz anderen Grundempfindung unseres Lebens weichen. Theosophle kann ihr höchstes, natürlich weit über alles Äußere hinausgehende Ideal ganz gewiß am besten dadurch erreichen, daß sie auch an dem arbeitet, was viele Menschen als das bloß Äußere, vielleicht sogar als das Alltäg­liche empfinden. Wer den Zusammenhang der geistigen Tatsachen erkennen und zu beurteilen vermag, der weiß ganz gut, daß Sitten, Gewohnheiten, Seelenneigungen, gewisse Beziehungen des Guten und des Bösen eines Zeitalters davon abhängen, wie die Dinge beschaffen sind, an denen wir vom Morgen bis zum Abend vorbeigehen, unter denen wir vom Morgen bis zum Abend sind. Was die Menschen der heutigen Zeit vom Morgen bis zum Abend zumeist um­gibt, das ist - verzeihen Sie den harten Ausdruck - oftmals haarsträubend. Um nichts kümmert sich der Mensch heute oft weniger als um das, was den Tag über in seiner Umgebung ist! Hat er sein Urteil, sein Auge, seinen Geschmack dabei, wie man ihm seinen Tisch, seinen Stuhl gestaltet? Das Unmöglichste auf diesem Gebiet ist heute möglich. Von unseren Fabriken werden irgendwelche Verzeichnisse ausgegeben: so und so sind Stühle geformt, so und so sind Tische geformt. Und in den meisten Fällen, wenn einem das nicht gefällt, was ein abstrakter, unpraktischer

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Geschmack in tausenden und tausenden Exemplaren in die Welt hinausschlckt, wird man zur Antwort bekommen: Ja, anderes kann man eben nicht haben! - Die Menschen merken nicht, daß sie in dem Augenblick anderes haben würden, wenn sie nur anderes haben wollten. Der einzelne vermag dabei natürlich wenig. Aber diejenigen Gesellschaften, die gemeinsame Ideale pflegen, sollten auch darauf halten, daß in dem, was sie umgibt, ein Ausdruck ist davon, was m ihren Herzen, in ihrem Urteil lebt.

Hier in diesem Raum - an allem, was Sie hier sehen - haben zum großen Teil nur Menschen mitgearbeitet, die auch heute hler sitzen, lauter sozusagen unpraktische Theosophen. Es gibt hier in diesem Raum vorläufig nur ein Unpraktisches: das sind die Lampen, und die müssen in den nächsten Wochen geändert werden. Sie sind das einzige in diesem Raum, was eine Genossen­schaft, die keine Beziehung zur Theosophle hat, geleistet hat, die aber bekannt ist als eine eminent praktische Firma. Ich kann Ihnen die Versicherung geben: vor mehr als jetzt sechs Wochen wurde der entsprechende Auftrag gegeben, wie diese Schalen - durch die das Licht in den Raum hineinfallen soll - sein sollten. Sie sollten nämiich blau sein. Aber eine weltbekannte Firma war nicht imstande, etwas herzustellen, was abweicht von dem, was man im Grunde im­mer herstellt. Als die einzigen Unpraktischen haben sich die Praktiker erwiesen. Hier zeigt sich wiederum, daß diese «Praxis», wenn man sie richtig durchschaut, das Unpraktischste ist, was man sich denken kann. Es liegt nichts anderes dahinter als das brutale Pochen darauf, daß die Menschen ja darauf angewiesen sind, weil man elektrische Lampen nicht selber herstellen kann. Dies soll nur gesagt sein, um gerade bei dieser Gelegenheit darauf hinzuweisen, wie unsinnig es ist, wenn achselzuckend oder hochmütig von ganz bestimmten Höhen herabgesehen wird auf unsere theosophlsche Richtung, die sozusagen weltfremd und weltfeindlich sein soll. Etwas Unpraktisches hat sich ja auch unter den Theosophen so nach und nach eingeschlichen:

das ist das Zuspätkommen. Aber man sollte einsehen, daß man bei theosophischen Vorträgen im Grunde gar nicht zu spät kommen kann; denn eine theosophische Betrachtung ist zusam­menhängend, und wenn man die ersten Sätze überhört hat, dann hat man eigentlich gar nichts gehört.

Dieser Raum soll also wirklich ein Ausdruck sein theosophischer Lebenspraxis auf einem bestimmten kleinen Gebiete, auf dem sich das heute eben schon durchführen läßt. Das, was geistig lebt, kann sich nämiich durchaus in den Formen, in den Farben unserer Umgebung ausprägen und uns wieder entgegentreten in dem, was wir um uns herum wahrnehmen. Was um uns herum ist, kann in einer gewissen Beziehung ein Echo sein dessen, was wir in unseren Seelen und in unseren Herzen empfinden. In dieser Beziehung soll Theosophie immer mehr unser ganzes Kulturleben durchdringen, eben durchaus Lebensblut unserer geistigen Entwik­kelung werden. Man kann in dieser Beziehung sagen, daß unser höchstes Ideal gerade mit dem zusammenhängt, was wir auf Schritt und Tritt im Leben um uns herum haben. Und nachdem wir sozusagen den Sinn uns ein wenig vor Augen stellten, warum wir gerade in dieser Weise den Raum gebildet haben, dürfen wir uns auch bei dieser Gelegenheit unser großes theosophi­sches Lebensideal ein wenig näher vor die Seele rücken.

Zwei der bedeutendsten Bilder der Welt sind hier untergebracht, an denen uns so recht die Art und Weise entgegentreten kann, wie der Theosoph sein Lebensideal zum Inhalte seiner Seele machen kann. Es sind zwei Bilder ]?affaels> in denen er - in einer großen Zeit der künst­lerischen Entwickelung - zum Ausdruck gebracht hat sozusagen alles, was durch seine Seele ging an Empfindungen und Gefühlen über die Menschheitsentwickelung vieler Jahrhunderte. Das eine Bild wird genannt die «Schule von Athen» - in dem Baedeker ist es so genannt; es wäre besser, wenn dieser Name nach und nach verschwände -, und das andere Bild ist die sogenannte

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«Disputa». Was stellen uns diese Bilder dar, wenn wir ihren Inhalt so vor unsere Seele treten lassen, daß wir den großen Gedanken, der ihnen zugrunde liegt, ebenso in uns auf-leben lassen wie das Künstlerische in ihnen?

Es ist mir möglich gewesen, diese Bildet öfter zu sehen. Sie sind ja in Rom im Vatikan, rn den berühmten «Raffaelschen Stanzen». Man sieht dann immer, wie die Leute mit ihren Reise-handbüchern davor stehen und nun nachlesen: das ist Sokrates, das ist Plato, das ist Diogenes und so weiter. Und die Leute sind ungeheuer froh, wenn sie nach dem Baedeker entziffern können, was diese oder jene Gestalt ist, ob es dieser oder jener Bischof oder Kirchenvater ist, ob dies der Paulus oder Petrus, oder dies der Moses ist und so weiter. Aber wie gleichgültig ist das alles doch künstlerisch! Ich möchte einen recht grotesken Vergleich gebrauchen, um einmal darauf hinzuweisen, wie man künstlerisch solchen Bildern sich nähern kann; und hier wird das künstlerische Sich-Nähern mit dem theosophischen Sich-Nähern vollständig zusam­menfallen.

Wir wissen ja, daß es auch Bewohner des Mars gibt, wenngleich diese Marsbewohner ganz anders aussehen als die Erdenbewohner. Für uns sind sie ganz reale Wesenheiten. Uns wird zwar nicht die vertrackte Idee mancher moderner Phantasten interessieren, ob es nicht möglich wäre, den pythagoräischen Lehrsatz in elektrischen Lichtlinien auf einer großen Ebene Sibi­riens hinzuzeichnen, damit auf diese Weise eine Korrespondenz mit den Marsbewohnern ein-geleitet werden könnte. Solche Träumereien überläßt man den materialistischen Phantasten der Gegenwart. Wer auf dem Boden der Wirklichkeit steht, der weiß, daß man es mit Marsbewoh­nern zu tun hat, die ganz anders geartet sind als die Erdenbewohner. Nehmen wir an, ein solcher Marsbewohner würde herunterkommen auf unsere Erde und könnte sehen, was hier vorgeht. Wir aber könnten an ihn doch nicht sogleich die sonderbare Anforderung stellen, daß er auch schon unsere Erdengeschichte kenne. Nun wäre doch möglich, daß ein solcher Marsbewohner nach Rom käme. Wir könnten ihm ganz gut zumuten, daß er in die Vatikanische Sammiung geht und sich diese beiden Bilder von Raffael ansieht. Wir könnten ihm aber nicht zumuten, daß er nun gleich auch die ganze Geschichte der griechischen Philosophie und die ganze gei­stige Entwickelung des Mittelalters studiere, damit wir auf unsere Art mit ihm reden könnten. Denn das würde ihm höchst komisch vorkommen, wenn wir ihm erklärten: Das ist der Augu­Stinus, das ist Ambrosius und so weiter. Er würde wahrscheinlich antworten, wenn er in einer irdischen Sprache reden könnte: er kenne die Herren nicht! Wir kennen sie im allgemeinen, weil wir uns von ihnen gewisse Vorstellungen angeeignet haben. Ob sie richtig oder falsch sind, darauf kommt es jetzt nicht an. Der künstlerische Eindruck, das, was diese Bilder künstlerisch sind, wird absolut nicht dadurch geändert, daß der eine ein Marsbewohner ist und gar nichts weiß von Herrn Aristoteles und Herrn Plato und Herrn Sokrates, und daß der andere diese ganze Geschichte der Erdentwickelung kennt. Denn der künstlerische Eindruck ist einzig und allein von dem abhängig, was uns im Bilde selbst entgegentritt. Und man hat diesen künstle­tischen Bildeindruck am besten dann, wenn man auf gar nichts anderes Rücksicht nimmt als auf das, was aus dem Bilde selber spricht. Daher wäre der Marsbewohner der beste Beobachter in rein künstlerischer Beziehung.

Aber versetzen wir uns jetzt einmal in die Seele eines solchen Marsbewohners, dem wir kein Handbuch der griechischen und der mittelalterlichen Philosophie geben, der eben vom Mars herunterkommt. Der würde sich sagen: Ich sehe da gewisse Gestalten, menschliche Gestalten auf diesen Bildern; unter den heutigen Menschen sind zunächst keine solchen. Denn ich glaube nicht, wenn er Umschau halten würde unter den Umstehenden, die sich auch diese Bilder ansehen, daß er einige als gleichbedeutend mit den Gestalten auf diesen Bildern anerkennen

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würde. Er wurde etwas empfinden, was aus dem Leben der Erde selbst herausgewachsen sein muß. Den Bildern selber würde er es ansehen, daß die Erdenbewohner etwas haben sagen wollen, was nicht mit einem Augenblick zusammenhängt, sondern mit vielem, was im Erden-leben lebt. Er könnte den Blick richten auf das eine Bild und könnte sagen: Hier sehe ich höchst merkwürdige Gestalten und Formen; zwei Gestalten da im Mittelpunkte, rechts und links andere Gestalten; ich sehe einen gewissen Ausdruck: die erhobene Hand des einen, die auf den Boden weisende Hand des anderen und so weiter, - alles das, ohne daß man etwas weiß von Plato oder Aristoteles. Man sieht da auch Personen in den verschledensten Stellungen dieses oder jenes tun. Man sieht nichts weiter als einfache archltektonische Formen um diese Menschen herum; aber man sieht auch, daß in den Köpfen und Seelen der Menschen etwas lebt. Das sieht man auch.

Und nehmen wir an, ein solcher Marsbewohner wendet jetzt den Blick von dem einen Bilde weg und sähe zum anderen Bilde hin. Das sieht doch ganz anders aus. Da sieht er unten erne Welt, die sozusagen so aussieht, wie die äußere Welt heute aussieht. Oben sieht er eine Partie, die nur wiedergegeben werden konnte dadurch, daß man sozusagen Dinge, die heute im physi­schen Leben nicht zusammengehören, miteinander verbindet: Wolkengebilde und menschliche Formen, aber durchaus noch erinnernd an Reales, an Wirkliches. Und noch weiter oben über diesem Ineinanderweben von Wolken und Menschengebilden sieht man im goldigen Grunde Gestalten, die nur wenig mehr an Menschliches erinnern.

Was müßte sich der sagen, der diese Bilder ansieht und nichts weiter weiß von dem Geistes­leben auf der Erde, der nur aus dem Bilde selbst urteilt?

Er müßte sich sagen: Diese Menschen haben die Erde um sich herum; aber sie haben das Bedürfnis gehabt, in gewissen Zeichen auszudrücken, was die sinnlichen Augen um sie herum nicht sehen: eine Welt, die ganz sinnesentrückt ist, die sie nur darstellen konnten durch Wol­ken und Menschengestalten - miteinander verbunden -, und durch Gestalten auf Goldgrund, die nichts Menschenähnliches haben. Es muß also etwas geben, wozu diese Menschen sich haben erheben können durch gewisse innere Kräfte, die mehr sehen als das, was ihnen in der Sinnes­welt entgegentritt. Eine andere Welt haben sie sich außer dieser Sinneswelt auferbaut. Die mußte also in eine Beziehung zu ihnen getreten sein.

Nun würde er sich fragen: Wodurch sind die Menschen in Beziehung zu dieser Welt gekom­men? Da wurde er die merkwürdige Gruppe sehen, die wir nennen: den «Gott-Vater», den «Gott-Sohn » und die «Taube» als den Ausdruck des Geistes; darunter einen Altar und darauf gleichsam das Sanktissimum als Symbolum für das Abendmahl. Da die Marsentwickelung noch nicht so weit ist wie Erdentwickelung, so gibt es dort nicht so etwas, was wir die zweitau­sendjährige Tradition des Christentums nennen. Daher also würde der Marsbewohner nicht wissen, was auf diesem Bilde dargestellt ist. Aber aus der Art und Weise, wie die Gruppen rechts und links zu der mittleren Gruppe sich verhalten, wurde der Marsbewohner sich sagen, daß durch die Kraft des Symbolums den Seelen das gegeben wird, wodurch ihnen die höheren Welten entstehen.

Jetzt würde der Marsbewohner genauer zusehen. Da würde er bemerken: Auf dem anderen Bilde sind verschiedene Gestalten, unter anderen aber auch zwei Gestalten, eine rechts und eine links: zwei Frauengestalten. Merkwürdig! Wenn man sie ansieht, so sind sie ganz verschieden in ihrem Ausdruck, sogar verschieden bis auf die Kleidung hin. Aber nun studiere man diese beiden Frauengestalten.

Die eine - auf dem Bilde «Die Schule von Athen» - wenn man davor steht, links: Im ganzen Ausdruck hat diese Figur etwas wie einen Hinweis auf das, was das irdische, sinnliche Reich

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unten ist und was die Sinne unmittelbar umgibt. Um sie herumstehend die Männergestalten. Und ahnend ist angedeutet, was in ihren Köpfen lebt aus der sinnlichen Welt. Was tritt uns in dieser Frauengestalt entgegen? In ihrem Ausdruck tritt uns entgegen, was in den Köpfen und Seelen der Männer lebt, bis auf das Kleid hin, das weiße, unschuldvolle Kleid, das uns zeigt, daß an ihr noch nichts gearbeitet hat von jener Kraft, die herrührt von dem bloßen Haften an den Sinnesdingen. Wir verstehen jedes Antlitz der Männer, wenn wir verstehen, was diese Frauengestalt ausdrückt.

Und jetzt gehen wir zu der anderen weiblichen Figur - auf demselben Bilde - rechts. Da sehen wir, wie sie anders ist und bereits beginnt aufzumerken auf das, was die Männer dort tun. Während links die Figur nur hinweist auf die sinnliche Umgebung, sehen wir, wie die Figur rechts das verfolgt, was die Männer getan haben. Die Blicke folgen schon dem, was der mensch­liche Geist hervorgebracht hat. Wir sehen ganz genau, selbst wenn wir nichts von griechlscher Philosophie wissen, daß da ein Fortschritt ist von der linken zur rechten Seite des Bildes. Auf der rechten Seite sehen wir, was die Männer schon aus der Umgebung gemacht haben. Das geht aber noch weiter; auch in der Farbengebung ist das zum Ausdruck gekommen.

Diese beiden Frauen erscheinen uns aber auch auf dem anderen Bilde, das den Namen trägt:

«Die Disputa». Da ist die eine Frauengestalt wieder links. Da sind Menschen, die stehen und sehen in voller Verzückung zu dem Symbolum auf in der Mitte. Da sehen wir die ersten Zeiten, in denen die christliche Religion noch ganz Gefühl und Empfindung war, und wo die Weisheit selber noch Gefühl war. Da sehen wir eine Art Gefühls- und Enthusiasmus-Christentum auf allen Antlitzen und in allen Herzen arbeiten. Und wiederum sehen wir es ausgedrückt in der Frauengestalt. Und jetzt sehen wir den Fortschritt, wenn wir zu der anderen Seite des Bildes gehen. Da haben wir bereits diejenigen christlichen Philosophen, die sich das christliche Weis­heitsgut wissenschaftlich erarbeitet haben. Da sehen wir, wie Augustinus diktiert und die Frauengestalt ihm nachschreibt. Man kann sich einen großen Teil der menschlichen Geschichte konstruieren aus der geistvoll-künstlerischen Idee, wie Raffael dieses Motiv durchführt, das Motiv: was in den Seelen der Männer lebt, ausdrücken zu lassen in diesen Frauengestalten, die uns in doppelter Wiederholung in den Bildern entgegentreten.

Das sind nur ganz skizzenhafte Züge in der Betrachtung solcher Bilder. Die beiden Bilder können auch nur zusammen aufgefaßt werden, und nur das eine nach dem anderen. Die Bilder sprechen das aus, was geschehen ist von der vorchristlichen Zeit an bis tief in das Mittelalter hinein; und sie sprechen es auf künstlerische Art aus. Denken Sie einmal, wie groß und gewaltig das sein mußte, was in einer wirklich empfindenden Seele damals vorging, die auf der einen Seite des Raumes das eine Bild, auf der anderen Seite das andere Bild hatte, und sich sagte:

Du bist hineinverwoben in diesen Gang der Menschheitsentwickelung; du gehörst auch zu dem, was da geschieht, in dem Sinne, wie es die beiden Bilder darstellen! - Denn so empfand der Mensch, der den Sinn der Entwickelung damals begriff, in Wirklichkeit. Er sah zurück in die vorchristliche Zeit, wo die bloße Sinneswelt den Menschen umgab wie die bloße Architektur auf dem ersten Bilde; und er erblickte seine Zeit, die dem Menschen enthüllt hatte ein Geisti­ges durch den Eintritt des Christus Jesus in die Menschheitsentwickelung auf dem zweiten Bilde. Er fühlte sich dazugehörig; er fühlte sein Dasein beschlossen in dem Dasein von Jahr­tausenden. Da war das, was in den Seelen lebte, hineingeströmt in die Phantasie und auch in die Hand des Malers, der diese Bilder hinmalte, damit in der Außenwelt dem Menschen ent­gegentrete, was in der Innenwelt der Seele lebt. Und für den Theosophen können diese Bilder die Aufforderung werden, wirklich dieses große Ideal sich in die Seele zu schreiben.

Schauen wir uns einmal mit geistigen Augen die «Disputa» an. Da sehen wir in der Mitte den

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Gott-Vater, den Gott-Sohn oder den Christus, und darunter dle Taube des Geistes. Und jetzt gedenken wir mancher anderer Bilder, die wir in den mannigfaltigsten Galerien finden können Überall, wenn Sie Gelegenheit haben, dlese oder jene Galerie sich anzusehen, können Sie solche Bilder finden, die noch aus guten großen Traditionen heraus künstlerisch geschaffen sind. Das Bild werden Sie vielfach finden können: den Christus hervorgehend aus einer Gestalt wie ein Vogel, wie aus einem Flügelwesen herausgeboren werdend. Denn das ganze Mysterium des Christus, dieses ganze Herabsteigen aus den höheren Welten, hatte man einmal empfunden wie ein Entringen aus einer Natur, die auch räumlich als höhere Welt dargestellt worden ist: daher das Herausringen aus der Vogelgestalt. - Der Christus aus dem Vogel herausgeboren: stellen wir dieses Bild einmal vor unsere Seele hin, und mit dieser Idee verfolgen wir die «Disputa».

Da finden wir auch ein Vogeiwesen darauf, die Taube des Geistes. Oh, diese Taube des Geistes, die sozusagen unter all den christlichen Symbolen wie ein großes Rätselsymbolum da-steht, sie schließt viel in sich. Es wird nämlich der Maler der Zukunft das zu malen haben, was aus dieser Taube des Geistes geboren wird. Diese Taube des Geistes ist ein vorübergehendes Symbolum; das wird in der Trinltät durch ein anderes ersetzt werden. Einstmals wird das Symbolum erstehen, wie aus der Taube des Geistes die durch die theosophlsche Bewegung und theosophlsche Weisheit befreite Menschenseele geboren wird: Eine jegliche Menschen-seele, die den Impuls der Theosophie in sich aufnehmen will, wird auf einer höheren Stufe wiedergeboren werden, geistig, in einer neuen Form. Diese Taube des Geistes wird ihre Form brechen; und was da hervorgeht, das wird die Menschenseele sein, die zu ihrem Lebensblut hat jene geistige Weltanschauung, die uns heute in ihrer ersten Form als Theosophie entgegen­tritt. Da werden wieder andere, neue Gestalten um dieses Symbolum herum sein. Es werden die befreiten Gestalten derjenigen, die da herum sind, in ihrem Ausdruck zeigen, was in ihren Seelen lebt: wie durch Ereignisse der geistigen Welten, die sich dem Blicke des Menschen erschließen, der sich über die Sinneswelt erhebt, die Seelen befreit werden, und wie die Men­schen als befreite Seelen jeder einzelne einer jeden anderen Seele erst in wahrer Brüderlichkeit und Liebe gegenüberstehen kann. Deshalb erscheint es mir gut, daß einmal gerade diese zwei Bilder sichtbar werden können, weil sie zu gleicher Zeit die prophetische Hinweisung sind auf ein drittes Bild. Denn eine vorchristliche Weltanschauung drückt sich aus auf dem ersten Bilde; was durch den Christus geworden ist, drückt sich aus in der Gestaltenwelt des zweiten Bildes. Was durch den Geist werden wird, der durch den Christus gesandt ist, und der sich seiner Hüllen entledigen wird, das wird sich in dem Bilde ausdrücken, das als ein großes Ideal vor der Seele eines jeden Theosophen stehen kann. Gemalt werden kann es heute noch nicht, denn die Modelle dazu sind noch nicht da. In unseren Seelen selbst aber sollen sich diese zwei Bilder ergänzen zu einer Dreiheit von Bildern.

So möge der heutige Moment sich segensreich in Ihre Seelen senken, daß Sie ihn in einem möglichst gegenständlichen konkreten Ideal festhalten und forttragen, daß Sie das Gefühl fort-tragen von dem geistigen Höhenflug, den der Theosoph nehmen soll. Seien wir heute nicht zum Lernen beisammen, seien wir beisammen, daß wir uns sagen, solch ein großes Ideal umfassender menschlicher Freiheit und Liebe durchdringe unsere Vorstellungen, durchseele unser Gefühl, beflügele unsere Willensimpulse. Dann wird das theosophlsche Häuflein ein Kern sein, um den sich die künftige Menschheit herumlegen kann, wird ein Kern sein von Menschen, die das, was uns so sehr nottut in unserer Kultur, im echten, wahren Sinne pflegen: innerliche Wahr­heit und Wahrhaftigkeit. Ein solcher Mensch fühlt etwas - denn den vollen Einblick in das, was es bedeutet, wird er erst nach und nach erlangen -, aber er fühlt etwas von der sich ent­hüllenden Taube des Geistes, von dem, wie die Menschenseele in voller Offenheit sich in der

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Weit darleben wird. Er mag sich auch geloben, etwas von der Grundehrlichkeit und Wahrhaftig­keit, zu der sich gerade der Theosoph heranerziehen soll, hineinzutragen in unsere Zeit des vielfach Unwahrhaftigen und Unehrlichen unseres ganzen Geisteslebens. Gerade der Theosoph sollte ein Beispiel dafür sein, daß überall der Mund das spricht, was dle Seele empfindet; daß die Hand ausführt, was der Wille will.

Wir dürfen uns heute, jeder für sich, so etwas geloben; denn es ist der Augenblick der rich­tige. Es ist der Augenblick, wo uns zu einer gewissen Befriedigung vor die Seele treten kann, wie sich der nächste Schauplatz unserer Tätigkeit geweitet hat. Dürfen wir nicht heute zurück­blicken auf die Zeiten, wo wir in den uns hinterlassenen Räumen unserer unvergeßlichen Gräfin Brockdorff ein kleines Häuflein von ganz wenigen Menschen waren? Wir haben uns dazumal keine Sorge zu machen gehabt, daß uns die Räume zu klein würden. Nun haben wir den Raum recht sehr vergrößern können; und gerade vorhin sagte jemand von unseren Freunden: Eigent­lich ist es schon wieder ganz voll. - Das ist dle Hauptsache, daß in immer mehr Seelen das theosophlsche Ideal eindringe. Wenn es wahrhaftig eindringt, wird es sich schon von selbst geltend machen in seiner wirklichen, wahrhaftigen Bedeutung.

Gerade bei einer solchen Gelegenheit, wo wir fühlen den unmittelbaren Vorgang unserer Vergrößerung, dürfen wir uns aufs neue unser Ideal geloben. Und es ist ganz gewiß nicht etwas, was nur, mernetwillen, weil es jetzt gerade geschehen ist, oder aus nebensächlichen Grün-den erwähnt wird, sondern was erwähnt werden darf als symptomatisch für die ganze theo­sophlsche Bewegung der Gegenwart. Wir sehen ja auch die Verbreitung der theosophischen Bewegung an der Tatsache, daß wir die Möglichkeit jetzt haben, hier versammelt zu sein. Die­selben Lehren dürfen von mir in wenigen Tagen in Kristiania verkündet werden. Vor einigen Wochen konnten dieselben Lehren von mir verkündet werden in Rom. Bei den Vorträgen, die da gehalten worden sind, waren theosophische Freunde aus Palermo anwesend, also aus einem sehr südlichen Punkte Europas. In Düsseldorf war ein Freund da aus Hammerfest, aus dem nördlichsten Punkt Europas. Das alles wird natürlich mit dem Gefühl völligster Bescheiden­heit vorgebracht, aber doch als etwas, was uns befriedigen darf im Interesse der theosophlschen Sache. Aber noch viel bedeutungsvoller erscheint ein anderes; und es ist doch vielleicht nicht unwesentlich, als Symptom auch hier erwähnt zu werden.

Wir sprachen von diesen Bildern. In den Vatikanischen Gemächern sind sie. Sie sind sozu­sagen der Ausdruck, wie von einem großen Geiste der Menschheit festgehalten wurde die menschliche Entwickelung vom Altertum bis weit in das christliche Mittelalter hinein. In der Nähe dieser Bilder wohnt heute noch derjenige, der für viele Menschen der persönliche Reprä­sentant des Christentums ist; und gar nicht weit weg von diesen Bildern konnte von mir ein Kursus über Theosophle in den letzten Wochen abgehalten werden vor Leuten, die durchaus gewohnt sind, über die Gegenstände des geistigen Lebens nur Botschaften zu hören von ihren offiziellen Vertretern, in Räumen, in denen eigentlich bisher nur Kardinäle geschritten sind, um über den Sinn des Christentums zu sprechen. Bei Leuten, die also nur gewohnt waren, von ihren Kardinälen über den Sinn des Christentums, über die Mission des Christus auf der Erde zu hören, in Räumen, wo nur von Kardinälen über diesen Sinn gesprochen worden ist, da konnte das Wort der Theosophle gesprochen werden. Das heißt doch nichts Geringeres, als daß an diesem Orte das Bedürfnis entstanden ist, über den Sinn des Christus Jesus aufgeklärt zu werden! Damit ist in der Tat symptomatisch viel gesagt. Damit ist gesagt, daß die Menschen an diesem Orte nicht mehr zufrieden sind mit dem, was ihnen gesagt werden kann von den offiziellen Verwaltern dessen, was sie zur Richtung ihres Herzens gemacht haben. Der Christus Jesus ist größer als eine jede Verkündigung, die sich an ihn anschließen kann. Und diejenigen,

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die in unmittelbarer Nähe der offiziellsten Vertreter der Verkündigung des Christentums sich befinden, sie wollen heute von der Theosophle hören, was der Christus Jesus war, was er für die Welt bedeutet hat. Wahrhaftig, es wurde dort nichts anderes gesprochen, als was zu Ihnen oftmals gesprochen worden ist. Ist das nicht etwas, was symptomatisch uns klarlegt, daß Theo­sophle in der Zukunft berufen sein wird, die wichtigsten Impulse in der Menschheitsentwicke­lung zu erklären und lebendig zu machen? Ist es nicht ein Beweis dafür, daß die Antworten, welche die anderen Richtungen geben, unbefriedigend sind, wenn man zu uns kommt, um zu hören, was der Christus Jesus war? Solche Dinge sollen wir fühlen aus dem Geiste heraus, aus dem Theosophle allein wirken will, abgesehen von allem Persönlichen, von allen kleinen menschlichen Interessen. Sie ist eine gewaltig große Macht.

Nur in Parenthese darf ich auch etwas anderes erwähnen. Ich muß es erwähnen, weil nämlich in theosophlschen Kreisen die Dinge oftmals eine ganz merkwürdige Verwandlungs-fähigkeit haben. Ich habe diese Sache, die jetzt als von symptomatischer Bedeutung erwähnt wird, auch in einem kleinen Kreise - bei der Eröffnung der Malscher Loge - erwähnt, un-gefahr mit denselben Worten wie hier. Und nach einigen Tagen - dazwischen kamen nur die Kölner und Düsseldorfer Tage - hatte sich die Nachricht, daß ich in Rom war, um in einem Kursus über Theosophle zu sprechen, schon so verändert, daß mir bereits erzählt wurde, ich wäre in Rom gewesen, um den Papst zur Theosophle zu bringen! So weit sind wir allerdings noch nicht. Aber ich darf doch wohl darauf hinweisen, daß wir recht darauf achtgeben sollen, daß die Dinge nicht solche Metamorphosen durchmachen. Sonst erleben wir es, daß der eine erzählt, ich hätte den Papst bekehren wollen, der andere aber wird bereits erzählen, der Papst wollte mich bekehren! Wenn einmal die Verwandlungsfählgkeit losgelassen ist, dann hat sie keine Grenzen mehr.

Aber symptomatisch bleibt die Sache doch, und sie ist es zweifellos. Und es muß uns gerade so etwas noch konkreter, noch anschaulicher das dritte der Bilder vor die Seele malen. Denn mir erscheint es durchaus so: wenn an solchen Orten Theosophie begehrt wird, dann wächst schon da das Christentum hinaus, oder wenigstens sehnt es sich hinauszuwachsen zu künfti­gen Gestaltungen, die es nur erhalten kann durch die theosophlsche Weltströmung. Theosophie muß der Lebensinhalt der wichtigsten Zweige des geistigen Lebens werden in der Zukunft. Daß wir sozusagen gleich im Anfange mitwirken dürfen, lassen wir uns zur besonderen Be­friedigung gereichen. Das sei es, was wir uns gerade in der heutigen Stunde, da wir vor der Vergrößerung unseres Raumes stehen, geloben. Und wenn wir im wahren, echten Sinne das, was wir uns geloben, auch halten, dann wird der Raum vielleicht noch oftmals größer gemacht werden müssen.

Wir dürfen dann mit unserem lokalen Ereignis etwas anderes noch verbinden, wenn uns auch noch einige Tage trennen von jenem Gedenktag, den man im physischen Leben bezeichnet als einen Todestag, den wir als Theosophen aber bezeichnen als einen Geburtstag. Man nennt in der theosophlschen Bewegung den 8. Mai den «Weißen Lotustag», weil er im physisch-mate­riellen Sinne der Todestag ist der Begründerin der theosophischen Bewegung, Helena Petrowna Blavatsky. An diesem Tage gedenken wir überhaupt derjenigen Persönlichkeiten, welche unsere theosophlsche Bewegung begründet haben. Deshalb wollen wir noch eine kurze Weile, wie an einem «Weißen Lotustag», vereinigt sein bei den Bildern derjenigen, die die theosophische Bewegung gestiftet haben.

Von den beiden Begründern der Theosophischen Gesellschaft ist ja zuletzt vom physischen Plan abgegangen Henry Steel Olcott, der seit der Begründung der Gesellschaft im Jahre 1875 bis zu seinem vor zwei Jahren erfolgten Tode Präsident der Theosophischen Gesellschaft war. Es wäre,

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wenn man über Olcott sprechen wollte, vieles zu sagen, was dle einzigartige Persönlichkeit in das Licht rückte, in das sie gehört. Vor allen Dingen war Olcott eine Persönlichkeit - das soll immer betont und soll insbesondere niemals vergessen werden -, dle durch die mannigfaltig­sten Eigenschaften so völlig, als sie es nur sein kann, gerade zum Präsidenten einer solchen Gesellschaft taugte. Als vor nahezu sieben Jahren die Deutsche Sektion begründet wurde, da gab es außerhalb der Deutschen Sektion in Deutschland mancherlei Stimmen, die da sagten:

Diese Theosophische Gesellschaft läßt sich alle ihre Befehle von Adyar aus diktieren! - Man sprach den Leuten in Deutschland auch vor: Das ist Tyrannis! Wir wollen frei sein von dieser Tyrannis von Adyar! - Man begründete Nebengesellschaften unter dem Vorwande, daß diese Gesellschaft, zu der wir uns als Sektion zählen, nichts anderes wäre als eine Art von Marionette, die an langen Drähten von Adyar aus gezogen würde.

