GA 275

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GELEITWORT von Marie Steiner (1928)

#G275-1966-SE009 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

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GELEITWORT

von Marie Steiner (1928)

zu der Schriftenreihe « Kunst im Lichte der Mysterienweisheit»

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Nur diejenigen werden verstehen können, was in der Schriftenreihe «Kunst im Lichte der Mysterienweisheit» an Erneuerungsimpulsen der Menschheit gegeben wird, welche das Wesen der Geisteswissen­schaft voll in sich haben aufnehmen können; so aufnehmen können, daß ihnen die Konkretheit der geistigen Welt, ihre gestaltungsreiche Wesenhaftigkeit eine Selbstverständlichkeit geworden ist. In der vollen Wehr des wissenschaftlichen Rüstzeugs der Gegenwart und in schärf­ster Gedankengeschlossenheit hat Rudolf Steiner sie den Menschen seiner Zeit nahegebracht und sie darauf hingewiesen, wie der Mensch­heit Ich in den Brennpunkt der Bewußtseinsentwickelung gestellt ist, wie sie wissend dieses Ich ergreifen muß. Ein Weg der lebensdurch­pulsten, lebenserhärteten, aber auch besonnenen und durchsonnten Ergreifung des Ich ist die Kunst. Es ist einer der gesündesten und der aufschlußreichsten, einer der geradesten, der am spätesten von seiner Ursprungsstätte, dem Tempel der Mysterienweisheit, abgebogen ist und nicht so schnell verschüttet werden konnte, wie es der Weg der Religion wurde durch die Machtsucht der Kirche, der Weg der Wissenschaft durch die Denk-Erstarrung der materialistischen Zeit­strömung. Daß diese drei Wege sich wieder finden können, daß Kunst, Wissenschaft und Religion sich wieder verbinden und durch­dringen mögen, dafür hat Rudolf Steiner unter uns gewirkt. Jedem dieser Wege hat er seine volle Aufmerksamkeit zugewandt; in ihrer lebendigen Synthese sah er das Heil der Menschheit. So wie sie einst zusammenwirkten in den uralt heiligen Mysterien und von dort aus alle Kulturen der Erde ins Leben riefen, durchleuchteten und nährten, so müssen sie wieder im wissenden Erfassen ihres einheitlichen geisti­gen Ursprungs einander genähert und verbunden werden. Ein Wüsen dieser lebensvoll wesenhaften Gemeinschaft hat heute die Menschheit in sich zu erwecken. Sie kann es in voller Freiheit auf den Wegen der prüfenden Einsicht und der Arbeitspraxis, wenn sie sich nicht selbst

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furchtsam verschließt vor den ihr überlegenen, noch unbekannten Kräften; wenn sie sich nicht beugt unter den Zwang priesterlicher Beeinflussung, unter die Autorität dogmatischer Wissenschaftlichkeit. Die Etappen des Weges sind ihr erschlossen in weisheitsvoller un­persönlichster Führung durch einen Wissenden, der sich nicht ge­wandt hat an das Unterwerfungs- und Devotionsbedürfnis der Menschheit, sondern an ihr Erkenntnisvermögen, entsprechend den Forderungen der Zeit.

Die erste Etappe ist das Studium; Voraussetzung also für das Ver­ständnis desjenigen, was in den Vorträgen dieser Schriftenreihe dar­gelegt wird, ist das Studium der Geisteswissenschaft. In dem Schriften-verzeichnis, das den Einzelheften beigefügt ist, werden Werke Rudolf Steiners genannt, die eine Grundlage geben können für das Ein­dringen in die Mysterien, die dem künstlerischen Schaffen des Men­schen zugrunde liegen. Ihre vom Übersinnlichen her wirkenden Im­pulse sollen nun aus der Dumpfheit des Unterbewußten in die Wach­heit des Ich-Bewußtseins hinübergeführt werden. Die Kunst ist auf dem Wege zu verdorren; auch sie hat sich bereits abgeschnürt von ihrer geistigen Lebensquelle. Auf den Wegen der sinnlichen Beobach­tung und der Nachahmung physischer Zufälligkeiten, auf den Wegen des Überwucherns der Persönlichkeit hat sie sich völlig entfernt von ihrem Ursprung. Die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen, zurück­zufinden zum Ursprungsgeist, und mit den neu errungenen Kräften der wachen Persönlichkeit, die ihren Ewigkeitswert kennt, den ver­lorenen Weg wieder zu betreten, in erkenntnisfroher Freiheit, das ist die Aufgabe der gegenwärtigen Menschheit. Dazu soll ihr helfen die tiefe Weisheit und Schönheit, die Kraft, die aus diesen nun der Öffent­lichkeit zu übergebenden Worten Rudolf Steiners zu uns sprechen.

Gesprochene Worte waren es, nicht für die Herausgabe bestimmte. Das eifrige Nachschreiben der Zuhörer war Rudolf Steiner nicht lieb, und der Vervielfältigung, dem Druck des gesprochenen Wortes stand er abwehrend gegenüber. Sein Stilgefühl litt darunter, da er anders empfand für das gesprochene, anders für das geschriebene Wort. Die Nachschriften schienen ihm immer mangelhaft, da es ihm bei dem Verkünden okkulter Wahrheiten auf die feinste Nuancierung, auf die

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subtilste Wort- und Satzwendung ankam. Auch wünschte er, daß sein Wort lebendig in den Seelen wirke und nicht im Schriftenschrank ver­staube. Doch war es der rücksichtslose Wille seiner Zuhörer, der die Notwendigkeit schuf, nachzugeben. Sie entstand dadurch, daß zu viel Unberufene ihre Niederschriften vervielfältigten und verbreiteten, und daß eine Korrektur dieses Übels nur dadurch entstehen konnte, daß die bestmögliche Nachschrift den andern entgegengestellt wurde und als einzig berechtigte galt. So zeitigte ein Böses zuletzt ein Gutes. Dem Geber fteilich brachte es Schmerz und böswillige Deutung von seiten der erbitterten Feinde, jener Gegner esoterischer Weisheit, die wie die Fledermäuse das Licht hassen. Die Zeit aber verlangt sie. Das einzige Mittel gegenüber dem Überwuchern phantastischer, dilettan­tischer Okkultismen ist die mit allem Wissen der Zeit gerüstete Weis­heit. Aus vielen Zuschriften von Außenstehenden geht hervor, daß ihnen das Werk Rudolf Steiners das Leben erst lebenswert machte. Wir dürfen nichts mehr verheimlichen, mit nichts zurückhalten, denn die Wahrheit allein kann Lüge und Tod besiegen.

Der große Geber ist nicht mehr da, aber sein Wort wird weiter wirken. Die trägen Seelen öffnen sich allmählich; das verholzte Den­ken erschließt sich Schritt für Schritt der Wesenhaftigkeit geistiger Zusammenhänge und ihrer kündenden Schönheitskraft, wie sie aus seinen Worten uns entgegenleuchten. Und sollten sie verspottet und in den Staub gezerrt werden, ihm kann es nichts mehr antun. Die Menschheit hat ihm alles Leid zugefügt, das sie einem Großen zu-fügen kann. Er hat sie mit seiner vollen Liebe umfaßt. Sein Wort soll ihr weiter helfen.

Lange genug irrten wir im Finstern. Ein Licht ist uns entzündet worden, das unsere Seelen läutern kann; noch sind wir zu sehr be­täubt von dem schwelenden Dunstkreis unsrer materialistischen Zeit-krankheiten. Aber das uns gebrachte Licht ist so strahlend und leben­weckend, daß, wenn wir nur aufräumen u'ollen mit dem in uns auf­gehäuften Schutt, wir an des Lichtes Kraft genesen müssen.

In jeder Kunst wird gedarbt, auf jedem Gebiete des Lebens fühlt man die Verdorrung um sich greifen. Sieghaft schreiten vorwärts allein die Technik und die Mechanik. Die Mechanik hat sich nun auch

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der Kunst bemächtigt, hat sogar die geistigste Kunst, die Musik, ge­knebelt und sich dienstbar gemacht. Die Menschheit merkt ja kaum, was da an unterseelischem Zersetzungsgift in sie hineindringt. Der Übergang vom Geist zum Untersinnlichen geschah ja fast unmerklich:

all das seelenlose, hölzerne Klaviergeklapper, das erotische Töne­getändel, die nervenzerreißenden musikalischen Psychosen wurden ziemlich willenlos hingenommen als Zeitvertreib, als Sinnenkitzel oder Nervenaufpeitschung. Die Menschheit merkte kaum, wohin sie trieb, weil ihr geistiger Sinn eingelullt war, und weil über die Seelenöde hin­über die Großen der Musik noch ihre riesigen Schatten warfen: der musikalische Alltag schien daneben belanglos. Jetzt aber zeigen sich die Folgen dieser Duldung. Wir sind in den Zwang der Musikmaschine geraten; sie verfolgt uns bis in das Walten der Natur hinein. Sie treibt uns hinein in das Untersinnliche, in den Bereich der Dämonie.

Eine Erneuerung der Kunst wird nicht stattfinden können durch Liebäugeln mit moderner Dekadenz und durch Kompromisse; nur durch die Wiederkehr zu den geistigen Quellen des Lebens. Wer an diesen Quellen getrunken hat, wie dürfte der es verantworten, die Menschheit darben zu sehen und ihr nicht das Heil zuzuführen, an dem sie gesunden kann?

Jenes Heil liegt in der Erschließung der Mysterienweisheit, die in einer der gegenwärtigen Menschheit zugänglichen Form ihr wieder­gegeben werden muß. Die neue Initiationswissenschaft muß an der Menschheit Denkkräfte appellieren, an ihr Kunst- und Stilgefühl und ihren ewigen Wesenskern, indem sie auf jedem dieser Gebiete zur Bewußtseinswachheit aufruft.

Durch Wort und Bild und Tat wurde Rudolf Steiner ein Rufer zur Wachheit auf jedem dieser Gebiete. Er schuf Richtunggebendes in der Kunst. Er löste sie aus der Starrheit und brachte sie in die Bewegung; er gab dem Ertöteten wieder Leben. Vielleicht hätte die Fülle der Auf-gaben auf anderen Gebieten ihm nie die Gelegenheit geboten, alle Bereiche der Kunst befruchtend zu durchschreiten, wenn nicht die Errichtung des Goetheanum diese Aufgabe von ihm gefordert hätte, der Weltkrieg aber durch die Unterbindung eines Teiles seiner Tätig­keit die Zeitmöglichkeit geschaffen hätte.

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Im Goetheanum konnte Rudolf Steiner den in ihm lebenden archi­tektonischen Gedanken verwirklichen. Er durfte ihn dem lebendig­sten Baumaterial, dem Holz anvertrauen. Es entstand ein Werk unsag­barer Schönheit, erschütternd durch die Weckekraft, die seinen For­men, deren Umbildung in organischer Entwickelungsfolge, die dem gegenseitigen Verhältnis der Richtungen, Hebungen, Senkungen und ihren Proportionen entsprang. Zahl, Maß und Gewicht siegten in ihrem schwingenden, hebenden, richtenden Dreiklang. Der Bau stand da als Mensch, der Mensch als Bau. Das Werden der Welten, das Werden und Wirken des Menschen, die Taten der Götter waren in ihn hineingeschrieben, waren offenbart in den Farbenflutungen der Kuppel, in dem organischen Wachstum der Säulen- und Architrav­motive, in den Fensterlichtgebilden. Skulptur und Malerei gingen über sich hinaus, überwanden die Linie und gingen in die Bewegung über. Die Farbe schuf von innen heraus die Gestaltung, aus ihrer eigenen schöpferischen Beseeltheit. In der neu aufblühenden Kunst, der Eurythmie, waren Ton und Sprache Bewegung geworden und in die Sichtbarkeit getreten durch das Instrument des mensch­lichen Körpers. Die also sichtbar gewordenen schöpferischen Kräfte der Sprache wirkten wiederum belebend zurück auf die anderen Künste, entzündeten geistiges Schaffensfeuer. Der ihm innewoh­nende innere Ton konnte den lufterzeugten Ton ergreifen, ihn durch-geistigen und in höhere Sphären heben. Das «Haus der Sprache» hatte Rudolf Steiner seinen Bau genannt. Alle Künste hatten dort eine Heimstätte gefunden und Wissenschaft und Mysterienweisheit. Die Synthese von Kunst, Wissenschaft und Religion war wieder voll­zogen.

Ein solcher Bau kann nicht wieder entstehen. Es sei denn, daß die Menschen, die als ausführende Künstler an ihm gearbeitet haben, wieder in die Lage versetzt werden, ihr Erlerntes, ihr Erlebtes in ein gleiches Werk umzusetzen.

Sonst sinkt als Erinnerung in die Vergangenheit zurück, jedoch als geistiger Keim einer neuen Zukunft entgegen ein Werk, das machtvoll die Menschheit schon heute hätte fördern können auf ihrem Ent­wickelungswege zum Geiste hin. Mit den Flammen der Silvesternacht

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von 1922/23 ist ein ungeheurer Fortschrittsimpuls für die Menschheit zunächst vernichtet worden.

Die retardierenden Mächte haben es so gewollt. Sie haben den Pöbel gegen Rudolf Steiner gehetzt und versuchen auch jetzt, sein Gedächtnis zu schwärzen. Aber das nachhallende Gekläff kann sein geistiges Werk nicht mehr zerstören. Dazu ist es zu tief verankert in der Bodenständigkeit geistiger Wesenhaftigkeit und in den seelischen Bedürfnissen unserer Zeit.

Der neue Bau ist in dem starrsten Material errichtet: dem Beton. Burgartig ragt er empor, aber nicht sich abschließend zu Trutz und Wehr. Wie eine Arbeitsstätte des Geistes, willkommen heißend alle, die ringen wollen um das edelste Gut der Welt- und Menschen-erkenntnis, strahlt er hinaus in die Landschaft.

Das neue Goetheanum erhebt nicht den Anspruch, in seiner Aus­gestaltung und Wirkung auch nur ein wenig mit dem in Flammen untergegangenen zu konkurrieren. Wohl ragt seine äußere Form mächtig empor in kühner, harmonischer Schönheit, ein letztes Ge­schenk des dahingeschiedenen Meisters der Schönheitsimpulse. Als er diese Form geschaffen hatte, legte er Hammer, Kelle und Richtmaß nieder und schuf noch eine Weile still am Wort, bevor er uns verließ. Das Werk am Bau setzen nun seine Schüler fort in dem Maß der ihnen gegebenen Kräfte.

Es war des Meisters letztes Vermächtnis. Sie aber waren an den harten Zwang der Knappheit finanzieller Mittel gebunden; sie mußten ihre Intentionen, ja oft die vom Meister hinterlassenen, von ihm noch angegebenen Richtlinien opfern unter dem starren Gebot des Geld-mangels. Unwillkürlich taucht der Gedanke auf: Wie anders hätte es sein können, wenn die äußeren Mittel gereicht hätten, um auch im Innern des Baus dasjenige auszuführen, was die in der Esoterik wurzelnde Kraft der Mysterienimpulse verlangte. Unwillkürlich drängt sich immer wieder der Gedanke auf: Wann und wo wird der Bau geschaffen werden können, in welchem Lande, zu welcher Zeit, der diese unendlichen Impulse wird in sich konzentrieren und aus­strömen lassen können, die jedes Detail im verbrannten Goetheanum zusammenfügten zu einem weltumspannenden Ganzen, Mensch und

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Welt, den Mikrokosmos und den Makrokosmos in ihren Kräften zum Ausdruck bringend und so geistschöpferisch und seelengestal­tend waltend?

Rudolf Steiner gab den ausführenden Künstlern, als er ihnen die Motive zu den Radierungen für die Arbeit im Fensterglase über­reichte, Worte, die den Gang des Einzuweihenden durch die ver­schiedenen Stufen der Initiation andeuten. Sie sollen dieser Schriften­reihe über «Kunst im Lichte der Mysterienweisheit» als leitende Richtworte mit auf den Weg gegeben werden. Wahre Kunst führt zur Mysterienweisheit. Ihn, der zu ihrem Lichte strebt, erfaßt die Kraft der Worte:

Es offenbart

Ich schaue

Es hat geoffenbart

Es gebiert sich der Wille Und Menschenliebe entsteht

Die Welt erwirkt den Willen Die Liebe der Welt wirkt

Es ist der Wille geboren Und Menschenliebe ergreift ihn

Und er sieht Sich entschließend

Die Welt gibt ihm das Sehen Die Außenwelt im Entschluß

Und er macht sich sehend Es hat gewollt

Es war geworden Es wird sein

Es ist gewesen Es entsteht

Es war Es ist

Ich schaue den Bau So wird er fromm

Die Welt baut Die Welt wirkt Frommsein

Und der Bau wird Mensch Die Frommheit wirkt

ERSTER VORTRAG Dornach, 28. Dezember 1914

#G275-1966-SE017 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

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ERSTER VORTRAG

Dornach, 28. Dezember 1914

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Diese hier gehaltenen Vorträge waren bisher im wesentlichen dazu bestimmt, die Brücke zu schlagen von den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen zu einer von unserer Gegenwart geforderten Lebens-auffassung, und ich gedenke, auch in diesen Tagen gerade über dieses Thema einige Andeutungen zu machen.

Das, was wir modernes Leben nennen, tritt ja denjenigen Menschen, welche, sagen wir, durch städtisches oder damit zusammenhängendes Leben entrissen sind dem unmittelbaren Zusammenhang mit der Natur, lebendig entgegen. Und wir wissen, daß die Menschen seit dem Heraufkommen dieses modernen Lebens sich immer Gedanken gemacht haben über die Bedeutung des modernen Lebens für den ganzen sowohl materiellen wie geistigen Kulturfortschritt der Mensch­heit. Nun soll sich hineinstellen in dieses moderne Leben dasjenige, was wir empfinden als die Impulse, die uns aus der Geisteswissen­schaft kommen. Wir werden uns allmählich das Gefühl errungen haben, daß gegenüber manchem, was uns in diesem Leben entgegen­tritt, die Geisteswissenschaft notwendig ist wie eine Art Ausgleich von manchem, was das moderne Leben in sich enthält an Herab­stimmendem, man könnte geradezu sagen Zerstörendem für die all­gemeinen geistig-göttlichen Lebenskräfte des Menschen.

Wenn derjenige, welcher imstande ist, durch die Anfangsstadien, möchte man sagen, des Initiiertenlebens die moderne Kultur im Lebenszusammenhange auf sich wirken zu lassen, sie wirklich auf sich wirken läßt, dann macht er Erfahrungen, die ihn tiefer belehren kön­nen über die Bedeutung des modernen Lebens für das Gesamtleben des Menschen, als die äußere, nicht von der Spiritualität getragene Beobachtung dieses Lebens es vermag. Derjenige, welcher, ich will sagen, die ersten Schritte des Initiiertenlebens gemacht hat, durchlebt in anderer Art die Erfahrung, die gemacht werden kann, wenn wir in einem Eisenbahnzug oder auf einem Dampfschiffe eine Nacht zu­bringen, insbesondere wenn wir in dem Eisenbahnzug oder auf dem

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Dampischiffe schlafen. Der Unterschied, der da vorliegt mit Bezug auf den in den Anfangsstadien des Initiiertenlebens Stehenden und demjenigen, der nicht irgendwie in Zusammenhang gekommen ist mit diesem Initüertenleben, besteht darinnen, daß bei dem ersteren die Erlebnisse bewußt werden, daß er erkennen lernt, was da eigent­lich mit ihm geschieht, wenn er eine Nacht, insbesondere schlafend, auf einem Dampfschiffe oder in einem Eisenbahnzuge fahrend zu-bringt. Die Einflüsse, die auf den ganzen menschlichen Organismus von einem solchen Erleben ausgehen, erfährt selbstverständlich auch derjenige, der die Dinge nicht durch Initiation kennenlernt, genauso wie der andere, der von diesen Einflüssen durch die Initiation wissen lernt. In bezug auf die Gesamtwirkung auf die menschliche Natur ist natürlich kein Unterschied.

Wenn wir verstehen wollen, was mit diesen Andeutungen eigentlich gemeint ist, dann müssen wir uns ins Gedächtnis zurückrufen eine uns allerdings bekannte geisteswissenschaftliche Wahrheit, nämlich diese, daß, während wir schlafen, wir mit unserem Ich und unserem astra­lischen Leibe außerhalb unseres physischen und Ätherleibes sind. Wir sind tatsächlich zunächst wegen gewisser Beschränkungen, die uns kosmische Gesetze naturgemäß auferlegen, mit unserem Ich und unserem astralischen Leibe in einem solchen Falle vorzugsweise in unmittelbarer Nähe unseres physischen und Ätherleibes, so daß wir mit unserem Ich und Astralleibe, wenn wir in einem Eisenbahnwagen fahrend schlafen, im Grunde genommen ganz darinnen sind in alldem Gebremse, Gerolle und Getöse, das mit den Rädern und der Maschi­nerie des Zuges und so weiter zusammenhängt. Ebenso ist es auf dem modernen Dampfschiff. In alledem, was da um uns herum vorgeht, stecken wir darinnen. In diesen wahrhaft nicht gerade musikalischen Erfahrungen unserer Umgebung stecken wir darinnen, und man braucht nur die allerersten Schritte der Initiation durchgemacht zu haben, dann kann man beim Aufwachen merken, wie das in den physischen und Ätherleib zurückkehrende Ich mit dem astralischen Leibe noch mitbringen, was sie erlebten in dem Gepreßtwerden durch die Maschinerie, in der sie wirklich steckten und durch die sie in dem Momente vor dem Aufwachen durchgingen.

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All das disharmonische Gepresse und Gezerre nimmt man mit in den physischen und Ätherleib, und Wer jemals aufgewacht ist mit dem Nachklingen desjenigen, was ein Dampfschiff oder ein Eisenbahnzug mit ihren Maschinerien in seinem Ich, in seinem astralischen Leibe angerichtet haben, wer sich das hereingebracht hat in sein tagwaches Bewußtsein, der merkt, wie wenig zusammenstimmend das ist, was man da hereinbringt, mit dem, was im Inneren des Menschen abläuft als eine Art Erlebnis des Ich und des astralischen Leibes, von der inneren Gesetzmäßigkeit des physischen und ätherischen Leibes. Man bringt tatsächlich die herbste Unordnung, das greulichste Getöse hinein, ein Gezerre, Gequietsche und Geknarre, und das wirkt auf den Ätherleib tatsächlich so, wenn man eine feinere Empfindung für die Sache hat, wie wenn man - das ist natürlich ein grober Vergleich, aber Sie werden ihn nicht rrißverstehen - mit dem physischen Leib, das andere wirkt aber auf den Ätherleib, in einer Maschine zerquetscht und zerteilt würde. Dies ist eine ganz notwendige Begleiterscheinung des modernen Lebens, und ich möchte gleich von vornherein eine, ich möchte sagen, warnende Bemerkung machen, weil solche Aus­einandersetzungen wie diejenigen, die ich heute zu machen gedenke, sehr leicht wachrufen dasjenige, was ich nennen möchte den ver­borgenen Hochmut der Theosophen, einen gewissen verborgenen Hochmut, der ja da und dort reichlich blüht.

Ich sage das selbstverständlich ohne die geringste auch nur all­gemeine, geschweige denn speziellere Anspielung, denn wenn man so etwas auseinandersetzt wie das, was heute auseinandergesetzt wor­den ist, so ruft man gleich Urteile hervor. Ich meine, bei dem an­gedeuteten Hochmut der Theosophen kann es leicht der Fall sein, daß man sich sagt: Da muß ich mich recht sehr hüten, mich diesen zer­störenden Mächten mit meiner eigenen Leiblichkeit auszusetzen, da muß ich mich recht sehr hüten gegenüber all den Einflüssen des modernen Lebens, da muß ich mich hübsch abschließen in ein Käm­merchen mit der richtigen Umgebung, mit den durch die Theosophie ratsamen farbigen Wandungen, so daß ja nichts mich berührt, was meine leibliche Organisation betrifft, von alledem, was das moderne Leben bringt.

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Diese Wirkung möchte ich mit meinen Auseinandersetzungen wahr­haftig nicht hervorrufen. All das Sich-Zurückziehen, das gewisser­maßen Sich-bewahren-Wollen vor den Einflüssen desjenigen, was das Weltenkarma notwendigerweise über uns bringen muß, entspringt einer Schwäche. Die Anthroposophie aber kann einzig das mensch­liche Gemüt stärken, soll diejenige Kraft entwickeln, welche uns innerlich wappnet und stärkt gegenüber diesen Einflüssen. Daher könnte auch niemals auf dem Felde unserer geistigen Bewegung er­blühen irgendwelche Anempfehlung eines Sich-Zurückziehens von dem modernen Leben, eines Bildens einer gewissen Treibhauskultur des geistigen Lebens. Darum kann es sich auf dem Boden wahrer Geisteskultur niemals handeln. Obwohl es zu begreifen ist, daß schwächere Naturen sich gern zurückziehen aus dem modernen Leben in diese oder jene Kolonien, in denen sie nicht berührt werden von dem modernen Leben, so muß doch gesagt werden, daß das nicht ent­springt einer Stärke, sondern einer Schwäche der Seele. Unsere Auf­gabe aber besteht darin, daß wir die Seele stark machen durch das Sich-Durchdringen mit den Impulsen, die aus der Geisteswissenschaft und Geistesforschung kommen, damit sie gewappnet ist gegen die Einflüsse des modernen Lebens, so daß die Seele es aushalten kann, wenn es auch noch so sehr um sie hämmert und klopft, daß sie dennoch imstande ist, ihren Weg in die geistig-göttlichen Gebiete zu finden durch das Hämmern und Klopfen der ahrimanischen Geister hindurch.

Eines müssen wir beachten, worauf auch schon oftmals von mir hingedeutet worden ist. Wir schlafen als Menschen nicht nur in der Nacht. Wir schlafen tatsächlich auch bei Tage, nur merkt man den Tagesschlaf weniger als den Nachtschlaf. In der Nacht ist das Ge­dankenleben des Menschen herabgedämmert, und weil der Mensch zunächst vorzugsweise seelisch in seinen Gedanken lebt, so merkt er naturgemäß das Herabgedämmertsein des Gedankenlebens während des Nachtschlafes mehr. Bei Tage ruht mehr das Willensleben, das merkt man weniger, weil man weniger in dem Willen lebt. Eine Folge dessen ist all das Streiten der Philosophen über die Freiheit und Un­freiheit des Willens, weil sie nicht beachten, daß sie als Tagschläfer den

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Willen untersuchen und daher auf seine wahre Natur nicht kommen können, so daß sie viel ungereimtes Zeug sprechen über den freien und den unfreien Willen, über Indeterminismus und Determinismus. Tatsächlich, während wir unser breites, tägliches Leben entfalten, ist unser Willensleben nur in sehr geringem Grade uns bewußt, es taucht hinunter in das Unterbewußte, in die rein dem astralischen Leibe angehörige Region.

So nehmen wir auch während des tagwachen Lebens teil an alledem, was das moderne Leben rings um uns herum an Gepresse und Ge­hämmere der modernen Technik hervorgebracht hat. Bei Nacht ver­senken wir uns mehr in dieses Gepresse und Gehämmere mit unserem Gefühls- und Gedankenleben, bei Tag mehr mit unserem Willens-und Gefühlsleben.

Nun liegt die Sache so, daß ja dasjenige, was wir so modernes Leben nennen, nicht immer vorhanden war in dem Entwickelungsgange der Menschheit. Das ist erst heraufgekommen, und zwar im wesentlichen heraufgekommen seit dem Beginne der fünften nachatlantischen Kulturepoche. Mit dem Beginne der fünften nachatlantischen Kultur-epoche fällt auch zusammen der Beginn dieses modernen Lebens. Wie spricht die äußere Geisteskultur über das Heraufkommen dieses mo­dernen Lebens? Die moderne Geisteskultur ist ja, wie wir wissen, stolz auf das, was sie sich errungen hat mit diesem modernen Leben. Sie sagt etwa so: Das ganze Altertum und das ganze Mittelalter hin­durch waren die Menschen nicht fähig, eine wirkliche Naturbetrach­tung zu entwickeln, die zu einer Naturwissenschaft hätte führen können. Erst in neuerer Zeit ist dies eingetreten. - Und wenn man so von der neueren Zeit spricht, so fällt das eben zusammen mit dem Beginne der fünften nachatlantischen Kulturepoche. Da hat man sich frei gemacht von dem alten Naturbeobachten und betrachtet die Natur unbefangen, rein ihrer abstrakten Gesetzmäßigkeit nach. Dadurch ist die Naturwissenschaft auch in die Lage gekommen, durch die Erfah­rung der Naturgesetze in einer unerhörten Weise - man hört dieses Wort recht oft - die Beherrschung der Naturkräfte für sich möglich zu machen. Das aber ist die moderne Technik, und das, woraus die moderne Technik besteht, ist dasjenige, was dadurch entstand, daß

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der Mensch die Naturgesetze kennenlernte und wiederum die Materie nach diesen Naturgesetzen zu seinen Maschinen formte, mit denen er dann auf die Natur und das Leben wirkt, indem er das moderne Leben überhaupt dadurch maschinell durchzieht und sich sein tech­nisches Milieu schafft, also dasjenige, was das moderne Leben um uns herum ist und was es schafft. So sieht man: Die neuere Zeit hat erst die wahre Naturwissenschaft begründet und damit die rechte Be­herrschung der Natur und ihrer Kräfte.

So ähnlich hört man sehr häufig reden. Wenn man aber so redet, spricht man die Sprache Ahrimans, denn dies ist in der Sprache Ahrimans gesprochen. Wir wollen einmal versuchen, diese Sprache Ahrimans in jene wirkliche, wahrhaftige Sprache zu übersetzen, die wir versuchen, uns durch die Geisteswissenschaft wieder anzueignen, und durch die den Worten nicht bloß die Bedeutung gegeben wird, die ihnen gegeben werden kann aus der Betrachtung der äußeren Natur, sondern auch jene Bedeutung, die ihnen zukommt, wenn wir den Kosmos in seiner Ganzheit, das heißt gleichzeitig in seiner Natur und in seinem geistigen Leben betrachten.

Nehmen wir zunächst ganz äußerlich das, was geschieht, wenn wir die moderne Technik ausbilden. Was da geschieht, ist ja nichts anderes zunächst, als, ich möchte sagen, ein Arbeiten in zwei Etappen. Die erste Etappe besteht darin, daß wir den Zusammenhang der Natur zerstören. Wir zerklopfen die Steinbrüche, holen aus ihnen heraus die Steine, wir malträtieren die Wälder, holen aus ihnen heraus das Holz -man könnte das noch weiter ausführen -, kurz, man schafit zunächst Rohmaterialien, indem man den Naturzusammenhang zerklopft und zermürbt. Und die zweite Etappe besteht darinnen, daß das, was man so aus der Natur herausgeschlagen hat, wieder zusammengefügt wird zu einer Maschine nach den Gesetzen, die man erkannt hat als Natur­gesetze. Das sind die zwei Etappen, wenn man die Sache äußerlich betrachtet.

Aber wie ist die Sache innerlich betrachtet? Innerlich betrachtet ist die Sache so: Wenn wir die Natur zermürben, zunächst die minera­lische, so ist dies - wir wissen es aus früheren Betrachtungen - ver­knüpft mit einem gewissen Wohlgefühl, welches das geistige Elementarische

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darinnen empfindet. Das soll uns aber hier weniger beküm­mern. In dem aber, was da vorgeht, ist das wichtig, daß wir aus der Natur austreiben die die Natur zusammenhaltenden Elementargeister, welche zu dem Reiche, der Sphäre der regelrecht fortschreitenden Hierarchien gehören. In allem Naturdasein sind elementare geistige Wesen. Indem wir die Natur zermürben, pressen wir in das Reich des Geistigen hinaus die Naturgeister. Das ist in der Tat dasjenige, was mit der ersten Etappe fortwährend verknüpft ist. Wir zerschlagen, zermürben die materielle Natur und lösen dadurch heraus aus dieser Natur die Naturgeister, die wir gewissermaßen aus ihrer, ihnen von den, ich möchte sagen, Jahvegöttern angewiesenen Sphäre hinaus-jagen in das Reich, wo sie frei flattern können und nicht mehr ge­bunden sind an den ihnen angewiesenen Wohnplatz. Also die erste Etappe können wir auch nennen die Austreibung der Naturgeister. Die zweite Etappe ist diese, wo wir zusammenfügen nach den von uns erkannten Naturgesetzen das, was wir aus der Natur herausgemürbt, herausgemartert haben. Ja, wenn wir nach einem Naturgesetze, das wir erkannt haben, aus Rohmaterialien eine Maschine oder einen Zusam­menhang von Maschinen bilden, dann versetzen wir wiederum gewisse geistige Wesenheiten hinein in das Gebilde, das wir also formen.

Das Gebilde, das wir also formen, ist keineswegs ein geistloses. Indem wir es formen, schaffen wir das Bett für andere geistige Wesen, und diese geistigen Wesen, die wir jetzt aber in unsere maschinellen Gebilde hineinzaubern, sind die Wesenheiten, die zur ahrimanischen Hierarchie gehören. Also in der ersten Etappe treffen wir die Natur-geister an, die in fortlaufender Entwickelung sind, treiben sie heraus, und in der andern Etappe vereinigen wir diese ahrimanischen Geister mit dem, was wir als Mechanismen oder sonstige Werke der Technik aufbauen. Das aber bewirkt, indem wir in diesem technischen Milieu in der neueren Zeit darinnen leben, daß wir uns für dasjenige, was wir entweder bei Nacht oder bei Tag in uns schlafend haben, durchaus eine ahrimanische Umgebung schaffen. Es ist daher kein Wunder, daß der, welcher auf der ersten Stufe der Initiation steht, wenn er beim Aufwachen dasjenige hereinbringt, was er erlebt hat draußen in dem Gebrause, Gezerre und Getöse, es als ein Zerstörendes empfindet,

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wenn er mit demselben in seinem Ich und seinem astralischen Leibe in den physischen und ätherischen Leib hineinkommt. Denn er bringt sich ja sozusagen die Folge eines Zusammenlebens mit den ahrimam­schen Elementargeistern mit hinein in seinen eigenen Organismus. Wir können sagen: Als dritte Etappe jetzt, als Kulturetappe, haben wir das von der uns umgebenden Technik, daß wir uns mit ahrimam­schen Geistern ausstopfen, so recht mit ihnen durchstopfen. - So sieht sich die Sache innerlich an.

Blicken wir jetzt von dem, was wir so gleichsam als die okkulte Seite des modernen Lebens kennengelernt haben, zurück auf jene Zeiten, wo der Mensch mehr so gelebt hat, daß er nur von der Natur durch die geistig leicht durchlässigen Mauerwände getrennt schlief, oder auch arbeitete bei Tag innerhalb der Natur, in der noch die rechten Geister von der Jahve-Hierarchie darinnen waren, so müssen wir sagen: Damals brachten sich die Seelen der Menschen, das Ich und der astralische Leib, in den physischen und Ätherleib hinein die Naturgeistigkeiten, welche anregend auf das innere Seelenieben wirk­ten. Und je weiter wir zurückgehen in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit, um so mehr finden wir dasjenige, was heute immer seltener und seltener wird, daß die Menschen sich nicht durchstopfen mit den ahrimanischen Geistern der Technik, sondern mit den in gerader Linie sich fortlaufend entwickelnden Naturgeistern, welche, wenn wir den Ausdruck gebrauchen dürfen, die guten Geister der Hierarchien vereinigt haben mit dem, was in der Natur draußen an Tatsachen oder an Wesenheiten sich vollzieht oder vorgeht.

Nun gelangt der Mensch zu jenem Zusammenhang, den er haben muß, wenn er im wahren Sinne des Wortes Mensch sein will, nur dadurch, daß er diesen Zusammenhang durch das Leben in seinem Inneren sucht, daß er in seinem inneren Erleben so weit in die Tiefen seiner Seele hinabsteigen kann, daß er in diesen Tiefen die Kräfte findet, die ihn zusammenbringen mit dem Geistigen des Kosmos, von dem er abstammt und in dem er eingebettet ist, und von dem er ab­getrennt werden kann, von dem er abgetrennt worden ist schon durch Sinneswahrnehmung und Verstandesdenken, jetzt aber auch dadurch, wie wir gesehen haben, daß ihn das moderne Leben mit ahrimanischen

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Geistern ausstopft. Nur dadurch, daß der Mensch in seines eigenen Wesens Tiefen hinuntersteigt, kommt er in Zusammenhang mit den für ihn guten und heilsamen göttlich-geistigen Wesen, mit den in geradem Schritte sich fortlaufend entwickelnden geistigen Hier­archien. Dieses Zusammenkommen mit den geistigen Hierarchien, für die wir eigentlich geistig geboren worden sind, dieses Zusammen­leben mit ihnen wird dem Menschen in hohem Grade erschwert durch das immer mehr und mehr Durchsetztwerden der Welt mit dem Milieu der modernen Technik. Der Mensch wird gewissermaßen heraus­gerissen aus seinem geistig-kosmischen Zusammenhange, und es wird abgedämpft und abgedämmert in seinem Inneren dasjenige, was er an Kräften entwickeln soll, um mit dem Geistig-Seelischen des Kosmos in Zusammenhang zu bleiben.

Derjenige, der die ersten Schritte der Initiation schon durch­gemacht hat, merkt daher, daß alles das, was an Maschinellem das moderne Leben durchdringt, so in die geistig-seelische Menschlich­keit eindringt, daß es vieles in ihr ertötet, zerstört. Und ein solcher merkt, daß durch diese Zerstörung es ihm besonders schwierig ge­macht wird, die inneren Kräfte nun wirklich zu entwickeln, die den Menschen in Zusammenhang bringen mit den rechtmäßigen - miß-verstehen Sie das Wort nicht - geistigen Wesenheiten der Hierarchien. Wenn der, welcher so die ersten Schritte der Initiation gemacht hat, in einem modernen Eisenbahnwagen oder auf einem modernen Dampfschiffe meditierend sich einleben will in die geistige Welt, so gibt er sich natürlich Mühe, in sich diejenige Schau- und Seherkraft zu entwickeln, welche ihn hinaufträgt in die geistige Welt, aber er merkt, wie die ahrimanische Welt ihn ausstopft mit allem, was wider-strebt dieser Hingabe an die geistige Welt, und der Kampf ist dann ein ungeheurer. Man kann sagen, es ist ein innerer, im Ätherleibe zu erlebender, zermürbender und zerquetschender Kampf. Diesen Kampf machen natürlich auch die andern durch, die nicht die ersten Schritte der Initiation durchgemacht haben, und der Unterschied ist nur der, daß ihn derjenige, der die ersten Schritte der Initiation durchgemacht hat, bewußt erkennt. Durchmachen muß ihn jeder, in seinen Wir­kungen erlebt ihn jeder.

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Es wäre das Allerfalscheste, wenn man nun etwa sagen würde, da müsse man sich sträuben gegen das, was nun einmal die Technik uns in dem modernen Leben gebracht hat, man müsse sich hüten vor dem Ahriman, man müsse sich eben zurückziehen von diesem modernen Leben. Das würde in gewissem Sinne eine spirituelle Feigheit be­deuten. Das wahre Heilmittel besteht darinnen nicht, die Kräfte der modernen Seele schwächen zu lassen und sich zurückznziehen von dem modernen Leben, sondern die Kräfte der Seele stark zu machen, damit das moderne Leben ertragen werden kann. Ein tapferes Sich-Verhalten zum modernen Leben ist dasjenige, was notwendig ist nach dem Weltenkarma, und deshalb hat die wahre Geisteswissenschaft diesen eigentümlichen Charakter, daß sie von vornherein Anstrengun­gen, mehr oder weniger sogar intensive Anstrengungen von der menschlichen Seele fordert.

Man hört so oft: Ja die Bücher, die uns zur Verfügung stehen von der modernen Geisteswissenschaft, sind schwierig geschrieben, sie fordern, daß man sich so recht anstrengt, daß man aktiv wird in der Entwickelung seiner Seelenkräfte, um sich so ganz in diese Geistes­wissenschaft hineinzuleben. - «Wohlwollende» Menschen - ich sage das in Gänsefüßchen gesetzt - kommen daher immer wieder mit dem Ansinnen, daß sie an schwierigen Stellen ihren Mitmenschen die Sache etwas erleichtern wollen und möglichst - das sage ich jetzt nicht unter Gänsefüßchen - vertrivialisieren wollen dasjenige, was in einem etwas schwierigen Stil geschrieben ist. Aber es gehört zum Wesen der Geisteswissenschaft, daß sie Anforderungen stellt an die Aktivität des Seelenlebens, daß man gewissermaßen nicht leicht zu der Anerken­nung des Geisteswissenschaftlichen kommt, denn es handelt sich innerhalb dieser Geisteswissenschaft nicht etwa bloß darum, daß man dieses oder jenes aufnimmt, was die Geisteswissenschaft über diese oder jene Dinge zu sagen hat, sondern es handelt sich darum, wie man es aufnehmen kann, daß man es mit Anstrengung, mit Aktivität der Seele aufnimmt, daß man gleichsam, verzeihen Sie den weniger höf­lichen Ausdruck, im Schweiße seiner Seele sich erarbeiten muß das geisteswissenschaftliche Gut. Das gehört, verzeihen Sie den mecha­nischen Ausdruck, zum geisteswissenschaftlichen Betriebe.

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Es zeigt noch ein Mißverständnis des eigentlichen Nervs der Geistes­wissenschaft, wenn man gewissermaßen flieht dasjenige, was die Geisteswissenschaft gibt an schwierigen Ideen und Begriffsbildungen. Und wie viele Menschen das fliehen, wir wissen es ja, wie viele Men­schen viel lieber träumen - der Herr gibt's den Seinen im Schiafe! -und sich viel lieber in allerlei Traumbildern der geistigen Welt von Anfang an Dinge vorzaubern lassen wollen, als durch Aktivität, durch Anstrengung des inneren, seelischen Lebens Erkenntnisse zu ge­winnen. Wir wissen es, wie vielen es lieber ist, wenn sie dieses oder jenes Gesicht erleben, als daß sie sich hinsetzen und ein schwierige geisteswissenschaftliche Materien behandelndes Buch studieren, das allerdings geeignet ist, zu denjenigen Kräften der menschlichen Seele zu sprechen, welche im gewöhnlichen Tagesleben schlafen, das also doch anregt das, was sonst unbewußt im Menschen ist und dadurch den Menschen lebendig hineinversetzt in die geistige Welt. Der richtige Gang ist nicht der, daß man das bewußte Tagesleben stumpf entgegennimmt und im trüben schwebt, sondern der, daß rnan sich anstrengt, hindurchaukommen in der Aktivität seiner Seele durch dasjenige, was an Gedanken- und Ideenentwickelung gegeben ist. Denn wenn man sich einlebt in diese Gedanken- und Ideenentwicke­lungen, wenn man sich anstrengt, tapfer sich einlebt, dann kommt man durch dieses tapfere, dieses aktive Sich-Einleben zu der Stufe, wo übergeht das bloße Theoretisieren, das bloße Denken, das bloße Für­wahrhalten desjenigen, was so gegeben wird, in ein Schauen, in ein wirkliches Darinnenstehen in der geistigen Welt. Dasjenige aber, was sich für uns gerade als eine moderne Lebensauffassung aus diesen Betrachtungen ergibt, das i$t, daß wir durch das technische Milieu hineinsteigen in eine Art ahrimanischer Sphäre und uns durchdringen lassen mit ahrimanischer Geistigkeit.

Es würde das furchtbarste Unglück geschehen sein in der Erden-entwickelung, wenn nicht vorgesorgt worden wäre in früheren Zeiten für dasjenige, was nach dem Weltenkarma die moderne Menschheit unter dieser ahrimanischen Geistigkeit erleben muß. Das Leben ver­läuft und kann nicht anders verlaufen als, ich möchte sagen, immer im Pendelschlag. Nach der einen oder andern Seite wird das Leben wie

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durch Pendeischläge ausschlagend erlebt. Man kann nicht etwa sagen:

Man hüte sich vor Ahriman! - denn es gibt kein Mittel, wodurch man sich vor Ahriman hüten könnte. Und wenn jemand ersehnt, etwa sich ständig in ein Kämmerchen mit möglichst ihm zuträglicher Farbigkeit zurückzuziehen, wo möglichst keine Fabriken sind und keine Eisen­bahn vorübergeht, um sich so ganz von dem modernen Leben zurück-zuziehen, so gibt es doch noch viele, viele andere Wege, um die ahri­manische Geistigkeit in seine Seele hineinzuführen. Er entzieht sich dem modernen Leben, aber die moderne Geistigkeit findet schon den Zugang zu ihm.

Das, was gewissermaßen das Unglück abgehalten hat von der menschlichen Entwickelung, ist die Tatsache, daß eingetreten ist etwas, was ich vor längerer Zeit schon angedeutet habe in einem Münchner Zyklus. Man muß alle diese Dinge zusammennehmen, das gehört auch zu dem aktiven Erleben der modernen Geisteswissen­schaft. Dem Menschen ist gewissermaßen gegeben worden die Kunst, die Kunst, welche auch ihr Rohmaterial entnimmt der Natur, indem sie die Natur zermürbt und zerkeilt und dieses Rohmaterial in der zweiten Etappe wieder zusammenfügt zu einem neuen Etwas und ihm ein gewisses, wenn auch nur bildhaftes Leben einhaucht. Dieses Leben, das durch die Kunstimpulse der Vergangenheit gegeben wurde, ist, wie ich damals in München angegeben habe, dazu ge­eignet, das Materielle zu durchziehen mit mehr luziferischer Geistig­keit. Luziferische Geistigkeit, der schöne Schein, alles das, was in der Kunst auf den Menschen wirkt, ist ein Hinwegführen des Menschen aus dem Materiellen in das Geistige, aber durch das materielle Leben. Luzifer ist der Geist, der immer dem Materiellen entfliehen und den Menschen auf unberechtigte Weise in das geistige Leben hineintragen will. Das ist der andere Pendelausschlag. Nur dadurch, daß wir in der jetzigen Inkarnation hindurchgehen müssen durch das technische Milieu, wird es möglich, mit dem Ahrimanischen in Zusammenhang zu kommen, in Zusammenhang zu kommen mit etwas, was in früheren Inkarnationen in ein mehr Künstlerisches untertauchen konnte. Da­durch setzen wir entgegen gewissen luziferischen Kräften die heutigen ahrimanischen Kräfte, die ein Gleichgewicht bilden, während vorher

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nach der einen und jetzt nach der andern Seite das Lebenspendel ausschlägt.

Was nun die Geisteswissenschaft insbesondere zu wollen hat, das ist, daß der Mensch nicht schlafend und träumend hindurchgehe durch das, was das Weltenkarma über ihn verhängt. Aber schlafend und träumend gehen die Menschen, die nichts wissen wollen von der Geisteswissenschaft, durch alle die Einflüsse des ahrimanischen und luziferischen Lebens hindurch. Sie sind diesen Einflüssen und Wir­kungen ausgesetzt, auch wenn sie selber nichts davon wissen. So läßt sich aber nicht weiterleben, denn weiterleben läßt es sich nur bewußt, und dazu ist die Geisteswissenschaft da, daß die Menschen nicht schlafend und träumend durch die Welt gehen, sondern erkennen, in welcher Umgebung sie leben. Dazu aber gehört, daß wir uns wirklich auf die Intimitäten, möchte ich sagen, des geisteswissenschaftlichen Betriebes - verzeihen Sie das Wort - einlassen. Solche Intimitäten werden oftmals nicht beachtet, und ich kann dies finden, wenn ich Nachschriften lese von Vorträgen, die ich gehalten habe. Ich kann da finden, daß das, was mir oftmals wichtig sein muß, in den Nach-schriften nicht erscheint. Nehmen Sie nur zwei Dinge von dem, was ich eben gesagt habe. Ich habe vorhin einen Satz gebraucht und gesagt, daß die Geisteswissenschaft nicht etwas will, sondern wollen soll oder zu wollen hat. Das ist eine gewisse Redewendung, die sich auf ganz natürlich-naive Weise dem ergibt, der aus dem Geiste der Geistes­wissenschaft heraus redet, denn die Geisteswissenschaft führt ganz selbstverständlich zu einem unpersönlicheren Ergreifen der Wahr­heiten des geistigen Lebens als die andern Wissenschaften. Im Stile der andern Wissenschaften gesprochen, würde man sagen: Die Geisteswissenschaft will etwas. - Sie sagt aber: Wie sie wollen soll oder wollen muß. - Und ich sage: Wie ich mich ausdrücken muß -und nicht: Wie ich mich ausdrücke.

Gerade auf solche Intimitäten kommt vieles an; die darf man nicht überhören. Wir müssen vielmehr beginnen, daran zu glauben, daß es darauf ankommt, daß die Geisteswissenschaft bis in das Innerste die menschlichen Seelenkräfte ergreift und sie auch umzuformen in der Lage ist, und daher geht es nicht an, daß man mit derselben Art zu

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denken auch an die Geisteswissenschaft herangeht, die man in der Gewohnheit hat vom äußeren Leben her. Man hat wirklich noch wenig Bewußtsein von den Dingen, die ich hiermit meine. Das kann man an gewissen, ich möchte sagen, groben Symptomen der äußeren wissenschaftlichen Entwickelung bemerken, sozusagen spüren.