Die beste Widerlegung einer solchen Aussage war der Charakter des Colonel Olcott. Denn es lag so ganz in seiner Natur, die Freiheit der Persönlichkeit eines jeden Arbeiters auf seinem Platze vollständig zu verstehen. Es verstand niemand die freie Individualität jeder Persönlich­keit an ihrem Platze so zu achten und zu schätzen und vor allem so gewähren zu lassen wie Olcott. Von all der Tyrannis, die von Adyar gekommen sein soll, spürte man absolut nichts. Diejenigen aber, welche von dieser absoluten Freiheit, die aus dem Charakter Olcotts mit Natur­gewalt floß, nichts wußten, die davon reden konnten, daß man überhaupt keine Zentralgewalt brauche, die verstanden nichts davon, was es überhaupt heißt, eine Gesellschaft mit einem annähernd gleichen Ideengehalt sozusagen über den ganzen Erdball hin zu begründen. Das, was frei ist, muß ja erst zusammengekittet werden, um aus den freien Gesellschaften ein Ganzes zu machen. Das verstand Olcott in einzigartiger Weise. Und er verstand es vor allem nicht bloß durch das, was er tat, sondern durch das, was er war. Und was Olcott war, das trat einem überall entgegen. Insbesondere als ich Olcott zum ersten Mal kennenlernte, hatte ich so den Eindruck: innerhalb der Theosophischen Gesellschaft muß man Olcott auch künstlerisch beur­teilen. Der künstlerische Maßstab, von dem ich vorhin gesprochen habe, könnte auch auf Olcott und die Theosophische Gesellschaft angewendet werden. Man könnte einmal annehmen, ein Marsbewohner wäre heruntergekommen und hätte sich Olcott und die Theosophische Gesellschaft angeschaut. Auch wenn er nichts von Wahlen und irgendwelchen Statuten gewußt hätte, so wäre ihm doch durch die ganze Art, wie Olcott war, klargewesen, daß er der selbst­verständliche Präsident der Gesellschaft war. Das sah man der Gesellschaft, und das sah man Olcott an, wenn er inmitten der Gesellschaft war. Und so hat die Theosophische Gesellschaft eben wirklich das große Glück gehabt, in Colonel Olcott einen vorbildlichen Begründer zu haben. Und es würde sehr schlimm stehen um die Theosophische Gesellschaft, wenn jemals der Tag kommen könnte, an dem sozusagen der Geist, der gerade durch Olcott in sie aus­geströmt war, nicht mehr strömen würde. Denn daß die Theosophen in der Welt selbstver­ständlich zusammengehören, muß sich äußerlich dokumentieren. Fehlte dieser Geist, so würde der Hauch, der durch die ganze Theosophische Gesellschaft der Welt geht, nicht da sein, und die Gesellschaft würde nicht mehr zusammenhalten können. Es ist ein schöner, ein herrlicher Rahmen, den Olcott auf diese Weise zustande gebracht hat.

Und wenn wir von dem, was äußere Organisation ist, zum Inhalte gehen, so finden wir nicht nur eine Persönlichkeit wie Olcott, deren Charakter, deren weisheitsvolle Leitung, deren großen gewaltigen Takt und noch vieles andere wir bewundern können, sondern wir finden in Helena Petrowna Blavatsky eine Persönlichkeit, die für die Weltentwickelung geradezu ein wirkliches Wunder genannt werden könnte; aber ein Wunder eigentlich doch nur genannt wer­den könnte wenn es nicht wahr wäre, was sie gesagt hat. Denn was ist das Einzigartige

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dieser Persönlichkeit? Daß uns in ihr jemand entgegentritt, der durch seine eigenen Fähig­keiten ganz gewiß niemals in der Lage gewesen wäre, eine Weltanschauung von auch nur einiger Bedeutung zustande zu bringen; daß uns eine Persönlichkeit entgegentritt, die durch sich selbst ganz gewiß keine großen Ideen hätte in die Welt bringen können. Nicht eine große Logik, nicht eine große Intelligenz tritt uns bei Blavatsky entgegen. Leicht würde es für den sein, der auf Logik sieht, auf jeder Seite von dem, was Blavatsky geschrieben hat, einen logi­schen Schnitzer nachzuweisen, und ebenso könnte man bei ihr sehr leicht Mangel an Intelligenz nachweisen. Alles das, was den Menschen durch Persönliches zu einer bestimmten Größe macht, fehlte dieser Frau. Und dennoch hat diese Frau der Welt Werke gegeben, die zu dem Gewal­tigsten gehören, was der Menschheit im Laufe von Jahrtausenden mitgeteilt worden ist.

Die Menschen sollen nicht «glauben» an die Blavatsky; sie mögen über sie denken, was sie wollen. Aber sie mögen die «Entschleierte Isis» nehmen, die «Secret Doctrine», und mit ihrer gesunden Urteilskraft einmal das prüfen, was darinnensteht, gleichgültig woher diese Werke kommen. Der Dutzendgelehrte wird zu einer solchen Prüfung selbstverständlich keine Fähig­keiten haben; aber darauf kommt es nicht an. Diejenigen aber, die urteilsfähig sind, die mögen das prüfen. Urteilsfähig sind natürlich die Gelehrten nicht. Das scheint etwas sonderbar, aber Urteilsfähigkeit ist etwas anderes als Gelehrsamkeit. Man kann ein großer Gelehrter sein, kann auf manchen Gebieten einen weltüberragenden Ruf haben, und dennoch in bezug auf Urteils­fähigkeit dümmer als ein Kind sein. Das ist durchaus vereinbar. Aber zum Verständnis der Werke Blavatskys gehört durchaus Urteilskraft, und was das Sonderbare ist, viel mehr Urteils­kraft, viel mehr Logik, als Blavatsky selbst besessen hat. Das hat sie gewußt und daher gesagt:

Von mir rühren diese Wahrheiten nicht her! Diese Werke rühren her von denjenigen hohen Individualitäten, die hinter der Bewegung stehen, die heute in die Kultur einfließen soll!

Nehmen wir an, sie habe die Wahrheit gesprochen. Nehmen wir an, daß es wirklich jene großen Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen gibt, die sie inspi­riert haben. Nehmen wir das an, dann ist im Grunde alles ohne Wunder zu erklären. Denn dann stehen große, gewaltige Individualitäten hinter ihr, und sie war das geeignete Werkzeug, um der Welt diese großen Geheimnisse mitzuteilen. Dann könnte höchstens jemand fragen:

Ja, warum denn gerade Blavatsky? - Aber wer das sagt, versteht eben die Zeit nicht. Wenn ein anderer dazu getaugt hätte, um einen Kanal zu bilden für die Worte der Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen, so hätte man ernen anderen genom­men. Aber da in jener Zeit Mommsen nicht dazu getaugt hat und Taine und Du Bois-Reymond nicht die richtigen Persönlichkeiten waren, und sich auch Haeckel wahrscheinlich als ungeeignet erwiesen hätte, um den nötigen Kanal zu bilden für die Meister der Weisheit und des Zusam­menklanges der Empfindungen, so mußte eben eine andere Persönlichkeit genommen werden. Denn nicht Gelehrsamkeit war notwendig - die hatten schon die Meister selber -, nicht Intelli­genz, nicht Verstand; sondern es war dazu nötig Größe der Seele und ein hingebungsvolles Herz, um das aufzunehmen, was einffießen sollte in die Menschheit. Das hatte sie. Setzt man das voraus, dann ist alles erklärlich. Dann aber wächst auch die Bewunderung für diese Frau mit jedem Gedanken, den man auf sie wendet. Ist man aber einsichtslos, dann sagt man:

Meister der Weisheit gibt es doch nicht; also muß alles das, was Blavatsky geschrieben hat, von ihr erfunden worden sein. - Und nun beginnt etwas, was einem wie ein Mühlrad im Kopf herumgehen könnte, wenn man es einmal logisch aufdröseln wollte. Nehmen wir an, es würde gesagt, es ist nicht wahr, was Blavatsky gesagt hat, daß Meister der Weisheit hinter ihr stehen. Dann wäre daher auch nicht wahr, was sie ihr gesagt haben sollen. Blavatsky hätte dann alles selbst erfunden, und was in ihren Büchern steht, wäre anfechtbar. Aber nach dieser Überlegung

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sollte man sich wieder auf eine Prüfung ihrer Werke einlassen. Da sie Dinge enthalten, die zu dem Größten in der Menschheit gehören, die man auch bei den größten Gelehrten nicht finden kann, können sie nicht von ihr erfunden sein. Das wird die Welt mit jedem Tage mehr einsehen müssen. Nun reichen aber wirklich Worte wieder nicht aus, um zu charakterisieren, um was es sich handelt, wenn man nicht zugeben will, daß Blavatsky die Wahrheit gesprochen hat, als sie sagte, die Dinge rührten nicht von ihr her. Ein Wunder wäre es wirklich nur dann, wenn jemand, obwohl er nicht intelligent wäre, mit allem Raffinement allerlei Lehren verbreitete, für welche die gescheitesten Köpfe der Zeit nicht ausreichten. Dann aber spricht das für sich, was Blavatsky selber über den Ursprung der Theosophischen Gesellschaft gesagt hat.

Das alles ist geeignet, unsere Wertschätzung für die Begründerin der Theosophlschen Gesell­schaft mit jedem Gedanken, den wir auf sie wenden, zu steigern. Aber vor allen Dingen:

Wann werden wir das, was Blavatsky war, am besten schätzen? Werden wir das, was sie war, am besten schätzen, wenn wir die «Entschleierte Isis», die «Secret Doctrine» nehmen und auf jeden Satz schwören? - Wenn wir neue Dogmen aus der theosophlschen Lehre machen, dann werden wir recht schlechte Nachfolger von Blavatsky sein. Denn sie hat auf keine Dogmen geschworen. Sie hat einzig und allein ein großes Herz gehabt für das, was ihr aus der geistigen Welt zugeströmt ist. Aber die Quellen, die dazumal erschlossen sind, sind nicht versickert; sie fließen noch heute. Und der versündigt sich an dem Geist Blavatskys, der auf ihre Sätze schwört und das, was sie niedergeschrieben hat, zum Dogma macht; der aber ehrt sie, der einen offenen Sinn, ein freies, weites Herz hat für das, was uns aus den geistigen Welten zufließt. Machen wir es so, wie sie es gemacht hat; verschließen wir uns nicht dem, was sie uns hinterlassen hat, dadurch, daß wir es zu Dogmen machen. Die Nachfolge der Tat ist es, die sie in so großem Stil vor uns hingestellt hat. Könnte sie heute zu uns reden, so würde sie sagen: Es sind die­jenigen, an denen ich meine Freude habe, die nicht auf meine Sätze schwören, sondern tun, wie ich es getan habe: hören auf die Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Emp­findungen! Die aber verleugnen mich, die auf meinen Buchstaben schwören. Ich habe das Rad ins Rollen gebracht; aber nun fahret Ihr mit dem Fahrzeuge, das ich Euch gegeben habe!

Die Worte, die ich jetzt zu Ihnen gesprochen habe, ich weiß von ihnen ganz genau - und ich spreche das hier in dieser feierlichen Stunde aus -, ich weiß ganz genau, daß sie nicht bloß konstruiert sind, daß Blavatsky sie uns heute, wenn wir sie hören könnten, wirklich wörtlich so sagte! Und den «Weißen Lotustag» begehen wir in einer Blavatsky würdigen Gesinnung, wenn wir uns daran erinnern, daß wir die theosophische Bewegung im Wachsen und im Fort-schritt erhalten wollen, daß wir sie nicht verknöchern lassen wollen, daß wir die Theosophische Gesellschaft als einen Rahmen betrachten wollen für spirituelles und okkultes Leben. Das sei der Grundton unserer Verehrung für die große Individualität, die am Ausgangspunkte unserer Bewegung steht. Das ist auch schließlich der Gesichtspunkt, der uns einzig und allein führen kann über alles eng Persönliche hinaus.

Es ist schwerer, als man gewöhnlich denkt, über das enge Persönliche hinauszukommen. Es gibt Leute, die bei jeder Gelegenheit betonen: Ich will ja nichts für mich, alles nur im Dien­ste der Menschheit und so weiter. Es können das Menschen sein, die das Wörtchen «Ich», wenn man ihnen fünf Minuten zuhört, fünfzigmal erwähnen; und wenn man einen Brief von ihnen liest, kommt das Wort «Ich» auf jeder Seite drei- bis viermal vor. Schon die Betonung, daß man nichts für sich will, sondern nur für die Menschheit, hat etwas Beängstigendes. Denn das alles ist negativ. Positiv ist eben das positive Stehen auf dem, was uns zufließt aus der gei­stigen Welt, und das willige Hinnehmen dessen, was uns zufließt aus der geistigen Welt. Hierinnen war Blavatsky ein so edles Beispiel, ein so schönes, großes Vorbild, daß sie nie den

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Anspruch gemacht hat, daß das, was sie gegeben hat, von ihr selbst sei. Aber allerdings, so weit war sie persöniich, daß sie mit aller Schärfe und mit aller Kraft für das, was ihr anvertraut war, eingetreten ist.

Seien Sie überzeugt, daß wir in ihrem Sinne handeln, wenn wir weit, weit die Grenzen erweitern, die sie selbst der theosophlschen Bewegung ziehen mußte. Sie hatte einen offenen Sinn für mancherlei, was gewisse große Urkulturen im geistigen Leben der Menschheit betrifft. Nur an das eine wollen wir uns erinnern, wie sie immer wieder darauf hingewiesen hat, daß die Orientalisten so gar nichts verstehen können von dem, was orientalische Weisheit heißt. So konnten sich die Orientalisten gar nichts denken bei der Überlieferung: Buddha wäre zugrunde gegangen an einem zu reichen Genuß von Schweinefleisch. Es gibt sogar Orienta­listen, die gar nicht darüber hinauskommen, diese Legende wörtlich zu nehmen. Einige meinen sogar: Nun ja, der Buddha war wohl sein ganzes Leben hindurch Vegetarier; aber einmal hat er sich eben doch hinreißen lassen, Fleisch zu essen, und da ist es ihm eben schlecht bekommen. -Blavatsky hat mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß dieser Überlieferung eine bedeutungs­volle okkulte Wahrheit zugrundeliegt, die man etwa ahnen kann, wenn man die Worte der Bibel zu Hilfe nimmt: «Du sollst deine Perlen nicht vor die Säue werfen!» In gewisser Bezie­hung hatte sich Buddha zu weit vorgewagt, zu vieles seiner Zeit gegeben und dadurch ein Karma heraufbeschworen. Das drückt man aus, indem man sagt: Er ging an dem zugrunde, was gegenwirkte, nachdem er die Perlen hingeworfen hatte.

Das hat Blavatsky in einer wunderbaren Weise dargelegt. Und sie sagt, daß das jeder östliche Okkultist weiß. Jeder von uns westlichen Okkultisten wird das ohne weiteres zugeben. Nichts braucht geleugnet zu werden, wozu sie «ja» gesagt hat. Aber wenn sie zu gleicher Zeit von der «Apokalypse» und ihrem Verfasser spricht und sagt, das sei etwas, was ein Fanatiker hinter­her geschrieben hätte, und fragt, weil es heißt, daß die Apokalypse auf Patmos unter Blitz und Donner zustande gekommen wäre: Hat denn jemand schon je gehört, daß man ein Buch schreibt unter Blitz und Donner, daß Blitz und Donner besonders inspirierend seien? - so stehen wir hier an einer Stelle, wo wir weitherzig sagen müssen: Gewiß, sie hat es noch nicht wissen können; aber jeder westliche Okkultist weiß, was es heißt, wenn gesagt wird, Johannes habe die Apokalypse unter Blitz und Donner empfangen auf Patmos.

Was würde aber Blavatsky jetzt zu denen sagen, die heute noch behaupten wollten, was sie selbst vor einiger Zeit gesagt hat, nämlich: niemand könne glauben, daß ein Buch unter Blitz und Donner geschrieben wurde; wenn man also an den Buchstaben festhielte. Sie würde sagen:

Oh, nicht einen Hauch meines Geistes habt Ihr von mir! Denn sie sagte zu allem, was unvoll­kommen bei ihr war: Macht Ihr es eben besser! - Dann handeln wir in ihrem Sinne, wenn wir in ihrem Geiste fortwirken. Denn nicht dadurch feiern wir etwas im wahren Sinne des Wortes, daß wir das, was der Betreffende geleistet hat, rückschauend überblicken und es einbalsamieren. Wer Okkultist ist, ist kein Freund von Jubiläen, denn er blickt nicht bloß auf das, was geschehen ist; sondern er ist der Freund von Lebensfesten, an denen man nicht zurückblickt, sondern an denen man vorwärtsblickt. Blavatskys Geist fordert uns auf, jederzeit vorwärtszublicken zu neuem Schaffen, und die Vergangenheit als Aufforderung zu neuem Schaffen und neuem Wirken anzusehen. Dann werden wir ihren «Weißen Lotustag» mit dem rechten Gefühl begehen. Denn indem wir in ihrem Geiste leben, lebt sie in uns. Nicht wenn wir einbalsamieren, was sie war, was sie geleistet hat, feiern wir diese Persönlichkeit; sondern wenn wir ihr Gelegenheit geben, jetzt, da ihr Geist in anderen Sphären ist, mit uns zu sein in unseren Gefühlen, die unsere Zweige durchleben und durchweben. Aber sie kann nur dann hinein, wenn wir lebendige Gefühle, nicht Gefühle der Erinnerung, der Einbalsamierung entwickeln. Wenn unsere Seelen

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voll Lebenskraft in die Zukunft blicken, und sich aufschwingen zu den konkreteren Bildern, wie jenes von dem sich befreienden Geist, der uns aus der Geistestaube entgegenblickt, eines ist, dann sind die Augenblicke gekommen, wo unsere Gefühle so durch den Raum vibrieren werden, daß unsere geliebte Blavatsky in ihren jetzigen Daseinsformen mit uns sein kann. Dann weilt sie gern unter uns; und dann haben wir sie so, wie sie unter uns leben will. Denn niemals wollte sie Theosophie begründen als irgendein totbleibendes Kunstprodukt, sondern als einen lebendigen Organismus.

Das sei das zweite, was wir uns heute, an unserem «Weißen Lotustag», geloben: immerdar in der Theosophie nichts Totes, nichts Dogmatisches, nichts, was zum Einbalsamieren da ist, zu pflegen, sondern etwas Lebendiges, von dem wir wissen, daß es uns an jedem Tage ein Stück weiterbringt. Ja wahrhaftig, je mehr wir Abende haben können in diesem Raum, die uns immer mehr ein Stück weiterbringen in unseren seelischen Erlebnissen, und die uns ein Stück näherbringen unserem großen Ideal, desto besser ist es für uns in diesem Raum, den wir jetzt zum ersten Mal betreten haben.

In diesem Geiste wollen wir vereint sein an diesem neuen Wirkens-, Schaffens-, Empfin­dungs- und Lebensplatze.

STUTTGART VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

#G284-1977-SE139 Bilder okkulter siegel und Säulen

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STUTTGART

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

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Das im Jahre 1911 errichtete Haus in Stuttgart, Landhausstraße 70, war der erste eigene Gesellschaftsbau in der Geschichte der anthroposophischen Bewegung. Bis dahin fanden auch in Stuttgart die Gesell­schaftsveranstaltungen in verschiedenen gemieteten Räumen statt; größere und öffentliche wurden von den damals bestehenden drei Zweigen, die sich 1909 zum «Verband der Stuttgarter Zweige» zusammengeschlossen hatten, gemeinsam im Bürgermuseum gegenüber von Hegels Geburtshaus eingerichtet. Die Initiative zum eigenen Hausbau wurde im Jahre 1910 ausgelöst durch eine hierfür erfolgte Stiftung seitens eines Stuttgarter Mitgliedes. (Siehe hierüber Hinweise, zu Seite 143.) Es bildete sich der «Bauverein des Verbandes der Stuttgarter Zweige». Die Grundsteinlegung konnte am 3. Januar1911 und die Einweihung am 15. Oktober 1911 vorgenommen werden.

Die Gestaltung des Hauses, vornehmlich die Innengestaltung, wurde nach den Angaben Rudolf Stei-ners von dem Architekten und Stuttgarter Mitglied Carl Schmid-Curtius durchgeführt. Siehe die Abbildun­gen 4 bis 10. Die schon in München und Malsch aufgetretene Polarität der Farbgebung Blau-Rot fand sich im Stuttgarter Haus metamorphosiert wieder: Der Veranstaltungsraum war einheitlich Blau (dunkelblau getöntes Holz), nur unterbrochen durch die Goldornamentik der Planetensiegel Rudolf Steiners. Zu den fünf Münchner Siegelzeichnungen entstanden nun noch die sechste und siebente. Ganz in Rot dagegen war der als Empfangs- und Besprechungszimmer dienende Vorraum, genannt «Rotes Zimmer». Im Jahre 1921/22 wurde der große Saal um eine Bühne und Nebenräume erweitert. Die auf dem Foto erkennbaren Säulen mit den Kapitälformen kamen erst bei diesem Umbau hinzu. Die Bühne wurde am 24. und 25. Februar 1922 mit zwei eurythmischen Darstellungen verschiedener Szenen aus Rudolf Steiners Mysteriendramen ihrer Bestimmung übergeben.

Beim Bau des Hauses 1911 wurde durch die Initiative des Architekten im Kellergeschoß zugleich ein für die symbolisch-kultischen Veranstaltungen der Esoterischen Schule Rudolf Steiners vorbehaltener Kuppelraum nach dem Malscher Vorbild eingebaut. Dieser Stuttgarter Kuppelraum wurde somit nach dem Malscher Modellbau - der damals noch unvollendet war - der zweite architektonisch verwirk­lichte Raum mit neuen Säulengestaltungen, der Rot-Blau-Polarität von Wänden und Kuppel, den apokalyptischen Siegeln - je einmal für die rechte und die linke Seite - zwischen den Säulen und neuen Tierkreisbildern in der Kuppel. Dieser Kuppelraum wurde im Zusammenhang mit seiner Bestimmung eingeweiht vermutlich am 27. November 1911. Jedenfalls ist dies das erste bekannte Datum einer solchen Veranstaltung nach der Eröffnung des Hauses am 15. Oktober 1911. Gemäß Aussage der Teilnehmerin und Ausmalerin der Kuppel, Imme von Eckhardtstein, erfolgte an diesem 27. November 1911 die erste feierliche Mitteilung der Stiftung einer «Gesellschaft für theosophische Art und Kunst». Der Stutt­garter Säulensaal war der einzige Raum, in dem Rudolf Steiner die Vereinigung von Erkenntnis, Kunst und Kultus real vollziehen konnte. Im ersten Goetheanum als der Zentralstätte der Bewegung, konnte dieser Schritt nie vollzogen werden, da es vor seiner Vollendung der Vernichtung anheimfiel. Zu den kultischen Veranstaltungen im Stuttgarter Säulensaal gehörten laut E. A. Karl Stockmeyer - siehe Seite 163 dieses Bandes - auch die beiden Säulen - die rote und die blaurote - vom Münchner Kongreß. Seiner ursprünglichen Bestimmung konnte der Raum jedoch nur kurze Zeit dienen, denn mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 wurden die symbolisch-kultischen Veranstaltungen von Rudolf Steiner eingestellt. Erst mit Weihnachten 1934 wurde durch die Initiative von C. S. Picht der Raum als Rudolf Steiner-Gedächtnisraum wieder zugänglich. Ein Jahr später bereits mußte jedoch das Haus infolge des Verbotes der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland seitens der National-sozialisten aufgegeben werden. Die Inneneinrichtung wurde entfernt. Die Sandsteinsäulen des unteren Säulensaales (Höhe 1,98 m) wurden im Parkgelände der Klinik «Wiesneck» in Buchenbach bei Frei-burg i. Br. zu einer Pergola aufgestellt. Dort stehen sie noch heute. In Stuttgart wurde im Jahre 1957

ein neues Haus, das «Rudolf Steiner-Haus» errichtet. H.W.

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RUDOLF STFINER

DIE GRUNDSTEINLEGUNG DES STUTTGARTER HAUSES

Stuttgart, 3. Januar 1911

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Über die am 3. Januar 1911 erfolgte Grundsteinlegung heißt es im Protokoll des «Bauvereins des Ver­bandes Stuttgarter Zweige»: «Heute fand die Grundsteinlegung zu unserem eigenen Hause statt. Herr Dr. Steiner hielt eine längere Ansprache an die im Vortragssaal des Bürgermuseums Versammelten, darauf wurde die für die Grundsteinlegung bestimmte Urkunde vorgelesen und von Architekt Schmid, ferner von Heim, Arenson, Unger, Völker, Kieser, del Monte, Molt, Schrack, Benkendörfer, von Sivers und Dr. Steiner unterzeichnet. Sodann begaben sich Dr. Steiner, Fräulein von Sivers mit Herrn Heim, Schmid, und den Vorständen der drei Stuttgarter Zweige sowie den Vorstandsmitgliedern des Bauvereins und Herrn Stockmeyer jr. als Gast nach dem Neubau, wo von Herrn Dr. Steiner die Grundsteir:legung vorgenommen wurde.»

Von der erwähnten «längeren Ansprache» Rudolf Steiners hat sich lediglich der folgende Passus erhalten (siehe hierzu auch Hinweise, zu Seite 140):

«Wir sollten uns klar darüber sein: so lange wir gezwungen sind in solchen Sälen zusammen-zukommen, deren Formen einer untergehenden Kultur angehören, muß unsere Arbeit mehr oder weniger doch das Schicksal dessen treffen, was dem Untergange geweiht ist. Die spirituelle Strömung wird erst die neue Kultur, die sie zu bringen berufen ist, heraufführen können, wenn es ihr vergönnt sein wird zu wirken bis hinein in das rein physische Gestalten, selbst der Mauern, die uns umgeben. Und anders wird spirituelles Leben wirken, wenn es hinaus-fließt aus Räumen, deren Maße Geisteswissenschaft bestimmt, deren Formen aus Geisteswis-senschaft erwachsen. Und Sie können überzeugt sein, Geisteswissenschaft würde im Sande ver-laufen, wenn sie nicht die Herzen solcher Menschen fände, die bereit sind zu den Opfern, die ein Bau, wie der in München beabsichtigte, fordert.»

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DIE EINWEIHUNG DES STUTTGARTER HAUSES

Stuttgart, 15. Oktober 1911

nachmittags

Ansprache des Architekten Carl Schmid-Curtius

Als dem Erbauer dieses Hauses ist es mir vergönnt, bei der heutigen Hausweihe die ersten Worte der Begrüßung und des Willkommens an Sie zu richten.

Die Fülle der Gefühle, die mich bei der Übergabe gerade dieses Baues, unseres neuen, theo­sophischen Heimes, bewegen, soll vor allem ihren Ausdruck in dem herzlichen Dank finden an alle diejenigen, die mit Rat und Tat diesen Bau gefördert, ja eigendich möglich gemacht haben. Wenn ich mich so der edelsten Pflicht dessen entledigt habe, der ein Werk mit Hilfe anderer vollbracht hat, so darf ich meine vielen Wünsche für dieses Haus, in dem noch manchen Generationen Theosophie gelehrt werden soll, dahin zusammenfassen, daß ich sage: In diesen Räumen sind die okkulten Motive nach einer grundiegenden Idee unter höherer Leitung und Genehmigung angeordnet; wir wissen, daß alles, was uns hier umgibt, der Ausdruck eines Geistigen ist. Mögen diese Formen alle dazu dienen, die theosophische Arbeit zu fördern und möge dieser Bau stets dem Geiste gewidmet sein, in dem er erbaut wurde!

Dem Bauverein des Verbandes der Stuttgarter Zweige übergebe ich den Schlüssel des Hauses mit herzlichem Dank für treue Beihilfe und den besten Wünschen für ein segensreiches Arbei­ten in diesen schönen Räumen.

Ansprache des Vorsitzenden des Bauvereins des Verbandes der Stuttgarter Zweige

José del Monte

Im Namen des Bauvereins übernehme ich den Schlüssel dieses Hauses.

Wenn Sie, mein lieber Herr Schmid, Worte des Dankes an alle diejenigen gerichtet haben, welche Ihnen geholfen haben, dieses Werk zu schaffen, so sind wir uns wohl bewußt, daß dieser Dank vor allen demjenigen gelten muß, aus dessen tiefem Wissen heraus allein die in diesen Räumen verkörperten Ideen erstehen konnten, und jeder von uns teilt Ihre Empfindungen mit ganzer Seele. Und soweit sich dieser Dank an uns richtet, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß wir als eine ganz besondere Gunst angesehen haben, an diesem Baue mitwirken zu dürfen. Inwieweit das Werk gelungen ist, das zu beurteilen, wollen wir unseren lieben Gästen über-lassen; das Eine lassen Sie mich aber noch hinzufügen, daß das harmonische Zusammenwirken mit Ihnen uns eine große Befriedigung gewährt hat, und wir ganz zu würdigen wissen, welche Summe von hingebungsvoller Arbeit dieses Werk von dem Erbauer gefordert hat. Wir danken Ihnen herzlich und freuen uns, Ihnen dies von dieser Stelle aus sagen zu können.

Weiter geht unser Dank an alle diejenigen, die in hochherziger Weise mit Gaben zu diesem Unternehmen beigetragen haben, und insbesondere ist es uns Bedürfnis, desjenigen unserer Mitglieder zu gedenken, der durch eine große, grundiegende Spende die Erfüllung unseres lariggehegten Wunsches möglich gemacht hat.

Und endlich lassen Sie mich im Namen des Bauvereins der Freude Ausdruck geben, daß wir die Hausweihe im Verein mit so vielen auswärtigen Freunden begehen können. Wir danken Ihnen für Ihre Anteilnahme an unserem Fest und heißen Sie herzlich willkommen.

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Einen Hort für theosophisches Leben durften wir in treuer Zusammenarbeit schaffen; fertig steht nun dies Haus, der Bauverein hat damit seine Hauptaufgabe beendigt. Ich übergebe nun den Stuttgarter Zweigen den Schlüssel zu diesem Hause, das ihnen eine Stätte treuen Wirkens werden möge.

Ansprache des Vorsitzenden des Verbandes der Stuttgarter Zweige

Adolf Arenson

Im Namen des Verbandes der Stuttgarter Zweige übernehme ich den Schlüssel dieses Hauses.

Es ist entworfen und ausgeführt worden in Übereinstimmung mit geistigen Rhythmen und geistigen Gesetzen, die uns übermittelt wurden von unserem hochverehrten Lehrer.

Die Formen und Gestaltungen, die uns entgegentreten, die Zeichen und Bilder, die dem Raum sein Gepräge geben, sie sind geschöpft aus jenen Sphären, die unserer irdischen zugrunde liegen; des wollen wir allezeit eingedenk sein, und die Arbeit, die wir in diesem Hause zu vollbringen haben, soll anstreben, den Einklang zu gewinnen mit dem, was uns umgibt. Die Symbole, die auf uns niederschauen, inneres Leben sollen sie werden durch unser Wirken.

Heilig ist der Raum in seiner Anordnung - beseelt werden in seiner Heiligkeit soll er durch unsere Arbeit. Eine Heimstätte soll er werden dem Höchsten, was uns geworden ist durch hohe Geistesmächte. Und schützen wollen wir mit allen Kräften das uns anvertraute Gut. Das geloben wir feierlich.

Durchdrungen von solcher Gesinnung, bitten wir unsern hochverehrten Führer, der Stätte unseres künftigen Wirkens die Weihe zu geben.

Weiherede von Rudolf Steiner

Alle, die wir heute hier versammelt sind, empfinden die Bedeutung und die Weihe dieses Augen­blicks. Und vielleicht wird in dieser Stunde sich manches Herz hier fragen, worin die größere Bedeutung und die größere Weihe liegt, ob in der Tatsache, die wir vor uns haben, und deren Wichtigkeit für das theosophlsche Leben in unseren Kreisen wir gar nicht genug empfinden können, oder ob in der symbolischen Bedeutung, in der symbolischen Wichtigkeit dessen, was wir heute hier beginnen dürfen. Die schönsten und weihevollsten Worte sind zweifellos in diesem Augenblicke diejenigen, die leise ertönen in den Herzen derer, die hier versammelt sind, und mir obliegt wohl kaum etwas anderes, als Ausdruck zu verleihen diesen unausgesprochenen Worten, die jetzt unsere Herzen erfüllen. Wir fühlen, welche Bedeutung darin liegt, daß von jetzt ab zum ersten Mal in dem Sinn, der eingehalten wurde seit Jahren innerhalb unserer mitteleuropäischen theosophischen Bewegung, gewirkt werden kann in einem Raum, der uns überall, wohin wir das Auge wenden, umgibt mit Zeichen und Merkmalen dessen, was so innig zusammenhangt mit all dem, was wir erstreben als Impuls für unsere Erkenntnis, die uns führen soll in die übersinnlichen Welten. Und im Grunde faßt sich das ganze Gewicht dieser Stunde in die wenigen Worte zusammen: Wir sind zum ersten Mal umgeben von einem Heim, von einem Raum, der unser ist. Mit einem solchen Worte kann sich leicht ein Begriff verbinden, der uns fern liegen muß. Es kann sich ein solches Wort mit dem Begriff des Egoismus ver­binden; aber nicht in diesem Sinn kann und darf das Wort von uns verstanden werden, son­dern einzig und allein in dem Sinn, daß wir nunmehr einen Raum um uns herum haben, der in

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inniger, intimer Weise zu dem gehört, was wir anstreben in den geistigen Welten; und wenn wir das Gewicht dieser Worte auf unsere Seele wirken lassen, dann wird ersprießen das um­fassende Gefühl, von dem ja schon gesprochen worden ist, das Gefühl des Dankes gegenüber allen denjenigen, welche es möglich gemacht haben, daß wir heute vor einer solchen Tatsache stehen.

Wir müssen allerdings, wenn wir zu den ersten Quellen dieser Möglichkeit zurückgehen wollen, um Jahre zurückgehen, müssen zurückblicken auf die hingebungsvolle theosophische Arbeit, die seit Jahren gerade hier an diesem Orte geleistet worden ist, müssen gedenken, in welch schöner Weise die mannigfaltigsten theosophischen Impulse hier an diesem Orte gerade zusammenwirken, wie sich hier ebensowohl mystisch4nnerliches, wie theosophisch-intellek­tuelles Streben seit Jahren schon in liebevoller Weise die Hände gereicht haben, wie einträchtig und harmonisch zusammengewirkt haben seit Jahren Menschen verschiedensten Tempera­ments, verschiedenster Arbeitsweise, die alle aber in gleicher Art ihre Arbeitsweise, ihre Tem­peramente und Charaktere harmonisieren konnten, weil doch als der tiefste Impuls in ihnen lebte, was wir ausdrücken können als theosophische Liebe, als theosophisches Fn.edensgefühl und Friedensstreben. Weit würden wir ausgreifen müssen in dasjenige, was hier geleistet wor­den ist auf dem Horizonte unseres theosophischen Lebens, wenn wir alles das charakterisieren wollten, was sich zuletzt in einen Impuls zusammengedrängt hat. So können wir sagen: ge­boren worden ist hier aus emsiger, tatkräftiger Arbeit auf theosophischem Feld Verständnis für die Bedürfnisse des wirklichen theosophischen Lebens.

Dadurch wurde ergriffen das Herz eines unserer lieben Freunde, der in der Lage war, eine Idee in Wirklichkeit umzusetzen, die gewiß in allen unseren Herzen immer leben muß. Daher muß sich unser Dank an denjenigen richten, der seine im edlen theosophischen Geist gedachte Grundstiftung zu diesem Bau geleistet hat, die eingetragen werden kann in das Gedächtnis der theosophischen Entwickelung. So wurde verhältnismäßig in jungen Jahren unseres theo­sophischen Strebens hier eine in allen Einzelheiten einen Abglanz unseres Denkens und Sinnens zeigende Heimstätte unserer Theosophie geschaffen. In dem von unserem lieben Freund ge­gebenen Impuls liegt als erstes eine Aufforderung, in würdiger Weise zu arbeiten in der Heim­stätte, die uns gegeben worden ist. So fühlen wir, wie vom Anfange an nicht nur das, was vor unsern Augen liegt, was auf unsere Sinne wirkt, theosophisch unser ist, sondern wir fühlen in diesem Augenblicke, daß der Raum auch in einem gewissen Sinne moralisch unser ist; und wir fhhlen diesen Raum durchdrungen von theosophischer Liebe und theosophischer Opferwillig­keit, von der Liebe derjenigen, die hier jahrelang gearbeitet haben hingebungsvoll und opfer-willig, um den Impuls theosophischen Verständnisses zu geben, und von der Liebe desjenigen, der den Raum zunächst möglich gemacht hat. Und wir dürfen sagen, wir fühlen auch in vieler Beziehung das Vorbildliche dieses gegenwärtigen Augenblicks. Oftmals wurde es betont, wie Theosophie den Weg finden müsse in alle Zweige und Betätigungsweisen des Menschengeistes, des Seelenlebens und des äußeren Lebens.

So wie alles vom Geiste stammt, so soll alles Menschenwirken vom Geiste durchdrungen und durchseelt sein, und so müssen wir es als eine im echten Sinn als theosophisches Resultat zu erkennende Tatsache betrachten, daß wir in unserer eigenen Mitte den Mann gefunden haben, der dasjenige, was heute künstlerische Erkenntnis bieten kann, zu durchdringen ver­mochte mit dem, was unser theosophischer Geist ist; und Sie alle empfinden in diesem Augen­blicke zweifellos, daß unser lieber Herr Schmid, der diesen Bau ausgeführt hat, sein bestes theosophisches Fühlen und Empfinden und Denken vereinigt hat mit dem, was ihm als sein künstlerisches Vermögen die Außenwelt gegeben hat. Wir dürfrn uns mit ihm zusammen glücklich

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fühlen über diese Tatsache. Was fühlen wir, wenn wir einen Blick werfen auf alles, was uns umgibt! Wir fühlen vor allen Dingen, daß hier gearbeitet hat nicht nur das Können eines Baumeisters, sondern auch das Herz eines theosophischen Baumeisters. So wahr es ist, daß wir voller Anerkennung stehen vor der Art und Weise, wie unser Freund Schmid, was Theosophie ist, umsetzt in seine Kunst, so wahr muß es sein, daß wir voller Gegerliebe sind für all die Liebe, die er gerade in diesen Bau hineinzulegen vermochte. Ich denke, es ist auch Ihnen, mein lieber Herr Schmid, eine Aufgabe gewesen, welche Ihr Herz mit Freude erfüllte, mit derjenigen Freude, welche dem Gebiet des geistigen Empfindens angehört, und die da entspringt, wo der Mensch seine Arbeitsfähigkeit, seinen Schaffensdrang, sein Konnen in die Kräfte des geistigen Lebens einfließen lassen darf. Wir aber betrachten es als ein günstiges Karma unserer theo­sophischen Bewegung, daß wir gerade diesen Baumeister gefunden haben, der - wie ich, viel­leicht mehr als irgendeiner außerhalb Stuttgarts, versichern kann - eine wunderbare Hingabe und Verständnis für dasjenige, was Baukunst in diesem Falle dem geistigen Leben bieten soll, gezeigt hat. Und wir werden froh sein dürfen, wenn in der Zukunft ein ähnliches Verhältnis erreicht werden kann.

Und nun lassen Sie uns, die wir zusammengekommen sind von den verschiedensten Gegen­den, um hier mit unsern Freunden diese Stunde festlich zu begehen, gedenken außer der all-gemeinen, opferwilligen und hingebungsvollen Arbeit, die geleistet worden ist, jener engeren Arbeit, die gerade in den letzten Jahren hat geleistet werden müssen. Erinnern Sie sich einmal an den Augenblick, wo wir vor neuneinhalb Monaten den Grundstein zu diesem Gebäude legen konnten, und gedenken Sie, was vorangehen mußte an opferwilliger Arbeit. Gedenken Sie weiter, was alles geschehen mußte von unsern Stuttgarter Freunden, von dem engeren Verein, der heute die Schlüsselgewalt dieses Baues übernommen hat, damit wir innerhalb die­ses theosophischen Neubaues vereinigt sein können. Es wurde unmöglich sein, diese mühe­und hingebungsvolle Arbeit zu schildern. Aber eines sei gegenüber dieser Arbeit besonders betont. Lassen Sie mich gedenken eines Grundnervs zu einer solchen theosophischen Arbeit! Sie alle erfüllt es zweifellos mit Freude und inniger Befriedigung, wie unsere Theosophlsche Gesellschaft gewachsen ist; aber bei einer solchen Gelegenheit soll nicht vergessen werden, daß, wenn es auch das höchste Glück in dem Sinn, wie man hier sprechen kann, bedeutet, daß sie so gewachsen ist, daß mit dem Wachsen auch die Schwierigkeiten in der Führung der Angele­genheiten eben dieser Gesellschaft stark wachsen.

Solche Dinge, wie sie uns weihe- und bedeutungsvoll in diesem Augenblick vor Augen treten, sie müssen geleistet werden von Menschen, die in der Zeit der Entstehung ihr ganzes Herz an das Werk hängen können, und das macht notwendig, daß in diesem Augenblick von dem Grundnerv einer solchen Sache gesprochen wird. Je mehr unsere Gesellschaft wächst, desto mehr scheint es, als ob ein solches Werk in die Hände von allen Theosophen gelegt werden müßte. Das kann gar nicht sein! Das ist unmöglich! Aber etwas anderes ist möglich:

daß die echte Arbeit an einem solchen Werk in vorbildlicher Art, geradezu pädagogisch für alle, die sich zu uns bekennen, wirke. Was wird das Beste in sozialer Beziehung sein, wenn unsere Bewegung in zahlreichen Früchten das, was sie als Keim hat, verwirklichen soll? Das werden nicht Abstimmungen sein und Majoritätsbeschlüsse, sondern das Vertrauen, das der eine dem anderen persönlich und individuell entgegenzubringen vermag; jenes Vertrauen, das darin besteht, daß wir die kleinen Kreise, die das eine oder das andere Werk auszuführen haben, ohne Hemmnis arbeiten lassen. Dann können sie arbeiten, wie hier gearbeitet worden ist. Stören wir nicht diejenigen, die ihr Herz opfernd hängen an das, was unser großes Ziel fördern soll, und geben wir ihnen dafür die völlige Freiheit für ihr Wirken, umgeben wir sie nicht mit den

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Hemmnis sen des Besserwissens, das gar nicht vorhanden sein kann ! Und wenn der kleine Kreis hier im Stillen seit Jahren gewirkt hat und jenes Vertrauen gefordert hat, dann dürfen wir sagen: Wenn wir aus der Frucht auf den Keim schließen dürfen, dann hat sich das, was ohne-dies im Sinne des theosophischen Wirkens liegt, hier in glänzendster Weise bewahrt. Das Werk, vor dem wir heute stehen, ist im vollsten Sinne eine herrliche Rechtfertigung des Vertrauens, das wir gefaßt haben zu dem treuen Arbeiten jenes kleinen Bauvereins, der hier gewirkt hat. Verständnisvoll und vertrauensvoll sprechen wir unseren Dank dem vorbildlichen Wirken die­ses Bauvereins aus.

Nehmen Sie heute oder morgen, wenn Sie diesen Raum verlassen werden, das Gefühl nut:

Wie anders ist es, innerhalb einer solchen Umgebung den theosophlschen Gedanken sich hin-geben zu können, als in einer Umgebung, die wir antreffen, wenn wir sonst wirken müssen. Fühlen wir in diesem Augenblick, wie das Wort sich uns erweitern kann: Dieser Raum ist unser. Was heißt das in einem noch andern Sinne? In veränderter Weise darf wiederholt wer­den, was bei der Grundsteinlegung gesagt wurde: «Wir haben dem Geiste, dem wir dienen, einen Tempel gebaut.» Wie anders können wir uns diesem Geiste verbunden fühlen innerhalb eines solchen Baues! Und wir verstehen dann die Sehnsucht nach Abbildern des schönen, herr­lichen Vorbildes, das uns hier gegeben worden ist. Vielleicht mehr als alle Worte, die sonst gesprochen werden können, kann dieser Raum selber sprechen zu denjenigen, die in der Lage sind, Nachbilder zu schaffen; in deutlich vernehmbarer Weise spricht er von der Notwendig­keit, umgeben zu sein von dem, was unseres Geistes Tempel ist. Und wenn in München ge­sprochen worden ist von einem anderen, ähnlichen, nur in größerem Maßstabe auszuführenden Bau, so betrachten Sie als eine schöne Verschärfung all dieser Worte, die nur mit dem Munde gesprochen werden können, das, was dieser Raum zu Ihnen zu sprechen vermag. Betont er nicht, wenn wir ihn verständnisvoll betreten, in ihm weilen, ihn verlassen zu immer neuer Ein­kehr in ihn, betont er nicht deutlich die Notwendigkeit solcher Bauten auch an andern Orten?

Wenn wir unseren Gefühlen ein wenig den Lauf lassen, dann müssen wir sagen: Das Men­schenkarma, es wirkt ganz sonderbar. Mit Rührung könnte es uns erfüllen, daß dieser unser Bau gerade in diesen Landesraum, in diese Gegend hereingestellt werden konnte. Denken wir daran, wie vieles dem Geistesleben Mitteleuropas gerade aus diesen Landesgebieten ent­sprungen ist. Denken Sie daran, wie in stiller, ernster, intimer Art ein Geist des 18. Jahr­hunderts die inbrünstige Verehrung des Geistes, der durch alle Welten waltet und webt, einem Freunde mit drei Worten ins Stammbuch geschrieben hat: «Eines in Allem.» Der unglück­liche Hölderlin, aus einem Empfinden des Geistes im Weltenall, schrieb dem philosophischen Freund gerade in dieser Gegend die Worte ins Stammbuch: «Eines in Allem.» Oft ist es wieder-gekehrt, das Wort, das in dieser Gegend aus tiefer Empfindung heraus geschrieben worden ist. Einem Manne ist es ins Stammbuch geschrieben worden, dessen philosophischer Geist ganz Deutschland und im Grunde genommen die ganze gebildete Welt erfüllt.

Denken wir weiter daran, wie im 18. und 19. Jahrhundert das Geistesleben gerade aus die­ser Gegend seinen Ausgangspunkt genommen hat. Jene Theosophie, die damals allein da sein konnte, hat gerade in dieser Gegend ihren Ursprung genommen. Innerhalb des Schwabenlan­des gab es theosophische Zentralen des 18. Jahrhunderts, von denen viele Kolonien aus­gegangen sind, die zum Teil auch heute noch wirken. Denken wir daran, daß es ein Sohn dieses Gebietes war, der zu einem Seher des 18. Jahrhunderts nach Thüringen kam, Oetinger, der jene Theosophie vertrat, die damals möglich war. Er fand durch das Temperament, das ihm eigen war, jene Seherpersönlichkeit Mitteldeutschlands, die einen Namen trug, der gerade hier wieder lokale Bedeutung hat. Denken wir daran, daß aus dem Schauen des Thüringers Völker

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die Theosophie dieser Gegend reiche Quellen des Sehertums schöpfte. Denken wir daran, daß uns aus derselben geistigen Substanz dieser Gegend die großen Philosophen geschickt wurden, denken wir daran, daß so innig verwoben ist mit der geistigen Substanz dieser Gegend derje­nige, der so populär geworden ist innerhalb des Geisteslebens, und der das schöne Wort gespro­chen hat: «Ein unermeßlich Reich ist der Gedanke, und ein geflügelt Werkzeug ist das Wort.»

Wenn wir gedenken, daß wir Diener sein wollen des Geistes durch das Wort in diesem Bau, der in Symbolen und Formen ein Ausdruck des Geistes, dem wir dienen, sein soll, dann darf in unsere Seele hereinklingen in etwas veränderter Form, umgesetzt in unsere theosophischen Gedanken, ein Wort, das vor langer, langer Zeit ergriffen hat und erbaut unzählige Herzen, die alles, was sie übrig hatten, zusammengetragen hatten, um dem Geiste, dem sie dienten, einen Tempel zu bauen. Und derjenige, der dienen durfte mit seiner Person bei diesem Tempelbau, er sprach Worte, die wir übersetzen dürfen in unsere Sprache:

«Du Geist des Weltenalls, der du dich verkündigst unserer wahren Selbsterkenntnis, du hast gnädig das Wort gehalten, welches Du uns gegeben hast, da Du sahest unsere Arbeit, wie sie geleistet wurde seit Jahren von Deinen Dienern; und offenbar wird es heute in dieser Stunde. Zwar vermögen die weitesten Geistesräume Dich nicht zu fassen, großer Geist des Weltenalls, der Du mit Deinen Gedanken alle Deine Werke durchdringst, der Du wohnen willst in den Worten, die von unseren Lippen ertönen dürfen; wie viel weniger können Dich fassen diese Tempelmauern, die wir Dir erbaut haben. Siehe aber, Geist des Weltenalis, der Du Dich an-kündigst in unserer wirklichen Selbsterkenntnis, auf den Willen zum Verstehen, auf die Sehn­sucht nach Erkenntnis Deiner Diener ! Siehe, Geist des Weltenalls, Durchdringer eines jeg­lichen Jchs, auf uns herab, und laß Deine Augen offen sein über diesem Bau, wo Du beschlos­sen hast zu wohnen ! Erhöre unsere Gefühle, die danach drängen, durch unsere Arbeit des Einffießens Deines Geistes in die Räume, die wir Dir gewidmet haben, uns würdig zu zei­gen!»

Ich mußte zu den Worten des Alten Testamentes, zu den Salomonischen Worten greifen, um das auszudrücken, was wir selber aus dem Geiste der mit der Welt fortgeschrittenen Menschen-entwickelung heraus wie ein Gebet zu richten haben an den Geist des Weltenalls, der in allen Herzen wohnt, die nach wahrer Selbsterkenntnis streben. Wenn wir etwas in uns entwickeln können von den hingebungsvollen Gefühlen, durch welche in allen Zeiten aufgerufen worden ist der Geist einer Gemeinde gegenüber einem Bau, so laßt uns dieses Gefühl in unseren Herzen erstehen ! Indem wir in diesem Raum weiterarbeiten, werden wir schon sehen, wie anders unsere Arbeit geleistet werden kann als in einem sonstigen gleichgültigen Raum.

Was wird denn hier vor allen Dingen möglich sein? Etwas, was wir brauchen, und was wir fassen können in ein einziges Wort: Sammlung unseres Geistes, Abgeschlossenheit unserer Seele, während wir uns hingeben den theosophischen Erkenntnissen. Wir können fühlen, was uns die Stimme des Weltenalls selber sagen kann, wenn wir uns versetzen in die Frühlings­stimmung. Wenn auch draußen Herbst ist, wir haben Frühling in diesem Raum. Dann können wir verstehen aus der Sprache des Weltengeistes in der Natur, wie gerechtfertigt es ist, Einkehr und Sammlung zu suchen. Wenn kommen sollten diejenigen, die sagen: Warum schließt Ihr Euch ab mit Eurer Arbeit, tragt sie nicht hinaus als Arbeit der Liebe -, dann antworten nicht wir, dann lassen wir antworten den großen Weltengeist, der aus den Werken der Natur selbst spricht. Wie viel hängt zusammen mit dem, was im Frühling geschieht ! Was ist notwendig zum Heile der Pflanzenwelt, die im Frühling aus der Erde heraus sprießt? Daß die Samen dem vol­len Sonnenlicht der äußeren Wirksamkeit entnommen sind; damit sie erblühen können, müssen

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sie aber in die Dunkelheit, in die Abgeschlossenheit kommen, in die sie im Herbste ein­gehen. So müssen jene Geisteskeime vom Leben hereingetragen werden in die stille Heim-stätte der Sammlung, der Erkenntnis, der Liebe und des Friedens, um hier still zu wirken wie der Keim im Schoße der Erde; und dann erst können sie wirksam hinausgetragen werden in den vollen Sonnenschein des Lebens. Solche Stätten sind für das Zusammenwirken der Mensch­heitsentwickelung notwendig, und insofern wir selbst Träger der besten Samen unseres Kultur-lebens sein wollen, insofern ist es nötig, daß hereingetragen werde in die Verborgenheit, was von draußen gewonnen werden kann, was nur hier gepflegt werden, gedeihen kann.

So ist es eine wunderbare Karmaerfüllung, daß gerade auf diesen Boden unser erstes theo-sophisches Haus gestellt worden ist, wie ein Tribut des neuen Geisteslebens an das alte. Wenn der Geist, dem wir dienen, empfangen hat diese Hülle, fühlen wir uns selbst eingefügt in den Organismus des ganzen menschlichen Geisteslebens und wissen, daß wir im höchsten und hei­ligsten Sinn ein zeitgemäßes Werk vor uns haben. Zeitgemäß aus dem Grund, weil dieses Werk verbunden ist mit derjenigen Geistesströmung, welche gerade in der Gegenwart fließt aus dem Quell des spirituellen Lebens nach dem Karma der gesamten Menschheit.

Deshalb dürfen wir es uns heute gestehen: Denjenigen gegenüber, die wir als die Quelle unserer Arbeit, aber auch unserer Arbeitsmöglichkeit betrachten, fühlen wir, daß wir ihnen dienen durften mit diesem Werke. Wir durften den Meistern der Weisheit und des Zusammen-klangs der Empfindungen, bei denen die Quellen unserer okkulten Erkenntnis liegen, dienen auch mit unserem äußeren Werk, und weil wir dieses fühlen dürfen, deshalb dürfen wir auch empfinden, daß sie uns helfen bei unserer Arbeit. Ihr Geist möge walten in diesem Raum, der aus theosophischer Hingabe entsprungen ist, den die Hingabe der Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen würdigen werden, einfließen zu lassen, was wir brauchen, die Kräfte der unsichtbaren Welten, um das, was unsere Seelen selber vermögen, zu stärken und zu kräftigen. Es steht mir vor der Seele, wie die Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen mit ihrem Wohlgefallen auf die heutige Stunde herab-schauen und insbesondere auf die Gefühle, die in unseren Herzen leben, und die die besten sind, werm wir uns geloben, das Werk der Meister in diesem Raum, den wir ihnen erbaut haben, zu erfüllen. Die Geister, die verbunden waren mit der Theosophie in ihrer besten Form, so lange sie besteht, sie werden ihre Hilfe hereinsenden in diesen Raum; so spricht das Gefühl, daß sie es tun mögen, so aber spricht auch ein Gebet, das an sie in stiller Art gerichtet sein möge. Wenn wirken die Meister der Weisheit und des Zusammenklangs der Empfindungen, die wir anrufen, an einem Orte, wo wir streben nach Erkenntnis, nach Harmonisierung, nach einem Halt unseres Lebens, dann gedeiht dieses Werk.

Mögen diese guten Geister der theosophischen Bewegung ihren Segen dazu verleihen, wenn ich aus allen Ihren Herzen heraus in dieser Stunde schreiben möchte, nicht mit physischen Wor­ten, sondern nur mit geistigen Worten etwas wie einen Geleitspruch über die Pforte dieses Hauses, der sich eintragen soll in unsere Herzen, so daß wir keine physischen Augen brauchen, wenn wir ihn lesen bei unserem Eintritt in dieses Haus, und den wir im Herzen behalten bei unserem Verweilen in diesem Haus, bei unserem Austritt aus diesem Haus, bei dem wir die Sehnsucht mitnehmen, immer wieder uns zur Pflege der Theosophie zu versammeln. Geschrie­ben sei über die Pforte:

Wer eintritt, bringe Liebe diesem Heim,

Wer drinnen weilt, suche Erkenntnis an diesem Ort,

Wer austritt, nehme Frieden mit aus diesem Haus !

DIE OKKULTEN GESICHTSPUNKTE DES STUTTGARTER BAUES Stuttgart, 15. Oktober 1911, abends

#G284-1977-SE148 Bilder okkulter siegel und Säulen

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RUDOLF STEINER

DIE OKKULTEN GESICHTSPUNKTE DES STUTTGARTER BAUES

Stuttgart, 15. Oktober 1911, abends

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Es erscheint mir angemessen, am heutigen Tag bei dem zu bleiben, was uns ja so naheliegt: bei diesem unserem Heim für die Stuttgarter theosophische Arbeit. Es ist Ihnen ja vielleicht allen, die Sie heute diesen Raum betreten haben und versuchen, mit einer Art innerem Blick auf die Gefühle zu schauen, die Sie hier überkommen haben, ein Wort in den Sinn gekommen, das wiedergeben kann, was man gern als das Eigenartige unseres heutigen Erlebnisses andeuten möchte: Stimmung ist es zweifellos, die unsere Seele durchströmt, indem wir in diesem Raume sind.

Wenn man in okkulter Art so etwas weiterverfolgt, dann kann man gerade von diesem Gesichtspunkte aus gewisse Blicke in die Untergründe unseres Lebens tun. Wir sind in diesem Raum in der Hauptsache von einem Farbenton umgeben, der für diesen Raum angewendet worden ist. Daß es uns auf Farbenabstimmungen ankommt in mancher Hinsicht, das werden Sie auch gesehen haben aus der Art und Weise, wie wir uns bemühten, die Mysterienaufführun-gen einzukleiden und auch aus der Farbengebung sonstiger Räume, die wir der theosophischen Betrachtung haben widmen können. Nun ist es durchaus nicht gleichgültig, von welchem Farbenton des abgegrenzten Raumes der Mensch in irgendeiner Verfassung seiner Seele um­geben ist. Und weiterhin ist es nicht gleichgültig, welcher Farbenton in der Hauptsache auf einen Menschen von diesem oder jenem Temperament, Intellektualität, Charakter wirkt. Auch ist es nicht gleichgültig für die gesamte Menschenorganisation, ob irgendein Farbenton lange Zeit in oft und oft wiederkehrender Wiederholung wirkt, oder ob er nur vorübergehend wirkt. Sie werden sich erinnern, daß wir jenen Saal, der uns 1907 für den Kongreß diente, mit einem gewissen roten Farbenton auskleideten. Da durfte nicht der Schluß gezogen werden, daß wir auf die rote Farbe schwören als richtige räumliche Umkleidung. Diesen Raum hier haben wir mit einem anderen Grundton ausgekleidet [blau]. Und wenn wir nach den Gründen fragen, so erhalten wir die Antwort: Jener Saal in München diente einlge Tage hindurch einer besonders festlichen Gelegenheit, einem in ein paar Tagen vorüberrauschenden Ereignis und sollte die Stimmung hervorrufen, die diesem Umstande angemessen war. Hier haben wir einen Arbeits­raum; er soll dazu bestimmt sein, daß unsere Stuttgarter Freunde immer wieder und wieder von Woche zu Woche hier ihre theosophischen Betrachtungen und Arbeiten vollbringen. Im wesentlichen haben wir es mit einem Raum für Betrachtungsversammiungen, die immer wie­derkehren, zu tun.

Wir werden nun die Bedeutung des Farbentons uns am besten vor die Seele stellen, wenn wir schildern, wie er auf den Okkultisten wirkt. Es gehört dazu, daß der Mensch sich vollständig von allem loslöst und sich hingibt an den Farbenton, in ihm aufgeht. Wäre derjenige, der sich diesem Farbenton hingibt, der hier die physisch undurchsichtigen Wände bedeckt, ein okkult in gewisser Beziehung vorgeschrittener Mensch, so würde nach einlger Zeit solch restloser Hin­gabe das eintreten, daß die Wände dann verschwinden für den hellseherischen Anblick. Das Bewußtsein hört auf, an den Wänden Grenzen gegenüber der Außenwelt zu haben. Was nun zunächst auftritt, ist nicht etwa das, daß er die Nebenhäuser draußen sieht, daß die Wände wie Glas würden, sondern es tritt in dem Umkreis, der sich eröffnet, eine Erscheinungswelt rein geistiger Art auf, eine Reihe geistiger Tatsachen und Wesenheiten wird sichtbar. Wir brauchen

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ja nur zu bedenken, daß hinter allem Physischen, das in unserer Umgebung ist, geistige Wesen und Tatsachen vorhanden sind. Was so dem Physischen draußen zugrunde liegt, das wird in gewisser Weise sichtbar; aber nicht bei jeder Art räumlicher Umgrenzung wird das gleiche sicht­bar. Die Welten, die uns geistig umgeben, sind von vielerlei Art. Da sind Elementarwesen der mannigfaltigsten Art um uns herum. Diese Elementarwesen sind nicht eingeschachtelt oder so, daß sie in verschiedenen Wohnungen wohnen. Das Gesetz der Undurchdringlichkeit gilt nur für die physische Welt; für die höheren Welten gilt gerade Durchdringlichkeit. Sie sind aber auch nicht in gleicher Weise sichtbar. Im gleichen Raume können je nach der hellseherischen Fähig­keit sichtbare und unsichtbare Wesen zusammen vorhanden sein. Welche geistige Wesenheiten im einzelnen Fall sichtbar werden, hängt von der Farbe ab, der wir uns hingeben. Bei einer roten Umgrenzung werden andere Wesen sichtbar als bei einer blauen, wenn man durch Farben-wirkung zu ihnen dringt.

Wir können uns nun fragen: wie ist es für den nicht heilseherisch geschulten Blick? Was der Hellseher bewußt tut, das tut unbewußt des Menschen ätherischer Leib, wenn er nicht hellseherisch geschult ist: er tritt mit denselben Wesen in eine gewisse Beziehung. Daraus folgt nichts Geringeres, als daß wir, je nach der Raumesumgebung, mit der einen oder anderen Art von geistigen Wesenheiten in Beziehung kommen. Nun handelt es sich weiter darum, daß wir in günstiger oder ungünstiger Weise eine Verbindung herstellen können mit den Wesenheiten, die uns umgeben. Nehmen wir an, wir stellen eine solche Farbenumgebung her, die uns mit Wesenheiten in Verbindung bringt, die uns für eine gewisse Verrichtung, die wir in dem Raume vollbringen, stören, so ist die Farbenumgebung ungünstig. Umgekehrt kann unser ätherischer Leib durch die entsprechende Farbe gefördert werden von den geistigen Wesen; das ist dann natürlich günstig.

Nun haben wir gesehen: dieser Raum ist der wiederholten Betrachtung gewidmet, durch die wir in unseren Erkenntnissen fortschreiten wollen. Wir haben nötig, wenn so gearbeitet wird in einem Raume wie hier, daß wir in der Lage seien, mit unserer ganzen menschlichen Organi­sation uns voll hinzugeben an das, was hier an unsere Seele herantritt. Wir wollen durch nichts gestört werden, um so gut es uns möglich ist, die Dinge aufzunehmen. Es wird der einzelne sie immer schlechter oder besser aufnehmen, aber die bestmögliche Art soll hergestellt werden, so daß ein jeder, so viel als nach seiner inneren Organisation möglich ist, sich hingeben kann den Betrachtungen, die hier angestellt werden. Die Farbe, mit der wir hier umgeben sind, setzt uns mit solchen Wesen unserer geistigen Umgebung in Beziehung, welche uns zu Hilfe kommen in unserem Ätherleib gerade bei denjenigen geistigen Verrichtungen, die wir brauchen, um spiri­tuelle Wahrheiten in uns innerlich zu verarbeiten. Wir werden durch diese Umgebung am wenig­sten gestört. Es wird unserem Ätherleib nichts zugemutet in bezug auf Bekämpfung schäd­licher Einflüsse von elementaren Wesenheiten, sondern die Kräfte unseres Ätherleibes werden sogar noch aufgerufen zu leichterem Arbeiten. So sehen wir, daß für eine solche Arbeitsweise, die sich immer wiederholt und der eine gewisse Seelenruhe zugrunde liegen muß, gerade diese Umgebung gewählt werden mußte.

Nehmen wir an, es handle sich irgendeinmal um etwas besonders Ernstes, das aber vorüber­gehend ist; da ist es, wenn wir die okkulten Gesetze berücksichtigen, von großem Vorteil, um nicht nur in eine Festesstimmung, sondern in innerliche Stärke hineinzukommen, sich mit einer roten Raumesumgrenzung zu umgeben. Wenn wir starke Willensentschlüsse fassen müs­sen, dann müssen wir die hereindringenden geistigen Wesen überwinden. Das heißt, wir müs­sen bei festlichen Gelegenheiten stark werden, damit das Herankommende zum bleibenden Im­puls werde; und unsympathische Empfindungen bei einer solchen Gelegenheit würden nichts

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anderes besagen, als daß man es ablehnt, Herr zu werden über die Schwachheiten des Gemüts und nicht gestattet, ernste Willensentschlüsse zu fassen, die, kurz angeregt, für die Dauer blei­ben sollen.

Farbenwirkungen sind von der denkbar größten Bedeutung. Nun wissen Sie, daß wir unter gewissen Umständen des allgemeinen Seins unserer Weltenumgebung eine Grundfarbe über uns sich ausbreiten sehen: die Bläue des Himmels. Diese Bläue des Himmels hat für die Menschen unserer Zeitepoche eine sehr große Bedeutung. Denn sie hat die Bedeutung, daß die Menschen -indem sie auf ihre Seele wirken lassen die blaue Raumesweite - immer wieder die Mahnung erhalten: mit den in der großen Welt befindiichen Wesenheiten in Berührung zu kommen, die unseren Ätherleib aufrufen zur Betrachtung des Spirituellen. In bezug auf die Bläue des Himmels war es nicht immer so mit den Menschen, wie jetzt. Die Menschen der Gegenwart glauben immer wieder, daß die Menschen stets so gewesen seien, wie sie jetzt sind. Die ganze Konstitution des Menschen hat sich geändert im Laufe der Zeit. In jenen alten Zeiten, wo ein ursprüngliches Hellsehen vorhanden war, da gab es nicht eine solche Bläue des Himmels wie für den gegenwärtigen Menschen, sondern damals schaute der Blick hinaus in die Raumes-weiten, und sie wurden ihm nicht abgeschlossen durch die Bläue des Himmels, sondern er sah hinein in die geistigen Welten, die sich ausdehnen in Raumesweiten. Wenn die alten Menschen davon gesprochen haben, daß da oben der Himmel beginne, das heißt dasjenige, in dem die geistigen Wesenheiten der Hierarchien zu suchen sind, so haben sie buchstäbliche Wahrheit gesprochen.

Anders als es ist mit einer Farbe, die an einer undurchsichtigen Wand ist, ist es wiederum mit jenen Farben, die uns durchsichtig erscheinen. Wenn wir betrachten, was uns hier als leuch­tende Farbe umgibt, so müssen wir sagen: Ebenso, wie wir durch die Farbe, die an der undurch­sichtigen Wand ist, mit gewissen Wesenheiten in ein Verhältnis treten, so treten wir mit anderen Wesenheiten durch die durchsichtig leuchtende Farbe in eine Beziehung. Während die Wesen­heiten, mit denen wir durch die undurchsichtige Wand in Beziehung treten, sich zunächst im Raume ausbreiten, aber nichts eigentlich zu tun haben mit den drei Reichen, dem Mineral-, Pflanzen- und Tierreich, so treten wir durch leuchtende Farben in Beziehung zu den Wesenhei­ten, welche direkt damit beschäftigt sind, die Dinge der drei Naturreiche zustande zu bringen. Wenn wir insbesondere durch leuchtendes Rot schauen, so treten wir mit Wesenheiten ganz besonderer Art innerhalb unserer Naturreiche in Beziehung. Wenn leuchtendes Rot eine Art Fenster bildet, um hellseherisch in die Naturreiche zu schauen, so treffen wir auf Wesen, deren Arbeit die besten Kräfte für die Zukunft unseres Erdenseins bildet. Sie müssen in den Natur-reichen da sein, damit dem Menschen innere Kräfte erwachsen können, die ihn immer keuscher in seinem Blute, das heißt in seinem Leidenschaftsleben, machen. Und wenn wir auf diese Weise in die Naturreiche schauen, dann schauen wir auf sie, die uns daran mahnen auch im Unbewußten, die am meisten uns dazu aufrütteln, vorwärtszukommen in der Reinigung unse­rer Leidenschaften.