Ein Beispiel aus vielen sei herausgegriffen. Die moderne Religions­wissenschaft, die irreligiöse Religionswissenschaft hat es sich beson­ders zugute getan, daß sie herausbekommen hat gewisse Erkenntnisse über den Zusammenhang, sagen wir von den neutestamentlichen Aussprüchen und Geboten mit den alttestamentlichen und mit heid­nischen Aussprüchen und Geboten. Man hat zum Beispiel das Vater­unser nach der Herkunft jedes einzelnen Satzes verfolgt und gesagt:

Dieser einzelne Satz findet sich schon da, jener schon dort vor. -Wenn man dies so hört, möchte es leidlich scheinen. Aber in dem Augenblicke, wo man in der weltgeschichtlichen Betrachtung, in spiritueller weltgeschichtlicher Betrachtung an das Mysterium von Golgatha herantritt, merkt man, daß alle diese Dinge in einem neuen Zusammenhang erscheinen und daß es nicht darauf ankommt, zu ent­decken, daß alle diese Sätze schon in früherer Zeit da waren, sondern darauf, immer die Umgebung dieser Sätze sich anzuschauen, durch die sie eine neue Nuance erhalten. Und diese ist immer eine andere im Alten und im Neuen Testamente. Dadurch wird das, was durch das Mysterium von Golgatha gekommen ist, in ganz intime Dinge herein-geführt. Die Worte bleiben oftmals dieselben und die Wortzusam­menhänge auch, aber die Art und Weise, wie die Zusammenhänge schattiert und nuanciert sind, ist anders, und darauf kommt es gerade an.

Ein Ungeheueres zum Beispiel liegt darin, daß der Begriff, die Vor­stellung des Ich in dem ganzen Entwickelungssystem der Sprache, je weiter man zurückgeht in die vorchristlichen Zeiten, ganz anders organisiert ist als nachher, wenn man fortschreitet von dem Mysterium von Golgatha in die Zukunft hinein. Die Art, wie man über das Ich spricht, wird anders, und das kann man schon in der Konfiguration der Sprache sehen. Wenn das Ich zum Beispiel in vielen Sprachen in das Zeitwort hineingeheimnißt wird, so bedeutet das ganz etwas

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anderes, als wenn es abgesondert von dem Zeitworte hingestellt und ausgesprochen wird und so weiter.

Also darauf kommt es an, daß wir durch die Geisteswissenschaft uns zu einer Lebensauffassung durcharbeiten, daß wir dazu kommen, bewußt das anzuschauen, was an Einflüssen auf unseren geistig­seelisch4eiblichen Menschenorganismus ausgeübt wird. Die Art, wie ich das Verhältnis des Menschen zu seiner technischen Umgebung geschildert habe, ist natürlich erst im Anfange der Entwickelung. Etwa vier Jahrhunderte ist es her, seitdem die Sache angefangen hat in solchem Umfange, wie das heute der Fall ist. Und das auf sich so stolze 19. Jahrhundert hat einen mächtigen Schritt vorwärts getan in dieser Verahrimanisierung des menschlichen Lebens. Aber es werden wichtige Schritte hinein in die Zukunft der menschlichen Entwicke­lung auf diese Verahrimanisierung hin gemacht werden. Vier Jahr­hunderte etwa stehen wir darinnen. Langsam und allmählich kommt es herauf. Heute hat es schon einen gewissen Höhepunkt für alle die­jenigen erreicht, die es ja zahlreich gibt unter unseren Mitmenschen, die durch die Absonderung im Städteleben kaum noch einen Zu­sammenhang mit den wahren Naturgeistern haben. Ich habe einmal, ich möchte sagen, symbolisch ausgesprochen, daß es wesentlich für den Menschen ist, wesentlich für seine Entwickelung ist, daß er den Hafer von der Gerste unterscheiden kann. Aber wirklich, wie viele Menschen finden wir denn schon in städtischer Umgebung, die nicht mehr Hafer von Gerste zu unterscheiden vermögen! Die Pflanzen können sie vielleicht noch unterscheiden, weil das bei Hafer und Gerste verhältnismäßig leicht ist, aber besonders die Kerne, den einen Kern vom andern können sie nicht mehr unter­scheiden. Wenn sie in der Stadt gelebt haben, oder gar in der Stadt geboren sind, so können sie dies gewöhnlich nicht voneinander unterscheiden.

Nun ist die Entwickelung der Menschheit aber so, daß immer, wenn eine Etappe weitergeschritten wird, dieses Weiterschreiten einer Etappe verknüpft ist mit einem andern Erleben gleichsam auf einer andern Etappe, welche in einer parallelen Strömung liegt. Und so ist es auch geschehen. Indem der moderne Mensch auf die Art, wie ich

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es geschildert habe, dem Ahriman entgegengeschritten ist durch das technische Leben, ist er noch auf eine andere Weise dem Ahriman entgegengeschritten. Wenn an die Stelle der groben Geschichts­betrachtung, wie sie der Materialismus heute erzeugt hat, eine spiri­tuelle Geschichtsbetrachtung treten wird, so wird man schon ein­sehen, was die Geisteswissenschaft jetzt andeuten muß.

Wenn man in die Zeiten zurückblickt, die vorangegangen sind denen, welche die letzten vier Jahrhunderte ausmachen, so stand vor allen Dingen der Mensch nicht nur zu seinem Milieu, zu seiner Um­welt in einer andern Beziehung als heute, sondern er stand auch zu etwas in einer andern Beziehung, in einer ganz andern Beziehung, was in ihm selbst zur Erscheinung kommt, wirklich in ihm selbst zur Erscheinung kommt: er stand in einer andern Beziehung zu seiner Sprache, zu seinem Sprechen. In der Sprache haben wir wirklich nicht bloß das gegeben, was die moderne materialistische Wissenschaft glaubt, sondern wir haben in der Sprache etwas gegeben, was vielfach zusammenhängt mit dem nicht vollbewußten menschlichen Erleben, was sich vielfach ereignet in den unterbewußten menschlichen Regio­nen, was daher auch durchdrungen ist von geistigen Wesenheiten. Geistige Wesenheiten leben in der Sprache des Menschen darinnen, wirken darinnen, und indem der Mensch Worte formt, Worte bildet, drängen sich in seine Worte hinein elementarische geistige Wesen­heiten. Auf den Flügeln der Worte fliegen geistige Wesenheiten durch die Räume, in welchen sich die Menschen miteinander unterhalten. Daher ist es so wichtig, daß man achtet auf gewisse Intimitäten der Sprache, und daß man sich nicht einfach der Willkür des Leiden­schaftslebens überläßt, wenn man spricht.

Nun stand der Mensch, man könnte sagen, bis ins 15., 16. Jahr­hundert zu seiner Sprache so, daß er noch etwas hatte von dem lebendigen Erleben der elementarischen Geistigkeit, die in der Sprache vorhanden ist. Er hatte noch etwas von diesem Erleben der elementa­rischen Geistigkeit der Sprache. Es wirkte in ihm noch das, was in der Sprache an Geistigkeit ist, denn die Sprache ist gewissermaßen genialer, geistiger in mancher Beziehung als das einzelne menschliche Individuum. Man merkt heute nur manchmal, wie der Mensch sozusagen

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aus der materialistischen Gesinnung zurückfällt in eine Emp­findung der genialischen Geistigkeit der Sprache.

Ich habe einmal in einem sehr deutlichen, wenn auch trivialen Bei­spiele an diesem Orte darauf hingewiesen, wie man besonders so­zusagen herausfallen kann durch seine Gesinnung aus der materia­listischen Rolle der Gegenwart. Es tun es im Grunde noch viele Men­schen, aber sie sind sich dessen nicht gleich bewußt. Wenn jemand zum Beispiel, indem er den Rhein entlang fährt, spricht von dem «alten Rhein», was meint er denn damit? Zweifellos empfindet er dann etwas. Aber was ist das, was er meint? Ich glaube nicht, daß die Menschen, wenn sie vom «alten Rhein » sprechen, das Flußbett mei­nen, die Einhöhlung in der Erde. Das wäre ja das einzig Bleibende. Aber was sonst der «alte Rhein» sein soll, das kann man gar nicht ent­decken, denn das Wasser ist gewiß ganz neu, das fließt immer weiter, und wenn Sie versuchen, irgend etwas Altes zu finden außer dem aus­gehöhlten Flußbett, dann können Sie es nicht entdecken. Der alte Rhein! Die Sprache ist genialischer als der Mensch, denn selbstver­ständlich ist gemeint von der Sprache, wenn es auch dem Menschen nicht zum Bewußtsein kommt, der Fliffigott des Rheins. Die elemen­tarische Wesenheit, die zu ihm gehört, die bezeichnet man ganz adäquat, wenn man sagt: Der alte Rhein.

Das ist ein grobes Beispiel. Die Sprache ist überall durchzogen von solcher Spiritualität, von einem solchen Glauben an die Geistigkeit. Und ein Gefühl wenigstens für diesen Zusammenhang mit der Geistig­keit durch die Sprache lag in der Natur der menschlichen Seele wirk­lich noch während des Ablaufs der vierten nachatlantischen Kultur-periode bis in die neuere Zeit, bis ins 15., 16. Jahrhundert hinein bei allen Völkern Europas. Wenn man nämlich dieses nicht merkt, dann hat man auch nicht das richtige Gefühi für den Beginn des Johannes­Evangeliums. Denn daß im Beginne des Johannes-Evangeliums der Satz steht: «Im Urbeginne war das Wort», dazu hat wirklich noch das Bewußtsein geführt, daß in dem, was das Wort ist in der ganzen mensch­lichen Organisation und im menschlichen Leben, ein Zusammenhang des Menschen, zunächst durch die elementarische Geistigkeit, mit der ganzen Welt, die hinter der Sinnenwelt liegt, gegeben ist.

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Wenn wir mit den Mitteln der Geisteswissenschaft das Leben der Menschen betrachten, wie es abgelaufen ist in den Jahrhunderten des Mittelalters bis in die neuere Zeit hinein, so finden wir, wenn wir in die Seelen hineinschauen können, in der Tat, daß das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache noch ein anderes war im Verlaufe der vierten nachatlantischen Kulturperiode, ja selbst noch in der letzten Phase bis in das 14., 15. Jahrhundert. Die Menschen hörten gleichsam bei allem, was sie sprachen, noch Untertöne, richtige Untertöne mit. Man glaubt das nicht mehr, weil heute der Mensch wirklich nur mate­riell in dem Sprachlaute lebt. Etwas Geistiges klang mit, gleichsam wie ein Erklingen derselben Dinge in einer unteren Oktave. So klang mit, wenn man sprach, oder sprechen hörte, etwas, was nicht mehr differenziert war in dieser oder jener Sprache, sondern was etwas Allgemein-Menschliches war. Man kann wirklich sagen: Wenn sich auslebt das menschliche Erleben gleichsam in der Blüte der einzelnen Sprachen, so erlebt heute die Menschheit diese Blüte gleichsam als Erzittern der Töne im Ohr, und sie erlebt diese Töne wie etwas, das etwas bedeutet. Dagegen erlebte man früher ein Eintauchen des ganzen Sprachelementes in etwas, was mitklang und was nicht diffe­renziert war in verschiedene Sprachen. Die Grenze zwischen dem einen und dem andern Erleben ist mit dem 15. und 16. Jahrhundert gegeben. Die Menschheit ist herausgerissen worden aus den Genien der Sprache.

Niemand kann den eigentlichen Ruck verstehen, der in der Zeit des 15., 16., 17. Jahrhunderts der Menschheit gegeben worden ist, der nicht eingeht auf dieses eigentümliche Abgedämpftwerden der Untertöne des sprachlichen Erlebens. Da ist den Menschen etwas verlorengegangen. Innerhalb der Zeitereignisse tritt dies zutage in alidem, was, sei es an Kämpfen, sei es an Werken des Friedens, die Menschenseele erlebte vor dem genannten Zeitpunkte. In alledem lebte in der Menschenseele dieses Erklingen solcher Untertöne des sprachlichen Erlebens noch mit. Daher hat die ganze Geschichte vor diesem Zeitraume ein ganz anderes Gepräge als nach diesem Zeit-raume. Man muß sich, indem man sich in die Geisteswissenschaft ein­läßt, ich möchte sagen, ein geistiges Ohr anerziehen für dieses ganz

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andere Erklingen der Ereignisse noch im Mittelalter, als es heute der Fall ist, weil die Menschenseelen ganz anders miterlebten das, was dazumal erlebt werden konnte.

Ich will zum Beispiel herausgreifen die Kreuzzüge als Menschheits­erlebnis, als Seelenerlebnis. Sie sind nur denkbar, so wie sie im Mittel-alter sich ausgelebt haben, wenn man weiß, daß dieses Miterleben solcher Untertöne, geistig-spiritueller Untertöne des sprachlichen Er-lebens vorhanden war. Die heutigen Menschen Mittel- und West-europas würde das Wort der Synode von Clermont: Gott will es -Dieu le veut - wahrhaft nicht so berühren als die Menschen des Mittelalters. Aber die Gründe dafür sind nur zu erkennen, wenn man eingeht auf das, was eben gesagt worden ist.

Mit alledem hängt aber auch zusammen eine wichtige Erscheinung in dem ganzen modernen Geistesleben. Es hängt damit zusammen die ganze Formation des neueren geschichtlichen Lebens. Versuchen Sie einmal in Ihre geschichtliche Auffassung hineinströmen zu lassen diese Intimität der sprachlichen Untertöne, dann werden Sie ver­stehen, warum in dem Zeitpunkte, der angedeutet worden ist, sich in sich gruppieren die europäischen Nationalitäten, welche vorher in ganz andern Verhältnissen zueinander standen, von ganz andern Im­pulsen in ihren Verhältnissen zueinander beherrscht waren. Wie sich in den einzelnen Territorien Europas die Nationalitäten zusammen­schließen, sich formen bis zum heutigen Tage, das hängt mit Im­pulsen zusammen, die man ganz falsch interpretiert, wenn man, von heute zurückgehend, die Entstehung der Nationen im Mittelalter oder im Altertume sucht und nicht berücksichtigt, wie eine so wichtige Etappe überschritten werden mußte für das Seelenleben.

Ich kann, wenn Themen angeschlagen werden, die eigentlich viele Betrachtungen erfordern, Ihnen nur Andeutungen geben. Das Aller­wichtigste über diese Dinge muß Ihrer eigenen Meditation über­lassen werden, die das finden wird, was sich ergeben kann auf solche Anregungen hin. Was ich durch diese Anregung gern erreichen möchte, ist eben, eine Vorstellung zu geben, wie die Brücke ge­schlagen sein kann von der Geisteswissenschaft zu Lebensanschauung und Lebensauffassung, wie die Geisteswissenschaft führen kann zu

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einem sich bewußten Hineinstellen in dasjenige, worin wir in Wirk­lichkeit leben.

Naturgemäß muß es dann erscheinen, wenn man die wahrhaften Untergründe solcher Andeutungen erwähnt, daß diese unsere neuere Zeit vieles notwendig macht, was gegenüber dem Alten wiederum Erneuerung sein muß. Wenn wir durch das Weltenkarma in ein ganz besonders ahrimanisch wirkendes Milieu hineingestellt werden heute und unsere Seelenkraft stark machen müssen, um durch alle die Hin­dernisse, die uns von der ahrimanischen Geistigkeit kommen, dennoch den Weg in die geistigen Sphären zu finden, so braucht die mensch­liche Seele heute andere Unterstützungsmittel, als sie früher gebraucht hat. Und das hängt damit zusammen, daß auch die Kunst andere Wege einschlagen muß auf allen Gebieten.

Die Kunst mußte selbstverständlich anders sprechen zu einer Seele, die weniger den ahrimanischen Einflüssen ausgesetzt war, als sie sprechen muß zu den heutigen Seelen, die diesen Einflüssen viel mehr ausgesetzt sind. Die allerersten Schritte zu einer solchen Kunst, wirk­lich die allerersten Schritte, nichts Vollkommenes, sollten mit unserem Bau gemacht werden. Wie versucht worden ist, in diesem Bau wirk­lich eine Kunst zu schaffen, die appeffiert an die Aktivität der Seele, das ist im Zusammenhang mit der ganzen Auffassung vom modernen Leben, aber mit der spirituellen Auffassung vom modernen Leben. Erinnern Sie sich noch einmal an den ganz schmählich trivialen Ver­gleich, den ich in bezug auf den Bau vor einigen Wochen gegeben habe. Ich habe gesagt: Wie verhält sich das, was unser Bau werden soll, zu dem, wie ein älterer Bau, überhaupt ein altes Kunstwerk wirkte?

Ein altes Kunstwerk wirkte durch das, was in seinen Formen und Farben war. Die Formen und Farben machten Eindruck. Schematisch gezeichnet also, wenn dies die Form war, so wirkte auf das Auge diese Form (es wird gezeichnet). Dasjenige, was indem Raum darinnen war, den die Form ausfüllte, das wirkte. Und ebenso ist es mit den Farben. Die Farbe, die an der Wand war, die wirkte.

Ich habe gesagt, so ist es nicht gemeint mit unserem Bau, sondern unser Bau ist gemeint - und das ist eben der schmählich triviale Vergleich

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- wie ein Gugelhupftopf, wie ein Napfkuchentopf, der nicht da ist um seinetwillen, sondern für den Napfkuchen. Darauf kommt es an, daß das, was darinnen ist, die Form bekommt, und wenn er leer ist, so zeigt er eigentlich, daß er zu etwas da ist, der Napfkuchentopf. Was er aus dem Napf kuchen macht, darauf kommt es an. Und bei unserem Bau kommt es darauf an, was die Seele in ihren tiefsten Gründen, indem sie sich darinnen aufhält in diesem Bau, erlebt, wenn sie bis an die Grenzen der Formen dieses Baues kommt. Also das Kunstwerk wird eigentlich nur angeregt durch das, was an Formen da ist. Das Kunstwerk ist dasjenige, was die Seele erlebt, indem sie den Formen entlang erlebt. Das Kunstwerk ist der Napf kuchen. Das, was gebaut worden ist, ist der Napf kuchentopf. und daher mußte auch versucht werden, nach einem ganz neuen Prinzip hier zu ver­fahren.

Auch das, was malerisch zu finden sein wird in unserem Bau, ist nicht da, um durch sich als solches zu wirken, wie es bei der alten Kunst der Fall war, sondern um die Seele, indem sie an das stößt, was da ist, erleben zu lassen dasjenige, was ihr Erleben zu einem Kunstwerke macht. Dadurch allerdings geschieht eine Umformung -ich kann das alles nur andeuten - eines alten künstlerischen Prinzips in ein neues, welches so bezeichnet werden kann, daß man sagt: Das plastische, das bildhafte Element wird, indem es weitergeführt wird um eine Etappe, hineingeführt in ein gewisses musikalisches Erleben. Es gibt auch den umgekehrten Weg, aus dem Musikalischen zurück in das Plastisch-Bildhafte.

Das sind Dinge, die nicht willkürlich erzeugt werden von der Menschenseele, sondern die zusammenhängen mit den innersten Im­pulsen, die wir durchzumachen haben, indem wir im ersten Drittel der fünften nachatlantischen Kulturepoche stehen. Das wird uns gleichsam vorgeschrieben von den geistigen Wesenheiten, die diese Entwickelung leiten.

Überall muß ein Anfang gemacht werden. Wenn nun Menschen finden werden, daß manches unvollkommen, ist an unserem Bau, dann dürfen sie versichert sein, daß diejenigen, die an diesem Bau beteiligt sind, noch viel, viel mehr unvollkommene Dinge finden werden als

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diejenigen, die kritisieren, wirklich viel mehr. Es sind Dinge aus­zusetzen daran, auf welche die, welche ihn bloß anschauen, gar nicht kommen. Aber darauf kommt es nicht an, sondern worauf es an­kommt, das ist, daß mit allen Dingen, die geschehen müssen, ein Anfang gemacht wird. Nicht auf die Vollkommenheit, in der wir ausführen können das, was gewollt werden muß, kommt es an, son­dern darauf, daß das, was hier ins Leben treten muß, wenn es auch noch so unvollkommen ins Leben treten muß, einmal getan wird, daß ein Anfang gemacht wird. Denn alles, was als ein Neues in die Welt eintritt, ist unvollkommen gegenüber dem, was als Altes fortbesteht. Das Alte lebt als höchste Stufe und das Neue ist noch in den Kinder­schuhen. Das ist ganz selbstverständlich.

Von diesen zuletzt gemachten Bemerkungen über eine Erneuerung der künstlerischen Weltanschauung und den Zusammenhang der künstlerischen Weltanschauung mit dem ganzen Kulturleben der Gegenwart werde ich dann in den morgigen Betrachtungen ausgehen.

ZWEITER VORTRAG Dornach, 29. 15ezember 1914

#G275-1966-SE039 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

#TI

ZWEITER VORTRAG

Dornach, 29. 15ezember 1914

#TX

Ich möchte Ihnen noch sprechen im Ver]aufe dieser Betrachtungen -ich habe das schon gestern angedeutet - von den wichtigen Umwand­lungsimpulsen, die in unserer Zeit liegen für die künstlerische Evolu­tion der Menschheit. Ich möchte das anschließen an dasjenige, was sich Jhnen ergibt, wenn Sie unseren Bau betrachten, namentlich das, wovon dieser Bau ein schwacher Anfang sein will. Damit wir aber solche Betrachtungen anstellen können, wird es notwendig sein, eine Grundlage zu schaffen, eine Grundlage über den Zusammenhang des Künstlerischen mit den Erkenntnissen, die wir gewonnen haben über den Zusammenhang des Menschen mit der Welt überhaupt. Diese vielleicht mehr theoretisch aussehende Betrachtung möchte ich heute anstellen und dann morgen fortfahren mit Bezug auf unser eigent­liches Thema, eben die Umwandlungsimpulse der künstlerischen Ent­wickelung.

Ich sage, die scheinbar mehr theoretische Grundlage möchte ich heute geben. In Wirklichkeit handelt es sich für den, der die Geistes­wissenschaft als etwas Lebendiges erfaßt, nicht um etwas Theore­tisches, sondern auch um etwas durchaus Lebendiges. Das kann aller­dings nur für diejenigen ganz klar hervortreten, denen die Ideen von physischem Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich und so weiter nicht Be­zeichnungen sind für eine schematische Darstellung der menschlichen Wesenheit, sondern die Zusammenfassung von wirklich Erlebtem in Empfindungen, in Vorstellungen der geistigen Welt.

Wenn wir die einzelnen Künste in Betracht ziehen, so stellt sich uns als diejenige Kunst, welche am meisten losgelöst ist von der ganzen menschlichen Wesenheit, die Baukunst, die Architektur dar. Die Bau­kunst wird dadurch losgelöst von der menschlichen Wesenheit, daß sie in den Dienst gestellt wird unserer äußeren Impulse, entweder reiner Nützlichkeitsimpulse, wie das bei der Utilitätsbaukunst, bei den eigentlichen Nützlichkeitsbauten der Fall ist, oder daß sie in den Dienst treten muß vieler ideeller, idealer Interessen, wie das der Fall

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ist, wenn sie mit ihren Werken dem Kult dient, dem religiösen Dienst und so weiter. Wir werden aus dem Gang der Betrachtungen selber ersehen, wie die andern Künste, ich möchte sagen intimer sich ati­schließen an die eigentliche menschliche Wesenheit als die Baukunst. Die Baukunst hat etwas Losgelöstes von dem, was wir als die Gesetz­mäßigkeit des menschlichen Inneren bezeichnen. Und dennoch, für den Betrachter der Welt, der von der Geisteswissenschaft ausgeht, verliert die Baukunst wiederum diesen Charakter der Äußerlichkeit eigentlich in ganz beträchtlichem Maße.

Wenn wir an die Anschauung der menschlichen Wesenheit heran­gehen, so tritt uns zunächst gewissermaßen als das Äußerlichste dieser menschlichen Wesenheit entgegen der physische Leib. Dieser physische Leib ist aber durchzogen, durchwellt, durchwirkt von dem ätherischen Leib. Der physische Leib könnte ein reiner Raumesleib genannt wer­den, eine räumliche Organisation. Das aber, was als ätherischer Leib im physischen Leib drinnensteckt, oder, wie Sie wissen, über den physischen Leib auch hinausragt und in intimer Verbindung steht mit dem kosmischen Ganzen, das ist nicht zu betrachten, wenn man nicht die Zeit zu Hilfe nimmt. Denn im Grunde genommen ist alles im ätherischen Leib Rhythmus, zyklischer Ablauf von Bewegungen, von Betätigungen, und einen räumlichen Charakter trägt der Ätherleib nur dadurch, daß er den physischen Leib ausfüllt. Für die menschliche imaginative Anschauung ist es allerdings notwendig, daß der äthe­rische Leib auch in Raumesbildern vorgestellt wird, aber das ist nicht sein Wesentliches. Sein Wesentliches ist das Zyklische, das Rhyth­mische, das in der Zeit Ablaufende. Und so wenig es im Musikalischen auf das Räumliche ankommt, sondern auf das Zeitliche, so wenig kommt es eigentlich bei der Realität des menschlichen ätherischen Leibes - nicht bei seiner imaginativen Repräsentation - an auf das Räumliche, sondern es kommt an auf das Bewegliche, sich Bewegende, auf das tätig sich Gestaltende, aber rhythmisch sich Gestaltende, in Melodien sich Gestaltende, also auf das Zeitliche. Gewiß, es liegt hier eine Schwierigkeit des menschlichen Vorstellens, weil das mensch­liche Vorstellen so sehr gewöhnt ist, alles auf den Raum zu beziehen. Aber man muß vielmehr sich bemühen, um zu einer klaren Vorstellung

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über den ätherischen Leib zu kommen, ich möchte sagen, die musikalischen Vorstellungen zu Hilfe zu nehmen und nicht die räum­lichen Vorstellungen.

Wenn wir noch eine Eigenschaft des ätherischen Leibes hervor­heben, so können wir sagen: Dieser Ätherleib ist vor allen Dingen, indem er, den physischen Leib erfü]lend, seine Betätigung, sein rhyth­misches Spiel hineinerstreckt in den physischen Leib, ein Kräfteleib. Er ist ein Ausfluß von Kräften, ein Sich-Darstellen von Kräften. Und wir merken diese Kräfte an Erscheinungen, die sich beim Menschen vollziehen im Verlaufe seines Lebens. Eine von der äußeren Wissen­schaft und äußeren Weltbetrachtung wenig ins Auge gefaßte, von uns aber oft hervorgehobene Erscheinung des menschlichen Lebens ist das Sich-Aufrichten der menschlichen Gestalt. Wir treten ja durch die Kindheit noch nicht mit der Fähigkeit in die Welt, die für den Men­schen wichtigste Position oder Lage anzunehmen, die aufrechte Lage. Wir müssen sie uns erst erwerben. Dieses Erwerben geht zwar vom Astralleib aus, aber der Astralleib muß gleichsam seine In-die-Höhe­Streckkraft übertragen auf den Ätherleib, und dieser arbeitet im Laufe der Zeit daran, die menschliche physische Gestalt senkrecht aufwärts-zurichten. Da sehen wir das lebendige Spiel des Astralleibes und Ätherleibes an der Gestaltung des physischen Leibes. Nun ist das nur die auffälligste Erscheinung, dieses Gestalten zu einer aufrechten, vertikalen Position hin. Jedesmal, wenn wir eine Hand aufheben, findet aber ein ähnlicher Vorgang statt. In unserem Ich können wir ja nur den Gedanken dieser Handbewegung, dieses Handaufhebens haben, dieser Gedanke muß dann zugleich wirken auf den Astralleib, und der Astralleib überträgt seine Tätigkeit - dasjenige, was er als einen Impuls hat - auf den Ätherleib. Und was geschieht dann? Nehmen wir einmal an, ein Mensch habe seine Hand in einer solchen, waagrechten Lage. Nun bildet er sich die Vorstellung: Ich will die Hand etwas weiter oben, hier haben. - DieseVorstellung, die im Leben gefolgt ist von dem Erheben der Hand, geht über auf den Astrall eib; darinnen bildet sich ein Impuls, vom Astralleib auf den Ätherleib, und zwar geschieht im Ätherleib jetzt, wenn die Hand so war, waag­recht, das Folgende: es wird der Ätherleib zunächst nach hier heraufgezogen,

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und die Hand rückt nach. Die physische Hand folgt dem­jenigen, was im Ätherleib zuerst als eine Kraftentwickelung geschieht. Die Hand folgt nach.

Den Gesamtvorgang werde ich morgen noch erklären, jetzt will ich nur darauf aufmerksam machen, daß wir es bei jeder Bewegung, bei der Herstellung irgendeiner Bewegung mit einer Kraftentfaltung zu tun haben, auf die eine Gleichgewichtslage folgt. Mit solcher Kraft-entfaltung und folgender Gleichgewichtslage haben wir es fortwäh­rend im Leben unseres Organismus zu tun. Natürlich hat der Mensch keine bewußte Erkenntnis von dem, was da eigentlich in ihm vorgeht, aber was da vorgeht, das ist etwas so unendlich Weises, etwas so un­endlich Gescheites, daß die Ich-Gescheitheit des Menschen an diese Dinge auch nicht im entferntesten heranreicht. Wir würden keine Hand bewegen können, wenn wir nur auf unsere Gescheitheit, auf unsere Kenntnisse angewiesen wären, denn die feinen Kräfte, die vom Astralleib aus im Ätherleib entwickelt werden müssen, die dann über­gehen müssen auf den physischen Leib, die entziehen sich ganz der gewöhnlichen menschlichen Erkenntnis. Dennoch liegt eine millionen-fach größere Weisheit darinnen, die da entfaltet wird, als wenn ein Uhrmacher eine Uhr macht. Das bedenken wir gewöhnlich nicht, aber diese Weisheit muß wirklich entfaltet werden. Sie muß entfaltet werden, und sie wird entfaltet dadurch, daß wir allerdings mit unserem Ich uns selbst überlassen sind. In dem Augenblick aber, wo das Ich seine Vorstellungsimpulse in den Astralleib hineinschickt, muß uns ein anderes Wesen helfen. Wir können da allein gar nichts anfangen. Ein Wesen aus der Hierarchie der Angeloi muß uns helfen; wir sind darauf angewiesen. Bei der geringsten Fingerbewegung muß ein sol­ches Wesen, das mit seiner Weisheit weit vorauseilt der menschlichen Weisheit, uns helfen. Wir könnten nichts anderes tun als starr daliegen und vorstellen, starrkrampfartig in der Welt sein, wenn uns nicht fortwährend die Wesen der höheren Hierarchien in ihre Betätigungen aufnehmen würden.

Es gehört daher zu dem ersten Schritt der Initiation, sich eine Vor­stellung, eine Kenntnis, die sich ganz von selbst ergibt, davon zu erwerben, wie diese Kräfte auf die menschliche Natur wirken.

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Wir haben ja versucht, hier zu zeigen, was es schon bedeutet, wenn nur das Haupt sich auf die Hand stützt und so weiter. Wir lernen sozusagen das Äußerlichste unseres Wesens, das was durch die Wir­kung unseres Ätherleibes auf unseren physischen Leib vorgeht, in einem räumlichen Linien- und Kräftesystem kennen. Wenn wir dieses räumliche Linien- und Kräftesystem, das im Grunde genommen in uns fortwährend wirksam ist, hinaustragen in die Welt und die Materie anordnen nach diesem Kräftesystem, wenn wir loslösen dieses Kräfte-system von uns und die Materie danach anordnen, dann entsteht die Baukunst. Und alle Baukunst besteht darin, daß wir diesen Kräfte-zusammenhang von uns loslösen und ihn hinausstellen in den Raum. So daß wir sagen können: Wenn wir hier schematisch die äußersten Grenzen unseres physischen Leibes meinen, so schieben wir die innere Gesetzmäßigkeit, die dem physischen Leib aufgeprägt wird durch den Ätherleib, hinaus, außer uns, und dadurch entsteht die Baukunst. -Alles, was an Gesetzen in der Zusammenfügung der Materie bau-künstlerisch vorhanden ist, ist auch durchaus zu finden im mensch­lichen Leibe. Ein Hinausprojizieren der eigenen Gesetzmäßigkeit des menschlichen Leibes außer uns in den Raum ist die Baukunst, die Architektur.

Nun wissen wir, daß sich für unsere Betrachtung anschließt an den physischen Leib der ätherische Leib. Wenn wir noch einmal den Blick zurückwenden auf irgendein Werk der Baukunst, was können wir dann sagen gegenüber diesem Werk der Baukunst? Wir können sagen: Da steht, in den Raum draußen hinausgetragen, die Beziehung zwischen vertikalen und horizontalen und von Kräften, die aufein­ander wirken, wie sie sich sonst abspielen im menschlichen physischen Leib. Das ist hinausgetragen.

Ebenso können wir das, was von dem Ätherleib ausfließt in den physischen Leib hinein, jetzt nicht außer uns hinaustragen, sondern nur in uns hinuntertragen von dem Ätherleib aus in den physischen Leib hinein. Also, wir können etwas hervorrufen, was wir nicht ab­sondern von unserer Natur, nicht hinausstellen in den Raum, sondern was wir nur bis in uns selber hineinschieben. Wenn wir diese Prozedur vollziehen, dann haben wir es im Grunde genommen zu tun mit einem

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Physischwerden der Gesetze des Ätherleibes, die der Ätherleib vom Astralleib bekommen hat, wie in der Baukunst physisch werden, hinausprojiziert werden die Gesetze des physischen Leibes. Und durch dieses, was so entsteht aus unserem Ätherleib heraus wie die Baukunst aus unserem physischen Leib heraus, entsteht die Plastik oder die Skulptur, so daß wir gleichsam die Gesetze des Ätherleibes eine Stufe herunterschieben.

Baukunst

physischer Leib

Skulptur

Ätherleib

Wie wir die Gesetze des physischen Leibes hinausschieben in den äußeren Raum in der Baukunst, so schieben wir die Gesetze des Ätherleibes in der Skulptur um eine Stufe herunter. Wir sondern sie nicht ab von uns, sondern wir schieben sie gerade in unsere Gestalt hinein. Wie wir zu suchen haben die Baukunst als die Gestaltung der Gesetzmäßigkeit des physischen Leibes außer uns, so haben wir zu suchen die Skulptur als die Gesetzmäßigkeit unseres Ätherleibes in uns; wir fügen sie dann nur im Bilden in die Bildwerke hinein. Alle Gesetzmäßigkeit der Plastik ergibt sich, wenn wir dies betrachten. Wie wir in der Baukunst nur die Gesetze des physischen Leibes, seine Raumlinien und Kraftwirkungen, hinausversetzen in den Raum und nichts anderes in den Raum hineinnehmen, nichts vom Ätherleib, nichts vom Astralleib, nichts vom Ich, so ist es bei der Skulptur so, daß wir die Gesetze des Ätherleibes um eine Stufe heruntersetzen; wir haben nichts vom Astralleib, nichts vom Ich, nur insofern diese, nämlich Astralleib und Ich, Impulse in den Ätherleib hineinsenden. Daher tritt das Skulpturwerk so vor uns auf, daß es den Schein von Leben erweckt. Das vollständige Leben würde es haben, wenn Ich und Astralleib darin wären. Wir müssen also, wenn wir die Gesetze der Skulptur suchen, uns klar sein darüber, daß sie die Gesetze unseres Ätherleibes sind, wie die Baukunst die Gesetze unseres physischen Leibes enthält.

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Wenn wir dasselbe machen mit Bezug auf den Astralleib, gleichsam das Astralische hinunterschieben wiederum um eine Stufe tiefer, in den Ätherleib hinein, dann schieben wir das, was schon innerlich im Menschen lebt, herunter. Da entsteht nichts, was in Wahrheit ein Räumliches mehr sein kann, weil sich der Astralleib, wenn er sich in den Ätherleib hineinschiebt, nicht in ein Räumliches hineinschieben kann, denn der Ätherleib ist Rhythmus, ist Zusammenklang und so weiter. Da kann nur entstehen ein Bild, und es entsteht in der Tat ein Bild: es entsteht die Malerei. Die Malerei ist diejenige Kunst, welche ebenso die Gesetze unseres Astralleibes in sich enthält, wie die Skulptur die Gesetze unseres Ätherleibes und die Baukunst die Ge­setze unseres physischen Leibes enthält

Malerei

Astralleib

Wenn wir nun auf das vierte Glied unserer menschlichen Wesenheit sehen, auf das Ich, und wir schieben dieses Ich in seinen Gesetzen hinunter in den Astralleib hinein, weiter hinunter, lassen es darinnen beweglich, tätig sein, so bekommen wir wiederum eine andere Kunst, die da nicht enthält dasjenige, was im Ich wirkt, was wir etwa durch die Sprache oder durch unser gewöhnliches Vorstellen zusammen­fassen, sondern wir bekommen etwas, was vom Ich um eine Stufe gegen das Unterbewußte heruntergerückt ist. Gleichsam mit dem Horizonte unseres Bewußtseins gehen wir um die Hälfte eines Gliedes unserer Menschenwesenheit herunter, wir gehen um eine halbe Stufe herunter, wir tauchen unter mit dem Ich in den Astralleib hinein:

dadurch entsteht die Musik.

Musik

Ich

Die Musik enthält also die Gesetze unseres Ich, aber nicht so, wie wir sie im gewöhnlichen prosaischen Leben ausleben, sondern hinunter-gedrückt ins Unterbewußte, in den Astralleib hinein, gleichsam das Ich unter die Oberfläche des Astralleibes untergetaucht und dadrinnen,

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in der Gesetzmäßigkeit des AstraJleibes, schwimmend und wogend.

Wenn wir dann von den höheren Gliedern der Menschenwesenheit sprechen wollen, zunächst von dem Geistselbst, so können wir nur sprechen als von etwas, was noch außerhalb der menschlichen Wesen­heit ist. Denn wir beginnen erst in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum allmählich dieses Geistselbst zu einem inneren Gliede zu machen. Aber wenn der Mensch das aufnimmt als von einem Höheren kommend und in sein Ich hineinsenkt, also wiederum untertaucht mit dem, was heute nur geahnt werden kann, wie der Schwimmer im Wasser untertaucht, in das Ich mit den Ahnungen von seinem Geist-selbst, dann entsteht die Dichtung.

Dichtung

Geistselbst

Und wenn man noch weitergehen wollte, dann können Sie, bis zu einem gewissen Grade natürlich, sich sagen: Es könnte dann auch, weil in unserer Umgebung, in unserer geistig-spirituellen Umgebung von demjenigen, was wir später aufnehmen werden, auch der Lebens-geist liegt, der Lebensgeist einmal eingesenkt werden in das Geist­selbst. Aber natürlich muß das jetzt noch etwas sein, was erst in einer sehr fernen Zukunft einen gewissen Grad der Vollkommenheit er­reichen kann. Denn der Mensch, indem er versucht, den Lebensgeist hineinzuversenken in das Geistselbst, muß ja ganz und gar leben in einem Element, das einem heute noch durchaus fremd ist. Man kann also höchstens auf diesem Gebiete sprechen so, wie man spricht von dem Lallen des Kindes gegenüber der späteren Vollkommenheit der Sprache. Man kann ahnen, daß es einmal in großer Vollkommenheit eine Kunst geben wird, welche gewissermaßen über die Dichtung so binausragt, wie die Dichtung - womit selbstverständlich keine Supe­riorität gemeint ist, sondern bloß eine Anordnung - ragt über die Musik, die Musik über die Malerei, die Malerei über die Skulptur, die Skulptur über die Baukunst. Sie ahnen selbstverständlich, daß ich da­bei auf etwas hindeute, was wir heute nur in der allerallerersten An-fänglichkeit kennen, was wir nur in den allerersten Andeutungen

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haben können: auf die Eurythmie. Die Eurythmie ist wahrhaftig etwas, was heute als Notwendigkeit eintreten muß in die menschliche Evolu­tion, was aber zu Hochmut keine Veranlassung gibt, denn es kann selbstverständlich heute nur ein Lallen sein gegenüber dem, was einst­mals aus dieser Kunst wird entstehen müssen.

Eurythmie

Lebensgeist

Wir können nun irgendwo einsetzen mit einer, ich möchte sagen, etwas weitergehenden Betrachtung. Wenn wir aber diese Betrach­tung anstellen wollen, dann müssen wir uns klar sein darüber, daß die menschliche Organisation wahrhaftig nicht so einfach ist, wie man zur eigenen Erkenntnisbequemlichkeit sich das oftmals vorstellen möchte. Es ist wirklich unendlich bequem, sich vorzustellen, der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich und so weiter. Wenn man so diese Dinge aufzählen kann und ein annähern-des Vorstellen von diesen Dingen hat, so kann man vor einer einiger­maßen bequemen Erkenntnis sich sehr leicht zufrieden halten. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Das sind nicht Schalen, die so ein­fach ineinandergeschaltet sind, physischer Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich, sondern das sind in der Tat recht komplizierte Gebilde. Und wenn man zum Beispiel den Astralleib herausgreift, kann man nicht nur sagen: Nun, das ist der Astralleib und damit fertig -, sondern es liegt die Sache komplizierter.

Der Astralleib zum Beispiel - ja, man kann da nur annähernd be­zeichnende Worte brauchen - hat in sich wiederum eine Gliederung, besteht aus sieben Gliedern. So wie der Mensch selber in sieben Glie­der geteilt ist - physischer Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich, Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch -, so geht der Astralleib durch alle diese Glieder hindurch, und es gibt gleichsam einen dünnsten Teil des Astralleibes, den man bezeichnen könnte als vorzugsweise geschmiegt und gebildet für den physischen Leib. Also ein gesetzmäßiges Aus-leben des Astralleibes für den physischen Leib, ein gesetzmäßiges Ausleben des Astralleibes für den Ätherleib, ein gesetzmäßiges Aus-leben des Astralleibes für sich selber, ein gesetzmäßiges Ausleben des

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Astralleibes für das Ich, ein gesetzmäßiges Ausleben des Astralleibes für das Geistselbst, für den Lebensgeist und den Geistesmenschen. Jedes dieser Glieder ist wiederum siebengliedrig, so daß wir, wenn wir den siebengliedrigen Menschen haben und bedenken, daß jedes Glied wieder siebengliedrig ist, schon neunundvierzig Glieder haben. Das ist natürlich ein furchtbarer Horror für die moderne Seelenkunde, welche die Seele als Einheit betrachten und sich nicht einlassen möchte auf solche Dinge. Aber für eine wirkliche Erkenntnis, wie sie allmählich eintreten muß in der geistigen Menschheitsevolution, ist das tatsächlich nicht ohne Bedeutung. Denn wenn wir so wissen, daß der Astralleib eine siebengliedrige Natur hat und ein Organismus von inneren Lebensimpulsen ist, dann werden wir uns sagen: In diesem Astralleib und seiner Siebengliedrigkeit gehen auch zwischen seinen einzelnen Gliedern Vorgänge vor sich. - Der Teil des Astralleibes, der dem physischen Leib entspricht, steht in gewisser Wechselbeziehung mit dem Teil des Astralleibes, der dem Ätherleib, und mit dem, der dem Astralleib selber entspricht und so weiter. Und das sind nicht bloß abstrakte Annahmen, sondern es kann zum Beispiel im mensch­lichen Organismus durchaus geschehen, daß, sagen wir, der Mensch innerlich - allerdings mehr im Unterbewußtsein als im Vollbewußt­sein - verspürt eine Regung in dem Gliede des Astrafleibes, das dem physischen Leib entspricht. Und dann kann durch irgend etwas eine Regung hinzukommen, sich notwendigerweise ansetzen in dem Glied des Astralleibes, das dem Astralleib entspricht und so weiter. Das geschieht aber wirklich, das ist nicht bloß eine Theorie, sondern das geschieht wirklich.

Wenn Sie sich nämlich vorstellen, daß die sieben Glieder des Astralleibes in solcher Wechselwirkung stehen wie die Töne der Ton-skala: Prim, Sekund, Terz, Quart und so weiter, dann haben Sie, wenn Sie sich der Wirkung einer Melodie hingeben, diese Wirkung aus Ihrer menschlichen Organisation gegeben, darauf beruhend, daß, wenn in der Melodie dieser oder jener Ton ist, er innerlich erlebt wird im entsprechenden Gliede des Astralleibes Eine Terz wird erlebt in demjenigen Teil des Astralleibes, der dem Astralleib selber entspricht. Eine Quart wird erlebt in demjenigen Teil des Astralleibes, der - nun,

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näher sei das bezeichnet - der Verstandes- oder Gemütsseele ent­spricht. Eine Quint wird erlebt in demjenigen Teil des Astralleibes, der der Bewußtseinsseele entspricht. Und wenn Sie sich erinnern, daß wir bei einer genaueren Einteilung so gliedern, daß wir eigentlich neun Teile haben, so müssen wir auch den Astralleib so gliedern, nach den gegebenen Andeutungen. Und ich könnte sagen, aufzähiend:

Das dem physischen Leib entsprechende Glied des Astralleibes -, aber in unserer jetzigen Anwendung kann ich sagen, wird erlebt in der Prim. Ich könnte sagen: Der dem Ätherleib entsprechende Teil des Astralleibes -, in der jetzigen Anwendung kann ich sagen, wird erlebt in der Sekund. Ich könnte sprechen von dem dem Astralleib selber entsprechenden Glied des Astralleibes; in der jetzigen Anwendung kann ich sagen, es wird erlebt in der Terz.

Quint - Bewußtseinsseele

Quart - Verstandesseele

Terz - Astralleib / Empfindungsseele

Sekund - Äthedeib \ Astralleib

Prim - Physischer Leib

Aber jetzt sehen Sie auch, daß das Vorhandensein der großen Terz und der kleinen Terz wirklich dem Eingefügtsein des Astralleibes in unsere ganze Menschheitsorganisation entspricht. Wir haben ein Zu­sammenfallen - nehmen Sie das nur aus meinem Buche «Theosophie» in dem entsprechenden Abschnitt - auf der einen Seite desjenigen, was wir als Astralleib und auf der andern Seite desjenigen, was wir als Empfindungsseele bezeichnen. Es kann also das, was ich als Terz bezeichnet habe, mit dem Astralleib korrespondieren oder aber kor­respondieren mit der Empfindungsseele. Das eine ergibt die große Terz, das andere ergibt die kleine Terz.

Tatsächlich, auf diesem inneren musikalischen Wirken des Astral­leibes beruht das Miterleben des musikalischen Kunstwerkes, nur daß

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eben, während wir mit unserem Ich das Kunstwerk anhören, wir so­gleich das Erlebnis hinuntertauchen in unseren Astralleib, in gewisse unterbewußte Regionen.

Dies iührt uns aber ganz zweifellos auf eine sehr bedeutsame Sache. Betrachten wir dann uns selber, insofern wir ein astralisches Wesen sind, einen Astralleib in uns tragen. Wie sind wir denn da? Wir sind nach musikalischen Gesetzen aus dem Kosmos heraus als astralische Wesen geschaffen. Wir haben, insofern wir ein astralisches Wesen sind, einen musikalischen Zusammenhang mit dem Kosmos. Wir sind selber ein Instrument.

Nehmen wir nun an, wir würden nicht physikalisches Erklingen der Töne brauchen, sondern wir würden zuhören können jener schöp­ferischen Tätigkeit im Kosmos, die uns in unserer astralischen Orga­nisation aus dem Kosmos heraus geschaffen hat, so würden wir er­klingen hören die Weltenmusik, das, was man immer die Sphären-musik genannt hat. Nehmen wir an, wir würden imstande sein, bewußt unterzutauchen in unsere astralische Wesenheit und würden diese astralische Wesenheit zu solcher hohen Kraft, zu solcher geistigen Kraft erheben, daß wir die schöpferischen Tätigkeiten der Welten-musik hören, so würden wir uns sagen können: Der Kosmos, er spielt mit Hilfe unseres Astralleibes unsere eigene Wesenheit. - Dieser Ge­danke, den ich Ihnen jetzt ausspreche, er hat in älterer Zeit gelebt in den Menschen, richtig gelebt. Und indem man auf so etwas aufmerk­sam macht, deutet man wiederum hin auf die ganze Vermaterialisie­rung der menschlichen Entwickelung in den fünften nachatlantischen Kulturzeitraum herein. Denn natürlich lebt dieser Gedanke nicht in der heutigen äußeren Kultur der Menschheit. Die Menschheit weiß nichts davon, daß der Mensch ein Musikinstrument ist in bezug auf seinen Astralleib Aber das war nicht immer so, und daß es nicht immer so war, hat man sozusagen vergessen. Denn es gab eine Zeit, wo die Menschen sich sagten: Da gab es einmal einen Johannes, und dieser Johannes konnte sich in einen geistigen Zustand versetzen, so daß er die Musik des himmlischen Jerusalem hörte. - Sie sagten: Alle irdische Musik kann nur sein eine Nachbildung dieser himmlischen Musik, die mit der Schöpfung der Menschheit ihren Anfang nahm. -

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Und sie empfanden - der mehr religiös geartete Teil der Menschheit -, daß der Mensch dadurch, daß er zu den Wünschen der physischen Welt übergegangen ist, die Impulse in sich aufgenommen hat, die ihm benebeln, verdunkeln die himmlische Musik. Aber sie empfanden zu­gleich, daß es einen Weg geben muß in der menschlichen Evolution durch eine Reinigung von dem äußeren chaotischen Leben, gleichsam zu dem Ziele, hindurchzuhören durch die äußere materielle Musik die spirituelle Weltenmusik.