Außerdem, daß wir hier umgeben sind von gewissen Farbentönen, sehen wir in diesem Raum allerlei Zeichen und symbolische Figuren. Sie sind keineswegs ohne Bedeutung; ich meine jetzt nicht die Bedeutung, die der spintisierende Verstand finden kann. Geistreiche Menschen kön­nen alle möglichen Geistreicheleien herausfinden, aber solche Erklärungen sind nichts für den Okkultisten. Hier kommt es vor allem darauf an, daß sie überhaupt da sind. Und nehmen wir an, wir richten das physische Auge auf irgendeine dieser Figuren: da ist es nicht bloß das physische Auge, sondern es ist die ganze Organisation, vor allem sind es auch die Strömungen des Ätherleibes, die in einer ganz bestimmten Weise in Bewegung kommen, angeregt durch

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den Verlauf der Linien und durch die Formen dieser Figuren, so daß der Ätherleib andere Bewegungen in sich hat, je nachdem man die eine oder andere dieser Figuren ansieht. Das be­deutet, daß innerhalb der Welt der ätherischen Substanz, die uns umgibt, mit all den Wesen­heiten, die darin zunachst verkörpert sind, die Formen, die wir hier nachzeichnen, wirklich vorhanden sind. Es gibt Wesenheiten, die diese Formen wirklich haben in der ätherischen Welt; und indem wir eine dieser Figuren anschauen, richtet sich unser Ätherleib so ein, daß er in seinen eigenen Bewegungen Formen nach den Linien selbst bildet, das heißt eine Gedanken­form erzeugt, die nun von ihm ausgeht; und je nach der Gedankenform wird unser ätherischer Leib imstande sein, mit der einen oder anderen Art von Wesenheiten sich in eine reale Verbin­dung zu setzen. Diese Figuren sind die Mittler, indem wir veranlaßt werden, in uns selbst die Gedankenformen, das heißt die Bewegungsformen in unserem Ätherleibe zu bilden. Nun sind diese Figuren so gewählt, daß sie in einer rhythmischen Aufeinanderfolge etwas Ganzes er­geben, dasjenige nämlich, was einer gewissen Entwickelungsströmung in der ätherischen Außenwelt entspricht, und zwar einer solchen, die unserem ätherischen Leib durch eine ganz bestimmte Tatsache günstig ist. Unser ätherischer Leib hat in sich selbst die Tendenz, sich zu verändern; er wird in gewisser Weise anders, wenn er vollkommener wird. Die Aufeinander­folge der Formierungen, die dem Vollkommenerwerden unseres Ätherleibes entsprechen, wird in der Aufeinanderfolge dieser Figuren sich vollziehen. Wenn wir den okkulten Tatsachen ent­sprechend solche symbolische Figuren anbringen und tiefer den Blick schweifen lassen kön­nen, so ist uns das eine Hilfe für das, was wir wollen, und wenn wir durch richtige Aufeinander­folge die entsprechenden Gedankenformen erzeugen, dann kommen wir dem zu Hilfe, was uns das Verständnis eröffnen soll, das innerliche, für jenen Rhythmus, der vorhanden ist, wenn wir von den sieben Gliedern des Menschen sprechen. Wir haben diese Figuren nicht zum bloßen Zierat angebracht, sondern weil sie innig verknüpft sind mit dem, was wir hier treiben wollen.

Geradeso wie wir zu der ätherischen Umwelt in Beziehung gesetzt werden durch die Gedankenformen, die wir bilden sollen, wie es eben geschildert wurde, werden wir durch das Musikalische zu dem Astralischen unserer Umwelt in Beziehung gebracht auf einem Wege, der direkter die eigenen Bewegungen des Astralleibes beeinflußt. Das Musikalische wirkt unmittel­bar auf unseren astralischen Leib, so daß wir angeregt werden, indem er auf den Ätherleib von innen wirkt, für alles, was in der astralischen Welt verkörpert ist; nicht in dem Sinn, wie man von der astralischen Welt als Kamaloka enthaltend spricht, sondern für das Universelle der astralischen Welt, in die auch das Devachanische herunterstrahlt. Die Offenbarung durch das Musikalische ist eine unmittelbarere, als wenn sich die oberen Welten kleiden in die Formen, die im Raume ausgebreitet sind. Dafür ist dasjenige, was im Raume sich ausbreitet, in gewisser Weise, wenn es den okkulten Ergebnissen richtig angepaßt ist, etwas, was uns unsere Selbstän­digkeit mehr läßt. Das musikalische Element wirkt zwangsmäßig auf den Menschen. Aber wir kommen zu dieser Art des Wirkens auf den Menschen, die mehr dadurch den Ätherleib anregt, daß zunächst der astralische Leib angeregt wird, auch durch das räumliche Element, und ein Beispiel für diese andere Art der Wirksamkeit können wir auch in diesem Raum studieren.

Sie sehen oben zwei Bilder, die zunächst zu unserem heutigen Fest beigesteuert sind von unserem Freund Stockmeyer. Diese beiden Bilder werden später eine andere Ausführung erhal­ten und werden dann dasjenige vollständig geben können, was sie geben sollen. Sie haben in der Wirkung dieser beiden Bilder zusammen, nicht von jedem einzeln, etwa das Folgende:

Wenn zuerst das eine, dann folgend das andere Bild wirkt, so wird unter allen Umständen, ob Sie es wollen oder nicht, das eine und darauf das andere Bild, zusammenklingend, Gedanken-formen erregen durch bestimmte Formierungen Ihres astralischen Leibes. Das bleibt im Unterbewußtsein

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und das ist, indem es in die Ideen der Bilder hineingelegt ist, nur in abstrakter Weise durch Begriffe wiederzugeben. Unser Gefühl kann uns jene Gedankenformen etwas ver­sinnlichen, die unser astralischer Leib unter allen Umständen aus diesen Bildern einmal in voll­ständiger Weise ziehen wird, wenn es gelungen sein wird, sie in richtiger Weise auszuführen.

Rechtes Bild vom Bes chauer: Eine gewisse astralische Form, eine Art Drachenform, wird von einer hohen Wesenheit der oberen Hierarchien, Raphael, besiegt durch den bloßen magnetisie­renden Blick. Und wenn der Mensch durch Entwickelung seines Willens dazu kommt, die Kraft dieser Wesenheit in seinen eigenen Willen aufzunehmen, dann haben wir die Kräfte, an die das Griechentum dachte bei den götdichen Kräften des Äskulap, mit denen er heilte. Alles das, was im geistig magnetischen Blick liegt, das heilende Wirkungen haben kann, wenn er ent­sprechend trainiert ist, kann in Gedanken aufgerufen werden, wenn wir gleich hinterher das Zusammenfügende dieses Empfindens im anderen Bilde verfolgen. Die Wirkung des Auges muß sich übertragen auf das Phantom, daß mit Hilfe der Phantomkräfte des physischen Leibes die Wirkung verstärkt wird, die von dem Drachen ausgeht, der dann durch die Gewalt des Michael besiegt wird.

Wenn wir uns die Fähigkeit aneignen, diesen Gedanken herauszufühlen aus den Kräften des Weltenalls und zu denken, wie er durch den physischen Leib einen Träger erhalten kann, indem er die Willenskräfte verstärkt, so daß der Mensch nicht mehr in bezug auf solche Kräfte zu sagen braucht, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach, als aufeinanderfolgende Empfindun­gen und Formierungen des astralischen Leibes, dann haben wir etwas gegeben, was in hohem Grade aus unserem Unterbewußtsein heraus moralisch stärkend wirken kann. So können wir unmittelbar aus der Aufeinanderfolge von zwei Bildern, und noch mehr aus drei Bildern, mora­lische Kraft ziehen.

Aber es sei ausdrücklich betont, das gilt nur vom Zusammenwirken solcher Motive, niemals von einem einzelnen Motiv. Würde es sich um ein Bild handeln, dann müßte es anders beschaf­fen sein: es müßten zwei Motive unmittelbar zusammenwirken, zum Beispiel wie bei der Sixtinischen Madonna. Da ist es die Kreuzung zweier Motive, die im höchsten Maße moralisch stärkend wirken können. Oben haben wir die Wolken, aus denen sich die Engelsköpfe heraus-gestalten, und wenn wir das Jesuskind im Arme der Mutter ansehen, so empfinden wir, daß es durch die Verfestigung der gleichen Kräfte entstanden ist, welche die Engel nur zum Wolken-dasein kommen lassen. Das ist das eine Motiv, wo wir gleichsam aus dem Wolkeniicht des Weltenalis empfinden die Entstehung des reinen Lichtwesens, des Menschen. Durchkreuzt haben wir dieses Motiv von dem, was an der Mutter ausgedrückt ist; sie ist ganz Unschuld und Liebe, und wir sehen gleichsam hervorkommen aus dem, was uns als der Leib, der Blick, das Antlitz, die Linien der Mutter erscheint, die wärrnste Liebe. Licht von oben, sich verdichtend zu dem reinen Lichtleib des Jesuskindes, wärmende Liebe von unten, sich begegnend und in der Armhaltung sich berührend: zwei Motive ineinanderlaufend, das gibt unserem astralischen Leib im Unterbewußtsein, ob er will oder nicht, wenn der Mensch nur die Geduld hat, sich ganz hinzugeben, das Gefühl: Du bist verpffichtet, demjenigen, was sich dir offenbaren kann aus den göttlichen Höhen, deine Liebe so entgegenzubringen, daß du es in deine eigenen Arme nimmst und in der Welt verwirklichst, daß du deine Impulse im Leben aus den geistigen Welten holst. -Die Sixtiha ist ein Altarbild, wo diese Gedankenform zusammenwirkt mit einer Gemeinde; hier haben wir es mit zwei Motiven zu tun, die in uns die Stimmung erregen sollen: Wir mögen fähig werden, dasjenige, was die Gesetze und die Wesenswirksamkeit der geistigen Welt sind, im Gedanken festhalten zu können.

Das ist es, worauf es bei unseren theosophischen Arbeiten ankommt. Die geistigen Dinge

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sind flutend, und für den ungeübten Hellseher sind sie wie Träume. So wie es schwierig ist, diese flutenden Wesenseigentümlichkeiten festzuhalten im Denken, so schwierig ist auch der umgekehrte Weg, im Denken den Gedanken selbst eine solche innere Konsistenz zu geben, daß man das Gefühl erhält: Du denkst eine Realität der wirklichen geistigen Welt. - Dieses Gefühl können wir erhalten, wenn wir die Bilder in einer solchen Weise auf uns wirken lassen. Wir brauchen dazu nichts anderes, als daß wir nicht stumpf sind gegenüber diesen Dingen, sondern daß wir sie wirklich öfter ansehen. Dann können die Kräfte des astralischen Leibes gar nicht anders, als die Wirkung verspüren, die sich so formulieren läßt: Wir kommen immer mehr dazu, den wirklichen Inhalt der theosophischen Gedanken einzusehen. Wir werden nicht zwangsmäßig überrumpelt, sondern diese Anerkennung ist eine völlig freie. Das Zusammen­wirken zweier Motive ist etwas, was die freien Kräfte des Menschen entfesselt.

So sehen Sie, daß in der Zusammenstellung dessen, was uns hier umgibt, alle Gesetze erfüllt worden sind, welche die sogenannte weiße Magie aufstellt, die Gesetze, durch keinerlei über-wältigende Kräfte auf den modernen Menschen zu wirken, sondern dasjenige, auf das gewirkt werden soll im anderen Menschen, als ein unberührbares Heiligtum zu betrachten, das aus sich selbst auferstehen lassen soll die Kräfte der geistigen Welt.

Wenn Sie das, was jetzt mit einigen Andeutungen gesagt worden ist, vor die Seele stellen, dann werden Sie sich so recht aus dem Fundamente heraus sagen, welche Bedeutung es hat für die theosophische Arbeit, ein eigenes Heim zu haben, denn Sie werden daraus ein wenig das Gefühl erhalten haben, daß nach den Gesetzen des Okkultismus selbst, und zwar nach zunächst femliegenden Gesetzen des Okkultismus, solch ein Heim erbaut und innerlich eingerichtet sein muß. Sie werden auch begreifen, was es im Grunde genommen bedeutet, wenn wir da, wo wir kein solches Heim besitzen, gezwungen sind, in der Umgebung die theosophlschen Betrachtun­gen anzustellen, die uns gemeiniglich zur Verfügung steht. Unsere Zeit hat ja die wenigsten Talente auf dem Gebiet, das heute berührt worden ist, und es werden auf keinem Gebiet so große Sünden begangen, wie in Form- und Farbengebung. Wenn man trivial sprechen darf:

Wie die Menschen heute sich anziehen und wie sie sich selbst oft Farben geben, das ist himmel­schreiend, und wenn der Mensch durch die großen Städte wandert und in die Schaufenster sieht mit okkult geschärftem Blick, dann wird er in der Tat die Frage erst für sich selbst entscheiden müssen, ob das, was da gearbeitet hat, aus einem gesunden Verstand oder aus etwas anderem gekommen ist. Und so wie mit der Farbe, verhält es sich in noch schlimmerem Maße mit der Form. Aber dieses geringe Talent ist auch vorhanden in Beziehung auf die Auskleidung der Räume, und es ist, wenn es mit vollem Bewußtsein geschieht, etwas Furchtbares, in den philiströsen Räumen theosophische Betrachtungen anzustellen, wie wir es gezwungen sind. Wenn wir mit dieser Tatsache zusammenhalten, was uns hier in diesem Raum geworden ist, was aus unseren Intentionen selbst hervorgegangen ist und uns so umgibt, wie wir nicht etwa aus Eigensinn umgeben sein wollen, sondern umgeben sein müssen, wenn wir günstig arbeiten wollen, dann werden wir die Bedeutung dessen, was hier geschehen ist, würdigen; und daß wir das würdigen, dazu sollten die Worte, die ich heute zu Ihnen gesprochen habe, dienen.

IN WELCHEM SINNE SIND WIR THEOSOPHEN UND IN WELCHEM SINNE SIND WIR ROSENKREUZER? Stuttgart, am 16. Oktober 1911

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IN WELCHEM SINNE SIND WIR THEOSOPHEN

UND IN WELCHEM SINNE SIND WIR ROSENKREUZER?

Stuttgart, am 16. Oktober 1911

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Was einer spimituellen Bewegung am meisten schaden kann, ist die Einseitigkeit. Wir müssen uns nämlich, wenn wir uns einem solchen Betrachtung hingeben, wie der über die okkulten Gesichtspunkte des Stuttgarter Baues, darüber klar sein, daß mit der Betonung irgendeiner einzelnen Wahrheit ein starkes Licht auf diese Wahrheit fällt, und man kann dann leicht ver­kennen, was auch zu beachten ist, nämlich die andere Seite der Sache. Um zu einer umfassenden Ansicht zu kommen, muß man sich das immer vorhalten. Man muß zum Beispiel zu allem, was gestern gesagt worden ist, noch eines hinzufügen. Gewiß, eine noch größere Vollkommenheit ist dann erreicht, wenn wir rein in Gedanken um uns herum eine solche Tempelstätte aufrichten können; wenn wir uns vorstellen können, in Gedanken von einer solchen Heimstätte um­schlossen zu sein. Dazu müßten unsere Gedanken so stark sein, daß sie in einer ähnlichen Weise wirken wie eine physische Heimstätte. Das läßt sich erreichen durch eine starke Kraft der Konzentration, wenn wir einsam für uns befolgen solche Regeln, wie sie gegeben sind in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» Aber, um uns jetzt keine falschen Vor­stellungen von dem Notwendigkeit eines solchen Baues zu machen, müssen wir uns sagen, daß, wenn wir in der Zweigambeit uns unseren Betrachtungen hingeben, wir nicht nur das brauchen, daß wir als einzelne die Bedingungen unserer Konzentration herstellen, sondern auch, daß wir durch unsere Umgebung möglichst wenig gestört werden.

Da der Mensch nicht nur aus dem physischen Organismus besteht, sondern auch aus über­sinnlichen Gliedern, und diese tätig sind und Beziehungen herstellen zu unserer Umgebung, so ist es notwendig, wenn wir unser physisches Denken anstrengen, daß wir unsere Willens-anstrengungen unterstützen für den ätherischen und astralischen Leib. Das können wir, wenn wir für unser Unterbewußtsein, das heißt für den Äther- und Astralleib, solche Bedingungen herstellen, wie sie am besten hergestellt werden können, wenn wir in einer okkulten Umgebung sind. Deshalb ist ein solcher Bau eine große Wohltat und wird zur Notwendigkeit für uns. Das müssen wir ins Auge fassen, daß die großen Wahrheiten in einer gewissen Beziehung für den Menschen zugleich Schwierigkeiten sind. Sie sind etwas, was der Mensch erst ertragen lernen muß, was zunächst schockierend sein kann, was ihn umwerfen kann, weil es so wenig mit seinem Alltäglichkeit zusammenstimmt. Um daher in einer möglichst günstigen Weise an die höheren Wahrheiten herantreten zu können, ist es notwendig, eine solche Raumesumgrenzung zu schaf­fen, daß in der Tat jene spirituellen Erkenntnisse, die auf uns warten, zu uns hereinkommen dürfen. Und die Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen haben in unserem Zeitalter die Möglichkeit, uns vieles zu überliefern. Gerade seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sind viele Tore gegenüber der geistigen Welt offen, und es können viele Ströme des geistigen Lebens zu uns hereingeleitet werden.

Es darf gesagt werden, daß gerade in den nächsten Zeiten, denen die Menschheit gegen-wartig entgegenlebt, immer günstiger die Bedingungen werden für das Hereinfließen von wich­tigen spimituellen Erkenntnissen, die den Menschen stark vorwärtsbringen können in jedem Be­ziehung. Um aber die Hemmnisse hinwegzuschaffen, die dadurch erwachsen, daß die Menschen, nachdem sie gerade aus dem Materialismus herausgeschlüpft sind, noch nicht reif sind für die großen Wahrheiten, müssen wir in uns eine Stimmung erzeugen, die weniger Gefahr dem Störung

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bedeutet. Das kann durch eine würdige Umgebung geschehen. Und überall, wo in unserem Sinne jetzt gerade Sorge getragen werden soll, daß alles zusammenstimmt, da wird wirklich alles eingehalten, was der okkulte Standpunkt fordert.

Es ist natürlich, daß der einzelne, der in die Theosophie hereinkommt, mit seinen Bedürf­nissen und Wünschen nach der einen oder anderen Seite sehr weit geht; und es ist schwierig, weil auf der anderen Seite die Einsicht nicht da sein kann, Dinge, die der andere für berechtigt hält, versagen zu müssen. Es ist oft gar nicht die Einsicht da, daß das Versagen zum Besten des anderen ist, und so ist es insbesondere, daß Von einzelnen vielleicht recht schwer abgewar­tet werden kann, die Antwort auf die eine oder andere Frage zu bekommen. Man ist so sehr gewöhnt, weil alles Wissen exoterisch ist, zu erwarten, daß im Grunde genommen alles, was ein Mensch fragen kann, immer beantwortet werden kann. Aber dazu gehören mindestens zwei Dinge: Das eine ist, daß der Betreffende, der die Antwort haben will, in der Lage ist, sie zu verstehen; das heißt, daß er sich durch seine ganze theosophische Entwickelung so weit ge­bracht hat, um die Antwort zu verstehen. Man hat aus abstrakten Gründen heraus viel früher das Bedürfnis, Fragen zu stellen, als die Möglichkeit da ist, die Antwort zu verstehen, die aus okkulten Welten heraus gegeben wird. Das andere ist, daß der Gefragte die Antwort weiß. In bezug auf gewisse spirituelle Erkennmisse sind wir gerade in einem solchen Stadium, daß sehr leicht für unsere ganze Zeit, nicht nur für den einzelnen Menschen, eine Frage sehr verfrüht sein kann, wenn uns auch die richtige Form der Antwort im Laufe der Zeit zweifellos gegeben wird. Deshalb habe ich im Karlsruher Zyklus gesagt, daß etwas gehört zum Okkultismus, das ist: Warten können! Das muß insbesondere derjenige, der vielleicht eine gewisse Entwicke­lung durchgemacht hat; am allermeisten, wer eine gewisse Höhe der okkulten Entwickelung erreicht hat. Wenn man alles daransetzt, in einem gewissen Zeitpunkt eine Frage zu beantwor­ten, so kann sehr leicht der Verstand, der immer antworten will, eine Antwort hervorzaubern, auch aus dem Gemüt des geschulten Okkultisten. Diese Antwort ist nicht nur falsch oder ungenügend, sondern sie benimmt die Möglichkeit für längere Zeit, überhaupt an die richtige Antwort heranzukommen. Daher ist das Wartenkönnen, bis man begnadet wird, aus der spiri­tuellen Welt eine Antwort zu bekommen, eine Notwendigkeit.

Aber das bezieht sich nicht nur auf die höchsten Fragen, sondern auch auf elementare Fragen. Es ist auch für den geschulten Okkultisten sehr leicht die Versuchung da, die Antwort aus sich selbst zu nehmen; dann wird er leicht fehigehen können. Ein Beispiel sind die zwei Bilder. Unser Freund Stockmeyer hat schon lange davon gesprochen, daß er sie fertigen wolle. Die Antwort über die Idee wurde ihm versprochen, sobald die Möglichkeit dazu vorliege. Das hat lange gedauert. Die Bilder sind auch zur Verzweiflung des Architekten reichlich spät fertig geworden. Woran lag die Schuld? Daran, daß die Antwort erst sehr spät gegeben werden konnte, die als eine Art okkulter Angabe zu diesen Bildern notwendig war. Man mußte ab­warten, bis die Intultion da war. Ausdenken könnte man diese Ideen sehr leicht, aber dann tau­gen sie nichts.

Das ist es, was so notwendig ist: daß man nicht nur sozusagen einen geraden Weg geht, son­dern auch die Resignation hat, nichts auszuklügeln; den Verstand nur anzuwenden auf die ok­kulten Wahrheiten, wenn sie da sind, nicht aber, um sie zu finden; dazu muß der Verstand ganz ausgeschaltet werden. Wenn sie da sind, dann müssen sie vom Verstand behandelt und begründet werden, er muß das logische Gepräge geben. Das muß man geradezu als eine gewisse Praxis ausbilden, wenn man vorwärtskommen will; gerade wenn man vielleicht Einzelheiten, die sonst elementar sind, braucht, um sie in einen ganzen Zusammenhang einzufügen.

Wie wird es dann sein, wenn wir in München einen großen Bau ausführen wollen, und wir

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zur rechten Zeit den Sinn nicht haben, der hineingelegt werden soll? Ja, wir sind eben Theo­sophen und wissen, daß nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern für alle Zusammen-hänge Karma wirkt. Wenn wir diesen Glauben haben, dann wissen wir: wenn eine Sache not­wendig ist, so kann sie uns warten lassen, aber sie kommt schon, und zwar zur rechten Zeit. Wir können nur nicht beurteilen, wann die rechte Zeit ist. Dazu brauchen wir Vertrauen in die Zukunft. Wenn sie nicht kommt, dann soll sie nicht für uns sein. Das ist nicht Fatalismus, denn ein solcher Glaube hält uns nicht davon ab, alle Anstrengungen zu machen, aber er lenkt unsere Anstrengungen in die rechten Bahnen. Wir machen nur keine falschen Anstrengungen mit unserem Verstand, sondern wollen uns vorbereiten für den Augenblick, wo wir begnadet werden sollen. Es ist besser, anstatt sich vor einem Blatt Papier zu zerquälen, sich in gebet­artiger Meditation zu versenken und Karma zu bitten, daß dieser Augenblick der Intuition komme.

Damit hängt auch zusammen, was man die richtige Auffassung nennen könnte vom Rosenkreuzerprinzip. Wenn ein pedantischer exoterischer Kenner des Rosenkreuzertempels in diesen Bau hereinkommen würde und würde sich erinnern an die Regeln, die ihm gelehrt wor­den sind aus alten Überlieferungen heraus, er würde sagen: Ihr habt alles falsch gemacht, das ist nicht rosenkreuzerisch. - Wir würden antworten müssen: Das, was du verlangst, wollen wir nicht und können es auch nicht wollen. Denn Rosenkreuzertum heißt nicht, bestimmte Wahr­heiten durch alle Jahrhunderte forttragen, sondern es heißt, den Sinn entwickeln für das, was eine jede Zeit aus der geistigen Welt heraus dem Menschen geben kann. Was vielleicht im 14. Jahrhundert falsch sein konnte, ist gerade in unserer Zeit richtig und muß in unserer Zeit so gemacht werden, denn die Beziehungen der geistigen Mächte um uns herum fordern gerade diese Gestalt. So ist dieser Bau nicht nach einer alten Schablone, sondern nach den Forderun­gen unserer Zeit gemacht. Denn was ist diese Forderung von seiten der spirituellen Mächte?

Ich halte fast keinen Vortrag, ohne daß ich, wie das sprachlich möglich ist, wenn es auch nicht grammatikalisch richtig ist, das Wort «theosophisch» gebrauche. Viele würden vielleicht unsere Anrede « Meine lieben theosophischen Freunde» tadelnswert finden. Dieses Wort wird absichtlich gebraucht, weil der Grundnerv dessen, was unsere Aufgabe ist, gerade durch dieses Wort charakterisiert werden kann. Theosophie ist etwas, was zu allen Zeiten in der Menschheit gelebt hat, was gepflegt worden ist zu allen Epochen in der Art, wie die Menschen nach ihren Anforderungen es pflegen mußten, zuweilen in größeren Kreisen, zuweilen in engsten Zirkeln, ganz nach den Beschaffenheiten der einzeinen Epochen. Theosophie ist dasjenige, was, nachdem alle Entwickelungen vorangegangen sind, heute in eine solche Form gebracht werden kann, daß es in gewissen Grenzen einziehen kann in jedes Menschenjch, jedes Gemüt und jede Art von intellektueller Reife. Es brauchte heute keinen Menschen zu geben, der, wenn er den guten Willen hätte, Theosophie in sich nicht aufnehmen könnte. Deshalb ist Theosophie auf der einen Seite etwas Ewiges, auf der anderen Seite eine spezielle Aufgabe unserer Zeit. Von diesem Gesichtspunkt aus müssen wir uns als die Träger betrachten derjenigen Weltenströmung, welche man als die theosophische zu bezeichnen hat.

Daß innerhalb dieser Strömung, je nachdem was der einzelne zu erkennen vermag, die ver­schiedensten Schattierungen stattfinden können, sollte selbstverständlich sein und ist in unserer Bewegung auch jederzeit so bezeichnet worden. Wenn Theosophie Gesinnung wird, schafft sie den Boden, auf dem die verschiedensten Erkenntnisse erblühen können; aber sie müssen auf den Wegen wirklicher Wahrheit gewonnen sein. Es ist ja unter denjenigen, welche den Grund-nerv des Okkultismus verstehen, immer so, daß sie sich gar nicht gegenseitig stören können. Es ist nicht möglich, daß sich Menschen stören, die in okkulter Praxis drinnenstehen und dadurch,

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daß sie von verschiedenen Ausgangspunkten ausgehen, zu anderen Formulierungen kommen. Das ist strenges Gesetz. Bekämpfen darf der Okkultist nicht, wenn er sieht, daß richtige Ausgangspunkte und richtiges Streben da sind bei anderen Okkultisten, auch wenn er deren Formulierungen ungeschickt findet. Daß verschiedene Okkultisten das, was sie zu sagen haben, in verschiedener Weise formulieren, kann von verschiedenen Ausgangspunkten herstam­men, und davon, je nachdem sie für nötig halten, dieses oder jenes herauszuholen aus den höheren Welten.

Anders wird es, wenn die ganz bestimmte Ansicht sich ergeben muß, daß andere Strömun­gen eben nicht auf demselben Niveau stehen und einfach mit elementareren Bedingungen zu Werke gehen und dann behaupten, daß das die letzte Wahrheit sei. Einen höheren Standpunkt nicht zu erkennen, das ist falsch. Wenn jemand sagen würde, daß dasjenige, was in unserer Geistesströmung als die Christus-Wesenheit durch viele Bemühungen seit Jahren immer klar-gemacht werden soll, etwa sich mehr als einmal auf der Erde in einem fleischlichen Leib inkar-nieren kann, woher würde diese Behauptung rühren?

Aus dem, was Sie gehört haben und noch hören werden, werden Sie die absolute Klarheit bekommen, daß es ein solches Wesen gibt, das gerade so wirkt, daß es nur einmal in einem physischen Leib durch drei Jahre verweilen konnte und nicht immer wiederkommen kann im physischen Leib. Das ist eine Wahrheit, die allerdings immer aus dem Rosenkreuzertum heraus betont worden ist, wie auch im Mysterium scharf beleuchtet wurde. Wer das nicht kennt, kann von einer weniger in diese Regionen hineingehenden Erkenntnis zu einer unrichtigen Formu­lierung kommen; unrichtig, weil sie den Namen Christus gebraucht. Dagegen ist es möglich, zu sagen: Warum spricht der andere anders? - Er spricht anders, weil er das gar nicht hat in seinen Gedanken, was wir hier den Christus genannt haben. Er bezeichnet etwas anderes als Christus. Von dem könnte das, was er sagt, vielleicht gesagt werden, aber es ist nicht das, wovon in die­ser Strömung gesprochen wird, weil es unbedingte Notwendigkeit unserer Zeit ist - als Forde­rung der Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen -, daß von dieser hohen Wesenheit gesprochen wird, die wir mit dem Christus-Namen nennen und wiedererken­nen, wenn wir die Evangelien lesen und identifizieren dürfen mit dem, was seit zwei Jahrtau­senden so bezeichnet wird. Das ist ein historisches Recht, kein absolutes natürlich!

Wenn auch diese Erkenntnis seit zwei Jahrtausenden sehr unvollkommen war, sie ist so be­zeichnet worden und wir tun dasselbe aus historischen Gründen. Deshalb sollte dieser Name nicht von anderen Wesenheiten gebraucht werden. Das ist etwas, was immer betont worden ist und was heute in Wahrheit für jeden Menschen ganz leicht verständiich sein kann. Es ist inter­essant zu verfolgen, wie schwierig es allerdings ist, über diese Sachen zur Klarheit zu kom­men, aber diejenigen, die nicht von vornherein eine besondere Sympathie haben, auf feinere Er­örterungen sich einzulassen, werden es als unbequem empfunden haben, daß wir uns die Sache mit dem Christus so gar nicht leicht machen. Das konnte man wieder in Karlsruhe sehen; was da gebracht wurde, war nur möglich, weil alles andere vorangegangen ist. So ist es ja heute noch nicht ganz leicht, zu dem Christus-Prinzip zu kommen, aber es ist eine Notwendig­keit, die uns auferlegt wird von den Leitern der spirituellen Bewegung.

Es ist sehr merkwürdig, daß eine gewisse Schwierigkeit bestanden hat, gerade die speziellen Forschungen des Rosenkreuzertums in die theosophische Strömung einfließen zu lassen, und sogar das Verhältnis dieser Bewegung hier wird sehr mißverstanden, gerade inwiefern diese Bewegung den Namen einer rosenkreuzerischen verdient. Ich werde aber niemals sagen: Meine rosenkreuzerischen Freunde! Daraus können Sie entnehmen, daß es nie darauf angekommen ist, das Rosenkreuzerische als etwas Ausschließendes zu betrachten. Wenn ein außerhalb unserer

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Bewegung Stehender sagen wollte, wir waren Rosenkreuzer, so wäre das nicht nur ein Miß­verständms, sondern eine etwas verleumderische Bezeichnung für unsere Bewegung.

Da kommt mir immer in den Sinn, wie einmal ein Mensch auf dem Markte behauptet hat, jemand sei ein Phlegmatiker, und eine Frau sagte: Was, das soll der sein, und ich weiß doch, daß er ein Metzger ist! - So ist das wirklich, wenn man uns, um etwas Unterscheidendes her­vorzuheben, Rosenkreuzer nennt. Das hat gar keinen Sinn. Das Rosenkreuzertum ist in unsere Strömung eingeflossen, es wird mitverarbeitet, in gewissem Grade auch praktiziert.

Wie schwer es ist, diese Strömung einfließen zu lassen, sehen Sie an dem eigentümlichen Schicksal derjenigen Persönlichkeit, zu welcher wir als der Bewegung angehörig alle mit großer Verehrung aufsehen: H.P. Blavatsky. Wenn Sie ihre Entwickelung verfolgen von der «Ent­schleierten Isis» bis zur «Geheimlehre», dann werden Sie sehen, daß in die «Isis» eine große Summe von rosenkreuzerischen Erkenntnissen eingeflossen ist. Sie hat dann eine Schwenkung gemacht aus Gründen, die jetzt nicht erörtert werden können, in der «Geheimlehre», die das, was hätte ausgebaut werden können, nicht ausgebaut hat, dagegen einen Seitenweg einschlug. Wie stark aber diese rosenkreuzerischen Prinzipien gewirkt haben, kann man im dritten Band der «Geheimlehre» sehen. Da findet man die größten Wahrheiten neben wirklich Unmög­lichem. Wer Unterscheidungsvermögen hat, kann daran auch anknüpfen, was heute geoffen-bart wird. So ist es gekommen, daß H.P. Blavatsky mit aller Schärfe betont hat, daß der Chri­stus, der wiederkommen soll, niemals in einem solchen Sinne verstanden werden dürfte, als ob er im fleischlichen Leib wiederkommen würde; daß unter dem kommenden Christus nur ver­standen werden dürfte ein Ereignis, das der Mensch erlebt durch einen Zusammenhang mit einer geistigen Welt. Wir stehen durchaus auf ihrem Boden, wenn wir in klarerer Weise, als es ihr möglich war, herausarbeiten, was sie angeregt hat. Wenn sie sich mit solcher Schärfe dagegen wendet, daß der Christus sich im Fleische wieder inkarnieren könnte, ist es nicht leicht, daß der­jenigen Bewegung, die eben die unsere ist, der Vorwurf gemacht wird, daß gerade mit ihren bedeutendsten Erkenntnissen, die nur manchmal nicht gut formuliert sind, gebrochen wird. Es ist Kontinuität, und wir haben nicht nötig, diesen Bruch mit dem ursprünglichen Ausgangs­punkt zu vollziehen, indem wir in irgendeinen Konflikt damit geraten würden, was den kom­menden Christus betrifft. Trotzdem stellen wir jederzeit das Richtige an die Stelle des Falschen; aber in vielen Dingen können wir zurückgehen zu den ursprünglichsten Aufstellungen von H.P. Blavatsky. Und wir können wissen, daß sie in der Form, in der sie jetzt lebt, durchaus will, daß die Kontinuität fortentwickelt wird, die nicht ein Festhalten an den Formulierungen, son­dern ein Arbeiten sein soll in dem Geiste, der damals war. Es war kein Geist des Stillstandes, am wenigsten ein Geist des Rückschrittes! Wir arbeiten am besten, wenn wir das bringen, was H.P. Blavatsky noch verschlossen war. Namentlich seit 1899 haben sich die Tore noch ganz anders geöffnet.