Schön hat man das noch im 10., 11. Jahrhundert ausgedrückt, diese Beziehung der äußeren, materiellen Musik, auf deren göttlichen Ur­sprung man dabei hinweisen wollte, zu dem, was ihr Urbild in der geistigen Welt ist als himmlische Musik, indem man forderte, daß der Mensch das Musikalische auch zu einem Opferdien st, zu einem reli­giösen Dienst mache, sich bewußt werde, daß, wenn er die Töne er­zeugt, er sich freimachen muß von dem Zusammenhang mit der bloß chaotischen - wie man es empfand - unreinen Außenwelt. Das Leben in der gewöhnlichen äußeren Sprache empfand man als ein Unreines. Und ein Hinaufrücken zu geistigen Höhen empfand man, wenn man von der Sprache sich erhob zu dem Abbilde der himmlischen Musik in der Musik. Das drückte man aus, indem man sagte: « Ut queant laxis resonare fibris mira gestorum famuli tuorum solve polluti /abii reatum, S.J. - Sancte Johanne.»

Würde man das übersetzen, so würde man sagen müssen: Damit deine Diener mit leicht gewordenen Stimmbändern die Wunder deiner Werke besingen mögen, sühne die Schuld der irdisch gewordenen Lippen - für die Sprache fähig gewordenen Lippen -, heiliger Johan­nes. - Denn ein Hörer des himmlischen Jerusalem war ja derjenige, zu dem man hinaufschaute bei solcher Gelegenheit. Und wenn Sie herausheben einiges, was in einem solchen Spruche liegt: ut, aus re­sonare re, aus mira mi, aus famuli das fa, aus solve das sol, aus labii das la, S.J. ist si. Das ut wurde später durch do ersetzt, es war aber ursprünglich die Bezeichnung für do. So haben Sie: do re mi fa sol Ja si, das heißt dasjenige, was verwendet wird in der mittleren Zeit zur Notenschrift. Das ist in diesen Vers hineingeheimnißt.

Wir sehen bei einer solchen Gelegenheit, wie in dem Augenblick,

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wo wir zurückgehen auf dasjenige, was durch atavistische Hellseher-erkenntnis noch bis ins 11., 12. Jahrhundert herein lebte in den Ge­mütern, wie das verschwindet vor dem Hereinfluten der materialisti­schen Weltanschauung, wie es aus dem Bewußtsein der Menschen herauskommt. Jetzt aber leben wir in der Zeit, wo wir das durch gei­stige Erkenntnis wiederum finden müssen, es wiederum erschaffen müssen. Es ist wirklich so, wie wenn uns alles klar zeigen würde, daß die Entwickelung einen Abstieg durchgemacht hat, daß sie da gar so tief gegangen ist, daß ein Sumpf entstanden ist. Das schlammige Was­ser dieses Sumpfes ist all dasjenige, was die materialistische Welt­anschauung an Vorstellungen hervorgebracht hat. Und jetzt sind wir daran, uns wiederum aus dem materialistischen Sumpf herauszuarbei­ten, heraufzusteigen und wiederum das zu finden, was die Menschheit im Herabsteigen verloren hat.

Ich habe ja gestern darauf hingedeutet, daß der Mensch im Grunde genommen nicht nur bei Nacht schläft, sondern daß Gewisses im Menschen auch bei Tag schläft. Bei Nacht schläft mehr das Gedank­lich-Gefühlsmäßige, bei Tag schläft mehr das Willensartig-Gefühls­mäßige. Gerade in dieses Willensartig-Gefühlsmäßige taucht man unter, wenn man das Ich untertauchen läßt in den Astralleib Und in dem Erklingen des musikalischen Kunstwerkes liegt eben das vor, daß der Mensch bewußt hinuntertaucht mit der Ich-Natur in das­jenige, was sonst schläft. Sitzen Sie im Anhören einer Symphonie, so bedeutet das in Ihnen den inneren Vorgang, das gewöhnliche, profane Gedankenleben zu dämpfen und mit Ihrem geistig-seelischen Erleben hinunterzutauchen in das, was sonst während des Tagwachens schläft. Das bedingt den Zusammenhang der musikalischen Wirkung mit all den belebenden Kräften im menschlichen Organismus; das bewirkt den Zusammenhang mit alledem, was gleichsam den ganzen Men­schen durchzieht und durchlebt und ihn eins werden läßt, ich möchte sagen, ihn zusammenwachsen läßt mit strömenden Tonmassen.

Und wir schlafen in der Nacht. Da wird abgedämpft in einem Ele­mente, das wir jetzt noch nicht im normalen Bewußtsein drinnen haben, das profane Gedankenleben. Wenn es uns aber gelingt, das­jenige nun in das gewöhnliche Tagesbewußtsein hereinzubringen, was

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im schlafenden Menschen erweckt wird, wenn das, worinnen der Mensch lebt im Schlafe, untertaucht in das wache Tagesleben, dann -merken Sie wohl den Gegensatz, ich habe eben gesagt, es wird untergetaucht beim musikalischen Erleben das Ich-Erleben in das, was bei Tag schläft; jetzt tauchen wir das, was wir in der Nacht er­leben, in das Tagwachen ein -, dann wird dies die Dichtung. Das haben solche Leute empfunden wie Plato, wenn sie das Dichten ein göttliches Träumen genannt haben.

Wir können gerade, wenn wir uns so vertiefrn in den Zusammen­hang des Menschen mit dem ganzen Kosmos, wie man das gewisser­maßen kann unter der Anleitung der Künste, zu einem gewissen Leben bringen das, was sonst bloße Begriffsschablone bleibt. Aber merken Sie, daß die Dinge nicht Begriffsschablonen sind! Es macht gewissen Leuten eine solche Freude, wenn sie das, was da entwickelt ist in meinem Buche «Theosophie», so hintereinander anordnen können in einem Schema, und gewiß haben manche gemeint, es sei ein reiner Eigensinn, daß ich abgewichen bin in diesem Punkte hier, wo ich gegeben habe drei Dreigh.edrigkeiten, aber so, daß sie ineinander­greifen, von dem, was in dem früheren theosophischen Betriebe ge­lernt wurde. Wenn man aber eingeht auf das, was man erlebt, auf die Realität der Sache, dann wird man schon aus der Natur der Dur- und Mollmelodie ersehen, daß die Dinge tief begründet sind in der ganzen Struktur des Kosmos. Nur dann, wenn die Dinge lebendig heraus-geholt werden aus der ganzen Struktur des Kosmos, entsprechen sie einer wirklichen Realität.

Es war ja natürlich notwendig, daß anfangs manches gesagt worden ist, wovon wirklich die Gründe erst im Laufe der Jahre nach und nach hervorgetreten sind. Man mußte sich da schon der Gefahr aus­setzen, daß die Leute nun mit ihrer Kritik herankommen, weil sie nicht wissen, worauf die Dinge beruhen und wie sie sich ausnehmen müssen, wenn man die ganze Struktur des Kosmos berücksichtigt. Aber so ist es auch noch mit vielem. Es kann gegen sehr vieles, was jetzt gesagt wird, noch sehr viel eingewendet werden, wenn man mit oberflächlichen Begriffen ihm naht. Aber es wird im Laufe der Jahre oder vielleicht Jahrzehnte schon dasjenige herauskommen, was die

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Dinge rechtfertigen wird. Und es werden die geisteswissenschaft­lichen Erkenntnisse selbst fruchtbar werden, wenn sie nicht mehr Theorien sein werden, sondern Lebendiges sein werden.

Darauf kommt alles an, daß man sich erhebt von dem, was man zunächst mit den bloßen Worten physischer Leib, Ätherleib, Astral­leib und so weiter verbindet, zu einem Lebendigwerden dieser Ideen; denn dann geht aus, strahlt aus von diesem Lebendigwerden ein wirk­liches Weltverständnis. Und derjenige, der dazu in der Lage ist, möge nun vergleichen das, was an Ästhetik hervorgetreten ist im Verlaufe der letzten anderthalb Jahrhunderte mit dem, was aus der Kenntnis der menschlichen Organisation heraus folgen kann für die Herleitung der Künste. Und sehen wird ein solcher, der dieses vergleicht, wie unmöglich es ist, ohne die Kenntnis der menschlichen Organisation zu einem wirklichen Verständnis dessen zu kommen, was in unserer Umgebung lebt und uns selbst erfreut.

Eine Empfindung möchte ich hervorrufen von der Tatsache, daß mit der Geisteswissenschaft selbst wirklich ein Anfangsimpuls ge­geben ist, der sich immer weiter und weiter entwickeln wird, daß wir gewissermaßen dazu berufen sind, die allerersten Schritte zu machen, und ahnen können, was aus diesen ersten Schritten wird, wenn wir längst nicht mehr in dieser Inkarnation dabei sein werden.

Baukunst

physischer Leib

Skulptur

Ätherleib

Malerei

Astralleib

Musik

Ich

Dichtung

Geistselbst

Eurythmie

Lebensgeist

DRITTER VORTRAG Dornach, 30. Dezember 1914

#G275-1966-SE055 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

#TI

DRITTER VORTRAG

Dornach, 30. Dezember 1914

#TX

Wir können vielleicht am besten übersehen, was wir hier meinen dürfen über das, was durch unsere geisteswissenschaftlichen Be­strebungen einziehen soll in unsere Seelen, in unsere Herzen, wenn wir einen Blick werfen über den größten Teil desjenigen, was ich mir erlaubte, als «Gehei mwissenschaft im Umriß» zu geben. Da haben wir zuerst, wenn wir absehen von den Einieitungskapiteln, die da gleich­sam zur Vorbereitung sein müssen, diejenigen Kapitel, die dazu dienen sollen, das Wesen des Menschen und seine Beziehung zu Geburt und Tod und sein Leben in den geistigen Welten kennenzulernen. Nach diesen Einleitungskapiteln haben wir eine Schilderung der großen kosmischen Zusammenhänge, natürlich skizzenhaft, die uns führen durch die Verwandlungsstadien unserer Erde, bevor sie Erde ge­worden ist, durch das Saturn-, das Sonnen-, das Mondendasein und uns dann hereinführen in das Erdendasein. Dann haben wir eine ganz flüchtige, alles nur kurz andeutende Auseinandersetzung über die Ausblicke, die sich uns ergeben auf das Jupiter-, Venus- und Vulkan-dasein. Und ich möchte sagen, statt einer eingehenderen Schilderung dieses Jupiter-, Venus- und Vulkandaseins haben wir dann eine Dar­stellung desjenigen, was der Mensch durchzumachen hat, wenn er jene inneren Seelenerlebnisse in sich ablaufen lassen will, die ihn letzten Endes zur Initiation führen müssen. Genauer sind diese Vorgänge bis zu einer gewissen Etappe geschildert in den Aus­einandersetzungen in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?».

Wir werden überhaupt sehen, daß für uns die Geisteswissenschaft gewissermaßen in zwei Teile zerfällt: in einen Teil, wo wir schildern die kosmischen Zusammenhänge, schildern, wie das, was heute als die Erde und ihre Wesenheiten und das sonstige Weltenail vor uns ist, seit urferner Vergangenheit geworden ist, und wie in Aussicht steht, daß es sich weiter entwickeln wird. Wenn Sie nun die Betrachtungen, die wir so anstellen, durchgehen, dann werden Sie überall sehen, daß

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ein großer Teil unserer Betrachtungen gewissermaßen unter dem Einflusse steht desjenigen, was wir über das Werden des Kosmos in uns aufnehmen. Ein anderer Teil unserer Betrachtungen beschäftigt sich damit, was die Seele tun muß, um in die geistigen Welten hinein-zukommen, mit andern Worten, um zur Initiation zu gelangen. Diese inneren Erlebnisse, Überwindungen, Kämpfe, Erlösungen und Er­reichungen, die da die Seele durchzumachen hat, werden gewisser­maßen in der zweiten Sphäre unserer Betrachtungen immer berührt. Und entweder aus der einen oder aus der andern Partie sind unsere Betrachtungen, wenn wir das Wesentliche an ihnen beobachten.

Wenn wir nun zunächst die erste Partie unserer Betrachtungen ins Auge fassen, jene Darstellungen durch das Saturn-, Sonnen- und Mondendasein bis in das Erdendasein hinein, so stellen wir mit sol­chen Darstellungen etwas in die Welt hinein, das der heutigen, sei es religiösen, sei es wissenschaftlichen Weltanschauung sehr, sehr zu­wider ist, das zum großen Teile von dieser heutigen Weltanschauung als etwas Absurdes angesehen wird. Denn es ist ganz selbstverständ­lich, daß unsere heutige Weltanschauung die Darstellung einer solchen Weltenordnung, wie wir sie zum Beispiel geben müssen, wenn wir das Saturndasein schildern, zu phantastisch findet, daß die Darstellung einer solchen kosmischen Ordnung für unsere gegenwärtige An­schauung so ist, daß man nur sagen kann: Das ist absoluter Unsinn, das kann es ja gar nicht geben, das ist etwas phantastisch Ausgedach­tes! - Ebenso ist es für die andern Partien dessen,was wir zu schildern haben.

Nun erinnern Sie sich an den Ausspruch, den ich schon mehrfach hier und auch gestern gemacht habe. Ich habe gesagt: Der Mensch schläft nicht nur in der Nacht, wenn sein Gedanken- und auch sein Vorstellungsbewußtsein heruntergedämpft ist, der Mensch schläft auch bei Tage mit einem Teile seines Wesens. Während bei Nacht mehr das Vorstellungsleben schläft, schläft bei Tag in einem Teil unseres Wesens mehr das Willensleben. Unten in den Tiefen unserer Leiblichkeit schläft das Willensleben, wenigstens ein großer Teil des Willenslebens. Denn dieses Willensleben des Menschen ist viel um­fassender als das bewußte Willensleben, das wir entwickeln. Das ist

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nur ein kleiner Teil. Und wir können dreist sagen: Der Mensch mit seinem gewöhnlichen Bewußtsein, wenn er so bei Tage seine Arbeit verrichtet, oder sein Vergnügen genießt, ist zum größten Teil doch ein Schlafwandler. Unendlich vieles geht unbewußt vor sich, und auch das, was er bewußt macht, vollbringt er zum großen Teile scheinbar bewußt, halb und mehr als halb unbewußt.

Wenn wir den Menschen genau beobachten in dem, was er halb oder mehr als halb bewußt, unbewußt macht, dann kann uns ins geistige Auge fallen, daß er als schlafender Mensch nicht so ungläubig ist wie als wachender Mensch, ganz und gar nicht so ungläubig. Der heutige wachende Mensch mit seiner Weltanschauung kommt und sagt: Die Schilderung des Saturndaseins in einem solchen Buche wie die «Geheimwissenschaft» ist der reinste, absolute Unsinn! - Selbst­verständlich. Aber der Mensch als ganzer Mensch sagt das nicht, son­dern er trägt etwas in sich, wodurch er - gestatten Sie den Ausdruck -unbewußt weiß, daß es einstmals ein Saturndasein gegeben hat. Er macht etwas, wodurch er dokumentiert, daß er gewissermaßen un­bewußt sich an dieses Saturndasein erinnert. Das, was er macht, das ist: er wird zum Baukünstler. Denn es würde niemals eine Baukunst entstanden sein, wenn der Mensch heute nicht in sich tragen würde diejenigen Gesetze, welche dem Menschen schon während der alten Saturnzeit eingeprägt worden sind in seinen physischen Leib. Wir haben gestern auseinandergesetzt, wie diese Gesetze im physischen Leibe hinausprojiziert werden können in den Raum und dann draußen baukünstlerische Gesetze sind. Alles das, was der Mensch während der alten Saturuzeit in sich aufgenommen hat, das geheimnißt er hinein in die Gesetze der Architektur. Selbstverständlich muß er das mit den heutigen Mitteln tun, so daß sich, was uns da in den gegen­wärtigen Werken der Baukunst entgegentritt, ganz anders ausnimmt als das, was wir von der «Saturnarchitektonik» kennen. Aber das Wesentliche, das Lebendige, das wir machen im baukünstierischen Tun, ist das, was sich in den Menschen eingepflanzt hat durch das alte Saturndasein.

Nehmen wir dieses, was wir so vor unsere Seele führen, in einem noch tieferen Sinne. Was tut der Mensch, indem er ganz, sei es

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schaffend, sei es erkennend oder genießend, in der architektonischen Schöpfung aufgeht? Er lebt in den Saturngesetzen seines physischen Leibes, das heißt, er vergißt, wenn er sich ganz versenkt in die Gesetze der Architektur, alles das, was in ihm lebt als ätherischer Leib, als astralischer Leib und als Ich, er wird wieder Saturnmensch. Alles Herbe, alles Keusche, alles Schweigsame und doch wiederum so Sprechende der Baukunst ist nichts anderes, als daß der Mensch sich mit Entäußerung der höheren Glieder seines Wesens versetzt in das, was ihm die Geister der höheren Hierarchien - die Throne, die Archai, die am Anfang des Saturndaseins beteiligt waren - gegeben haben, im wesentlichen diese beiden Gruppen von höheren Geistern, unterstützt von den andern Wesenheiten der höheren Hierarchien.

So ist es wirklich ein Hinausheben nicht nur über die Gegenwart der Erde, sondern über eine weit, weit entfernte Vergangenheit und ein Sich-Hineinversetzen in dieses Saturndasein, was der Mensch vollbringt, indem er baukünstlerisch schafit oder baukünstlerisch genießt, wenn es sich um wirkliche Kunst dabei handelt, selbst­verständlich.

Und wiederum, schreiten wir herauf bis zur Skulptur, bis zur Bild­hauerkunst. Wir haben gestern gesehen, daß die Gesetze der Skulptur die Gesetze des Ätherleibes sind, die der Mensch in seinen physischen Leib hinunterdrängt um eine Stufe. So wie das, was im physischen Leibe lebt, hinausgedrängt wird in den Raum und da die Architektur wird, so wird in der Skulptur das, was im Ätherleibe lebt, herab-gedrängt in den physischen Leib. Wir entäußern uns, indem wir Skulptur genießen, des astralischen Leibes und des Ich und aUer höheren Glieder. Wir leben im Skulpturgenießen so, als wenn wir nur den physischen Leib und im physischen Leibe den Ausdruck des Ätherleibes hätten: das ist das Zurückversetztsein in das alte Sonnen-dasein. Alles das, was dem Menschen das alte Sonnendasein ein­gepflanzt hat, wird gegenwärtig im Genuß oder Schaffen der Skulptur. Das, was uns in der Skulptur entgegentritt, erscheint uns auf der einen Seite so verwandt, weil es uns wiedergibt unsere eigene ferne, ferne Vergangenheit, die ja noch schöpferisch in uns ist, unsere Sonnenzeit. Und es erscheint uns auf der andern Seite wiederum so marmorglatt

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und marmorkalt, weil uns das, was aus der Skulptur kommt, an­leuchtet wie das, was aus dem fernen Kosmos kommt, aus dem fernen All.

Und schreiten wir herauf zur Malerei, dann wissen wir, daß die Malerei darauf beruht, daß hineingedrängt werden in den Ätherleib die inneren Impulse des astralischen Leibes, so daß wir uns in der Malerei unseres Ichs entäußern und so leben, wie wenn wir nur im astralischen Leibe erleben würden, aber dieses astralische Leben hin­unterdrängen in den Ätherleib. Wir erleben uns in alledem, was in uns eingepflanzt hat das alte Mondendasein, jenes alte Mondendasein, welches uns als Menschen unsere astralische Innerlichkeit gegeben hat. Das Malerische ist gleichsam die äußere Projektion dieser unserer astralischen Innerlichkeit. Geradeso wie wir in unserer astralischen Innerlichkeit erleben Stimmungen wie Trauer, Freude, Charakteri­stisches, Ausdrucksvolles, wie wir erleben das, was das Geschick über uns bringt, so erleben wir das, was der Maler uns auf die Leinwand zaubert und was ein Widerschein ist unseres eigenen inneren astra­lischen Wesens.

Wenn Sie versuchen, sich ein wenig hineinzuleben in das, was ge­schildert worden ist in der «Geheimwissenschaft» aJs Saturn-, Son­nen- und Mondendasein, dann werden Sie die Entdeckung machen, daß in der Tat bei der Schilderung des Saturndaseins eine architek­tonische Stimmung zugrunde ]iegt, bei der Darstellung des Sonnen-daseins eine bildhauerische Stimmung und bei der Darstellung des Mondendaseins eine malerische Stimmung. Es ist versucht worden, in der Ausprägung der Worte diese Stimmungen wiederzugeben. Zur Darstellung okkulter Ereignisse gehört eben durchaus mehr als das, was die heutigen literarischen Hilfsmittel sind, und man verkennt den Stil einer okkulten Darstellung vollständig, wenn man glaubt, das Richtige treffen zu können mit den greulichen literarischen Hilfs­mitteln unserer Zeit.

Dann kommen wir in das Erdendasein hinein, worin wir leben als in unserer unmittelbaren Gegenwart, als in der uns angewiesenen Realität. Das ist nicht etwas, bei dem wir so, wie wir darinnen leben, das Bedürfnis haben, es künstlerisch unmittelbar vor uns hinzustellen.

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Dagegen ist das, was der Mensch als Bedürfnis empfindet, künstle­risch aus sich herauszustellen, nicht erschöpft damit, daß er in der Architektur, Skulptur und Malerei gleichsam seine kosmische Ver­gangenheit, wie es sein kann aus dem uns eingepflanzten Gedächtnis heraus, wiedererschafft. Das künstlerische Bedürfnis geht weiter. Und wenn wir die geistige Grundlage dieses Weitergehens des künstleri­schen Bedürfnisses suchen, so müssen wir sie in dem finden, was in der «Geheimwissenschaft» nach der Darstellung des Saturn-, Son­nen-, Mond- und Erdendaseins, und nachdem sich uns nur ganz skizzenhaft die weiteren Entwickelungsstufen des Jupiter-, Venus-und Vulkandaseins darstellen, weiter gegeben ist als eine Darstellung der Initiationsvorgänge, die im wesentlichen zunächst innere mensch­liche Vorgänge sind. Von diesen Initiationsvorgängen muß man sich vorstellen, daß sie, so wie sie uns heute entgegentreten, der Anfang sind zu wichtigen Umgestaltungen des menschlichen Erdenlebens, überhaupt des menschlichen zukünftigen Lebens. Ist es doch so, daß man gegenüber dem menschlichen Erdenieben fühlen kann, wenn man tiefer empfindet: Ach, dieses menschliche Erdenleben, wie es ver­läuft, insofern der Mensch bewußt ist, läßt den Menschen eigentlich erscheinen wie eine Waise im Kosmos, wie ein verlassenes Kind des Kosmos, man könnte auch sagen, wie ein verirrter Wanderer im Kosmos.

Weiß doch der Mensch in seinem alltäglichen Bewußtsein, in sei­nem Wachzustande nicht, wie das gekommen ist, was durch das Sa­turndasein, durch das Sonnen- und Mondendasein entstanden ist, was in ihm lebt, und weiß er auch nicht, was aus ihm wird in dem, was J upiter-, Venus- und Vulkanzustand sein wird. Ohne seinen Ursprung, ohne seine Zukunft zu kennen, irrt der Mensch hin am Abgrund des Erdentales. Er mag manchmal sich fest fühlen durch sein Bewußtsein und auch sicher sein wegen seiner Zukunft, aber gegenständlich-sach­lich sind weder Vergangenheit noch Zukunft von dem Erdenmen­schen zu bemessen. Doch wird vor die menschliche Seele treten das­jenige, was Führer sein kann in eine sichere Lebensrichtung hinein, was sich ergibt, wenn die Menschen sich bekanntmachen werden mit dem, was ihnen gegeben wird als Richtlinie in den Gesetzen der

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Initiation, jener Initiation, die in alten Zeiten eine gewisse Erbschaft der Götter darstellte, die den Menschen mitgegeben wurde und als atavistisches Hellsehen auftrat, die aber, indem wir der Zukunft ent­gegenieben, immer mehr und mehr den Menschen ergreifen und das innere Seelenleben des Menschen formen muß.

Gewiß, dieser Weg, dieser Pfad zur Initiation hat zwei Seiten. Die eine Seite ist diese, daß der Mensch die Geheimnisse, die Rätsel des Daseins durch die Initiation kennenlernt, daß er durch sie eintritt in das geistige Erleben des Daseins. Die andere Seite ist aber dasjenige, was wir nennen können das mehr Subjektive, das mehr in der Seele sich Abspielende der Initiation. Es ist zugleich das, vor dem die Men­schen am meisten zurückschrecken, weil es in der Tat etwas darstellt, was nicht zu den Bequemlichkeiten des seelischen Erlebens gehört, denen sich die Seele so leicht hingibt oder hingeben will. Es gibt eine Skala, eine ungeheuer ausführliche Skala inneren Erlebens für den­jenigen, den sein inneres Erleben allmählich zur Initiation führen soll. Die Überwindungen, Befreiungen, die Widerstände und Erlösungen, sie wechseln ab in mannigfaltigster Weise in dem inneren Erleben auf dem Wege zur Initiation: Da hat man durchzumachen all dasjenige, was uns die Seele so erfühlen läßt, wie wenn sich diese Seele plötzlich ganz fremd geworden wäre, wie wenn sie in einen Abgrund gestürzt wäre, wo sie fühlen muß von sich, wie wenn sie ewig verloren wäre und nimmer wiederfinden könnte das, was sie schon in irgendeiner Lebenszeit einmal erworben hat. Wie eine unendliche Bestürzung und Trauer gegenüber dem Verlieren des schon gewonnenen Daseins kann es über die Seele kommen. Und dann wiederum kann es auch so über die Seele kommen, wie wenn diese Seele sich zersplittern müßte, auf­gehen müßte in eine unendliche Vielheit, in alle die Wesen, aus denen der Kosmos zusammengesetzt ist. Dann aber ist es wieder die Stim­mung, wie wenn sie sich fühlen muß hindurchwandeln durch die Wesen des Alls, verwandt werden mit dem Wesen des einen, wiederum verlassen dieses Wesen und verwandt werden mit dem Wesen des andern, wie ich das geschildert habe in meinem Buche «Die Schwelle der geistigen Welt», wo ich dargestellt habe die Erlebnisse, die immer verbunden sind mit schmerzlichen Entbehrungen, mit schmerzlichen

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Verlassenheiten, wenn sie im einzelnen durchgemacht werden. End­lich dasjenige, was die Seele erleben kann, wenn sie die radikalste Verwandlung, möchte ich sagen, miterlebt, wo die Seele sich ent­schließen muß zu dem, was ausgedrückt werden kann mit den Worten:

Du mußt jetzt eine Weile dich selber verlieren, dich selber von dir stoßen, aber du mußt das Vertrauen haben, daß, während du dich selber verlierst, während du dich von dir stößest, Wesen, die in den Weiten der göttlichen Hierarchien ruhen, dich bewahren und wieder dich selbst finden lassen, nachdem du dich verloren hast. - Dies ist das Durchgehen durch Geburten und Tode. Das ist es, was durchzumachen ist unter den inneren Erlebnissen, die zur Initiation führen.

Es ist endlich das schaudervolle Durchgehen durch alle die Kräfte, die nicht für das Erdenieben, wohl aber für das Leben des außer-irdischen Kosmos ndtwendig sind, die aber, wenn sie von Luzifer oder Ahriman in unberechtigter Weise in dieses Erdenieben hineingebracht werden, zu den Kräften des Bösen werden; es ist das schaudervolle Durchgehen durch die Kräfte des Bösen, samt alledem, was sie an Aufwühlendem, Zerstörendem, Aufsaugendem in dem ganzen Kos­mos bedeuten. Und es ist endlich das Durchgehen durch das Stadium, wo der Mensch sich nur als Instrument, als Werkzeug fühlen darf, durch das die geistigen Wesen sprechen, wo er symbolisch das wird, was sein Kehlkopf zum Ausdruck bringt als einzelnes Glied, wo er zum Kehlkopf der göttlich-geistigen Wesen wird, wo er sich selber ruhend fühlt in dem allwaltenden, göttlichen Wort. Und dann der Zustand, wo in der Zukunft dieses Fühlen einläuft in das Miterleben des göttlichen Webens und Wollens im Kosmos selber.

Das sind aber nur einzelne Zustände, die geschildert sind. Unendlich abstufungsreich ist das, was die Seele also durchmacht. Und wie die Seele in all diese Zustände sich hineinfinden kann und mit jedem sol­chen Zustand um eine Stufe höher auf dem Pfade der Initiation kommt, einen Schritt weiter hineinkommt in die geistige Welt, das finden Sie dargestellt, soweit das darzustellen für die Gegenwart nötig ist, in der Schrift « Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder auch in der Schrift «Die Schwelle der geistigen Welt» mehr deskriptiv. Ja, das alles, was die Seele also durchmacht, indem sie sich der Initiation

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nähert, wird auf dem Pfade der Initiation bewußt durchgemacht, bewußt durchlebt. Daher ist dieser Erkenntrispfad so schmerzens­und auch so erlösungsreich. Aber der Mensch vermag lange, lange bevor er sich bewußt hineinfindet in all das, was ich Ihnen geschildert habe als die Etappen des Initiationspfades, auszusprechen mit seinen Mitteln dieses Erleben, auszusprechen in Bildern - und das geschieht durch die Musik. Letzten Endes, im wesentlichen, ist wahre Musik in Tönen verlaufendes Dasein, in Tönen verlaufendes Daseinsgeschehen, welches ein äußeres Bild desjenigen ist, was bewußt die Seele durch-lebt im Initiationsleben.

Der Mensch kann, wenn er im alltäglichen Dasein stehenbleibt, nicht ohne weiteres das vollziehen, was wir nennen können: das Ich -wie wir es gestern dargestellt haben - hinuntertauchen in den astra­]ischen Leib. Dies, was man da unternimmt, indem man mit dem Ich untertaucht in diese astralische Welt in der richtigen Weise, so daß das Untertauchen ist ein Eintauchen in die göttliche Welt, ist eben der Gang durch die Initiation. Aber ein Bild davon ist uns in dem Ge­schehen, das durch musikalische Schöpfungen an uns herantritt, ge­geben. Der Mensch entäußert sich, indem er der musikalischen Schöp­fung schaffend oder genießend sich hingibt, seines Ich. Er drängt dieses Ich zurück, aber er übergibt es zugleich all den göttlich-geistigen Mächten, die an seinem astralischen Leib arbeiten werden, wenn er aufsteigen wird zum Jupiterdasein.

Bedenken Sie, wie wir jetzt eintreten in eine Betrachtung des musi­kalisch-künstlerischen Schaffens, das uns mit der Zukunft des Men­schen in Zusammenhang bringt. Es ist fast, man möchte sagen un­demütig, auszusprechen, daß das musikalisch-künstlerische Schaffen in der Tat dazu berufen ist, sich immer mehr und mehr in der Welt zu vervollkommnen, immer mehr sich in der Welt zu vertiefen, und daß das, was als musikalisch-künstlerisches Schaffen in unsere Welten-ordnung schon eingetreten ist, mehr oder weniger Versuche sind -trotz allem Großen, trotz allem Genialen in diesem musikalisch-künstlerischen Schaffen. Es sind Versuche zu etwas noch unendlich Bedeutungsvollerem im musikalisch-künstlerischen Schaffen der Zu­kunft. Und dieses musikalisch-künstlerische Schaffen der Zukunft

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wird Anregungen empfangen können, die bedeutsamsten Anregun­gen, wenn die Menschen sich darauf einlassen werden, die innere Charakternatur des Initiationspfades kennenzulernen.

Wenn einmal das, was mit Bezug auf den Initiationspfad geschildert werden kann, von den Menschen nicht so durchlebt wird wie heute, sondern so durchlebt werden wird, daß die Menschen bei den Schilde­rungen dessen, was die Seele da zu erleben hat, Beseligungen und schwere Enttäuschungen durchmachen, wenn das ein ganzes Erleben ist, was man lesend über den Initiationspfad erfahren kann, dann wird die Seele des Menschen erst so erschüttert werden können in ihrer Teilnahme an den Schicksalen all der Wesen, die im außermensch­lichen Dasein teilnehmen an den Ereignissen des Kosmos, daß sie in sich Erschütterungen, Entbehrungen und Erlösungen erleben wird, die die Seele dazu drängen werden, in Tonzusammenhängen dasjenige auszusprechen, was erlebbar ist an der Schilderung des Initiations­pfades. Geben wird es in Zukunft Menschen, welche die Schilde­rungen des Initiationspfades empfinden werden, fühlen werden, daß ein intensives Erleben bei dem, was uns da scheinbar so abstrakt ent­gegentritt, möglich ist, viel intensiver als es in unserem äußeren physischen Erleben der Fall ist. Dann wird ein Moment kommen für die Naturen, die in ihrer Wahrheit empfinden können die Dinge, die auf dem Initiationspfade geschildert werden, in welchem sie sich sagen werden: Jetzt fühle ich, das, was ich da erlebe, bringt mich in Zu­sammenhang nicht mit der Natur, in der ich darinnenstehe auf dem Erdenrund, sondern mit dem, was den Kosmos durchwebt und durch­lebt. Oh, ich kann das alles nicht bloß erleben, aber ich kann es singen, ich kann es komponieren!

Wir haben in dem, was wir so schildern können, einen Fingerzeig für das, was die Geisteswissenschaft dem Menschen werden soll, denn die Geisteswissenschaft soll lebendig die Menschenseele anregen, soll nicht bloß Theorie sein, nicht bloß Erkenntnis, nicht bloß Wissen. Die Geisteswissenschaft soll leben in der Seele, alle Kräfte in der Seele ergreifen, soll aus dem Menschen ein anderes Wesen machen. Be­ziehungsweise der Mensch soll aus sich selber ein anderes Wesen machen, wenn er sich der Geisteswissenschaft hingibt.

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In alten Zeiten, wir können sagen, noch bei den Griechen, die Sonnenmenschen waren, da war es ein atavistisches Helifühlen, was die Menschen dazu brachte, sich zu entäußern alles astralischen Wesens und alles Ich-Wesens und nur die Gesetze in der physischen Menschen-gestalt zum Ausdruck zu bringen, die das Saturn- und Sonnendasein erst geschaffen haben. Dadurch entstanden die griechischen Skulp­turen, jene griechischen Skulpturen, die als Kunstwerke wirklich so vor uns stehen, wie der Sonnenmensch geistig vor uns stehen muß, wenn wir ihn begreifen als nur enthaltend die physische Menschen-gestalt und das ätherisch Lebendige darinnen und noch nicht ent­haltend das Astralische Ja, so eine aus der griechischen Kunst heraus geschaffene Venus von Milo können wir betrachten als eine vor uns stehende Personifikation keuschesten Wesens, weil Unkeuschheit erst im astralischen Leibe möglich ist in alldem, was als Triebe und Be­gierden den astralischen Leib durchdringt. Unkeuschheit ist noch nicht möglich im ätherischen Leibe. Da war es Erbgut der Götter, das die Menschen mitbekommen haben, was sie veranlaßte, solche Kunst­werke zu schaffen. Verlorengegangen ist den Menschen dieses Sich-Erfühlen bloß im ätherischen und physischen Leibe, ohne Ich und ohne astralischen Leib.

Wenn der Mensch aufwacht, mit seinem Ich und seinem astrali­schen Leibe untertaucht in den Äther- und physischen Leib, so fühlt er und erlebt er nur dasjenige, was in seinem Ich vorhanden ist. Was in seinem astralischen Leib vorgeht, ist schon im Unter-bewußten, geschweige denn, was im ätherischen Leibe und im physischen Leibe vorgeht. Davon weiß der Mensch innerlich nichts. Für den Griechen aber war noch ein ahnendes Erfühlen da. Wir aber, wenn wir danach trachten, daß das geisteswissenschaftliche Erkennen in uns wiederum lebendig wird, daß es nicht nur unser abstraktes Erkennen, unser theoretisches Erkennen, sondern unser ganzes Seelenleben erfaßt, dringen dann hinunter allmählich in das, was uns konstituiert, lernen dann erkennen, was da durchrhythmi­siert, durchliarmonisiert, durchzyklisiert unseren astralischen und ätherischen Leib. Und dann kommen wir zu einem mit der Seele möglichen Verfolgen desjenigen, was ätherisch den Leib durchpulst,

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den Raum durchpulst und die Gestalten aus dem Ätherischen heraus hervorruft.

Solches sollte versucht werden in dem Aufbau unserer Säulen, in dem Aufbau unserer Architrave im Goetheanumbau: ein Hinunter-tauchen in die Sphären, in die uns die Geisteswissenschaft hinunter-tauchen läßt, und die vergessen worden sind von der Menschheit. Da müssen wir aber in der Tat mit tiefstem Ernste das nehmen, was uns die Geisteswissenschaft sein kann. Wenn man - das können Sie aus dem ganzen Sinn der bisherigen Auseinandersetzungen über die Geisteswissenschaft entnehmen - bewußt in die geistige Welt ein­dringt, und man muß ja in die geistige Welt bewußt eindringen, wenn man also das, was in der ätherischen Welt und im ätherischen Men­schenleibe lebt, begreifend gestalten und das so Gestaltete genießen will, wenn man da hinein will, dann muß man aber auch mit den­jenigen Wesenheiten Bekanntschaft machen, die man als die luziferi­schen und ahrimanischen Geister bezeichnet.

Nun denken Sie sich wiederum, wieviel in unserem heutigen Schaf­fen ahrimanisches Wesen ist. Erinnern Sie sich an das, was ich aus­einandergesetzt habe in bezug auf das gegenwärtige technische Milieu. Und wir können doch nicht anders, als mit Hilfe der heutigen Technik schaffen. Das würde nur einer Treibhauspflanze ähnlich werden, wenn wir ohne Hilfe der modernen Technik arbeiten wollten. Und es war mir eine gewisse Befriedigung, daß wir hier unseren Bau zum Teil mit einem der modernsten Materiale bauen konnten, daß wir ihn zum Teil mit dem Betonmaterial gebaut haben, denn nicht darinnen kann der Fortschritt liegen, daß wir uns treibhausartig absondern von dem, was das übrige Leben gibt, sondern daß wir benützen, was das übrige Leben gibt. Indem wir uns geisteswissenschaftlich bemächtigen eben der Geistigkeit der Welt, versuchen wir das heutige Material so zu ver­wenden, daß das, was wir geisteswissenschaftlich erfassen, im heutigen Materiale darinnen lebt.

Das kann natürlich nur bis zu einem gewissen Grade geschehen. Das werden Sie einsehen, wenn Sie den ganzen Sinn dessen sich vor Augen führen, was wir über das technische Milieu gesagt haben. Denn es ist nicht zu trennen Technisches und Ahrimanisches, wenn wir zum

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Beispiel architektonisch oder durch die Skulptur etwas schaffen wollen für uns. Daher war es eine schwierige Aufgabe, dasjenige, was not­wendigerweise ahrimanisch sein mußte an unserem Bau, aus diesem Bau gleichsam als etwas unschädlich Gemachtes auszuschalten. Es war eine schwierige Aufgabe, denn wir wissen, das Ahrimanische muß mit dem heutigen technischen Schaffen verbunden sein. Und es war eine Zeitlang so, als ob Ahriman sehr gut die Oberhand über uns hätte gewinnen können. Dann wären wir genötigt gewesen, all das, was auch zum Betrieb, zum technischen Betriebe von einer gewissen Seite her, gehört, in unseren Bau selber hineinzunehmen, und so hätten wir Ahriman im Bau darinnen sitzen gehabt. Es mußte daran gedacht werden, die ahrimanischen Kräfte aus dem Bau heraus­zubringen, und das konnte nur geschehen, wenn wir unser Heizhaus aus dem Bau herausnahmen, es absonderten von dem Bau. Das ist, wie Sie jetzt sehen können, geschehen, und es ist gelungen, was nur gelingen kann, wenn es möglich ist, daß so verständnisvoll auf die Intentionen eingegangen werden kann, wie es durch unseren lieben Herrn Englert geschehen ist. Es ist möglich gewesen, in dem modern­sten Materiale Formen zu bilden, die wirklich zum Ausdrucke bringen:

Hier in der Nähe des Baues, aber außerhalb des Baues, steht das, was nicht darinnen sein darf, was aber außerhalb sein muß, und es steht so da, daß das, worin es erzeugt worden ist, ein wirklich den geistes­wissenschaftlichen Erkenntnissen angepaßter architektonischer Bau ist.

Von einer ungeheuren Bedeutung war es, daß dieses zustande ge­bracht werden konnte gerade in dem neuesten Material. Denn sehen Sie, wenn Sie etwas tiefer hineinschauen in unsere geisteswissenschaft­lichen Schriften, namentlich in das letzte Kapitel der «Pforte der Ein­weihung», dann werden Sie verspüren, wie es dort zum Ausdrucke kommt, daß Luzifer und Ahriman am schädlichsten dann sind, wenn man sie nicht sieht, wenn sie unsichtbar bleiben. Nehmen wir einmal an, jemand würde von ahrimanischen Kräften gequält. Was wäre da das Beste dagegen? Das Beste dagegen wäre, wenn er sich ein irgend­wie geartetes Bild von Ahriman formen ließe und es sich ins Zimmer stellte. Gegen dasjenige, wodurch man astralisch gequält wird, ist das beste Mittel, daß man es physisch vor sich hinstellt. Das ist eine

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falsche Auffassung, wenn man glaubt, daß, wenn man Ahriman vor sich hat, man auch von Ahriman verfolgt werde. Das Gegenteil ist der Fall. Sichtbar machen muß man die Dinge. Man darf aber dabei nicht nervös werden, man darf nicht so werden, daß, wenn man an der Ahrimanfigur vorbeigeht und unbewußt darauf schaut, man ein Nachbild in sich trägt. Denn das hat man dann unsichtbar in sich, so daß man nervös oder aufgeregt wird.

Gleichzeitig werden Sie sehen, wenn Sie unseren Ahrimanschorn­stein mit dem ganzen Heizhaus studieren, wie sehr wohl architekto­nisch aufgebaut werden kann, was, man möchte sagen, der allergröb­sten Ahrimankultur unserer Zeit angehört. Nicht früher werden ge­wisse Schäden dieser Kultur weichen, als bis sich die Menschheit ent­schließen wird, dasjenige architektonisch zu gestalten, was unsere Ahrimankultur angeht. Neben allem übrigen, neben dem, daß wir einen Bau haben für unsere Sache, ist es wichtig, daß einmal ein An­fang gemacht wird mit der Beziehung der modernen Kultur zum Künstlerischen, mit der Beziehung der Geisteswissenschaft zur mo­dernen Kultur. Ein leiser Anfang ist mit diesem Heizhause gemacht, der der Anfang sein soll dazu, daß man einmal auch andere Probleme löst. Ein ungeheures Problem wäre auch das, einmal den modernen Bahnhof zu finden, denn jene Scheußtümer, jene Scheußlichkeiten, welche als Bahnhöfe heute existieren, sind durchaus ein Widerspruch gegen alles Menschentum. Ebenso wie unser Heizhaus in seiner gan­zen Form nicht nur angepaßt ist dem, was in ihm geschieht, sondern dem ganzen Verhältnisse, in dem Ahriman zu unserem Bau steht, so muß der Bahnhof angepaßt sein dem, was durch ihn und mit ihm und in ihm innerhalb unserer modernen Kultur geschieht.

Das sind durchaus Dinge, die hinweisen sollen auf jene Befruch­tung, welche ausgehen kann von der Geisteswissenschaft auch für das künstlerische Schaffen. Und überzeugt kann man sich halten, wenn man in den wirklichen Sinn und Geist desjenigen, was uns aus der Geisteswissenschaft folgen soll, eingeht, daß, wenn die Menschen sich einmal vertiefen werden in die Natur des Saturnischen, ihnen die tieferen Gesetze der Architektonik entgegentreten werden. Wenn die Menschen sich versenken in die Natur des Sonnenhaften, so werden

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ihnen entgegentreten tiefere Gesetze der Skulptur; wenn sie sich ver­tiefen in das Mondhafte, so werden ihnen erst aufgehen die tieferen Zusammenhänge von Form und Farbe und das Wesen vom Hell-Dunkel, und so werden sie die Inspirationen bekommen für das male­rische Schaffen.

Von der Schilderung des Initiationsweges aber werden ausgehen die Inspirationen und Intuitionen für das musikalische und im weite­ren Sinne auch für das dichterische Schaffen. Dann wird auch die Zeit einmal kommen, wo wiederum dichterisches Schaffen da sein wird in der Welt im echten Sinne des Wortes. Das dichterische Schaffen hat ja bis zu einem gewissen Grade ausgeklungen. Die göttlichen Träume, die bei den echten Dichtern verkörpert sind, gehörten noch den letzten Resten der alten Göttererbschaft an. Aber eine Zeit muß kommen, wo aus der Einsicht in die Geheimnisse der Initiation heraus die Menschen im Drama oder in der Epik oder in der Lyrik sprechen werden von solchen innersten Seelenvorgängen, die der Mensch erlebt, wenn er nicht mit sich allein lebt, sondern wenn er mit den Göttern der höheren Hierarchien zusammen lebt. Von dem Versgeklingel, das uns immer wieder und wieder nachklingelt das, was die Menschen im physischen Leben erleben, wird man in nicht allzu ferner Zeit sagen:

die Menschen sollen einen in Frieden damit lassen. Was sie da vom Morgen bis zum Abend herurllieben, herumhassen, herumfteuen, das ist ihre eigene Sache. Was sie mit den Göttern zusammen erleben, wenn sie den Weg heraus finden aus dem irdischen Erleben, davon werden sie uns erzählen in ihrem musikalischen Schaffen, davon wer­den sie uns erzählen, wenn sie Dramen, Epik oder Lyrik schaffen. Denn wir wissen: all dasjenige, was der Mensch miterJeben kann mit dem außerirdischen Dasein, muß hereingeholt werden durch wirk­liches, auch vom Alltagsleben sich ablenkendes Schaffen.

So sehen wir, was an Umwandlungsimpulsen auch für das künstle­rische Auffassen im geisteswissenschaftlichen Erkennen liegt. So sehen wir, wie wir ahnen können, wenn wir uns einiassen auf dieses geistes­wissenschaftliche Erkennen, die Kräfte, von denen die Geisteskultur der Menschheitszukunft beherrscht sein muß. In der Tat, wir dürfen es glauben, daß niemand, ohne daß sein eigenes Wesen tief innedich

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umgewandelt wird, an die Geisteswissenschaft wirklich herankommt. Wir dürfen glauben, daß die Geisteswissenschaft etwas ist, was den Menschen tief innerlich erfassen kann, was hinausführt über die engen Zusammenhänge des nur physischen Lebens. Wenn man ein solches Ideal der Geisteswissenschaft im Sinne hat, gewissermaßen etwas im Sinne hat, was, indem die Geisteswissenschaft betrieben wird, schon in eine andere Sphäre führt als die Sphäre des gewöhnlichen Erlebens, dann bedeutet es jedesmal etwas Ungeheures, wenn bei irgend jeman­dem gesehen werden kann, der innerhalb dieser geisteswissenschaft­lichen Bewegung steht, daß er wirklich den Funken in sich entzündet, der ihn hinausführt über das gewöhnliche, eng persönliche Erleben. Das ist das einzige, was wir heute gewissermaßen schon wie beseligend durch die geisteswissenschaftliche Strömung erleben können, daß durch diese geisteswissenschaftliche Strömung Menschen unter uns auftauchen können, welche wirklich den Weg finden hinaus aus ihrer Persönlichkeit in diejenigen Sphären, wo nicht mehr das Persönliche vorhanden ist.

Im Alltäglichen müssen wir das Persönliche pflegen, aber insofern wir als Geisteswissenschafter beisammen sind, verwandelt sich alles persönliche Wollen und Fühlen, wenn wir die Geisteswissenschaft richtig ergreifen, in etwas Unpersönliches, und jeder Sieg über das persönliche Fühlen, über die persönliche Schwere des Lebens ist von unendlicher Bedeutung, von unendlichem Wert. Aber es ist zugleich das, was zu den bittersten Enttäuschungen gehört, wenn dasjenige, was im Verlaufe der geisteswissenschaftlichen Bestrebungen rein geistig gewollt wird, wiederum hereinrückt in das persönlich-mensch-liche Wollen und in die persönlich-menschlichen Absichten, wenn das Persönliche anfängt, eine Rolle zu spielen innerhalb jener Gesellschaft, welche uns im Streben nach der Geisteswissenschaft umschließen soll.

Ich möchte nicht die paar Sätze, welche ich am Schlusse gesprochen habe, genauer ausführen, ihre Bedeutung genauer umschreiben, weil ich glaube, daß so mancher unter Ihnen sein wird, der vielleicht vieles in diesen Sätzen verstehen wird, der verstehen wird, daß in diesen Sätzen manches angedeutet werden sollte von dem, was an Befriedi­gendem und an Enttäuschendem vorhanden ist. Heute, nachdem wir

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eine Weile versucht haben, einen geisteswissenschaftlichen Weg mit­einander zu machen, ist es gut, darüber einmal nachzudenken, das sich einmal vorzuhalten, denn es gibt mancherlei Veranlassungen, solches sich vorzuhalten, inwiefern man mit der eigenen Seele Anteil nimmt an dem aufrichtigen, ehrlichen Hinaufstreben zu den geistigen Interessen, die gerade durch die geisteswissenschaftliche Strömung gepflegt werden. Denn wie großartig ist die Perspektive, wenn wir uns sagen: Das Leben, die Wissenschaft, die Religion und auch die Kunst, sie können Umwandlungsimpulse erleben von der wahrhaft verstandenen Geisteswissenschaft. Alle bildenden Künste von dem, was wir im Geistigen erkennen über die Vergangenheit, alle musika­lischen, redenden Künste von dem, was wir erstreben in uns, um ein­mal einer Zukunft entgegengehen zu können. Diese Perspektive ist so groß und so gewaltig, daß wir gar nicht genug empfinden und er­fühlen können, um sie uns intensiver klarzumachen. Und je mehr wir das können, die Stimmung, die aus uns heraus kommt, uns klar-zumachen, desto besser stehen wir als wirkliche Glieder in dem großen - heute noch kleinen, aber zu Großem veranlagten - Organis­mus darinnen, den wir als die Geisteswissenschaft kennen. Das möchte ich heute nicht nur in Ihren Verstand und in Ihre Vernunft senden, sondern das möchte ich in Ihr Gemüt und in Ihr Herz legen.

VIERTER VORTRAG Dornach, 31. Dezember 1914

#G275-1966-SE072 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

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VIERTER VORTRAG

Dornach, 31. Dezember 1914

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Wir beginnen diese Feier unseres Jahresschlusses damit, daß uns Frau Dr. Steiner die schöne norwegische Legende von « Olaf Asteson» zum Vortrag bringen wird, von jenem Olaf Asteson, der, als die Weihnachtszeit herannahte, in eine Art von Schlaf verfiel, welcher dreizehn Tage dauerte: die heiligen dreizehn Tage, die wir bei ver-schiedenen unserer Betrachtungen kennengelernt haben. Während dieses Schlafes hatte er wichtige Erlebnisse, von denen er dann, als er wieder erwachte, zu erzählen wußte.

Wir haben in diesen Tagen verschiedene Betrachtungen angestellt, die uns darauf aufmerksam machen konnten, wie wir durch die geistes-wissenschaftliche Weltanschauung in einer andern Weise alte Erkennt­nisschätze für die menschliche Erkenntnis wiedergewinnen, die in vergangenen Tagen gewußt worden sind von den Menschen als das­jenige, was den geistigen Welten angehört. Immer wieder und wieder werden wir durch das eine oder andere auf dieses vorweltliche Wissen von den geistigen Welten stoßen, und immer wieder werden wir daran erinnert, daß dieses Wissen der Vorzeit darauf beruhte, daß der Mensch vermöge seiner früheren Organisation in einem solchen Zu­sammenhang stehen konnte mit dem ganzen Weltenall und seinem Geschehen, daß, wie wir uns in unserer Sprache ausdrücken, der menschliche Mikrokosmos eintauchte in die Gesetzmäßigkeit, in das Geschehen des Makrokosmos, und daß er bei diesem Eintauchen in den Makrokosmos Erlebnisse haben konnte über Dinge, die sein Seelenleben innig angehen, die ihm aber verborgen bleiben müssen, solange er auf dem physischen Plane als Mikrokosmos wandelt und nur mit derjenigen Erkenntnis ausgestattet ist, die den Sinnen und dem an die Sinne gebundenen Verstande gegeben ist.

Wir wissen, wie nur eine materialistische Weltanschauung des Glau­bens sein kann, daß allein der Mensch innerhalb der Weltenordnung mit einem Erkenntnis-, Gefühis- und Willensvermögen begabt sei, während man anerkennen muß vom Standpunkte einer spirituellen

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Weltanschauung, daß ebenso, wie es unterhalb der Menschenstufe Wesenheiten gibt, es auch Wesenheiten gibt oberhalb der mensch­lichen Stufe des Denkens, Fühlens und Wollens. In diese Wesenheiten kann sich der Mensch einleben, wenn er als Mikrokosmos im Makro-kosmos untertaucht. Wir müssen aber dann von diesem Makro-kosmos so sprechen, wie wenn er nicht nur ein Raumesmakrokosmos sei, sondern wie wenn die Zeit in ihrem Verlaufe Bedeutung habe im Leben des Makrokosmos. Wie der Mensch sich zurückziehen muß von all den Eindrücken, die auf seine Sinne ausgeübt werden können aus seiner Umgebung, wie er gleichsam um sich herum durch das Abschließen seiner Sinneswahrnehmung Finsternis erzeugen muß, um im Inneren sich das Licht des Geistes anzuzünden, wenn er in die Tiefen seiner Seele hinuntersteigen will, so muß derjenige Geist, den wir als den Erdgeist bezeichnen können, abgeschlossen sein von den Eindrücken des übrigen Kosmos. Es muß das geringste Maß von Wirkungen von dem äußeren Kosmos auf den Erdgeist ausgeübt werden, damit der Erdgeist selber sich innerlich konzentrieren, seine Fähigkeiten innerlich zusammenziehen kann. Denn dann werden die Geheimnisse entdeckt, die der Mensch deshalb durchzumachen hat mit diesem Erdgeist, weil die Erde als Erde aus dem Kosmos heraus-gesondert ist.

Solch eine Zeit, wo das größte Maß der Eindrücke vom äußeren Makrokosmos auf die Erde ausgeübt wird, ist die Sommersonnen­wendezeit, die Johannizeit. Es erinnern uns daher viele Nachrichten aus alten Zeiten, die an Festesdarstellungen und Festesbegehungen anknüpfen, wie solche Feste inmitten der Sommerzeit stattfanden, wie die Seele in der Mitte des Sommers dadurch, daß sie sich des Ich entäußert und aufgeht im Leben des Makrokosmos, trunken hin­gegeben ist den Eindrücken des Makrokosmos.

Aber umgekehrt erinnern uns die legendarischen oder sonstigen Darstellungen desjenigen, was in der Vorzeit erlebt werden konnte, dann, wenn das geringste Maß der Eindrücke vom Makrokosmos zur Erde kommt, daran, daß der Erdgeist, in sich konzentriert, die Geheimnisse des Erdenseelenlebens im unendlichen All erlebt, und daß der Mensch, wenn er sich hineinbegibt in dieses Erleben zu der

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Zeit, in welcher am wenigsten Licht und Wärme gesendet wird aus dem Makrokosmos zur Erde, dann die heiligsten Geheimnisse mit­erlebt. Daher wurden diese Tage um die Weihnachtszeit herum immer so heilig gehalten, weil der Mensch, als er in seinem Organismus noch die Fähigkeit hatte, mitzuerleben das Erdenerleben in der Zeit, wo es am konzentriertesten ist, mit dem Erdgeist zusammensein konnte.

Olaf Asteson, Olaf der Erdensohn, erlebt in diesen dreizehn kürze­sten Tagen, indem er entrückt ist in den Makrokosmos, mancherlei Geheimnisse des Weltenalls. Und die nordische Legende, die in neuerer Zeit wieder ausgegraben worden ist aus alten Nachrichten, berichtet uns von den Erlebnissen, die Olaf Asteson hatte zwischen der Weihnachts- und Neujahrszeit bis zum 6. Januar. Wir haben wohl Veranlassung, öfter zu gedenken dieser alten Art des Einlebens des Mikrokosmos in den Makrokosmos; unsere Betrachtung wird ja an solche Dinge dann anknüpfen können. Vorerst aber wollen wir hören die Legende von Olaf dem Erdensohn, der in der Zeit, in der wir jetzt sind, die Geheimnisse des Weltendaseins erlebte dadurch, daß er mit dem Erdgeist zusammenlebte. Hören wir also diese Erlebnisse.

DAS TRAUMLIED

#G275-1966-SE074 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

#TI

DAS TRAUMLIED

I.

#TX

So höre meinen Sang!

Ich will dir singen

Von einem flinken Jüngling:

Es war das Olaf Asteson,

Der einst so lange schlief.

Von ihm will ich dir singen.

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II.

Er ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.

Ein starker Schlaf umfing ihn bald,

Und nicht konnt' er erwachen,

Bevor am dreizehnten Tag

Das Volk zur Kirche ging.

Es war das Olaf Asteson,

Der einst so lange schlie£

Von ihm will ich dir singen.

Er ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.

Er hat geschlafen gar lange!

Erwachen konnt' er nicht,

Bevor am dreizehnten Tag

Der Vogel spreitet die Flügel!

Es war das Olaf Asteson,

Der einst so lange schlief.

Von ihm will ich dir singen.

Nicht konnte erwachen Olaf,

Bevor am dreizehnten Tag

Die Sonne über den Bergen glänzte.

Dann sattelt' er sein flinkes Pferd,

Und eilig ritt er zu der Kirche.

Es war das Olaf Asteson,

Der einst so lange schlief.

Von ihm will ich dir singen.

Schon stand der Priester

Am Altar lesend die Messe,

Als an dem Kirchentore

Sich Olaf setzte, zu künden

Von vieler Träume Inhalt,

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Die in dem langen Schlafe

Die Seele ihm erfüllten.

Es war das Olaf Asteson,

Der einst so lange schlief.

Von ihm will ich dir singen.

Und junge und auch alte Leute,

Sie lauschten achtsam der Worte,

Die Olaf sprach von seinen Träumen.

Es war das Olaf Asteson,

Der einst so lange schlief.

Von ihm will ich dir singen.

III.

«Ich ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.

Ein starker Schlaf umfing mich bald;

Und nicht konnt' ich erwachen,

Bevor am dreizehnten Tag

Das Volk zur Kirche ging.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Erhoben ward ich in Wolkenhöhe

Und in den Meeresgrund geworfen,

Und wer mir folgen will,

Ihn kann nicht Heiterkeit befallen.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Erhoben ward ich in Wolkenhöhe,

Gestoßen dann in trübe Sümpfe,

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Erschauend der Hölle Schrecken

Und auch des Himmels Licht.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Und fahren mußt' ich in Erdentiefen,

Wo furchtbar rauschen Götterströme.

Zu schauen nicht vermocht' ich sie,

Doch hören konnte ich das Rauschen.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Es wiehert' nicht mein schwarzes Pferd,

Und meine Hunde bellten nicht,

Es sang auch nicht der Morgenvogel,

Es war ein einzig Wunder überall.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Befahren mußt' ich im Geisterland

Der Dornenheide weites Feld,

Zerrissen ward mir mein Scharlachmantel

Und auch die Nägel meiner Füße.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Ich kam an die Gjallarbrücke.

In höchsten Windeshöhen hänget diese,

Mit rotem Gold ist sie beschlagen

Und Nägel mit scharfen Spitzen hat sie.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

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Es schiug mich die Geisterschlange,

Es biß mich der Geisterhund,

Der Stier, er stand in Weges Mitte.

Das sind der Brücke drei Geschöpfe.

Sie sind von furchtbar böser Art.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Gar bissig ist der Hund,

Und stechen will die Schiange,

Der Stier, er dräut gewaltig!

Sie lassen keinen über die Brücke,

Der Wahrheit nicht will ehren!

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Ich bin gewandelt über die Brücke,

Die schmal ist und schwindelerregend.

In Sümpfen mußt' ich waten...

Sie liegen nun hinter mir!

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

In Sümpfrn mußt' ich waten,

Sie schienen bodenlos dem Fuß.

Als ich die Brücke überschritt,

Da fühlt' ich im Munde Erde

Wie Tote, die in Gräbern liegen.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

An Wasser kam ich dann,

In welchen wie blaue Flammen

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Die Eismassen hell erglänzten...

Und Gott, er lenkte meinen Sinn,

Daß ich die Gegend mied.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Zum Winterpfad lenkt' ich die Schritte.

Zur Rechten konnt' ich ihn sehn:

Ich schaute wie in das Paradies,

Das weithin leuchtend strahlte.

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

Und Gottes hohe Mutter,

Ich sah sie dort im Glanze!

Nach Brooksvalin zu fahren,

So hieß sie mich, kündend,

Daß Seelen dort gerichtet werden!

Der Mond schien hell

Und weithin dehnten sich die Wege.

IV.

In andern Welten weilte ich

Durch vieler Nächte Längen;

Und Gott nur kann es wissen,

Wie viel der Seelennot ich sah -

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

Ich konnte schauen einen jungen Mann,

Er hatte einen Knaben hingemordet:

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Nun mußte er ihn ewig tragen

Auf seinen eignen Armen!

Er stand im Schiamme so tief

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

Einen alten Mann auch sah ich,

Er trug einen Mantel wie von Blei;

So ward gestraft, daß er

Im Geize auf der Erde lebte,

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

Und Männer tauchten auf,

Die feurige Stoffe trugen;

Unredlichkeit lastet

Auf ihren armen Seelen

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

Auch Kinder konnt' ich schauen,

Die Kohlengluten unter ihren Füßen hatten;

Den Eltern taten sie im Leben Böses,

Das traf gar schwer ihre Geister

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

Und jenem Hause zu nahen,

Es ward mir auferlegt,

Wo Hexen Arbeit leisten sollten

Im Blute, das sie im Leben erzürnt,

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

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Von Norden her, in wilden Scharen,

Da kamen geritten böse Geister,

Vom Höllenfürsten geleitet,

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

Was aus dem Norden kam,

Das schien vor allem böse:

Voran ritt er, der Höllenfürst,

Auf seinem schwarzen Rosse

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

Doch aus dem Süden kamen

In hehrer Ruhe andre Scharen.

Es ritt voran Sankt Michael

An Jesu Christi Seite

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

Die Seelen, die sündenbeladen,

Sie mußten angstvoll zittern!

Die Tränen rannen in Strömen

Als böser Taten Folgen

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

In Hoheit stand da Michael

Und wog die Menschenseelen

Auf seiner Sündenwaage,

Und richtend stand dabei

Der Weltenrichter Jesus Christ

In Brooksvalin, wo Seelen

Dem Weltgerichte unterstehen.

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V.

Wie selig ist, wer im Erdenleben

Den Armen Schuhe gibt;

Er braucht nicht mit nackten Füßen

Zu wandeln im Dornenfeld.

Da spricht der Waage Zunge,

Und Weltenwahrheit Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben

Den Armen Brot gereicht!

Ihn können nicht verletzen

Die Hunde in jener Welt.

Da spricht der Waage Zunge,

Und Weltenwahrheit

Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben

Den Armen Korn gereicht!

Ihm kann nicht drohen

Das scharfe Horn des Stieres,

Wenn er die Gjallarbrücke überschreiten muß.

Da spricht der Waage Zunge,

Und Weltenwahrheit

Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben

Den Armen Kleider reicht!

Ihn können nicht erfrieren

Die Eisesmassen in Brooksvalin.

Da spricht der Waage Zunge,

Und Weltenwahrheit

Ertönt im Geistesstand.»

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VI.

Und junge und auch alte Leute,

Sie lauschten achtsam der Worte,

Die Olaf sprach von seinen Träumen.

Du schliefest ja gar lange...

Erwache nun, o Olaf Ästeson!

Meine lieben Freunde, wir haben gehört, wie Olaf Ästeson ent­schlief in jenen Schlaf, der für ihn eine Offenbarung werden sollte der Geheimnisse derjenigen Welten, die dem Sinnenleben, dem gewöhn­lichen Leben auf dem physischen Plane entzogen sind. Wir haben in der Legende erhalten die Kunde von jenen alten Erkenntnissen, von jenen alten Einsichten in die geistigen Welten, die wiedererrungen werden sollen durch dasjenige, was wir die geisteswissenschaftliche Weltanschauung nennen.

Oftmals ist angeführt worden der Ausspruch, der durch alle Kund­gebungen hindurchgeht, die von dem Eintritt der Menschenseele in die geistige Welt handeln, und der da besagt, daß der Mensch erst dann die geistige Welt schauen kann, wenn er mit seinem Erleben an die Pforte des Todes kommt und dann untertaucht in die Elemente. So daß er die Elemente des Erdendaseins nicht so um sich herum hat, wie sie im gewöhnlichen Leben des physischen Planes um ihn herum sind als die Erde, das Wasser, die Luft, das Feuer, sondern daß er herausgehoben ist über diese Außenseite, diese sinnliche Außenseite der Elemente und untertaucht in dasjenige, was diese Elemente sind, wenn man sie ihrer wahren Natur, ihrer nächstwahren Natur nach kennenlernt, wo Wesen in ihnen anwesend sind, die im Zusammen-hange stehen mit dem Erleben der Menschenseele.

Daß Olaf Ästeson etwas von diesem Untertauchen in die Elemente erlebte, man konnte es noch nachspüren da, wo zunächst erzählt wird, wie Olaf an die Gjallarbrücke kommt, und wie er über die Brücke wandelt in den Wegen der geistigen Welt, die weithin sich dehnen.

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Wie anschaulich wird uns geschildert das Erlebnis mit dem Erden­element, wird dargestellt, wie er in das Erdenelement eintaucht. Das wird bis zu jener Anschaulichkeit gebracht, die uns sagt, daß er wie Tote, die in Gräbern liegen, selbst Erde im Munde fühlt. Und deutlich wird uns dann angedeutet, wie er das Wasserelement durchlebt und alles dasjenige, was im Wasserelement erlebt werden kann, wenn man dieses Wasserelement zugleich mit seinem moralischen Inhalt erlebt. Dann wiederum wird angedeutet, wie der Mensch zusammenkommt mit dem Feuerelement, mit dem Luftelement.

Das alles ist in einer wunderbar anschaulichen Weise geschildert und zusammengebracht in dem Erleben des Zusammenseins der Menschenseele mit den Geheimnissen der geistigen Welt. Die Legende ist später aufgefunden worden; sie ist gesammelt worden da, wo sie noch lebte im Munde des Volkes. Und es ist manches in dieser Legende, so wie sie heute ist, nicht mehr so, wie es ursprünglich war. Ursprünglich war ohne Zweifel erst die anschauliche Schilderung der Erlebnisse im Erdengebiete, dann der Erlebnisse im Wassergebiete. Und dann waren die Erlebnisse im Luft- und im Feuergebiete wohl noch viel differenzierter, als es der Fall ist in dem schwachen Nach­klange, der nach Jahrhunderten aufgefunden worden ist und der uns heute vorliegt.

Ebenso war zweifellos viel großartiger und weniger sentimental der Schluß, der gar nicht mehr, so wie er heute dasteht, an die ur­sprünglich ungeheuer grandiose Sprache erinnert, an das übermensch­lich Ergreifrnde, das in solchen Volkslegenden lag, während der heutige Schluß eben nur menschlich ergreifend ist, ergreifend deshalb, weil er mit so tiefen Geheimnissen des Makrokosmos und des mensch­lichen Erlebens im Zusammenhange steht.

In solchen Zeiten, wie diejenige ist, in der wir jetzt leben, in solchen Jahreszeiten, wenn wir sie richtig verstehen, ist viel Veranlassung gegeben, zu gedenken der Tatsache, daß die Menschheit - allerdings mit einem andersgearteten, mehr dumpfen, dämmerigen Erkennen -in der Vorzeit durchdrungen war von einem Wissen, das verloren­gegangen ist und das wiedererrungen werden muß. Und da kann vor unsere Seele die Frage wiederum hintreten: Müssen wir es nicht, da

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wir heute schon erkennen können, wie ein solches Wissen wiederum zum Heil der Menschheit kommen muß, als eine unserer dringendsten Aufgaben betrachten, alles zu tun, was ein solches Wissen herbei­führen kann, was die jetzige Menschheitskultur mit einem solchen Wissen durchdringen kann?

Mancherlei wird notwendig sein, damit in der richtigen Weise dieser eben angedeutete Umschwung im ganzen menschlichen, ich möchte jetzt sagen, Weltanschauungsfühlen eintreten kann. Vor allen Dingen wird eines notwendig sein, eines sage ich, denn es ist eines unter vielen, aber man kann immer nur eines nehmen: notwendig wird sein, daß sich die Menschenseelen aneignen auf dem Boden unseter geistes-wissenschaftlichen Weltanschauungsströmung Ehrfurcht und Hin­gebung gegenüber dem, was in uralten Zeiten in alter Art gewußt worden ist von den großen Geheimnissen des Daseins. Zu der Emp­findung wird man gelangen müssen, wie es in den materialistischen Zeiten versäumt worden ist, diese Ehrfurcht und diese Hingebung in der Seele zu entwickeln.

Eine Empfindung wird man davon bekommen müssen, wie trocken und nüchtern diese materialistische Zeit ist, und wie hochmütig auf die Verstandeserkenntnis die Menschheit in den ersten Jahrhunderten der fünften nachatlantischen Kulturperiode dagestanden hat vor den Offenbarungen alter Religions- und alter Wissensüberlieferungen, die wahrhaftig, wenn man mit der nötigen Ehrfurcht ihnen naht, ahnen lassen, daß tiefe, tiefe Weisheit in ihnen ruht. Wie ehrfurchtslos im Grunde genommen stehen wir heute auch vor der Bibel! Ich will gar nicht sprechen von jener Art moderner Greuelforschung, welche die ganze Bibel zerzaust und zerfasert, ich will nur sprechen von der nüchternen, trockenen Art, wie wir heute, gleichsam ausgerüstet nur mit Sinnenerkenntnis und den gewöhnlichen Verstandeskräften, uns der Bibel nahen, und wie wir nicht mehr eine Empfindung aufbringen können für die ungeheure Größe menschlicher Anschauung, die aus manchen Stellen uns entgegentritt. Auf eine Stelle aus dem zweiten Moses-Buche, 33. Kapitel Vers 18, möchte ich hinweisen:

Und Mose sprach zu Gott: «Zeige mir doch die Gestalt deiner Offenbarung.»

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Worauf Jahve sprach: «Ich werde vorüberziehen lassen all meine Güte an deinem Angesicht, und ich will rufen den Namen Jahves vor dir und will gnadevoll sein dem, den ich begnaden darf, und will Erbarmen üben mit dem, mit dem ich Erbarmen üben darf.»

Dann aber sprach Jahve: «Du kannst mein Antlitz nicht sehen, denn mich sieht kein Mensch, der dann noch leben bleiben kann.»

Und es sprach Jahve: « Hier ist ein Ort bei mir, stelle dich auf den Felsen. Und wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, so will ich dich in eine Höhlung des Felsens stellen und meine Hand über dich decken, bis ich vorüber bin. Wenn ich dann meine Hand entferne, so wirst du meine Rückseite sehen; aber mein Antlitz kann nicht ge­schaut werden.»

Wenn man zusammennimmt so manches, was in den verflossenen Jahren unseres geisteswissenschaftlichen Strebens in unsere Seelen und unsere Herzen hineinziehen konnte, und sich naht dieser Stelle, dann kann man die Empfindung haben: Ja, was spricht denn da für eine unendliche Weisheit aus dieser Stelle, und wie taub sind die Menschenohren des materialistischen Zeitalters, daß sie so gar nichts vernehmen können von der unendlich tiefen Weisheit, die aus dieser Stelle spricht. - Ich möchte zugleich die Gelegenheit ergreifen, Sie hinzuweisen auf ein Bücheichen, das erschienen ist mit dem Titel:

«Worte Mosis», im Bruns Verlag in Minden in Westfalen, und zwar deshalb, weil manches in diesem Büchelchen aus den Fünf Büchern Moses besser übersetzt ist als in andern Ausgaben. Es hat sich da Dr. Hugo Bergmann, welcher der Herausgeber der «Worte Mosis» ist, für die Interpretation viele Mühe gegeben.

Daß im Grunde genommen der Mensch sich aneignen müsse eine ganz andere Art des Sich-Verhaltens zur Welt, wenn er in die geistigen Welten eintauchen will, als das Verhalten zur Sinneswelt ist, das haben wir öfter hervorgehoben. Die Sinneswelt hat der Mensch um sich. Er schaut hin auf die Sinneswelt, er sieht sie in ihren Farben und Formen, hört ihre Töne. Die Sinneswelt ist da, wir stehen ihr gegen­über, sie wirkt auf uns, wir nehmen sie in der Wahrnehmung auf, wir denken über sie nach. So ist unser Verhalten zur Sinneswelt. Wir

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sind passiv, sie arbeitet sich gleichsam in unsere Seele hinein. Wir denken über die Sinneswelt, wir stellen die Sinneswelt vor.

Ganz anders ist unser Verhalten, wenn wir uns hinaufleben in die geistige Welt. Darin besteht eine der Schwierigkeiten, richtige Vorstellungen zu gewinnen über das, was der Mensch erlebt, wenn er in die geistige Welt eintritt. Ich habe versucht, einige dieser Schwierigkeiten zu charakterisieren in dem Büchelchen «Die Schwelle der geistigen Welt». Wir stellen die Sinneswelt vor, wir denken über die Sinneswelt. Wenn wir alles das durchmachen, was derjenige durch­zumachen hat, der den Pfad der Initiation gehen will, dann tritt etwas ein, was man so charakterisieren kann: Wie die Dinge um uns herum sich zu uns verhalten, so verhalten wir uns selber zu den Wesenheiten der höheren Hierarchien: die stellen uns vor, die denken uns. Wir denken die Gegenstände außer uns, die Mineralien, Pflanzen und Tiere: sie werden unsere Gedanken. Wir wiederum sind die Vor­stellungen, Gedanken und Wahrnehmungen der Geister der höheren Hierarchien. Wir werden zu den Gedanken der Angeloi, Archangeloi, Archai und so weiter. Wir werden aufgenommen von ihnen, wie wir selber aufnehmen die Pflanzen, Tiere und Menschen. Und wir müssen uns geborgen fühlen, indem wir uns sagen können: Es denken uns die Wesen der höheren Hierarchien, sie stellen uns vor. Diese Wesen der höheren Hierarchien ergreifen uns mit ihren Seelen. - Ja, wir können uns geradezu vorstellen, indem jener Olaf Ästeson vor dem Kirchen-tor einschlief, wurde er eine Vorstellung der Geister der höheren Hierarchien, und während er schlief, erlebten die Wesen der höheren Hierarchien dasjenige, was erleben die Wesen des Erdgeistes, der für uns ja eine Pluralität ist. Und indem Olaf Ästeson wieder herunter-sinkt in die physische Welt, erinnert er sich an dasjenige, was die Geister der höheren Hierarchien in ihm erlebt haben.

Stellen wir uns einmal vor, wir begeben uns auf den Pfad der Initiation. Wie können wir uns verhalten zu den geistigen Welten, in die wir, als in eine Summe von geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien, unseren Einzug halten wollen? Wie können wir uns zu ihnen verhalten? - Wir können sie ansprechen und können zu ihnen sagen: Wie gelangen wir in euch hinein, wie offenbart ihr euch uns? -

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Und dann, wenn wir Verständnis gewonnen haben für die andere Art des Verhaltens der Menschenseele zu den höheren Welten, wird uns gewissermaßen entgegentönen aus den geistigen Welten: Ja, so wie du die Sinneswelt wahrnimmst, daß sie vor deinem Blicke er­scheint, vor deinen Sinnen auftritt, so kannst du die geistige Welt nicht wahrnehmen. Wir müssen dich vorstellen, und du mußt dich in uns empfinden. Du mußt dich so empfinden, wie der Gedanke, den du in der Sinneswelt denkst, sich erleben würde, wenn er sich in dir erleben könnte. Du mußt dich hingeben der geistigen Welt, dann wird in dich einziehen alles das, was sich dir offenbaren kann an Wesen­heiten der höheren Hierarchien. Dann wird es in deine Seele ein­fließen und gnadevoll in deiner Seele leben, wie du in deinen Ge­danken lebst, wenn du über die Sinneswelt denkst. Wenn dich die geistige Welt begnaden will, dann wird sie dich durchdringen mit ihrer Liebe, wenn sie sich deiner erbarmen und dich mit ihrer Liebe durchdringen will!

Aber du mußt nicht glauben, daß du dich den geistigen Wesen so gegenüberstellen kannst wie der sinnlichen Welt. Wie Moses in die Höhlung gehen mußte, so mußt du in die Höhlung der geistigen Welt dich hineinbegeben. Du mußt dich da hineinstellen. Wie der Gedanke in dir lebt, so mußt du dich in die geistigen Wesen hineinleben. Du mußt selber als Weltgedanke in dem Makrokosmos darinnen leben. Das, was du so erlebst, von selbst zu erleben, das kannst du nicht während deines Erdenlebens zwischen der Geburt und dem Tode, das kannst du nur nach dem Tode, wenn du gestorben bist. Niemand kann die geistige Welt so erleben, bevor er gestorben ist, aber vor-überziehen kann an dir die geistige Welt, dich begnaden, dich mit ihrer Liebe durchfluten. Und dann, wenn du nachher oder während du darinnen bist in dieser geistigen Welt, dein Erdenbewußtsein ent­wickelst, dann erglänzt dir herein in dein Erdenbewußtsein dasjenige, was die geistige Welt ist.

Wie der Gegenstand draußen ist und der Mensch gegenübersteht dem Gegenstande, wie der Gegenstand hineinragt in sein Bewußtsein und dann darinnen ist, so ist der Mensch mit seiner Seele in der Höhlung der geistigen Welt. Die geistige Welt zieht durch ihn durch.

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Hier ist der Mensch vor den Dingen. Wenn der Mensch eingeht in die geistige Welt, sind die Wesenheiten der höheren Hierarchien hinter ihm. Da kann er nicht ihr Angesicht sehen, so wie die Gedanken nicht unser Antlitz sehen, wenn sie in uns sind. Das Antlitz ist vorn; die Gedanken sind dahinter, sie sehen nicht das Antlitz. Das ganze Ge­heimnis der Initiation ruht in den Worten, die Jahve zu Moses spricht.

Und Moses spricht zu Gott: « Zeige mir doch die Gestalt deiner Offenbarung.»

Worauf Jahve sprach: «Ich werde vorüberziehen lassen all meine Güte an deinem Angesicht, und ich will rufen den Namen Jahves vor dir und will gnadevoll sein dem, den ich begnaden darf, und will Er­barmen üben mit dem, mit dem ich Erbarmen üben darf.»

Dann aber sprach Jahve: « Du kannst mein Antlitz nicht sehen, denn mich sieht kein Mensch, der dann noch leben bleiben kann.» -An die Pforte des Todes kommt man ja durch die Initiation.

Und es sprach Jahve: «Hier ist ein Ort bei mir, stelle dich auf den Felsen. Und wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, so will ich dich in eine Höhlung des Felsens stellen und meine Hand über dich decken, bis ich vorüber bin. Wenn ich dann meine Hand entferne, so wirst du meine Rückseite sehen, aber mein Antlitz kann nicht geschaut werden. »

Es ist die entgegengesetzte Art, wie man die Sinneswelt wahr­nimmt. Man muß vieles von dem, was man sich durch Jahre hin­durch erwirbt an geisteswissenschaftllchem Streben, aufbringen, um in der richtigen Weise in Ehrfurcht und Hingabe vor einer solchen Offenbarung zu stehen. Dann aber kommt allmählich immer mehr und mehr dieses Gefühl der Ehrfurcht gegenüber diesen Offen­barungen in die Menschenseele hinein, und unter dem mancherlei, was wir brauchen, damit der angedeutete Umschwung in der geistigen Menschheitskultur hervortreten kann, ist diese Ehrfurcht, diese Hin­gebung.

Die Zeit, in welcher das geringste Maß von Eindrücken aus dem Makrokosmos zur Erde kommt, die Zeit von Weihnachten bis über das Neujahr hinaus, ungefähr bis zum 6. Januar, ist wohl geeignet, daß man sich nicht nur erinnere an das Gegenständliche der geistigen Erkenntnis, sondern an die Empfindungen, die wir in uns entwickeln

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müssen durch das Aufnehmen der Geisteswissenschaft. Wahrhaft leben wir uns also wieder hinein in den Erdgeist, mit dem wir zu­sammen doch eine Ganzheit bilden, und mit dem lebte das alte, hell­seherische Erkennen, wie es uns etwa in dieser Legende von Olaf Ästeson dargestellt ist. Ehrfurcht und Hingebung gegenüber dem geistigen Leben hat die Menschheit des materialistischen Zeitalters vieifach verlernt. Notwendig ist es vor allen Dingen, darauf zu achten, daß diese Ehrfurcht und diese Hingebung wiederum kommt, denn nur dadurch werden wir die Stimmung entwickeln können, die uns auch in der richtigen Weise an die neue Geisteswissenschaft heran-bringt. Vorerst ist immer noch jene Stimmung da, welche an diese Geisteswissenschaft so herantritt, wie man an die andere, gewöhnliche Wissenschaft herantritt. In dieser Beziehung muß aber eine gründliche Umkehr stattfinden.

Dadurch, daß der Menschheit verlorengegangen ist die Einsicht in die geistige Welt, ist auch verlorengegangen das richtige Ver­hältnis des Menschen zum ganzen Menschenwesen, zur Menschheit. Die materialistische Weltanschauung erzeugt chaotische Empfindun­gen über das Weltendasein. Diese chaotischen Empfindungen über das Welt- und Menschheitsdasein mußten hereinbrechen in der Zeit des Materialismus. Nehmen wir eine Zeit - und diese Zeit ist die unsrige: es sind die ersten Jahrhunderte der fünften nachatlantischen Kulturperiode -, wo man so gar keine wirkliche Ahnung mehr davon hatte, daß des Menschen Wesen ein dreifaches ist: das leibliche, das seelische und das geistige Wesen. Denn wahrhaftig, so ist es. Das-j enige, was für uns schon zu den ersten Elementen des geisteswissen­schaftlichen Erkennens gehören muß: die Dreigliederung des Men­schen in Leib, Seele und Geist, es fehlte von den ersten vier Jahr­hunderten der fünften nachatlantischen Kulturperiode an bis in unsere Zeit hinein jede Ahnung davon. Der Mensch war eben Mensch, und alles Sprechen über eine menschliche Gliederung von der Art, wie wir sie haben in Leib, Seele und Geist, galt als törichte, phantastische Rederei.

Man könnte glauben, daß diese Dinge nur bedeutsam sind für die Erkenntnis. Das sind sie aber nicht. Sie sind nicht allein bedeutsam

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für die Erkenntnis, sondern sie sind auch bedeutsam für die ganze Art, wie sich der Mensch in das Leben hineinstellt. Im vierten Jahrhundert der neuzeitlichen Entwickelung oder auch, wie wir in unserer Sprache sagen, der Entwickelung der fünften nachatlantischen Kulturperiode, brachen in diese Zeit hinein drei gewaltige Worte, in denen gewisser­maßen verstand oder wenigstens zu verstehen versuchte diese Zeit das Zentrum menschlichen Wollens im Erdenerleben. Drei Worte, die bedeutsam sind, die aber ihre Eigentümlichkeit erhielten dadurch, daß sie in der Zeit in die Menschheit hineinbrachen, in welcher man nichts wußte von der Dreigliederung der menschlichen Natur. Die Menschheit hörte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Daß diese Worte hineintönten in einer bestimmten Zeit in die neu­zeitliche Kultur, war eine tiefe Notwendigkeit. Verstehen wird man diese Worte wirklich erst, wenn man die dreifache Gliederung der menschlichen Natur verstehen wird, weil man dann erst wissen wird, welche Bedeutung diese Worte für die Menschennatur, im wahren Sinne des Wortes, haben können. Solange man mit jenen chaotischen Empfindungen diese drei Worte erfüllt, die da ausgehen von dem Gedanken: Mensch ist Mensch, und die Dreigliederung des Menschen ist ein törichtes Wahngebilde, so lange kann der Mensch auch nicht innerhalb des Gebietes der Richtlinie dieser drei Worte sich zurecht­finden. Denn so wie uns die drei Worte entgegentreten, können sie nicht unmittelbar, man möchte sagen, auf gleichen Niveauflächen des menschlichen Erlebens angewendet werden. Das können sie nicht. Einfache Erwägungen, die Ihnen vielleicht deshalb, weil sie so ein­fach sind, nicht gleich in dem Schwerwiegenden, das sie bedeuten, vor das Seelenauge treten werden, können Ihnen andeuten, wie auf der gleichen Niveaufläche des Lebens das, was diese drei Worte be­deuten, in ernste Lebenskorflikte geraten kann.

Nehmen wir zunächst das Gebiet, in dem uns auf die natürlichste Weise der Welt die Brüderlichkeit entgegentritt. Nehmen wir die menschliche Blutsverwandtschaft, die Familie, wo wir die Brüderlich­keit nicht erst herzustellen brauchen, wo sie dem Menschen natur­gemäß angeboren ist, und bedenken wir, wie es zu unseren Empfin­dungen spricht, wenn wir sehen können, daß in einer Familie echte,

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wahre Brüderlichkeit herrscht, daß alles brüderlich verbunden ist. Aber jetzt - ohne daß wir in geringstem Maße etwas zu dämpfen brauchen von der wundervollen Empfindung, die wir von dieser Brüderlichkeit haben können - werfen wir den Blick hinein, um zu sehen, was innerhalb der Brüderlichkeit der Familie entstehen kann, gerade wegen der Brüderlichkeit der Familie. Ein Glied kann in der Familie sein, welches sich gerade wegen der innerhalb der Familie gerechtfertigten Brüderlichkeit nicht wohl fühlt, sich heraussehnt aus der Brüderlichkeit der Familie, weil es fühlt, daß es die Seele nicht entfalten kann in der Brüderlichkeit der Familie, weil es fühlt, daß es heraus muß zur freien Entfaltung der Seele aus der Familie, in der es so brüderlich leben kann. Wir sehen, die Freiheit, die freie Entfaltung des Seelenlebens kann in Konflikt kommen mit der allerbestgemeinten Brüderlichkeit.

Selbstverständlich kann der Oberflächling sagen, das wäre nicht die rechte Brüderlichkeit, die mit der Freiheit einer Seele innerhalb der Brüderlichkeit sich nicht verträgt. Aber sagen kann man alles, was sich vorstellen läßt. Man kann sagen, daß sich alles miteinander verträgt, daran ist gar kein Zweifel. Ich habe neulich einmal eine Dissertation in die Hand bekommen. Unter den Thesen, die da zu verteidigen waren, war die These aufgestellt: Ein Dreieck ist ein Vier­eck. - Man kann natürlich auch das verteidigen, ja, man kann es sogar streng beweisen, daß ein Dreieck ein Viereck ist! So kann man auch voll beweisen, daß Brüderlichkeit und Freiheit vereinbar sind. Aber darum handelt es sich nicht, sondern es handelt sich darum, wie um der Freiheit willen manches Gebiet der Brüderlichkeit verlassen wer­den muß und auch verlassen wird. So könnten wir noch manches andere anführen.

Wenn man die Diskrepanzen zwischen Brüderlichkeit und Gleich­heit aufzählen wollte, so würde man sehr lange darüber reden müssen. Selbstverständlich, in abstracto kann man sich wieder vorstellen: alle können gleich sein, und kann zeigen, daß sich Brüderlichkeit und Gleichheit vertragen. Aber es handelt sich nicht um Abstraktionen, sondern um die Beobachtung der Wirklichkeit, wenn wir es mit dem Leben ernst und ehrlich nehmen. In dem Augenblicke, wo wir wissen,

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daß die menschliche Wesenheit aus dem Leiblichen, das auf dem physischen Plane sich auslebt, besteht, aus dem Seelischen, das in der Seelenwelt eigentlich sich auslebt, und aus dem Geistigen, das in der geistigen Welt sich auslebt, eröffnet sich auch die richtige Perspektive für den Zusammenhang der drei gewaltigen Worte, die wir angeführt haben. Brüderlichkeit ist das wichtigste Ideal für die physische Welt, Freiheit für die Seelenwelt, und insofern der Mensch in der Seelenwelt darinnensteht, sollte man sprechen von der Freiheit der Seele, das heißt von einem solchen sozialen Zustande, welcher der Freiheit der Seele volle Gewähr leistet. Und wenn man bedenkt, daß wir, jeder von uns, streben müssen von unserem individuellen Standpunkte aus nach Geist-Erkenntnis, nach der Entwickelung unseres Geistes, um mit dem Geiste im Geisterland darinnenzustehen, so wird uns sehr bald vor das geistige Auge treten, wohin wir kämen mit unserer Geistauffassung, wenn jeder nur auf seinem eigenen Wege suchte und jeder zu einem ganz andern Geistesinhalt käme.

Wir können uns überhaupt als Menschen nur im Leben zusammen­finden, wenn wir, jeder für sich selber, den Geist suchen und zuletzt zu einem gleichen geistigen Inhalte kommen können. Von der Gleich­heit des Geisteslebens kann gesprochen werden. Von Brüderlichkeit auf dem physischen Plane und in bezug auf alles das, was mit den Gesetzen des physischen Planes zusammenhängt und in die Menschen­seele sich hineinlebt von dem physischen Plane aus. Freiheit in bezug auf alles das, was sich als Gesetze der Seelenwelt in die menschliche Seele hineinlebt; Gleichheit in bezug auf alles, was von den Gesetzen des Geisterlandes in die menschliche Seele sich hineinlebt.

Sie sehen, ein Weltenneujahr muß angehen, in dem eine Sonne wachsen wird in bezug auf ihre wärmende und leuchtende Kraft:

jene Sonne, welche für manches, was in der Zeit der Verdunkelung zwar lebt, aber unverstanden lebt, die leuchtende Wärme geben muß. Das ist gerade das Eigentümliche unserer Zeit, daß manches erstrebt, manches ausgesprochen wird, ohne daß es verstanden wird.

Aber auch dieses kann uns zur Ehrfurcht führen und zur Hin­gebung gegenüber der geistigen Welt. Denn wenn wir bedenken, daß viele im vierten Jahrhundert der fünften nachatlantischen Periode

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Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit erstrebten und diese Worte aus­gesprochen haben, ohne daß sie im Grunde genommen verstanden wurden, dann haben wir schon die Möglichkeit, zu verstehen und eine Antwort zu finden auf die Frage: Woher also sind diese Worte gekommen? - Die göttlich-geistige Weltenordnung hat sie zunächst im voraus der noch nicht verstehenden Menschenseele eingeimpft, damit sich diese an solchen Leitworten hinaufranke zum wahren Weltverständnis. Selbst in solchen Tatsachen können wir die weis­heitsvolle Führung in der Weltenevolution beobachten. In uns mehr oder weniger fern- oder naheliegenden Zeiten können wir überall diese Führung beobachten, beobachten, wie wir oftmals erst hinterher einsehen, daß das, was wir vorher gemacht haben, eigentlich weis­heitsvoller war, als wir es mit der damaligen Weisheit, die wir be­herrscht haben, hätten machen können. Ich habe darauf aufmerksam gemacht gleich im Beginne meiner Schrift über «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit».

Aber wenn Sie so etwas nehmen wie die Tatsache, daß in die Weltenentwickelung, in die Entwickelung des Menschen hineinfallen Richtungsworte, die erst nach und nach verstanden werden können, dann werden Sie wohl aufmerksam werden auf ein Bild, das man ge­brauchen kann, wenn man diese abgelaufene Periode der fünften nachatlantischen Kulturepoche charakterisieren will. Sie ist nämlich wirklich in bezug auf gewisse Dinge zu vergleichen mit der Zeit des Advents, wo die Zeiten des Tageslichtes immer kürzer und kürzer werden. Und nun tritt die Entwickelung in dieser unserer Zeit, in der wir wiederum etwas wissen können von den Offenbarungen der geistigen Welt, in die Phase ein, in der wir die Vorstellung gewinnen können, daß die lichtvollen Zeiten länger und länger werden und wir davon sprechen können, daß uns dieser Zeitenlauf wirklich analog erscheinen kann den dreizehn Tagen und dem Wiederhineinleben in die wieder wachsenden Tage.

Aber die Sache geht noch tiefer. Es ist nicht richtig, ganz und gar nicht richtig, wenn wir nur böse Worte finden für die materialistische Zeit der letzten vier Jahrhunderte. Es kam ja diese neue Zeit dadurch herauf, daß man die großen Entdeckungen und Erfindungen machte,

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wie man sie eben « groß » nennt im materialistischen Zeitalter, zum Beispiel daß man die Erde umschiffte, Länder entdeckte, die man früher nicht gekannt hat, daß man begann, die Erde zu kolonisieren. Das war der Beginn der materiellen Kultur. Und dann rückte nach und nach die Zeit heran, in der man fast erstickte in der materiellen Kultur. Die Zeit kam herauf, wo man alles, was man an geistigen Kräf­ten hatte, zum Begreifen und Erfassen des materiellen Lebens an-wendete. Immer mehr und mehr wurde vergessen, wie wir gesehen haben, dasjenige, was an Einblicken und Einsichten, an Schauungen in die geistige Welt aus alten Erkenntnissen vorhanden war.

Aber es ist nicht richtig, wenn man nur böse Worte für diese Zeit hat. Richtig ist vielmehr ein anderes, richtig ist, wenn man bedenkt, daß diese Menschenseele in ihrem wachen Teile materialistisch ge­dacht, materialistisch gesonnen hat, daß sie materialistisch die Wissen­schaft und die Kultur begründet hat, daß aber diese Menschenseele ein Ganzes ist. Wenn ich schematisch das ausdrücken soll, so könnte ich sagen: Der eine Teil der Menschenseele begründete die materia­listische Kultur. Früher war dieser Teil untätig, die Menschen wußten nichts von äußerer Wissenschaft, wußten nichts von äußerlichem, materiellem Leben; da war der spirituelle Teil mehr wach. (Es wurde gezeichnet.) In den letzten vier Jahrhunderten war gerade jener Teil wach, der die materialistische Kultur begründete, der andere aber hat geschlafen, er schlief, dieser andere Teil der Menschenseele. Und wahrhaftig, das, was wir jetzt an Kräften entwickeln in der Mensch­heit, um uns wieder hinaufzuarbeiten zur Spiritualität, ist veranlagt worden in der Zeit der materialistischen Kultur in den Seelengliedern, die unten geschlafen haben. Die Menschheit war wirklich in bezug auf die Geist-Erkenntnis in diesen Zeiten: Olaf Ästeson. Das war sie wirklich. Nur ist sie noch nicht erwacht, diese Menschheit! Die Geisteswissenschaft muß sie zum Erwachen bringen. Die Zeit muß kommen, wo junge und auch alte Leute Worte hören, die gesprochen werden aus dem Teil der Menschenseele heraus, der geschlafen hat in der finsteren Zeit.

Gar lange hat diese Menschenseele also geschlafen, aber es werden die Weltengeister an diese Menschenseele herantreten und ihr schon

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zurufen: Erwache nun, 0 Olaf Ästeson! - Wir müssen uns nur in der richtigen Weise vorbereiten, daß wir nicht vor den Ruf gestellt wer-den: Erwache nun, 0 Olaf Ästeson! - und nicht Ohren haben, zu hören. Dazu betreiben wir eben die Geisteswissenschaft, daß wir Ohren haben, wenn der Ruf nach dem spirituellen Wachsein in der Menschheitsentwickelung ertönen wird.

Es ist gut, wenn der Mensch manchmal sich erinnert, daß er ein Mikrokosmos ist und daß ihm manches werden kann an Erlebnissen, wenn er in dem Makrokosmos aufgeht. Und wir haben gesehen: die Zeit, die Jahreszeit ist günstig, in der wir jetzt leben. Versuchen wir einmal, uns diese Neujahrsnacht das Symbolum sein zu lassen für jene der Erdenentwickelung der Menschheit notwendige Neujahrs-nacht, in der heranrücken wird die neue Zeitepoche, in der wachsen wird und immer mehr wachsen wird das Licht, das Seelenlicht, das Schauen, das Erkennen desjenigen, was im Spirituellen lebt und von dem Spirituellen aus die Menschenseele durchwallen und durch-fluten kann. Bringen wir den Mikrokosmos unseres Erlebens in dieser Neujahrsnacht in Zusammenhang mit dem Makrokosmos des Mensch­heitserlebens über die Erde hin, dann werden wir erleben können, was wir an Empfindungen erleben sollen, da wir etwas ahnen können von dem Anbruch des neuen großen Weltentages in der fünften nach­atlantischen Periode, an dessen Anbruch wir stehen, dessen Mitter­nacht wir würdig erleben wollen.

FÜNFTER VORTRAG Dornach, 1.Januar 1915

#G275-1966-SE097 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

#TI

FÜNFTER VORTRAG

Dornach, 1.Januar 1915

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Ein jegliches Ding, eine jegliche Tatsache der Welt und auch ein jegliches Verhalten des Menschen, sie haben alle zwei Seiten, sie bilden gleichsam zwei polarische Gegensätze.