Wir versuchen, ohne Rücksicht auf irgend etwas Vorangehendes einzudringen gerade in die Bedeutung und Wichtigkeit des Christus-Prinzips. Das führt uns natürlich dazu, anzuknüpfen an diejenigen okkulten Forschungen, die gerade seit dem 13. Jahrhundert in Rosenkreuzer-kreisen mit besonderer Sorgfalt gepflegt wurden. Aber wer die verschiedenen Zyklen angehört hat, wird wissen, daß es sich gar nicht darum handelt, Rosenkreuzertum, wie es war im 13. Jahrhundert, heute zu lehren. Wir sind Rosenkreuzer des 20. Jahrhunderts! Es kommt uns gar nicht auf etwas anderes an, als an jene Prinzipien, die das Rosenkreuzertum gehabt hat, anzuknüpfen, sie nutzbar zu machen im theosophischen Fortschritt. Aber wir müssen - das geht nicht anders - das, was dadurch gefunden worden ist, auf allen Gebieten für ein Höheres an­erkennen, als was sonst in der Welt in Beziehung auf das Christus-Prinzip gegeben worden ist.

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Wir müssen aber zugeben, daß über der Energie, mit der dieses Prinzip herausgearbeitet worden ist, zurücktraten die Lehren von Karma und Reinkarnation. So ist es nicht der Geist einer historischen Epoche, auch nicht der Geist des Rosenkreuzertums, sondern der Geist der Wahr­heit, um den es sich allein handelt. Ganz einerlei ist es uns, wo dieses oder jenes Bekenntnis auftritt. Um den Geist der Wahrheit handelt es sich; und deshalb wird auch alles Einschachteln in Kategorien und Schablonen gerade für unsere Bewegung immer Mißverständmsse hervor-rufen müssen. Wir wollen nur der Wahrheit dienen. Nicht was diese oder jene Zeit gesagt hat, wollen wir vertreten, sondern das, was hereinfließt aus der spirituellen Welt. Was anerkannt werden kann durch menschlichen Verstand, das gilt uns, danach führen wir unsere Bewegung weiter, und gegenüber allen anderen Bekenntnissen dürfen wir uns Theosophen nennen, nach dem ersten Grundsatz unserer Bewegung: Keine Religion steht höher als die Wahrheit. In dieser Beziehung stehen wir auf dem allertheosophischsten Boden. Deshalb umgeben wir uns nicht mit irgendwelcher nach rosenkreuzerischer Schablone geschaffenen Umgebung, sondern mit der­jenigen, die uns gerade für einen individuellen Zweck angegeben wird. Dazu ist zum Beispiel äußere Bedingung die Größe des Raumes. Vielleicht hätte man gar nicht dieses oder jenes zu­geben können, wenn der Raum größer oder kleiner gewesen wäre. Kein Schema kann gelten, sondern das Abwarten, was als Gnade aus geistigen Welten uns zukommt. Das heißt, all unser Streben geht danach, das zu verstehen, was so emfach klingt: das Herz zu öffnen für die gei­stige Welt, die immer um uns ist; zu verstehen ein solches Wort, wie der Christus Jesus gespro­chen hat: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.

Niemand wird sagen können nach dem, was in den verflossenen Jahren vertreten worden ist, daß wir ein Christentum vertreten, wie es in den ersten Jahrhunderten zugrunde gelegt worden ist. Wir wollen uns die Gesinnung aneignen, dem Christus nahezukommen, wie er heute lebt; und erst wenn wir erkannt haben, daß dieser Christus ein Lebendiger ist, wollen wir beleuchten dasjenige, was in früheren Zeiten geschehen ist. Ebenso halten wir den Buddha für einen Lebendigen, der sein Prinzip befolgt, daß der Buddha nicht mehr ins Fleisch zurück­kommt. Wenn jemand das behaupten würde, so wäre zu erwidern, daß er nichts von Buddhis­mus versteht, denn wer vom Bodhisattva zum Buddha aufgestiegen ist, der kehrt nicht wieder. Denn der Buddha lebt und wirkt gerade in unserer Bewegung und beleuchtet das, was er vor 2500 Jahren geleistet hat, in dem, was er heute wirkt. Wie nur der über Buddha sprechen darf, der ihn kennt, so darf auch nur der, der den Christus kennt, über ihn sprechen. Da können wir sagen, wenn ein Wesen von hoher Bedeutung im fleischlichen Leib vertreten wird: Als Tatsache mag es richtig sein, aber mit dem Christus hat es nichts zu tun. - Tatsache ist, daß, wer sich vertieft in das Wesen des Christus, der kommt schon dazu, zu verstehen, daß der andere irrt. Niemals kann es umgekehrt sein. Das macht Schwierigkeiten, aber das muß derjenige ins­besondere berücksichtigen, der Gelegenheit hat, theosophische Prinzipien in wahrem Sinn in wahrster Toleranz zu üben auch dem Irrtum gegenüber. Aber Toleranz üben, das heißt nicht, sich zum Irrtum bekennen, sondern ihn in Liebe zu behandeln, sonst wäre es Sünde wider den Heiligen Geist. Wir müssen Toleranz üben, gerade, weil wir in Beziehung auf den Christus das rosenkreuzerische Prinzip vertreten. Wir können darauf warten, bis man uns Opposition macht, gerade über den Christus. Verstehen Sie dieses Wort, das Prinzip echtesten Wahrheitssuchens und auf der anderen Seite echter Toleranz, so können Sie sich selbst die Frage beantworten:

In welchem Sinne sind wir Theosophen und in welchem Sinne sind wir Rosenkreuzer.

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BERICHT ÜBER DIE EINWEIHUNG DES STUTTGARTER HAUSES

[Vetfasser nicht bekannt]

Der Sonntag des 15. Oktober 1911 brachte unserem gesamten theosophischen Leben ein Er­eignis von - man kann wohl sagen - geschichtlicher Bedeutung! Es brachte zunächst für Stutt­gart die Erfüllung einer langgehegten Sehnsucht, einer Sehnsucht, welche mehr oder minder im Herzen eines jeden feinfühligen Theosophen schlummert, und welcher von Dr. Steiner mit den Worten Ausdruck verliehen wurde: «Umgeben zu sein von einem Heim, von einem Raum, der unser ist.»

Jn schwäbischen Landen, auf einem, durch seine okkulten Traditionen wie prädestiniert er­scheinenden Boden, war in aller Stille, mit Hilfe rastios tätiger, hingebungsvoller Kräfte, das große Werk herangereift: ein eigenes theosophisches Haus an geeigneter Stelle zu erbauen! Und schon 91/2 Monate nach der feierlichen Grundsteiniegung durch Dr. Steiner war das, was erst nur im schöpferischen Geiste des Erbauers gelebt hatte, schon zu einer wunderbar harmo­nischen Wirklichkeit auf dem physischen Plan emporgewachsen, einer Wirklichkeit, welche nicht schöner bezeichnet werden konnte als mit den Worten: «Theosophie umgesetzt in künst­lerisches Können!» - Alle diejenigen unserer Mitglieder, welche als Gäste der Stuttgarter Loge von nah und fern, zum größten Teil auch mit dem Karlsruher Sonderzuge, herbeigeeilt waren und nun am Frühnachmittage des 15. Oktober den sonnenhellen, stattlichen Bau sich entgegen-grüßen sahen, sie waren sich wohl bewußt, daß sie gewürdigt, hier etwas ganz Besonderes, ganz eigenartig Bedeutungsvolles zu erleben! Wie ein andächtiger Schauer mußte die Seele eines jeden Anwesenden das Bewußtsein durchziehen, daß hier in Wahrheit eine theosophische Tat getan, daß - um abermals mit Dr. Steiners Worten zu sprechen - « dem Geiste dem wir dienen, ein Tempel gebaut worden war».

Und über alles Erwarten schön und einheitlich wirkte nun auf den Beschauer das ganze, mit so viel verständnisvoller Liebe entworfene Innere dieses weihevollen Tempeiraumes! Es gibt, wenn man so sagen darf, einen Maßstab für die Wirkungsfähigkeit alles dessen, was sich aus dem künstlerischen Empfinden heraus zu einer Realität gestaltet; es ist der Maßstab, der sich in dem unwillkürlichen Empfinden auslöst: es kann ja anders gar nicht sein, als wie es ist! Nichts von dem, was unser Auge hier erblickt, sieht nach einer berechnenden Effekthascherei, nichts sieht nach einer gewollten Absichtlichkeit aus. Alles vielmehr ist geeignet, die rechte Stimmung und die wahre Seeleneinkehr zu erzeugen, die mit einem solchen, theosophischer Arbeit dienen sollenden Bau, verbunden sein muß. Gerade so mußten auch die mystisch ge­dämpften Farbentöne der Lampen von den Wänden herunterglänzen, oder die klare Tageshelle aus dreieckig umrahmten Fensterovalen auf die versammelte Menschheit herniederströmen! Überall sah man die symbolische Dreieckform sich in der äußeren Linienführung, sogar der Stühle wiederholen und sich eingliedern in die erhabene Stilistik des Ganzen. Als einzigen Schmuck der Wände erblickte man die beiden, tief okkulten Stockmeyerschen Bilder, den Sieg des Geistes über die Materie uns eindrucksvoll vor Augen stellend. - Wer dann seine Blicke zur Decke erhob, der sah dieselbe wie ein hohes leuchtendes Zeltdach sich ausbreiten über den Raum und am Rande ringsherum sich ergießend in ein wohlbekanntes okkultes Trop­fenmotiv.

Gleiche Rechte für alle - dieser Grundsatz schien sich auch in der weisen Ausnutzung des großen länglichen Raums bemerkbar zu machen: von den Plätzen im Saale sowohl, als auch von den Emporen aus, konnte ein jeder das am äußersten Ende des Saales sich erhebende Redner­pult frei und ungehindert überblicken. Unendlich stimmungsvoll wirkten die im Lichte der

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elektrischen Flammen aufblühenden roten Rosen des an der Vorderseite jenes Pultes ange­brachten Kreuzes; hinter dem Rednerpulte aber befand sich noch, verdeckt von einem sehr künstierisch entworfenen, altarartigen Aufbau, ein herrliches, orgelartig klingendes Harmo­nium, dessen feierliche Töne bei Beginn der Einweihung den ganzen Raum erfüllten, wie ein mystischer Zusammenkiang des hohen Gefühlserlebnisses: «Eines in Allem!»

Tief dankbaren Herzens mußte es so ein jeder empfinden, daß in dieser neuen theosophischen Heimstätte wirklich etwas Aufblühendes, etwas dem Frühling Verwandtes, zur Entfaltung kam, und daß eine begnadete Künstlerhand den Meistern der Weisheit hier, in Wahrheit und im heiligsten Sinne, hatte dienen dürfen! - Die Einweihungsrede Dr. Steiners ließ die ver­sammelten Zuhörer dies alles noch einmal in innerster Seele bewußt empfinden, und zur großen Freude aller theosophischen Mitglieder sind wir schon jetzt in der Lage, die von Herrn Dr. Unger freundlich zur Verfügung gestellte Nachschrift dieser Rede in den Mitteilungen zum Abdruck zu bringen, sowie auch ein Protokoll der ganzen sonstigen Eröffnungsfeier. Die bei­den anderen, im Anschluß daran noch in Stuttgart gehaltenen Vorträge Dr. Steiners, vom 15. Oktober abends über: «Die okkulten Gesichtspunkte des Stuttgarter Baues» und vom

16. Oktober mittags über das Thema: «In welchem Sinne sind wir Theosophen und in wel­chem Sinne sind wir Rosenkreuzer?», diese beiden Vorträge sollen ebenfalls schon in kürzester Zeit im Druck erscheinen, da sie das allgemeine Interesse in hohem Grade beanspruchen dürften!

Vieles bliebe noch übrig, über das schöne Stuttgarter Theosophenheim und seine verschie­denen, ihren Zwecken so wohl angepaßten Räumlichkeiten zu sagen, wie zum Beispiel über das ganz in Rot gehaltene Vorstandszimmer und den zu längerem Verweilen einiadenden, gemütlichen Bibliothekraum. Gar manchem der Gäste war es wohl auch freundlich gestattet, einen Blick in die schöne und ideal gelegene Wohnung des Herrn und der Frau Kinkel zu werfen, die sich in der oberen Etage befindet. Frau Kinkel, eine jahrelange unermüdliche Kämpferin für die Realisierung des Stuttgarter Baus, durfte nun die freudige Genugtuung erleben, in diesem selbst eine Heimstätte zu beziehen, zugleich mit der frohen Hoffnung, Dr. Steiner jetzt öfter in den eigenen Räumen willkommen heißen zu dürfen.

Es soll nun, am Schlusse dieses Berichtes, nachdem der so herzlich und ohne jegliche nei­dische Gefühle von allen Theosophen geteilte Festesjubel verklungen ist, noch auf eine, von Fräulein von Sivers vor Beginn des 3. Vortrages gehaltene, ebenso eindringliche, als überzeu­gende Rede hingewiesen werden. Fräulein von Sivers betonte in dieser Ansprache mit beson­derem Nachdruck, daß wir eine solche, aus schönsten Impulsen hervorgehende und mit Hilfe großherziger Spenden ermöglichte Gründung eines theosophischen Heims, wie Stuttgart es nun besitzt, mit froher Genugtuung begrüßen müssen; daß wir aber das große vorbildiiche Ziel, welches sich für uns mit dem Bau einer zunächst ganz exzeptionellen, geisteswissen­schaftlichen Pflegestätte in München verknüpft, über die Sonderinteressen einzelner Logen niemals aus den Augen verlieren dürfen. - Wir müssen vielmehr immer besser begreifen lernen, daß die Realisierung einer solchen Hochschule theosophischen Geistesstrebens, welche ihre Strahlen nicht nur auf einen kleinen Umkreis beschränken, sondern infolge von Münchens günstiger Lage bis zur äußersten Peripherie ihrer Wirksamkeit erstrecken will, daß eine solche Hochschule nachgerade zu einer Lebensnotwendigkeit für uns geworden ist. Dem wunder­baren Quellborn geisteswissenschaftlicher Offenbarungen, der nun schon durch Jahre hindurch in unsere Seelen eingeflossen ist, uns immer gewaltigere Erkenntnisse über Wesen und Be­stimmung des Menschen bringend und zugleich kristallisiert erscheinend in den Formen einer neuen spirituellen Kunst - diesem Quellborn vor den Augen der ganzen Menschheit eine wärdigste

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Pflegestätte zu bereiten, muß als das hohe einheitliche Ziel unseres theosophischen Wol­lens nunmehr empfunden werden! - Nicht um die Gründung theosophlscher Heimstätten an einzeinen Orten darf es sich also vor der Hand für uns handeln, sondern um das zielbewußte Aufrichten einer Warte, welche, weit in das Land hineinschauend, unserer geistigen Perspek­tive allein die richtige Mittelpunktstellung erteilen kann, welche ein Leuchifeuer entzündet für alle diejenigen, welche, von nah und fern ihrer tiefen, nicht mehr zu stillenden Sehnsucht fol­gend, den geistigen Hunger an dieser einzigartigen Quelle zu stillen begehren. - Vorbildiich, auch im Sinne später etwa zu errichtender theosophischer Heimstätten, wird dieser Münchener Bau in seiner Formengebung für uns werden, ebenso, wie die Münchener Mysterien-Dramen diese Vorbildlichkeit schon in das Gebiet der Kunst hineingetragen haben. - Möchten wir es daher alle als unsere nächste und wichtigste Aufgabe empfinden, dieses im tiefsten Sinne kul­turgeschichtliche Werk mit allen unseren Kräften zu fördern, damit seine Erfüllung nicht zu lange hinausgeschoben und dadurch eventuell ernstlich gefährdet werden könnte! Möge uns bei diesem unserm Wollen im tiefsten Innern das Gefühl leiten, welches Goethe einst bei Erfül­lung eines Lieblingswunsches in seiner Seele aufsteigend empfand und in die Worte kleidete:

Welch' hoher Dank ist dem zu sagen,

Der frisch uns an das Werk gebracht,

Der allem Weinen, allem Klagen

Ein jähes Ende hat gemacht!

ANHANG E. A. KARL STOCKMEYER ÜBER DIE EINHEIT VON TEMPEL UND KULTUS IM ZUSAMMENHANG MIT DER GOETHEANUM-BAUIDEE

#G284-1977-SE163 Bilder okkulter siegel und Säulen

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ANHANG

E. A. KARL STOCKMEYER

ÜBER DIE EINHEIT VON TEMPEL UND KULTUS

IM ZUSAMMENHANG MIT DER GOETHEANUM-BAUIDEE

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Offenkundig knüpft Rudolf Steiner mit seinem Baugedanken an Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» an, indem er den unterirdischen Tempel mit den drei Königen in den Mysteriendramen im unterirdischen und im Sonnentempel mit ihren drei Altä-ren wieder aufleben läßt. Man könnte meinen, Rudolf Steiner habe sich hier von Goethe ein fruchtbares Motiv geholt. In Wirklichkeit ist es aber ganz anders. Er schildert in angemessener Art, was Goethe auch geschaut, aber in unvollkommener Art dargestellt hat. So knüpfte Rudolf Steiner an vieles, zum Beispiel auch an Platos Timäus an, indem er die «Atlantischen Vor­fahren» und die «Planetarische Entwicklung» in seinen Aufsätzen in der Zeitschrift Luzifer-Gnosis behandelte. Damit hebt er das Kunstwerk aus der Sphäre menschlicher Vereinsamung heraus und gibt ihm den Charakter der individuellen Darstellung des objektiv, das ist intuitiv Erlebten. Wie überhaupt im freien Tun des Menschen die Synthese zu sehen ist der Welt in ihrer Notwendigkeit mit dem Ich in seiner Willkürlichkeit, so ist es besonders mit der Kunst. Das echte Motiv ist eine objektive Erkenntnis, seine Gestaltung aber gehört dem Künstler und seiner Freiheit. Das Motiv des Tempels bei Goethe wie bei Rudolf Steiner ist es, Gefäß zu sein des übersinnlichen Kultus, den Goethe von den drei Königen vollziehen läßt, den Rudolf Steiner an den drei Altären sprechen läßt.

Dieser Kultus ist ja von Rudolf Steiner in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Gruppe von Mitgliedern vollzogen worden. Scheinbar ganz unabhängig von diesem Gesche­hen, das die Teilnehmenden mit dem übersinnlichen Kultus vom Beginn des 19. Jahrhunderts verbinden sollte, vollzog sich die Entwicklung des Baugedankens vom Münchener Kongreß ausgehend, wo nur die - man möchte beinahe sagen: «abstrakten» - Bauelemente hingestellt waren, zum Modellbau in Malsch, zum «Unteren Saal » in Stuttgart, zum Johannesbau für München und zum ersten Goetheanum in Dornach. Es vollzog sich aber auch die Verbindung von beiden: In den Mysterienspielen erschien der Kultus im Bilde im Sonnentempel mit den Planetensäulen und in Stuttgart wurde der Untere Saal mit den ellipsoidischen Gewölben wirk­lich zur Umhüllung für den Kult der drei Altäre und der zwei Säulen. Das erste Goetheanum, der Bau der zwei sich durchdringenden Kuppeln, war so veranlagt, daß der Kultus, unter der kleineren Kuppel vollzogen, von dem größeren Menschenkreise unter der großen Kuppel erlebt werden sollte, und es bedeutete schon etwas, daß Marie Steiner diesen Kultus nach Rudolf Steiners Tod einmal auf die Bühne der sogenannten Schreinerei verpflanzt hatte.

Als Mittelpunkt sollte unter der kleinen Kuppel die Statue des Menschheitsrepräsentanten stehen, unter ihr der Ostaltar. Das zweite Goetheanum sollte wieder alle bisherigen Bauele­mente in sich aufnehmen, auch die Statue des Menschheitsrepräsentanten - so wissen wir es jetzt durch die nachgelassenen Notizen des Herrn Aisenpreis - und es sollte den Kultus auf­nehmen, den bildhaft-künstlerischen wie den ausgebreiteten, das heißt die Anthroposophie, die Rudolf Steiner 1923 den umgekehrten Kultus nannte.

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Man hat es also mit der Einheit Kultus und Tempel, Tempel und Kultus zu tun. Eins ist ohne das andere nicht zu denken. Rudolf Steiner hat beides schrittweis herausgestellt und schrittweis zur Verschmelzung gebracht. Und diese Verschmelzung ist das Goetheanum mit dem anthroposophischen Leben darin. Daher wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, Rudolf Steiner habe für das zweite Goetheanum diesen Baugedanken der Verschmelzung von Kultus mit längst gegebenen Bauelementen aufgegeben und man brauche ihn nicht mehr zu berücksichtigen.

Was man aus der Geschichte der anthroposophischen Bewegung schon ablesen kann, die Zusammengehörigkeit von Architektur und Kultus - diesen im weitesten Sinne -, das wird ganz besonders hell durch die folgenden Ausführungen, die Rudolf Steiner im Rahmen der Dornacher Karma-Vorträge von 1924 am 27. April gemacht hat, beleuchtet:

«...So unempfänglich und unempfindlich für die Schicksalsfrage [wie heute] war die Mensch­heit nicht immer. Man braucht gar nicht sehr weit in der Zeitenwende zurückzugehen, dann findet man, daß die Menschen empfanden, daß die Schicksalsschläge aus anderen Welten herein kommen, daß auch das, was man sich selber als Schicksal macht, aus anderen Welten herein­kommt.

Woher rührte denn das? Das rührte davon her, daß in früheren Epochen die Menschen nicht nur ein instinktives Hellsehen gehabt haben, und als das instinktive Helisehen nicht mehr da war, Traditionen hatten über die Ergebnisse des instinktiven Hellsehens, nein, es waren auch die äußeren Eintichtungen so, daß die Menschen eigentlich die Welt nicht so ober­flächlich, so banal anzusehen brauchten, wie heute im materialistischen Zeitalter die Welt an-gesehen wird. Man redet ja heute vielfach von der Schädiichkeit der bloßen äußerlich-mate­rialistisch-naturalistischen Naturauffassung, die alle Kreise schließlich ergriffen hat ... und man redet davon, daß man so etwas theoretisch bekämpfen soll. Aber das ist nicht das Wichtigste; ... das Wichtigste ist, daß durch die Anschauung, die allerdings den Menschen zur Freiheit gebracht hat und weiter zur Freiheit bringen will, ... auch das, was in früheren Epochen für die äußerliche sinnliche Anschauung des Menschen als ein Heilmittel da war, verloren worden ist.

Natürlich hat auch der Grieche in den ersten griechischen Jahrhunderten - es dauerte ja ziemlich lange - in der Natur ringsherum die äußere Erscheinungswelt gesehen. Er hat so wie die heutigen Menschen auf die Natur hingeschaut... Der Grieche hatte jedoch ein Heilmittel gegen die Schäden, die orginisch in dem Menschen durch das bloße Hinausschauen in die Natur entstehen ... Und eigentlich gilt das überhaupt für das gesamte Wahrnehmen, Hören, Fühlen und so weiter ... es bleiben gewisse Reste unbefriedigt vom Wahrnehmen, wenn man bloß in die Natur hinausschaut.... Wenn der Mensch leben wollte, ohne genügend zu essen, so würde er natürlich immer mehr und mehr herunterkommen im physischen Sinne. Aber wenn der Mensch immer nur in die Natur hinausschaut, kommt er seelisch in bezug auf das Wahr­nehmen herunter. Er bekommt ... die seelische Auszehrung für seine Sinnenwelt. Das wußte man in früheren Mysterienweisheiten...

Aber man wußte auch, wodurch diese Auszehrung ausgeglichen wird. Man wußte, wenn man hinschaute bei der Tempel-Architektur auf das Ebenmaß des Tragenden und Lastenden oder wie im Orient auf die Formen, die eigentlich in äußerer Plastik Moralisches darstellten, wenn man hinschaute auf das, was in den Formen der Architektur sich dem Auge, dem Wahrnehmen überhaupt darbot, oder was dann eben wirklich an Architektur wiederum musikalisch sich darbot, daß darinnen das Heilmittel liegt gegen die Auszehrung der Sinne, wenn diese bloß in die Natur hinausschauen. Und wenn noch der Grieche in seinen Tempel geführt wurde, wo er das Tra­gende und Lastende sah, die Säulen, darüber den Architrav und so weiter, wenn er das wahrnahm,

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was da an innerer Mechanik und Dynamik ihm entgegentrat, dann wurde der Blick ab­geschlossen. In der Natur dagegen stiert der Mensch hinaus, der Blick geht eigentlich ins Un­endliche, und man kommt nie zu Ende. Man kann ja eigentlich Naturwissenschaft für jedes Problem ohne Ende treiben: es geht immer weiter, weiter. Aber es schließt sich der Blick ab, wenn man irgendeine wirkliche Architekturarbeit vor sich hat, die darauf ausgeht, diesen Blick zu fangen, zu entnaturalisieren.

Sehen Sie, da haben Sie das eine, was da war in alten Zeiten: dieses Fangen des Blickes nach außen.

Und wiederum, die gegenwärtige Innenbeobachtung des Menschen, die kommt ja nicht da­zu, wirklich in das menschliche Innere hineinzusteigen. Eigentlich sieht der Mensch, wenn er heute Selbsterkenntnis üben will, so ein Gebrodel von allen möglichen Empfindungen und äußeren Eindrücken. Es ist nichts irgendwie Klares da. Der Mensch kann sich im Inneren ge­wissermaßen nicht erfangen. Er kommt nicht an sein Inneres heran, weil er nicht die Kraft hat, so geistig bildhaft innerlich zu greifen, wie er greifen müßte, wenn er wirklich real an sein Inneres herankommen wollte.

Da wirkt der wirklich mit Inbrunst an den Menschen herankommende Kultus. Alles Kultus­artige aber, nicht nur das äußerlich Kultusartige, sondern das Verstehen der Welt in Bildern, das wirkt so, daß der Mensch in sein Inneres hereinkommt. Solange man mit abstrakten Begrif­fen und Vorstellungen in sein Inneres zur Selbsterkenntnis kommen will, geht es nicht. Sobald man mit Bildern, die einem konkret machen die Seelenerlebnisse, in sein Inneres hinein sich versenkt, da kommt man in dieses Innere. Da erfängt man sich im Inneren.

Wie oft mußte ich daher sagen: der Mensch muß meditieren in Bildern, damit er in sein Inneres wirklich hineinkommt...

Und so hat man, wenn man auf den früheren Menschen zurückblickt, in diesem früheren Menschen dieses: auf der einen Seite wird sein Blick und seine Empfindung nach außen durch das Architektonische gewissermaßen abgeschlossen, in sich abgefangen [durch eine Zeichnung machte Rudolf Steiner das deutlich]; nach innen wird der Blick dadurch abgefangen, daß der Mensch sich sein Seelenleben innerlich vorstellt, wie es ihm dann äußerlich in den Bildern des Kultus vorgestellt werden kann.

Auf der einen Seite kommt man in sein Inneres hinunter, auf der anderen Seite trifft man auf mit dem Blick nach außen auf das, was in der Architektur da ist, in der Tempel-Architek­tur, in der Kirchen-Architektur. Es schließt sich das merkwürdig zusammen. Zwischen dem, was im Inneren lebt, und dem, auf was der Blick hier zurückgeworfen wird [die Architektur ist gemeint], da ist ein Mittelfeld, das ja der Mensch im gewöhnlichen Bewußtsein gar nicht sieht, weil er seinen äußeren Blick heute nicht abfangen läßt von einer wirklichen, verinnerlichten Architektur, und weil er seine Innenschau nicht abfängen läßt von Imaginativem, von Bild­haftem... Gehen Sie herum mit einer durch Imagination vertieften Innenerkenntnis und mit einem durch äußere architektonische Formen, die nun wirklich aus dem Menschlichen heraus erbaut sind, geheilten Sinnesempfinden, dann bekommen Sie die Empfindung, wie sie die älteren Menschen gehabt haben für die Schicksalsschläge. Wenn man das ausbildet, was zwi­schen diesen beiden liegt, zwischen Empfindung des wahrhaft Architektonischen und Empfin­dung des wahrhaft symbolisch nach innen Gehenden, dann findet man die Empfänglichkeit für die Schicksalsschläge. Man empfindet das, was geschieht, als herüberkommend aus früheren Erdenleben...

Aber sehen Sie, es handelt sich ja wirklich darum, daß in der anthroposophischen Bewegung real gedacht wird. Die dem heutigen modernen Menschen angemessene Architektur, die seinen

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Blick in der richtigen Weise abfangen könnte und die sein naturalistisches Schauen, das ihm das Karma verdeckt und verfinstert, allmählich in die Anschauung [des Karma] hätte herein­bringen können, die stand da draußen in einer gewissen Form da. Und daß innerhalb dieser For­men wiederum gesprochen wurde in anthroposophischen Auseinandersetzungen, das gab die Innenschau. Und unter allem anderen, was schon hervorgehoben worden ist, war gerade dieses Goetheanum, dieser Goetheanumbau mit der Art und Weise, wie in ihm immer mehr und mehr Anthroposophie getrieben worden wäre, die Erziehung zum karmischen Schauen. Diese Erzie­hung zum karmischen Schauen, sie muß in die moderne Zivilisation herein.

Aber den Feinden dessen, was herein muß in diese moderne Zivilisation, denen liegt natür­lich daran, daß dasjenige, was im echten, wahren Sinne den Menschen heranerzieht, was not­wendig ist für die Zivilisation, abbrennt»... - und - möchte man hinzufügen - auch nicht in der von Rudolf Steiner unzweideutig überlieferten Form, das heißt mit den uns allen bekannten Bauelementen, wieder ersteht.

Rudolf Steiner schloß die hier wiedergegebene Betrachtung mit dem folgenden Satz: «Und so ist es möglich, auch da in die tieferen Zusammenhänge hineinzuschauen. Aber hoffen wir, daß in Bälde an derselben Stelle wiederum Karma-Schauen erweckende Formen vor uns ste­hen! ...» «Karma-Schauen erweckende Formen» wird noch einmal betont. Kann das jemand miß­verstehen, der das erste Goetheanum gesehen hat? Wer Ohren hat zu hören, der höre ! Auf das Zusammenwirken der Architektur mit der durch Imagination vertieften Innenerkenntnis kommt es an für das Gewinnen der rechten Haltung zu den Schicksalsschlägen. Und von dieser Archi­tektur sagt Rudolf Steiner: «Die dem beutigen modernen Menschen angemessene A+rchitektur, die seinen Blick in der richtigen Weise abfangen könnte und die sein naturalistisches Schauen, das ihm das Karma verdeckt und verfinstert, allmählich in die A+nschauung [des Karma] hätte hereinbringen können, das stand da draußen in einer gewissen Form da ... Und unter allem andern, was schon hervorgeho­ben worden ist, war gerade dieses Goetheanum, dieser Goetheanumbau mit der Art und Weise, wie in ihm immer mehr und mehr Anthroposophie getrieben worden wäre, die Erziehung zum karmischen Schauen. Diese Erziehung zum karmischen Schauen, sie muß in die moderne Zivili­sation herein ...»

Die dem modernen Menschen angemessene Architektur des Goetheanum auf der einen Seite, die Anthroposophie mit allem, was an Kultusartigem, an Esoterischem dazu gehört, auf der anderen Seite, ist also der Weg, der das karmische Schauen in die moderne Zivilisation bringen sollte. Kunst (Architektur), Erkenntnis der geistigen Welt und Religiöses Leben (Kultus) wirken aufs engste zusammen in der recht verstandenen anthroposophischen Bewegung.

Wie sich dies alles in die Geschichte der Architektur hineinstellt, das hat Rudolf Steiner in einem Vortrag auseinandergesetzt, den er am 7. März 1914, also wenige Monate vor dem Aus­bruch des Ersten Weltkrieges, in einem der damaligen esoterischen Kreise in Stuttgart und in dieser Zeit auch anderswo gehalten hat. Es folgt hier von diesem Vortrag ein aus dem Gedächt­nis hergestellter unvollständiger Bericht. Mitzuschreiben war bei diesen Veranstaltungen nicht erlaubt.

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Bei jedem Jahrtausend haben die luziferischen und ahrimanischen Geister eine besondere Macht. Die Menschheit braucht auf das Zehnersystem, das heute das Vorherrschende ist, nicht beson­ders stolz zu sein. Jedes Zahlensystem wird von bestimmten Geistern in die Welt gebracht, und ein jedes hat die Neigung, gewisse Tatsachen und Zusammenhänge von Tatsachen klarer zu zeigen und andere zu verdunkeln, zurücktreten zu lassen.

In dem Zehnersystem wirken nun sehr stark die ahrimanischen Impulse. Es läßt hervortreten die Tatsache, daß bei jedem Jahrtausend, also im Jahre 1000, 2000 und so weiter, ein besonders starker Angriff Luzifers und Ahrimans vereint stattfindet. In den anderen Jahrhunderten halten sie sich mehr das Gleichgewicht. Indem Jahrhundert aber,wo man schrieb 9.., also auch in unserem Jahrhundert 19.., wenn es gegen das neue Jahrtausend geht, vereinigen sie sich und wirken zusammen auf die Menschen ein. Diese Tatsache lebt noch in dem Volksglauben, daß während tausend Jahren Luzifer und Ahriman an der Kette liegen und daß sie dann für kurze Zeit losgelassen werden.

In den vorchristlichen Jahrtausenden 1000, 2000, 3000 v. Chr. war es so, daß dann zu gleicher Zeit ein besonders starker Einfluß der guten, fortschreitenden Mächte stattfand, der diese ver­einigte luziferisch-ahrimanische Wirkung im Zaume hielt und ein besonders Gutes daraus ent­stehen ließ. So sehen wir, wie im Jahre 3000 v. Chr. die Pyramiden gebaut wurden. Im Jahre 2000 war es das Zeitalter Abrahams und alles, was daraus entstand; zugleich ein Höhepunkt der baby­lonischen Kultur. Im Jahre 1000 v. Chr. war das Zeitalter Davids. Der Bau des salomonischen Tempels wurde vorbereitet. Im Jahre Null erschien der Christus. Wir haben oft auseinander­gesetzt, wie nach den Evangelien und besonders nach dem fünften Evangelium, der Christus den Kampf mit Luzifer und Ahriman aufnehmen mußte. In den nachchristlichen Zeiten aber konnten die guten, fortschreitenden Geister nicht mehr so eingreifen; die Menschheit wurde überlassen den Angriffen Luzifers und Ahrimans. Diese erreichten jedenfalls dieses, daß sie das Denken der Menschen verwirrten, daß sie einen Irrtum Zugang finden ließen, den Irrtum von dem herrannahenden physischen Ende der Welt. Sie haben immer ein Interesse daran, daß die Dinge viel zu räumlich-zeitlich vorgestellt werden.