Gestern hatte ich Sie aufmerksam darauf zu machen, wie aus dem empfindenden Verständnis unserer geisteswissenschaftlichen Welt­anschauung in die Menschenseele hineinkommen sollen Ehrfurcht und Hingebung gegenüber den geistigen Welten. Die andere Seite zu diesem ehrfürchtig-hingebungsvollen Verhalten ist das energische Arbeiten an der eigenen Innerlichkeit, das energische In-die-Hand-Nehmen der Evolutionsfaktoren der eigenen Seele, das Darauf-schauen, daß wir unsere Erlebnisse, die wir durchmachen innerhalb unserer Erfahrungen, immer dazu verwenden, etwas an ihnen zu lernen, ein wenig vorwärtszukommen in bezug auf die Kräfte unseres Inneren, damit wir - was uns auch im Leben begegnen, was auch um uns herum vorgehen mag, ob es uns leicht oder schwer verständlich ist - immer der Gefahr entgehen, uns selber zu verlieren. Daß wir immer die Möglichkeit haben, uns zu erhalten, daß wir aus uns selber die Kraft gewinnen können, Verständnis zu entwickeln für dasjenige, was uns oftmals in dem, was als Äußeres an uns herantritt, unver­ständlich erscheinen kann, daß wir die Ehrfurcht vor Dingen, wie sie gestern erwähnt worden sind, so stark auf die eigene Evolution der Seele wirken lassen mögen, daß diese Seele ein richtiges Verständnis gegenüber dem Weltendasein gewinnen könne: das, meine lieben Freunde, möchte ich Ihnen heute am Beginn des Jahres als den Neu­jahrsgruß sagen. Ich möchte folgen lassen der Erinnerung an die Ehrfurcht die Erinnerung an das energische Arbeiten an unserem Inneren. Ein Symbolum für diese Folge der Erinnerung ist es, daß uns in dieser Neujahrsnacht der volle Mond aus dem Weltenall herein-scheint. Wäre es umgekehrt gewesen, würden wir den Jahresbeginn mit dem Neumonde haben, so würde ich recht getan haben, die Er­innerungen in der umgekehrten Reihenfolge an Ihre Herzen heranzubringen.

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Dann hätte ich gestern das Jahr geschlossen mit der Er­innerung an die Kraft der inneren Evolution und hätte heute folgen zu lassen gehabt die Erinnerung an die Ehrfurcht.

Daß ein solches Symbolum, wie es uns erglänzt aus dem Makro-kosmos, wirklich beachtet wird, das ist dasjenige, was wiederum immer mehr und mehr als etwas Wichtiges angesehen werden soll. Und wenn wir ruhige Augenblicke in diesem Jahr haben, dann lassen wir diesen Wink auf uns wirken, lassen ihn so wirken, daß es in diesem Jahr von besonderer Bedeutung sein kann, sich zuerst einmal zu überlegen, was die Kraft der Ehrfurcht aus uns machen kann, und dann sich zu überlegen, was die Kraft der inne­ren Erhaltung, Bewahrung der inneren Seelenenergie aus uns machen soll.

Aus der Sternenschrift ist uns diese Reihenfolge für dieses Jahr geboten, und die Welt wird wiederum einsehen nach und nach, daß das Lesen in der Sternenschrift für den Menschen doch eineBedeutung hat. So suchen wir auch in diesen Einzelheiten zu beachten das große Gesetz des menschlichen Daseins, Einklang zu erstreben zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos. Der Makrokosmos drückt sich ja in der Mondphase in diesen Tagen für uns auf die ele­mentarste Weise aus, und den Einklang mit diesem Makrokosmos in unserem Mikrokosmos finden wir, wenn wir uns demgemäß ver­halten in dem Ablaufe dieses Jahres, das unter so schmerzlichen Tat­sachen geboren worden ist.

Wenn Sie das beachten, was wie ein Grundton durch die Aus­einandersetzungen der letzten Tage hindurchgegangen ist, so wird es Ihnen das sein, daß wir in bezug auf die gerade uns wichtigen Tat­sachen, die uns wichtig geworden sind durch die geisteswissenschaft­lichen Betrachtungen, in einer Zeit des Umschwungs, gewissermaßen in einer Zeit der Hoffnung leben, in einer Zeit, wo uns Ahnungen aufgehen sollen, wie es im weiteren Verlaufe der menschlichen Kulturentwickelung auf der Erde werden soll, wie ein Umschwung stattfinden soll von einer rein materialistischen zu einer spirituellen Weltauffassung. Das aber, was hiermit angedeutet worden ist, kann nicht in einem vollen Umfange wirklich eintreten, wenn es nicht alle

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Gebiete des Lebens ergreift und vor allen Dingen die geistigen Ge­biete des Lebens in hohem Maße erfaßt.

Schon haben wir erkennen können aus mancherlei Andeutungen, wie das wirkliche gefühlsmäßige, nicht bloß verstandesmäßige Er­fassen der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung auch einen Um­schwung im künstlerischen Schaffen und im künstlerischen Genießen zur Folge haben muß, daß gleichsam einfließen können die Kräfte, die uns kommen aus der geisteswissenschaftlichen Anschauung für das künstlerische Erfassen der Welt. Haben wir ja gerade versucht, mit unserem Bau eine Art Impuls anzudeuten für wenigstens einen kleinen Teil desjenigen, was aus geisteswissenschaftlichen Impulsen hinein­ffießen kann in das künstlerische Gestalten, in das, was wir künstle­risch vor uns haben können.

Eine Zeit können wir vor uns sehen, wenn wir voll untertauchen in die Empfindungen und Gefühle, die uns hervorgehen können aus der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, eine Zeit, wo der Weg zum Künstlertum in vieler Beziehung ein anderer werden wird, als er in der abgelaufenen Zeit war, wo er ein viel lebensvollerer sein wird, wo das, was Mittel des künstlerischen Schaffens ist, viel intensiver erlebt werden wird von der Menschenseele, als es in abgelebten Zeiten erlebt worden ist, wo Farbe und Ton viel intimer von der menschlichen Seele durchlebt werden, gewissermaßen von der menschlichen Seele moralisch-spirituell durchlebt werden können, und wo in den Schöpfungen der Künstler uns entgegentreten werden gleichsam die Spuren der Erlebnisse der Künstlerseelen im Kosmos.

Im wesentlichen war das Verhalten des künstlerisch Schaffenden und des künstlerisch Genießenden in der abgelaufenen Epoche eine Art äußeren Anschauens, ein Appellieren an das, was von außen an den Künstler herantreten kann. Das Angewiesensein auf die Natur und auf das Modell für das äußere Anschauen ist immer größer und größer geworden. Nicht soll etwa in einer einseitigen Weise hin­gewiesen werden auf ein Verlassen der Natur, auf ein Verlassen der äußeren Wirklichkeit in der Kunst der Zukunft. Das sei ferne. Hin­gewiesen soll werden auf ein noch intensiveres Beisammensein mit der äußeren Welt, auf ein so starkes Zusammensein, daß es sich nicht

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bloß erstreckt auf den äußeren Eindruck der Farbe, des Tones und der Form, sondern auch auf dasjenige, was man hinter dem Tone, hinter der Farbe, hinter den Formen erleben kann, was sich offenbart in Farbe, Ton und Form.

In dieser Beziehung werden die Menschenseelen bedeutungsvolle Entdeckungen machen in der Zukunft. Sie werden wirklich ihr mora­lisch-spirituelles Wesen verbinden mit demjenigen, was der Sinnen-schein uns bringt. Eine unendliche Vertiefung der Menschenseele kann auf diesem Gebiete vorausgesehen werden. Nehmen wir einmal zunächst als Grundlage eine Einzelheit. Wir nehmen einfach den Fall, daß wir unseren Blick auf eine gleichmäßig in stark zinnobrigem Rot leuchtende Farbenfläche richten, und wir nehmen ferner an, daß wir dazu gelangen, alles übrige, das um uns herum ist, zu vergessen, uns zu konzentrieren ganz auf das Erleben dieser Farbe, so daß wir diese Farbe nicht bloß als etwas vor uns haben, das auf uns wirkt, sondern so, daß wir diese Farbe als etwas haben, worin wir selber sind, daß wir eins werden mit dieser Farbe. Wir werden dann gleichsam die Empfindung haben können: Du bist jetzt in der Welt, du bist selbst in dieser Welt ganz Farbe geworden, das Innerste deines Seelenwesens ist ganz Farbe geworden, wo du auch hinkommen magst in der Welt mit deiner Seele, wirst du als roterfüllte Seele hinkommen, du wirst überall in Rot, mit Rot und aus Rot leben. - Dies aber wird man bei intensivem Seelenleben nicht erleben können, ohne daß die ent­sprechende Empfindung übergeht in ein moralisches Erleben, in wirkliches moralisches Erleben.

Wenn man so gleichsam die Welt durchschwimmt als Rot, identisch geworden ist mit dem Rot, wenn einem also selbst die Seele und auch die Welt ganz rot ist, so wird man nicht umhin können, in dieser rot gewordenen Welt, mit der man selber rot ist, zu empfinden, als wenn diese ganze Welt im Rot zugleich uns durchsetzt mit der Substanz des göttlichen Zornes, der uns von allen Seiten entgegenstrahlt für alles dasjenige, was an Möglichkeiten des Bösen und der Sünde in uns ist. Wir werden uns gleichsam in dem unendlichen roten Raum wie in einem Strafgerichte Gottes empfinden können, und unser moralisches Empfinden wird wie eine moralische Empfindung unserer Seele im

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ganzen unendlichen Raum sein können. Und wenn dann die Reaktion kommt, wenn irgend etwas auftaucht in unserer Seele, wenn wir uns also im unendlichen Rot erleben, ich könnte auch sagen, im einzigen Rot erleben, so kann es nur so sein, daß man es bezeichnen möchte mit dem Worte: Man lernt beten. Wenn man im Rot erleben kann das Erstrahlen und Erglühen des göttlichen Zornes mit allem, was an Möglichkeiten des Bösen in der menschlichen Seele liegen kann, und wenn man im Rot erfahren kann, wie man beten lernt, dann ist das Erleben mit dem Rot unendlich vertieft. Dann können wir auch ver­spuren, wie sich das Rot formend in die Räumlichkeit hineinstellen kann.

Wir können es dann begreifen, wie wir erleben können ein Wesen, das von sich Gutes ausstrahlt, das erfüllt ist mit göttlicher Güte und göttlicher Barmherzigkeit, ein Wesen, das wir hineinempfinden wollen in den Raum. Dann werden wir die Notwendigkeit fühlen, dieses Hineinempfinden in den Raum der göttlichen Barmherzigkeit, der göttlichen Güte, zur Form aus der Farbe heraus sich gestalten zu lassen. Wir werden das Bedürfnis empfinden, abwehren zu lassen die Räumlichkeit, so daß die Güte, die Barmherzigkeit ausstrahlt. Bevor sie da war, war es so zusammengezogen, ganz konzentriert im Mittel­punkt, und jetzt stellt sie sich hinein, diese Güte und Barmherzigkeit, in den Raum, und wie Wolken auseinandergetrieben werden, so treibt sie das zurück, treibt es auseinander, so daß es vor der Barmherz:igkeit weicht und wir das Gefühl bekommen: das mußt du verlaufend rot machen. Und dann werden wir das Gefühl bekommen: Hier (es wurde gezeichnet) in der Mitte werden wir eine Art Rosaviolett schwach an­deuten müssen als hineinstrahlend in das auseinanderstiebende Rot.

Wir werden dann mit unserer ganzen Seele bei einem solchen Sich-Formen der Farbe dabei sein. Wir werden mit unserer ganzen Seele etwas nachempfinden, was die Wesen empfunden haben, die ins­besondere zu unserem Erdenwerden gehören, die, als sie zu dem Elohimdasein aufgestiegen waren, gelernt haben, aus den Farben heraus die Formenwelt zu gestalten. Wir werden lernen, etwas zu empfinden von dem Schöpferischen der Geister der Form, die uns als Geister die Blohim sind, und wir werden dann begreifen, wie die

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Formen der Farbe Werk sein können, was angedeutet worden ist in unserem ersten Mysterium. Wir werden auch etwas begreifen davon, wie gleichsam die Fläche der Farbe für uns etwas wird, was über­wunden werden muß, weil wir mit der Farbe in das Weltenall gehen. Wenn das bei einer starken Wunschentwickelung auftritt, dann kann eine solche Empfindung entstehen, wie diejenige ist, die in Strader lebt in dem Augenblicke, wo er das Ebenbild des Capesius sieht und sagt: «Die Leinwand, ich möchte sie durchstoßen.»

Wenn Sie ein solches Mysterienspiel nehmen, dann werden Sie ja sehen, wie in diesen Mysterienspielen versucht worden ist, wirklich so etwas künstlerisch hinzustellen, wie es sich vor uns hinstellt, wenn unsere Seele versucht, sich aufnehmen zu lassen von den kosmischen Kräften, wenn sie mitfühlt mit den Geistern des Kosmos. Das war wirklich der Anfang aller Kunst. Dann aber mußte die materialistische Zeit kommen und diese mit ihrer göttlichen Nuancierung auftretende alte Kunst, bei der das Geistige als Innerliches durch die Materie sich offenbart, mußte sich verwandeln in die sekundäre, materialistische Afterkunst, die im wesentlichen die Kunst der materialistischen Zeit ist, jene Kunst, welche nicht schaffen, sondern nur nachschaffen kann. Es ist das Zeichen alles Sekundär-Künstlerischen, alles Afterkünstle­rischen, daß es nur nachschaffen kann, daß es Vorwürfe braucht zum Nachschaffen, und daß es nicht primär zugleich mit dem Stoffe die Form erzeugt.

Nehmen wir ein anderes. Nehmen wir an, wir machten dasselbe, was wir hier mit der roten Fläche gemacht haben, mit einer mehr orangefarbenen Fläche. Wir werden da ganz andere Erfahrungen machen mit der orangefarbenen Fläche. Wenn wir uns in sie ver-senken und eins werden mit derselben, so werden wir nicht jene Empfindungen haben können von einem Entgegensteuern dem gött­lichen Zorn, sondern wir werden das Gefühl haben, daß das, was uns da entgegensteuert, höchstens nur noch im schwachen Maße das Seriöse des Zornes hat, daß es aber etwas ist, was sich uns mitteilen will, was uns nicht bloß strafen will, sondern was uns mit innerer Kraft ausrüsten will.

Indem wir hineingehen in die Welt und eins geworden sind mit

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der Orangefläche, bewegen wir uns so, daß wir mit jedem Schritr, den wir weiterkommen, fühlen: Durch diese Empfindung im Orange, durch dieses Leben in den Orangekräften werden wir uns so in die Welt hineinkraften, daß wir stärker und stärker werden, daß uns nicht bloß das Strafgericht zerschellt, sondern daß das, was da aus dem Orange an uns herankommt, nicht bloß strafend kommt, sondern ein Stärkendes ist. So leben wir uns mit dem Orange hinein in die Welt. Wir lernen dann die Sehnsucht, das Innere der Dinge zu ergreifen und es mit uns selber zu vereinigen. Wir lernen durch das Leben im Rot beten. Wir lernen durch das Leben im Orange die Erkenntnis, die Sehnsucht nach der Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge.

Wenn es eine gelbe Fläche ist, und wir machen dasselbe, dann fühlen wir uns in diesem Erleben des Gelben wie, ich möchte sagen, an den Anfang unseres Zeitenzyklus versetzt. Wir fühlen: Jetzt lebst du in den Kräften, aus denen du geschaffen worden bist, als du deine erste Erdeninkarnation antratest. - Das, was man ist durch das ganze Erdendasein hindurch, fühlt man verwandt mit dem, was einem ent­gegenkommt aus der Welt, in die man selber das mit einem identisch gewordene Gelb trägt.

Und identifiziert man sich mit Grün und geht mit dem Grün durch die Welt, was man dadurch besonders leicht haben kann, daß man versucht, die Augen über eine grüne Wiese schweifen zu lassen, den Blick über dieselbe auszubreiten, und versucht nun, von allem übrigen abzusehen, sich ganz zu konzentrieren auf die grüne Wiese, unter­zutauchen in die grüne Wiese, das Grün als die Oberfläche eines Farbenmeeres zu betrachten und dann unterzutauchen in das Grün:

wenn man so versucht zu leben in der Welt, dann erlebt man ein innerliches Kräftigerwerden in dem, was man in der einen Inkarnation ist. Man erlebt ein innerliches Gesundwerden, aber zu gleicher Zeit auch ein innerliches Egoistischerwerden, ein Angeregtsein der egoisti­schen Kräfte im eigenen Inneren.

Würde man dasselbe mit einer blauen Fläche rnachen, so würde man durch die Welt gehen, indem man das Bedürfnis empfindet, mit dem Blau immer weiter und weiter fortzuschreiten, den Egoismus in sich zu überwinden, gleichsam makrokosmisch zu werden, Hingabe zu

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entwickeln. Und man würde sich beglückt finden, wenn man in dieser Vorstellung bleiben könnte durch das einem Entgegenkommen der göttlichen Barmherzigkeit. Wie begnadet von göttlicher Barmherzig­keit würde man sich fühlen, wenn man also durch die Welt geht.

So lernt man erkennen die innere Natur des Farbigen. Und wie gesagt, eine Zeit können wir vorausahnen, wo die Vorbereitung, die der Maler als Künstler durchmachen wird, ein solches moralisches Erleben in der Farbe bedeuten wird, wo viel innerlicher, viel intimer, als es jemals in alten Zeiten der Fall gewesen ist, das Erleben sein wird, das vorbereitet zum künstlerischen Schaffen. Denn das sind nur einzelne Andeutungen, die ich hier gebe, die noch weiter ausgebildet werden in der Zukunft. Sie werden mit einem kolossalen Sinn für das künstlerische Schaffen die Seele des Menschen ergreifen und lebendig machen können, während das sich Hereinbewegen der materialisti­schen Kulturentwickelung in unser modernes Zeitalter hinein die Seele ausgedörrt hat, passiv gemacht hat. Durch innere Kraft müssen die Seelen wiederum angeregt werden, erfaßt werden müssen sie von den inneren Kräften der Dinge. Dieses spezifische Beispiel, das ich gebraucht habe, sind die Farben, die in der Welt fluten.

In einer ganz ähnlichen Weise wird die Vertiefung und Belebung des menschlichen Seelenlebens durch die Tonwelt eintreten. Das Wesentliche der abgelaufenen Periode in bezug auf diesen Punkt ist ja, daß der Mensch einen Ton als solchen erlebt, und dann das Ver­hältnis von einem Ton zu einem andern. In der Zukunft wird der Mensch mit seinem Erleben hinter den Ton gehen können. Er wird gleichsam den Ton wie ein Fenster betrachten, durch das er in die geistige Welt hineintritt, und dann wird es nicht von jenem un­bestimmten Fühlen abhängen, wie Ton an Ton sich setzt, zu Melodien zum Beispiel, sondern hinter den einzelnen Tönen wird die Seele wiederum moralisch-spirituell erleben durch den Ton hindurch. Wie durch ein Fenster wird die Seele in die spirituelle Welt eindringen. Die Geheimnisse des einzelnen Tones werden sich in diesem Erleben des einzelnen Tones hinter dem Ton enthüllen.

Wir sind noch weit entfernt von diesem Gefühle, daß wir durch jeden Ton wie durch ein Fenster aus der sinnlichen Welt in die

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spintuelle Welt hineinsteigen können. Aber dies wird kommen. Wir werden den Ton empfinden wie eine Öffnung, welche die Götter gemacht haben aus der jenseits von uns liegenden spirituellen Welt in diese physisch-sinnliche Welt hinein, und wir werden hinein­steigen durch den Ton aus der physisch-sinnlichen Welt in die spiri­tuelle Welt. Wir werden zum Beispiel durch eine Prim, die wir absolut empfinden, nicht etwa in Anlehnung an frühere Töne der Tonskala, erfühlen, wie wir hineinsteigen aus der Sinnenwelt in die spirituelle Welt, und zwar auf eine gefahrvolle Weise. Die Gefahr liegt darinnen, daß uns dieses Hineinsteigen droht ganz gefangenzunehmen, daß uns die Prim wie mit furchtbarer Saugekraft durch das Fenster des Tones holen will, uns ganz verschwinden lassen will in der spirituellen Welt. Wir werden empfinden, wenn wir also die Prim als eine Absolute empfinden, daß wir spirituell noch zu schwach sind in der physisch-sinnlichen Welt und daß wir aufgesogen werden von der spirituellen Welt, wenn wir durch dieses Fenster gestiegen sind. Das wird die moralische Empfindung sein, die wir haben können beim Aufsteigen in die spirituelle Welt durch die Prim. Aber das charakterisiere ich jetzt nur so einfach, das wird eine ganz differenzierte, unendlich mannigfaltige Einzelheiten in sich enthaltende Empfindung sein, die wir da erleben.

Wenn wir dann durch die Sekund wie durch ein Fenster hinein-steigen aus der physischen Welt in die spirituelle Welt, werden wir empfinden so, wie wenn es drüben in der geistig-spirituellen Welt Mächte gäbe, die sich gleichsam unserer Schwachheit erbarmen, die sagen: Nun ja, du warst schwach in dieser physisch-sinnlichen Welt! Wenn du nur durch die Prim hineinsteigst in die geistige Welt, so muß ich dich auflösen, muß dich aufsaugen, muß dich zersplittern oder zerschellen. Wenn du aber durch die Sekund hereinsteigst, will ich dir etwas entgegenbringen aus der geistigen Welt und dich er­innern an etwas, was auch drüben ist. - Das Eigentümliche ist, wenn wir durch die Sekund aus der physischen in die spirituelle Welt hineinsteigen, als ob eine Summe von Tönen, eine Anzahl von Tönen uns entgegentönte, die einen in Empfang nehmen. In eine völlig stumme Welt tritt man ein, wenn man durch die absolute Prim eintritt

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in die spirituelle Welt. In eine Welt, in der, wenn man so hinhört, leise verschieden hohe Töne erklingen, die einen trösten wollen über die Schwachheit, kommt man, wenn man durch die Sekund eindringt. So aber muß man eindringen, wie man natürlich nicht eindringen darf durch ein Fenster in ein physisch-sinnliches Haus, denn da würde einen der Eigentümer sonderbar anschauen, wenn man durch das Fenster einträte und das ganze Fenster mitnähme. In der geistigen Welt muß man das aber tun, muß die Töne mitnehmen und, mit ihnen identifiziert, ganz drüben leben in dem Jenseits des Häutchens, das uns von der physisch-sinnlichen Welt trennt, in dem eben die Fenster vorzustellen sind, welche die Töne sind.

Wenn man durch die Terz in die geistige Welt eingeht, so wird man das Gefühl einer starken, einer stärkeren Schwäche noch haben. Wenn man so die spirituelle Welt betritt, wird man fühlen, daß man eigentlich recht schwach war in der physisch-sinnlichen Welt in bezug auf deren spirituellen Inhalt. Aber man wird in bezug auf die Terz -man ist ja Ton geworden, man ist jetzt selber Terz geworden -fühlen, daß da drüben Freunde sind, die nicht selber Terzen sind, die aber herankommen, je nachdem man in der physisch-sinnlichen Welt beschaffen war. Während es bei dem Eindringen durch die Sekunde wie ein leises Erklingen vieler Töne ist, in denen man so im allgemei­nen lebt, wenn man durch sie eindringt, werden einem durch die Terz entgegenkommen gleichsam befreundete Töne. Diejenigen, die Komponisten werden wollen, werden insbesondere durch die Terz eindringen müssen, denn da werden sich ergeben die Tonfolgen, Ton-kompositionen, welche anregen werden ihr künstlerisches Schaffen. Nicht immer dieselben Tonfreunde werden einem entgegenkommen, sondern ihre Art wird davon abhängen, wie man in der Stimmung, im Erleben, im Temperamente, kurz in der ganzen Verfassung des Lebens war, wenn man also durch die Terz in das geistige Leben eintritt: eine unendliche Mannigfaltigkeit der Tonwelt wird sich da ergeben.

Dringt man durch die Quart in die geistige Welt ein, dann wird man eine merkwürdige Erfahrung machen: die Erfahrung, daß jetzt allerdings von keiner Seite andere Töne auftauchen, daß aber dasjenige,

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was schon aufgetaucht ist, was man durch die Erfahrungen mit der Terz durchgemacht hat, in leicht kommenden Erinnerungen in der Seele lebt. Und man wird finden, indem man so weiterlebt mit seinen Tonerinnerungen, wenn man eingedrungen ist durch die Quart in die spirituelle Welt, daß diese Tonerinnerungen immer andere Färbungen annehmen, daß sie bald sich entwickeln zu hellster Herng­keit und Heiterkeit, bald sich herabstimmen zur äußersten Traurig­keit, bald sonnig hell, bald traurig untertauchend bis zur Grabesruhe. Das Temperieren der Stimme, das Hinauf- und Hinuntergehen des Tones, kurz, der Verlauf in der Stimmung eines Tonwerkes wird sich ergeben durch diesen Weg, durch diese Tonerinnerungen.

Die Quint wird mehr subjektive Erfahrungen und Erlebnisse er­geben, sie wird anregend, bereichernd auf das seelische Erleben wir­ken. Sie wird gleichsam wie ein Zauberstab wirken, der die Geheim­nisse der Tonwelt drüben aus unergründlichen Tiefen hervorzaubert.

Solche Erlebnisse wird man haben, wenn man mit den Dingen, mit den Erscheinungen der Welt nicht bloß so verkehrt, daß man sie anschaut, anhört, sondern so, daß man sie innerlich erlebt. Durch diese Art des Erlebens, namentlich an Farben und Tönen, aber auch an den Formen, kurz, an dem Künstlerischen muß der Weg gefunden werden, den die Menschheit gehen muß, um überhaupt aus dem bloß äußer­lichen Sich-Verhalten zu den Dingen und ihrem Verlaufe - was das Kennzeichen eines materialistischen Zeitalters ist - herauszukommen und in die innerlichen Tiefen der Dinge, in ihre Geheimnisse zu dringen.

Dann wird über den Menschen kommen ein Bewußtsein, ein un­geheuer bedeutungsvolles Bewußtsein von seinem Zusammenhang mit den für das materialistische Bewußtsein unterbewußten göttlich-geistigen Kräften, die ihn führen und leiten durch die Welt. Und dann wird vor allen Dingen so etwas auftreten wie ein innerliches Erleben jener Kräfte, die zum Beispiel den Menschen hinüberleiten von einer Inkarnation zur andern.

Wenn wir eine Lokomotive nicht heizen, so kann sie nicht einen Eisenbahnzug vorwänsziehen. Die Kräfte müssen fortwährend an­geregt werden, die das Geschehen in der Welt herbeiführen. So müssen

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auch die Kräfte angeregt werden, welche den Menschen vorwärts-treiben. Und es geschieht das auch. Aber lernen muß der Mensch, sich in Verbindung zu wissen mit diesen Kräften.

Ich konnte einmal folgende bemerkenswerte Erfahrung machen. Es war ein Rechtsgelehrter, ein Advokat, der ganz berühmt war, an dem Orte, wo ich eine Zeitlang lebte, ein außerordentlich berühmter Advokat, dem die Leute förmlich zugelaufen sind und von dem sie die Meinung hatten, daß er die schwierigsten Prozesse gewinnen müsse. Es war das auch in vielen Fällen geschehen. Seine advokatorische Dialektik war eine außerordentlich große, und die Leute, die ihn kannten, hatten die größte Verehrung für diese advokatorische Dia­lektik. Da wurde ihm einmal ein schwieriger Prozeß eines reichen Mannes übergeben. Es hing das Verhängtwerden einer großen Strafe von dem Ausgang des Prozesses für diesen reichen Mann im Ver­urteilungsfalle ab. Der Advokat bot die alleräußerste Dialektik, die wunderbarste Advokatengeschicklichkeit auf. Er hielt eine lange Rede, und das Auditorium hatte durchaus den Eindruck, wenn die Ge­schworenen - es handelte sich um ein Geschworenengericht - jetzt den Angeklagten nicht freisprechen, dann weiß man eigentlich gar nicht mehr, was advokatorische Kunst noch entwickeln könnte. Alle diejenigen, welche das gehört hatten, was an ungeheuerlicher Ge­schicklichkeit von dem Advokaten geleistet worden war, hatten durchaus den Eindruck, die Geschworenen würden sich jetzt zurück­ziehen und den Angeklagten freisprechen.

Nun war aber bei dem Gerichte nicht nur ein geschickter Rechts­anwalt, sondern auch ein geschickter Vorsitzender des Gerichtshofes, und obgleich die Stunde noch nicht so weit vorgerückt war, daß das Urteil nicht mehr hätte gefällt werden können, so sagte der Vor­sitzende doch: Wir wollen heute die Sitzung abbrechen und sie morgen fortsetzen. - Am nächsten Tag, vormittags, sollte also die Sitzung der Geschworenen sein und dadurch hatten die Geschwore­nen über Nacht Zeit, die Sache noch einmal durchzudenken. Der nächste Tag kam. Dieses «Verschleppen über Nacht», wie er es nannte, war dem Advokaten schon recht unangenehm gewesen. Die Sitzung begann, die Geschworenen zogen sich zurück, alles wartete

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in größter Spannung auf ihr Wiedererscheinen, in allergrößter Span­nung aber war der betreffende Advokat. Nach einer Viertelstunde schon kamen die Geschworenen zurück, und als der Advokat die Ge­schworenen nach so kurzer Zeit aus dem Beratungszimmer zurück­kehren hörte, fiel er in Ohnmacht. Ja, er fiel in Ohnmacht. Er erholte sich wieder, wurde gestützt von einem seiner Freunde. Der An­geklagte war wirklich verurteilt worden. Aber das erfuhr der Advokat erst, nachdem er sich von der Ohnmacht wieder erholt hatte.

Was konnte man nun sagen, wenn man den Verlauf der Tatsachen äußerlich betrachtete, nach dem, was sich der menschlichen An­schauung darbot? Man konnte sagen: Der Advokat ist ein sehr ehr­geiziger Mann, denn ihm lag so viel an dem Gewinnen dieses Pro­zesses, daß er vor der Urteilsverkündung das Bewußtsein verlor. Als er sah, daß die Geschworenen nur so lange sich beraten hatten, war es für ihn sicher, daß der Angeklagte verurteilt würde, denn hätten sie ihn freigesprochen, so würden sie natürlich viel längere Zeit gebraucht haben.

So war aber die Sache nicht, so hätte sie sich nur für die äußere Anschauung darstellen können. Es lag gleichsam eine andere Schicht von Ereignissen hinter dem, was ich jetzt erzählt habe. Diese andere Schicht oder Geschichte ist diese: Der betreffende Advokat war erfaßt worden - ich kannte ihn ja gut - in einer Zeit, die vor diesem Pro­zesse lag, von dem, was man nennen kann den Spielteufel. Er nahin die Gelder, die ihm als Depot anvertraut waren, und spielte damit an der Börse. Es war eine reine Leidenschaft für ihn, und er war kurz vor dem Beginne dieses Prozesses so weit, daß er große Geldbeträge, die ihm anvertraut gewesen, verspielt hatte. Versprochen aber war ihm, daß er, wenn er den Prozeß gewinnt, so viel bekommen würde, daß er ungefähr die Differenz ausgleichen konnte.

Er fiel also nicht in Ohnmacht aus bloß gekränktem Ehrgeiz, son­dern er fiel in Ohnmacht, als nach einer Viertelstunde die Geschwore­nen mit einem Schuldurteil herauskamen, weil tatsächlich seine Exi­stenz vernichtet war. Denn nun konnte er niemals mehr daran denken, dasjenige, was er an Depotgeldern verspielt hatte, wieder zu ersetzen. Seine ganze Existenz hing also an dem Ausgange dieses Prozesses.

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Er fiel in Ohnmacht als symbolische Andeutung dafür, daß er jetzt für diese Inkarnation überhaupt vernichtet war. Er mußte dann nach Amerika fliehen und hat ein nicht sehr beneidenswertes Dasein für den Rest seiner Inkarnation in Amerika durchzumachen gehabt.

Wir sehen an einem solchen Falle das Folgende. Wir sehen, daß sehr häufig im Leben das Urteil fehlgeht, denn es hätte ganz gut Menschen geben können, die niemals etwas erfahren hätten von dem, was hinter dem Prozesse spielte. Wenn diese nur den dialektisch so geschulten Advokaten bei dem Prozesse gehört und gesehen hätten, wie er in Ohnmacht fiel, so hätten sie sehr wohl urteilen können: Es gibt Leute, die so ehrgeizig sind, daß sie bei einer verfehlten Rede das Bewußtsein verlieren. - Bei diesem Urteil hätte man bleiben können.

Um hier richtig urteilen zu können, mußte man also noch eine Schicht mehr der Tatsachen wissen. Für viele Dinge muß man sogar viele Schichten mehr wissen, denn sonst kann man Recht haben in bezug auf die eine Schicht, die man übersieht, und dennoch ein falsches Urteil fällen. Das ist das Äußerliche. Aber die Sache hat noch einen weiteren Hintergrund. Der Mann mußte doch auch einen Weg finden von dieser Inkarnation in die nächste hinein. Und so haben wir hier ein Beispiel, wie die weise Weltenlenkung gleichsam die Kräfte in die Seele hineinversetzt, die notwendig sind, um die Seele von der einen Inkarnation in die nächste hinüberzuleiten. Der Mann war in einen solchen Lebenskonffikt gekommen, daß ihm dieser Lebens-konflikt die Existenzmöglichkeit verzehrt hatte. Es war eine furcht­bare Lage geschaffen; es war damit die Lage geschaffen, daß keine Kräfte mehr vorhanden waren, die ihn hinüberbringen konnten in die nächste Inkarnation. Es war aber auch die Lage geschaffen, daß in sein Bewußtsein solche Kräfte nicht gebracht werden konnten. Da mußte denn der Fall eintreten, daß das Bewußtsein kurz ausgelöscht wurde. Und in der Zeit, wo das Bewußtsein in der Menschenseele für kurze Zeit ausgelöscht wird, kann das Mannigfaltigste von äußerer Spiritualität in die Menschenseele hineindringen. In diesem Momente drangen also Kräfte in ihn hinein, die geeignet sind, ihm wiederum den Impuls, den Antrieb für den Übergang in die nächste Inkarnation zu geben. Natürlich geschieht das Geben des Antriebes, des Impulses

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in der verschiedenartigsten Weise. Das, was ich geschildert habe, war so ein besonderer Fall.

Diese Antriebe sind immer da. Aber ich wollte Ihnen damit nur zeigen, wie des Menschen bewußtes Leben an einen unbewußten Verlauf geknüpft ist, und wie es wirklich im bewußten Verlaufe Punkte gibt, wo das Bewußtsein zerpreßt wird, damit aus dem Un­bewußten etwas hereinkommen kann. Diese unbewußten Augen­blicke brauchen manchmal nicht lang zu sein, es können kurze, ohn­machtähnliche Zustände sein. Dennoch kann ungeheuer vieles in solchen Momenten an spirituell-vitalen Kräften in die menschliche Natur hineinstrahlen, sowohl an guten, als auch an bösen Kräften, die zu dem oder jenem fähig sind.

Dieses letztere Beispiel und dasjenige, was ich darin ausführen will, führte ich an aus dem Grunde, um zu zeigen, wie in der Weltbetrach­tung die Menschheit versuchen muß, Zusammenhänge zu beachten, die für eine materialistische Welterfassung bedeutungslos sind.

Man wird dahin kommen, die Lebenszusammenhänge allmählich so zu durchschauen, daß man die Augenblicke erkennt, in denen das Spirituelle an jeden Menschen herantritt. Man wird in Zukunft die Welt nicht mehr so eindeutig darstellen, wie man es jetzt macht, indem man sie aus den materiellen Ursachen erklärt, sondern man wird sie in Zukunft so darstellen, daß man das Materielle an den richtigen Ort stellen wird, gleichzeitig aber auch erkennen wird, daß noch mehr da ist als die bloße materielle Erscheinung, und daß durch die materielle Erscheinung durchblickt das Spirituelle.

Haben wir in den Farben und Tönen Fenster gesehen, durch die wir hindurchsteigen, geistig, in die spirituelle Welt hinein, so bringt uns das Leben wiederum Fenster, durch welche die geistige Welt in unsere physische Welt hineintritt. Die Ohnmacht des Advokaten war ein solches Fenster. Deuten wir richtig dieses Ereignis, so müssen wir sagen: Es strömt durch dieses Fenster spirituelles Leben zu uns herein. Wir sehen, hier spielen Kräfte in uns hinein, die wir nicht bloß sinnlich deuten können. Es gibt also Fenster in den Tönen, durch die wir aus der physisch-sinnlichen Welt in die spirituelle Welt hineinsteigen. Und es gibt wieder Fenster, durch die, wenn wir

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stehenbleiben in der physisch-sinnlichen Welt, das Spirituelle zu uns hineinsteigt.

Merken wir das nicht, daß das Spirituelle durch solche Fenster zu uns hineinsteigt, ja, dann ist es so, wie wenn ein Mensch, der nicht lesen kann, ein schönes Buch aufschlägt. Er hat dasselbe vor sich wie einer, der lesen kann, aber wer nicht lesen kann, der sieht da ein Kricksel-Kracksel auf dem weißen Papier, das er nicht deuten kann, er kann es höchstens beschreiben. Nur derjenige, welcher lesen kann, ist in der Lage, in diesem Buche vielleicht ein Schicksal oder eine Weisheit zu verfolgen, die hineingelegt worden sind in diese sonder­baren Zeichen. Derjenige, der die Welterscheinungen nicht lesen kann, steht eben wie ein Analphabet des Kosmos vor den Erscheinungen. Der aber, der lesen kann, liest den Verlauf der geistigen Welt aus diesen Dingen. Das für die jetzige materialistische Zeit Charakteristische ist, daß die Menschen durch den Materialismus dem Kosmos gegenüber Analphabeten sind, und zwar nahezu hundertprozentige. In einer Zeit, wo man so stolz darauf ist, daß man die Prozente der Analphabeten in den Kulturländern so sehr vermindert hat, steuert man mit Be­geisterung dem Analphabetismus in kosmischer Beziehung entgegen.

Diesen kosmischen Analphabetismus aufzuheben, ist die Aufgabe der Geisteswissenschaft. Jetzt gibt es wenige Menschen, die Analpha­beten sind im gewöhnlichen Sinne. Die Menschen waren in den Zeiten des alten Hellsehens viel weniger Analphabeten des Geistes. Aber das soll uns alles nicht stolz machen. Wahr ist es, wenn wir unsere Auf­gabe in der geisteswissenschaftlichen Strömung ahnen, daß wir aus Analphabeten Lesende des Kosmos werden sollen. Aber wir sollen die Demut dabei nicht verlieren, denn so wie die Zeit heute ist, sind wir noch sehr stark in der Notwendigkeit der Elementarschule. Wir kommen kaum schon zu einem wirklichen Lesen, sondern nur zu einer Art von Buchstabieren. Aber wir können doch ergriffen sein von dem Umwandlungsimpuls, der dadurch für die Menschheits-entwickelung hereinbricht. Und wenn wir davon ergriffen werden, dann stellen wir uns in der richtigen Weise zu dem, was sozusagen die Zeichen der Zeit von uns fordern, stellen uns als richtige Glieder der geisteswissenschaftlichen Weltanschauungsströmung in diese hinein.

SECHSTER VORTRAG Dornach, 2.Januar 1915

#G275-1966-SE113 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

#TI

SECHSTER VORTRAG

Dornach, 2.Januar 1915

#TX

Es wird verhältnismäßig dem Menschen heute leicht - ich sage natür­lich verhältnismäßig -, dasjenige, was wir unter der geisteswissen­schaftlichen Weltanschauung oder Anthroposophie verstehen, mehr oder weniger theoretisch aufzunehmen. Aber schwierig wird es, das ganze Wesen des Menschen, das Leben selber zu durchdringen mit den Impulsen, die aus der Geisteswissenschaft selber kommen. Theo­retisch aufnehmen die geisteswissenschaftliche Weltanschauung, so daß man weiß, der Mensch besteht aus dem physischen Leibe, dem ätherischen Leibe, dem astralischen Leibe und so weiter, wie man weiß, der eine oder der andere Ton hat eine so und so hohe Schwin­gungszahl, oder der Sauerstoff verbindet sich mit dem Wasserstoff zu Wasser, dieses so zu wissen, ist ja der Mensch gewohnt aus der natur-wissenschaftlichen Weltanschauung, die sich nach und nach im Laufe der letzten Jahrhunderte in der Menschheit ausgebildet hat.

Aber weniger gewohnt ist der Mensch, auf sein Gefühls- und Gemütsieben Einfluß gewinnen zu lassen das, was aus einer solchen Erkenntnis gewonnen werden kann, wie sie die Geisteswissenschaft darbieten will. Im Grunde genommen ist die Art, wie die Geistes­wissenschaft auf den Menschen wirken muß, entgegengesetzt der Art, wie die andere Wissenschaft auf den Menschen wirken muß. Es ist eine ganz allgemeine, oft und oft betonte Empfindung, daß die trockene Wissenschaft den Menschen abbringt von dem warmen Er­fühlen des Lebens und seiner Tatsachen, daß die trockene Wissen­schaft etwas Kaltes und Nüchternes hat, gleichsam die Frische, das gewisse Taumäßige von den Dingen wegnimmt. Und man kann sagen, daß das bis zu einem gewissen Grade bei der äußeren Wissenschaft der Fall sein muß. Denn welch gewaltiger Unterschied ist doch zwischen dem Eindrucke, den auf uns die wunderbare Wolkenbildung eines Abend- oder Morgenhimmels macht, und den bloßen Mitteilungen, die uns darüber etwa der Astronom oder der Meteorologe machen kann. Wie mit einem Wärmegefühl, ergreifend den ganzen Menschen

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und ihn durchlebend, erscheint uns die reiche Fülle des natürlichen Daseins um uns herum. Trocken und nüchtern, kalt, leblos und liebe­leer erscheint uns die Wissenschaft mit ihren Begriffen und Ideen, die sie uns vermittelt, gegenüber demjenigen, was sonst einen warmen, lebensvollen Eindruck auf uns macht. Und in bezug auf das äußere, naturwissenschaftliche Erkennen ist es ganz gewiß berechtigt, wenn man so empfindet und fühlt.

Daß das äußere, naturwissenschaftliche Erkennen so sein muß, das hat seine guten Gründe, aber ein solches Erkennen soll nicht sein das geisteswissenschaftliche Erkennen. Das soll uns im Gegenteile näher und immer näher bringen der Lebensfülle und Lebenswärme der äußeren Welt und überhaupt der ganzen Welt. Da müssen wir aber allerdings noch lernen, gewisse Impulse in uns zu erregen, die der gegenwärtige Mensch fast gar nicht hat. Der gegenwärtige Mensch erwartet nämlich von dem, was er Wissenschaft nennt, etwas, worin schon liegt, daß uns diese Wissenschaft kalt und nüchtern, in Goethes Sinne gesprochen, Wagner-mäßig berühren muß. Der Mensch er­wartet von der Wissenschaft, daß, wenn er diese Wissenschaft in sich aufgenommen hat, ihm die Rätsel der Natur gewissermaßen gelöst seien, daß er jetzt weiß, wie es mit diesen oder jenen Dingen be­schaffen ist, und dann ist er zufrieden, wenn er weiß, wie es mit diesen oder jenen Dingen beschaffen ist.

Man kann sogar Menschen in der Gegenwart kennenlernen, denen vor der Wissenschaft aus einem ganz bestimmten Grunde gruselt. Sie sagen nämlich, das volle, frische Leben der Vergangenheit habe geradezu darinnen bestanden, daß der Mensch nicht alle Rätsel gelöst hat, daß er etwas ahnen durfte, was ihm noch nicht gelöst war. Und nun kommt die Wissenschaft, so sagen die Leute, und löst nach und nach die Naturrätsel. Und nun stelle man sich vor, wie langweilig es ist, in der Zukunft auf der Welt zu sein, wenn die Wissenschaft alle Rätsel gelöst haben wird, und man nichts mehr ahnen und außer-wissenschaftlich wird empfinden können. Eine furchtbare Öde muß über die Menschheit kommen, und davor kann man ja mit Recht ein Grauen haben.

Aber die Geisteswissenschaft wird andere Empfindungen im Menschen

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auslösen können, Empfindungen, die allerdings für die Gegen­wart weniger bequem sind als das Rätsellösen, die uns aber zugleich darauf hinweisen, wie Leben weckend und Leben schaffend diese Geisteswissenschaft sein kann. Wenn wir nämlich im richtigen Sinne das aufnehmen, was uns die Geisteswissenschaft gibt, wenn wir es nicht so aufnehmen, daß wir nur unser Handbüchlein nehmen und aufschreiben dasjenige, was gerade gesagt wird, um es so zu ver­wenden wie in der Wissenschaft im äußeren Sinne, und uns vielleicht dann noch ein Schema machen, eine hübsche Einteilung, damit wir die Dinge recht überblicken können wie ein Schema der Physik, wenn wir also weniger dieses machen, sondern in unsere Herzen das ein­ffießen lassen, was die geisteswissenschaftliche Anschauung zu sagen hat, uns richtig durchdringen damit, dann werden wir bemerken, daß es in uns Leben gewinnt, wächst, Selbständigkeit und Selbsttätigkeit in uns entwickelt, daß es wie ein neues lebendiges Wesen in uns wird, das uns immer und immer neue und neue Seiten zeigt. Wenn wir dann mit einer durch die geisteswissenschaftliche Weltanschauung also er­füllten Seele an die äußere Natur herantreten, dann gewahren wir in der Natur nicht weniger Rätsel als früher, sondern mehr Rätsel als früher. Alles wird uns noch rätselvoller, und das Gefühlsleben wird nicht ver-armen, sondern es wird bereichert, man könnte sagen, die Welt wird geheimnisvoller durch die geisteswissenschaftliche Erkenntnis.

Allerdings verödet uns die Welt, wenn der Physiker kommt und sagt: Die Morgenröte, du siehst sie -, und er führt uns dann aber zur Wandtafel und zeigt uns, welche besonderen Brechungen die Licht­strahlen erfahren, damit das Morgenrot erscheint. Gewiß ist das etwas Greuliches, nicht vor dem menschlichen Verstandeserkennen, sondern etwas Greuliches vor dem menschlichen Gemüte.

Anders ist es, wenn die Geisteswissenschaft kommt und uns sagt, um ein Beispiel anzuführen: Wenn du das Morgenrot erblickst, oder diese oder jene Tonmusik hörst, dann muß es dir sein, als ob die Elohim ihren strafenden Zorn durch die Welt senden. Dann ge­wahren wir hinter der Morgenröte das geheimnisvolle, lebendige Weben der Elohim. Dadurch, daß wir den Namen der Elohim aus­sprechen und wissen, wohin wir sie zu setzen haben in dem neungliedrigen

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Schema, das wir uns in unser Notizbuch schrieben, damit haben wir noch nichts erkannt von den Elohim. Aber durch die lebendige Empfindung, die wir haben, indem wir den Blick zur Morgenröte erheben, wird uns eine reiche Fülle lebendigen Webens und Lebens entgegenschauen, wie wir wissen, daß, wenn wir einem Menschen gegenüberstehen, wir sein Wesen nicht aus schöpfen können durch irgendwelche Begriffe, daß wir nicht umfassen können das Universell-Lebendige seines Wesens. So werden wir gewahr, daß in dem, was sich uns als Morgenrot offenbart, nicht umfaßbares Leben­diges des Kosmos uns gegenübersteht.

Rätselvoller und geheimnisvoller und damit reichere Empfindung in uns wirkend wird die Welt durch das geisteswissenschaftliche Er­kennen. Das ist solch eine Grundempfindung, die in unsere Seelen einziehen kann, wenn wir die Geisteswissenschaft in uns lebendig machen und wenn wir versuchen, uns heimisch zu machen in solchen Vorstellungen, wie die eben angeregte. Dann werden wir niemals verfallen können in jene Klage gegenüber der Geisteswissenschaft, daß sie nur zu unserem Kopfe spreche, daß sie unseren ganzen Men­schen nicht ergreife. Wir müssen nur wirklich Geduld haben, bis das Wort, das die Geisteswissenschaft uns geben will, in uns zum leben­digen Wesen wird, bis es sich selbständig bildet, so daß es uns nicht nur mit seinem Lichte, sondern auch mit seiner Wärme erfüllt. Dann wird es unser Herz, unseren ganzen Menschen ergreifen und wir werden uns reicher fühlen, während wir natürlich, wenn wir die Geisteswissenschaft gerade so aufnehmen wie die andere Wissenschaft, uns verarmt fühlen müssen.

Aber auf der andern Seite ist es wieder ganz naturgemäß, daß die Geisteswissenschaft zunächst auf viele einen verarmenden Eindruck macht, weil sie noch nicht finden können das innerlich Lebendige des Wortes der Geisteswissenschaft, welches das Gemüt ergreifen kann, weil die Geisteswissenschaft auf sie noch nicht so wirkt, wie etwa wirkt das warme Wort eines andern Menschen, der zu uns spricht. Aber wir müssen lernen, daß die Geisteswissenschaft so lebendig wird, daß sie unserer Seele Mut und Vertrauen zusprechen kann wie sonst nur die menschliche Persönlichkeit selber.

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Daß dies so schwierig ist für die Herzen der Gegenwart, beruht darauf, daß die Herzen der Gegenwart sich abgewöhnt haben, mit den Dingen selber zu leben, daß das Gefühl des Sich-Einlebens in die Dinge so selten geworden ist. Es wird schon unendlich schwierig, wenn man, ich möchte sagen, in kleinen Dosen versucht, das Mit­leben mit den Dingen wiederum lebendig zu machen. Das ist ver­sucht worden in unseren vier Mysterien. Sie müssen nur den Blick auf so etwas lenken wie auf die Szene im Geisterland, im fünften Bild von «Der Seelen Erwachen», wo auf der linken Seite der Bühne -vom Zuschauerraum aus gesehen - der in das Devachan entrückte Felix Balde sitzt, und wie eine geistige Wesenheit auf der andern Seite der Bühne zu diesem spricht von ihrem «Lasten». Da soll man fühlen das Gewicht, das in der Ferne von oben nach unten schwebt. Der Mensch ist heute gewohnt, wenn etwas von oben nach unten schwebt, nur das Schweben zu sehen, nur zu sehen, wie das Ding zu­erst einen oberen Ort einnahm, dann einen Ort weiter unten und so weiter. Aber er ist ganz ungewohnt, hineinzukriechen in die Dinge und das Lasten zu empfinden, zu empfinden, daß es an jedem Orte drückt, das Ding. Man möchte mit einem solchen Wort mitten im Drama darinnen die Menschenseele herausholen aus dem ego­istischen Leibe und sie hineinversetzen in das Lebendige der Dinge draußen.

Wenn das nicht eintreten kann, so wird ein richtiges künstlerisches Fühlen nicht wieder auferstehen können. Damit zum Beispiel ein Architekturfühlen in richtiger Weise wieder auferstehen kann, muß lebendig werden das, was wir an Begriffen aufnehmen in der Geistes­wissenschaft. Zunächst hat es etwas Gleichgültiges an sich, was wir an Begriffen, die wir uns aus der Geisteswissenschaft aneignen, mit der Seele herumtragen in der Welt. Aber wir werden sehen, wenn wir so etwas wirklich tun, wie wir unser ganzes Seelenleben dadurch be­reichern. Eine Bereicherung findet zum Beispiel statt, wenn wir ver­suchen, dieses hier (siehe Zeichnung Seite 118) nicht bloß zu sehen, sondern unterzutauchen in dasselbe und empfinden zu lernen mit dem, was da ist: nämlich hier das Lasten und hier das Stützen.

Wir wollen noch weitergehen und das nicht nur anschauen, sondern

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fühlen, der Balken muß eine gewisse Stärke haben, sonst wird er von der Last zerdrückt, die Stützen, die Säulen mussen eine gewisse Stärke haben, sonst werden sie zerquetscht. Wir müssen mit der Kugel oben ihr Lasten erleben, mit den Säulen ihr Stützen erleben, mit dem Balken sein Gleichgewicht erleben. Erst dann empfinden wir architektonisch, wenn wir also hineinkriechen in das Lastende, in das Stützende und in das Gleichgewicht zwischen dem Lastenden und dem Stützenden.

Wir werden aber erfühlen, wenn wir nicht bloß mit dem Auge folgen solch einem Gebilde, sondern wenn wir gleichsam hinein-kriechen in dasselbe und das Lastende und das Stützende und das Gleichgewicht erfühlen, daß unser ganzer Organismus mit in An­spruch genommen wird, daß wir gleichsam appellieren müssen von unserem Kopfgehirn an ein unsichtbares Gehirn, dem der ganze Mensch angehört. Dann kann in uns lebendig werden das Bewußtsein:

Ah, jetzt beginnen wir zu fühlen! - Nehmen wir den geschilderten einfachen Fall: Da fühlen wir ein stützendes, ein hinaufstrebend stützendes Luziferisches; ein lastend hinunterdrückendes Ahrimani­sches; ein Gleichgewicht zwischen Luziferischem und Ahrimani­schem: ein Göttliches. So belebt sich uns selbst die leblose Natur mit Luzifer und Ahriman und ihrem höheren Herrscher, der das Gleich­gewicht ewig bewirkt zwischen Luzifer und Ahriman.

Aber wir werden darauf kommen, wenn wir also erfühlen lernen in dem Architektonischen das Luziferische, Ahrimanische, Göttliche, daß wir innerlich ergriffen werden von dem Architektonischen, daß wir gewahr werden, wie uns ein reicheres Empfinden der Welt die Seele in die Dinge hinaus, man möchte fast sagen, entreißt, in die

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Welt hinausführt, wie wir allmählich gerade dadurch gewahr werden, daß wir mit unserer Seele nicht nur innerhalb der Haut unseres Leibes sind, sondern dem Kosmos angehören. Das werden wir auf diese Weise gewahr. Damit werden wir aber gewahr, daß, während das Architektonische draußen stützt und lastet und Gleichgewicht schafft, wir selber an dem Architektonischen eine musikalische Stimmung entwickeln. Unser Inneres stimmt sich an dem Architektonischen musikalisch, und wir sehen, während das Architektonische und das Musikalische draußen in der Welt einander scheinbar so fremd gegen­überstehen, daß unser Erleben des Architektonischen, indem uns das Architektonische musikalisch stimmt, die Versöhnung selber, das Gleichgewicht bewirkt.

In diesem aber liegt zugleich die lebendige Fortentwickelung der Kunst von unserer Erdenepoche an: daß man erleben lernt die Ver­söhnung der Künste. Darinnen liegt, was dunkel geahnt und emp­funden worden ist im Wagnertum, was aber wirklich erst erstehen kann, wenn sich die Welt mit der Geisteswissenschaft durchlebt.

Versöhnung der Künste: das haben wir versucht - zum ersten Male, wie in einem kleinen elementaren Anfang - zu geben mit unserem Bau, in dem nicht nur kalt und nüchtern von einer solchen Versöh­nung gefabelt werden sollte, sondern wo in der Architektur des Baues selber ein Abdruck, gleichsam eine Siegelprägung vorhanden sein sollte von dieser Versöhnung der musikalischen Stimmung mit der architektonischen Form. Wenn Sie studieren, was sich in unseter Säulenordnung und in dem, was mit ihr zusammenhängt, darstellt, so werden Sie die Entdeckung machen, daß versucht worden ist, das Stützende und Lastende und das Gleichgewichtsmäßige in lebendige Bewegung zu bringen. Unsere Säulen sind nicht bloß Stützen, unsere Kapitäle sind nicht mehr bloß Trägervorrichtungen, und dasjenige, was sich über den Säulen als Architrave ausdehnt, trägt nicht mehr den Charakter des bloß auf den Säulen Ruhenden und nach oben Ab­schließenden, sondern des lebendig Wachsenden, des lebendig Webenden.

In musikalischen Fluß wurde versucht, die architektonischen For­men zu bringen, und die Empfindung, die man haben kann in dem

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Zusammenwirken unserer Säulen und desjenigen, was mit den Säulen Zusammenhang bringt, kann selber eine musikalische Stimmung in der Seele erregen. Eine unsichtbare Musik kann empfunden werden als die Seele unserer Kolonnen und unsererArchitektur- und Skulptur-formen, die zu den Kolonnen gehören. Das Seelische ist gewisser­maßen darinnen. Und das Durchdringen der bildenden Künste und ihrer Formen mit den musikalischen Stimmungen muß überhaupt das Kunstideal der Zukunft werden. Die Musik der Zukunft wird plasti­scher sein als die Musik der Vergangenheit. Die Architektur und Skulptur der Zukunft werden musikalischer sein als die Architektur und Skulptur der Vergangenheit. Das wird das Wesentliche sein. Die Musik wird deshalb nicht aufhören, eine selbständige Kunst zu sein, im Gegenteil, sie wird nur reicher und reicher werden dadurch, daß die Musik eindringen wird in das Geheimnis der Töne, wie das gestern angedeutet worden ist, und daß sie dadurch musikalische Formen schaffen wird aus den spirituellen Grundlagen des Kosmos heraus.

Da aber in der Kunst alles, was innen ist, auch außen sein muß, da dasjenige, was da lebt, auch gleichsam in einem Organismus sich ver­körpern muß, so muß sich auch die innerhalb der Säulenordnung und innerhalb dem, was dazugehört, schwebende Seelenwelt verkörpern. Das geschieht, soll wenigstens geschehen, in der Ausmalung der Kuppel. So wie gleichsam die Säulen und alles, was dazugehört, der Leib sind unseres Baues, so ist dasjenige, was in den Kuppeln zutage treten wird, wenn man im Bau darinnen ist, das Seelische des Baues, und wie uns der Geist als dasjenige erscheint, was alle Welt erfüllt, wenn die Organe nach außen gerichtet sind, so sollen unsere Fenster mit ihrer neuen Glasradierkunst das Geistige in unserem Bau dar­stellen. Leib, Seele und Geist sollen ausgedrückt sein in unserem Bau. Der Leib in dem Kolonnenbau, die Seele in alledem, was die Kup­peln betrifft, und der Geist in dem, was in den Fenstern geschaffen wird.

Bei diesen Dingen hat hier das Karma so manches bewirkt, was wir dankbar begrüßen dürfen, denn bei gar manchem hat uns das Karma gerade bei diesem Bau geholfen. Das Seelische eines Menschen ist

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von außen so, daß wir es in seiner Physiognomie empfinden, daß wir aber durch Mittel, durch die wir in die Seele eines Menschen dringen, durch Liebe und Freundschaft in das Innere dringen müssen, wenn wir die Seele eines Menschen gleichsam von innen kennenlernen wollen.

Als ich bei meinem letzten Vortragszyklus in Norwegen von Kristiania nach Bergen fuhr, konnte ich jene Schieferbrüche sehen, die mir dazumal den Gedanken gaben, zu erstreben, den Schiefer von dorther zu bekommen. Das ist uns gelungen, es ist tatsächlich, man kann sagen, eine karmische Fügung. Aber wenn wir den Blick werfen werden auf das von jenem Schiefer jetzt bedeckte Dach der Kuppeln, mit dem Eigentümlichen, das gerade dieser Schiefer hat, der wie kein anderer Schiefer wirkt, dann müssen wir sagen: das hat etwas von dem Aufschließenden und zugleich Verbergenden des Seelenlebens. Und wir werden, wenn wir die Kuppel wirklich zum Seelenleben machen wollen, Liebe zur Geisteswissenschaft entwickeln müssen. Denn es soll das, was im Inneren der Kuppel gemalt werden wird, uns wirklich entgegentreten wie eine Art Spiegelbild in Farben und For­men, eine Art Spiegelbild dessen, was uns die Geisteswissenschaft sein kann. Dazu müssen wir in das Innere gehen. Aber in das Innere des Baues, wenn er wirklich einmal fertigwerden sollte, wird kein Mensch verständnisvoll gehen können, wenn er nicht die Liebe zur Geistes­wissenschaft entwickelt haben wird, sonst wird ihm wahrscheinlich das, was er im Inneren sieht, etwas bleiben, was ein bißchen Sensatiön hervorrufen kann, aber doch nicht etwas, was zu seinem Herzen ganz besonders spricht. Er wird so etwas haben, dem er leicht geneigt sein wird, als Architektonischem den Gemütsinhalt, den Gemüts- und Empfindungsinhalt abzusprechen.

Haben wir da sehen können, wie wir das, was sich aus der Geistes­wissenschaft heraus belebt, in der Welt wiederfinden können, so können wir jetzt sagen: Wir können auch das Leben befruchten von seiten der Geisteswissenschaft aus auf Gebieten, wo wir leichter ein­sehen, daß wir eine Befruchtung des Gemütes, eine Durchwärmung des Gemütes brauchen. Denn nicht nur diejenigen Dinge, die künstle­risch sind, die wissenschaftlich sind, sollen von der Geisteswissenschaft

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befruchtet werden, sondern das ganze Leben muß von der Geisteswissenschaft befruchtet werden.

Als Beispiel sei noch ein Gebiet erwähnt, an dem wir ganz be­sonders sehen können, wie die geisteswissenschaftlichen Begriffe lebendig werden können im äußeren Leben. Ich will als Beispiel das Gebiet der Pädagogik, das Gebiet jeglicher Erziehungskunst wählen. Gehen wir aus von der Erziehung des Kindes durch den erwachsenen Menschen. Was macht sich eigentlich eine materialistische Zeitepoche für eine Vorstellung, wenn sie von der Erziehung des Kindes durch den erwachsenen Menschen spricht? Diese materialistische Zeitepoche sieht im Grunde genommen in beiden, in dem Erwachsenen und in dem Kinde, nur dasjenige, was die materialistische Anschauung gibt:

ein Alter erzieht einen Jungen. Aber so ist es ja nicht. Der Alte ist äußerlich nur die Maja und der Junge ist auch äußerlich nur die Maja. In dem Alten haben wir etwas, was nicht in der Maja unmittelbar enthalten ist, den unsichtbaren Menschen, der von Inkarnation zu Inkarnation geht, und im Kinde haben wir auch den unsichtbaren Menschen, der von Inkarnation zu Inkarnation geht.

Wir werden über solche Dinge noch sprechen. Aber ich will heute doch noch einiges anführen, was Ihnen im Verlaufe der Zeit - durch meditative Versenkung - das klarmacht, was es sonst in der Geistes­wissenschaft gibt, und will davon ausgehen, daß der Mensch, der uns sonst in der Außenwelt entgegentritt, überhaupt nicht erziehen kann, und daß der Mensch, der uns als Kind in der Außenwelt entgegentritt, überhaupt nicht erzogen werden kann. In der Tat erzieht etwas Un­sichtbares in dem Erzieher etwas Unsichtbares in dem zu Erziehenden. Richtig verstehen kann man die Sache nur, wenn man an dem Kinde, das aufwächst und das wir zu erziehen haben, das Augenmerk richtet auf das nach und nach sich entfaltende Ergebnis der vorhergehenden Inkarnationen. Aber wenn alles das, was aus den vorhergehenden Inkarnationen stammt, herausgewachsen ist, da ist es mit der Kinder­erziehung auch schon aus, da entzieht sich uns das Kind schon, be­sonders in der Gegenwart. Das, was wir eigentlich erziehen, ist das unsichtbare Ergebnis der früheren Inkarnationen. Das sichtbare Kind können wir nicht erziehen, auf das können wir nicht wirken. Wir

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wirken in der Tat auf das unsichtbare Ergebnis der früheren Inkarna­tionen. Das sichtbare Kind können wir nicht erziehen. So ist die Sache, wenn wir den Blick auf das Kind wenden.

Jetzt wenden wir den Blick auf den Erzieher. Der kann während der ersten sieben Jahre nur durch das erziehen, was sich an ihm nach­ahmen läßt, und durch das, wodurch er als Autorität Einfluß gewinnt während der zweiten sieben Jahre; er kann endlich in den nächsten sieben Jahren einen Einfluß gewinnen durch das, was durch freie Uneilskraft erzieherisch wirkt. Alles was da wirkt in dem Erzieher, ist ganz und gar nicht in dem äußeren physischen Menschen. Was wir da in uns haben als Erzieher, das bekommt seine physische Gestalt erst in unserer nächsten Inkarnation. Denn alles das, was in uns solche Eigenschaften sind, die nachgeahmt werden dürfen, oder was in uns solche Eigenschaften sind, die unsere Autorität begründen, ist keim-haft in uns vorhanden und wird unsere nächste Inkarnation gestalten. Unsere eigene nächste Inkarnation als Erzieher redet mit den früheren Inkarnationen des Zöglings. Das ist Maja, daß wir als jetzige Men­schen zum jetzigen Kinde reden. Wir fühlen nur richtig, wenn wir uns sagen: Dein Bestes in dir, was dein Geist denken, deine Seele fühlen kann, was sich vorbereitet in dir, um aus dir etwas zu machen in der nächsten Inkarnation, kann wirken auf das in dem Kinde, was aus uralten Zeiten in dem Kinde sich plastisch bilden will. Musika­lisch ist erst in uns das, was erzieherisch wirken kann. Plastisch in dem Kinde sich ausgestaltend ist dasjenige, worauf wir wirken sollen.

Nehmen Sie das zusammen, was ich in diesen Tagen gesagt habe über das Musikalische, wie es entspricht in seiner höchsten Aus­gestaltung dem, was in der Initiation an den Menschen herantritt. Das Musikalische bezieht sich auf alles Entwickelungsmäßige, auf das Zukünftige, das Plastisch-Architektonische auf das Vergangene. Das wunderbarste plastische Kunstwerk, das uns entgegentritt, ist das Kind. Das, was wir als Erzieher haben sollen, ist die musikalische Stimmung, die als Zukunftsstimmung in uns sein kann. Das aber zu fühlen, zu fühlen so, wie es jetzt angedeutet worden ist, auf dem pädagogischen Felde, das gibt eine gewisse besondere Nuance dem

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Sich-Gegenüberstellen als Erzieher dem Kinde, denn das ist geeignet, die höchste Pifichtanforderung an sich selber als Erzieher zu stellen, und das größtmöglichste Maß von Verständnis selbst bei den größten Ungezogenheiten hervorzurufen, die uns von dem Zöglinge ent­gegengebracht werden können. In dieser Stimmung liegt wirklich eine Kraft der Erziehung.

Wenn die Welt einmal sehen wird, wie dieses musikalische Ge­stimmtsein des Erziehers, verbunden mit der Anschauung der Plastik des Zöglings, die pädagogische Stimmung zu geben hat, wenn das durchdringen wird, wenn es sein wird das, was man von der erziehe­rischen Liebe, von der pädagogischen Liebe verlangen wird, dann wird die Pädagogik von der richtigen Luft durchtränkt sein, denn dann werden die Dinge so gesprochen, so gedacht, so gefühlt werden, daß lernen wird das Zukünftige selber das Vergangene lieben im Unterrichte, den der Erzieher erteilt. Dann werden wir finden, daß ein wunderbarer karmischer Ausgleich stattfindet zwischen dem Erzieher und seinem Zöglinge. Ein wunderbarer karmischer Aus­gleich.

Wenn der Erzieher egoistisch ist und nur anstrebt, aus dem Zög­ling dasjenige zu machen, was er selber ist, so ist die Erziehung eine rein luziferische. Luziferisch wird die Erziehung, wenn wir so viel als möglich den Zögling zum Abklatsch unserer eigenen Ansichten und Empfindungen machen wollen, uns nur freuen können, wenn wir heute etwas zum Zögling gesagt haben und er es morgen gleich nach-plappert oder nachmacht. Das ist eine rein luziferische Erziehung. Allerdings, eine ahrimanische Erziehung entsteht, wenn der Zögling unter unserer Erziehung so ungezogen als möglich wird und so wenig als möglich von uns annimmt. Aber zwischen diesen zwei Extremen gibt es, ebenso wie zwischen Lasten und Stützen, eine Gleichgewichtslage. Diese wird bewirkt durch das Musikalisch­Plastische, das ich auseinandergesetzt habe. Da müssen wir unter­scheiden lernen die Intentionen des Erziehers von dem, was aus dem Zögling wird. Wenn wir nur richtig gestimmt sind, werden wir die größten Freuden erleben, wenn wir uns bemühen, etwas ganz Be­stimmtes an den Zögling heranzubringen, und wir uns sagen können:

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Nun, das, was du gewollt hast, ist er nicht geworden, aber er ist etwas geworden, zwar nicht das, was wir ihm beigebracht haben, aber er ist etwas geworden. Das ist das Eigentümliche, daß der Erzieher nur dadurch seinen Erzieheregoismus abstreifen kann, wenn er den Wunsch überwindet, daß das, was er als gut und recht ansieht, und namentlich, was er selber gerne denkt, in dem Zögling ein Abklatsch werde. Wenn wir als Erzieher die Gelassenheit erreichen, daß der Zögling uns so unähnlich als möglich werden kann, dann haben wir das Schönste erreicht.

Man kann nun aber nicht sagen: Bitte, gib mir ein Rezept, wie man es macht, schreib mir ein paar Regeln auf, wie man erzieht in solcher Weise. - Das ist eben das Eigentümliche der geistigen Weltanschau­ung, daß man es nicht so machen kann mit einzelnen Regeln, sondern daß man wirklich auf die Geisteswissenschaft sich einlassen und sie aufnehmen muß, daß man sich durchdringen lassen muß von ihr, daß man die Gefühls- und Willensimpulse in sich bereichern lassen muß. Dann geschieht schon im einzelnen Falle, wo man hingestellt wird zu dieser oder jener Aufgabe im Leben, das Richtige. Die Hauptsache ist, daß wir es lebendig erfassen.

Man könnte nun fragen: Welches ist im Sinne der Geisteswissen­schaft die richtige Erziehungsmethode? Die richtige Antwort wäre:

Die beste geisteswissenschaftliche Erziehungsmethode bestünde dar­innen, daß möglichst viele Erzieher in die Geisteswissenschaft sich lebendig vertiefen und die Gefühle sich aneignen, die aus der Geistes-wissenschaft kommen. Das ist allerdings das, was unbequemer ist, als so ein Handbüchlein der geisteswissenschaftlichen Erziehungskunst durchzulesen. Immer und immer wieder wird aber an die Geistes­wissenschaft die Frage gestellt: Welches ist, in bezug auf dieses oder jenes, der geisteswissenschaftliche Standpunkt? Ja, die Geisteswissen­schaft hat keinen Standpunkt oder, wenn Sie wollen, so viele Stand­punkte als das Leben. Aber die Geisteswissenschaft muß selber Leben werden. Die Geisteswissenschaft selber muß man aufnehmen und in sich beleben, dann wird sie auf den verschiedenen Gebieten des Lebens ihre Früchte entfalten können. Dann werden die Menschen hinaus­kommen über das, was das Leben so austrocknet, was für das Leben

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so ertötend ist, über das Verlangen nach Einförmigkeit, könnte man sagen. Die äußere Wissenschaft verlangt die Einförmigkeit, die Gei­steswissenschaft gibt Mannigfaltigkeit, jene Mannigfaltigkeit, die auch die Mannigfaltigkeit des Lebens selber ist. So wird die Geistes­wissenschaft auch in bezug auf das Leben in dessen weitestem Bereich umgestaltend wirken müssen.

Denn nehmen wir einmal das Leben, wie es auf mancherlei Ge­bieten heute ist. Man lernt bis zu einem gewissen Alter; man lernt bis zu einem gewissen Alter dieses, bis zu einem andern Alter jenes. Dann aber kommt die Zeit, wo man, wie man sagt, ins Leben eintritt und nicht mehr lernen will; selbst wenn man irgendeinen wissenschaft­lichen Beruf hat, so will man nicht mehr gern lernen. Diejenigen, die dann noch lernen, mit ihrer Wissenschaft mitgehen, werden in unserer Zeit schon als seltene Tiere angesehen. Aber im ganzen verläuft das Leben doch zumeist so, daß man bis zu einem gewissen Lebensalter lernt und dann seine freie Zeit zubringt mit Kartenspiel oder andern unnützen Dingen, oder daß man solch eine Gesinnung entwickelt, wie sie mir einmal entgegengetreten ist. Ich wurde nämlich einmal auf­gefordert von einem Kreise, in dem einige bildungsbedürftige Damen waren, zu einer Serie von literarisch-historischen Vorträgen. Nun kann man sagen, daß das noch weichere, man kann meinetwegen sagen, zurückgebliebenere Gehirn der Damen in unserer Zeit noch etwas mehr behalten hat von jenen alten Zeiten, in denen man bild­sam das Gehirn erhalten wollte und das ganze Leben hindurch gelernt hat. In der Frauenwelt findet man das wirklich häufiger als in der Männerwelt. Aber diese Frauen hatten das Gefühl, daß sie zu diesem Vortragszyklus auch die Männer mitbringen müßten. Die Männer waren also dabei. Nicht alle schliefen ein, einzelne hörten wirklich zu. Aber dann wurde gesprochen, Tee getrunken und Kuchen gegessen, also das getan, was in manchen Kreisen als eine ganz notwendige Beigabe angesehen wird, wenn die Vorträge nicht allzu trocken sein sollen. Also es wurde auch gesprochen. Da hörte ich von manchen der Männer, nachdem ich über Goethes «Faust» vorgetragen hatte, das Urteil: Ja, den «Faust» auf der Bühne zu sehen, ist eigentlich kein künstlerischer Genuß, das ist auch kein Vergnügen, das ist eine

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Wissenschaft. - Und damit wollten sie darauf aufmerksam machen, daß, wenn ein Mensch den ganzen Tag im Büro gearbeitet hat, oder seine Kundschaft bedient hat, oder vor dem Gerichtstische gestanden, Zeugen verhört, Angeklagte verurteilt hat, er dann des Abends nicht mehr Goethes «Faust» anhören kann, sondern etwas braucht, was ein Vergnügen und keine Wissenschaft ist.

Ich will mit diesem nur beispielsweise eine allgemeine Gesinnung in unserer Zeit andeuten, die Ihnen zweifellos bekannt ist. Man braucht sie nur anzuschlagen, so weiß jeder, daß sie sehr, sehr ver­breitet ist und daß es viele Menschen gibt, die es ganz gewiß sonder­bar finden werden, daß wir uns hier so schulmäßig zusammensetzen und, trotzdem manche von uns schon ein reichliches Alter erreicht haben, immer noch etwas in uns aufnehmen wollen in der Zeit, die man nach ihrer Meinung viel nützlicher verwenden könnte. Aber gerade darinnen wird ein völliger Umschwung sich vollziehen müssen, daß der Mensch nicht bloß den lernmäßigen Zusammenhang mit der Geisteswissenschaft wird haben wollen, sondern den lebendigen, fort­dauernden Zusammenhang. Das ist es, was kommen wird. Die Gei­steswissenschaft kann man nicht so in sich aufnehmen, wie man kompendienmäßig andere Wissenschaften aufnehmen kann, sondern die Geisteswissenschaft muß lebendig bleiben. Sie wird tot, wenn man ihren Inhalt nur aufgenommen hat und nicht im lebendigen Betriebe vereinigt mit ihr bleibt. Sie wird tot, sie stirbt ab, sie muß aber immer lebendig erhalten bleiben. In diesem Sinne muß die Geistes-wissenschaft belebend wirken, sie muß das Menschenherz offen er­halten für alles das, was einfließen kann von der geistigen Welt in das Menschenherz, damit wir einer fortwährenden Evolution unter­liegen.

Zweifellos hat unsere Menschheit in unserer Epoche im ganzen etwas, was man nennen kann: sie ist alt geworden, sie hat nicht mehr im ganzen jene Jugendlichkeit, die sie in den mythischen Zeiten hatte. Die Geisteswissenschaft muß wieder ein Verjüngungstrank werden für die Menschen, so daß sie sich fühlen können ihr ganzes Leben hindurch als Schüler des Daseins. Auch da können wir merkwürdige Dinge in der Gegenwart erleben. Ich kenne einen geistig regsamen

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Mann, einen Mann, der sich sein ganzes Leben lang mit allen mög­lichen Ingredienzien unserer gegenwänigen Geisteskultur beschäftigt hat. Er hat vor kurzem seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Da hatte er eigentümliche Ansichten in einer Art von Feuilleton ge­äußert. Er hat zum Beispiel gesagt: Ja, man hat - ich möchte die Sache ein wenig künstlerisch umgestalten, damit man nicht errät, wer es ist - mir angeboten einen künstlerischen Posten, nach dem ich mich viele Jahre gesehnt habe. Aber ich kann ihn jetzt eigentlich nicht mehr so recht wollen, nachdem ich das fünfzigste Jahr, die Greisen-jahre, erreicht habe, denn, um emen solchen Posten auszufüllen, um auf die Menschen so zu wirken, die um einen herum sind und die man anregen muß, dazu muß man jung sein, dazu muß man eine phanta­stische Illusion entwickeln können. Und diese Illusion muß darin bestehen, daß das, was man da zu tun hat, und daß die Menschen, mit denen man zu tun hat, die ganze Welt sind und daß alles andere wertlos ist. Das eigentlich Wertvolle ist das, was ich da um mich herum habe. Das Alter, in dem ich das hätte machen können, hatte ich vor fünfzehn Jahren. Jetzt ist es vorüber. Man sollte nicht warten, bis die Menschen Greise geworden sind, um sie in einflußreiche Stellungen zu bringen, sondern sie zum Beispiel zu Hofräten machen schon zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Jahre. - So ungefähr sagte dieser «alte» Mann.

Es ist eine Stimmung, die durchaus, ich möchte sagen, im Tone oder im Timbre des Tones unserer Zeirkultur liegt. Es ist eine Stim­mung, zu der der Mensch sehr leicht kommen kann, wenn er sich aus­einandersetzt mit dem, was die materialistische Zeitkultur aus dem Menschen machen kann, denn sie hat nicht die Kraft, den ganzen Menschen zu erfüllen, sie hat nicht die Kraft, den ganzen Menschen durch das, was er an Inhalt aufnimmt, so recht in seinem Gemütsleben zu gestalten, daß das vorhält bis in sein höheres Alter. Die Geistes­wissenschaft will aber den Beweis liefern, daß der Mensch, wenn er auch äußerlich alt wird, innerlich seelisch jung bleiben kann, und daß er sehr wohl, wenn er es bis zum fünfzigsten Jahre zu nichts Besonde­rem gebracht hat, auch noch im fünfzigsten Jahre zwar sich nicht der Illusion hinzugeben vermag, daß das, was er tut, das Wichtigste sei

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und alles andere dem Weltuntergange verfallen kann. Aber er kann so jung sein, daß er dem, was er zu tun hat, alle seine Kräfte weihen kann. Er kann es so jugendlich, und ich möchte sagen, kindlich erfassen, so daß er alle seine Kräfte konzentriert auf dasjenige, was ihm obliegt, wie das Kind alle seine Kräfte konzentriert auf sein Spiel. Ein ver­jüngender Zaubertrank, nicht bloß eine Theorie, muß die Geistes­wissenschaft werden. Das ist auch ein umgestaltender Impuls. Von andern umgestaltenden Impulsen werde ich morgen sprechen.

SIEBENTER VORTRAG Dornach, 3. Januar 1915

#G275-1966-SE130 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

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SIEBENTER VORTRAG

Dornach, 3. Januar 1915

#TX

Wenn Sie sich erinnern an die Auseinandersetzungen, die gepflogen worden sind im Zusammenhang ruit der Entwickelung der Erde über die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit, so werden Sie wissen, daß auf jeder dieser Stufen der Evolution eine bestimmte Wesensart, die wir heute zu den Wesensarten der höheren Hierarchien rechnen müssen, gewissermaßen die Menschheitsstufe erreichte. Wir wissen, daß wäh­rend der alten Saturnzeit diejenigen geistigen Wesenheiten die Menschheitsstufe erreichten, die wir nennen die Geister der Persön­lichkeit, die Urbeginne, die Archai, daß während der Sonnenzeit ihre Menschheitsstufe erreichten die Archangeloi, während der Monden­zeit die Angeloi und während der Erdenzeit die Menschen.

Nun ersehen Sie aber auch aus all den Betrachtungen, die im Zu­sammenhange mit den Evolutionen gepflogen worden sind, daß jede Stufe von Wesenheiten, die in der folgenden Zeit eine bestimmte Entwickelung erreichte, vorbereitet worden ist. Wir wissen, daß der Mensch vorbereitet worden ist durch die Saturn-, Sonnen- und Mon­denzeit, daß dasjenige, was wir heute als den vollkommenen physi­schen Menschenleib bezeichnen, eine Evolution durchgemacht hat schon seit der Saturnzeit, daß der Ätherleib eine Evolution durch­gemacht hat seit der Sonnenzeit, der Astralleib seit der Mondenzeit, und daß das Ich erst hinzugekommen ist während der Erdenzeit, so daß also die Gesamtheit einer solchen Wesensart vorbereitet wird.

Es kann Ihnen die Frage gewissermaßen auf dem Herzen liegen:

Werden denn auch in unserer Zeit solche Wesenheiten vorbereitet, welche während der Jupiterzeit die Menschenstufe erreichen? - Nun wissen Sie aber auch, daß während der Saturn-, Sonnen- und Monden­zeit - Sie brauchen nur die Darstellung in meinem Buche «Die Ge­heimwissenschaft» nachzusehen - an dervorbereitung zum Menschen-tum die Geister der höheren Hierarchien teilgenonunen haben. Es ist da dargestellt worden, wie die Angeloi, Archangeloi und Archai an dem Zustandekommen der menschlichen Wesenheiten teilgenommen

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haben, und so liegt es nahe, sich die Frage vorzulegen: Arbeiten vielleicht auch die Menschen durch ihr Erdensein an denjenigen Wesen vorbereitend, die während der Jupiterzeit die Menschheits­stufe erreichen werden?

Das ist eine Frage, die gewiß jedes fühlende Herz - fühlend in dem Sinne, wie wir es in den vergangenen Tagen im Zusammenhang mit den Anregungen durch die Geisteswissenschaft fühlend genannt haben - als eine Lebensfrage betrachten muß. Denn es könnte sein, daß des Menschen Benehmen im ganzen während der Erdenzeit etwas fördern oder verfehlen könnte in bezug auf diejenigen Wesenheiten, welche während der Jupiterzeit die Menschheitsstufe erreichen könn­ten. Man möchte sagen: Was können wir denn Schlimmeres tun, als während der Erdenevolution uns in einer Weise zu benehmen, die es unmöglich macht, daß aus unseren Taten die richtigen Jupiterwesen hervorgehen? - Nun muß man allerdings einen gewissen guten Er­kenntniswillen voraussetzen, wenn man über diese Dinge sprechen will, denn indem man über diese Dinge spricht, berührt man wahr­haftig schon wichtige Geheimnisse der Initiation, solche Geheimnisse der Initiation, welche der heutigen Wissenschaft selbstverständlich ein Greuel sind. Da muß man sich schon vorbereiten durch sein Gefühl, anzusehen, wie diese heutige Wissenschaft zu den eigentlichen Lebenswahrheiten notwendigerweise stehen muß.

Ich habe schon versucht, in den vorhergehenden Vorträgen einiges zu charakterisieren über das notwendige Verhältnis der heutigen Wissenschafr zum Leben. Sie kann nicht unmittelbar an die Geheim­nisse des Lebens heran. Sie kann dies auch nicht wollen; sie muß sich nur nicht anmaßen, an diese Geheimnisse des Lebens herankommen zu wollen. Für diejenigen, welche gern Eier essen, wenn sie hart-gesotten sind, ist es sicher gut, wenn man Eier hart siedet, und dann haben hartgesottene Eier einen guten Zweck eben für die, welche sie genießen. Aber wenn jemand hingehen wollte und sagen: Man nehme den Hühnern die Eier weg, um sie hart zu sieden und sie dann nachher von ihnen ausbrüten zu lassen -, so würde ein solcher etwas Absurdes unternehmen. Ganz dasselbe unternimmt in bezug auf den Kosmos derjenige, welcher die Geheimnisse des Kosmos enträtseln

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will und mit dem heutigen Wissen daran gehen will, sie zu enträtseln, was wirklich dem Verhalten desjenigen entspricht, der hartgesortene Eier ausbrüten lassen will, aus denen sich nichts mehr ausbrüten läßt.

Inwiefern diese Wissenschaft als zusammenhängend mit dem ganzen heutigen Denken in vieler Beziehung gerade für die wahren Rätsel des Lebens irreführend sein muß, kann Ihnen anschaulich werden durch einen Vergleich, den ich jetzt machen möchte. Nicht wahr, wenn jemand sich auslassen will über das Förderliche oder Schädliche der Wissenschaft, so wird er zunächst versuchen, die Frage so zu stellen: Hat diese Wissenschaft da oder dort Recht? - Und wenn er beweisen kann, daß sie da oder dort Recht hat, so wird er selbst­verständlich auf sie schwören.

Ja, aber das ist es gerade, wovon wir abkommen müssen, daß wir diese Frage, ob das, was die Wissenschaft sagt, richtig oder nicht richtig ist, für so wichtig halten. Wir müssen dahinkommen, daß wir diese Frage nicht als die Hauptsache betrachten, wenn es sich darum handelt, die Rätsel des Lebens zu lösen. Wenn jemand einen Wagen sieht, der von Pferden gezogen ist und auf dem ein Mensch sitzt, so wird derjenige, der das sieht, ganz gewiß Recht haben, wenn er sagt:

Die Pferde ziehen diesen Menschen auf dem Wagen, sie ziehen ihn nach sich. - Das ist zweifellos richtig. Und derjenige, der behaupten wollte, die Pferde ziehen nicht den Wagen und den, der auf dem Wagen sitzt, der würde selbstverständlich etwas Unrichtiges behaup­ten. Aber ebenso wahr ist es, daß der Mensch, der darauf sitzt, bewirkt durch die Art, wie er die Pferde dirigiert, wohin die Pferde ihn ziehen sollen, und das ist ganz gewiß das Wichtigere, das Wesentlichere, worauf es ankommt für die Erreichung dessen, was erreicht werden soll. Die heutige Wissenschaft gleicht eben der Behauptung desjeni­gen, der leugnet, daß der Mann auf dem Wagen die Pferde lenkt, und der nur zugeben will, daß die Pferde den Mann auf dem Wagen ziehen.

Wenn Sie diesen Vergleich sich genauer ausdenken, so werden Sie sich über das Verhältnis der heutigen Wissenschaft zur heutigen Wahrheitsforschung die richtigen Ideen aneignen können. Ich muß diese Dinge immer wieder sagen aus dem Grunde, weil der auf dem

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Boden unserer Weltanschauung Stehende immer mehr und mehr in die Lage kommen muß, diese unsere geisteswissenschaftliche Welt­anschauung gegenüber den Angriffen der heutigen Weltanschauung zu verteidigen, zu sichern. Das kann man aber nur, wenn man wirklich sich aufklärt über das Verhältnis der heutigen äußeren Wissenschaft zu der echten Wahrheitsforschung. Immer muß man mit ganz be­stimmten Empfindungen, mit ganz bestimmten Gefühlsnuancen an die Fragen der Geisteswissenschaft herangehen, sonst kommt man mit ihnen nicht zurecht.

Nun hängt die Frage, die wir berührt haben, die Frage nach den­jenigen Wesenheiten, welche auf dem Jupiter die Menschenstufe er­reichen werden, in der Tat mit den tiefsten Fragen der Erdenevolution des Menschen zusammen. Es gibt in unserer Erdenevolution etwas, demgegenüber immer philosophische Bestrebungen da waren, das ist das Verhältnis des sittlichen, des ethischen Handelns zu dem natür­lichen Dasein des Menschen. Der Mensch muß ja unterscheiden als Erdenwesen, inwiefern er ein Wesen ist, das von seinen Trieben be­herrscht ist, das seinen Trieben folgt, das diese Triebe befriedigen muß, das gegenüber diesen Trieben und ihrer Befriedigung nichts vermag, weil sie einfach nach Naturgesetzen befriedigt werden müssen. Das ist die eine Seite der menschlichen Natur. Ihr gegenüber sagen wir: Das, was wir tun, müssen wir tun. Wir müssen essen, wir müssen schlafen. - Aber es gibt ein anderes Gebiet des menschlichen Ver­haltens auf der Erde, das ist das Gebiet, demgegenüber wir von einem Müssen nicht reden können, das allen Sinn verlieren würde, wenn wir von einem Müssen sprechen würden. Das ist das weite Gebiet des Sollens, das Gebiet, wo wir gegenüber allen Trieben, gegenüber all-dem, was auf naturgemäße Weise aus unserer Natur folgt, emp­finden: Wir müssen einem rein geistigen Impulse folgen. - Das «Du sollst» ist niemals etwas, was triebartig zu uns spricht, sondern etwas, was richtunggebend auf rein geistige Art zu uns spricht. Dieses «Du sollst» umfaßt das Gebiet unserer sirtlichen Pflichten.

Es gibt Philosophien, die gar nicht finden können den Zusammen­hang zwischen dem «Du sollst» und dem «Du mußt». Und unsere im Materialismus gerade dann schon, wenn es sich um das sittliche Leben

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handelt, fast versumpfende Gegenwart - sie wird noch immer mehr versumpfen -, möchte gleichsam alles «Du sollst» überhaupt in ein «Du mußt» verwandeln. In dieser Beziehung gehen wir Zeiten ent­gegen, in denen die Verwandlung des «Du sollst» in ein «Du mußt» mit einem gewissen Hochmut geradezu als Psychologie ausposaunt wird. Schlimme Aspekte bieten sich dar, wenn man die Anfänge des­jenigen, was sich in Zukunft noch auswachsen wird, zum Beispiel als Kriminalpsychologie, ins Auge faßt. Da sehen wir schon heute, wie angefaßt wird der Mensch so, daß man nicht frägt, hat er ein «Du sollst» übertreten, sondern man sucht nachzuweisen, wie er zu dieser oder jener den Menschen schädigenden Tat durch ein Müssen seiner Natur getrieben, angespornt worden ist. Kuriose Versuche werden immer mehr und mehr angestellt, Verbrechen nur als einen besonde­ren Krankheitsfall in der Welt zu charakterisieren. Alle diese Dinge gehen hervor aus einer gewissen materialistischen Unklarheit unserer Zeit über die Beziehung des «Du sollst» zu dem «Du mußt».

Dieses «Du sollst», was man auch den kategorischen Imperativ genannt hat, was hat es im gesamten Zusammenhang des mensch­lichen Daseins eigentlich zu bedeuten? Derjenige, welcher dem «Du sollst» folgt, begeht bekanntlich eine sittliche Handlung. Derjenige, der dem «Du sollst» nicht folgt, begeht eine unsittliche Handlung. Das ist ja eine recht triviale Wahrheit. Aber nun versuchen wir einmal «sittlich» und «unsittlich» nicht nur in bezug auf die äußere Maja des physischen Planes anzusehen, sondern versuchen wir sittlich und un­sittlich anzusehen in bezug auf die Wahrheit und in bezug auf das­jenige, was hinter der Maja des physischen Planes eigentlich steht. Da nimmt sich das Moralische, das Ethische, das Sittliche, das, was dem

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wie er aushaucht, und wie der Hauch durch das Eindringen in die Luft sichtbar wird als Dunst. Selbstverständlich ist für die materialistische Wissenschaft dieser Hauch, den der Mensch von sich gibt - bei Pferden kann man es noch besser sehen, aber wir reden jetzt, wie ge­sagt, nicht von Pferden -, etwas, was verflartert und zerffießt und keine weitere Bedeutung hat. Aber für denjenigen, der mit der Wissen­schaft der Initiation die Erscheinungen des Lebens verfolgt, ist dieser Aushauch insofern bedeutsam, als er in seiner Nuancierung genau die Spuren des sittlichen oder unsittlichen Verhaltens des Menschen trägt. Das sittliche oder unsittliche Verhalten des Menschen ist in dem wäßrigwerdenden Hauch zu erkennen, und ganz anders ist der wäßrig­werdende Hauch bei einem zur Sittlichkeit hinneigenden Menschen und anders bei einem zum Unsittlichen hinneigenden Menschen. Sie wissen, daß bei mancherlei, was in der menschlichen Natur ist, die feineren Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur auch erst in den feineren Teilen der ätherischen und astralischen Aura beobachtet wer­den können. Aber dasjenige, was im gewöhnlichen Sinne des Wortes der Mensch als sittliches oder unsittliches Wesen ist, das zeigt sich schon in dem ätherisch-astralischen Einschiag, der in dem wäßrig­werdenden Hauch enthalten ist. Was physisch daran ist, zerflartert, das aber, was sich in dem Hauch verkörpert, das zerflattert nicht, denn das enthält ein dämonisches Wesen, und in dem ist enthalten, wenn der Hauch wässerig wird, ein Physisches, ein Ätherisches und ein Astralisches, nur daß das Physische nicht erdig ist, sondern eben nur wässerig. Also etwas, was in der mannigfaltigsten Weise Gestal­tung hat, zeigt sich in diesem Aushauch.

Bei Taten, die aus Liebe entstanden sind, zeigt sich etwas anderes als bei Taten, die zum Beispiel aus Enthusiasmus, aus schöpferischem Drang, aus Vervollkommnungsdrang entstanden sind. Aber immer hat diese Aushauchgestalt etwas, was erinnert an Wesenheiten, die es jetzt noch gar nicht gibt auf der Erde. In diesen Wesenheiten bereiten sich diejenigen vor, welche die Menschheitsstufe auf dem Jupiter er­reichen werden. Das sind die ersten, voraneilenden Schattenbilder, die sich verändern und auch fernerhin verändern werden, um auf dem Jupiter dann zur Menschheitsstufe aufzusteigen.

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Wir verdanken auch in einer gewissen Weise dem Ausatmungs­prozesse der Angeloi auf dem Monde unsere Entstehung, und es gehört wiederum zu den erschütternden Erfahrungen des geistigen Lebens, wenn man von einer solchen Erkenntnis ausgeht, daß sich in dem Aushauch die künftigen Jupitermenschen vorbereiten, daß aus dem, was heute die Menschen aushauchen, sich entwickeln werden die zukünftigen Jupitermenschen. Wenn man mit einer solchen Er­kenntnis an die Bibel herangeht und liest die ersten Worte der Bibel, dann kann man sich sagen: Jetzt fängt man an zu verstehen, wie das gemeint ist, wenn da steht, daß Hauche ausgeatmet worden sind von den Elohim, und daß sie durch den Hauch, den sie den Menschen ein­bliesen, den Erdenmenschen formten.

Ich kann Ihnen das Geständnis machen, daß ich niemals verstanden hätte dieses Einhauchen der Elohim, das Einhauchen in den Mund und die Nase der lebendigen Wesenheit des Menschen, wenn ich nicht vorher gewußt hätte, daß auch im Aushauch des Erdenmenschen die ersten Keime enthalten sind derjenigen Wesen, die auf dem Jupiter erst Menschen werden. Aber Jupitermenschen können nur werden diejenigen Aushauche, die ihr Dasein verdanken den Handlungen, die dem «Du sollst» folgen, die also sittliche Handlungen sind.

So sehen wir, wie wir in die ganze kosmische Ordnung eingreifen mit unserer Erdensittlichkeit. So sehen wir, daß unsere Erdensittlich­keit in der Tat eine schöpferische Macht ist, und wir sehen, daß es in der Geisteswissenschaft einen starken Antrieb gibt zu Impulsen für das sittliche Handeln, denn wir wissen, wir stellen uns entgegen der Schöpfung der Jupitermenschen, wenn wir auf der Erde nicht sittlich handeln. Sittlichkeit, die der Ausdruck ist des «Du sollst», gewinnt so in der Tat einen realen Wert, einen Existenzwert. In einer inten­siven Weise formt unser menschliches Verhalten dasjenige, was wir aus der Geisteswissenschaft übernehmen können, wenn wir also real mit dem Kosmos zusammenhängende Geheimnisse erkennen.

Auf ähnliche Dinge ist schon früher aufmerksam gemacht worden, indem da oder dort die Bemerkung gemacht worden ist, was wiederum die Sprache für ein Symbolum ist für das zukünftige Schaffen des Menschen selber. Darauf will ich aber heute nicht eingehen, sondern

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ich wollte zunächst nur zeigen, welche Bedeutung das sittliche Ver­halten im Ganzen des Kosmos hat.

Nun können Sie aber die Frage aufwerfen: Wie ist es nun mit dem unsittlichen Verhalten? - Auch das unsittliche Verhalten spricht sich in der inneren Gestaltung, in der Formierung des Hauches aus. Aber das unsittliche Verhalten prägt dem Hauche eine dämonische Gestalt ein. Dämonen werden geboren durch das unsittliche Verhalten des Menschen. Versuchen wir uns zunächst klarzumachen den Unter­schied zwischen den Dämonen, die durch das unsittliche Verhalten entstehen, und den geistigen Wesenheiten - geistig insofern, als sie es auf Erden nur zu einem wäßrigen Dasein bringen -, den geistigen Gestalten, die durch die sittlichen Handlungen geschaffen werden.

Diejenigen Wesenheiten, die bis zu einem vorübergehenden wäßri­gen Dasein im Hauche kommen und die aus dem sittlichen Verhalten hervorgehen, sind Wesen, die einen astralischen, einen ätherischen und endlich einen physischen Leib haben, der bis zur Wäßrigkeit verdichtet ist, so wie wir während des Mondendaseins einen ätheri­schen, einen astralischen und einen physischen Leib hatten, und der physische Leib auch nur bis zu einer Art von Wäßrigkeit verdichtet war. Es war schon auch mit uns so während des Mondendaseins, wenn auch nicht genau so. Und in diesem Gebilde, das da aus den sittlichen Handlungen entsteht und das aus physischem Leib, Äther-leib und Astralleib besteht, ist die Aniage, das Ich aufzunehmen, so wie in unserem physischen, Äther- und Astralleib während der Mondenzeit die Anlage war, ein Ich aufzunehmen. Die Anlage, ein Ich aufzunehmen, ist also darinnen. Solche Wesenheiten sind zum regulär fortschreitenden Dasein im Kosmos berufen, sie gehen einen regulären Weg. Die andern Wesenheiten, die als Dämonen durch die unsittlichen Handlungen geschaffen werden, haben auch selbstver­ständlich astralischen Leib, ätherischen Leib und den physischen Leib bis zur Wäßrigkeit, aber sie haben nicht die Anlage, ein Ich zu ent­wickeln. Sie kommen gleichsam geköpft zur Welt. Statt daß sie die Anlage in sich aufnehmen, fortzuschreiten in der regulären Evolution zum Jupiterdasein, lehnen sie diese Anlage ab. Sie verurteilen sich dadurch zu dem Schicksale, aus der Evolution herauszufallen. Dadurch

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aber vermehren sie die Scharen der luziferischen Wesenheiten. Sie gelangen unter die Gewalt der luziferischen Wesenheiten. Sie müssen dadurch, weil sie zu keinem regelmäßig veranlagten Dasein kommen können, ein Parasitendasein führen. Alle Wesenheiten, welche ein regelmäßig veranlagtes Dasein ablehnen, müssen ein Para­sitendasein führen, müssen sich, um fortzukommen, woanders an­setzen. Diejenigen Wesenheiten, die durch unsittliche Handlungen entstehen, haben insbesondere das Bestreben, ein Parasitendasein zu führen, indem sie die menschliche Evolution auf der Erde ergreifen unter der Leitung des Luzifer, dem sie sich untergeordnet haben, in­dem sie die Evolution beim Menschen ergreifen, bevor dieser physisch zur Welt gekommen ist. Den Menschen in der Embryonalzeit befallen sie und führen bei dem noch ungeborenen Menschen, in dem Leben des Menschen zwischen Empfängnis und Geburt, ein parasitäres Da­sein. Manche Wesen, die stark genug sind, können dieses Dasein noch fortsetzen, wenn der Mensch schon zur Welt gekommen ist, und zeigen uns dann die Erscheinungen, die auftreten können bei gewissen besessenen Kindern.