In dieser Zeit kam zum ersten Mal ein Beweis für das Dasein Gottes auf, den der Bischof von Canterbury brachte, sowie die Auffassungen seines Gegners Roscellin. In dieser Zeit war es auch, daß die Päpste, das Prinzip der christlichen Demut mit Füßen tretend, sich erhoben in äußerer Macht, daß Kaiser Heinrich sich in Canossa vor dem Papst erniedrigen mußte, als die ganze äußere Kirche zu Gebräuchen kam, die ein Hohngelächter der ahrimanischen Geister erweckten.

Diese ahrimanischen Geister sind es, die jetzt wiederum ihren Einfluß geltend machen, da wir uns dem Jahre 2000 nähern. Aber die Entwickelung geht in Pendelschlägen: im Jahre 1000 er­wartete man das Ende der Welt, im Jahre 2000 erwartet man genau das Gegenteil, im Jahre 3000 wird man wiederum das Ende der Welt erwarten, aber die Welt wird dann so geworden sein, daß ganze Völkerschaften dieses Ende der Welt herbeisehnen werden. Man kann es ohne Senti­mentalität sagen: die europaische Menschheit geht furchtbaren Zeiten entgegen.

Nehmen wir die Baukunst und die Einflüsse auf diese. Im Jahre 3000 v.Chr. wurden die Pyramiden gebaut, im Jahre 2000 kamen die Hüttenbauten (Abrahams Zeitalter). Im Jahre 1000 v.Chr. wurde der Tempel Salomos vorbereitet. Im Jahre 1000 n.Chr. konnte sich das Neue, das kommen sollte, nicht durchringen infolge der entgegenwirkenden Kräfte Luzifers und Ahri­mans. Wir sehen die Normannen, die aus Skandinavien sich über West- und Mitteleuropa ver­breiteten, wie sie in ihren Holzbauten etwas auszudrücken versuchten, was nicht zur völligen Entwickelung hat kommen können. Gewisse Linien sind darin veranlagt, aber nicht weiter ausgearbeitet,

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weil der ahrimanische Einfluß es verhinderte. Statt dessen kam die Maurenkultur auf und die Architektur von Cordova und Granada, der Hufeisenbogen und der Spitzbogen, welche verdrängen den wahrhaft christlichen Rundbogen der romanischen Architektur. In der Maurenkultur kann man unmittelbar den antichristlichen Einschlag sehen in dem Spitzzulaufen der Bögen, die eigentlich hätten rund sein sollen. Das ist Ahrimans Zeichen. So wirkte Ahri-man als der Antichrist in der Baukunst, indem er den runden romanischen Bogen ersetzte durch den Hufeisen- oder Spitzbogen. So wirkte er durch die Mauren und auch durch die Türken; so ließ er die Kunst der Normannen nicht zur Entwickelung kommen, deren Holzbauten, welche sie in ganz Europa errichteten, nicht dasjenige geben konnten, was sie hätten sein sollen. So kommt es, daß wir aus dem Jahre 1000 nicht die Bauwerke finden, wie aus früheren Jahrtau­sendwenden.

Jetzt soll aber von neuem die Architektur für das neue Jahrtausend geschaffen werden. Jetzt müssen wir ausdrücken die runden Linien, die Ahriman in den normannischen Bauten unter­drückte, wir müssen auskssen gewisse Linien, die man in diesen findet, dann hat man unseren Dornacher Bau, die wahre Fortsetzung der Holzbauten der Normannen.

Furchtbare Zeiten aber stehen der Menschheit in Europa bevor. Wir wissen, daß, wenn das erste Drittel dieses Jahrhunderts vorbei ist, der Christus geschaut werden wird in seiner Äther-gestalt und daß dies einen gewaltigen Impuls abgeben wird neben all den untergehenden Nei­gungen dieses Jahrhunderts. In den älteren Zeiten, wie zum Beispiel beim Jahr 1000, mußten die Menschen wohl glauben, was Luzifer und Ahriman ihnen weismachten, weil sie den wahren, bewußten Christus4mpuls noch nicht in sich hatten. Wir aber müssen nicht mehr, wir sollen freiwillig diesen neuen Christus-Impuls aufnehmen, damit wir Luzifer und Ahriman Widerstand leisten können. Es wird so sein im 20. Jahrhundert, daß Luzifer und Ahriman sich insbesondere bemächtigen werden des Namens des Christus. Menschen werden sich Christen nennen, die von dem wahren Christentum keine Spur mehr in sich haben werden; und sie werden wüten gegen diejenigen, die sich nicht nur allein halten an das, was der Christus einmal nach der Überliefe­rung der Evangelien gesagt hat, sondern für welche gilt das Wort: «Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Erdenzeiten», die sich richten werden nach dem lebendigen, fortwirkenden Christus-Impuls. Gegen diese wird man wüten. Verwirrung und Verwüstung wird herrschen, wenn das Jahr 2000 herannaht. Und dann wird auch von unserem Dornacher Bau kein Holz-stück mehr auf dem anderen liegen. Alles wird zerstört und verwüstet werden. Darauf werden wir von der geistigen Welt aus herabschauen. Aber wenn das Jahr 2086 kommt, wird man über­all in Europa aufsteigen sehen Bauten, die geistigen Zielen gewidmet sind und die Abbilder sein werden von unserem Dornacher Bau mit seinen zwei Kuppeln. Das wird die goldene Zeit sein für solche Bauten, in denen das geistige Leben blühen wird.»

Ein ganz konkretes Ziel ist vor uns gestellt. Denn wir, das heißt die Menschen, die den anthroposophischen Impuls in sich aufgenommen haben, sind aufgerufen, in einer gar nicht so langen Zeitspanne dahin zu wirken, daß Bauten aufsteigen werden «die A+bbilder sein werden von unserem Dornacher Bau mit seinen zwei Kuppeln». Ohne unsere Anstrengungen, ohne unseren Ein­satz und unsere Zähigkeit werden sie aber nicht aufsteigen. Und wenn die Haltung, die jetzt über die wesentlichen Elemente des Goetheanumbaugedankens hinweggehen will, bestehen bleibt, obgleich kein Zweifel darüber bestehen kann, daß Rudolf Steiner an ihnen festhalten wollte, dann werden eben diese Bauten nicht entstehen, weil das wesentliche Gegenstück zur Anthroposophie als der Ausbreitung des Kultus der Gegenwart fehlen wird, weil die Anthro­posophie ihrer spirituellen Kraft verlustig gehen müßte, wenn man das, was Rudolf Steiner als

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integrierendes Element ihrer Wirksamkeit bezeichnet hat, austilgt. Anthroposophie müßte dann zu einer intellektuellen und dogmatischen Lehre werden.

Die Situation ist also die folgende: Rudolf Steiner hat den Goetheanumbaugedanken in Form konkreter Bauelemente hinterlassen, er hat die Bedeutung der nach diesen Gedanken er-richteten Bauten entwickelt aus ihrem Zusammenspiel im Bewußtsein des Menschen mit der aus der intellektuellen Selbstvorstellung entwickelten bildhaften Innenschau und mit dieser zusammen für das Gewinnen der Karmaanschauung. Er hat damit die zivilisatorische Gesamt-aufgabe der anthroposophischen Bewegung entwickelt, die ausgehen soll aus der nach außen gerichteten, das Sinnesempfinden gesundenden Tempelschau, der durch Imagination vertieften Innenschau und der aus beider Gleichgewicht erblühenden Karmaschau. - Der Baugedanke hat in verschiedenen Gestalten unter uns gelebt, im Münchner Kongreß, in den Mysterienspielen, dort im Zusammenklang mit dem Kultus, in Malsch als Urmodell, in Stuttgart als Sanktuarium und endlich in Dornach in seinem unvergeßlich hohen Glanze, und steht heute als ein Torso da ... [Rudolf Steiner konnte für das zweite Goetheanum nur noch das Außenmodell schaf­fen.)

Tatsächlich ist es aber doch so, daß die eindringliche Beschäftigung mit dem Baugedanken Rudolf Steiners, wie er konkret ja schon seit 1907 vorliegt, im Zusammenkiang mit dem inneren Wesen der Anthroposophie als ausgebreiteter Esoterik uns schrittweise fähig macht, den Sinn dieses Bauimpulses immer besser zu verstehen.

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BRIEFWECHSEL RANZENBERGERISTOCKMEYER

über den Modellbau in Malsch

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[Dornach, 24. Januar 1956]

Lieber Herr Stockmeyer !

Es ist mir eine innere Notwendigkeit, Ihnen ganz herzlich für Ihre freundliche Erlaubnis zum Besuche Ihres Malscher Tempel-Eigentums zu danken. Ich war entzückt und begeistert von demselben, und bin

es natürlich noch und werde es immer sein. Man möchte dessen Instandsetzung sofort in die Hand nehmen. Dann würden die vielen kleinen Formwunder, welche man Ihrer intensiven mathematisch­geometrischen Bearbeitung verdankt, voll zur Geltung kommen. Es ist eine ganz und gar durchgearbei­tete Sache. Trotz des rohen Zustandes spürt man überall das disziplinierte Kraft-Geist-Gerüste dieses Weihe-Kultraumes. Ein ätherisch rein Geistiges ist sichtbar-unsichtbar wesenhaft allgegenwärtig. Die sachlich klare Geistigkeit in der Form offenbart sich zum Beispiel an den asymmetrisch gegen die Säulen ansteigenden Bögen von diesen zur Umfassungswand. Diese sind das Beste, was ich je an asymmetrischen Bögen gesehen und erlebt habe. Wie wunderbar ist die zunächst langsame und dann immer intensiver werdende innere Anspannung dieser Bögen nach Maßgabe der Belastung, welche im Scheitel ihr Maxi­mum erreicht, um dann wie nach vollzogener Leistung mit einer kleinen, nahezu vertikalen Linie auf die Säulen abzusinken. Wie geruhsam, leicht, elegant wachsen nicht zuvor die asymmetrischen Bögen aus der Wand heraus. Ein anderes Beispiel von lebendig bewegtem und diszipliniertem Formenspiel ist der Durchblick oder vielmehr Auf blick zu den Gewölbeansätzen, zu den Querbögen und zu den dazwischen entstehenden leicht gekrümmten Gewölbeflächen vom Eingang her. Dort ist alles in sich «mathe­matisch» verlebendigt. Gerade diese Partie müßte, subtil verputzt, einen reinen geistigen «Genuß» für

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den plastischen Sinn und für das Auge ergeben. Besonders eindrucksvoll war für mich zum Beispiel auch die plastische, negativ wirkende Kraft zwischen den vorgenannten asymmetrischen Bögen. Diese «Gewölbekappen» sitzen, ihre Hohlform hat als Hohlraum starke Kraft.

Von meinen Eindrücken «allgemeiner» Natur schweige ich absichtlich; diese dürften bei vielen Mit­gliedern der Antliroposophischen Gesellschaft übereinstimmen und Ihnen daher, lieber Herr Stockmeyer, wohl bekannt sein. Wenn man seine vielen an historischen Kultbauten gewonnenen inneren Eindrücke abwägt, dann steht das «kleine Malsch» heute höchst bedeutungsvoll neben diesen, denn es ist ganz neu

und von aktueller realer Geistsubstanz erfüllt. Mit herzlichen Grüßen und den allerbesten Wünschen für eine baldige Genesung

Ihr

Hermann Ranzenberger

[Malsch, 27. Januar 1956]

Lieber Herr Ranzenberger !

Mit Ihrem Brief haben Sie mir ein ganz großes Geschenk gemacht. - Viele haben schon den kleinen Modellbau gesehen. Viele haben Eindrücke davon empfangen und Freude daran erlebt, haben die Bezie­hung zum Goetheanum, vor allem zum alten gesucht, aber so wie Sie, hat noch niemand über diesen Versuch zur Realisierung einer Idee gesprochen. Und daß das derjenige ist, der die ganze Arbeit am alten und am neuen Goetheanum als Architekt mitgemacht hat, dessen Blick für Baukünstlerisches von Rudolf Steiner selbst geschult ist, das war mir besonders bedeutsam.

Sie haben gleich herausgefanden, daß hier die einzelnen Bauelemente nicht zusammengestellt sind, sondern daß sie aus dem einheitlichen Baugedanken sich mit Notwendigkeit ergaben, wie sie dann ent­standen sind. Was Sie besonders hervorheben, die asymmetrischen Bögen, zwischen der Wand und den Säulen, konnte gar nicht anders als nur so gebildet werden. Sie sind in sonst so verschieden Gestaltetem das einzige, was in völliger Gleichheit vierzehnmal wiederkehrt. Ihre Form, die Sie so schön finden, ist durch die Forderung gegeben, die Seitengewölbe alle als Ellipsoide (dreiachsig) zu bilden. Diese Forde­rung Rudolf Steiners konnte nun nur verwirklicht werden, wenn die Räume, die von diesen Ellipsoid-Kuppeln überdeckt werden sollten, symmetrische Trapezform (im Grundriß) haben. Dann konnte ich auch erreichen, daß diese kleinen Ellipsoide mit senkrechten Tangenten in die Säulen-Architrave und in die Außenwand übergehen sollten. Dabei war noch eine Forderung zu erfüllen, die ich mir selber stellte:

daß nämlich die Hauptachse der Ellipsoide (größte Achsen) Tangenten des Hauptgewölbes sein sollten, weil sie ja - neben den Säule-Wand-Bögen - den Seitenschub des Hauptgewölbes aufnehmen sollten. Dieser Schub wird also von den kleinen Ellipsoiden an der empfindungsgemäß günstigsten Stelle auf-genommen; und die Gurtbögen helfen noch mit dabei, indem sie mit ihrem (geometrischen) Haupt-scheitel, der nicht oben, sondern seitlich liegt, sich gegen das Hauptgewölbe stemmen. In der Tat emp­findet man diese kleinen Ellipsoide, wie Sie schreiben, als Hohlform mit starker Kraft.

Durchdringungen von Ellipsoiden kommen hier in großer Zahi vor. Wenn man nur gering rechnet, sind es 42. Dafür fehlt die große Durchdringung (der kleinen mit der großen Kuppel) vom alten Goetheanum. Unter diesen 42 sind aber 2 Durchdringungen, die sich doch mit der am alten Goetheanum vergleichen lassen, die zwischen dem Hauptgewölbe, und den zwei besonders großen Seitenellipsoiden im Osten und im Westen. Die im Westen wird leicht übersehen, weil dort das Wandstück heraus­genommen ist, so daß eine Verbindungsöffnung zum Vorraum entstehen konnte.

Meine Frage bei der ganzen Ausgestaltung war immer: Was inüß sein, um die Forderung Rudolf Steiners zu erfüllen. Nichts ist deshalb da, was aus Willkür, aus freier Phantasie gebildet worden wäre.

Mit vielen herzlichen Grüßen Ihr

Stockmeyer

HINWEISE DES HERAUSGEBERS

#G284-1977-SE171 Bilder okkulter siegel und Säulen

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HINWEISE DES HERAUSGEBERS

HINWEISE ZUM TEXTTEIL

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Die Nachschriften der Münchner Kongreßvorträge stammen von Georg Klenk, München. Sie wurden für die vorliegende Neuausgabe verglichen nut den Notizen von Ludwig Kleeberg, Kassel, und Franz Seiler, Berlin. Veränderungen gegenüber der Ausgabe von 1957 gehen auf diesen Textvergleich zurück. Hinzufügungen in eckigen Klammern stammen vom Herausgeber. Die Notizen von der Ansprache bei der Grundsteinlegung in Malsch wurden von Hilde Stockmeyer, Malsch, aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Die Nachschriften der Berliner Vorträge sind von Franz Seiler, Berlin, diejenigen der Stuttgarter Vorträge von Carl Unger, Sturt-gart. Lediglich der Nachschreiber des Stuttgarter Vortrages vom 16. September 1907 ist nicht bekannt.

Frühere Einzelausgaben (zum Bildteil vergleiche auch Seite 10 unten>: Stuttgart, 15. und 16. Oktober 1911 unter dem Titel «Die okkulten Gesichtspunkte des Stuttgarter Baues. In welchem Sinne sind wir Theosophen und in welchem Sinne sind wir Rosenkreuzer?», Berlin 1912.

In Zeitschriften waren folgende Vorträge abgedruckt:

München, 19. und 20. Mai 1907, Stuttgart, 16. September 1907 und Penmaenmawr, 24. August 1923 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht - Nachrichten für deren Mitglieder», 25. Jahrgang (1948) bzw. 13. Jahrgang (1936).

Berlin, 20. Oktober 1907 und Stuttgart, 15. Oktober 1911 (Einweihungsrede) in «Mitteilungen für die Mit­glieder der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft» Nr. VI, Februar 1908 bzw. Nr. XII, Novem­ber 1911.

Bei den angeführten Werken von Rudolf Steiner wurde, soweit sie innerhalb der Rudolf Steiner Gesamt-ausgabe erschienen, die Bibliographie-Nummer angegeben (vgl. Rudolf Steiner, Das literarische und künst­lerische Werk. Eine bibliographische Übersicht, Dornach 1961). Nähere Angaben sind dem Katalog des Rudolf Steiner Verlages zu entnehmen.

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15 Arild von Rosenkrantz: Ein dänischer Künstier, der damals in England lebte. Von 1914/15 bis 1916 malte er in Dornzch in der Kleinen Kuppel des ersten Goetheanums das Mittelmotiv, das aber 1917/18 auf Wunsch der anderen Maler und rnit seinem Einverständnis von Rudolf Steiner selbst gemalt wurde.

15 Goetheanum, wie es in der Zukunft aussehen wird: Darüber hat sich Rudolf Steiner in diesen Ausführungen dann doch nicht geäußert. Das Modell für das zweite Goetheanum entstand auch erst im Frühjahr 1924.

15 während meiner Vorträge hier: Gemeint sind die während der Internationalen Sommerschule vom 18. bis

31.August 1923 in Penmaenmawr gehaltenen Vorträge «Initiationserkenntnis», Bibl.-Nr. 227.

16 als das alte, verbrannte Goetheanum gebaut wurde: Siehe Bibl.-Nr. 290 «Der Baugedanke des Goetheanum» rait 104 Abbildungen.

30 Bernhard Stavenhagen, 1862 Grelit/Vogtiand bis 1914 Genf. 1885-1897/98 in Weimar, bis 1907 in Mün­chen, bis 1914 in Genf. Stavenhagen war einer der Lieblingsschüler Liszts, gehörte zu den glanzvollsten Virtuosen seiner Schule und unternahm zahlreiche erfolgreiche Konzertreisen in Europa und Amerika. Rudolf Steiner und Stavenhagen waren von ihrer gemeinsamen Weimarer Zeit her befreundet, wo Stavenhagen seit 1890 großherzoglich-sächsischer Hofpianist und seit 1895 Hofkapellmeister war. In München übernahm er bis 1902 die Stelle von Richard Strauß als Dirigent der Hofoper; 1901-1904 Direktor der Akademie der Tonkunst und Leiter einer Meisterklasse für Klavier. Von 1904-1907 wieder stärker als Solist und Konzertdirigent (vor allem des Kaim-Orchesters) tätig. In Genf war er Dirigent der Abonnementskonzerte und Leiter einer Meisterklasse am Konservatorium.

33 Diese Kongresse, die vorher in London, Amsterdam, Paris abgehalten wurden: In London fand am 4. Juli 1903, gelegentlich der Generalversammlung der Britischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, die erste Versannnlung der Föderation der Europäischen Sektionen der Theosophischen Gesellschaft, bestehend aus einer britischen, holländischen, französischen, italienischen und deutschen Sektion, statt. Dabei wurde der Beschluß gefaßt, jährliche Kongresse - jeweils in einer anderen Landessektion - zu veranstalten. Der erste

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dieser Kongresse fand 1904 in Amsterdam, der zweite 1905 in London, der dritte 1906 in Paris und der vierte 1907 in München unter Leitung von Rudolf Steiner statt. Von da ab erfolgten sie nur noch alle zwei Jahre. Der fünfte war somit 1909 in Budapest und der sechste sollte 1911 in Genua stattfinden, doch kam er aus den in Marie Steiners Aufsatz auf Seite 97£ geschilderten Gründen nicht zustande.

34 Mark von Sivers, später Marie Steiner, 1867-1948. Siehe Rudolf Steiner «Mein Lebensgang», Bibl.-Nr. 28 und Rudolf Steiner/Marie Steiner-von Sivers, Briefwechsel und Dokumente 1901-1925, Bibl.-Nr. 262.

34 Edouard Schuré, 1841-1929. Französischer Schriftsteller und Mitglied der Theosophischen, später Anthro­posophischen Gesellschaft. Vgl. Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», Bibl.-Nr. 28.

34 Marie von Sivers hatte Schurés Rekonstruktion des eleusinischen Dramas schon vor langer Zeit ubersetzt. Ich richtete es sprach/ich für eine Aufführung ein: Erschienen Dornach 1939 «Das heilige Drama von Eleusis. Rekon-struiert durch Edouard Schuré. In freie Rhythmen gebracht durch Rudolf Steiner».

34 Föderation Europäischer Sektionen: Siehe Hinweis zu Seite 33.

34 Das Programm ist vor längerer Zeit ... versendet worden: Vgl. hierüber Seite 24.

37 Einem Kenner dieser Dinge kann aufgefallen sein, daß einzelne unserer Siegel mit dem, was er darüber in dem oder jenem Werke findet, übereinstimmen; andere aber nicht: Zum Vergleich bringen wir eine derartige Wiedergabe aus Eliphas Levi «Dogme et Rituel de la haute Magie» 1861, 2. Band nach Seite 364. Das bei Levi noch bildlose 7. Siegel wurde erst von Rudolf Steiner ins Bild gebracht.

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38 Unter den körperlichen Organen und Ausdrucksformen des Menschen sind sokhe, die in ihrer gegenwärtig en Gestak die abwäftsgehenaen Entwickelungsstuftn früherer Formen darstellen ... andere aber stellen die Anfangsstufin der Ent-wickelung dar: Jede Entwicklung verläuft in Zyklen, zuerst in absteigender Richtung aus Geistigem in Stofflichkeit, um dann in aufsteigender Richtung aus dem Stoff zum Geistigen zurüclczukehren. Im Vor­trag Berlin, 27. Januar 1908 (Bibl.-Nr. 102) heißt es: «... Ja, es sind jetzt gewisse Kräfte da, die im Men­schen aus- und einziehen, Kräfte, die heruntersteigen, und Kräfte, die aufsteigen. Für eine jede von sol­chen Kräften ist einmal der Moment da, wo sie aus niedersteigenden in aufsteigende Kräfte sich ver­wandeln. Alle Kräfte, die aufsteigende Kräfte werden, sind zuerst niedersteigend. Sie steigen sozusagen bis zum Menschen herunter. Im Menschen erringen sie sich die Kraft des Aufsteigens.»

39 zwei Säulen ... Dk Buchstaben auf diesen Säulen: Siehe den Sonderhinweis «Zur goldenen Legende und zu den beiden Säulen» auf Seite 187f.

39 das siebente Siegel ist das von dem « Mysterium des Gral»: In seiner drei Jahre nach dem Münchner Kongreß (1910) erschienenen «Geheimwissenschaft im Umriß», Kapitel VI: Gegenwart und Zukunft der Welt- und Menschheitsentwickelung, gibt Rudolf Steiner folgende Beschreibung des Gralsymbols: « Man kann das , welches von dieser Seite [der des Einfließens der Erkenntnisse neuzeitlichen übersinn­lichen Bewußtseins] die Menschheit ergreift und immer mehr ergreifen wird, nach einem Symbol die Er-kenntnis vom nennen. Wer dieses Symbol, wie es in der Erzählung und Sage gegeben ist, seiner tieferen Bedeutung nach verstehen lernt, wird nämlich finden, daß es bedeutungsvoll das Wesen dessen ver­sinnlicht, was oben die Erkenntnis der neuen Einweihung, mit dem Christus-Geheirnnis in der Mitte, genannt worden ist. Zu der führt der , welcher in diesem Buche in seinen ersten Stufen beschrieben worden ist.... In dem Maße, als die Entwickelung der Menschheit die Erkenntnisse des Grales aufsaugen wird, kann der Impuls, welcher durch das Christus­Ereignis gegeben ist, immer bedeutsamer werden. An die äußere Seite der christlichen Entwickelung wird sich immer mehr die innere anschließen. Was durch Imagination, Inspiration, Intuition über die höheren Welten in Verbindung mit dem Christus-Geheimnis erkannt werden kann, wird das Vorstellungs-, Gefühis­und Willensleben der Menschen immer mehr durchdringen. Das wird offenbar werden; es wird als eine innere Kraft die Lebensäußerungen der Menschen immer mehr durch­dringen.»

39 Natürlich entspricht die Anordnung in München nicht ganz der in dem « Rosenkreuzerinitiationstempel», denn da ist jede sokhe Säule doppelt: Im Malscher Modellbau, im Stuttgarter Säulensaal und im Ersten Goetheanum wurde dies so ausgeführt.

40 Die Kapitäle dieser Säulen stellen die planetarische Entwickelung unseres Eraensystems dar: Im Programm des Kongresses heißt es: «Die sieben im Umkreise des Hauptsaales befindlichen Säulensklzzen stellen die Ent­wickelung des Makrokosmos dar. Sie sind nach okkulten Angaben gemalt durch Karl Stahl.»

40 Das Genauere darüber findet man ja in denjenigen Auftätzen dieser Zeitschrift ... «Aus der Akasha-Ghronik»:

Diese Aufsätze erschienen erstmals in der Zeitschrift « Luzifer-Gnosis». Buchausgabe Bibl.-Nr. iI.

40 die korinthische und die ionische Säule ... Und die Architektur der Zukunft: Siehe Rudolf Steiner «Wege zu einem neuen Baustil», Bibl.-Nr. 286.

41 Den Stimmungsgrundton ... auch schon in dem Programmbuch ... im blauen ovalen Feld ein schwarzes Kreuz, mit roten Rosen umwunden: Siehe Tafel 1. Daß hier um das Kreuz acht Rosen stehen, erklärte Rudolf Steiner mit Brief an Wilhelm Hübbe-Schleiden vom 15. November 1908 so:« Siegel Rosenkreuz: blauer Grund -schwarzes Kreuz - 7 Sterne (in München sollte exoterisch acht für esoterisch sieben stehen).»

41 Aber von der wahren Rosenkreuzerei weiß gegenwärtig überhaupt niemand noch etwas, der ihr nicht durch die Mittel der Geheimwissenschaft nahegetreten ist: Siehe Rudolf Steiner «Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit», Bibl.-Nr. 130.

43 Männer, deren Büsten hier vor Ihnen stehen: Es handelte sich um die Büsten der drei großen deutschen Idealisten Johann Gottlieb Fichte (1762-1814>, Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Friedrich

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Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854), die von Rudolf Steiner auch im Berliner Zweigraum aufgestellt wurden. Siehe auch Rudolf Steiner in «Vom Menschenrätsel», Bibl.-Nr. 20.

43 Hegel-Zitat: In der Einieitung seiner Vorlesungen über die «Philosophie der Geschichte» heißt es wört­lich: «Die Geschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, - ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.» Hegels Werke, Verlag Duncker und Hublot, Band 9 Seite 24, 3. Auflage Berlin 1848. Nach Ludwig Kleeberg benutzte Rudolf Steiner damals die Reclam-Ausgabe.

44 die alte ptolemäische Weltanschauung... Kopernikus: Claudius Ptolemäus (87-165), Astronom und Geograph, stellte die Erde in den Mittelpunkt seines Weltbildes, dagegen Nikolaus Kopernikus (1473-1543) die Sonne.

44 was die Hermesdiener meinten, wenn sie sagten: Es ist unten alles wie oben: Es handelt sich um den ersten Satz der sogenannten Tabula smaragdina, deren Ursprung dem Hermes Trismegistos zugeschrieben wird. Nach der Legende soll Alexander der Große bei der Eroberung Ägyptens in einer Grabkammer der großen Pyramide von Gizeh den Händen des Hermes Trismegistos diese mit einer Inschrift versehene smaragdene Tafel entwunden haben. Der Text wurde im Westen im 12. Jahrhundert durch Albertus Magnus in lateinischer Sprache bekannt. Im Jahre 1923 wurden wieder in Ägypten - in einem Grab in Theben - zwei Papyri in arabischer Sprache aus dem 9. Jahrhundert gefunden, die den Text der Tabula smaragdina enthielten. Siehe Julius Ruska, Tabula smaragdina, Heidelberg 1926.

45 Rosenkreuzerströmung: Siehe Hinweis zu Seite 41.

46 Dionysius Areopagita ... Pseudo-Dionysius> der im 6. Jahrhundert gelebt und alle großen Bücher geschrieben haben soll: Rudolf Steiner machte anderweitig verschiedentlich darauf aufmerksam, daß der Inhalt der von 533 n.Chr. an erwähnten Schriften des Dionysius-Areopagita tatsächlich auf diesen in der Apostelgeschichte (17, 34) erwähnten zurückgehen, der von dem Apostel Paulus als Vorsteher der von ihm in Athen begrün­deten esoterischen Schule eingesetzt worden sei. Gemäß der in alten Zeiten herrschenden Tradition wurde solches Weisheitsgut nur mündlich fortgepflanzt und auch der Name des Lehrers auf den Schüler übertragen. Es hat also eine tiefere Bedeutung, daß der Verfasser im 6. Jahrhundert so spricht, wie wenn er Schüler des heiligen Paulus gewesen wäre, was die theologische Forschung glaubte, als eine Fälschung bezeichnen zu müssen.

48 Hegel ... leben im reinen Gedanken: Vgl. hlerzu Rudolf Steiner «Vom Menschenrätsel», Bibl.-Nr. 20.

48 Eduardvon Hartmann, 1842-1906. Der bekannte Phllosoph des «Unbewußten». Vgl. hierzu Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang», Bibl.-Nr. 28.

49 Meine «Philosophie der Freiheit»: Erschienen 1894. Bibl.-Nr. 4.

49 «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis...»: Goethe, Faust II, Schlußchor.

49 die drei Logoi: In der theosophischen Literatur die Bezeichnung für die göttliche Dreieinigkeit. Vater, Sohn oder Wort und Heiliger Geist sind die drei Logoi.

49 Selbst die neuere materialistüche Gelehrsamkeit hatja wieder darauf aufmerksam gemacht, daß, wenn wir die Pflanze mit dem Menschen vergleichen, wir die Wurzel mit dem Kopf vergleichen müssen: Vermutlich hat Rudolf Steiner hler Gottlieb Haberlandts «Physiologische Pflanzenanatomie», 1. Auflage 1884 im Auge. Vgl. auch Rudolf Steiners Vortrag Berlin, 8. Dezember 1910 «Der Geist im Pflanzenreich» in Bibl.-Nr. 60 «Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins»

50 Kama: Theosophische Bezeichnung für das niedere Astrale.

50 «Die Sonne tönt nach alter Weise...»: Goethe, Faust I, Prolog im Himmel. «Tönend wird für Geistesohren...»:

Faust II, Arielszene.

50 7> 3, 7, 72. So tönen in der geistigen Welt die niederen vier Glieder der Menschennatur harmonisch zusammen: Vgl. hierzu auch Vortrag Köln, 29. Dezember 1907. Bisher nur abgedruckt in «Was in der Antliroposophischen

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Gesellschaft vorgeht. Nachrichten für deren Mitglieder», 1948, Nr.34-39. Innerhalb der Gesamtausgabe vorgesehen für Bibl.-Nr. 101.

50 eine merkwürdige Stelle in einer deutschen Zeitung: Jm «Reichsanzeiger» vom 8. Oktober 1796 erschien von Karl Arnold Kortum eine Abhandlung über den Stein der Weisen. Den Quellennachweis erbrachte Lud­wig Kleeberg in seinem Buch «Wege und Worte», 2.Auflage Stuttgart 1961, Fußnote zu Seite 131.

51 Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim, 1493-1541> sagt einmal: Wörtlich lautet dieser Text:

«Dan das wil ich bezeugen mit der natur: der sie durchforschen wil, der muß mit den füßen ire bücher treten. die geschrift wird erforschet durch ire buchstaben, die natur aber durch lant zu lant: als oft ein lant als oft ein blat. also ist codex naturae, also muß man ire bletter umbkeren.» Zitiert nach Sudhoff, Paracelsus' sämtliche Werke, 2. Band, «Die vierte Defension», Seite 145/46, München 1924.

52 Von der Gewalt, die alle Wesen bindet...: Aus Goethes Fragment «Die Geheimnisse».

53 Heute vormittag haben wir gehört: In einem Vortrag von Annie Besant.

54 Definition des Grundes> warum dieser Leib Astralleib heißt..., wekhe Paracelsus gegeben hat: Welche Stelle Rudolf Steiner meinte, ließ sich nicht genau feststellen. Jn dieser Richtung bewegt sich zum Beispiel die Darstellung «Von der magnetischen kraft der mumia im menschen» in der Ausgabe von Karl Sudhoff, 14. Band (1933) Seite 650:

«Von der magnetischen kraft der mumia im menschen. - Der siderische geist und leib ist ein solcher ma­gnet und magnetischen natur in dem menschen und ist der geborne geist aus dem gestirn, wie die auguria ausweisent, und solcher geist und siderische leib ist vereiniget mit dem gestirn. und erstlichen solche magnetische kraft des siderischen leibes im elementischen leib des menschen probiren wir euch also. diser siderische leib ist gegen dem elementischen irdischen corpus des menschen ein geist und verbringet auch geistliche operationes; dan wie der irdisch magnet mit seinem leib ein geist ist und an sich zeucht, also auch ziehen an sich der leib und geist des siderischen leibes und geistes im menschen: dis ist der magnes microcosmi. der siderische leib und geist zeucht an sich die kreft des gestirns, als ir wol merkent an den monsüchtigen leuten mit dem neuen mon; da treibet der siderische leibgeist und magnet des menschen herfür die eigenschaft des neuen monden. und wie der mon der ist, so durch die magnetische kraft des siderischen angebornen leibs und geistes im menschen angezogen wird, ein eigenschaft hat, art und gemeinschaft, das der praecursus lunze macrocosmi im menschen gemerket wird in und zur zeit des neuen monden, so der lunaticus schwermet, bollert und ungestümb ist und solcher lunaticus gleich in solcher zeit redet, wie einer der vom most und wein trunken were; da werden gemerket die convenientiae, eigenschaften und gemeinschaften solcher magnetischen kreft, so der geist und siderische leib des men­schen hat mit dem gestirn. und merket das recht, der mon der großen welt ist ein spiegel und corpus, darinne der siderische geistieib und magnes des menschen im schlaf sihet und nimpt al die treum, so imer dem menschen im schlaf fürkomen aus ime; daher nemen sich die treume und das im schlaf geret wird.» Siehe hierzu Rudolf Steiners Ausführungen im Vortrag Berlin, 26. April 1906 über «Paracelsus» in Bibl.-Nr. 54 «Die Welträtsel und die Anthroposophie».