Dieses, was aus dem parasitären Dasein hervorgeht, das die Ver­brecherdämonen bei noch ungeborenen Menschen führen, ist das­jenige, was die Generationenfolge verschlechtert, was die Menschen benagt, so daß sie nicht so gut werden können, als sie werden würden, wenn es solche Dämonen nicht gäbe. Alles dasjenige, was mit dem Niedergang der Geschlechter, Stämme, Völker und Nationen zu­sammenhängt, kommt aus mancherlei Ursachen, aber auch daher, daß die Verbrecherdämonen ein parasitäres Dasein führen beim Menschen in der Periode, von der ich gesprochen habe.

Das sind Dinge, welche eine große Rolle spielen in der ganzen Erdenevolution, und wir berühren mit solchen Dingen, wie gesagt, wirklich tiefe Geheimnisse des menschlichen Daseins. Gewisse Vor­urteile, gewisse Anschauungen prägen sich dadurch oftmals den Men­schen schon ein, bevor sie noch durch die Geburt ins Dasein getreten sind. Und die Menschen werden auf diese Weise geplagt von Zweifeln, von Unsicherheiten im Leben, von allem möglichen, was damit zusam­menhängt, daß solche dämonischen Wesen ein solches Dasein führen.

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Mit dem, was der Mensch in sich von dem Momente an entwickelt, wo sein Ich auftritt, können diese Wesenheiten nicht mehr viel machen, aber um so mehr können sie ihr parasitäres Dasein entwickeln in der Zeit, bevor der Mensch geboren ist oder noch in den ersten Kindheitsjahten. So sehen wir, daß auch die bösen Handlungen ihre bedeutsame kosmische Wirkung haben, daß sie schöpferisch sind, aber so schöpferisch sind, daß sie sich hinwenden, ich möchte sagen, zum alten Mondendasein. Denn das, was der Mensch in der Zeit durchmacht, von der eben gesprochen worden ist, wo diese dämoni­schen Wesen ein parasitäres Dasein führen können, ist im wesentlichen die Erbschaft der alten Mondenzeit, die in allerlei unterbewußtem, instinktivem Verhalten zum Vorschein kommt. Es ist etwas, das aus früheren, besseren Zeiten her selbst die physische Wissenschaft noch unter ihren Instinkten bewahrt hat, indem sie die Embryonalzeit des Menschen auf der Erde nicht nach den gewöhnlichen Monaten, son­dern nach den Mondmonaten berechnet und daher von zehn Mond-monaten spricht und manches andere noch weiß von einem Zusam­menhang dieser Entwickelung mit dem Verlaufe der Mondenphasen.

So sehen wir, daß in unserer Erdenentwickelung ein Zweifaches enthalten ist: in den guten Handlungen die Tendenz, an der Schöp­fung des Irdischen weiterzuarbeiten nach dem Jupiterdasein län, da­mit auf dem Jupiter das entstehen könne, was dem Menschen nach­folgen muß als der nächste Mensch. Aber es ist durch die bösen Handlungen zugleich unserer Evolution die Tendenz eingeprägt, die Erde wiederum zurückzubringen in die alte Mondenzeit, sie abhängig zu machen von alledem, was mit den unterbewußten Impulsen zu­sammenhängt. Wenn Sie nachdenken, so werden Sie vieles, vieles finden, was mit solchen unterbewußten Impulsen zusammenhängt, und viel mehr als in den Zeiten, in denen die Menschen noch nicht so materialistisch waren, ist von solchen Impulsen vorhanden in der materialistisch gewordenen Menschheit der neueren Zeit.

Ich glaube, gerade an Beispielen einer solchen Erkenntnis, wie sie heute wiederum gegeben worden sind, zeigt es sich, daß man fühlen kann, wie tief eingreifend die Geisteswissenschaft in die menschliche Lebensauffassung sein kann, daß sie wahrhaftig nicht nur etwas sein

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wird, was dem Menschen Theoretisches gibt, sondern daß sie etwas sein wird, was das Leben des Menschen neu zu regeln imstande sein wird. Zeiten werden kommen, in denen dieses Leben ganz chaotisch werden wird, wenn die Menschen nicht die Möglichkeit ergreifen werden, es aus den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen heraus zu regeln. Hinaus muß der Mensch mit seinen Erkenntnissen aus der Eingeschlossenheit der Erkenntnis, die nur an die physische Leiblich­keit gebunden ist. Unsere materialistische Zeit will keine andern Er­kenntnisse als diejenigen, die nur an die physische Leiblichkeit ge­bunden sind. Aber der Mensch muß hinaus mit seinen Erkenntnissen aus dieser physischen Leiblichkeit. Und dasjenige, was wir heute an­erkennen als die ersten Übungen, die erwähnt worden sind in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», wird dem Menschen nach und nach - das «nach und nach» wird allerdings noch eine längere Zeit dauern - etwas Natürliches werden, etwas, was der Mensch mit Selbstverständlichkeit zu seinem Leben rechnen wird. Namentlich dasjenige, was wir als Gedankenkonzentration bezeich­nen, wird dem Menschen etwas Natürliches werden.

Der Mensch wird immer mehr und mehr die Notwendigkeit an­erkennen, sich wirklich gedankenmäßig zu konzentrieren, zu richten sein ganzes Seelenleben auf scharf umrissene Gedanken, die er sich hinstellt vor sein Bewußtsein. Während er sonst seine Sinne schweifen lassen würde von Ding zu Ding, von Tatsache zu Tatsache, wird er immer mehr und mehr, wenn auch nur für kurze Zeit, das Gedanken-leben richten auf bestimmte Dinge, die er sich auswählt, auf einen bestimmten Gedanken wird er sich konzentrieren, um das ganze Seelenleben in diesem Gedanken zusammenzuhalten. Dabei wird der Mensch eine Erfahrung machen, eine Erfahrung, die viele von Ihnen hier schon ganz gut kennen. Im Verlaufe der Konzentration ergibt sich für alle eine bestimmte Erfahrung. Wenn wir einen Gedanken in den Mittelpunkt des Bewußtseins rücken und unser ganzes Seelen-leben auf ihn lenken, auf ihn uns konzentrieren, so merken wir, der Gedanke wird immer stärker und stärker. Gewiß. Aber dann kommt ein Punkt, wo er nicht mehr stärker wird, sondern wo er schwächer wird und verblaßt. Das ist eine Erfahrung, die viele von Ihnen kennen.

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Er muß so verblassen, der Gedanke, er muß gleichsam innerlich ersterben. Denn so, wie wir den Gedanken zunächst haben, wie wir zunächst denken, so denken wir durch das Werkzeug des physischen Leibes, und die Art, wie wir durch das Werkzeug des physischen Leibes denken, die konzentrieren wir, aber erst in dem Momente schiüpfen wir heraus aus dem physischen Leibe, wo der Gedanke, der konzentriert ist, erstirbt.

Wir würden nun überhaupt in das Unbewußte gehen, wenn wir nicht, parallel mit dieser Konzentration, etwas anderes versuchen würden, wodurch wir, wenn wir hinausschiüpfen aus unserem physi­schen Leibe, uns doch bewußt draußen erhalten. Wir nennen das­jenige, was wir tun müssen, um uns draußen bewußt zu erhalten, ein gelassenes Leben haben, gelassen die Dinge der Welt hinnehmen. Wir können noch mehr tun, als gelassen die Dinge hinnehmen. Wir können es mit dem, was uns ja als Theorie so geläufig ist, wir können es mit der Karma-Idee völlig ernst nehmen. Was heißt das?

Zunächst ist im Leben der Mensch ganz und gar nicht geneigt, es mit der Karma4dee völlig ernst zu nehmen. Wenn er nur eine kleine Fähr­lichkeit hat im Leben, die ihn verletzt, oder wenn irgend etwas sonst ihm begegnet, so kann er manchmal wütend werden, es ist ihrn jedenfalls antipathisch. Demjenigen, was wir unser Schicksal nennen, stehen wir mit Sympathie oder Antipathie gegenüber. Im gewöhnlichen Leben kann es auch gar nicht anders sein, da ist es ganz notwendig, daß wir ge­wissen Ereignissen, die wir zum Schicksal rechnen, sympathisch, und daß wir andern derartigen Ereignissen antipathisch gegenüberstehen. Das Schicksal ist für uns etwas, was von außen an uns herankommt.

Wenn wir es ernst nehmen mit der Karma-Idee, dann müssen wir unser Ich in unserem Schicksale wirklich erkennen, wir müssen uns klar sein, daß wir in dem, was uns im Schicksal zustößt, selber tätig sind, daß wir selber die eigentlichen Akteure sind. Es wird uns gewiß schwierig, wenn uns jemand beleidigt, daran zu glauben, daß in dem Beleidiger wir selber darinnenstecken. Denn im physischen Leben kann es nötig sein, die Beleidigung zu ahnden. Aber wir müssen immer ein Kämmerchen in unserem Inneren haben, indem wir uns doch gestehen: Selbst wenn dich jemand beleidigt, so bist du es

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selbst, der dich beleidigt, wenn dich jemand schlägt, bist du es selbst, der dich schlägt, wenn dich mißliche Schicksalsschläge treffen, so bist du es selbst, der diese Schicksalsschläge an dich heranbringt. - Wir vergessen, daß wir nicht bloß in unserer Haut sind, sondern in unse­rem Schicksal darinnen sind, wir vergessen, daß wir in allen den so­genannten Zufällen unseres Schicksals darinnen sind.

Es ist sehr schwierig, wirklich die Empfindung zu entwickeln, daß man sein Schicksal mit dem eigenen Ich heranträgt. Wahr ist es aber:

wir tragen unser Schicksal mit unserem eigenen Ich heran, und die Impulse bekommen wir nach Maßgabe unserer früheren Inkarnationen in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, so daß wir da unser Schicksal selber an uns herantragen. Und wir müssen danach streben, zusammenzuwachsen mit unserem Schicksal, müssen immer mehr und mehr, statt antipathisch einen schweren Schicksals­schiag abzuwehren, uns sagen: Dadurch, daß dieser Schicksalsschlag dich trifft, das heißt, daß du dich triffst mit dem Schicksalsschlag, da­durch machst du dich in gewisser Beziehung stärker, kräftiger, kraftvol­ler. - Es ist schwieriger, somit seinem Schicksal zusammenzuwachsen, als uns dagegen zu wehren, aber das, was wir verlieren, wenn unser Ge­danke erstirbt, das können wir nur wiedergewinnen, wenn wir auf diese Weise das, was außer uns ist, in uns hineinziehen. In dem, was in unserer Haut ist, können wir nicht bleiben, wenn der Gedanke bei der Konzen­tration in uns erstirbt, aber hinaustragen wird er uns, wenn wir unser Karma, unser Schicksal im wahren Sinne erfaßt haben. Da wecken wir uns wieder au£ Der Gedanke etstirbt, aber das, was wir als Identifi­zierung erfaßt haben zwischen unserem Ich und unserem Schicksal, das tragen wir hinaus, das trägt uns draußen in der Welt herum.

Diese Gelassenheit gegenüber unserem Schicksal, das wahrhaftige Hinnehmen unseres Schicksals, das ist es, was uns mit Existenz be­schenkt, wenn wir außerhalb unseres Leibes sind. Das braucht selbst­verständlich unser Leben auf dem physischen Plane nicht zu ändern. Das können wir nicht immer. Aber die Gesinnung, die wir in einem Kämmerchen unserer Seele entwickeln müssen, die muß da sein für die Augenblicke, wo wir wirklich außerhalb unseres Leibes die Mög­lichkeit finden wollen, bewußt zu leben.

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Zwei Sätze können Leitsätze für uns sein, können uns außerordent­lich wichtig sein. Der erste dieser Sätze, den wir uns so recht tief ein­schreiben sollten, ist dieser:

Erstrebe des Gedankens Ersterben im All.

Denn nur, wenn der Gedanke erstirbt im All, dann wird er draußen eine lebendige Kraft. Aber wir können uns mit dieser lebendigen Kraft nicht verbinden, wenn wir uns nicht um den Inhalt des zweiten Satzes bemühen:

Erstrebe des Schicksals Auferstehung im Ich.

Wenn du das vollbringst, dann vereinigst du das im Gedanken wieder-geborene mit dem außer dir auferstandenen Ich.

Es ist aber vieles in der menschlichen Natur, was es schwierig macht, eine Evolution zu suchen im Sinne dieser Sätze. Es ist schwierig, denn das Verhältnis des Inneren zum Äußeren in der rich­tigen Weise anzuschauen, wird den Menschen ganz besonders schwer. Je mehr wir in dieser Beziehung Ethisches lernen können anhand der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, desto besser ist es. Ethisches können wir insofern lernen anhand der geisteswissen­schaftlichen Weltanschauung, als gewisse ethische Begriffe erst Blut und inneres Leben erhalten durch das, was aus der Geisteswissenschaft ihnen zuströmen kann.

So zum Beispiel gibt es Menschen, welche fortwährend über andere Menschen klagen, sich darüber beklagen, daß ihnen andere Menschen dieses oder jenes tun. Bis dahin geht es, daß sie davon sprechen, daß andere Menschen sie verfolgen. Alle solchen Dinge hängen immer zu­sammen mit dem andern Pol der Menschennatur, man muß nur in der richtigen Weise das Leben betrachten, das heißt in der Weise, die gerade die wirklich verstandene Geisteswissenschaft gibt. Wer durch das Leben geht und sich das Auge etwas hellsichtig hat machen lassen durch die Geisteswissenschaft, der wird immer finden - selbstver­ständlich gibt es Gründe, um über Lieblosigkeit zu klagen, aber dessen ungeachtet wird man finden -, daß am meisten über Lieblosig­keit geklagt wird von denen, die eigentlich Egoisten sind, und der

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Glaube, daß alle Menschen ihnen schaden oder Böses zufügen wollen, wird am meisten bei egoistischen Naturen entstehen, während Natu­ren, die an sich liebevoll und liebefähig sind, nicht leicht zu dem Glauben kommen, daß sie verfolgt werden, daß man ihnen alles mög­liche Böse antun wolle und so weiter.

Ja, indem so etwas ausgesprochen wird, ist man leicht geneigt, das theoretisch zuzugeben. Ich bin sogar überzeugt davon, die meisten Menschen werden das theoretisch schon zugeben, nachdem sie ein wenig nachgedacht haben. Es ins Leben einzuführen, das ist es aber, worauf es ankommt.

Nun kann die Frage entstehen: Welches ist der Weg, um diese Dinge in das Leben einzuführen? - Da muß dann die Antwort wieder gegeben werden: Wirklich mitleben da, wo die Geisteswissenschaft wirklich gesucht wird, mitleben, soviel als man kann. - Das ist das­jenige, um was es sich handelt. Dabei wird die Geisteswissenschaft nicht in Kompendien oder kurzen Abrissen gegeben, sondern es wird versucht, die Geisteswissenschaft zu einer lebendigen Strömung zu machen, in der wir darinnen leben können, so daß wir durch sie fort­während uns warm erhaltend Anregungen haben können.

Das hat auch im Grunde genommen dazu geführt, für dieses leben­dige Streben der Geisteswissenschaft eine Art Mittelpunkt zu suchen in unserem Bau, der so, wie er ist, ich habe es gestern erwähnt, durch seine Formen, durch die Art, in der er durchgeführt ist, das Leiblich-Seelisch-Geistige im Sinne unserer Geisteswissenschaft gibt. Er ist selbst ein Wahrzeichen dafür, daß wir suchen, gemäß den Impulsen, die wir aus der geistigen Welt heraus erkennen können, solches der Menschheitsevolution einzufügen, was gerade für die heutige Zeit so notwendig ist, damit die nächste Zukunft sich daraus in wirklich regelrechter Art entwickeln kann. Gerade dadurch, daß der Bau in seinen Formen das enthält, woran man das Wesen der Geisteswissen­schaft empfinden kann, wird bewirkt, daß dieser Bau wirklich etwas sein kann wie eine Art Zentrum, wie eine Art Konzentrationspunkt, um den sich herumkristallisiert dasjenige, was als geisteswissen­schaftliches Streben notwendig werden soll in der Menschheits­evolution.

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Da mag man oftnaals sagen: Trübe sind unsere Zeiten, manches lebt in unserer Zeit, was in recht grellem Widerspruch steht mit dem, was eine geisteswissenschaftliche Weltanschauung der Menschheit sein kann. - Auf der andern Seite aber hat unser Karma uns dazu-gebracht, so weit zu kommen, daß wir gewissermaßen überwinden dürfen in dem Materiale, das unserem Bau dient, dieses Materielle so, daß er auch in den äußeren Formen als Wahrzeichen unserer Geisteswissenschaft dasteht.

Jeder von uns kann sich das sagen, woran ich selber oftmals denken muß, besonders im Angesichte unserer schwierigen Zeit, unter den starken Anfeindungen, die insbesondere das Geisteswissenschaftliche in unserer Zeit erfährt. Mancher kann sich fragen, wie weit wir eigentlich mit unserem eigenen Persönlichen kommen in der Mit­wirkung an dem, was sich um unseren Bau herum konzentrieren soll. Selbst für den Fall, daß der eine oder andere nicht mehr physisch dabei sein kann bei dem, was im physischen Leben weiter um unseren Bau herum sich konzentriert: daß der Bau da ist, daß uns unser Karma diesen Bau gebracht hat, das ist ein wichtiger Schritt vorwärts. Und wenn wir bedenken, wie Geisteswissenschaft so tief Verstehende, wie zum Beispiel unser Christian Morgenstern, auch nach dem physi­schen Tode vereint bleiben mit dem, was unser physischer Bau soll, dann erkennen wir in unserem Bau zugleich ein Wahrzeichen in unserer Zeit des Wirkens innerhalb unserer spirituellen Bewegung, für welches die Grenzen zwischen dem, was man gewöhnlich Leben und Tod nennt, gar nicht in Betracht kommen.

Mit diesem Bau können wir wirklich verwachsen uns fühlen, und er kann so die ernstesten Gedanken anregen, die Gedanken anregen, die ganz natürlich sind in einer solchen Zeit, wie die unsrige es ist, die den Materialismus auf die höchste Spitze bringt. Selbst für den Fall, daß dieser Bau diesen oder jenen nur als geistiges Wesen mit­wirkend finden sollte, wird der Bau für den Fortgang unserer Be­wegung wichtig sein, wobei wir selbstverständlich dieses nur aus­sprechen - Sie werden mich verstehen -, um den ganzen, über Tod und Leben hinausgehenden Ernst unserer Bewegung ins Auge zu fassen.

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Dieser Ernst tritt uns gerade in diesen Tagen ganz besonders ent­gegen. Und wenn das eine geschieht, warum sollte nicht auch dem­nächst manches andere geschehen können? Es ist so außerordentlich schwierig, dasjenige zu erreichen, wovon ich öfter gesprochen habe, auch wiederum gesprochen habe im Verlaufe dieser Vorträge. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie versucht wird in der strengsten Weise, Worte zu wägen, Worte zu prägen, sie in genauer, streng ge­nauer Weise auszusprechen unter der vollsten Verantwortlichkeit gegenüber den geistigen Welten. So ist es aber auch wünschenswert, daß sie gehört werden, diese Worte, so ist es wünschenswert, daß sie aufgenommen werden.

Es werden gewiß Zeiten kommen, in denen, ich möchte sagen, eine größere Leichtlebigkeit möglich sein wird in bezug auf die Strömung der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung. Aber heute, wo wir im Anfange derselben stehen, müssen wir uns angewöhnen, die Dinge als sehr, sehr ernst zu nehmen. Ich habe vor einiger Zeit hier mancher­lei von okkulten Forschungen und auch anderes gegeben, wovon ich geglaubt habe, daß es manchem nützlich sein könnte. Es wurden im wesentlichen Charakteristiken von Tatsachen gegeben. Man könnte glauben, daß es manchem nützlich sein könnte zum Verständnisse unserer gegenwärtigen, schwierigen Zeit. Gerade dieses aber, was aus diesem Impulse heraus gegeben worden ist, ist nicht in der Weise überall - selbstverständlich berühre ich dabei diese oder jene Aus­nahme, aber es ist richtig, was ich sage - mit der nötigen Vorsicht, mit der nötigen Pietät behandelt worden, und es ist da oder dort wieder gesagt worden und, wie sich herausgestellt hat, in einer Form, die geradezu das Gegenteil davon darstellte, was hier gesagt worden ist.

Wenn ich bloß daran denke, was aus dem gemacht worden ist, was eigentlich gar nicht mißzuverstehen ist, weil es schon in einem Zyklus vorliegt, was gemacht worden ist aus der Gliederung der europäischen Menschheit mit Bezug auf die Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele, Bewußtseinsseele und das Ich, was wahrhaftig nicht gegeben worden ist, um eine Superiorität auszudrücken, wenn ich bedenke, was für Sätze in die Welt hinausgegangen sind und was diese Sätze für Oppositionen und Emotionen hervorgerufen haben, so ist

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wirklich zu ersehen daraus, daß gerade das Prinzip, die Dinge ganz genau zu nehmen, selbst in so schwierigen Fällen, nicht voll beachtet worden ist. Wenn ich jemals zum Beispiel gesagt hätte: Das, was unter der Ich-Wirkung in bezug auf die europäische Bevölkerung vorhanden ist, sollte organisierend wirken innerhalb der europäischen Bevölkerung -, so hätte ich einen Nonsens gesagt. Dennoch ist zum Beispiel dieses hinausgetragen worden in die Welt und es erfährt die schlimmsten Mißverständnisse, ruft die stärksten Emotionen hervor.

Um nun nach dieser Richtung hin meine Pflicht zu erfüllen, ist es mir auferlegt worden für die Zeit, die jetzt kommen wird, gar nichts mehr in meinen Vorträgen in Anknüpfung an diese Dinge zu be­rühren. Ich muß absehen von jeder Berührung dieser Dinge, so daß also das, was jedem andern zusteht, nämlich, etwas sagen zu dürfen über dieses oder jenes, durch die Art und Weise, wie die Dinge ge­nommen werden, mir zur Unmöglichkeit gemacht wird.

Alle diese Dinge zeigen uns, daß wir wohl in unsere Seele schauen sollen, inwiefern es uns gelingen kann, diese geisteswissenschaftliche Bewegung in ihrem vollen Ernst zu betrachten. Denn wir sind manch­mal durchaus nicht aufmerksam darauf, welche Verantwortung, wenn es sich um wirkliche, wahrhaft rechte Geistesforschung und ihre Mit­teilungen handelt, gegenüber jedem Satze vorliegt, wenn die Sache ernst genommen wird. Um Emotionen hervorzurufen, dazu ist wirk­lich die Geisteswissenschaft nicht da, auch nicht, um Emotionen zu bekämpfrn oder abzuwenden. Und wenn jemand gesagt hat, diese Dinge werden mitgeteilt, um jemanden zu bekämpfen, so sollte er sich fragen, ob da von solchen Dingen der richtige Gebrauch gemacht worden ist, ob nicht vielmehr ein Mißbrauch vorliegt dieser Dinge, deren Mitteilung in voller Objektivität, in keuscher Wahrheitsliebe gemacht worden ist. Das sind Dinge, die mir zu meinen okkulten Erfahrungen, die ohnehin schon schmerzlich genug sind, einen weite­ren Schmerz hinzufügen. Wenn auch Wichtiges dadurch nicht berührt werden kann, wenn auch vieles wegfallen muß von dem, wovon ich glaubte, daß es in der nächsten Zeit betrachtet werden dürfte, so bleibt doch noch Wichtiges und Wesentliches für unsere Zeit zu besprechen.

ACHTER VORTRAG Dornach, 4. Januar 1915

#G275-1966-SE148 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

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ACHTER VORTRAG

Dornach, 4. Januar 1915

#TX

Ich möchte heute meinen Ausgangspunkt nehmen von einer kleinen Betrachtung über das unserem Bau zugeordnete Heizhaus und mit einigen Worten das architektonische Prinzip dieses Heizhauses zur Darstellung bringen. Sie müssen, wenn Sie die Motivierung der architektonischen Formen dieses Hauses betrachten wollen, ins Auge fassen, daß dieses Haus ein dem ganzen Bau zugeordneter Teil ist, gewissermaßen also zu dem Bau gehört. Dieses ausgesprochene: Es ist das etwas, was zu dem Bau gehört -, muß schon in dem künstle­rischen Gedanken des Baues, wenn dieser richtig sein soll, zum Aus­druck kommen. Das darf nicht eine Abstraktion sein, sondern es muß in der künstlerischen Form zum Ausdruck kommen.

Nun handelt es sich darum, einmal die Frage ins Auge zu fassen:

Wie steht es denn überhaupt mit diesen zusammengehörigen künstle­rischen Formen? - Wir kommen der Betrachtung dieser Frage am allernächsten, wenn wir jene große künstlerische Schöpfertätigkeit ins Auge fassen, die leider von den Menschen viel zu wenig ins Auge gefaßt wird, die große schöpferisch-künstlerische Tätigkeit, die wir vorgebildet finden, wenn wir imstande sind, die Natur geistig zu betrachten, das natürliche Schaffen als hervorgehend aus dem Geiste zu betrachten. Weil die Betrachtung sich verhältnismäßig noch am einfachsten darstellt, möchte ich Ihren Blick hinlenken auf diejenigen Formen, die sich im Knochensystem zum Ausdruck bringen. Alle übrigen Glieder organischer Wesenheiten sind in ihren Formen noch schwieriger zu studieren als beispielsweise das Knochensystem des Menschen.

Nun wissen Sie, daß es mein Bestreben war seit Jahrzehnten schon, ein wenig Verständnis hervorzurufen in der Welt für das Bedeutsame, das getan worden ist durch die großen anatomisch-physiologischen Entdeckungen, die Goethe gemacht hat, ich möchte sagen, als ein zweites großes Werk auf diesem Gebiete. Das erste will ich heute nicht berühren, ich will nur auf das zweite hinweisen. Diese zweite

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bedeutsame Entdeckung verdankt ihre Entstehung dem, was man in der äußeren materialistischen Welt die Verbindung eines Zufalls mit einer genialen Menschennatur nennen könnte. Goethe erzählt selber, daß er einmal beim Spazierengehen auf dem Judenkirchhofe in Venedig einen Schöpsen- oder Schafschädel fand, dessen einzelne Knochenteile auseinandergefallen waren nach ihren Nähten. Und als er diesen Schädel aufhob und ihn so betrachtete der Form der Knochen nach, da ging ihm ein Gedanke auf der Gedanke: Ja, wenn ich mir so diese Kopfknochen anschaue, was sind sie denn eigentlich? Sie sind umgebildete Rückenwirbelknochen.

Sie wissen ja, die Knochensäule, innerhalb welcher das Rückenmark des Menschen eingeschlossen ist als ein Nervenstrang, ist aus über­einandergelegten Ringen zusammengesetzt, aus bestimmt geformten Ringen, die Fortsätze haben. Und wenn man sich nun denkt, daß solch ein Ring sich ausdehnt, zunächst so ausdehnt, daß jenes Loch, durch welches das Rückenmark durchgeht - denn es sind über­einandergelegte Ringe -, zunächst größer wird und der Knochen ent­sprechend dünner wird und sich ausdehnt wie etwas Elastisches, nicht nur in horizontaler Richtung sich ausdehnt, sondern auch nach andern Richtungen, so entsteht aus diesen Ringknochen eine Form, welche nichts anderes ist als die Knochenform, die unsere Schädeldecke bildet. Unsere Schädelknochen sind also umgewandelte Rückenwirbel-knochen.

Wenn wir auf dem Boden der Geisteswissenschaft stehen, können wir diese Goethesche Entdeckung noch weiter ausbilden, und heute kann sie in viel weiter ausgebildeter Form gesagt werden, in der Weise gesagt werden, daß alle Knochen, die der Mensch überhaupt an sich trägt, Umbildungen, Metamorphosen einer einzigen Form sind. Man bemerkt dies nur aus dem Grunde nicht, weil man sehr primitive Anschauungen hat über das, was durch die Umbildung, durch die Umgestaltung entstehen kann. Wenn Sie, ich will sagen, einen Ober­armknochen ins Auge fassen, solch einen röhrenförmigen Oberarm­knochen - Sie wissen ja, wie solch ein Knochen ausschaut -, so würde er Ihnen allerdings nicht ohne weiteres ähnlich erscheinen einem Knochen, den wir am Kopfe tragen. Das rührt aber nur davon her,

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weil man nicht weit genug ist im Durchdenken der Umformungs­gedanken.

Zunächst denkt man, solch ein Röhrenknochen muß aufgeplustert werden, und wenn er aufgeplustert ist und er drinnen eine Höhle hat, so müßte sich die Form des Kopfknochens ergeben. So ist es aber nicht mit den Knochen, sondern einen Röhrenknochen müßte man erst umkehren, so daß man seine Ähnlichkeit mit dem Schädel-knochen dann ersehen könnte, nachdem man ihn umgestülpt hätte wie einen Handschuh, den man umkehrt mit dem Inneren nach außen. Aber nicht wahr, nun ist der Mensch gewohnt, wenn man einen Handschuh umstülpt, daß das, was herauskommt, ähnlich ausschaut dem Früheren, aber der Handschuh ist nun etwas Totes und bei einem Lebendigen ist das nicht so der Fall. Zum Beispiel wenn der Handschuh etwas Lebendiges wäre, so würde durch das Umstülpen folgendes geschehen. Es würden zum Beispiel gewisse Veränderungen entstehen, es würden der Daumen und der kleine Finger sehr lang werden, der Mittelfinger sehr kurz und so weiter, die Handfläche würde sich zusammenziehen und so weiter. Dann würden durch das Umstülpen und durch die verschiedene Elastizität des Stoffes ganz verschiedene Änderungen eintreten, kurz, der Handschuh würde durch das Umstülpen eine ganz andere Form haben, obgleich es immer noch der Handschuh ist. So müssen Sie sich zum Beispiel einen röhrenförmigen Oberarmknochen umgestülpt denken und es würde dann ein Kopfknochen daraus entstehen.

So müssen Sie sich denken, die weisen, göttlichen Mächte im Kosmos haben eine größere Weisheit besessen, als sie jene zur Schädelbildung nötigen umformenden Kräfte ins Werk setzten, als der stolze Mensch sie heute hat. Darauf gerade beruht die innere Einheit alles Natürlichen, daß im Grunde genommen alle, auch die einander unähnlichsten Gebilde, Umwandlungen sind von einer Urgrundform. Es gibt nichts, das Lebensmöglichkeit haben sollte, was nicht auf diese Weise entstehen würde, daß es Umwandlungsform einer Grundform wäre. Bei diesem Umwandeln entsteht dann auch noch etwas anderes. Gewisse Teile der Grundform werden auf Kosten anderer größer, andere werden kleiner, es vergrößern sich einzelne

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Glieder, und nicht in demselben Maße vergrößern sich wieder andere Glieder. Dadurch entstehen Unähnlichkeiten, die aber doch nur Um­formungen einer Grundform sind.

Nun nehmen Sie einmal die Grundform, die sich Ihnen ergeben kann, wenn Sie unseren ganzen Bau ins Auge fassen. Ich kann das, was ich Ihnen zu sagen habe, nur skizzenhaft zusammenfassen und nur einen der Gesichtspunkte andeuten, die in Betracht kommen.

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Wenn Sie unseren Bau in Betracht ziehen, so finden Sie, daß er ein Doppelkuppelbau ist, so daß die Kuppeln auf einem zylindrischen Unterbau aufsitzen. Er ist ein Doppelkuppelbau. Das ist das Wesent­liche, denn daß eine Doppelkuppel vorhanden ist, das drückt das Lebendige an der Sache aus. Wäre nur eine einzige Kuppel vor­handen, so wäre das Wesen unseres Baues tot. Das Lebendige unseres Baues kommt dadurch zum Ausdruck, daß gewissermaßen die eine Kuppel in der andern ihr Bewußtseinsspiegelbild hat, daß sich die beiden Kuppeln ineinander spiegeln, wie sich dasjenige, was von den Menschen in der Außenwelt vorhanden ist, durch die Organe des Menschen spiegelt. Der Grundgedanke der Doppelkugel muß fest­gehalten werden bei allem, was in innigem, organischem Zusammen­hang steht mit unserem Bau, denn was nicht in irgendeiner, wenn auch noch so versteckten Form die Doppelkuppelform trüge, würde

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nicht das Wesentliche unseres Baugedankens zum Ausdruck bringen. Daher muß auch bei diesem Nebenbau der Doppelkuppelgedanke vorhanden sein.

Aber nun nehmen Sie die Doppelkuppel mit ihren Zubauten. Wir haben zunächst dasjenige, auf dessen Bedeutung schon öfter hin­gewiesen worden ist: die Durchdringung der beiden Kuppelmotive, die gewissermaßen ein Neues in der Baukunst darstellen und, wie Sie wissen, durch die Ingenieur-Mithilfe von Herrn Englert zustande-gekommen ist. Dieses Durchdringen der beiden Kuppeln, das ist beim Hauptbau von besonderer Bedeutung aus dem Grunde, weil es ausdrückt das innig Zusammengehörige desjenigen, was sich gegen­seitig zu spiegeln hat. Ich drücke diesen Spiegelungsgedanken zu­nächst abstrakt aus. In diesem Durchdringen der beiden Kuppel-motive liegt ein unendlich Mannigfaltiges, liegt unendlich viel. Nur dadurch, daß wir dieses Durchdringen der Doppelkuppelmotive zustande gebracht haben, wird für das weitergehende künstlerische Stadium unseres Baues das zustande kommen, was sich als Abglanz unserer geisteswissenschaftlichen Gedanken in dem Bau zum Aus­druck bringt. Also diese Durchdringung ist eben beim Hauptbau vorhanden. Und wenn wir, ich möchte sagen, die Durchdringung wieder aufheben, die Kuppelmotive auseinandernehmen, dann nähern wir uns mehr einem ahrimanischen Prinzip. Würden wir sie noch mehr nähern oder ganz ineinander drängen, würden wir sie so bauen, daß wir die eine in die andere hineinstellen, so würden wir uns in dem Bau dem luziferischen Prinzipe nähern.

Nun handelt es sich darum, daß das ahrimanische Prinzip heraus-gesondert wird aus diesem Bau. Es handelt sich also bei dem Neben-bau darum, die Kuppeln hier auseinanderzudrängen; denn auch hier bei diesem Nebenbau ist der Kuppelgedanke dennoch das, worauf es ankommt. Und nun denken Sie sich die Kuppeln auseinandergehalten, denken Sie sich auf der einen Seite dieses Seitenmotiv (Südportal am Hauptbau> ganz verkümmert, so daß die punktierte Linie fortfällt, und auf der andern Seite wesentlich vergrößert (zum Schornstein). Denken Sie sich den Hauptbau so, daß Sie hier (im Süden> die aus­einandergeschobenen Kuppeln haben, hier einen Vorbau, hier die

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ganze Sache hereingeschoben (siehe Zeichnung a), hier dagegen die ganze Sache statt hereingeschoben herausgeholt (b), hier (a) also vollständig verkümmert, statt weiter ausgebildet. Auf der andern Seite denken Sie sich ihn (den Vorbau am Nordportal) besonders aus­gebildet, dann haben Sie das Umwandlungsmotiv für unseren Hauptbau in einem ihm zugeordneten Nebenbau in den Grund­formen. Denn wenn Sie sich denken würden das Immer-kleiner-und-kleiner-Werden von diesem hier (dem Schornstein) und das Wiederherausgehen von diesem, und das Ganze zusammengescho­ben, dann bekämen Sie durch Metamorphose aus dem Nebenbau den Hauptbau.

Dieses wurde am Modell des Kesselhauses erörtert.

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Es handelt sich also darum, daß wir hier eine Anpassung haben an dasjenige, was darin vorgehen soll, die durch Metamorphose aus unserem Hauptbau entstanden ist. Wie ein Rückenwirbelknochen aus derselben Grundform hervorgegangen sein kann wie der Knochen

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des menschlichen Schädels, so daß man den einen aus dem andern hervorgehend denken kann, so ist es auch mit dem Hauptbau und dem Nebenbau, die man durch Umwandlung auseinander hervor-gehend sich denken kann. Der Formgedanke, wenn er sich umwandelt, wenn er lebendig wird, ist so, daß er aus der einen Form in die andere Form übergehen kann.

Wir müssen wirklich Lehrlinge der schöpferischen Hierarchien werden, die geschaffen haben durch Metamorphose, und wir müssen lernen, in derselben Weise nachzubilden das schöpferische Prinzip der Hierarchien.

Nun aber denken Sie sich, daß eine Kraft vorhanden sein muß, welche dasjenige, was hier an der Seite (Nordportal am Hauptbau> erscheint als ein wenig bedeutendes Seitenstück, vergrößert (Schorn­stein). Wenn Sie einen kleinen elastischen Sack haben und Sie wollen, daß der größer wird, so müssen Sie ihn eben drücken von

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innen nach den verschiedenen Seiten, damit er größer sein kann; es muß eine Kraft da sein, die das Kleine groß macht, die es ausbildet. Wenn also hier wirklich ein solcher Seitenflügel aufgeplustert werden sollte, so mußte er durch die Kraft, die ihn von innen durchdringt, hier (siehe Zeichnung links> aufgeplustert werden.

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Was können das aber für Kräfte sein, die dadrinnen sind? Diese Kräfte, die können Sie studieren in den Formen der Architrave. Denken Sie sich die Kräfte, die in den Architraven sitzen, hinein-springend in den Seitenbau und das hier aufdrängend, so bekommen Sie diese Form heraus (des Schornsteins und der Hinterwand). Man muß also versuchen, einmal mit seinen formkünstlerischen Gedanken hineinzuschlüpfen in diese Formen der Architrave, sie zusammen­fassen, sie ausweiten, und muß sich denken, daß man dadurch, daß man da hineinschlüpft, ausweitet das, was dadrinnen klein ist. Dann entsteht diese Form (Schornstein und Hinterwand). Man kann sich nicht anders in einheitlichem Schaffen ergehen als dadurch, daß man versucht, in der Sache darinnenzustecken.

Auch in diesem Hineinkriechen in die Sachen und in dem Darinnen-stecken liegt wieder ein Nachbilden der schöpferischen Kräfte der Natur selber, und nur damit ist die Gottverlassenheit der modernen industriellen Kultur ganz allein zu überwinden. Einen Schornstein, wie er sonst vorhanden ist, den können Sie sich unmöglich als ein Produkt des natürlichen Schaffens denken. Er entsteht, indem ver­leugnet werden die göttlich-geistigen Kräfte der Natur. Es gibt kaum etwas, was man vergleichen könnte in der Natur draußen mit einem solchen Schornstein, als höchstens das so ziemlich scheußlichste Pflanzengewächs, den Spargel. Aber das ist gewissermaßen eine Aus­nahme. Dasjenige, was wirklich im Sinne der in der Erde vorhandenen Kräfte wächst, kann sich niemals schornsteinmäßig nach oben er­strecken, sondern wenn Sie die nach oben wirkenden Kräfte studieren wollen, können Sie am besten das, was den verborgenen Kräften in der Erde entspricht, am Baum studieren, der auch nicht nur senkrecht den Stamm in die Höhe treibt, sondern sich in den Ästen nach außen erstrecken muß. Es kann sich natürlich nicht darum handeln, das unmittelbar am Modell nachzuahmen, sondern man muß sich ver­tiefen in diejenigen Kräfte, die von der Erde ausstrahlen und die bloß vertikale Richtung des Baumstammes überwinden, die in die Breite streben und in die Äste treiben. Da haben Sie auch gerechtfertigt das in dem Raum, in dem Kosmos draußen Auseinanderstreben, ich möchte sagen, astförmige Auseinanderstreben (beim Schornstein).

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So könnte ich Ihnen - ich habe nur die gröbsten Prinzipien anzeigen können - bis ins kleinste Detail hinein, in jeder einzelnen Fläche, an dieser architektonischen Form die Prinzipien rechtfertigen, das würde aber zu lange dauern.

Nun handelt es sich darum, daß eine solche Form dann vollständig ist, wenn sie ihren Sinn erfüllt. Wenn Sie jetzt diese Form anschauen, so ist sie noch nicht vollständig. Sie wird erst vollständig sein, wenn einmal darinnen wirklich geheizt werden und da auch der Rauch herausgehen wird; der gehört dazu, der gehört richtig dazu, der ist in der architektonischen Form mit darinnen gedacht. Wenn man hell­seherisch ins Auge fassen wird einmal das Aufsteigen des Rauches hier und das Hinausgehen des Rauches durch den Schornstein, so wird man - da man wissen wird, wenn man es wirklich heliseherisch wird ins Auge fassen können, daß in dem Physischen auch ein Gei­stiges enthalten ist - das Geistige des aufsteigenden Rauches mit in Betracht ziehen. Denn so wie Sie einen physischen, einen ätherischen und einen astralischen Leib haben, so hat auch der Rauch einen ätherischen Teil wenigstens. Dieser ätherische Teil aber nimmt andere Wege als der physische Teil: der physische Teil wird nach aufwärts gehen, der Ätherteil aber wird wirklich ergriffen von diesen Zweigen, die nach außen gehen. Man wird einstmals sehen das Aufsteigen des physischen Teiles des Rauches und das Hinwegweichen der Ätherteile des Rauches. Dadurch aber wird allmählich, wenn das in der Form zum Ausdruck kommt, einem Prinzip aller Kunst entsprochen, näm­lich dem: das Innere im Äußeren darzustellen, das Innere wirklich zum Prinzip des Äußeren zu machen.

Wie gesagt, ich müßte sehr viel zu Ihnen sprechen, wenn ich nun auf die vielleicht sogar viel interessanteren Einzelheiten eingehen wollte, die dieser architektonischen Form zugrunde liegen. Und zum Interessanten gehört es, daß es eben möglich war, das, was so zum Ausdruck kommen sollte, wirklich in diesem modernen Materiale, als Betonbau auszuführen. Denn das wird die Möglichkeit bieten, in der Gestaltung dieses modernen Materials immer weiter- und weiter-zugehen und gerade Bauten, welche der modernen ahrimanischen Kultur dienen, in diesem Stile allmählich zu gestalten. Es ist das aber

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gerade notwendig. Und mehr habe ich nicht nötig, auf Einzelheiten einzugehen, weil es mir mehr darauf ankommt, das Prinzip dieses Baues und dessen, was damit zusammenhängt, Ihnen zu zeigen. Dieses Prinzip kann in vieler Hinsicht abgeändert werden. Es kann zum Bei­spiel die Kuppel umgeändert werden, so daß sie gar nicht mehr einer Kuppel ähnlich sieht, wenn man sie bloß geometrisch-mathematisch betrachtet, wenn man sie nicht organisch betrachtet und so weiter. Ich wollte aber heute dieses Prinzip besprechen: das Prinzip des inner­lichen Umschaffens und Umwandelns, das Prinzip des Lebens in der Umwandlung und im Schaffen. Das wollte ich anführen, um Ihnen zu zeigen, inwiefern das wahre künstlerische Schaffen, insoweit es mit unserem geisteswissenschaftlichen Gedanken zusammenhängt, hin-wegführen muß von allem symbolischen Deuten, denn das symbo­lische Deuten ist etwas Äußerliches. Es handelt sich aber darum, das, was hier geboten wird, innerlich zu ergreifen und mit der ganzen Seele mitzugehen.

Nicht möchte man, wenn unser Bau einmal fertig sein wird, die Frage immer wieder hören: Was bedeutet dieses, was bedeutet jenes? -um dann vernehmen zu müssen, wie man gewissermaßen sich froh fühlt, wenn man bei diesen Dingen die Bedeutung von diesem odet jenem gefunden zu haben glaubt. In bezug auf solche Deutungen sind wir auf manchen Seitenwegen der Theosophie gerade bei allerlei dichterischen und literarischen Produkten ins Kuriose gekommen. So zum Beispiel sind Dramen gedeutet worden in der Weise, daß man bei einer Person sagte, die bedeutet Manas, bei einer andern Person, die bedeutet Buddhi, bei einer dritten, die bedeutet Atma und so weiter. So kann man allerdings, wenn man will, alles deuten. Aber um solche Deutungen handelt es sich nicht, sondern um ein In-den-Sachen-Leben, um ein Mitgehen mit dem Schöpferischen, das als Ausfluß der höheren Hierarchien unsere ganze Welt durchdringt und gestaltet. Weil dieses letztere schwieriger ist als das symbolische oder allegorische Deuten, deshalb braucht man es gerade doch nicht als das Schwierigere zu vermeiden, denn es führt in die geistige Welt hinein und ist der allerstärkste Antrieb, um wirklich zur Imagination, zur Inspiration und zur Intuition zu kommen.

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Das ist es, was zu den Umwandlungsimpulsen der Gegenwart ge­hört, daß notwendig wird ein immer weiter- und weitergehendes Verständnis für das Aufrücken der Menschenseele in diejenigen Regionen, die sich erschließen der imaginativen, inspirierten und intuitiven Betrachtung. Denn in den Sphären, die sich dieser Betrach­tung erschließen, liegt dasjenige, was unsere Welt erst zu einem Ganzen macht, was uns hinaushebt über die bloße Maja und uns in die wahrhafte Realität hineinführt.

Es muß immer wieder und wieder betont werden, daß dasjenige, dem wir entgegengehen als einer neuen Geisteserkenntnis, nicht be­stehen kann in einem Aufwärmen der Ergebnisse früheren Hellsehens. Gewiß, es trachten viele Menschen nach einem Aufwärmen des frühe­ren Hellsehens, aber die Zeit des früheren Hellsehens ist vorbei, und es sind nur atavistische Nachklänge des alten Helisehens, die bei einzelnen Menschen auftreten können. Aber die Stufen des mensch­lichen Daseins, die wir erklimmen müssen, eröffnen sich nicht bei einem Aufwärmen des alten Hellsehens. Wir wollen versuchen, das­jenige, was diesem neuen Hellsehen zugrunde liegen muß, nochmals zu betrachten. Wir haben oftmals auf das Prinzipielle der Sache hin­gewiesen, wir wollen aber versuchen, heute noch von einer andern Seite auf die Sache hinzuweisen.

Gehen wir nochmals von dem aus, was wir alle kennen, von dem, daß der Mensch während des Tagwachens mit seinem Ich und seinem astralischen Leibe lebt in seinem ätherischen und in seinem physischen Leibe. Aber ich habe schon in den letzten Tagen betont, daß dieses Wachen des Menschen, vom Aufwachen bis zum Einschiafen, doch kein vollständiges Wachen ist, daß vielmehr immer noch etwas schläft im Menschen. Und das, was wir als Wille empfinden, das ist wirklich nur teilweise wach. Unsere Gedanken sind wach vom Aufwachen bis zum Einschlafen, aber das Wollen ist etwas, was wir ganz traum­haft vollbringen. Deshalb ist so vieles Nachdenken über die Freiheit des Willens und über die Freiheit überhaupt vergeblich gewesen, weil die Menschen nicht beachtet haben, daß dasjenige, was sie wissen über den Willen beim wachen Tagesleben, eigentlich nur ein Träumen von den Willensimpulsen ist. Wenn Sie wollen und etwas darüber

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sich vorstellen, dann wachen Sie allerdings. Aber wie das Wollen zustande kommt und in die Handiung übergeht, darüber träumt der Mensch nur im wachen Tagesleben.

Wenn Sie ein Stückchen Kreide aufheben und das Aufheben der Kreide sich vorstellen, so können Sie das allerdings sich vorstellen. Wie aber das Ich und der astralische Leib in die Hand fließen, wie der Wille sich da ausbreitet, von dem wissen Sie beim bloßen Tages-bewußtsein ohne Hellsehen nicht mehr, als Sie von einem Traum wissen, wenn Sie träumen. Von dem eigentlichen Willen kann man bei gewöhnlichem wachem Tagesleben nur träumen, und bei den meisten Dingen träumen wir nicht einmal, sondern schlafen wir bloß. Denn wie Sie einen Bissen auf die Gabel nehmen, das können Sie sich deutlich vorstellen, wie Sie den Bissen zerbeißen, können Sie sich auch noch bis zu einem gewissen Grade vorstellen, daß Sie den Bissen aber schlucken, das träumen Sie nicht einmal. Darüber sind Sie mei­stens ganz unbewußt, wie Sie sich unbewußt sind Ihrer Gedanken, wenn Sie schlafen. So ist ein großer Teil gerade der Willenstätigkeit beim Wachen im Wachschlafen vollbracht.

Würden wir nicht schlafen gerade in bezug auf unser Begehrungs­vermögen und auf die mit unserem Begehrungsvermögen verbunde­nen Gefühlsimpulse, dann würden wir zunächst eine sonderbare Tätig­keit entwickeln. Wir würden die Handlungen, die wir ausführen, bis in unseren Körper hinein verfolgen, wir würden mit alledem, was wir als Willensimpulse ausführen, folgen dem Inneren, unserem Blute, in alle Blutbahnen hinein. Das heißt, wenn Sie das Aufheben eines Kreidestückchens in bezug auf den Willensimpuls verfolgen könnten, so würden Sie in alle Blutbahnen hinein verfolgen dasjenige, was in Ihrer Hand vorgeht; Sie würden von innen heraus ansehen die Tätig­keit des Blutes und die Gefühle, die damit verbunden sind; zum Bei­spiel die Schwere des Kreidestückes und dergleichen würden Sie innerlich ansehen und dadurch gewahr werden, daß Sie Ihre Nerven-bahnen und das darinnen befindliche ätherische Fluidum verfolgen. Sie würden sich innerlich erleben längs der Tätigkeit des Blutes und der Nerven. Das würde sein ein innerliches Genießen der eigenen Blut- und Nerventätigkeit. Diesem innerlichen Genießen der eigenen

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Blut- und Nerventätigkeit müssen wir aber für unser irdisches Leben enthoben sein, sonst würden wir durch unser irdisches Leben so hin-durchgehen, daß wir bei allem, was wir tun, unseren innerlichen Selbst-genuß haben wollen. Unser Genuß an uns selbst würde sich dadurch un­endlich erhöhen. Aber diesen Genuß durfte der Mensch nicht haben, so wie er nun einmal geworden ist. Und das Geheimnis, warum er diesen Ge­nuß nicht haben durfte, liegt wieder in einer Stelle der Bibel ausgespro­chen, gegenüber der wir immer größere Ehrfurcht empfinden sollten.

Nach dem, was sich ereignet hat und was ausgedrückt ist in der Paradiesesmythe, wurde dem Menschen gelassen das Essen vom Baume der Erkenntnis, nicht aber vom Baume des Lebens. Und das innerliche Genießen würde sein das Genießen vom Baume des Lebens. Das sollte nicht für den Menschen eintreten. Ich kann dieses Motiv heute nicht weiter ausführen, denn das würde zu weit führen, aber Sie werden durch eigenes Meditieren über das, was hier angeschlagen worden ist als Motiv, noch weiteres herausfinden können. Nun können Sie aber etwas anderes, was uns in diesen Tagen besonders wichtig sein kann, von da ausgehend ins Auge fassen: Das können wir nicht, vom Baume des Lebens essen, das heißt, unsere Bluttätigkeit im Inneren genießen und unsere Nerventätigkeit im Inneren genießen, das können wir nicht. Nun aber kommt, gerade wenn wir durch unsere Sinne und unseren Verstand die Außenwelt erkennen, etwas zustande, was wohl mit einem solchen innerlichen Genießen zu­sammenhängt. Bei der Wahrnehmung irgendeines Dinges der Außen­welt und bei dem Nachdenken über irgendein Ding der Außenwelt verfolgen wir gegen die Sinne zu - also gegen die Augen, die Ohren, die Nase, die Geschmacksnerven zu - die Blutbahnen, und wenn wir denken, verfolgen wir die Nervenbahnen. Aber wir nehmen nicht dasjenige wahr, was wir dadrinnen in den Nervenbahnen und dem Blute wahrnehmen würden, sondern das, was wir im Blute wahr­nehmen würden, wird durch die Sinne reflektiert, wird zurückgewor­fen, gespiegelt, und dadurch entstehen die Sinnesempfindungen. Und das, was durch die Nervenbahnen geleitet wird, wird ebenfalls reflek­tiert und zurückgeleitet da, wo die Nervenbahnen ihr Ende erreichen, und wird dann gespiegelt als unsere Gedanken.

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Nehmen Sie einmal an, daß ein Mensch aufträte, welcher in die Lage käme, nicht nur unter dem Einflusse der Außenwelt sein Blut zu verfolgen und dann das, was sein Blut tut, gespiegelt zu erhalten, und nicht bloß seine Nerven zu verfolgen und das, was die Nerven tun, gespiegelt zu erhalten, sondern das, was uns versagt ist in bezug auf Blut und Sinnesnerven, innerlich zu erleben, das Blut, wie es gegen den Nerv und die Augen hintendiert, innerlich zu erleben, so würde er das - wenigstens in bezug auf die Teile des Blutes und der Nerven - innerlich genießen. Dadurch entstehen jene Gebilde, die dem atavistischen inneren Heilsehen angehören. Denn dasjenige, was sich für uns spiegelt, sind eben nur Bilder, gleichsam filtrierte Bilder desjenigen, was im Blut und in den Nerven ist. Im Blut und in den Nerven sind Weltengeheimnisse, aber solche Weltengeheimnisse, die sich dadurch schon erschöpft haben, daß wir aus ihnen geworden sind. Wir lernen nur uns selber kennen, wenn wir die Imaginationen kennenlernen, die sich uns ergeben, wenn wir uns in unserem zu den Sinnen gehenden Blutlauf erleben, und wir lernen nur diejenigen Inspirationen kennen, die dazu bestimmt sind, uns aufzubauen, wenn wir uns in die zu den Sinnen hingehenden Nerven hineinleben.

Aber es kann sich eine ganze Innenwelt also aufbauen. Diese Innen-welt kann sein eine Summe von Imaginationen. Während wir aber beim Wahrnehmen der äußeren, physischen Welt in regulärer Weise für unsere Erdenentwickelung Reflexionen und Spiegelbilder unserer Blut- und Nervenereignisse wahrnehmen, können wir - uns in uns selber genießend vertiefend - nicht über die Sinne hinausgehen, son­dern nur bis zu dem Punkte gehen, wo der Blutlauf in den Sinn ein­mündet. Dann erlebt man die imaginative Welt so, daß man gleichsam schwimmt im Blute wie der Fisch im Wasser. Aber diese imaginative Welt ist in Wahrheit keine Außenwelt, sondern eine Welt, die in unserem Blute lebt. Wenn man in den Nerven lebt, die bis zu den Sinnen hingehen, dann erlebt man eine inspirierte Welt, eine Welt von Sphärenklängen und eine Welt innerer Bilder. Das ist wieder kos­misch, aber es ist nichts Neues. Es ist nur etwas, was seine Aufgabe erschöpft hat, indem es in unser Nerven- und Blutsystem hinein-geronnen ist.

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Dieses Helisehen, das also entsteht und das den Menschen nicht über sich hinausführt, sondern ihn gerade tiefer in sich hineinführt, ist ein Selbstgenuß, ein wirklicher, echter Selbstgenuß. Dieses ist der Grund, warum es in gewissem Sinne eine höhere Wollust erzeugt in den Menschen, wenn sie also hellseherisch werden, wenn sie eine für sie neue Welt erleben. Und im ganzen muß man sagen, daß dieses also Hellsehend-Werden das Zurückgehen auf eine frühere Evolu­tionsstufe ist. Denn das, was ich Ihnen geschildert habe, das Leben in den eigenen Sinnesorganen und im Blute, war damals nicht in der Form vorhanden, wie es jetzt vorhanden ist, aber das Nervensystem war schon vorgebildet. Diese Art des Wahrnehmens war das reguläre Wahrnehmen des Menschen auf dem alten Monde, und in dem, was dazumal vorhanden war als Ansätze zu den Nerven, in dem nahm er sich innerlich wahr. Das Blut war noch nicht innerlich gebildet. Das war etwas, was noch mehr als warmer Hauch von außen an den Menschen herankam, wie an uns die Sonnenstrahlen herankommen. Daher war das, was jetzt hier auf der Erde ein Wahrnehmen des inneren Blutsystems ist, auf dem Monde ein reguläres Wahrnehmen der Außenwelt.

Man kann so sagen: Wenn hier (es wurde gezeichnet) die Grenze ist zwischen menschlicher Innen- und Außenwelt, so war dasjenige, was jetzt Nerv ist, auf dem Monde schon vorgebildet. Indem der Mensch den Nerv verfolgte, konnte er wahrnehmen, was sich ihm als innere ima­ginative Welt enthüllte, was in ihm enthalten war. Er nahm wahr, wie er selber enthalten ist im Kosmos. Dann nahm er aber auch imaginativ wahr das, was wie ein Hauch von außen an ihn herankam, nicht von innen. Das ist jetzt weggefallen; was außen war auf dem alten Monde, ist innerlich zum Blutkreislaufe geworden in der Erdenentwickelung. Daher ist das ein Zurückgehen in die alte Mondenentwickelung.

Es ist gut, wenn man von solchen Dingen weiß, weil immer wieder und wieder auftaucht dasjenige, was auf diese Weise hellseherisch entsteht. Was auf diese Weise hellseherisch entsteht, braucht sich nicht zu entwickeln auf jenem schwierigen Meditations- und Konzentra­tionswege, von dem die Rede ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Dieses Hellsehen, welches dadurch entsteht,

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daß man lernt, in seinen Nerven und in seinem Blute innerlich zu leben, lernt, sich in sich selbst zu genießen, das ist nur eine feinere Ausbildung des organischen Lebens überhaupt, eine feinere Aus­bildung dessen, was der Mensch erlebt, wenn er ißt und trinkt. Daher ist ein solches Helisehen im Grunde genommen wirklich nicht das, was die Menschheit heute als Aufgabe hat, sondern es ist, man möchte sagen, das was als Treibhauspflanze entsteht dadurch, daß wir zu einem raffinierteren Dasein jenen Selbstgenuß bringen, den uns Essen und Trinken oder ähnliches macht. Wie bei einem Feinschmecker des Weines, wenn er Rheinwein oder Mosel trinkt, eine innere Nach­wirkung entsteht, die sich allerdings nur zu einer Imagination des Geschmackes erhebt, aber nicht gestaltend wird, so entsteht bei man­chen Leuten ein raffiniertes inneres Genießen, und das ist ihr Hell-sehen.

Vieles Hellsehen ist nichts weiter als ein raffiniertes, verfeinertes, treibhausartiges Nachgenießen des Lebens. In unserer Zeit muß man auf diese Dinge wieder aufmerksam machen. Denn, ich möchte sagen, die letzte Zeit, in welcher man die Geheimnisse dieser Dinge noch kannte, in welcher man noch in der Literatur sprach von diesen Dingen, war eigentlich die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dann kam die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den als so großartig angesehenen Entdeckungen, mit den mit Recht von ihrem Gesichts­punkte aus für großartig angesehenen Entdeckungen, und das Ver­ständnis für diese Dinge und für die feineren Zusammenhänge alles Seins gingen verloren. Noch nicht hat man ja verloren - das sei in Parenthese gesagt - das Genießen unter dem Einfluß der gröberen, sagen wir Zu-sich-Nehmungen. Das ist den Menschen noch ge­blieben, daß sie unter dem Nachgenuß des Essens und Trinkens leben können, das haben sie gerade in dem materialistischen Zeitalter bis zu einem gewissen Grade ausgebildet.

Aber in solchen Dingen lebt auch die Menschheit in einer zykli­schen, in einer rhythmischen Bewegung. Und das materialistische Zeitalter kann allerdings, weil es getilgt hat dasjenige, was als all­gemeines Gefühl früher vorhanden war - das Hineingehen des Selbst-genusses in die Sinne, in die Nerven- und Blutzirkulation, was

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allerdings früher mehr vorhanden war -, sich deshalb stärker hin­geben den Eindrücken des Essens und Trinkens. Man kann sehr leicht studieren den ganzen Umschwung und Aufschwung, welcher in dieser Beziehung in verhälmismäßig kurzer Zeit stattgefunden hat. Es braucht sich jemand nur eine Hotelspeisekarte aus den siebziger Jahren zur Hand zu nehmen, um sie zu vergleichen mit einer heutigen. Man würde sehen, wie das Leben in den verfeinerten Genüssen, in den Selbstgenüssen des eigenen Leibes, Fortschritte erfahren hat. Aber solche Dinge gehen auch zyklisch vor sich, alles kann nur bis zu einem gewissen Grade erreicht werden, und so wie ein Pendel nur ausschlagen kann bis zu einem gewissen Punkte und dann wieder zurück muß, so muß auch der bloß physische Genuß, von einem be­stimmten Punkte ab, wo er angelangt sein wird einmal, wieder zurück. Das wird dann eintreten, wenn die schärfsten Genüßlinge, also die, welche die meiste Sehnsucht haben nach Genüssen, selbst vor den am leckersten zubereiteten Dingen so stehen werden, daß sie sie nicht verlangen, sondern so, daß sie sagen: Äh! das mag ich nicht, das ist mir alles schon über! - Dieser Zeitpunkt wird auch eintreten, denn das ist notwendige Entwickelung. Alles verläuft zyklisch.

Die andere Seite des Lebens erlebt der Mensch während seiner Schlafenszeit. Da schiäft sein Vorstellungsleben und da treten natur­gemäß ganz andere Verhältnisse ein. Nun sagte ich, die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war es im wesentlichen, welche noch eine Ein­sicht gehabt hat in diese Dinge, und dasjenige Helisehen, das entsteht durch das Verfolgen der eigenen Blut- und Nervenbahnen, das nannte man noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, indem man sich erinnerte an gewisse Anklänge, das pythische Helisehen, weil es in der Tat verwandt ist mit dem, was dem pythischen Helisehen des Alter­tums zugrunde lag.

Die anderen Verhältnisse sind während des Schiaflebens vorhanden. Da ist der Mensch mit seinem Ich und seinem astralischen Leibe aus dem physischen und ätherischen Leibe heraus. Im gewöhnlichen Leben sind da die Vorstellungen herabgedrängt, herabgelähmt. Aber der Mensch lebt vom Einschlafen bis zum Aufwachen fortwährend in der Begierde nach seinem physischen Leibe. Darinnen besteht

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gerade das Schlafen, daß der Mensch von dem Momente an, wo er anfängt zu schlafen, Begierde entwickelt nach seinem physischen Leibe. Die steigt bis zu einem Höhepunkte und dann drängt es ihn immer mehr und mehr nach dem physischen Leibe zurück. Die Be­gierde nach dem eigenen physischen Leibe wird immer größer und größer im Schlafzustande. Und weil die Begierde wie ein Nebel das Ich und den Astralleib durchzieht, wird abgedämpft, abgedämmert das Vorstellungsleben. Gerade dadurch werden die Vorstellungen abgedämmert, daß das Begierdeleben nach dem physischen Leibe das Ich und den astralischen Leib wie ein Nebel durchdringt. Wie wir, wenn ein Nebel sich ausbreitet, die Bäume des Waldes nicht sehen, so können wir auch unser Wahrnehmungsleben nicht innerlich er­leben, wenn sich der Nebel unserer Begierde darüber ausbreitet.

Nun kann aber der Fall eintreten, daß dieses Begierdeleben während des Schlafes so stark wird, daß der Mensch nicht nur außerhalb seines physischen und ätherischen Leibes diese Begierde entwickelt, sondern daß er bis zu einem gewissen Grade so gierig wird, daß er dieses Innere seines physischen und ätherischen Leibes zum Teil ergreift, so daß er mit seiner Begierde an die äußersten Enden seiner Blut- und Nervenbahnen herankommt, daß er gewissermaßen von außen sich durch die Sinne hindurch einsenkt in die letzten Enden des Blutkreis­laufes und in die letzten Enden der Nervenbahnen.

In den alten Zeiten, als gewissermaßen die Götter den Menschen noch halfen bei solchen Erlebnissen, war das etwas durchaus Regu­läres, etwas Gutes. Die Menschen, die so Großes geleistet haben für ihr Volk, die alten hebräischen Propheten, haben geleistet, was sie geleistet haben, hatten ihre prophetische Gabe dadurch, daß sie jene ungeheure Liebe gerade zu dem Blut und zu dem Nervenaufbau ihres Volkes verwendeten, so daß sie selbst im Schlafzustande nicht ganz weg sein wollten von dem, was physisch in diesem Volke lebte. Sie waren von solcher Sehnsucht ergriffen, von solcher Liebe erfüllt, diese Propheten des jüdischen Altertums, daß sie verbunden sein wollten auch im Schlafe mit dem Blute ihres Volkes, dem sie an­gehörten. Daraus kamen ihnen gerade ihre prophetischen Gaben.

Das ist der physiologische Ursprung dieser prophetischen Gaben,

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und schöne, herrliche Produkte gingen hervor aus dem eben Dar­gestellten. Die Propheten der einzelnen Völker sind gerade dadurch für ihre einzelnen Völker so bedeutend, daß sie selbst noch außerhalb des physischen Leibes mit diesem physischen Leibe in der eben ge­schilderten Weise lebten.

Wie gesagt, bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war noch ein gewisses Bewußtsein von diesem Zusammenhang im Menschheits­leben vorhanden. Wie man das vorher genannte und charakterisierte Hellsehen das pythische Hellsehen nannte, so nannte man das Hell-sehen, von dem ich jetzt gesprochen habe, bei dem man mit dem, was sonst während des Schlafes außerhalb des physischen und Äther­leibes lebte, noch hineintauchte in das Blut und die Nervenbahnen des physischen Leibes, das prophetische Hellsehen.

Wenn man die Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgt, wenn es auch nicht mit der Genauigkeit und Präzision der neuen Geisteswissenschaft so beschrieben werden konnte wie heute, so werden Sie doch das pythische und das prophetische Hellsehen beschrieben finden. Man kennt heute diesen Unterschied nicht mehr, weil man nicht mehr das verstehen kann, was man von dem pythi­schen und prophetischen Hellsehen in den Büchern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liest. Beide Arten des Hellsehens aber sind heute nicht dasjenige, was wirklich die Menschheit vorwärtsbringen kann. Diese beiden Arten des Hellsehens sind diejenigen, welche alten Zei­ten gegolten haben. Das heutige Hellsehen, das sich gegen die Zu­kunft hin immer mehr und mehr entwickein muß, kann weder da­durch entstehen, daß wir das, was im Tagwachen unseren Leib von innen heraus durchdringt, genießen, noch auch dadurch, daß wir von außen in schlafähnlichem Zustande, aus Liebe - nicht zu uns selber, sondern zu demjenigen Menschenteile, dem unser Leib angehört -untertauchen in diesen Leib. Beide sind überwundene Standpunkte.

Das heutige Hellsehen muß sich so entwickeln, daß es als ein drittes auftritt, als ein solches, welches so wird, daß es weder von außen ein in liebender Gier Ergreifen des physischen Leibes ist, noch von innen ein Genießen des physischen Leibes. Das, was im Inneren lebt und innerlich unseren Leib genießend durchdringen kann, und

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das, was äußerlich, von außen herein den Leib ergreifen kann, muß beides aus dem Leibe herausgehen, das muß beides, wenn das heutige Helisehen eintreten soll, nur so weit noch innerhalb der Inkarnation zwischen Geburt und Tod mit dem Leibe in Zusammenhang stehen, daß es Blut und Nerven weder von innen noch von außen genießt oder liebt, sondern es muß in reiner Abkehr von solchem Selbstgenuß oder solcher Selbstliebe verbunden bleiben mit dem Leibe. Die Ver­bindung mit dem Leibe muß allerdings trotzdem bleiben, denn sonst würde es ein Sterben bedeuten. Es muß der Mensch verbunden bleiben mit dem Leibe, der ihm angehört in der physischen Inkarna­tion auf der Erde, verbunden bleiben mit diesem Leibe durch die Glieder, welche gewissermaßen fernstehen oder wenigstens relativ fernstehen der Blut- und Nerventätigkeit. Die Loslösung von Blut-und Nerventätigkeit muß sich vollziehen.

Wenn der Mensch nicht mehr innerlich sich genießt auf den Bahnen, die zu seinen Sinnen hinführen, oder von außen sich durchdringt bis in seine Sinne herein, sondern wenn der Mensch gleichsam so mit sich selbst in Verbindung zu stehen vermag, von innen und von außen, daß er wirklich das lebendig in sich ergreifen kann, was das Symbolum des Todes für das physische Leben ist, wenn er sich ver­binden kann mit dem, was die Anwartschaft auf den physischen Tod gibt, dann ist der in Betracht kommende Zustand erreicht. Denn wir sterben eigentlich physiologisch dadurch, daß wir imstande sind, das Knochensystem in uns zu entwickein. Wenn wir imstande sind, das, was aus wunderbarer Ahnung heraus das Volk empfindet als Symbo­lum des Todes, das Knochengerüst, das, was so fern ist dem Blut-und Nervensystem wie das Knochensystem, zu ergreifen, dann kom­men wir zu dem, was ein Höheres ist gegenüber dem pythischen und prophetischen Heilsehen, dann kommen wir zu dem, was wir nennen können das geisteswissenschaftliche Hellsehen.

In diesem geisteswissenschaftlichen Hellsehen erfassen wir nicht mehr einen Teil der menschlichen Natur, sondern wir erfassen den ganzen Menschen. Und es ist im Grunde genommen einerlei, ob wir ihn von innen oder von außen erfassen, denn ein Genießen kann diese Art des Hellsehens nicht mehr sein. Es ist nicht mehr ein raffinierter

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Genuß, sondern ein Aufgehen in den göttlich-geistigen Kräften des Alls. Es ist ein mit der Welt Einswerden, ein Erleben nicht mehr des Menschen und desjenigen, was in den Menschen hineingeheirnnißt ist, sondern es ist ein Miterleben mit den Taten der Wesenheiten der höheren Hierarchien, ein wirkliches Sich-Herausheben aus dem Selbstgenuß und der Selbstliebe. Und so wie unsere Gedanken Glieder unserer Seele werden, so muß der Mensch gleichsam ein Gedanke, ein Glied werden gegenüber den höheren Hierarchien. Sich denken, sich vorstellen, sich wahrnehmen lassen von den höheren Hier­archien, das ist das Prinzip des geisteswissenschaftlichen Hellsehens. Hingenommen werden, nicht sich hinnehmen.

Das, was ich also sage, von dem möchte ich wünschen, daß es recht sehr Gegenstand Ihrer weiteren Meditationen werde, denn ge­rade das, was ich heute auseinandergesetzt habe, das kann vieles, vieles in Ihnen allen anregen, und das kann zu einem immer weiter-und weitergehenderen Durchdringen der eigentlichen Impulse unserer geisteswissenschaftlichen Strömung dienen. Und wie viel Ernst sein muß in diesem Durchdringen unserer geisteswissenschaftlichen Strö­mung, davon ist ja gerade in diesen Tagen öfter die Rede gewesen. Dasjenige, was innerhalb dieser geisteswissenschaftlichen Strömung, ich sage nicht gewollt wurde, sondern gewollt werden müßte, von dem würde wiederum etwas verwirklicht werden können, wenn möglichst viele sich entschließen würden, über diese dreifache Ge­stalt des Wissens von höheren Welten lebensmäßig nachzuden­ken, damit klarere und immer klarere Begriffe über das entstehen, was wir ja doch im Grunde genommen alle wollen, und was so leicht verwechselt wird mit dem, was bequemer, viel bequemer zu haben ist.

Wirklich, nicht umsonst wird gearbeitet von Zyklus zu Zyklus, um immer mehr und mehr Ideen und Begriffe zusammenzutragen. Diese Ideen und Begriffe zu studieren ist nicht unnötig, sondern es ist der Weg, um gerade in sich jene Seelenimpulse vorzubereiten, die zum wirklichen geisteswissenschaftlichen Hellsehen führen. Man kann manchmal dadurch, daß man etwas nippt da oder dort an dem, was innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Strömung gegeben wird,

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dem oder jenem in der menschlichen Natur einen Riß geben, und dann entsteht etwas vom pythischen und prophetischen Helisehen, und man kann schon stolz und hochmütig in diesem pythischen oder prophetischen Hellsehen werden. Wenn das der Fall ist, dann kommen solche Urteile zustande, die man oftmals hören muß, wo der eine oder andere sagt: Ich brauche nicht alles in den Einzelheiten zu studieren, ich brauche nicht das, was in den Zyklen gesagt wird. Was ich höre von den Dingen, weiß ich schon ganz genau, ich habe das schon gewußt und so weiter. - Das Prinzip, zu leben in ein paar Imagina­tionen, die man Blut- und Nervenimaginationen nennen könnte, durchdringt noch viele. Viele dünken sich etwas ganz Besonderes zu haben, wenn sie so ein paar Blut- und Nervenimaginationen haben. Aber das ist nicht das, was uns zum selbstlosen Mitarbeiten an der Menschheitsevolution führen kann, sondern ein solches Verweilen in den Blut- und Nervenimaginationen führt eigentlich zu einer Er­höhung des Selbstgenusses, führt zu einem raffinierteren Egoismus. Und dann kann es allerdings vorkommen, daß gerade durch die Pflege der Geisteswissenschaft ein raffinierterer Egoismus heran-gezüchtet wird, als er je in der äußeren Welt vorhanden ist.

Selbstverständlich redet man niemals von den Anwesenden in diesen Dingen, niemals von der Anthroposophischen Gesellschaft, die ja anwesend ist. Aber erwähnt darf doch werden, daß es Gesellschaften gibt, in denen sich diese oder jene Leute befinden, welche es nach den Prinzipien dieser Gesellschaften dazu bringen, zwar nicht wirklich selbstlos mitzuarbeiten, sondern einiges aufzunehmen, am liebsten so etwas aufzunehmen, was gerade da oder dort anfacht die Blut- oder Nervenimaginationen, und dann glauben, sich selbst ersparen zu können das andere. Dann kommen sie zu einem solchen atavistischen Hellsehen, oder vielleicht kommen sie nicht einmal dazu, sondern nur zu den Gefühlen, die als Begleiterscheinung eines solchen imagina­tiven Hellsehens zu betrachten sind. Und diese Gefühle sind nicht eine Überwindung des Egoismus, sondern nur eine höhere Blüte des Egoismus. Bei solchen Gesellschaften findet man dann - die Anthroposophische Gesellschaft ist aus Höflichkeit ausgenommen -, obgleich sie die Pflicht hätten, Liebe und Eintracht und Harmonie bis

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in die tiefsten Seelengründe hinein von Mitglied zu Mitglied zu ent­falten, man findet immer mehr wachsen Disharmonie, Zanksucht, gegenseitiges Sich-Beklatschen und so weiter. Ich darf diesen Aus­druck gebrauchen, da ich ja, wie gesagt, die Angehörigen der Anthro­posophischen Gesellschaft immer ausnehme.

Wir können dann sehen, daß gerade da, wo starkes Licht aufgehen sollte, auch starke Schatten vorausgeworfen werden. Nicht als ob ich diese Dinge so tadeln wollte, daß ich meinte, diese Dinge könnten gleich ausgerottet werden von heute auf morgen. Das können sie nicht, weil sie auf naturgemäße Weise entstehen. Aber arbeiten kann wenigstens jeder an sich, und es ist nicht gut, wenn das Bewußtsein nicht wenigstens auf jene Dinge hingelenkt wird.

Verstehen kann man es durchaus, daß gerade deshalb, weil eine gewisse Strömung herausgearbeitet werden muß, innerhalb solcher Gesellschaften auch die Schattenseiten sich geltend machen, und daß oftmals das, was draußen im Leben wuchert, in solchen Gesellschaften im stärksten Maße wuchern kann. Aber gewissermaßen ein bitteres Gefühl ruft es doch immer wieder hervor, wenn dies in Gesellschaften auftritt, die naturgemäß - sonst hätte es keinen Sinn, eine Gesellschaft zu haben - eine gewisse Brüderlichkeit, ein gewisses Zusammen­halten entwickeln sollten, daß aber gerade deshalb, weil die Menschen näher zusammenkommen, mit dem Näher-Zusammenkommen ge­wisse Eigenschaften, die draußen nur flüchtig existieren, um so inten­siver sich entwickeln. Da die Anthroposophische Gesellschaft als anwesende ausgenommen ist, so wird es uns um so mehr möglich sein, ganz objektiv, gleichsam als Unbeteiligte, über diese Dinge nachzudenken, nachzusinnen, damit wir sie intensiver kennenlernen, und wenn wir diese Dinge irgendwo in der Welt finden sollten, sie nicht als etwas anderes betrachten denn als das, was sie sind und uns nicht dem Glauben hingeben, wenn jemand ganz besonders tief die Anthroposophie zu verstehen meinte und dabei doch bei ihm gewisse Eigenschaften, die draußen in der Welt auftreten, nicht nur so sich zeigen, wie sie in der Welt draußen sind, sondern viel intensiver, damit wir dann nicht glauben, diese Dinge seien unbegreiflich, son­dern wissen, daß sie begreiflich sind, daß sie aber solche Dinge sind,

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die wir bekämpfen müssen. Wir können sie manchmal erst bekämpfen, wenn wir sie wirklich begriffen haben.

Auch dies ist etwas von dem, was uns zeigt, wie das Leben zu­sammenhängt mit dem, was geisteswissenschaftliche Weltanschauung ist, wie die geisteswissenschaftliche Weltanschauung wirklich ihr Ziel nur erreichen kann, wenn sie als Lebensauffassung, ja als Lebenskunst aufgefaßt wird, wenn sie hineingetragen wird in alles Leben. Wie schön wäre es, wenn alle einzelnen Lebensbeziehungen, sagen wir jetzt, der Anthroposophischen Gesellschaft sich herausstellen würden als so im Einklang miteinander stehend, wie es versucht wird mit den Formen unseres Baues, wo die einzelnen Formen ineinander über­gehen und alle im Einklang miteinander stehen, wenn es im Leben so sein könnte, wie es im Bau ist, und wenn das ganze Leben in unserer Gesellschaft so werden könnte, wie wir es haben wollten durch ein schönes Zusammenwirken derjenigen, die am Bau beteiligt sind, so daß dieses Arbeiten am Bau schon ein Harmonisches, ein Edles ist, ein Abdruck desjenigen ist, was in dem Bau selbst zum Ausdruck kommt.

So sollte der innere Sinn des Lebensprinzipes unseres Baues und der innere Sinn des Zusammenwirkens der Seelen - na, das will ich lieber nicht sagen -, so sollte der innere Sinn des Zusammenwirkens der Formen an unserem Bau den Weg hinaus machen in all die einzel­nen Lebensbeziehungen unserer Gesellschaft, sollte gleichsam selber, in seiner inneren Gestaltung, wie ein Ideal vor uns dastehen. Ich möchte Sie nur versichern, daß ich mich nicht versprochen habe, als ich vorhin einen Satz ausließ; ich habe ihn schon ganz bewußt aus­gelassen und manchmal ist auch das gesagt, was man nicht sagt.

Zusammenfassend aber dasjenige, was ich, ich möchte sagen, ein Thema in der verschiedensten Weise varlierend, in diesen Tagen aus­geführt habe, was ich Ihnen ganz besonders ans Herz legen möchte, ist, nicht nur die Gedanken und Ideen der Geisteswissenschaft, die Ergebnisse der Geistesforschung vor Ihren Verstand, vor Ihre Ver­nunft hinzustellen, sondern aufzunehmen dasjenige, was in der Geisteswissenschaft lebt, in Ihre Herzen. Denn davon hängt wirklich das Heil des künftigen Menschheitsfortschrittes ab. Das kann ohne

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Überhebung gesagt werden, und derjenige kann das einsehen, der versucht, ein wenig die Impulse unserer Evolution und die Zeichen unserer Zeit zu studieren. Damit sei abgeschlossen die Serie von Vor­trägen, die ich mir erlaubte, um diese Jahreswende vor Ihnen zu halten.

HINWEISE

#G275-1966-SE173 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit

#TI

HINWEISE

#TX

Zu den für diesen Band, Bibl.-Nr. 275, zusammengefaßten sieben Vortragen wurde noch aus Bibl.-Nr. 158 der Vortrag vom 31. Deaember 1914 «Welten-Neujahr» binaugenom­mm, weil er ebenfalls zu dieser Vorragsserie gehört. Der Titel dieses Bandes, «Kunst im Lichte der Mysterienweisbeit», ist von Frau Marje Steiner 1928 einer Schriftenreihe gegeben worden, in welcher sie auch die beiden Vorträge «Umwandiangsimpulse für die künstlerische Evolution der Menschheit» veröffentlichte. Das dieser Schriftenreihe vorangestellte Geleitwort» wurde seiner grundlegenden Gesichtspunkte wegen auch an den Beginn dieser Herausgabe gestellt.

Die der folgenden Übersicht beigefügten Bibliographie-Nummern bezeichnen die Bände der Gesaantausgabe, in denen die Vorträge der damaligen Reihe erschienen oder erscheinen werden.

Zu Seite:

9 «Kunst im Lichte der Mysterienweisheit»: In der Schriftenreihe wurden die folgenden

acht Vorträge in sechs Heften veröffentlicht. I. «Umwandlungsimpulse für die

künstlerische Evolution der Menschheit», 29. und 30. Dezember 1914 (Bibl.-

Nr.275) / II. «Der übersinnliche Ursp'ung des Künstlerischen», Doritseh,

12. September 1920 (Bibl.-Nr. 271)/ III. «Des Menschen Äußerung durch Ton

und Wort», Dornach, 2. Dezember 1922 (Bibl.-Nr. 283)/ IV. «Wahrheit, Schön­

heit, Güte», Dornach, 19. Januar 1923 (Bibl.-Nr. 220) / V. «Das Tonerlebnis im

Menschen», Stuttgart, 7. und 8.März 1923 (Bibl.-Nr. 283)/ VI. «Die Welt der

Hierarchien und die Welt der Töne», Dornach, 16. März 1923 (Bibl.-Nr. 222).

Später folgten als Heft VII, VIII und IX «Rudolf Steiners Farbenlehre». Stutt­

gart 1959 (Bibl..-Nr. 291).

10 in dem Schriftenwrzeichnis: Siehe Seite 179, Übersicht über die Rudolf Steiner

Gesamtausgabe.

15 Motive zu den Radierwgen: «Rudolf Steiners Entwürfe für die Glasfenster des

Goetheanum.» Gesamtausgabe Dornach 1961.

17 Diese hier gehaltenen Vorträge: «Wie bekommt man das Sein in die Ideenwelt

hinein?», 4 Vorträge vom 12.-20.Dezember 1914 im Bande «Okkultes Lesen

und okkultes Hören». Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 156.

21 seit dem Beginne der fünften nachatlanticchen Kulturepoche: 1413. Vgl. Rudolf Steiner

« Die Geheimwisserschaft im Umriß», Kapitel : Die Weltentwickelung und der

Mensch.

28 in einem Münchner Zyklus: « Die Geheimnisse der Schwelle», VI. Vortrag. Gesamt­

ausgabe Domach 1960, Bibl.-Nr. 147.

33 Ich habe einmal: Am 3. Oktober 1914, gegen Ende des ersten Vortrages über

«Okkultes Lesen und okkultes Hören». Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 156.

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Zu Seite:

35 Synode von Clermont: 1095 einberufen von Papst Urban II. Auf ihr wurde der erste Kreuzzug beschlossen.

36 mit unserem Bau: Grundsteinlegung, 20. September 1913. Brand des Goetheanum,

31.Dezembet 1922.

53 drei Dreigliedrigkeiten: Siehe Schema Seite 49.

66 Erinnern Sie sich: Siehe Vortrag «Technik und Kurtst», Seite 17 ff. dieses Bandes.

74 Das Traumlied: «Draumkvaedet», siehe die Sammlung «Norske Folkeviser», herausgegeben von Thorwald Lammers, Kristiania 1910, bei H.Aschehoug & Co.

Über das norwegische Traumlled vom Olaf Asteson sprach Rudolf Steiner am 1.Januar 1912, am 7. Januar 1913 und am 31.Dezember 1914; seine Ausführungen waren stets von der Retitation des Traumliedes durch Marie Steiner-von Sivers be­gleitet. Diese drei Vorträge beziehungsweise Ansprachen wurden in einem Bande vereInigt, der als erweiterte Neuauflage des Vortrages «Welten-Neujahr» 1958 erschienen ist. Daß diese außergewöhnliche Volksdichtung innerhalb der anthropo­sophischen Bewegung einen so bedeutenden Piset eingeräumt erhielt, ist vor allem der Initiative von Ingeborg Möller-Lindholm, der norwegischen Dichterin (1878 bis 1964), zu danken, welche Rudolf Steiner auf die alte Legende aufmerksam machte. Durch ihr Entgegenkommen sind wir in der Lage, die Notiren, welche sie sich über ihre Gespräche mit Rudolf Steiner aufzeichnete, auch dieser Ausgabe hinzu­zufügen. Aus einem Vortrag von Ingeborg Möller über «Das Traumlied des Olaf Asteson», den sie uns in der Übersetzung freundlicherweise zur Verfügung stellte, haben wir einige Angaben als Hinweise aufgenommen und entsprechend gekennzeichnet.

Bemerkungen von Ingeborg Möller, Lillehammer, über aas Traumlied

Im Juni des Jahres 1910 hielt Dr. Steiner in Oslo einen Vortragszyklus «Die Mission einzeiner Volksseelen in Verbindung mit der germanisch-nordischen Mythologie». Ich lud bei dieser Gelegenheit wohl vierzig hinzugereiste anthropo­sophische Freunde zum Tee ein; damals wohnte ich in Oslo und hatte ein großes Zimmer zur Verfügung. Dr. Steiner und Frau Marie Steiner hatten sich auch bereit erklärt, zu kommen. Am Tage vorher bat ich Dr. Steiner, ob er nicht uns etwas erzählen könnte über das eigentümliche norwegische Volkslied : Das Traum-lied des Olaf Asteson. Rudolf Steiner lächelte freundlich und sagte, daß er doch das Lied erst gelesen oder gehört haben müßte. Dies sah ich ein. Er schlug dann selbst vor, am nächsten Tage eine Stunde vor den anderen Gästen zu kommen, damit ich das Lied vorlesen und für ihn vorläufig übersetzen konnte. So geschah es auch.

Während des Lesens saß Dr. Steiner mit geschlossenen Augen da und hörte intensiv zu. Er war deutlich tief ergriffen vom eigentümlichen Inhalt des Liedes.

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Nachdem der Tee getrunken war, wurde das Traumlied von einem Mitglied der Gesellschaft auf norwegisch vorgelesen. Daruach hielt Dt Steiner einen ergreifen-den, aber kurzen Vortrag über das Lied. Er verweilte besonders bei der Tatsache, daß die Handlungen in der Zeit der zwölf heiligen Nächte sich abspielen, wo die aufierirdischen Einflüsse am stärksten sind. Außerdem berührte er besonders den Namen des Olaf Asteson. Olaf oder Oleifr = der «Gebliebene», der «Zurück-gelassene», rsacbdem die Vorfahren nicht mehr da sind. Er ist der, der das Blut der Väter der Generationen weiterträgt. Ast bedeutet Liebe : er ist also «Der Liebe Sohn».

Dr. Steiner bat mich, das Lied ins Deutsche zu übersetzen. Er konnte selbst nicht Norwegisch, geschweige denn die alte, auch für moderne Norweger schwere Mundart, in der das Traumlied niedergeschrieben ist. Ich entschuldigte mich zuerst datit, daß ich die deutsche Sprache nicht so gut beherrschte, damit ich den wunderbaren, musikalischen Rhythmus mitbekommen könnte. Dr. Steiner sagte, das mache nichts - ich solle das Lied nur ganz nüchtern Wort für Wort über­tragen, damit er einen genaueren Überblick über den Inhalt bekommen könne. Ich tat dieses im Laufe des Herbstes und sandte ihm die sehr prosaische und in vielen Beziehungen sehr mangelhafte Übersetzung. Nachher brachte Rudolf Steiner das Lied in eigene Rhythmen und hielt später mehrere Vorträge darüber. Es wurde dann auch für eurythmische Darstellungen verwendet, besonders zur Weihnachtszeit.

Im Jahre 1913 sagte Dr. Steiner zu mir, daß ich nicht die Vorstellung fest­halten sollte, daß Olaf der Heilige, der ursprüngliche Olaf Asteson sei. (St. Olaf, norwegischer König, fiel 1035 n.Chr. in der Schlacht bei Stiklestad, als Vor­kämpfer des Christentums.) Es habe mehrere «Olaf Asteson» gegeben, sagte Dr. Steiner. Es war dies eine An Mysterien-TiteL

Nach dem Ersten Weltkrieg war Dt Steiner 1921 und 1923 wieder in Nor­wegen. Er wohnte damals bei Ingenieur Ingerö. Frau Ragnhild Ingerö, die vor einigen Jahren starb, erzählte mir, daß Dr. Steiner mit ihr über das Traumlled gesprochen hatte. Er hatte sich inzwischen mehr damit beschäftigt und Neues herausgefunden. Unter anderem, daß das Lied viel älter sei, als gewöhnlich an­genommen wurde. Es stammt ungefähr aus dem Jahr 400 n. Chr. Damals lebte ein großer, christlicher Eingeweihter hier im Lande. Er begründete eine Mysterien-schule in Süditorwegen; der Ort wurde nicht genannt. Sein Mysterienname war Olaf Asteson, und das Lied schildert seine Einweihung. Ursprünglich, so erzählte Dr. Steiner, war das Lied viel länger und hatte zwölf Abschnitte, einen für jedes Bild im Tierkreis. Das Lied schildert Olaf Astesons Wanderung durch den ganzen Tierkreis, was er dort sah und erlebte. Es sind nur Reste des ursprünglichen Liedes, die wir heute haben. Die erwähnte Mysterienschule bestand bis in das Frühe Mittelalter hinein. Der Leiter wurde immer Olaf Asteson genannt.

Dr. Steiner sagte, daß er mit der Zeit diese Tatsachen öffentlich bekanntmachen

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würde, und auch andere wichtige Dinge in Verbindung mit dem Liede. Er wollte dies aber nicht tun, bevor er bestimmte äußere Belege für seine Mit­teilungen gefunden hatte. Er meinte diese auch finden zu können. Aber der Brand des Goetbeanums, übermäßige Arbeit und zuletzt Krankheit und Tod haben auch dieses Vorhaben verhindert. Jetzt besitzen wir nur diese Andeutungen.

Über diese Mitteilungen von Dr. Steiner habe ich viel nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß diese Mysterienschule vielleicht in «Skiringssal» zu suchen ist. Dieser Ort liegt, oder vieimehr lag in Vesrfold; einer Ortschaft im süd­westlichen Norwegen. Der Ort wird in den alten Sagen immer als heilig be­zeichnet. Die Wikinger, die im Ausland starben, wünschten in Skiringssal begraben zu werden. Dort war auch ein «Kaupang» (Kaufplatz). Jetzt graben die Archäolo­gen dort etwas aus, wovon sie annehmen, daß es der Rest dieses Handelaplatzes ist. Bis jetzt hat man aber nicht sicher aufweisen können, wo Skiringsaal liegt. Damals lag es an der Küste; jetzt haben Lehmablagerungen dazu geführt, daß der Ort tiefer in das Land «hineingeschoben» ist. Skiringssal bedeutet : Saal der Reinigung. Skir" bedeutet Taufe oder Reinigung (altnordisch).

Woher kan, nun der erste Olaf Asteson? Es ist historisch erwiesen, daß irisch­schottische Mönche hier im Lande waren, lange bevor das Christentum offiziell eingeführt wurde. Den Legenden zufolge kam Joseph von Arimathla schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert zu den britischen Inseln und begann dort seine Missionswirksamkeit. In Irland gab es schon seit Urzeiten heilige Mysterienstätten. Ringsum auf den andern Inseln waren die Völkerstämme heidnisch. Aus der Wirk­samkeit der christlichen Missionare, zusammenßießend mit der alten Druidenweis­heit, entstand die irisch-schonische Kirche, auch die Culdeerkirche genannt. Sie blühte an vielen Orten schon zwischen 300 und 400 n.Chr. Es gab Kirchen, Schulen und Klöster, trotzdem diese immer in Mitleidenschaft gezogen wurden durch Angriffe der mächtigen heidnischen Stammeanachbarn. Viele Priester und Mönche erlitten den Märtyrertod. Diese Culdeerkirche gründete sich besonders auf das Johannes-Evangelium und die Verkündigungen des Apostels Johannes. Sie ähnelte den ersten christlichen Gemeinden und stand im starken Gegensatz zu der petrirüschen oder römisch-katholischen Kirche. Aber die letztere siegte. Die Culdeerkirche wurde vernichtet und aufgelöst im Jahre 664 n. Chr. Sowohl vor als nach dieser äußeren Vernichtung sandte sie viele Missionare in verschiedene europäische Länder. Diese Kirche war ausgesprochen esoterischer Art. Vieles spricht dafür, daß der erste Olaf Asteson ein Vertreter dieser Geistesströmung war.

«Bei diesem norwegischen Volke, das ja noch in seiner Volkssprache vieles hat, das hart herangeht an die Grenze der okkulten Geheimnisse, waren langer die Mög­lichkeiten vorhanden, die Seelen im Zusammenhange zu lassen mit dem, was lebt und webt hinter den äußeren materiellen Erscheinungen.» Rudolf Steiner, aus dem Vortrag über Olaf Asteson, Berlin, 7. Januar 1913. Bibl.-Nr. 158.

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Zu Seite:

77 Gjallarbrücke: Diese Brücke wölbt sich über den mystischen Fluß Gjöll, der die Reiche trennt in der geistigen Welt. (I. M.)

78 Es schlug mich die Geisterschlange: Olaf erzählt weiter, wie er über den Tierkreis (Zodiakus) führ. Gerade hier ist es deutlich, daß ein großer Teil des Liedes fehlt, wie es auch Landstad in seinen Kommentaren berichtet. Von den Sternbildern wird nur der «Hund» (Canis major) erwähnt. Dieses Sternbild liegt aber außerhalb des Tierkreises. Gleichfalls die « Schlange» (Serpens). Aber der «Stier» (Taurus) im Tierkreis ist ihm ein wichtiges Bild. - Nachdem der Tierkreis durchlaufen ist, bekommt Olaf die Eingebung, einen anderen Weg einzuschlagen; er begibt sich auf die Milchstraße (vintergaten). Es ist eine alte Vorstellung, daß die Milch-straße in das Reich der Seligen, in das Psradiea führt. (1.M.)

79 Brooksvalin: «Brooksvalin» ist ein altes, eigentümliches Wort, das Landstad mit «Der Bedrängnis Vorhof» übersetzt. Aus dem Liede gcht hervor, daß Olaf jetzt wieder in den Tierkreis zurückkehrt und in das Zeichen der Waage kommt. (1.M.)

81 Vom Höllenfursten geleitet: Grutte Graubart-Ahriman. (I. M.)

Und wog die Menschenseelen : Überall, wo das Christentum sich ausgebreitet hatte, gab es Bilder von Michael, der eine Waage in der einen Hand hält. In der anderen hat er oft eine Lanze oder ein Schwert, womit er den Drachen durchbohrt. So wird er auf unzähligen Kirchenmalereien und Skulpturen dargestellt, zum Beispiel auf dem Nordportal der Domkirche in Drontheim. - Hiermit ist im Grunde der epische Teil des Liedes zu Ende. Es folgen noch einige Verse; Olaf ermalint seine Mitmenschen im Sinne des Wortes der Heiligen Schrift : «Sie sollen von ihrer Arbeit ruhen, aber ihre Taten folgen ihnen.» M. B. Landstad, ein bekannter nor­wegischer Paahnendichter, erzählt, er hätte gehört, daß das Lied früher bei der Leichenwache verwendet wurde für den Verstorbenen. Das Lied sollte der Seele eine Hilfe sein für ihren ersten Weg in der anderen Welt. (L M.)

85 aus dem zweiten Moses-Buche, 33. Kapitel Vers 18: In der von Rudolf Steiner an-

gegebenen Übersetzung durch Dr. Hugo Bergmann heißt es wörtlich : «Und

Mose sprach zu Gott : Zeige mir doch deine Herrlichkeit! Und dieser sprach : Ich

werde vorüberziehen lassen all meine Güte an deinem Angesicht und will rufen

den Namen Jahves vor dir und will gnädig sein dem, den ich begnade, und

mich erbarmen des, dessen ich mich erharme. Dann aber sprach er : Du kannst

mein Antlitz nicht sehen, denn mich sieht kein Mensch, der dann leben bliebe.

Und es sprach Jahve : Hier ist ein Ort bei mir, stelle dich auf den Felsen. Und

wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, so will ich dich in eine Höhlung des

Felsens stellen und meine Hand über dich decken, bis ich vorüber bin. Wenn ich

dann meine Hand entferne, so wirst du meine Rückseite sehen; aber mein Antlitz

kann nicht geschaut werden.»

97 Zum Vortrag vom 1 Januar 1915: Es lagen für die Herausgabe bisher noch unbe­kannte Vortraganachachriften vor. Dadurch ergaben sich einige Veränderungen und Abweichungen gegenüber der Erstaufiage von 1935.

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Zu Seite:

102 orsten Mysterium: «Die Pforte der Einweihung.» Achtes Bild. In «Vier Myste­riendramen», Gesamtausgabe Dornach 1962. Bibl.-Nr. 14.

117 « Der Seelen Erwachen» : Viertes Mysteriendrama.

146 in einem Zyklus: «Die Mission einzelner Volltetseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie.» Gesamtausgabe 1962, Bibl.-Nr. 121.

149 Goethe erzählt: In den An:talen zu 1790 und in dem Aufsatz «Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort» (1822). 168 von Zyklus zu Zyklus: Die als «Zyklen» bezeichneten Vortragareihen für die Mit­glieder der Anthroposophischen Gesellschaft, veröffentlicht innerhalb der Rudolf Steiner Gesamtausgabe.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.