55 Jean Paul sagt uns: Jean Paul Friedrich Richter, 1763-1825. «Nie vergeß ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustür und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht, ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehenblieb: da hatte mein Ich zum erstenmal sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich denkbar, da kein fremdes Erzählen sich in eine bloß im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit Zusätzen mengen konnte.» Zitiert nach «Wahrheit aus Jean Pauls Leben. Kindheitsgeschichte von ihm selbst geschriehen» (3 Hefte in 2 Bänden), Breslau 1826-1828; 1. Heft, S. 53.

55 Franz von Assisi> 1181/82-1226.

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61 Atlantis... die die Naturwissenschaft wenigstens schon für aie Tierwelt entdeckt hat: Rudolf Steiner bezieht sich her auf einen Aufsatz von Theodor Arldt «Das Atlantisprohlem» in der Zeitschrift «Kosmos», Hand-weiser für Naturfreunde, II. Jg. 1905, Heft 10.

62 was der Lehrer wollte, an den sich der Name «Rosenkreutz» kuüpft: Vgl. hierzu Rudolf Steiner, Bibl.-Nr. 130 «Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit».

62 Die Zeit ist eine blühende Flur...: Schiller, «Die Braut von Messina», 3. Aufzug, S. Auftritt.

63 was ich in bezug auf die rote Farbe gesagt habe> als von der Erziehung die Rede war: Von diesem Vortrag ist keine Nachschrift erhalten. Vgl. hierüber jedoch den kurz vor dem Kongreß veröffentlichten Aufsatz «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft», innerhalb der Gesamtausgabe in Bibl.-Nr. 34 «Luzifer-Gnosis», jedoch auch in vielen Einzelausgaben erschienen.

63 das Rot in allen Kultstätten der Esoteriker, während exoterische Stätten ... die blaue Farbe tragen: Man ver­gleiche hierzu die Inszenierung des ersten und letzten Bildes im 3. Mysteriendrama «Der Hüter der

Schwelle»: das 1. Bild - ein exoterischer Mysterienraum - ganz in Indigoblau; das letzte Bild - das Tem­pelinnere eines Mystenbundes - ganz in Rot.

63 die zwei Säulen ... sogenannte goldene Legende: Siehe herzu den Sonderhinweis auf Seite 185ff.

63 bekam Seth drei Samenkörner: In der Ausgabe von 1957 hieß es «ein» Samenkorn. Hier lag ein Fehler in der Nachschrift vor, denn eine andere Nachschrift hat «drei Samenkörner». Auch in allen anderen Wieder-gaben der Legende finden sich immer die «drei Samenkörner». Vgl. hierzu den Sonderhinweis auf Seite 185ff.

63 Jch bin der da war ... ist ... sein wird: Moses II,3,14; 0ff. 1,8.

64 «Blut ist ein ganz besonderer Saft»: Goethe, Faust I, «Studierzimmer». Ausspruch des Mephistopheles.

64 Gott blies dem Menschen den Odem ein und er ward eine lebendige Seele: Moses I, 2,7.

68 u. Sehen wir auf eine firne Zukunft, so sehen Sie im sechsten Bild... das Sonnenweib:

69 Auf dem fünften Bilde haben wir ein Wesen> das den Drachen überwindet:

Im Kongreßsaal waren die Siegelbilder 5 und 6 in umgekehrter Reihenfolge (siehe Abbildung vom Saal und den erläuternden Vortrag vom 21. Mai> angebracht worden als in dem für die Zeitschrift «Luzifer-Gnosis» gegebenen Bericht und der im Oktober von Rudolf Steiner herausgegebenen Mappe «Bilder okkulter Siegel und Säulen». Mathilde Scholl hat für ihren im August 1907 erschienenen Bericht über den Kongreß (siehe Seite 104f.) bereits die von Rudolf Steiner in «Luzifer-Gnosis» angegebene Reihenfolge übernommen.

68 daß Goethe das Höchste ... das Ewig-Weibliche nennt: Faust II, Schlußchor.

68 Goethe...: «Die Sonne tönt.... ... «Tönend wird für Geistesohren...»: Vgl. Hinweis zu Seite 50.

69 Kama: Siehe Hinweis zu Seite 50.

69 die drei Dimensionen ... die entgegenkommenden Kontra-Dimensionen: Siehe hierzu zum Beispiel Bibl.-Nr. 82 «Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart» (2. Vortrag).

70 Das Geheimnis der sieben planetarischen Zustände ... Benennungen der sieben Wochentage: Siehe hierzu in Bibl.-Nr.

262 «Rudolf Steiner/Marie Steiner-von Sivers, Briefwechsel und Dokumente 1901-1925», Seite 74ff.

71 Zu dem Bericht über den Kongreß im Berliner Zweig: Bericht mit dem anschließenden Vortrag findet sich in Bibl.-Nr. 96 «Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft» (21. Vortrag).

71 Der Münchner Kongreß, der der vierte ist: Vgl. Hinweis zu Seite 33.

71 Richard Wagner, 1813-1883.

71 Michelangeb, 1475-1564.

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71 Leonardo da Vinei, 1452-1519.

72 Goethe -.. Die Wirkung dieser Farbe: Aus der «Farbeniehre. VI. Abteilung: Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe». Siehe Band III von «Goethes Naturwissenschaftiichen Schriften» mit Einleitung und Erläute­rungen Rudolf Steiners. Bibl.-Nr. lc.

72 Das Graitsiegel ist zum ersten Male vor der Öffentlichkeit erschienen: Vergleiche den Hinweis zu Seite 37.

73 Zu dem Vortrag «Die apokalyptischen Siegel», Stuttgart, 16. September 1907: Rudolf Steiner sprach in Stuttgart vom 13. bis 16. September 1907 über «Okkulte Zeichen und Symbole in ihrem Zusammenhang mit der astralen und geistigen Welt», vorgesehen flit Bibl.-Nr. 101, von denen der hier abgedruckte ganz für sich steht, da er sich ausschließlich mit den apokalyptischen Siegeln vom Münchner Kongreß befaßt.

73 Plato, der ein Eingeweihter war, hat die königliche Seele in das Herz verlegt: In Platons «Staat» (441 a-c) wird der Mut (thymos), einer Homerstelle folgend, ins Herz verlegt. Der Mut gilt hier als mittlerer Seelenteil zwischen dem des Vernünftigen und dem des Begehrlichen. Ebenfalls im «Staat» (588ff.) wird die menschliche Seele im Bilde von drei Gestalten dargestellt: einem bunten und vielköpfigen Tier, einem Löwen, einem Menschen. Der Löwe hilft dem Menschen (= das Göttliche im Menschen) bei der Bezwin­gung des Tieres. Bekanntlich repräsentiert der Löwe das königliche Element.

73 hat Paracelsus einen sehr schönen Vergleich gebraucht: Siehe hierzu Hinweis zu Seite 51.

74 Im Anfang war das Wort: Joh. 1,1.

77 die moderne Astronomie stützt sich auf zwei Sätze von Kopernikus; einen dritten hat sie unberücksichtigt gelassen:

Die drei Hauptsätze, die Kopernikus seinem Weltsystem zugrunde legte, sind: Die Erde dreht sich in 24 Stunden um die eigene Nord-Süd-Achse. Die Erde bewegt sich um die Sonne. Eine dritte, rück­läufige Bewegung der Nord-Süd-Achse um die Ekliptikachse bewirkt, daß die Erdachse immer zu sich selber parallel bleibt, so daß sie immerfort auf den Nordpol hinweist. Vgl. hierzu Bibl.-Nr. 323 «Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie» (in Vorbereitung), 2. Vor­trag. Ferner Elisabeth Vreede «Anthroposophie und Astronomie», Novalis-Verlag Freiburg i. Br. 1954.

79 Zum Abdruck des Vortrags «Symbole und Zeichen als Wirkungen des Chaos»: Die Wiedergabe dieses Vottrags ist mangels einer genauen stenographischen Nachschrift eine Zusammenfassung verschiedener mehr oder weniger bruchstückliafter Aufzeichnungen.

79 was man mit einem den alten Zeiten entlehnten Namen das «Chaos» nennt: Nach Hesiods Theogonie der un-ermeßliche, leere Raum, der vor allen Dingen war.

79 Was ist schließlich jener gähnende Abgrund der nordisch-germanischen Sage «Ginnungagap» ... anderes als das Chaos?: Im Wöluspa-Lied (Der Seherin Gesicht) der älteren Edda heißt es:

Einst war das Alter, da Ymir lebte:

Da war nicht Sand nicht See, nicht salz'ge Wellen.

Nicht Erde fand sich noch Überhimmel, Gähnender Abgrund, und Gras nirgends.

«In Strophe 3 gedenkt die Seherin des dunklen Urraums Ginnungagap, der dem griechischen Chaos ent­spricht wie die germanische Außensee dem Okeanos; gemeinsam ist die Abwesenheit der Formen und Farben der heutigen Welt. Doch trägt das Ginnungagap nach der Überlieferung bei Snorri (Gylfaginning Kapitel 4, 5) Züge der schwedischen oder norwegischen Bergnatur: es ist eine unermeßliche Schlucht mit felsigem Abhang. Aus dem Gestein dieses Abhangs lockt die Urkuh Audhumia den Stammvater der Asen heraus, Bun genannt, der also ein aus der Erde geborener Gott ist wie jener Twisko, von dem Tacitus berichtet. Wie Twisko hat Buri einen Sohn (Bor, = Mannus, ) und dieser wieder drei Söhne, das sind Odin und seine Brüder Will und We. Diese Borssöhne töten den Riesen Ymir - der erste Feindschaftsakt zwischen Göttern und Riesen, den seitdem ewig sich befelidenden Mächten: weil die Asen als neue Ankömmlinge in die Herrschaft der älteren Wesen eingegriffen, den gewaltigen Ymir erschlagen und aus seinen Leibesteilen die Welt erbaut haben, die sie damit dem Unnaum abgewannen, so daß dieser als Schauplatz ihnen Schöpfertat nach ihnen heißt (Ginnungagap, , das heißt der

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Götter), deswegen sinnen die Riesen auf Rache und auf Zerstörung des Asenwerkes, und am Ende der Zeiten werden sie dieses Ziel erreichen.» Siehe Die Edda, übertragen von Karl Simrock, herausgegeben von Prof. Dr. G. Neckel, Berlin 1927, Seite 36.

80 «der Herren eigener Geist»: Goethe, Faust I, Nacht.

80 Comenius, der große Pädagoge und Denker des 17. Jahrhunderts: Johann Amos Comenius (28. März 1592 Niv­nitz bei Ungarisch-Brod in Mähren bis 15. November 1670 Amsterdam) war auch bedeutend auf dem Gebiete der Naturwissenschaft. Die «Physica» entstand 1632 und erschien 1633 in Leipzig unter dem Titel «Physicae ad lumen divinum reformatae Synopsis Philodidacticorum et Theodidactorum censurae exposita». (Übersetzt und erläutert von Joseph Reber, Gießen 1896.)

80 Sie wissen aus anderen Besprechungen ... Rosenkreuzerorden: Vergleiche Hinweis zu Seite 41.

80f. Gotthold Ephraim Lessing, 1729-1781, «Die Erziehung des Menschengeschlechts» (Berlin 1780)... rosenkreuze­rische Weltanschauung durch Lessings Mund: Vergleiche Hinweis zu Seite 41.

81 Johann Baptist van Helmont... der auch ein Rosenkreuzer war: Helmont war ein Brüsseler Arzt und Chemi­ker (1577-1644). 1630 wurde er in der Stadt Mecheln als «Rosenkreuzer» vor Gericht gestellt.

81 Das Werk, in wekhem dieses Wort zum erstenmal vorkommt: Helmont, «Dageraed oft nieuwe opkomst der geneeskonst in verborgen groundt-regelen der natuere», Leiden 1615. Nach dem Tode Helmonts besorgte sein Sohn Franciscus Mercurius van Helmont eine lateinische Ausgabe unter dem Titel «Ortus Medi­cinae», Amsterdam 1648.

82 «hunc spiritum, incognitum hactenus, novo nomine gas voco» : Der Satz lautet vollständig: hunc spiritum, incogni­tum l:actenus, novo nomine gas voco, qui nec vasis cogi, nec in corpus visibile reduci potest. (Ortus Medi­tinze, Edition 1652. S. 86, Basler Universitätsbibliothek.)

82 Goethe sagt: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis»: Faust II, Schlußworte.

83 «halitum illum gas vocavi, non longe a chao veterum secretum, das heißt: Jenen Hauch habe ich genannt; er ist nicht weit verschieden von dem der Alten» : Das Zitat lautet vollständig: «Verum quia aqua in vaporem, per frigus delata, alterius sortis, quam vapor, per calorem suscitatus; ideo paradoxi liccutia, in nornis egestate, halltum illum gas vocavi, non longe a chao veterum secretum.» (Ortus Medicinae, Edition 1652, S. 73, Basler Universitätsbibliothek), und deutsch laut der deutschen Ausgabe: «Weil aber das Wasser / Wenn es durch die Kälte zu einem Dunst wird / gantz einer andern Art ist / als der Dunst / der von der Wärme in die Höhe getrieben wird; so hab ich mir bey dieser ungewöhnlichen Sache die Freyheit genom­men / und diesen Dampff / aus Mangel eines andern Namens ein Gas genennet; weil kein großer Unter­schied ist zwischen demselben / und zwischen dem Grund-Wesen / welches die Alten Chaos genennet:

(Auf deutsch nennen wir es einen Wasser-Geist.)» (Aufgang der Artzneykunst, Sultzbach 1683, S. 108, Basler Universitätsbibliothek.>

83 Das ist ein außerordentlich interessanter wissenschaftlicher Zusammenhang: Noch im Jahre 1935 schreibt R. Loewe in seinem Aufsatz «Gas» in der Zeitschrift flir vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indo­germanischen Sprachen, 62. Band, Göttingen 1935: «Das (ursprünglich nur neulateinische) Wort Gas ist bekanntlich von dem Brüsseler Chemiker Johann Baptist van Helmont (1577-1644) aus Chaos umgebil­det worden; es ist bis jetzt nicht genügend erklärt, wieso dieser Gelehrte dazu gekommen ist, genade aus Chaos die Benennung für den neuen Begriff, den er aufgestellt hat, zu schaffen.»

86 Einleitung, die ich dazu gegeben habe: Gemeint ist die Einführung zu der 1907 erschienenen Mappe «Bilder okkulter Siegel und Säulen». Vergleiche Seite 91ff

89 Bericht über den Kongreß bei der 6. Generalversammlung der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft in Berlin, 20. Oktober 1907: Aus «Mitteilungen für die Mitglieder der Deutschen Sektion der Theosophi­schen Gesellschaft», herausgegeben von Mathilde Scholl, Köln, Nr. VI (Februar 1908).

90 Arbeit, wie sie die Deutsche Sektion seit fünf Jahren zu leisten versuchte: Gemeint ist der Zeitraum seit der Be­gründung der Deutschen Sektion mit Rudolf Steiner als Generalsekretär im Oktober 1902.

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90 Bernhard Stavenhagen: Vgl. Hinweis zu Seite 30.

91 Dieses sowie andere Siegel der Serie kann man in einem gewissen Sinne auch beschrieben finden in der «Offenbarung

St. Johannis» (Apokalypse): Siehe auch Rudolf Steiner, «Das Christentum als mystische Tatsache und die

Mysterien des Altertums», Bibl.-Nr. 8 und «Die Apokalypse des Johannes», ein Vortragszyklus aus dem

Jahre 1908, Bibl.-Nr. 104.

92 Ausdrücklich bemerkt soll werden, daß manches von den sieben Siegeln schon in diesem oder jenem Werke der neueren Zeit veriffentlicht ist: Vgl. Hinweis zu Seite 37.

92 Unter den Organen und Ausdrucksmitte/n des Menschen: Vgl. Hinweis zu Seite 38.

93 Siegel IV stellt unter anderem zwei Säulen dar: Siehe hierzu den Hinweis «Zur goldenen Legende und zu den beiden Säulen» auf Seite 187f.

94 Siegel VII ist die Wiedergabe des «Mysteriums vom heiligen Gral»: Siehe hierzu den Hinweis auf Seite 39.

95 Über den Sinn dieser Sache vergleiche man meine «Geheimwissenschaft»: Die «Geheimwissenschaft im Umriß» war zu diesem Zeitpunkt (1907) zwar noch nicht erschienen, aber von Rudolf Steiner schon seit dem Jahre 1905 als Fortsetzung der 1904 erschienenen «Theosophie» angekündigt; lediglich aus technischen Grün­den konnte sie erst im Jahre 1909/10 erscheinen. «Nur die unbedingt notwendige ununterbrochene Vortragstätigkeit des Verfassers hat das Erscheinen des Buches so lange verzögert. Nun aber soll es unter allen Umständen der Öffentlichkeit übergeben werden.» Rudolf Steiner in der Zeitschrift «Luzifer-Gnosis» im Jahre 1907, enthalten in Bibl.-Nr. 34, Seite 589.

95 Auftätze «Aus der Akasha-Ghronik» in «Luziftr-Gnosis»: Innerhalb der Gesamtausgabe Bibl.-Nr. iI.

97 Marie Steiner: Vgl. Hinweis zu Seite 34.

97 Indem Rudolf Steiner hingewiesen hatte ... auf den Zusammenhang des Christentums mit dem alten Mysterienwissen:

Gemeint sind hier die von Rudolf Steiner im Winter 1901/1902 in der Theosophischen Bibliothek in Berlin gehaltenen Vorträge, auf Grund deren er aufgefordert worden war, in der Theosophischen Gesellschaft zu wirken. Sie erschienen im Sommer 1902 zusammengefaßt in dem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache». Darin ist dargestellt, wie in der Apokalypse des Johannes der geheime Sinn der Lehre Christi als Erfüllung der alten Mysterienoffenbarung gesucht werden muß. Die Art und Weise, wie bereits damals von Rudolf Steiner die Bedeutung der Apokalypse des Johannes für eine neuzeitliche, christliche Esoterik aufgezeigt wurde, erklärt auch, warum er in München für die Saalausgestaltung zu den Bildern der Apokalypse greift.

97 nicht Mrs. Besant... zum Präsidenten des Kongresses zu wählen: Annle Besant war nach dem am 17. Februar 1907 erfolgten Tode des Gründer-Präsidenten Henry Steel Olcott im Mai 1907, kurz vor dem Münchner Kon­greß, zur neuen Präsidentin der Theososphical Sodety gewählt worden.

97 in einer Zeit, wo man angefangen hatte, während des langsamen Hinscheidens von Coknel Okott in Adyar mit medialen Kundgebungen und darauf bezuglichen Berufungen zu arbeiten: Vgl. hierzu Rudolf Steiner in Bibl.-Nr. 34 «Luzifer-Gnosis», Seite 615.

98 Als nun gar der Name des Chrissus usurpiert wurde für den Unfug, der mit dem «Stern des Ostens» getrieben wurde Der «Stern des Ostens» wurde 1910/11 als selbständige Organisation gegründet, die den Inderknaben Krishnamurti als wiederverkörperten Christus propagierte.

98 ... was wir als die wunderbaren Erläuterungen zu Goethes Faust erhalten haben: Siehe Rudolf Steiner, «Geistes-wissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust», Band I und II, Bibl.-Nr. 272 und 273.

99 Zum Abdruck des Berichtes von Mathilde Scholl: Es sind in der Hauptsache diejenigen Teile abgedruckt, die sich auf die Ausführungen Rudolf Steiners und auf die Saalzusgestaltung beziehen. Der ganze Bericht erschien in «Mitteilungen für die Mitglieder der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft», herausgegeben von Mathilde Scholl, Köln, Nr. V (August 1907).

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99 Mathilde Scholl, 1868-1941. Seit 1903 Mitglied des Vorstandes der Deutschen Sektion und von 1905-1914 Herausgeberin des Gesellschaftsorgans «Mitteilungen für die Mitglieder der Deutschen Sektion der Theo­sophischen Gesellschaft». Bis 1914 leitete sie die anthroposophische Arbeit in Köln, wo an Weihnachten 1912 die Antliroposophische Gesellschaft begründet wurde. 1914 siedelte sie nach Dornach über.

99 Eröffnung des Kongresses durch ... Rudolf Steiner: Von der Eröffnungs- wie auch von der Schlußrede Rudolf Steiners gibt es keine Nachschrift.

102 drei Samenkörner: Vgl. Hinweis zu Seite 63.

107 Ludwig Kleeberg, 1886-1972. Mitglied in Kassel seit 1904. Siehe sein Erinnerungsbuch «Wege und Worte», Stuttgart 1961.

112 Max Gümbel-Seiling, 1879-1964. Schauspieler und Rezitator. Die Schilderung ist enthalten in seinem Buch «Mit Rudolf Steiner in München», Den Haag 1945.

112 Es waren etwa 24 Personen anwesend: Auf Grund der folgenden Eintragungen im Gästebuch und den 5 Mit­gliedern der Familie Stockmeyer waren insgesamt 41 Personen anwesend:

Dr. Rudolf Steiner, Marie von Sivers, Gertrud von Tschirschky, Harriet von Vacano, Oskar Gros­heintz, Alice Sprengel, Max Seiling, Cecile Peipers, Dr. Felix Peipers, Michael Bauer, Juliane Stössinger, M. Hirter Weber, Martha Weisch, Alice Kinkel, Anna Weißmann, Karl Greber, Toni Völker, Wilhelm Klnkel, Marina Greber, Hugo Harder, Friedrich Schwab, Frau A. Haefliger, Frau Marguerite Gos, Wally Allmendinger, Frieda Weiland, Clara Rettich, Emil Molt, Berta Molt, Emil Schilling, Dr. Trifon Trapesni­koff, Georg Klenk, Frau Maria Frentzel, Stuttgart, Helene Weigele, Richard Weigele, Rudolf Hahn, M. Hahn.

112 ... : Siehe Hinweis zu Seite 44.

116 beginnend mit den Fischen im Westen über der Saturnsäule: Siehe hierzu den Vortrag Dornach, 9. Juli 1921 in Bibl.-Nr. 205 «Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist».

116 u. Diese umständliche Arbeit habe ich in der Herbst- und Weihnachtszeit 1908 gemacht... An die Stelle des ellipsoidi-

119 schen Gewölbes trat nun die so eigenartige Doppelkuppel: Aufschlußreich zu dieser Angabe von E. A. Karl Stockmeyer ist die Bemerkung, die Rudolf Steiner in seinem Vortrag vom 23. Januar 1920 in Dornach machte: «1908 hat sich mir zuerst der Gedanke ergeben, den Bau als einen solchen Doppelkuppelbau auf-zuführen.»

117 Grundsteinlegungsworte der Weihnachtstagung: Siehe Bibl.-Nr. 260 «Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24».

118 Architekt Schmid-Curtius: Dr. Cari Schmid-Curtius (gestorben 1931 in Locarno / Schweiz) war der Archi­tekt des ersten Stuttgarter Gesellschaftshauses, Landhausstruße 70, und von 1911-1914 erster Architekt des Bauprojektes München -Dornach. Studierte später noch Medizin und war auf naturwissenschaftlichen Ge­bieten tätig.

118 Imme von Eckhardtstein, 1871-1930. Wirkte seit 1907 bei den Münchner Festaufführungen mit und fertigte seit 1909 die Kostüme nach den Angaben von Rudolf Steiner; stellte auch die Kostüme her für die Neu­aufführungen der Mysteriendramen Rudolf Steiners im zweiten Goetheanum seit 1928. In der Zeit, in der von ihr die Stuttgarter Kuppel mit dem Tierkreis ausgemalt wurde, entstand der «Seelenkalender» von Rudolf Steiner, für dessen erste Ausgabe in Verbindung mit einem «Kalender 1912/13» sie nach Skizzen Rudolf Steiners neuartige Tierkreisbilder zeichnete, deren Motive sie auch für die Stuttgarter Kuppel verwendete. Siehe hierzu «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Nr.37/38 (Frühjahr/ Sommer 1972): Der Anthroposophische Seelenkalender und der Kalender 1912/13.

118 C. S. Picht, 1887-1954. Leistete grundlegende Arbeit auf dem Gebiete des literarischen Frühwerks Rudolf Steiners, welche in dem Werke «Das literarische Lebenswerk Rudolf Steiners. Eine Bibliographie», Dornach 1926, zusammengefaßt wurde. Schriftieiter der Zeitschrift «Anthroposophie» (1931-1934); Herausgeber

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und Bearbeiter zahlreicher Werke Rudolf Steiners, insbesondere der Reihe der Lichtbildervor­träge «Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Impulse», BibL-Nr. 292.

119 Herr Picht ließ auch photographische Aufnahmen machen, und zwei von ihnen sind in dem Sonderheft der vereinigten Zeitschriften zur zehnjährigen Wiederkehr von Rudolf Steiners Todestag veröffenilicht: In vorliegender Publika­tion sind zwei andere dieser Aufnahmen veröffentlicht.

119 Vorträge «Wege zu einem neuen Baustil»: Uuni/Juli 1914), Bibl.-Nr. 286.

119 Stuttgarter Delegiertenversammlung vom Frühjahr 1923: Siehe Bibl.-Nr. 257 «Anthroposophische Gemein-schaftsbildung», Band V der Reihe «Das lebendige Wesen der Anthroposophie und seine Pflege».

126 Zwei der bedeutendsten Bilder der Welt ... Raffaels: Raffael Santi, 1483-1520. An den beiden Fresken, die die «Disputa» und «Schule von Athen» genannt werden, arbeitete er um 1508-1511. Nach Herman Grimms «Leben Raffaels» finden sich die Namen der Bilder weder bei Raffael selbst noch zu seinen Zeiten, sondern sind eine spätere Hinzufügung. Rudolf Steiner sprach über die beiden Bilder später noch in seinen Lichtbildervorträgen «Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Impulse» (11eft X, Vortrag Dornach S. Oktober 1917) Bibl.-Nr. 292.

130 die prophetische Hinweisung auf ein drittes Bild... gemalt werden kann es heute noch nicht: Einige Jahre nach die­ser Äußerung hat Rudolf Steiner dieses Kunstwerk selbst geschaffen. Zuerst als Skulptur, genannt «Gruppe», und dann auch malerisch als Mittelmotiv der Fresken der Kleinen Kuppel des ersten Goethea­nums. Daß es sich dabei tatsächlich um dieses dritte Bild handelt, geht aus der Darstellung Rudolf Steiners in seinem Vortrag Dornach, 16. September 1916 (1.Vortrag in Bibl.-Nr. 171 «Innere Entwickelungs­impulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des 19. Jahrhunderts») hervor. Aus diesem Grunde hat auch der Maler William Scott Pyle mit seiner Marie Steiner gewidmeten und von dieser im Philosophisch­Anthroposopl:ischen Verlag Dornach 1930 herausgegebenen Rötelzeichnung (Blick vom großen Kuppel-raum in den kleinen Kuppelraum mit der «Gruppe» und dem darüber beilndlichen Mittelmotiv), in der rechten Ecke oben Raffaels «Disputa» verbunden.

131 Gräfin Brockdorff: Sophie Gräfin von Brockdorff, geb. von Ahlefeldt, 1848-1906. Sie war mit der theoso­phischen Bewegung in Deutschland von Anfang an verbunden und leitete die damalige Deutsche Theo­sophische Gesellschaft in Berlin, bis sie 1902 die Leitung an Rudolf Steiner und Marie Steiner, damals von Sivers, abgeben konnte. Siehe den Nachruf Rudolf Steiners in Bibl.-Nr. 261 «Unsere Toten».

131 in wenigen Tagen in Kristiania ... Vor einigen Wochen ... in Rom ... In Düsseldorf: Vom 9. bis 21. Mai 1909 sprach Rudolf Steiner in Kristiania (Oslo) über «Theosophie an der Hand der Apokalypse» (an Nach­schriften existieren nur unzureichende Notizen); vom 25. bis 31. März 1909 gab er mit 7 Vorträgen in Rom eine «Finführung in Theosophie» (Notizen davon sind abgedruckt in Bibl.-Nr. 109/111 «Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen»); im April 1909 war er am 10. und ii. in Köln (siehe Bibl.-Nr. 109/111) und vom 12. bis 22. in Düsseldorf, siehe Bibl.-Nr. 110 «Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt».

131 in Räumen, in denen eigentlich bisher nur Kardinäle geschritten sind: Im Palazzo del Drago in Rom.

132 dazwischen kamen nur die Kölner und Düsseldorfir Tage: Siehe den vorangehenden Hinweis zu Seite 131.

132 Helena Petrowna Blavatsky, 1831-5. Mai 1891 und Henry Steel Olcott, 1832-1907: Zusammen gründe­ten sie im Jahre 1875 in New York die Theosophical Society, die bald darauf ihren Hauptsitz nach Indien (Adyar bei Madras) verlegte.

133 als ich Olectt zum ersten Mal kennenlernte: Im Sommer 1902 in London anläßlich der ersten Teilnahme an einem theosophischen Kongreß.

134 «Entschleierte Isis» ... «Secret Doctrine»: Die beiden Hauptwerke von H.P. Blavatsky. «Isis Unveiled» (1877, deutsch Leipzig o. J. und Ulm 1960), «The Secret Doctrine» (1887-97, deutsch «Die Geheim-lehre» Leipzig o. J., Ulm 1960).

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134 von denjenigen hohen Individualitäten, die hinter der Bewegung stehen ... jene großen Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen: Damit weist Rudolf Steiner auf Wesenheiten hin, welche für die Evolu­tion der Menschheit von größter Bedeutung sind. «Diese erhabenen Wesenheiten haben den Weg bereits zurückgelegt, den die übrige Menschheit noch zu gehen hat. Sie wirken nun als die großen .» (Aus einem Brief an ein Mit­glied, Berlin, 20. Januar 1905.) Vgl. Vortrag München 24. August 1911 in Bibl.-Nr. 129 «Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen» und Vortrag Berlin 26. Dezember 1909 in Bibl.-Nr. 117 «Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien», auch enthalten in der Sonderausgabe «Das Weihnachtsmysterium. Novalis, der Seher und Christuskünder», Dornach 1964.

134 Theodor Mommsen> 1817-1903, deutscher Historiker und Rechtsgelehrter.

134 Hippolyte Taine> 1823-1893, französischer Historiker.

134 Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896, deutscher Physiologe.

134 Ernst Haecket 1834-1919, deutscher Naturforscher.

136 Überlieftrung: Buddha wäre zugrunde gegangen an einem zu reichen Genuß von Schweinefleisch ... das hat Blavatsky jn einer wunderbaren Weise dargelegt: In Blavatskys «Geheimiehre», 3. Band, Seite 89 heißt es, «daß alle großen Hierophanten in der Geschichte ihr Lebensende durch gewaltsamen Tod finden». Zuerst wird Buddha genannt und eine Fußnote dazu lautet:

«In der profanen Geschichte von Gautama Buddha stirbt dieser in dem schönen hohen Alter von achtzig und geht vom Leben zum Tode friedlich über mit all der Heiterkeit eines großen Heiligen, wie Barthelemy St. Hilaire es wiedergibt. Nicht so in der esoterischen und wahren Auslegung, die den wirklichen Sinn der profanen und allegorischen Erzählung enthüllt, die Gautama, den Buddha, sehr unpoetisch an den Nach­wirkungen von allzuviel Schweinefleisch sterben läßt, das Tsonda ihm zubereitet hatte. Wieso jemand, der predigte, daß das Töten von Tieren die größte Sünde sei, und der ein vollkommener Vegetarier war, durch essen von Schweinefleisch sterben konnte, ist eine Frage, die von unsern Orientalisten niemals gestellt wird, von denen einige (wie jetzt viele liebreiche Missionare in Ceylon es tun) sich über das angebliche Er­eignis sehr lustig machen. Die einfache Wahrheit ist die, daß der erwähnte Reis mit Schweinefleisch rein allegorisch ist. Der Reis steht für die verbotene Frucht, wie Eva's Apfel, und bedeutet bei den Chinesen und Tibetanen theosophische Erkenntnis; und für die brahmanischen Lehren - indem Visch­nu in seinem ersten Avatara die Gestalt eines Ebers annahm, um die Erde auf die Oberfläche der Wasser des Raumes emporzuheben. Buddha starb daher nicht an , sondern weil er einige der brah­manischen Mysterien veröffentlicht hatte, worauf er, da er die durch seine Enthüllung über einige un­würdige Menschen gebrachten schlechten Wirkungen sah, es vorzog, anstatt das Nirvana zu genießen:

seine irdische Form zu verlassen, aber noch in der Sphäre der Lebendigen zu verbleiben, um der Mensch­heit zum Fortschritte zu verhelfen. Daher seine bestindigen Wiederverkörperungen in der Hierarchie der Dalal und Teschu Lamas, unter anderen Wohltaten. So ist die esoterische Erklärung.»

136 Aber wenn sie zu gleicher Zeit von der «Apokalypse» und ihrem Verfasser spricht: Im dritten Band der «Geheimlehre», Seite 131 der deutschen Ausgabe heißt es (Fußnote): «Wir für unseren Teil haben niemals von einer Ekstase gehört, die Donner und Blitz hervorbrachte, und wir sind in Verlegenheit, den Sinn zu verstehen.»

139 «Gesellschaft für theosophische Art und Kunst»: Siehe «Ein durch Rudolf Steiner gegebener Zukunftsimpuls und was zunächst daraus geworden ist», Ansprache Rudolf Steiners in Berlin, 15. Dezember 1911, private Vervielfältigung Dornach 1947, vorgesehen für Bibl.-Nr. 252.

140 Grundsteinlegung des Stuttgarter Hauses: Von der Ansprache Rudolf Steiners muß es damals eine Nachschrift oder wenigstens Notizen gegeben haben, denn der auf Seite 140 wiedergegebene Passus aus der An­sprache war als Motto vorangestellt einer Broschüre vom Oktober 1911 «An die Mitglieder der Theoso­phischen Gesellschaft (Deutsche Sektion) und deren Freunde, den Johannesbau in München betreffend». Die betreffende Nachschrift oder Notizen konnten bis heute nicht ermittelt werden und müssen wohl als verlorengegangen betrachtet werden.

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141 Architekt Schmid-Curtius: Vgl. Hinweis zu Seite 118.

141 José del Monte, 1875-1950. Stuttgarter Mitglied seit 1902/03 und 1911-1937 Vorsitzender des Bauvereins des Verbandes Stuttgarter Zweige für den Bau des Stuttgarter Hauses, Landhausstraße 70.1920 Mit-begründer und I. Vorsitzender des «Vereins Eurythmeum», der die Stuttgarter Eurytlimieschule baute und einrichtete.

142 Adolf Arenson, 1855-1936. Stuttgarter Mitglied seit 1902/03. Führte zusammen mit Dr. Carl Unger den Stuttgarter Hauptzweig (1), später Rudolf Steiner Zweig.

143 eines unserer lieben Freunde: Der Apotheker Ernst Heim, ein Mitglied des Arenson-Unger Zweiges, stellte im Jahre 1910 die bedeutende Summe von 50000 Mark zur Verfügung, damit in Stuttgart für die Arbeit ein eigenes Haus errichtet werden konnte.

145 Und wenn in München gesprochen worden ist von einem anderen, ähnlichen, nur in grißerem Maßstab auszuführenden Bau: Bei den Festspielen im Sommer 1910 war der Plan, einen Zentralbau zu erstellen, bekanntgemacht worden. Durch Schwierigkeiten von seiten der Münchner Baubehörden wurde dann im Frühjahr 1913 die­ser Bauplan von München nach Dornach verlegt.

145 Der unglückliche Hölderlin ... schrieb dem philosophischen Freund ... die Worte ins Stammbuch: Der aus dem Schwabenlande stammende Dichter Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770-1843) verlebte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens im Wahnsinn. Der philosophische Freund war Hegel. Ihm schrieb Hölderlin ins Stammbuch: «Goethe. Lust und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten. Tübingen 12. Febr. 1791. Ev ~av. Schreibt zum Andenken Dein Freund Fr. Hölderlin.»

145 Friedrich Christoph Oetinger, 1702-1782... Völker: Über den Seher Völker, einen thüringischen Bauern, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Großrudestedt, nördlich von Erfurt gelebt hat, berichtet nur der evangelische Theosoph Oetinger in seiner Selbstbiographie und in seinen Briefen. Danach muß Völker ein außerordentlicher Mensch gewesen sein und auf Oetinger einen tiefen Eindruck gemacht haben. Er habe die innere Schau besessen und Oetinger, der zweimal für längere Zeit bei ihm verweilte, tief belehrt. Näheres siehe in dem Aufsatz von C. S. Picht «Marcus Völker » in der Zeitschrift «Die Drei», VII. Jahrgang, 1927, Heft VIII.

145 die einen Namen trug, der gerade hier wieder lokale Bedeutung hat: Gemeint war damit Toni Völker, 1874-1938, die Mitglied seit 1902 und von 1906 an Leiterin des Kerning-Zweiges in Stuttgart war.

146 aus derselben geistigen Substanz dieser Gegend die großen Philosophen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770-1831 und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775-1854.

146 der das schöne Wort gesprochen hat: Ein unermeßlich Reich ist der Gedanke...: Friedrich Schiller. In «Die Huldi­gung der Künste. Ein lyrisches Spiel» sagt die Poesie:

Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke,

Frei schwing' ich mich durch alle Räume fort.

Ein unermeßlich Reich ist der Gedanke,

Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.

146 ich mußte zu den Worten des Alten Testamentes, zu den Salomonischen Worten greifin: Von Rudolf Steiner geformte Salomonische Worte in Anlehnung an I. Könige 8,12-53 und 2. Chronika 6.

147 Meistern der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen: Siehe Hinweis zu Seite 134.

148 Mysterienaufführungen: Bei den jährlichen Sommerfestspielen in München wurden seit dem Kongreß 1907 Mysterienspiele aufgeführt, von 1910-1913 die vier Mysteriendramen Rudolf Steiners.

150 allerlei Zeichen und symbolische Figuren: Siehe die Abbildungen 4 und 5 im Texthand.

151 zwei Bilder ... von unserem Freund Stockmeyer ... die später eine andere Ausführung erhalten: Zwei Stockmeyer Bilder hingen in dem Raum, bis das Haus 1935 aufgegeben werden mußte; sie befinden sich heute im Stockmeyerschen Nachlaß in Malsch.

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152 Phantomkräfte des physischen Leibes: Siehe hierzu Bibl.-Nr. 131 «Von Jesus zu Christus».

155 Karlsruher Zyklus: Bibl.-Nr. 131 «Von Jesus zu Christus».

157 im Mysterium: «Die Pforte der Einweihung. Ein Rosenkreuzermysterium». Erstes Mysteriendrama Rudolf Steiners. Bibl.-Nr. 14.

157 deshalb sollte dieser Name nicht von anderen Wesenheiten gebraucht werden: Dies bezieht sich auf die damals in der Theosophischen Gesellschaft propagierte Wiederkunft Christi in dem Inderknaben Krishnamurti. Rudolf Steiner lehnte dies als «okkulten Unfug» streng ab, was auch im weiteren zur Trennung von der Theosophischen Gesellschaft führte. Um 1930 hat Krishnamurti selbst diese ihm zugedachte Rolle abge­lehnt. Vgl. auch Hinweis zu Seite 98.

157 in Karlsruhe: Vgl. Hinweis zu Seite 155.

158 H. P. Blavatsky ... «Entschleierte Isis» ... «Geheimlehre»: Vgl. Hinweis zu Seite 134.

158 aus Gründen, die jetzt nicht erörtert werden können: Vgl. hierzu Bibl.-Nr. 254 «Die okkulte Bewegung im neunzehnten Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur».

158 Blavatsky mit aller Schärft betont hat ... daß unter dem kommenden Christus nur verstanden werden dürfte ein Ereig­nis, das der Mensch erlebt durch einen Zusammenhang mit der geistigen Welt: Es konnte bisher nicht festgestellt werden, wo sich diese Äußerung bei Blavatsky findet.

158 seit 1899 haben sich die Tore noch ganz anders geöffnet: Das Jahr 1899 bezeichnet den Ablauf des sogenannten Kali Yuga oder finsteren Zeitalters.

159 Ich bin bei Euch alle Tage bis ans Ende der Welt: Matthäus 28,20.

161 die Realisierung einer solchen Hochschule: Von Anfang an hatte Rudolf Steiner mit dem Zentralbau den Ge­danken einer Freien Hochschule verbunden, und vom Jahre 1913/14 an nannte sich der erste Bau in Dornach bereits «Freie Hochschule für Geisteswissenschaft». Jedoch richtig konstituiert wurde sie von Rudolf Steiner erst mit der Jahreswende 1923/24. Vgl. hierzu Bibl.-Nr. 260a «Die Konstitution der All­gemeinen Antliroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum».

162 Welch' hoher Dank ist dem zu sagen: Die Worte sind frei wiedergegeben. Wörtlich: Welch hoher Dank ist dem zu sagen / Der frisch uns an das Buch gebracht / Das allem Forschen, allem Klagen / Ein grandioses End gemacht. Zahme Xenien VIII, datiert Weimar, 23. Juli 1824.

163 E. A. Karl Stockmeyer «Über die Einheit von Tempel und Kultus»: Dieser Aufsatz entstand 1957 im Zu­sammenhang mit dem Ausbau des großen Saales im zweiten Goetheanum-Bau.

163 Auftätzen in der Zdtschrift Luzifir-Gnosis: Siehe Bibl.-Nr. 11 «Aus der Akasha-Chronik».

163 Dieser Kultus istja von RudolfSteiner in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ... vollzogen worden: Siehe Bibl.-Nr. 28 «Mein Lebensgang» (36. Kapitel).

163 es bedeutete schon etwas, daß Marie Steiner diesen Kultus nach Rudolf Steiners Tod einmal auf die Bühne der so­genannten Schreinerei verpflanzt hatte: Marie Steiner, die mit Rudolf Steiner in der Zeit vor dem Ersten Welt­krieg die kultische Abteilung der Esoterischen Schule leitete, veranstaltete am 30. März 1926 im Ge­denken an Rudolf Steiners Todestag eine Feier, die sie in dem erwähnten Sinne gestaltete.

163 die nachgelassenen Notizen des Herrn Aisenpreis: Ernst Alsenpreis, leitender Architekt des ersten und zweiten Goetheanum-Baues. Stockmeyer bezieht sich hier auf eine von Assia Turgenleif in ihrer Schrift «Was ist mit dem Goetheanumbau geschehen?» angeführte Notizbucheintragung von Ernst Aisenpreis, wonach Rudolf Steiner zu ihm äußerte, daß er die «Gruppe» im Bühnenraum des zweiten Goetheanum vor einem in Holz gestalteten Hintergrund aufzustellen die Absicht habe. Später habe Rudolf Steiner aber auch noch andere Lösungen erwogen.

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163 die Anthroposophie, die RudolfSteiner 1923 den umgekehrten Kuftus nannte: Siehe Vortrag Dornach, 3. März 1923 in Bibl.-Nr. 257 «Anthroposophische Gemeinschaftsbildung».

164 Dornacher Karma- Vorträge von 1924 am 27. April: Siehe Bibl.-Nr. 236 «Esoterische Betrachtungen karmi­scher Zusammenhänge», Zweiter Band.

169 Hermann Ranzenberger, 1891-1967. Von Rudolf Steiner 1914 aus Stuttgart als Architekt nach Dornach berufen. Er gehörte von da an zu den Architekten des ersten und zweiten Goetheanum-Baues. Nach der Fertigstellung des zweiten Baues wirkte er weiterhin in Dornach als freischaffender Architekt.

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SON DERHINWEIS

Zur goldenen Legende und zu den beiden Säulen

Die goldene Legende

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Im Vortrag München 21. Mai 1907 übet die Ausgestaltung des Kongreßsaales heißt es, wenn man die vor der Bühne aufgestellten beiden Säulen (links vom Zuschauer die rote und rechts die blaurote) erklä­ren wolle, müsse man von der sogenannten goldenen Legende ausgehen.

Die dann wiedergegebene Legende hatte Rudolf Steiner früher schon verschiedentlich erzählt und geisteswissenschaftlich interpretiert. Er nannte sie zumeist « goldene Legende» und meinte damit - gemäß Vortrag Berlin 29. Mai 1905 und Kassel 16. Januar 1907 (1etzterer nach Notizen von Ludwig Kleeberg) -die Kreuzesholzlegende des Mittelalters, wie sie sich in der dem 13. Jahrhundert entstammenden Legendensammlung «Legenda aurea» des Jacobus de Veragine findet. In dieser Sammlung lautet in der Legende «Von des heiligen Kreuzes Findung» der entsprechende Teil wie folgt:

«Als Adam krank war, ging sein Sohn Seth an das Tor des irdischen Paradieses und begehrte Öl vom Baume des Mitleidens, daß er den Leib seines Vaters Adam damit salbe und ihn gesund mache. Da erschien ihm der Erzengel Michael und sprach: Doch glaubt man, daß von Adam bis zu Christi Leiden nicht mehr denn fünf-tausend einhundertneunundneunzig Jahre seien verflossen. Man liest auch, daß der Engel dem Seth ein Zweiglein gab und ihm gebot, daß er es pflanze auf dem Berg Libanon. In einer griechischen Ge-schichte, die aber apokryph ist, findet man, daß der Engel dem Seth von dem Holze gab, daran Adam gesündigt hatte, und sprach: Da nun Seth heim kam, war sein Vater schon gestorben; da pflanzte er den Zweig auf sein Grab, und der Zweig wuchs und ward ein großer Baum, und dauerte bis zu Salomonis Zeiten. Ob dieses aber wahr sei oder nicht, lassen wir bei des Lesers Urteil, denn in keiner bewährten Historie oder Chronik finden wir es geschrieben. Da nun Salomo ansah, wie schön der Baum war, ließ er ihn abhauen und gab ihn zum Bau des Waldhauses. Doch fügte sich das Holz an keine Statt des Hauses, wie uns Johannes Beleth schreibt, denn es war allezeit zu lang oder zu kurz; denn so man es nach richtigem Maß hatte gekürzt für eine Statt, so war es dann also kurz, daß es sich nimmer darein fügete. Darob ergrimmten die

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Bauleute und verwarfen das Holz; und legten es übet einen See, daß es ein Steg sei denen, die hinübet wollten. Da aber die Königin von Saba von Salomonis Weisheit harte gehört und zu ihm wollte fahren über den See, da sah sie im Geist, daß der Welt Heiland dereinst an diesem Holze sollte hangen; darum wollte sie über das Holz nicht gehen, sondern kniete nieder und betete es an. In der Historia Scholastica aber heißt es, daß die Königin von Saba das Holz in dem Waldhause sah, und da sie wieder heimkehrte in ihr Land, entbot sie dem Salomo, daß an jenem Holze einer hingen würde, durch des Tod der Juden Reich sollte verderbt werden. Darum nahm Salomo das Holz und ließ es tief in den Schoß der Erde vergraben. Über derselben Statt ward nach langer Zeit der Schafteich gemacht, darin die Nathi­näer die Opfertiere wuschen; und also geschah die Bewegung des Wassers und die Heilung der Kran­ken nicht allein durch die Ankunft des Engels, sondern auch durch die Kraft des Holzes. Da nun nahete das Leiden Christi, da schwamm das Holz empor; als das die Juden sahen, nahmen sie es und bereiteten davon das Kreuz des Herrn.»

In der literarischen Überlieferung durch die «Legenda aurea» ist jedoch nicht wie bei Rudolf Steiner von «drei Samenkörnern» die Rede. Nach den religionshistorischen Untersuchungen von Otto Zöckler in dessen Werk «Das Kreuz Christi» (Kapitel: Die Kreuzesholzlegenden des Mittelalters), Gütersloh 1875 (in der Basler Universitätsbibliothek) bildet innerhalb des «ungemein komplizierten Sagengewir­res» die Dreikörnersage eine eigene vom 12. Jahrhundert an auftretende Gruppe. Als früheste literar­historische Grundlage gelte die von dem alexandrinischen Kirchenlehrer Origenes im 2. Jahrhundert angeführte Tradition von dem Begrabensein Adams auf Golgatha, an die sich im 3. Jahrhundert durch das Nikodemus-Evangelium ans chließe die Überlieferung von der Sendung Seths zum Paradiese; ur­sprünglich mit der Version, daß Seth für seinen kranken Vater Adam das Öl der Barmherzigkeit vom Baume des Lebens holt. Erst in späteren Jahrhunderten trat dann der genealogische Zusammenhang des Paradiesesbaum-Holzes mit dem Kreuz Christi in verschiedenen Versionen au£

Rudolf Steiner, der in seinen verschiedenen Wiedergaben der Legende * diese und darüber hinaus­gehende Elemente frei verwendet, vor allem aber durch Seth die drei Samenkörner von den in eins ver­schlungenen beiden Paradiesesbäumen holen läßt, führt den Ursprung der Legende jedoch viel weiter, bis in die vorchtistlichen Mysterien, zurück. Als er nach der erstmaligen Darstellung im Vortrag Berlin 29. Mai 1905 gefragt wurde, ob diese Legende schon sehr alt sei, gab er zur Antwort: Sie trete literar­historisch zwar erst im Mittelalter auf, sei aber schon in den Mysterien ausgebildet und nur nicht auf­geschrieben gewesen. Sie knüpfe an die antiochischen Adonis-Mysterien an, in denen bereits Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung als äußeres Abbild der inneren Einweihung gefeiert worden sei. Dabei seien auch schon die klagenden Frauen am Kreuze aufgetreten, die im Christentum in Maria und Maria von Magdala erscheinen. Ähniiches sei auch bei den Apis-, Mithras- und Osiris-Mysterien gesche­hen. Was damals noch apokalyptisch gewesen sei, habe sich im Christentum erfüllt. So wie Johannes in seiner Apokalypse die Zukunft darstelle, so ähnlich verwandelten sich die alten Apokalypsen in neue Legenden. Die Königin von Saba sei die tiefer Blickende, die die eigentliche Weisheit erkannt habe.

Auch im Vortrag Kassel 29. Juni 1907 wird die «goldene Legende» als Lehrinhalt des Okkultismus seit «uralter Zeit» charakterisiert, und von Seth heißt es, daß «seine Sendung» immer so aufgefaßt wurde, daß er sieht, was «am Ende der Zeiten ist: das sich Ausgleichen der beiden Prinzipien im Menschen selber». Mit den beiden Prinzipien sind der rote und der rotblaue Blutbaum gemeint, symbolisiert durch die beiden Säulen.

Wie aus den geisteswissenschaftlichen Erklärungen der Legende hervorgeht, sind ihre Bilder Ausdruck der vierten Stufe der rosenkreuzerischen Einweihung, die man als Findung des Steins der Weisen bezeich­net, der auch der «güldene» genannt wird. Daraus ergäbe sich eine esoterische Begründung, warum Rudolf Steiner die Legende zumeist die «goldene Legende» nennt.

* Berlin, 29. Mai 1905, vorgesehen für Bibl.-Nr. 93; Leipzig, 15. Dezember 1906 in Bibl.-Nr. 97 «Das christliche Mysterium»;

Berlin, 17. Dezember 1906 in Bibl.-Nr. 96 «Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft»; München, 21. Mai 1907 in vorliegendem

Band; Kassel, 29. Juni1907 und Basel, 25. November 1907 in Bibl.-Nr. 100 «Menscbheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis»;

Dornach, 19. Dezember 1915 in Bibl.-Nr. 165 «Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls».

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Die beiden Säulen*

Wenn es in dem Vortrag über die Ausgestaltung des Saales heißt, daß man die tote Säule (links vom Zuschauer) mit J, die blautote Säule (rechts vom Zuschauer) mit B bezeichne und daß diese Buchstaben die Anfangsbuchstaben von zwei Worten seien, die Rudolf Steiner hier auszusprechen nicht befugt sei, so meinte er damit sicherlich nicht die aus der Bibel bekannten Namen Jaltin und Boaz (1. Kön. 7,21), die von der Freimaurerei übernommen worden sind. Es geht dies hervor aus dem Bericht über den Kongreß für die Zeitschrift «Luzifer-Gnosis», wonach diese Buchstaben auf den Säulen in einer «nur den Ein­geweihten bekannten Art» auf das damit verbundene und von Rudolf Steiner in moderner geisteswissen­schaftlicher Art dargestellte Entwicklungsgeheimnis deuten. Alle in öffentlichen Schriften oder in gevns­sen Gesellschaften gegebenen Deutungen blieben doch nur bei einer oberflächlichen exoterischen Aus­legung.

Es soll hier trotzdem eine solche Auslegung herangezogen werden, weil sie die Bedeutung der Säulen in der Kulturgeschichte beleuchtet. In dem «Vergleichenden Handbuch der Symbolik der Freimaurerei mit besonderer Rücksicht auf die Mythologien und Mysterien des Altertums» von Joseph Schauberg, Schaffhausen 1861 (in der Bibliothek Rudolf Steiners) heißt es in Band I, Seite 205 f., daß in der Maurer­loge nicht ohne Bedeutung die aufwärtssteigende Sonne und der sich senkende Mond den beiden Säulen gegenüberstünden. Ihre Bedeutung als ewiger Wechsel von «Tag und Nacht, Licht und Finsternis, Wer­den und Vergehen, Leben und Tod, Guten und Bösen, Reinen und Unreinen, Wahren und Falschen» ehörte dem höchsten Altertum der Ägypter und Semiten an und

sind auch daraus bei den christlichen Germanen des Mittelalters die zwei Türme der Dome und der Kirchen hervorgegangen... Öfters wurden in Ägypten vor dem Eingang in den Tempel zwei hohe Obelisken aufgestellt und diese Obelisken heißen ägyptisch die Sonnenstrahlen... Bei den semiti­schen Völkern, besonders bei den syrischen Stämmen und bei den Phöniziern, erscheinen in den Heilig­tümern der Götter zwei Säulen von Holz, Erz oder Stein als göttliche Symbole. So standen zu Tyrus in dem alten, von Gold als dem Symbole des Glanzes des Sonnenlichtes glänzenden Tempel des Malkarth, d.i. des Stadtkönigs, zwei berühmte Säulen, die eine von lauterem Golde, welche König Hiram, der Zeitgenosse und Freund des Königs Salomo, errichtet hatte; die andere von Smaragdstein, welche des nachts herrlich leuchtete. Auch in dem Tempel des Melkarth zu Gades standen zwei acht Ellen hohe eheme Säulen, auf welchen die Kosten des dortigen Tempelbaues verzeichnet waren. Die größten Säulen aber sollte der Gott sich selbst errichtet haben an dem Ende der Erde, die Felsenberge Calpe und Abylyx an der Straße von Gibraltar. Nach aufgefundenen Münzen scheinen auch in Syrien beim Eingange man­cher Tempel zwei Bäume, besonders zwei Cypressen als die Symbole der Sonne und des Mondes gestan­den zu haben. Vor der östlichen Seite des salomonischen Tempels standen die beiden Säulen Jakin und Boaz, deren Namen auf die zwei Säulen der Maurerlogen übertragen worden sind. Movers erklärt Jakin aus dem Phönizischen als den Feststehenden, den Aufrechten, Boaz als den sich Bewegenden oder Fort­schreitenden ...

Von dem Sonnengotte heißen die Säulen auch Sets oder Seths Säulen, da Set - zufolge Bunsen, Ägyp­tens Stelle in der Weltgeschichte V, S. 291 - der älteste urkundliche Name des Sonnengottes ist ... Set bedeutet übrigens im Hebräischen wie im Ägyptischen auch die Säule selbst, überhaupt das Aufrechte, Aufgerichtete, das Hohe ...»

In Band II, Seite 203 wird noch aus der freimaurerischen Konstitutionsurkunde von York aus dem Jahre 926 folgende Stelle angeführt: «Kains Sohn, Enoch, war besonders ein großer Baumeister und Stern-kundiger. Er sahe in den Sternen voraus, daß die Welt einmal durch Wasser und ein andermal durch Feuer untergehen würde, und setzte daher zwei große Säulen, eine von Stein, die andere von Ton, auf welche er die Grundlehren der Künste schrieb, damit die Wissenschaften Adams und seiner Nach­kommen nicht verloren gehen möchten.»

* Siehe auch Berliner Vortrage von 1904-1906, vorgesehen für Bibl.-Nr. 93; «Die Apokalypse des Johannes» (8. und 9. Vor­trag), Bibl.-Nr. 104; «Weltwesen und Ichheit» (3. Vortrag), Bibl.-Nr. 169; «Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?

Das dreifache Schattendasein unserer Zeit und das neue Christus-Licht», Bibl.-Nr. 187.

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«Dies sind also die Seth's Säulen oder Enoch's Säulen, wie die beiden Säulen Jaliin und Boaz: auch genannt werden, ohne daß jedoch in der heutigen Maurerei von dieser jüdisch-maurerischen Mythe ein größerer Gebrauch gemacht würde...»

Eine hieran anklingende Erklärung der Säulen als «Weltensäulen», als Säulen der Geburt und des Todes und der Namen Jakin und Boaz gibt Rudolf Steiner im Vortrag Berlin 20. Juni 1916 in Bibl.-Nr. 169: «Der Mensch tritt durch Jakin in das Erdenleben ein, versichernd durch Jakin: Dasjenige, was draußen im Makrokosmos ist, das lebt jetzt in dir, du bist jetzt ein Mikrokosmos, denn das heißt das Wort : In dir das über die Welt ausgegossene Göttliche.» « Boaz, die andere Säule: der Eintritt durch den Tod in die geistige Welt. Dasjenige, was mit dem Worte Boaz zusammengefaßt ist, bedeutet ungefähr: Das, was ich bisher in mir gesucht habe, die Stärke, die werde ich ausgegossen finden über die ganze Welt, in ihr werde ich leben.»

Nach dieser Charakterisierung folgt noch der wesentliche Hinweis, daß die Säulen das Leben jedoch nur einseitig darstellen, denn nur im Gleichgewichtszustand zwischen beiden sei das Leben: «Weder ist Jakin das Leben, denn es ist der Übergang von dem Geistigen zum Leibe, noch ist Boaz das Leben, denn es ist der Übergang vom Leibe zu dem Geist. Das Gleichgewicht ist dasjenige, worauf es an-kommt.»

Auf diesen Aspekt von Geburt und Tod wies auch die Darstellung der Säulen in der Malerei der Großen Kuppel des ersten Goetheanum-Baues in dem dreifachen Motiv «J-A-O» über dem Bühnen-bogen. (Rudolf Steiner «Zwölf Entwürfe für die Malerei der Großen Kuppel des ersten Goetheanum», eine Kunstmappe, Dornach 1930.) Auf Grund einer persönlichen Regieangabe Rudolf Steiners für die Uraufführung seines dritten Mysteriendramas «Der Hüter der Schwelle» gehören die beiden Säulen - als rote und blaue Säule wie beim Münchner Kongreß - zum Bühnenbild der letzten Szene (Tempel) bei den Aufführungen am Goetheanum.

Im Vortrag Dornach 29. Dezember 1918 in Bibl.-Nr. 187 bemerkt Rudolf Steiner, daß die Säulen in den heutigen Geheimgeselischaften nicht mehr in der richtigen Weise aufgestellt werden, weil sich diese richtige Aufstellung erst bei der wirklichen, innerlich erlebten Initiation zeige. Außerdem könne man sie im Raume gar nicht so aufstellen, wie sie sich in Wirklichkeit zeigen, wenn der Mensch seinen Leib verlasse.

Im Vortrag Berlin 20. Juni 1916 in Bibl.-Nr. 169 heißt es noch, daß diese Dinge heute durch die Geisteswissenschaft mehr angedeutet werden als in den Geheimgeselischaften, in denen sie nur symbolisch angedeutet werden, und zwar aus dem Grunde, «damit sie nicht der Menschheit ganz verlorengehen, damit später wiederum die Menschen kommen können, die dasjenige, was dem Wort nach aufbewahrt ist, auch verstehen werden».

H. W.

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#TI

HINWEISE ZUM BILDTEIL

Zu den Faksimilewiedergaben und Abbildungen im Textband:

#TX

Seite 193 bis 201 Das Programmheft für den Munchner Kongreß.

Die Wiedergabe erfolgte nach einem Probeabzug mit handschriftlichen Korrek­turen Rudolf Steiners. Die darin fehlenden Seiten wurden ergänzt nach dem ge­druckten Programm. Der. Umschlag ist auf Tafel I farbig wiedergegeben.

Seite 203 Notizblatt zum Kongreßprogramm. Wiedergabe nach dem Original (NBl. 3037>.

Seite 205 Oben: Skizze des siebenten Planetensiegels in einer von Stuttgart abweichenden Fassung. Wiedergabe nach dem Original (NBl. 8248).

Unten: Die vier Sprüche der Säulenweisheit. Wiedergabe der Handschrift nach dem Original (NBl. 6527).

Seite 207 Entwurf für das Jupiter- und Venuskapitäl der gemalten Säulen im Münchner Kongreßsaal. Wiedergabe nach dem Original in einem Notizbuch Rudolf Steiners

(NB 168).

Abbildung 1 Der Münchner Kongreßsaal mit den gemalten Siegeln und Säulen. Photographi­sche Aufnahme vom 21. Mai 1907.

Abbildungen 2 und 3 Innenaufnahmen vom Modellbau in Malsch. Oben: Blick vom Eingang nach Osten.

Unten: Nördliche Säulenreihe. Die Aufnahmen entstanden nach der 1965 voll­endeten Renovation und künstlerischen Ausgestaltung durch den Architekten Albert von Baravalle, Dornach. Für weitere Angaben vgl. die Ausführungen von E.A. Karl Stockmeyer auf Seite 114ff. und 120f.

Abbildungen 4 und 5 Der Säulensaal im Untergeschoß des Stuttgarter Hauses, Landhausstraße 70. Oben die südliche, unten die nördliche Seite. Die Aufnahmen stammen etwa aus dem Jahre 1935. Für weitere Angaben vgl. die Ausführungen von E. A. K. Stockmeyer a. a. O. sowie die Vorbemerkungen des Herausgebers auf Seite 139.

Abbildungen 6 bis 10 Der Veranstaltungsraum des Stuttgarter Hauses, Landhausstraße 70. Abb. 6, oben:

Blick zur Bühne; Abb. 7, unten: Blick zur Empore, an welcher die sieben Planeten-siegel (vgl. Tafeln XXI-XXVII) angebracht waren. Die Abbildungen 7 bis 10 zeigen Details der Innengestaltung. Vgl. hierzu auch die Vorbemerkungen auf Seite 139.

Zu den Tafeln:

Tafel I Umschlag des Münchner Programmheftes, Vorderseite. Die Rückseite ist schwarz bedruckt.

Tafeln II bis VI Originalentwürfe Rudolf Steiners für die apokalyptischen Siegel in München.

Erhalten haben sich nur die Skizzen für das zweite, dritte, vierte und siebente Siegel; das zweite mit den apokalyptischen Tieren in zweifacher Fassung. Sie sind nach dem Original wiedergegeben; das zweite Siegel auf Tafel II wurde leicht ver­kleinert.

Tafeln VII bis XIII Die sieben Siegelbilder, gemalt von Clara Rettich.

Die den Reproduktionen von 1907 zugrunde gelegenen originalen Siegelbilder aus München sind nicht mehr erhalten. Erhalten haben sich lediglich diejenigen Siegel-bilder, welche Rudolf Steiner ebenfalls von Clara Rettich je zweimal für den Säulen-saal des Stuttgarter Hauses im Jahre 1911 malen ließ. Sie waren dort zwischen den

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zweimal sieben Säulen angebracht und befinden sich jetzt im Mchiv der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung. Die farbigen Wiedergaben in der vorliegenden Aus­gabe sind nach dieser Stuttgarter Serie hergestellt. Die Originale haben einen Durch­messer von 70 cm und sind mit Öl lasiert auf Leinwand gemalt.

Tafeln XIV bis XX Die sieben Säulenbilder, gemalt von Karl Stahl.

Für den Münchner Kongreß waren die Säulenbilder nach plastischen Modellen

Rudolf Steiners von dem Maler Karl Stahl auf große Bretter gemalt worden. Die

Modelle und die Bilder von 1907 haben sich nicht erhalten. Die Wiedergabe in der

vorliegenden Ausgabe wurde vorgenommen nach den Reproduktionen in der von

Rudolf Steiner 1907 herausgegebenen Mappe.

Tafeln XXI bis XXVII Die sieben Planetensiegel.

Die ersten fünf sind leicht vergrößerte Wiedergaben aus dem Münchner Programm-heft (vgl. Seiten 193-201 im Textteil). Die Originalzeichnungen Rudolf Steiners haben sich nicht erhalten; es ist auch nicht mehr bekannt, von wem sie graphisch ausgeführt wurden.

Das sechste und siebente Planetensiegel gestaltete Rudolf Steiner erst vier Jahre später für das Stuttgarter Haus. Diese beiden letzten Planetensiegel wurden schon für die Festausgabe dieser Mappe von 1957 von Architekt Erich Zimmer, Dornach, gezeichnet. Von dem siebenten Planetensiegel hat sich eine Originalzeichnung Rudolf Steiners erhalten; da sie von der Stuttgarter Form etwas abweicht, ist auch diese Skizze abgebildet worden (siehe Seite 205 im Bildteil).

Tafeln XXVIII und XXIk Verkleinerte Wiedergabe von Originalentwürfen Rudolf Steiners für die Innengestal­tung des großen und kleinen Kuppelraumes des Ersten Goetheanum. Original-größe 48,5 x 62 cm. Die Zeichnungen sind undatiert. Infolge der darauf ver­merkten Angaben für die zu verwendenden Hölzer ist jedoch anzunehmen, daß sie 1913 für den Dornacher Bau entstanden sind und nicht, wie in der Ausgabe von 1957 angegeben, für München. Bei dem geplanten Münchner Zentralbau war für die Innenraumgestaltung kein Holz vorgesehen.

Tafeln XXX bis XXXII Innenansichten des Ersten Goetheanum, gezeichnet von Friedrich Bergmann, Wup­pertal.

Es handelt sich um maßstabgetreue Rekonstruktionen nach dem Innenmodell Rudolf Steiners, nach Planen und photographischen Aufnahmen. Sie sind das Er­gebnis einer jahrzehntelangen Arbeit mit den Bauformen des Goetheanum.

Der Plastiker Friedrich Bergmann, geb. 1900, ist ein Schüler von Oswald Dubach und Carl Kemper, die beide maßgeblich am Goetheanumbau mitwirkten.

Die Vorlagen für die Wiedergabe in diesem Band wurden in dankenswerter Weise von Friedrich Bergmann zur Verfügung gestellt.

Tafeln XXX und XXI: Die sieben Säulen mit den Architraven im großen Kuppel-raum, Südseite.

Tafel XXXII: Blick vom Zuschauerraum in den kleinen Kuppelraum (Bühnen-raum).

Die von Rudolf Steiner geschaffene neuneinhalb Meter hohe Holzplastik konnte bis zum Brand des Goetheanum noch nicht an dem für sie vorgesehenen Ort auf­gestellt werden, da sie noch unvollendet war. Sie befindet sich heute in einem be­sonderen Raum des zweiten Goetheanum. #TI III BILDTEIL Faksimilewiedergaben und Abbildungen #TX Auf den foTgenden Seiten 193 bis 201: Das Programmheft für den Münchner Kongreß Pfingsten 1907, mit handschriftlichen Korrekturen Rudolf Steiners. Der Umschlag ist auf Tafel 1 farbig wiedergegeben.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.